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German Pages 408 Year 2014
Schriften zur Rechtstheorie Band 273
Die Paradoxie des Rechts
Von Chih-Chiang Lai
Duncker & Humblot · Berlin
CHIH-CHIANG LAI
Die Paradoxie des Rechts
Schriften zur Rechtstheorie Band 273
Die Paradoxie des Rechts
Von Chih-Chiang Lai
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Dissertation angenommen.
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Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Buch Bücher de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-14288-0 (Print) ISBN 978-3-428-54288-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84288-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Das Manuskript der Arbeit ist 2012 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen worden. Ich bedanke mich insbesondere bei Herrn Professor Dr. Bernhard Schlink. Ohne seine langjährige und vielseitige Unterstützung wäre die Entstehung der Arbeit nicht zu denken. Ich danke auch Herrn Professor Dr. Alexander Blankenagel, der die zweite Begutachtung der Arbeit übernommen und sehr nützliche Hinweise gegeben hat. Ebenfalls gilt mein Dank Frau Annett Peschel vom Internationalen Büro der Humboldt-Universität und Frau Dorothea Münchberg am Lehrstuhl von Professor Schlink für ihre Betreuung. Frau Ute Steenken schulde ich Dank für ihre eingehenden Korrekturen des Manuskripts. Ich möchte außerdem Herrn René Ruschmeier und Frau Andrea Ruschmeier für intensive Diskussionen danken. Den Freunden Xinggang Huang, Dichao Pan, Ding-Guo Chen (1939–2013) und Zhongkai Shen danke ich für unzählige Hilfen während meines Aufenthalts in Berlin. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern und Geschwistern. Sie sind der Fixpunkt, an dem ich mich auch in der Ferne festhalten konnte. Taiwan, im Februar 2014
Chih-Chiang Lai
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Problemstellung der Paradoxie des Rechts bei Luhmanns Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Diskussionen über die Paradoxie (des Rechts) bei der Systemtheorie . 13 III. Vorgehensweise der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 I. Paradigmawechsel für die Theorie von Einheit und Identität . . . . . . . . 20 1. Gegenstand und Anspruch von Luhmanns Systemtheorie . . . . . . . . . 20 2. Welt als Bezugsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3. Einheitsproblem, Leitdifferenz und System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 a) Traditionelles Paradigma: Seinsontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 b) Neues Paradigma: Differenz von System und Umwelt . . . . . . . . 31 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Sinn, System und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Sinnbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Sinndimensionen als Weltdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 a) Sachliche Dimension von Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 b) Zeitliche Dimension von Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 c) Soziale Dimension von Sinn: Kritik am Humanismus . . . . . . . . . 55 3. Fazit: Die moderne Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 III. Kontingenz, Kommunikation und Emergenz des Sozialen . . . . . . . . . . . 62 1. (Doppelte) Kontingenz, Differenz und Soziales . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Emergenz des sozialen Systems: Person und Relation . . . . . . . . . . . 66 3. Kommunikation als autopoietische Reproduktion der Differenzen . . 74 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 IV. Strukturbildung des sozialen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 1. Strukturbildung und Zeitverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2. Strukturwert und Zeitbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3. Strukturwahl und Funktionsorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung . . . . . . . . . . . . . 97 1. Gesellschaftsdifferenzierung: Kopplung der Systeme und In- / Exklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Operative und strukturelle Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Inklusion / Exklusion und Gesellschaftsformen . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Funktionale Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
8 Inhaltsverzeichnis a) Ausdifferenzierung der Funktionssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Binäre Codierung und Kommunikationsmedien . . . . . . . . . . . . . 116 3. Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Gesellschaft . . . . . . 121 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem . . . . . . . . . . 126 I. Einheit, Identität und Negation in Bezug auf Differenz und Selbstreferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 1. Unfassbare Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 2. Identität und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3. Negation und Theodizee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Paradoxie zwischen Identität und Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Problem der logischen Paradoxie bei der Neuen Phänomenologie . . 154 a) Differenzierung der vier Einheitsbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Das Eine, das Seiende und Abwertung des Vielen und der Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 c) Aporie in der Abwertung der Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 d) Relation und Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 aa) Einzelheit aus Bestimmtheit und Besonderheit (Identität) . . . 161 bb) Identität und Wirklichkeit in der primitiven Gegenwart . . . . 164 cc) Synthetische Einheit: Situation und Konstellation . . . . . . . . . 169 e) Probleme logischer Paradoxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 aa) Paradoxie als Anzeichen der unstimmigen Wirklichkeit . . . . 173 bb) Formale Logik der Unentschiedenheit: Einfache, endlich fache und unendlichfache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 cc) Zeit und ihre Antinomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 dd) Antinomie des Selbstbewusstseins: Scheinbare und echte . . . 195 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 III. Probleme der Paradoxie des selbstreferentiellen Sozialsystems . . . . . . . 204 1. Sinn der Rede von Paradoxie bei der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . 204 2. Einwertiges Seinskonzept und zweiwertige Formtheorie . . . . . . . . . . 205 3. Sozialitätskonzept: Paradoxie als freigesetzte Negativität . . . . . . . . . 209 4. Konstruktivismus als Formtheorie der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . 211 5. Selbstbegründung anhand der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 6. Fazit: Paradoxie als Kontingenzproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 I. Ansatzpunkte der systemtheoretischen Rechtstheorie bei Luhmann . . . 219 1. Evolution des Rechts: Vom traditionellen Recht zum positiven Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2. Begrifflichkeit der Paradoxie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 a) Rechtscode und Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
Inhaltsverzeichnis9 b) Codewerte des Rechts und Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 c) Recht, Unrecht und Nicht-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 3. Binäre Codierung des Rechts und Einheit / Identität des Rechts . . . . 243 4. Formale Darstellung der Paradoxie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . 256 1. Rechtscode und Selbstbeschreibung des Rechtssystems . . . . . . . . . . 257 a) Polykontexturale Gesellschaft und Identität des Rechtssystems . 257 b) Selbstbeschreibung des Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 2. Geltung und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 a) Rechtsgeltung aufgrund Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 b) Zeitbindung aufgrund Rechtsgeltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 3. Entscheidungszwang und juristische Argumentation . . . . . . . . . . . . . 271 a) Dauernde Konflikte und Entscheidungszwang . . . . . . . . . . . . . . . 271 b) Grundlose Entscheidung in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 c) Juristische Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 4. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 a) Regelbildung und Paradoxie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 b) Text als Lösung der Paradoxie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 c) Verfassungsänderung als Beispiel der Rechtsparadoxie . . . . . . . . 289 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 I. Überblick über das Verhältnis des Rechts zu seiner Umwelt . . . . . . . . 296 II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik . . . . 299 1. Recht und Politik im Lichte der strukturellen Kopplung . . . . . . . . . 299 a) Einheit von Recht und Politik im Hinblick auf das Widerstandsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 b) Paradoxie der Souveränität als Problem der politischen Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 2. Verfassung als strukturelle Kopplung von Recht und Politik . . . . . . 307 a) Logik des Verfassungstextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 b) Funktionen des Verfassungstextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 aa) Moderne Staatsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 bb) Positivierung und Theodizee des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . 316 cc) Verfassungsordnung und soziale Kommunikation . . . . . . . . . 317 dd) Demokratisierung und Selbstsabotage des politischen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 III. Subjektives Recht und Individuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 1. Subjektives Recht als Kopplung von Recht und Bewusstsein . . . . . 324 2. Rechtsparadoxie, subjektives Recht und Rechtsverhältnis . . . . . . . . . 326 3. Krise des Rechts: „Rechtslethargie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
10 Inhaltsverzeichnis IV. Menschenrechte als quaestio iuris: Ein antihumanistisches Verständnis . 336 1. Menschenrecht als subjektives Recht: Funktionale Inklusion . . . . . . 337 2. Begründung der Menschenrechte: Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . 341 3. Menschenwürde und strukturell bedingte Benachteiligungen . . . . . . 354 4. Weltliches Rechtssystem und strukturell bedingte Rechtsbrüche . . . 360 5. Inklusion und Exklusion: Grenze der Selbstbegründung des Rechts . 361 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 F. Abschließende Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 I. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 II. Eine systemtheoretische Umschreibung des Verhältnisses von Recht und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403
„There had been a time, in his youth, when these logical briarpatches had frightened him. If you fell in, you could never get out.“ (Fletcher, The Bond, S. 51)
A. Einleitung I. Problemstellung der Paradoxie des Rechts bei Luhmanns Systemtheorie Wenn man die Texte der Systemtheoretiker ein Stück weit liest, stößt man schon bald auf die Paradoxien. Weiß man, dass jede unsere Kommunikation notwendigerweise eine Paradoxie mit sich bringt, muss man eigentlich erstaunt sein und Schwindel empfinden. Ob es nur ein Schwindel ist? Ob nicht nur die Kreter, sondern wir alle Lügner und Schwindler sind, sei es bewusst, sei es unbewusst, aber grundsätzlich unausweichlich?1 Und schließlich darf man es wagen, zurückzufragen, ob diese kommunizierenden Theoretiker den Satz in ihre Theorien einschreiben: Ich lüge jetzt (mit dieser Theorie), oder: Diese Theorie lügt jetzt. Oder kommt der Schwindel doch nur aus dem theoretischen Höhenflug, an den man sich nur mit der Zeit gewöhnen muss? Die These der Paradoxie des Rechts wird von dem Soziologen Niklas Luhmann explizit aufgestellt. Im Gegensatz zu dem üblichen Verständnis der Rechtswissenschaft als einer Wissenschaft der Normen bietet die Sys1 Die Standardform der Lügner-Paradoxie heißt: Ich lüge jetzt (mit diesem Satz). Diese klassische logische Paradoxie soll ursprünglich dem Eubulides von Milet im 4. Jahrhundert v. Chr. entstammen, ihre bekannteste Version, alle Kreter lügen, wird aber meistens dem Kreter Epimenides im 6. Jahrhundert v. Chr. zugeschrieben. Diese Version führt jedoch nicht zwangsläufig zur logischen Paradoxie. Wenn Epimenides’ Satz stimmt, dann lügt eben er selber; wenn er aber lügt und der Satz nicht stimmt, dann bedeutet dies, dass nicht alle Kreter lügen und einige von ihnen doch die Wahrheit sagen. Nur wenn nun Epimenides zu dieser Gruppe der Kreter gehört, die nicht lügen, führt sein Satz wieder zur Paradoxie. Dadurch kehrt wiederum die Standardform der Paradoxie zurück: Ich (Epimenides) lüge jetzt. Dazu vgl. Brendel, Die Wahrheit über den Lügner, 1992, S. 3 f., S. 21 f.; Zoglauer, Einführung in die formale Logik für Philosophen, 2005, S. 15 f. Über den Lügner kann man bis zum Tode verzweifelt grübeln, wie es dem Philetas (bzw.: Philites) von Kos nachgesagt wird; aber er kann auch als Witz in einer anderen Form auftreten: Zwei Juden treffen sich im Zug, einer fragt den anderen, wohin er fährt. Der andere antwortet: Krakau. Darauf macht der Fragende ihm den Vorwurf der Lüge, weil der Antwortende mit Krakau den Fragenden glauben lassen will, dass er nach Lemberg fährt, wobei der Fragende doch genau weiß, dass der Antwortende nach Krakau fährt. Dazu vgl. Sainsbury, Paradoxien, 2001, S. 11; Haft, Verhandlung und Mediation, 2000, S. 97; Fletcher, The Bond, 2009, S. 127.
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A. Einleitung
temtheorie des Rechts von Luhmann einen nichtnormativen Ansatz der Rechtstheorie an.2 Nach ihm verfehlt ein normativer Ansatz der Rechtstheo rie zum einen die Einheit ihres Gegenstandes, nämlich die Einheit des Rechts, da man mit der Unterscheidung von Tatsache / Wert, Sein / Sollen u. a., operiert und nicht berücksichtigt, dass das Recht sowohl aus Normen als auch aus Sachverhalten besteht. Eine Hälfte des Gegenstandes wird bereits durch diese üblichen Unterscheidungen weggedacht. Zum anderen besteht ein weiteres Problem darin, dass man mit einem normativen Ansatz immer nur die eine Seite des Rechts sieht und die andere Seite des Rechts(systems), nämlich das Unrecht, (auch theoretisch) nicht verorten kann. Man fragt also nach der Geltung, deren andere Seite – Nichtgeltung – aber nirgendwo zu finden ist. Von daher wird das Unrecht – wenn überhaupt erwähnt – immer wieder mit Nichtrecht gleichgesetzt. Stattdessen will der nichtnormative Ansatz von Luhmanns Systemtheorie eine Differenzlogik entwickeln, so dass man dem Gegenstand Recht als Ganzes doch gerecht werden kann. Das Einheitsproblem des Rechts steht somit am Anfang der Systemtheorie des Rechts. Damit verbunden aber behauptet der nichtnormative Ansatz aufgrund der Differenzlogik viele „alogische“ Thesen:3 Die Einheit des Rechts besteht in „der unerträglichen Einsicht, Recht sei, was es (nicht) sei“;4 und „die Grundlage des Rechts ist nicht eine als Prinzip fungierende Idee, sondern eine Paradoxie.“5 Diese Paradoxie des Rechts ist eben die grundlegende Paradoxie der „Selbigkeit von Recht und Unrecht“.6 Im Allgemeinen erscheint die Paradoxie bei Luhmann in dem Theorem: „Die Form in der Form vertritt die Form, und die Paradoxie dieser Repräsenta tion besteht eben darin, daß es sich um dieselbe und zugleich um nicht dieselbe Unterscheidung handelt.“7 Mit dem nichtnormativen Ansatz werden das Recht und die Rechtswissenschaft in den Abgrund der Paradoxie gestürzt. Da Recht demnach (nicht) Unrecht sei, sei Recht immer dem Verdacht des Unrechts ausgesetzt. Daraus entsteht das Problem, wie der Verdacht des Unrechts des Rechts auszuschalten ist. Mit der Paradoxie des Rechts entsteht sozusagen auch das Problem 2 Siehe
RdG, S. 33. WissendG, S. 12, S. 470 f. Der Terminus ‚alogisch‘ weist bereits auf das ausgeschlossene Dritte der Differenz von logisch / unlogisch hin, im weiteren Sinne auch von wahr / unwahr, richtig / falsch u. ä. – also auf das ausgeschlossene Dritte der zweiwertigen Logik. 4 Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 198; auch ebd., S. 189: „die Paradoxie des ‚Recht weil Unrecht‘ oder ‚Unrecht weil Recht‘ “. 5 RdG, S. 235. 6 RdG, S. 485. 7 RdG, S. 206. 3 Siehe
II. Diskussionen über die Paradoxie (des Rechts) bei der Systemtheorie 13
der Theodizee des Rechts bei Luhmann,8 wobei es um die Behandlung der (logischen) Paradoxie des Rechts in der gesellschaftlichen Kommunikation – im Rechtssystem – geht. Ist das Recht wirklich logisch paradox? Und was kann mit der Rede der Paradoxie des Rechts gemeint werden? Wie sieht ein logisch paradoxes Recht aus? Damit wird das Problem der vorliegenden Arbeit gestellt. Es muss beantwortet werden, wie die Paradoxie des Rechts – diese alogischen Sätze – möglicherweise logisch, soziologisch und rechtlich sinnvoll nachzuvollziehen ist.9 Dafür muss man theoretisch zuerst auf die von Luhmann entwickelte soziologische Theorie sozialer Systeme eingehen. Das Problem der Paradoxie gilt nämlich nicht nur für das Recht, sondern zugleich auch für die Gesellschaft bzw. die Welt insgesamt. Die Paradoxie bildet einerseits gar den „Schlußstein“ bzw. die „Letztformel“ des gesamten Theoriegebäudes und fungiert andererseits als „Orthodoxie“ der modernen Gesellschaft schlechthin.10 Und weil diese Systemtheorie das Recht auf Deutung der ganzen Welt für sich in Anspruch nimmt, muss ihre These der Paradoxie als solche auch für die Wissenschaft der Logik gelten. Es muss dann nach dem inneren logischen Zusammenhang der Theorie des Sozialsystems und auf dieser Grundlage auch nach der Logik des Rechtssystems gefragt werden.
II. Diskussionen über die Paradoxie (des Rechts) bei der Systemtheorie Die Literatur der Diskussion über Luhmanns Systemtheorie ist unübersichtlich. Aber bis jetzt scheint die Paradoxie als Begriff für das Theoriegebäude nicht klar erklärt zu werden, obwohl Luhmann diese theoretische Figur immer mehr ins Zentrum seiner Gesellschaftstheorie gerückt hat. Einerseits spricht man „von der operativen Logik“, es geht nämlich bei der Paradoxie um die Reflexion bzw. Selbstreferenz, wobei als Lösung der Paradoxie auf Zeit und Grenzüberschreiten hingewiesen wird.11 Andererseits sieht man die Paradoxie „am Anfang“ und am Anfang steht eine Differenz, wobei die Paradoxie durch die gleichzeitige Aktualisierung der beiden Sei8 Die ‚Theodizee‘ des Rechts betrifft das Woher und die Verortung des Unrechts. Luhmann, The third Question, 1988, S. 154: „Is there any right to invent the wrong, to create the wrong, or in more recent terms, to ‚construct‘ the wrong?“ 9 Luhmann, The third Question, 1988, S. 154: „How to prove with a noncontradictory logic that the reality is contradictory?“ 10 WissendG, S. 507, S. 520; GdG, S. 1144. 11 Reese-Schäfer, Niklas Luhmann, 2001, S. 62–66. Allerdings relativiert ReeseSchäfer die Behauptung der Richtigkeit der genannten operativen Logik (ebd., S. 66).
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A. Einleitung
ten der Differenz entstehen sollte.12 Zusammengenommen handelt es sich bei Paradoxie um Differenz (bzw. Unterscheidung und Beobachtung) und um Selbstreferenz (bzw. Reflexion). Aber unklar ist, wie eine Selbstreferenz eine Paradoxie im logischen Sinne erzeugen kann; und unklar ist auch, wie man die beiden Seiten einer Differenz – wie wahr / falsch bzw. rechtmäßig / rechtswidrig – zugleich aktualisieren kann. Und wenn überhaupt, hat es nicht einen logischen Selbstwiderspruch zur Folge? Ist dies nicht gar mit der Unmöglichkeit der behaupteten Paradoxie gleichbedeutend? Oft hat man bereits mit der Differenz an sich Schwierigkeiten. Dies hängt am meisten mit der primären Unterscheidung von System und Umwelt zusammen: „Moderne Kunst erscheint als Kunst. Diese Selbstbezüglichkeit muss jedoch, anders als es bei Luhmann den Anschein hat, durchaus nicht dazu führen, dass der Bezug zur Welt einfach ausfällt oder unbedeutend wird. Der Systemtheoretiker verfällt an diesem neuralgischen Punkt in ein Schwarz-Weiß-Denken, das Selbst- und Fremdreferenz gegeneinander ausspielt, was weder historisch noch systematisch aufgehen kann.“13 Demnach droht die Systemtheorie als Differenztheorie nicht nur in ein Schwarz-WeißDenken zu geraten, sondern beim Ansatz bereits Kontakt mit der Welt zu verlieren. Und weiterhin gilt die Paradoxie auch als „Ersatzmutter“ der Systeme, um dann in Gestalt eines binären Denkens als die „jüngste und vorerst letzte Strategie, den Menschen zu verkennen“.14 Oder schließlich fungiert die Paradoxie eben nur als eine rhetorische „Flucht“ vor dem ethischen Verantwortungsproblem.15 Obwohl man dabei die operative Geschlossenheit des Systems in Differenz zu seiner Umwelt wohl zu leicht nimmt und bei einer klaren Differenzierung zwischen Schwarz und Weiß – einer unwahrscheinlichen Errungenschaft? – ihre Schwierigkeit nicht mehr wahrnimmt,16 scheinen im Zusammenhang der Paradoxie die Differenz sowie die Selbstreferenz doch unlösbare Probleme mit sich zu bringen. In der Tat wird seit langem den Kategorien „Reflexivität“ sowie „auto-logische[r] Zirkularität“ und schließlich Selbstreferenz eine traditionell ontologische Identitätsphilosophie unterstellt, also gerade im Gegensatz zur Differenz;17 und mit dem Begriff 12 Gripp-Hagelstange,
Niklas Luhmann, 1997, S. 33, S. 97 f., S. 109. Recht und Literatur, 2010, S. 90. Hier ist anzumerken, dass in der vorliegenden Arbeit alle Hervorhebungen in Zitaten vom Original übernommen und – teilweise abweichend zum Orignal – in kursiv wiedergegeben wurden. 14 Ternes, Invasive Introspektion, 1999, S. 230–231. 15 Bühl, Luhmanns Flucht in die Paradoxie, 2000, S. 251 f. 16 Man denke nur an die Haufenparadoxie. Vgl. Sainsbury, Paradoxien, 2001, S. 41 f. 17 Zolo, Reflexive Selbstbegründung der Soziologie und Autopoiesis, 1985, S. 522–524. 13 Weitin,
II. Diskussionen über die Paradoxie (des Rechts) bei der Systemtheorie 15
„Autopoiesis“ bescheinigt man der systemtheoretischen Logik trotz aller Anerkennung dieser aussagekräftigen Gesellschaftstheorie einen „exzentrischen epistemologischen Dilettantismus“.18 Zu der systemtheoretischen Logik werden also nicht nur ethische und epistemologische Bedenken vorgebracht, sondern es zeigt sich sogar die innere Ungereimtheit gerade zwischen Differenz und Selbstreferenz, die wie oben gesagt die Paradoxie hervorbringen. Auch wenn man dem Differenzansatz nahe steht, muss man dann davon ausgehen, „dass man mit Logik nicht weiter kommt, zumindest nicht mit einer allzu bewegungsfrei gedachten Logik“.19 Insgesamt bleibt die Paradoxie also eine prominente, aber rätselhafte Figur. Sie ruft einander widersprechende Ansichten hervor und wirkt somit schon paradox. Gegenüber der sogenannten Rechtsparadoxie wird auch wenig Verständnis gezeigt.20 Die Systemtheorie des Rechts wird gar als Verfassungsfeind erklärt: „Der Verfassungsfeind heißt Systemtheorie.“21 Oder man betont, dass ein Jurist von Natur aus unmöglich die Paradoxie des Rechts akzeptieren kann, und weil die Juristen „in der Welt zweiwertiger Logik großgeworden“ sind, suchen sie „zeitlebens nach Gewißheiten“ und nach dem „festen Boden“;22 gerade deshalb müssen die Juristen auch nach einem ganzen Bild der Gesellschaft suchen. Luhmanns Theorie verfährt aber nach einem falschen Schema, weil er „eine starre Trennung von Funktionssphären annimmt“ bzw. vom „Bild einer funktional gegliederten Gesellschaft“ ausgeht.23 Es wird der Systemtheorie wieder die abgrenzende Differenz zwischen System und Umwelt – hier die Differenz von Rechtssystem und anderen Funktionssystemen – vorgeworfen, nämlich dass die Kontakte des Systems nach außen abhanden zu kommen drohen, nur dieses Mal fehlt es 18 Zolo, Reflexive Selbstbegründung der Soziologie und Autopoiesis, 1985, S. 533. Der genannte „Dilettantismus“ bezieht sich unmittelbar auf Glanvilles These „The same is different“, die aber von Luhmann aufgenommen und mehrere Male zitiert worden ist. 19 Nassehi, Paradoxie, 2012, S. 110; Nassehi spricht anschließend von einer möglichen „Logik des Operierens“ (ebd.). Auch Göbel und Jung ziehen die logische Möglichkeit der Systemtheorie überhaupt in Zweifel; vgl. Göbel, Theoriegenese als Problemgenese, 2000; Jung, Identität und Differenz, 2009. 20 Für das Problem der Rechsparadoxie im Allgemeinen, vgl. Fletcher, Paradoxes In Legal Thought, 1985, S. 1263–1292; Joerden, Logik im Recht, 2010, S. 379–409. Allerdings stellen die Autoren nicht wie bei Luhmann die These der Selbigkeit von Recht und Unrecht auf. 21 Kiesow, Vorsicht Verfassungsfeind, 2000, S. 29, und weiter (ebd.): „Wir Juristen müssen zusammenstehen. Denn von ferne hallt es schon: Systemtheoretiker aller Länder vereinigt Euch!“ Es klingt so, als sei der üblicherweise als konservativ angesehene Luhmann in der Tat ein Kommunist oder ein Faschist. 22 Di Fabio, Luhmann im Recht, 2000, S. 152, S. 142. 23 Di Fabio, Luhmann im Recht, 2000, S. 149.
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A. Einleitung
der Systemtheorie angeblich gerade an der Einübung in das binäre SchwarzWeiß-Denken. In der gleichen Richtung lehnt man die Systemtheorie des Rechts ab, außer dem „Konzept der Autopoiese“, auch wegen der systemtheoretischen „Vorliebe für Paradoxien“, wobei man aber die Rechtsparadoxie ernster nimmt und die Lösung mit Theorie der Normenhierarchie zu erreichen meint.24 Oder man sieht in der Paradoxie des Rechts eher neutral ein offenes Problem: „Ob und in welchem Sinne hier ein Paradox vorliegt, mag offen bleiben, wie überhaupt die schon erwähnte Rolle von Paradoxien in Luhmanns Spätwerk ein Thema für sich wäre.“25 Bei Vertretern der Systemtheorie des Rechts wird die Rechtsparadoxie als (international privatrechtliche) Kollision bzw. Widerspruch zwischen Geltungsansprüchen gedeutet, aber jetzt nicht mehr mit der Struktur von Entweder-Recht-oder-Nichtrecht, sondern mit der Struktur der Selbstbezüglichkeit: „Recht weil Unrecht und Unrecht weil Recht“.26 Abgesehen von der Unklarheit der Differenz zwischen Nichtrecht und Unrecht, darf man als erstes zu bedenken geben, ob und wie das Phänomen der Rechtskollision mit dem Weil-Verhältnis zwischen Recht und Unrecht zusammenzuhängen scheint. Und wenn man weiterhin zugleich betont, dass die beiden Pole – Recht / Unrecht – „nicht ‚logisch‘ voneinander ableitbar“ sind,27 dann scheint 24 Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 102–115, S. 450. Es ist übrigens bezeichnend, dass man trotz der prominenten Stellung der Paradoxie fast kein Wort für die von Luhmann immer wieder beschwörte Rechtsparadoxie verliert, oder mit einem Hinweis auf Mengenparadoxie bei Russell ohne Folgen für das Recht wird die Rechtsparadoxie bereits abgehandelt. Siehe Huber, Systemtheorie des Rechts, 2007; Morales, Systemtheorie, Diskurstheorie und das Recht der Transzendentalphilosophie, 2002. 25 Dreier, Niklas Luhmanns Rechtsbegriff, 2002, S. 314. Auf der Seite 309 erwähnt Dreier auch die Differenz von Recht / Unrecht und die Differenz von Recht / Nichtrecht, er geht darauf aber nicht ein. Bei seiner darauf folgenden Thematisierung der Gerechtigkeit bei Luhmann unterscheidet Dreier nicht die Ebenen von Code / Programm und bezieht sich auch nicht auf die Paradoxie des Rechts (vgl. Luhmann, RdG, S. 217). Bei Dreier dreht es sich weiterhin eher um das Verhältnis von Recht und Moral. 26 Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien, 2004, S. 28. 27 Clam, Die Grundparadoxie des Rechts und ihre Ausfaltung, 2004, S. 141; zitiert von Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien, 2003, S. 31. Bei Clam bilden die Bezeichnung und das Unbezeichnete die beiden Pole, und zwar im Zusammenhang der Rede von Hegels Logik; demnach sind die Rechtsparadoxie wie die Paradoxie im Allgemeinen aber ebenfalls logisch eher unmöglich. Da also auch für die Systemtheoretiker die Paradoxie „nicht analytisch sinnvoll erscheint“ (siehe Clam, ebd., S. 115), geben sie sich nur wenig Mühe um logische Erklärung, sprechen dann aber doch von einer Protologik. Es bleibt dabei aber nicht einzusehen, wie eine Differenz wie Bezeichnung und Nichtbezeichnung (Clam, ebd., S. 141) bzw. wie Recht / Gewalt (Clam, ebd., S. 128) eine Paradoxie zustande kommen lässt.
III. Vorgehensweise der Arbeit 17
diese Definition der Rechtsparadoxie anhand des „Weil“ selbstwidersprüchlich zu sein und zugleich auch dem üblichen Verständnis der doch nach logischen Regeln voneinander abzuleitenden Paradoxie bzw. Antinomie nicht zu entsprechen. Nach wie vor bleiben die Befürworter immer noch eine sachliche Erklärung des „Weil“ schuldig. Als Bilanz der Diskussionen über die (Rechts-)Paradoxie bei Luhmanns Theorie könnte man nach dem Gesagten feststellen, dass die Figur der (Rechts-)Paradoxie entweder auf ignorierendes bzw. abweisendes Unverständnis oder auf schlichte Rezeption gestoßen ist. Es scheint aber immer noch an einer Deutung zu fehlen, die die unerträgliche Selbigkeit von Recht und Unrecht schlüssig und nachvollziehbar erscheinen lässt.
III. Vorgehensweise der Arbeit In den folgenden Kapiteln versuche ich im Hinblick auf das Problem der Paradoxie (des Rechts) den inneren Zusammenhang der Systemtheorie (des Rechts) zu verfolgen. In Kapitel B. stelle ich die Konzeption der Theorie des autopoietisch selbstreferentiellen Sozialsystems rekonstruierend dar. Als ihren Gegenstand bestimmt die Systemtheorie die ganze Welt sowie die Gesellschaft überhaupt. Von daher bildet die Einheit der Welt bzw. Gesellschaft die ausgehende Problematik. Wie ein roter Faden durchzieht die Behandlung des Verhältnisses zwischen einem Ganzen und seinen Teilen die ganze Theorie. Dafür wird als Theorieansatz die Differenzlogik im Gegensatz zur traditionellen Identitätslogik aufgestellt. Wie man die Beziehung zwischen Einheit, Differenz sowie Identität verstehen soll, und zwar im Rahmen der Sozialsysteme, wird somit ins Zentrum der Darstellung gerückt. Dabei wird der Übergang von Differenz zum System besonders bedacht. In diesem Zusammenhang werden auch die Theorie der Emergenz der sozialen Systeme sowie die Theorie der Kommunikation dargestellt. Anschließend wird als geschichtlicher Hintergrund die evolutionäre Entwicklung der gesellschaftlichen Differenzierungsformen als grundlegende Struktur jeder Gesellschaft dargelegt. Unter dem Prinzip der funktionalen Differenzierung entwickelt sich die moderne Gesellschaft dann zu einer selbstbeobachtenden und selbstbeschreibenden Gesellschaft: eine Weltgesellschaft. Die Gesellschaft wird damit autologisch, sie kommuniziert – auch in und mit der Form der Systemtheorie – in der Gesellschaft über die Gesellschaft selber. Man soll damit einsehen können, dass in dieser Gesellschaftstheorie die gesuchte Einheit auf die Paradoxie hinausläuft und dadurch setzt sich die Welt bzw. die Gesellschaft der Paradoxie aus. In Kapitel C. gehe ich auf das logische Problem der Paradoxie ein. Man muss dabei im Bewusstsein behalten, dass bei Luhmann die Rede von
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A. Einleitung
Paradoxie mit dem Problem der Einheit der Mannigfaltigkeit der Gesellschaft zusammenhängt. Man benutzt die Formel Einheit der Differenz (bzw. Zweieinheit), die die genannte Paradoxie implizit mit sich bringt. Es wird zuerst eine kurze Übersicht über die Meinungen über den Zusammenhang von Einheit, Identität sowie Paradoxie dargestellt. Anschließend wird das Schlüsselproblem der fast immer übergangenen Negation (Negativität) in Luhmanns Theorie hervorgehoben. Für ihre Behandlung werde ich mich dann besonders an die Neue Phänomenologie von H. Schmitz anlehnen, um mit ihrer Hilfe die Rede von Paradoxie bei Luhmann logisch und sinnvoll nachzuvollziehen. Es wird nämlich versucht, die Theorien ineinander zu übersetzen, um die begrifflichen Verwirrungen und theoretischen Mängel bei Luhmanns Systemtheorie zu zeigen. Doch dadurch kann die Pointe seiner Theorie bzw. das dahinter stehende Problembewusstsein noch deutlicher zum Ausdruck gebracht werden. Als Ergebnis sollte dann die Rede von Paradoxie bei Luhmann doch auch logisch gerechtfertigt werden können. Mit dieser Rechtfertigung der Rede von Paradoxie werden in Kapitel D. die Paradoxie des Rechtscodes und damit auch die Theodizee des Rechts dargestellt. Als erste Voraussetzung dafür wird eine begriffliche Differenzierung – der Rechtscode, die Codewerte, der Rechtsbegriff und das Rechtssystem – vorgenommen. Die Rolle der Negation sowie ihre Verortung werden sorgfältig bestimmt. Danach können der Sinn der fundamentalen Paradoxie des Rechts – eben die Selbigkeit von Recht und Unrecht – und mit ihm auch der Problemzusammenhang von Einheit und Identität des Rechts verständlich gemacht werden. Dabei hängt die Paradoxie des Rechts mit Zeit und Entscheidung eng zusammen. Die Theodizee des Rechts in der Geschichte kann demnach als Schwierigkeit mit der selbstnegierenden Identität des Rechts verstanden werden. In Kapitel E. wird die strukturelle Kopplung des Rechtssystems mit seiner Umwelt dargestellt: das Verhältnis von Rechtssystem zur Gesellschaft mit ihren anderen Funktionssystemen sowie zum psychischen System. Es geht zuerst um den Verfassungsstaat, dann um die subjektiven Rechte, die Menschenrechte sowie die Wertekonflikte. Die Pointe soll darin liegen, dass das unlösbare Problem der unitas multiplex der Gesellschaft mit der Paradoxie des Rechtssystems – nämlich in Rechtsform – gekoppelt werden kann, wobei sich die Theodizee des Rechts anhand des Rechtscodes vom Verfassungsstaat bis zu den Menschenrechten erstreckt. In Kapitel F. wird noch einmal der Sinn der Rede von der Paradoxie des Rechts bei der Systemtheorie von Luhmann zusammengefasst. Ob der nichtnormative Ansatz dieser Rechtstheorie für die Wahrnehmung des Rechtsproblems im Hinblick auf die Gesamtgesellschaft behilflich sein könnte, muss
III. Vorgehensweise der Arbeit 19
man ebenfalls nicht normativ entscheiden. Die theoretische Beschreibung der Gesellschaft zielt von Anfang an nicht auf Begründung ab. Nur eine systemtheoretische Behandlung des Verhältnisses von Recht und Moral wird zum Schluss versuchsweise vorgenommen, um die Rechtsparadoxie als systemtheoretische Kernthese noch einmal zu beleuchten und eben dadurch die Differenz der Systemtheorie im Gegensatz zu anderen Ansätzen deutlich herauszustellen.
B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems I. Paradigmawechsel für die Theorie von Einheit und Identität Luhmann versteht seine Systemtheorie als einen Paradigmawechsel im Sinne eines Differenzansatzes. Als dessen Formel „bietet sich die Differenz von Identität und Differenz an“.1 Es wird nämlich bei Differenz, nicht bei Identität angesetzt: „Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz.“2 Die Identität stellt vielmehr ein im Differenzansatz zu lösendes Problem dar, „für alle differenztheoretischen Analysen ist Identität ein eher beunruhigendes Konzept“.3 Auch der Einheitsbegriff ist nicht mehr von der Identität, sondern von der Differenz her zu denken. „Nicht die Einheit, sondern die Differenz ist die Interpenetrationsformel“, es ist also eben die Differenz, die erst die Einheit einer sozialen Situation stiftet.4 Die Differenz bildet demnach den ausgehenden Bezugspunkt, die beiden philosophischen Grundbegriffe – Identität und Einheit – müssen von der Differenz her begriffen und definiert w erden. Luhmanns soziologische Systemtheorie wird deshalb im Allgemeinen als Differenztheorie oder Differenzlogik angesehen. Von diesem begrifflichen Rahmen ausgehend wird zuerst die Welt als der eigentliche Gegenstand erörtert. 1. Gegenstand und Anspruch von Luhmanns Systemtheorie Zum Gegenstand hat Luhmanns Systemtheorie „den Gesamtbereich der Wirklichkeit“ und „die gesamte Welt“,5 sie schließt „alles Soziale“ ein und beansprucht die „Universalität der Gegenstandserfassung“.6 Die Wirklich1 SS,
S. 26. Vgl. SS, S. 27, S. 110. S. 112; auch SS, S. 243: „Der Ausgangspunkt […] ist daher nicht eine Identität, sondern eine Differenz.“ 3 Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2000, S. 25. 4 SS, S. 315; vgl. ÖK, S. 23 f.: Die Theorie muss sich „von Einheit auf Differenz“ umstellen. 5 Luhmann, Archimedes und wir, 1987, S. 163 und S. 164.; vgl. SS, S. 10: „die Gesamtwelt“. 6 SS, S. 9. 2 SS,
I. Paradigmawechsel für die Theorie von Einheit und Identität 21
keit, die Welt sowie das Soziale überhaupt bilden den Gegenstand der Systemtheorie. Diese Theorie will zugleich ein „Paradigma“ im Sinne einer facheinheitlichen Theorie für die Soziologie anbieten, um „die Besonderheit ihres Gegenstandsbereiches und ihre eigene Einheit als wissenschaftliche Disziplin [zu] begründen“.7 Die Theorie setzt sich nämlich die Einheit eines wissenschaftlichen Faches sowie seines Gegenstandes zum Ziel und sie muss dafür eine Gesellschaftstheorie sein.8 Dem Verständnis entsprechend muss die Systemtheorie selber in ihrem Gegenstand auftreten und sich beschreiben. Sie ist somit selbstreferentiell und stellt eine universalistische Theorie dar; und dies bedeutet auch, dass es keine unabhängige Bestätigung mehr für die Wahrheit der Theorie außerhalb des Gegenstandes geben kann.9 Die Systemtheorie behält also einerseits das alteuropäische Ideal der Wissenseinheit immer noch im Auge, aber sie wendet sich andererseits zugleich gegen die alteuropäischen, „asymmetrisch“ angelegten Theorien wie zweiwertige Logik und klassische Ontolo gien; dabei unterstellen die letzteren Luhmann zufolge immer einen externen Beobachter, meinen die Welt „von außen, ab extra“ beobachten zu können und substantialisieren somit die Welt, als ob sie vorhanden da sei und eine feststehende Identität habe.10 Wenn die Welt den Gegenstand ausmacht, aber 7 SS,
S. 7. „Umfassenheit“ (GdG, S. 937) kennzeichnet diesen Gegenstand als „das umfassende System des Sozialen“ (GdG, S. 933). Luhmann sieht das Problem, mit dem die Soziologie als eine Disziplin konfrontiert wird, darin bestehen, dass fast alle Sinnbereiche bereits von anderen vorhandenen Disziplinen besetzt wurden, bevor die Soziologie begann, zu einer eigenen Disziplin zu werden. Andererseits wurde die Soziologie offenbar eben wegen der Besonderheit der modernen Gesellschaft auf den Plan gerufen und erscheint insofern als strukturell notwendig. Sie konnte, aber musste auch nicht mit anderen Fächern konkurrieren. Das Problem bleibt aber, dass es der Soziologie als Fach an der Einheit von Theorie sowie Gegenstand fehlt – an einer Gesellschaftstheorie. Die vielen Teilsoziologien – wie zum Beispiel die Rechtssoziologie an der juristischen Fakultät – spiegeln gerade diese Unzulänglichkeit wider. Vgl. Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1985, S. 7–11. Die Selbstrechtfertigung der Soziologie besteht dann weder in dem Status der Krisenwissenschaft noch in dem Erfolg empirischer Forschung, sondern in der „Aus arbeitung einer gegenstandsadäquaten Gesellschaftstheorie“ (GdG, S. 1132), also in der adäquaten Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft. 9 SS, S. 9. Die Universalität bezieht sich auf den Gegenstand, nicht auf die Stellung der einzig richtigen Theorie. „Allerdings setzt der Anspruch auf fachuniversale Geltung auch der Kritik das Maß“ (Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: ders., SA 1, 1991, S. 113). Eine alternative Theorie muss also auch auf der gleichen Ebene der Universalität stehen und äquivalenten Ersatz anbieten. 10 Über den Bruch der Systemtheorie mit alteuropäischen Theorien siehe Luhmann, Archimedes und wir, 1987, S. 164 f. und SS, S. 10; über die vorhandene Welt und ihre bestehenden Identitäten siehe GdG, S. 46. 8 Die
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B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
nicht als vorhanden betrachtet wird, dann muss das Verhältnis der Theorie zur Welt zuerst bestimmt werden. 2. Welt als Bezugsproblem Die Welt fungiert bei Luhmanns Systemtheorie vor allem als Bezugsproblem und Bezugsrahmen. Das Verhältnis zur Welt markiert Luhmanns Umstellung von der strukturell-funktionalen (Parsons) zur funktional-strukturellen Systemtheorie. Nach Luhmann wird bei Parsons das System – nicht die Welt – als Bezugspunkt vorausgesetzt und der Strukturbegriff wird dem Funktionsbegriff vorgezogen; die Funktion wird dann überwiegend als systeminterne Leistung im Hinblick auf das Bestanderhalten des Systems als Ganzes mit seinen Teilen verstanden. Üblicherweise setzt die Kritik an Parsons dementsprechend an der vermeintlich unwandelbaren Struktur des Systems und an deren Rechtfertigung des Status quo an. Für Luhmann liegt aber der „Grund dieser Mängel“ bei Parsons’ Systemtheorie eine Ebene höher, nämlich eher darin, dass die theoretische Vorordnung der Struktur vor der Funktion es unmöglich macht, den Sinn der Strukturbildung und Systembildung zu hinterfragen. Es muss also diese Vorfrage eingeschaltet werden. Aber die Problematisierung von Struktur- und Systembildung erfordert dann ihrerseits einen anderen Bezugspunkt, für den sich bei Luhmann die Welt – nun nicht mehr das System – anbietet. Auf die Welt als Bezugspunkt bezieht sich das System und die Funktion wird im Hinblick auf die Welt als Bezugsproblem begriffen und somit der Struktur vorgezogen.11 Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Umstellung ist es wichtig, den Übergang von der Welt überhaupt zur Weltkomplexität zu beachten. Nicht der Bestand der Welt, sondern die Komplexität der Welt ist das Problem. „Solange überhaupt etwas ist, ist auch die Welt“, die Welt hat gar kein Problem „ihres Seins“; sie ist kein System, hat keine Umwelt und sie kennt gar keine Grenze, deshalb hat sie als solche eben keinen Bestand, der bedroht und gefährdet werden kann.12 Dann taucht die Komplexität in der Welt auf. Die Welt wird komplex und insofern kann ihr Bestand gefährdet werden. „Alle Bestandsgefährdung muß 11 Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: ders., SA 1, 1991, S. 113–115. Dieser Bezug auf die Welt bedeutet auch, dass für die Systemtheorie nicht das System, sondern „das Verhältnis von System und Umwelt“ das Bezugsproblem ausmacht (SS, S. 242). 12 Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: ders., SA 1, 1991, S. 115. Die Welt ist daher als „unfaßbare Einheit gegeben“ (SS, S. 283) und in diesem Sinne sagt Luhmann, „daß wir nicht wissen können, was gegen die Welt geht. Alles Wissen ist Resultat von Kommunikation über die Welt“ (RdG, S. 553).
I. Paradigmawechsel für die Theorie von Einheit und Identität 23
daher als Möglichkeit in der Welt gedacht werden, alle Bestandsvernichtung ereignet sich in der Welt“, die Welt wird dadurch als „die Gesamtheit der möglichen Ereignisse“, nämlich die Weltkomplexität, verstanden.13 Mit der Komplexität wird die Grenze in die ursprünglich grenzenlose Welt eingebaut und man verlässt sozusagen die einfache Welt, die nun aus kontingenten Möglichkeiten besteht. Der Begriff der Komplexität bei Luhmann bedeutet, dass „es nicht mehr möglich ist, jedes Element zu jedem anderen in Beziehung zu setzen“; und auch kein System vermag „die logische Möglichkeit [zu realisieren], jedes Element mit jedem anderen zu verknüpfen“.14 Man kann also nicht auf einmal alle Möglichkeiten der Relationierung der Elemente verwirklichen. Um die Komplexität abzufangen, wird in der sozialen Evolution das System mit seiner Grenze von Innen / Außen eben auch in der Welt entwickelt; und aus der Welt entsteht umgekehrt aufgrund der Systemgrenze eine Weltkomplexität. Der Begriff der Weltkomplexität bedeutet also die Überführung bzw. Überformung der ursprünglichen, grenzenlosen Welt ins abgrenzende System im Gegensatz zu seiner Umwelt: „Die Weltkomplexität hängt ab von den Systemen in der Welt“.15 Der Bezug auf die Welt bedeutet bei Luhmann also, dass die Welt nicht mehr von außen, sondern eben nur in der Welt selbst beobachtet wird. Ihr Sein hängt nun von dem System ab, erst mit der Differenz von System und Umwelt „kann es Welt geben“; aber das System „setzt sich damit der Welt aus“, es wird nämlich mit der von ihm selber verursachten Weltkomplexität konfrontiert.16 Die Welteinheit als Gegenstand wird in die Weltkomplexität umgewandelt und ist nur noch durch die Grenze bzw. die Differenz zu erreichen. „Jede Differenz wird so zum Weltzentrum, und gerade das macht die Welt nötig: Sie integriert für jede System / Umwelt-Differenz alle System / Umwelt-Differenzen, die jedes System in sich selbst und in seiner Umwelt vorfindet.“17 Da die Welt in der Welt dadurch alle sinnhaften Dif13 Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: ders., SA 1, 1991, S. 115. Man beachte, dass der Bestand (Sein) der Welt nicht geleugnet, sondern nur von der Komplexität unterschieden wird. Der Weltbegriff wird bereits hier modalisiert. Luhmann spricht später von Welt-Verletzung. 14 SS, S. 46 und S. 73. Ob und wie diese logische Möglichkeit tatsächlich dargestellt werden kann, ist ein anderes Problem. 15 Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, in: ders., SA 1, 1991, S. 115. 16 SS, S. 283. 17 SS, S. 284. Wie Müller, Differenz, Differenzierung, 2012, S. 73, schreibt: „[D]er Schrägstrich ist als Sonderzeichen aus den Schriften Luhmanns schlichtweg nicht wegzudenken“, aber nicht weil Luhmann – wie Müller es andeutet – die Einheit aufgibt, sondern weil die Einheit von der Differenz her aufzufassen ist. Der Schrägstrich ‚ / ‘ bildet eine besondere Ausdrucksweise für die Sinneinheit durch
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ferenzen einschließt und eine „zirkuläre Geschlossenheit“ bildet, wird sie als „das Korrelat der Identität von Sinn“ angesehen.18 Es geht bei dem Weltproblem nämlich einerseits um die Beobachtungsweise der Welt und andererseits um das Problem des weltexplizierenden Sinnmediums. Dafür wird hier zuerst auf die beiden Paradigmen eingegangen. 3. Einheitsproblem, Leitdifferenz und System Im Hinblick auf die Beobachtungsweise der Welt stellt Luhmann dem traditionellen Paradigma der Seinsontologie das neue Paradigma der Differenz von System und Umwelt gegenüber. Die letztere soll die erstere ersetzen. Die Differenztheorie soll an die Stelle der Identitätstheorie treten. Identität oder Differenz? In diesem entscheidenden Punkt bleibt die Systemtheorie bis jetzt umstritten. Insbesondere werfen die Kritiker Luhmann vor, dass er sich selber eigentlich an der Identitätslogik orientiert. Hier wird zuerst versucht, den Differenzansatz im Gegensatz zum Identitätsansatz nachzuzeichnen. Die weitere Frage, wie Identität und Einheit des Gegenstandes durch Differenz erreicht werden, handelt dann von dem Systemproblem im engeren Sinne: der Systembildung und der (logischen Möglichkeit der) Selbstreferenz des Systems. a) Traditionelles Paradigma: Seinsontologie Luhmann nennt das traditionelle Paradigma der Leitdifferenz die alteuropäi sche Tradition, Seinsontologie, Dingschema, Humanismus bzw. auch Moralistik. Gesellschaftlich strukturell sieht das Paradigama „eine konkurrenzfreie Position für die richtige Beschreibung der Welt und der Gesellschaft“ vor, und zwar den Geburtsadel als die Spitze der Hierarchie und die Stadt als das Zentrum der Welt.19 Die dominierende Weltbeschreibung geht dementsprechend von der eleatischen Ontologie aus, deren Kennzeichnung nach Luhmann in der Erfindung der Denken störenden Paradoxien zur Verteidigung des Seins besteht. Dafür bedient man sich aber der zweiwertigen Logik.20 Differenz. Generalisierend kann man sagen, dass jede Differenz bereits eine Welt bzw. ein Weltzentrum stiftet. SS, S. 106: „Von jedem Ausgangspunkt kann man sich zu allen anderen Möglichkeiten der Welt fortbewegen; eben dies besagt die in allem Sinn angezeigte Welt. Dem entspricht ein azentrischer Weltbegriff.“ WissendG, S. 57: „Jede Unterscheidung repräsentiert dann Welt“. 18 SS, S. 105, S. 283. Die Welteinheit und die Identität von Sinn sind sozusagen zwei Seiten derselben Medaille. 19 GdG, S. 894. 20 GdG, S. 895, S. 929. Direkt im Gegensatz zu der eleatischen Ontologie stellt die Paradoxie gerade die „Letztformel“ der Systemtheorie dar (WissendG, S. 520).
I. Paradigmawechsel für die Theorie von Einheit und Identität 25
Als Leitdifferenz geht diese Ontologie nämlich von der Unterscheidung von Sein und Nichtsein in der Annahme aus, „daß nur das Sein ist und das Nichtsein nicht ist“.21 Es gibt also nur Sein, es gibt nicht Nichtsein. Die ganze Welt steht unter dem Zeichen des Seins, die Welt bedeutet eben Sein. Die Ontologie gewährleistet dann „die Einheit der Welt als Einheit des Seins. Nur das Nichts wird ausgeschlossen, aber damit geht ‚nichts‘ verloren.“22 Die Kennzeichnung der Ontologie sieht man also in der Vernachlässigung bzw. Verdrängung des Nichts (Negation). Die Welt kann dadurch „nicht als Hintergrundunbestimmtheit (weder Sein noch Nichtsein)“, sondern nur als eine Menge bestimmter Objekte, als „Objektmenge“, begriffen werden.23 Dies ist das sogenannte Dingschema, demnach kann es in der Welt keine Paradoxie, keine Unbestimmtheit – sowohl Sein als auch Nichtsein bzw. weder Sein noch Nichtsein – geben. In diesem Sinne wird „das Nicht“ nur postituiert für die Differenz von Sein und Nichtsein, als nur für die Bezeichnung des Seins gebraucht, es bedeutet „nur die Aufforderung ‚zurück zum Sein‘ “.24 Man kann nur auf der Seite des Seins Anschluss finden und man muss es eben unbedingt – normativ – können. Die Realität als Seinswelt ist also „einwertig“.25 Es besteht keine Alternative im Sinne von Nichts. Die Logik besteht zwar parallel zur Ontologie und besitzt zwei symmetrische Werte. „Diese symmetrische Zweiwertigkeit steht jedoch voll im Dienst der (Erkenntnis der) ontologischen Einwertigkeit.“26 Dies bedeutet, 21 GdG, S. 895. Luhmann betont, dass die Ontologie, mit welchen philosophischen Inhalten auch immer, als ein „Beobachtungsschema“ anzusehen ist und vor und für die Differenz von Sein und Nichtsein immer bereits die (systemtheoretische) Differenz „von Beobachten (oder Beobachter) und Beobachtetem“ voraussetzen muss (GdG, S. 897 f.). 22 GdG, S. 896. 23 GdG, S. 897. 24 GdG, S. 898. „Das Kreuzen der Grenze von Sein und Nichtsein und zurück bringt keinen Zugewinn, es ist nichts anderes als ein Wiederauslöschen der Operation“ (siehe GdG, ebd.). Als eine Umschreibung dieser Ontologie kann man einmal das Axiom 2 (The Law of crossing) bei Spencer Brown, Laws of Form, 1969, S. 2, lesen: „The Value of a crossing made again is not the value of the crossing.“ Entsprechend bedeutet das Axiom 1 (The Law of calling, Brown, ebd., S. 1) die Selbstreferenz von Sein: „The value of a call made again is the value of the call.“ Sein ist Sein, „das Sein stellt in sich selbst Beziehungen zu sich selbst her“ (SS, S. 143) und „es ist, wie es ist“ (GdG, S. 898). Die beiden Axiome im logischen Kalkül von Spencer Brown bringen also einerseits die eleatische Ontologie zum Ausdruck, diesen ontologischen Sachverhalt aber muss man andererseits im Rahmen der nicht ontologischen Systemtheorie von Luhmann lokalisieren. 25 GdG, S. 898. 26 GdG, S. 905; auch GdG, S. 927: „Die zweiwertige Logik hat nur einen Wert, den positiven Wert, für die Bezeichnung des Seins zur Verfügung, und einen zweiten
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dass die zweiwertige Logik ihre Funktion darin hat, die Fehler, Irrtümer und Korruptionen – die Erscheinungsformen des Nichtseins – zu entdecken, zu korrigieren und zum Sein zurückzuführen. Die ontologische Differenz von Sein und Nichtsein wird für diese Funktion in der Logik als „Gesetz des ausgeschlossenen Dritten“ aufgenommen und dadurch erhält man die „Gleichförmigkeit“ von Sein und Denken.27 Man kann eben nur einwertig – richtig, wahrheitsgemäß und widerspruchslos – denken. Mit dieser Zusammensetzung von einwertiger Ontologie und zweiwertiger Logik soll man Gefahr der Täuschung vorbeugen, die bei der Unterscheidung von Seiendem und Nichtseiendem geschehen können. Wenn man auf dieser Ebene etwas als etwas, nämlich etwas als einen Fall einer Gattung, bezeichnen will, kann man insofern in eine Verwirrung geraten, „indem etwas bezeichnet wird als ein etwas, das es nicht ist, oder vielleicht auch nur: möglicherweise nicht ist“.28 Es kann also passieren, dass etwas als etwas und als etwas anderes angesehen wird. Und auf diese Täuschungsgefahr kann man nun Platons Fragestellung im Theaitetos beziehen, warum „einer etwas für wahr hält, was ein anderer falsch hält; daß also die Gesellschaft Wahrheit als Falschheit kommuniziert?“29 Man könnte also feststellen: Mit der Ontologie als der traditionellen Leitdifferenz hat man bei Luhmann mit dem Problem der sozialen Kommunikation zu tun; und die Ontologie wird in den Zusammenhang ihrer Funktion für die Lösung des Kommunikationsproblems gerückt und beobachtet.30 Wert für die Selbstkorrektur des Beobachters, für die Kontrolle von Irrtümern.“ Luhmann sieht das Problem der klassischen Logik nämlich darin, dass sie nicht „ontologiefrei argumentieren würde“ und „daß ihr Seinskonzept es ihr verbietet, demselben Gegenstand sich widersprechende Prädikate zuzuordnen. Von ihr aus gesehen ist das Sein einwertiges Sein“ (GdG, S. 905). Daher erhält die zweiwertige Logik den Satz der Identität, das Widerspruchsverbot und schließt das Dritte aus. Dies alles bewirkt dann nach Luhmann bis heute „ein ständiges Wiederkehren ontologischer Weltbeschreibungen“ (GdG, S. 962). 27 GdG, S. 895 f. Hierin sieht man Luhmanns Interpretation von dem berühmten Satz, von dem die Tradition der Ontologie ihren Anfang genommen hat: Sein und Denken sind dasselbe. Vgl. auch, GdG, S. 902: Man nimmt an, „daß das Denken, indem es das Sein feststellt, sein natürliches Ende erreicht“. Vgl. WissendG, S. 514 f., man setzt nun an die Stelle der Unterscheidung Denken / Sein die von Beobachtung / Operation. 28 GdG, S. 896. 29 GdG, S. 904; vgl. auch GdG, S. 928. Mit den „Ist-Aussagen“ soll man seinsweise eigentlich derselben Meinung über dasselbe sein, es kommt aber doch zu verschiedenen Meinungen (GdG, S. 903). 30 „Ontologien entstehen […] als Nebenprodukte der Kommunikation“ und finden ihren Ausdruck vor allem in dem „ ‚ist‘ “ (SS, S. 205). Im Problem sozialer Kommunikation und gesellschaftlicher Reproduktion, aber nicht im Problem der Erkenntnis bzw. Kosmologie soll man den Bezug von Luhmanns Systemtheorie auf
I. Paradigmawechsel für die Theorie von Einheit und Identität 27
In dieser Funktion muss die Ontologie mithilfe der Logik jedem Ding seine feste Stelle und Identität garantieren und dadurch Ordnung stiften. Die Welteinheit steht allein unter dem Zeichen des Seins, auch die Differenz von Sein und Nichtsein erscheint wiederum im Sein und wird dem Sein – aber nicht dem Nichtsein – untergeordnet. Mit Luhmann kann man dies „Selbstbeglaubigung des Seins“ nennen.31 Auf das Sein gestützt bleibt die Welt, wie sie ist; das Seiende kann auch nicht anders sein als es ist. Und wenn man sich über sich äußern will, dann muss man eben auf der Seite des Seins sein, „nicht aber als etwas, was ‚nicht ist‘ “.32 Alles muss also am Sein teilnehmen, sonst ist es gar nicht.33 Mit dieser Seinsontologie besteht die Welt zwar „aus sichtbaren und unsichtbaren Dingen und aus zwischen ihnen bestehenden Beziehungen“.34 Aber weil mit der Differenz von Sein und Nichtsein nicht nur das Nicht, sondern zugleich auch das logisch ausgeschlossene Dritte ausgeschlossen wird, hat die Ontologie zur Folge, dass das Sein auf das Seiende konzentriert wird und „alle Grenzen, alle Zäsuren, alle ‚Zwischens‘ “ – nämlich Beziehungen – eben ins Nichtsein fallen.35 Daher fragt man in der Ontologie immer nur danach, „was das ‚Seiende‘ – sei es Objekt, sei es Subjekt – ‚an ihm selbst sei‘ “, so dass „Relationen metaphysisch zu deklassieren“ sind.36 die philosophische Tradition verorten. Insofern ist es der Ansicht zuzustimmen, dass es „um den Status von Ontologie und Epistemologie in ihrer theoriebegründenden und gesellschaftsformierenden Funktion selbst“ geht und dass es „von der systemtheoretischen Re-Konstruktion der ontologischen und epistemologischen Prämissen“ abhängt (Schönwälder-Kuntze / Göldner, Philosophie, 2012, S. 382). 31 GdG, S. 950. Durch ontologische Selbstreferenz des Seins erhält man eine Selbstbegründung des Seins. 32 GdG, S. 898. Man meint wirklich, was man sagt und dass man so etwas ist wie gemeint. 33 Es ist hier anzumerken, dass das Sein bei Luhmann unterscheidliche Dimensionen vermengt und verwechselt. Es kann sich nämlich beziehen (i) auf die Identität oder (ii) auf die Existenz. Der erste Fall trifft bei dem Satz zu: „Es ist, wie es ist“ (GdG, S. 898), auch bei „Seinsidentität“ (GdG, S. 904); der zweite Fall bei der Formulierung: „Auch Einzeldinge können aus sich heraus existieren, weil ihr Sein nur von ihrem Nichtsein unterschieden werden muß und ihr Nichtsein ihnen nichts anhaben kann“ (Siehe GdG, S. 898 f.). Ähnlich wird auch von Sein oder Nichtsein von Gott ohne genauere Unterscheidung gesprochen (GdG, S. 897). Wenn man dann noch von „Einteilungen des Seins“ (GdG, S. 902) spricht, geht es bei dem Sein auch (iii) um Einheit bzw. Einzelheit. Diese Vermengung von Identität, Existenz und Einheit scheint die ganze Theorie von Luhmann zu durchziehen, mit der Folge von Verwirrung und Missverständnis. 34 GdG, S. 899. 35 GdG, S. 901. 36 GdG, S. 901. Das Sein ist „indifferent gegen alle Formen“ und „alles, was unterschieden wird, wird am Sein unterschieden“ (Siehe GdG, S. 902). Das Sein scheint an sich insofern ununterscheidbar bzw. unterschiedslos zu sein. Das (unun-
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B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
Nach Luhmann werden dann alle weiteren traditionellen Unterscheidungen an das ontologische Programm angeschlossen. Sowohl die Differenz von Ganzem / Teil als auch die Aufwertung des Menschen mit seiner Tugendmoral schließen sich in der Tat an die fundamentale und asymmetrische Differenz von Sein und Nichtsein an. Die ganze Ordnung von Welt und Gesellschaft weist dementsprechend eine hierarchische Struktur auf. „Die Hierarchie ist die ‚Fülle des Seins‘.“37 Bei der Differenz von Ganzem und Teil hat man es mit dem Problem der Einheit zu tun, die als das Ganze „zugleich Vieles und Eines (unitas multiplex)“ darstellt und damit eine Paradoxie der Einheit erzeugt.38 Da das Ganze mehr als die Summe der Teile ist, sucht man das Einheitsproblem durch Explikation des Mehr zu lösen. Man muss also fragen, wie die Teile auf die Ebene des Ganzen steigen können und umgekehrt, wie das Ganze auf der Ebene der Teile zur Geltung kommt und sie zusammenhält. Im Hinblick auf das Problem braucht man dann einerseits innerhalb des Ganzen doch eine Grenze zur Vielheit und andererseits bleibt mit der Konzentration auf „die Innenverhältnisse des Ganzen“ die Grenze nach außen nicht artikuliert.39 Dies läuft darauf hinaus, dass zusammen mit der Grenze – das Zwischen – die Einheit gar nicht thematisiert wird. Das Einheitsproblem kann man zwar mit der Formel der „Einheit von Identität [von Vielem und Einem] und Differenz [der beiden Ebenen]“ zum Ausdruck bringen.40 Aber mit allen differenzierenden Unterscheidungen wird es eigentlich nur umformuliert, verdeckt und eben dadurch verarbeitet.41 In diesem Zusammenhang setzt das Sein als Natur wieder an. Die Natur durchdringt alle Dinge und stiftet die Einheit aller Differenzen. Auf der einen Seite sucht man dann diese allen Dingen innewohnende Natur in Gott, im Kosmos, in der Gesellschaft, in Menschen (Vernunft) und anderen zu symboterscheidbare) Sein und das (einzelne) Seiende werden ungetrennt so eng gebunden und die Relation hat gar kein Sein. Diese ontologische Weltsicht wird bei Schmitz als Singularismus bezeichnet. Darauf werde ich unten noch zu sprechen kommen. 37 GdG, S. 900. 38 GdG, S. 912 f. 39 GdG, S. 913. 40 GdG, S. 913. 41 GdG, S. 913 f., auch GdG, S. 918; vgl. SS, S. 20: Das Einheitsproblem besteht in der Tradition darin, „daß das Ganze doppelt gedacht werden mußte: als Einheit und als Gesamtheit der Teile“, nämlich: „das Ganze sei die Gesamtheit der Teile oder sei mehr als die bloße Summe der Teile“. Man hat einerseits ein logisches Problem, aber mit zwei Beschreibungen – Einem und Vielem – für denselben Gegenstand (wie Stadt bzw. Gesellschaft) wird man andererseits zugleich wieder mit dem Kommunikationsproblem wie bei unterschiedlichen Meinungen zu demselben Sein konfrontiert. Das logische Problem der Paradoxie sieht man nun auch auf das Problem der sozialen Kommunikation bezogen.
I. Paradigmawechsel für die Theorie von Einheit und Identität 29
lisieren, auf der anderen Seite kommt mit Natur auch das Problem der Differenz von Perfektion und Korruption – das Problem des Nichtseins – auf.42 Nach Luhmann hat dann das Schema von Ganzem / Teil bei dem fundamentalen soziologischen Problem des Verhältnisses von Gesellschaft und Individuum – entsprechend dem Verhältnis von Kosmos und Subjekt – zwei Entsprechungen. Zuerst wird das Ganze in der Gesellschaft dargestellt, die aus individuellen Menschen besteht. Die Gesellschaft wirkt als Sein bzw. Natur wie ein festes Wesen, das Identität verleiht. Und die Individuen müssen an der Gesellschaft teilhaben – als Teil des Ganzen – und dadurch ihre Natur erhalten. Dafür mussten sie traditionell „in der Lage sein, das Ganze, in dem sie leben, zu erkennen, und sie mußten bereit sein, ihr Leben nach der Erkenntnis einzurichten“.43 Man sieht hier, dass das Einheitsproblem dadurch mit Identität – anders als mit Differenz – übersetzt wird. Man muss sich nämlich an der Identität der Gesellschaft orientieren, daraus entsteht aber das Problem der Abweichung in der Semantik von Korruption sowie Imperfektion. Ontologisch bedeutet dies eben den Irrtum bzw. das Nichtsein, was die binäre Logik korrigieren helfen soll. Gegen die von der ‚Natur‘ abweichende Verfehlung geht man dann mit der Differenz von herrschenden / beherrschten Teilen – als eine nachgeschaltete Unterscheidung für die Einheit – an und dadurch erfährt das Ganze eine überformende Hierarchisierung. Die Einheit wird also durch die herrschenden Teile – die Spitze der Gesellschaft – repräsentiert, das Ganze wird mit ihnen identifiziert. Mit Aristoteles’ Gerechtigkeit rechtfertigt man sich dadurch, „daß es die besseren Teile sind, die regieren“ und somit können die „schichtmäßigen Qualifikationen dieser Teile mit Moral in Einklang stehen“.44 Trotzdem bestehen die besseren Teile auch nur als Teile in der ganzen Einheit und müssen hierin wiederum vorkommen. Dadurch wiederholt sich das Problem der Mehr-als-die-Summe, nur jetzt auf die Spitze konzentriert. Auch die Abweichungen von der Identität finden hier statt. Mit der hierarchischen Differenzierung scheint also das ausgeschlossene Dritte – die Einheit – das Problem weiter zu bleiben. Die andere Variation will dann das Ganze – Sein bzw. Natur – im einzelnen Individuum gelten lassen. Das Einheitsprinzip erscheint hier als „das Weltganze bzw. das Ganze der Menschheit“;45 und als das Allgemei42 Vgl.
GdG, S. 914–917. S. 20. 44 GdG, S. 919. Man kann sich vier mögliche Unterscheidungsformen für die Lösung der Paradoxie von Ganzem und Teil vorstellen: (i) toto ad toto, (ii) toto ad parte, (iii) parte ad toto und (iv) parte ad parte (vgl. GdG, S. 919–922). Nach Luhmann stellen sie die Variationen des ausgehenden Schemas von Ganzem / Teil dar. 45 SS, S. 21. 43 SS,
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ne erhält die Einheit nun ihren Bezugspunkt in der Vernunft, im Sittengesetz usw. Mit all diesen möglichen Variationen der Semantik wird das Allgemeine nun im Subjekt als das Besondere konzentriert und verankert. Das Einheitsproblem wird „am Menschen“ wiederholt und von der Gesellschaft „in ihn hinein verlegt“, der Mensch hat „Ganzes und Teil zugleich zu sein“.46 Dies ist die humanistische Aufwertung des Menschen, wobei die Natur im Menschen normativ – moralisch bzw. ethisch im Sinne der Tugendhaftigkeit – verstanden wird. „Das Allgemeinste wird dann im Hinblick auf eine immanente Normativität der Faktizität des Subjekts respezifiziert.“47 Damit tritt die Menschheit aber den „langen Weg der Realisation des Allgemeinen im Besonderen“ an.48 Luhmann sieht diese Variante in der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie, im Deutschen Idealismus und im Humanismus.49 In dieser Tradition besteht die Gesellschaft immer noch aus Menschen. Das Allgemeine wird – das Einheitsproblem – in Gestalt eines „differenzlosen Grundbegriff[s]“ sozusagen dem individuellen Subjekt aufgeladen, es erzeugt dann eben mit der mitgebrachten negativen Seite das Sinnproblem. Somit gibt man nach Luhmann in der Tat bereits den Anspruch auf Universalität auf und ersetzt sie mit Kritik am Subjekt. Mit Kritik stellt man aber ebenfalls (Ersatz-)Differenzen und Grenzen her, die dann das Subjekt wiederum die Ganzheit repräsentieren und zugleich auch der Welt bzw. der Gesellschaft einen „Rest von Defekten“ zuschreiben lassen.50 Man kann also die negative Seite, die zusammen mit Kritik entsteht, nicht im Subjekt unterbringen und legt sie dann abwertend nach außen ab. 46 GdG,
S. 925. S. 108. 48 SS, S. 21. 49 Luhmann thematisiert den Deutschen Idealismus bzw. neuzeitlichen Humanismus als ontologische Varianten des Einheitsproblems mit Blick auf den Zusammenhang von Ganzem und Teil. Man könnte das Problem der „Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit“ – bei Luhmann Besonderheit und Allgemeinheit – ja auch als Problem des Verhältnisses von Ichheit und Individualität behandeln: „Jeder ist durch Ich individualisiert. Sofern er ‚Ich‘ sagt, weiß er sich als dieser. Und jeder weiß sich als dieser bestimmte Diese, indem er dasselbe von sich sagt, – nämlich ‚Ich‘ “ (Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, 1967, S. 49). Der Humanismus kann dadurch in einen anderen Begriffsrahmen gerückt und somit in einem anderen Lichte, nämlich Ichheit und Individualität bzw. Subjektivität und Bestimmtheit, betrachtet werden. Henrich, ebd., scheint allerdings die Subjektivität (Ichheit) in diesem Zusammenhang mit Individualität für ein unvermitteltes Wissen zu halten und nur „als eine Weise zu sprechen“ bzw. als hinweisenden „Indikator“ für das eigentliche Problem des Deutschen Idealismus seit Fichte zu verstehen. Vgl. unten C. II. 2. e) dd). 50 SS, S. 108 f. 47 SS,
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Dabei kann man ontologisch wieder die binäre Logik bemühen, um diese Defekte in den Griff zu bekommen. Aber schließlich kann man nun einsehen, dass die traditionellen Leitdifferenzen und ihre variierenden Umformulierungen keine Lösung für das Einheitsproblem anbieten. Sie stehen nach wie vor im Anzeichen der (einwertigen) Seinsontologie und vereinigen durch die „alles durchdringende Seinsontologie“ (analogia entis) die Welt;51 sie stellen aber eher nur verdeckend das Problem der Einheit auf und bringen in dieser Weise die „Inkonsistenzerfahrungen“ mit der Welt – „Einheit trotz Inkonsistenz“ – zum Ausdruck.52 b) Neues Paradigma: Differenz von System und Umwelt Für das theoretische Ideal der Einheit steht die systemtheoretische Leitdifferenz System und Umwelt. Die Einheit der Differenz von (sozialem oder psychischem) System und Umwelt stellt das neue Einheitsprinzip dar. Es wird somit nicht mehr von dem alten Verhältnisschema von Gesellschaft und Individuum ausgegangen, das schließlich in einen immer nur einwertigen differenzlosen Grund gemündet hat. Stattdessen muss man noch einmal mit der Differenz anfangen, um zur Systematizität des Systems zu gelangen und aus der systemtheoretischen Perspektive die Einheit – das Problem der Mehr-als-die-Summe – zu erreichen. Um den Differenzansatz zu begreifen, soll man zuerst die „Differenz erfahrung“ bzw. die „Erfahrung der Differenz“ beobachten,53 wobei es um das eigentümliche Problem der sozialen Kommunikation – das Problem der Aufrichtigkeit – in der Neuzeit geht. Wenn man durch ein Kommunika tionsangebot adressiert wird, ist man durch die adressierende Involvierung nun „ein anderer, ob man’s glaubt oder nicht! Man kann es jetzt nicht mehr ignorieren, sondern nur noch glauben oder nicht glauben.“54 Man beachte hier zunächst, dass man in einem Kommunikationsgeschehen „ein anderer“ (Alter Ego) wird, der glaubt oder nicht glaubt, und zwar unabhängig von dem, was kommuniziert wird. Ob man glaubt oder nicht glaubt, ändert seinerseits eben auch nichts an dem, was kommunikativ angeboten wird. Ein Kommunikationsangebot stellt eine Sinnbestimmung dar, die weitere Kommunikation einschränkt; bei der Differenz Glauben / Nichtglauben handelt sich es aber nur um Annahme oder Ablehnung des Kommunikationsangebots. Man sieht einerseits, dass die inhaltliche Sinnbestimmung und die 51 GdG,
S. 937, zu „analogia entis“ siehe GdG, S. 908, S. 915. S. 925. 53 SS, S. 12, S. 223, S. 224. 54 SS, S. 203 f. 52 GdG,
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Differenz von Annahme / Ablehnung getrennt werden. Andererseits erzeugt jede Kommunikation „die Möglichkeit der Ablehnung“ und „Widerstand“.55 Eine Bestimmung ruft immer deren Negation hervor, „jede Kommunikation lädt zum Protest ein.“56 Sie lässt „Rede und Gegenrede“ zu.57 Und dadurch entsteht eine soziale Situation, die zu „Anschlußentscheidungen“ – Annahme oder Ablehnung – auffordert.58 Die Differenz wird also durch Kommunikation hergestellt, wobei es aber wichtig ist, Differenz von Kommunikation zu unterscheiden. Die Differenz von Glauben oder Nichtglauben bzw. Annahme oder Ablehnung signalisiert ein Negationsverhältnis (in einer sozialen Situation), hat aber mit dem Kommunikationsgehalt – oder schlicht: mit der Kommunikation – nichts zu tun. Dasselbe kann man nun auch als „ein allgemeines kommunikationstheoretisches Paradox“ beobachten.59 Wenn man etwas kommuniziert, sagt man etwas aus. Ob man meint oder nicht meint, was man sagt, ist aber etwas anderes. Beides soll getrennt werden. Man kann dann meinen, was man sagt; und man kann nicht meinen, was man sagt. Was man sagt, bleibt dasselbe; dem stellt sich aber die Differenz Meinen oder Nichtmeinen gegenüber. Wenn man nun doch sagt, dass man meint, was man sagt, dann wird gegen seine Absicht Zweifel hervorgerufen; aber wenn man dann sagt, dass man nicht meint, was man sagt, dann „kann der Partner nicht wissen, was man meint, wenn man sagt, daß man nicht meint, was man sagt.“60 Man würde dann den Sprecher nicht „verstehen“ können, was er mitteilen will, weil er sich nicht festlegen kann; und dies führt dazu, dass die Kommunikation durch das „Paradox des Epimenides“ blockiert wird.61 55 SS, S. 204. Luhmann zitiert in diesem Zusammenhang Goethe: „Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn“ (SS, S. 204, S. 218). Dabei ist der Gegensinn immer „latent mitgegeben, nur als abwesend anwesend“ (SS, S. 204). In Luhmanns Sinne ist ein Gegensinn ein einstweilig negierter Sinn. 56 SS, S. 238. 57 SS, S. 213. 58 SS, S. 204. 59 SS, S. 207. 60 SS, S. 208. Vgl. Luhmann, „Distinctions directrices“, in: ders., SA 4, 1987, S. 15. 61 SS, S. 208. Den Zusammenhang soll man darin sehen können: Luhmann definiert die Kommunikation durch das Verstehen in dem Sinne, dass das Mitgeteilte und die Mitteilung unterschieden werden. Für die Mitteilung muss man aber festlegen können, ob man meint oder nicht meint, was man sagt. Sonst kann es keine Mitteilung und entsprechend kein Verstehen und keine Kommunikation geben. Die logische Paradoxie liegt eher auf der sachlichen Ebene, und ihr Problem liegt eben darin, sich zwischen wahr und falsch nicht festlegen zu können. Luhmann verlegt nun die Differenz in die soziale Ebene, und zwar in doppelte Kontingenz von Ego
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Dabei soll man beachten, dass das kommunikative Paradox fast unvermeidlich und in jeder Kommunikation vorhanden ist. Der Zweifel, der gerade durch die Beteuerung des Sprechers gegen seine Absicht erweckt wird, führt ja in der Tat zwanghaft dazu, dass man sagt, dass man nicht meint, was man sagt. Dasselbe Gesagte kann nicht gemeint, nicht geglaubt, kann abgelehnt und negiert werden; daraus entsteht das Paradox mit der Folge, dass Kommunikation gar nicht möglich sein könnte.62 Zusammenfassend würde man sagen: Die Kommunikation ruft die Differenz hervor, aber die Differenz stellt in deren zugespitzter Form die Möglichkeit der Kommunikation überhaupt in Frage. Eine besondere Gattung bildet in diesem Zusammenhang das Problem der Aufrichtigkeit, was charakteristisch für die Neuzeit ist. Nach Luhmann ist die Aufrichtigkeit etwas, was nicht zu kommunizieren ist, weil jede Kommunikation über sie notwendigerweise zu ihrer Negation führt. „Aufrichtigkeit ist inkommunikabel, weil sie durch Kommunikation unaufrichtig wird.“63 Dies ist so, weil es „auch anders ausfallen könnte[n]“, was immer man über sich kommuniziert;64 man muss nicht mehr seinsweise meinen, was man sagt, dass man ist. Nun sagt man, wer man ist, aber man erweckt eben dadurch Zweifel, was im Ergebnis darauf hinausläuft, dass man sagt, dass man nicht ist, wer man ist.65 und Alter Ego. Parallel dazu sieht Luhmann bei beabsichtigten Zweideutigkeiten, Paradoxien, Humor sowie Witz usw. eine Sperre für reflexive Kommunikation, nämlich „das Signal, daß eine Rückfrage nach dem Warum und Wieso keinen Sinn hat“ (SS, S. 211). 62 Ähnliche Beispiele für das Kommunikationsproblem: etwas zeigen oder nicht zeigen (GdG, S. 939), jemanden überzeugen oder nicht überzeugen (GdG, S. 960), amour propre oder charité (GdG, S. 946). Rustemeyer, Die Logik der Form und das Problem der Metaphysik, 2007, S. 512, sieht die Anschlussfähigkeit der Kommunikation „immer schon garantiert“, weil die Kommunikation das „Universalmedium“ Sinn und auch Sprache gebraucht. Dies ist mir fragwürdig. Dass die Kommunikation im Medium Sinn erfolgen muss, gibt doch noch keine Garantie der Kommunika tionsanschlüsse. In der Tat stellt sich der Kommunikationsanschluss als Problem gerade wegen der Differenzerfahrung dar. Rustemeyer sieht auch die Differenz von „Sinn und System / Umwelt“ an die Stelle der Differenz von „Einem und Vielem“ treten (ebd., S. 512), als ob Sinn dem Einen und die Differenz System / Umwelt dem Vielen je entspricht. Mir scheint dies auch problematisch, da das Schema von Einem / Vielem unter dem Anzeichen von Sein den Anschluss garantiert, während die System / Umwelt-Differenz diese Garantie eher infrage stellt. 63 SS, S. 207; vgl. GdG, S. 311. 64 SS, S. 207. 65 Das Problem der aufrichtigen Kommunikation taucht durch die Fähigkeit der Selbstbeobachtung auf und bedeutet die Trennung von (guter) Moral und Individualität (vgl. GdG, S. 945 f.). Bei dem Problem wird das Selbst als Information kommuniziert, was zu dem Dilemma führt: Unmitteilbarkeit und daher Inkommunikabilität einerseits und Reflexivität des Kommunikationsprozesses andererseits. Luhmann
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Das allgemeine kommunikationstheoretische Paradox sowie die Aufrichtigkeit werden nun überhaupt zum Problem, und man bekommt das Problem nach Luhmann erst dadurch, dass keine traditionelle „Naturordnung“ als Grund der Gesellschaft mehr besteht.66 An die Stelle der Naturordnung treten nun Kommunikation und Differenz, was dann mit der Differenzierungsform der modernen Gesellschaft zusammenhängt. Dabei liegt es Luhmann daran, in einer Gesellschaftstheorie die Differenzerfahrung zu beobachten. Man kann aber auch versuchen, deren philosophische Hintergründe zu begreifen. An das zugespitzte Problem der Aufrichtigkeit anschließend kann man dafür zuerst bei Luhmanns Interpretation von Descartes ansetzen. Luhmann sieht den ersten Fall für das Problem der Kommunikation in der Neuzeit in dem Satz von Descartes: cogito, ergo sum. Üblicherweise schließt man von dem Satz auf die Existenz des Ichs; und Luhmann leugnet auch nicht die „Erfahrung der Faktizität des Denkens“ und die „Subjektivität des Denkens“.67 Aber Luhmann weist auf die andere Dimension hin, dass das Denken an sich von der Differenz von wahr und falsch entkoppelt wird, nämlich dass es sich von wahr zu falsch und umgekehrt bewegen kann, aber doch immer weiter abläuft und sich eben darin bestätigt.68 Anlokalisiert das Problem in einer Gesellschafts- und Kommunikatonstheorie. Aber es geht bei dem Aufrichtigkeitsproblem wohl nicht nur um die kommunikative Sinnbestimmung, sondern zugleich auch um die Subjektivität, die mit dem Problem von mauvaise foi bei Sartre konfrontiert wird und eben eine Form der Unbestimmtheit und Paradoxie darstellt. Dazu Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 180, und Blau, Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien, 2008. 66 SS, S. 207. In der Übergangsphase der Neuzeit zur modernen Weltauffassung wird aber „etwas zu Negierendes noch als Natur aufgefaßt“ (SS, S. 99). Dies erklärt wohl, dass sich viele Theorien trotz aller Differenzerfahrung immer noch an die Semantik der Natur angelehnt haben. Und entsprechend wurden die Ontologien entwickelt. „Ontologien entstehen auf dieser Grundlage als Nebenprodukte der Kommunikation“ (SS, S. 205). Mit Ontologie der Natur will man nämlich das Problem der Möglichkeit der sozialen Kommunikation lösen. 67 Luhmann, Selbstreferenz und binäre Schematisierung, in: ders., GuS 1, 1998, S. 304. Der Schluss von cogito (ich denke) auf sum (ich bin) ist in der Tat ziemlich problematisch, weil man genauer gesehen nur das Denken, nicht das Ich, vor sich hat. Was immer man sich denkt, es ist eben Denken, nicht Ich. Dazu siehe Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 194–204; Böhme, Philosophieren mit Kant, 1986, S. 235 f. Wenn man Luhmanns Text genauer betrachtet, dann könnte man von subjektiver Faktizität (des Denkens) sprechen. Was ist aber die subjektive Faktizität, wenn Faktizität immer mit Objektivität gleichbedeutend zu sein scheint? Schmitz, ebd., S. 7–10, spricht eben von subjektiver Tatsache im Gegensatz zur objektiven Tatsache und definiert die Subjektivität des Ichs in diesem Sinne. 68 Luhmann, Selbstreferenz und binäre Schematisierung, in: ders., GuS 1, 1998, S. 304. Die Selbstbestätigung bzw. die Selbstgewissheit des cogito gründet offenbar nicht auf die Wahrheit bzw. Falschheit, sondern auf die Ich-Subjektivität, auf die Selbstreferenz des Denkens, auf der „Selbstreferenz des Subjekts“ (Luhmann, Wie ist
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hand von Luhmanns Interpretation von Descartes’ Satz soll man sorgfältig drei Sachen unterscheiden: (i) die an sich neutralen Denkinhalte, (ii) zweiwertige Differenz wie wahr / falsch und (iii) Selbstreferenz des Denkens.69 Den Differenzbegriff kann man dann auch im Zusammenhang des Problems der sozialen Widersprüche beleuchten. Im Allgemeinen werden Widersprüche „als logische Fehler, als Verstöße gegen die Regeln der Logik“ bewertet.70 Ein Beispiel dafür ist, „daß es keine Ochsen geben könne, die zugleich Hörner und keine Hörner haben“.71 Ein Widerspruch verstößt nämlich gegen den Grundsatz des Widerspruchs und erscheint in der Form A und non-A zugleich. Und dieser logische Fehler muss vermieden werden, weil man sonst aus einem Widerspruch beliebige Aussagen folgern kann und die Folge bedeuten würde: gar „keine Erkenntnisse möglich“.72 Dabei weist Luhmann darauf hin, daß diese Logik „als ein System von Kontrollmitteln“ fungiert und eben „für diese Funktion ausdifferenziert worden“ ist.73 Entsprechend diesem Verständnis der Logik wird aber zugleich die „Wirklichkeit als ‚widerspruchsfrei‘ vorausgesetzt“.74 Luhmann soll meinen, dass nach diesem Verständnis ein Widerspruch – wenn überhaupt – dann nur auf der Ebene der Logik vorstellbar ist, aber nicht in der Wirklichkeit. In der Wirklichkeit gibt es eben nichts, was zugleich es selber und nicht es selber ist. Da die Wirklichkeit so widerspruchslos ist, „gibt es in der Wirklichkeit auch keine ‚Probleme‘ “.75 Wenn überhaupt, hat man eben nur das Problem der „Beziehungen von Wissen und Nichtwissen“.76 Man kann dann mithilfe der Logik diese Beziehungen zu gestalten versuchen und trotz des vielen Nichtwissens gibt es doch prinzipiell keine Widersprüche in der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist insofern gar nicht fragwürdig. In diesem Sinne der Beziehung von Wissen und Nichtwissen soziale Ordnung möglich?, in: ders., GuS 2, 1993, S. 236). In Luhmanns Gesellschaftstheorie wird diese Grundlage auf die Sozialität doppelter Kontingenz verlagert. 69 Man muss also „Probleme der Referenz von Problemen der Wahrheit bzw. Unwahrheit“ (GdG, S. 927) unterscheiden können. Außerdem weist Luhmann auf einen vibrierenden „Unterbau“ (SS, S. 97), eine eingebaute „Unruhe“ sowie den Zwang zur Selbstveränderung (SS, S. 98) bei allem Sinn hin. Mithilfe der Analyse des Satzes „cogito, ergo sum“ könnte man wohl sagen, dass es dabei um einen Faktor bei der Selbstreferenz (des Denkens) geht wie die subjektive Faktizität, die von der Differenz wie wahr / falsch zu unterscheiden ist. 70 SS, S. 489. 71 SS, S. 490. 72 SS, S. 489. 73 SS, S. 489. 74 SS, S. 489. 75 SS, S. 489. 76 SS, S. 489.
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versucht ein System ja „der unfaßbaren Komplexität seiner Umwelt durch eigene Komplikationen (Involution) oder durch strukturelle Elastizitäten Rechnung zu tragen“.77 Wenn man aber im Gegensatz dazu doch davon ausgeht, dass es widerspruchsvolle Gegenstände in der Wirklichkeit gibt und Soziales – der eigentliche Gegenstand der Systemtheorie – zu ihnen rechnet, dann müssen diese Gegenstände überhaupt „aus der Umwelt der Wissenschaft“ ausgeschlossen werden.78 Hier kann man wieder sehen, dass die zweiwertige Logik einer einwertigen Wirklichkeit und dadurch zugleich der Wissenschaft eben dieser prinzipiell problemlosen Wirklichkeit gedient hat. Luhmann behauptet aber doch: „Es gibt Probleme – nicht nur für die Wissenschaft. Die Realität reagiert auf Probleme, die sich in ihr stellen, durch Selektion. Probleme sind faktisch wirksame Katalysatoren des sozialen Lebens.“79 Man könnte in Luhmanns Sinne von einer sich als Problem darstellenden dialektischen Realität sprechen. Dementsprechend kann man die Behauptung verstehen, „daß es Systeme gibt“.80 Die Wirklichkeit bzw. Realität ist also noch zu hinterfragen. Wenn man nun mit Luhmann den Zusammenhang von Logik und als widerspruchsfrei vorausgesetzter Wirklichkeit beobachtet und zugleich doch widerspruchsvolle Gegenstände unterstellt, dann könnte man einen anderen Wirklichkeitsbegriff bemerken. „Sie [widerspruchsvolle Gegenstände wie soziales Leben] werden weder positiv noch negativ konstatiert. Man kann nicht einmal feststellen, ob es sie gibt oder nicht gibt. Sie kommen in der Umwelt eines logisch geordneten Wissenschaftssystems nicht vor.“81 Luhmann meint m. E. damit, dass (i) die Wirklichkeit von den logisch positiven und negativen Werten getrennt werden soll und es der Wirklichkeit an sich gar an Werten fehlt. Sie ist neutral, ist weder positiv noch negativ, kann aber positiv bzw. negativ belegt werden.82 Und (ii) es geht bei den Werten um (Feststellung von) Existenz bzw. Sein – es gibt oder es gibt nicht, eben wieder eine Differenz – und die beiden Werte können den Gegenständen hinzugefügt werden. (iii) gibt es doch Gegenstände, die zugleich weder sind noch nicht sind oder umgekehrt zugleich sowohl sind als auch nicht sind. 77 SS,
S. 490. S. 490. Es kann dann gar keine Wissenschaft bzw. Erkenntnis des Sozialen als Gegenstand geben. 79 SS, S. 173. 80 SS, S. 30; vgl. SS, S. 16, S. 58. 81 SS, S. 489. 82 Anstelle von Wirklichkeit soll man m. E. begrifflich genauer und besser von Realität sprechen. 78 SS,
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Vor diesem Verständnis bedeutet Luhmanns Differenzansatz nämlich, dass der Gegenstand (das Seiende) von der Existenz (Sein) – im Gegensatz zu der traditionellen Ontologie – getrennt wird. Hierin soll der systemtheoretische Ansatz „zu einer radikalen De-Ontologisierung der Perspektive auf Gegenstände schlechthin“ liegen.83 Und der noch zu erklärende, rätselhafte Nega tionsbegriff bezieht sich weder auf ein „qualitativ einheitliches Etwas“ noch auf „ein nicht weiter aufzugliederndes logisches Sinnatom“;84 die Negation bedeutet in der Tat „nichts“ im Sinne von etwas Gegenständlichem,85 eben weil sie von Existenz bzw. Sein, aber nicht von Gegenständen handelt, obwohl sie die letzteren negiert, den Wert hinzufügend. Dabei soll man auch beachten, dass, obwohl Position und Negation beides prinzipiell gleichberechtigt sind, dass aber die Negation Vorrang vor der Position für sich bean83 SS, S. 243. Auch Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 49, verweist in Bezug auf „destruierende Antimetaphysik“ auf Heideggers These, „daß das Sein nicht das Sein des Seienden sei“ sowie auf die sprachanalytische These, „daß Sein kein mögliches Prädikat, also keine sachhaltige Aussage über die Wirklichkeit sei“. Demnach soll das Sein eben nichts über die Wirklichkeit (Seiendes, Realität) besagen. In der gleichen Richtung verweist Luhmann auch auf Frege und Husserl: „Es gibt sinnvolle ‚Gedanken‘ (im Sinne von Frege), bei denen noch offen ist, ob sie wahr oder falsch sind, und die ihren Sinn nicht dadurch verlieren, daß sie sich als falsch erweisen“ (Luhmann, Die juristische Rechtsquellenlehre aus soziologischer Sicht, in ders., AdR, S. 318, Anm. 19); „selbst eine sich als apodiktisch ausgebende Evidenz kann sich als Täuschung enthüllen und setzt doch dafür eine ähnliche Evidenz voraus, an der sie ‚zerschellt‘ “ (hier zitiert nach Luhmann, ebd., S. 323, Anm. 28; vgl. Husserl, Formale und transzendentale Logik, 1992 (1929), S. 164). Eine ähnliche Unterscheidung von Attribut und Existenz-Induktiva trifft Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 38 ff. Allerdings versteht Schmitz – anders als Luhmann – den Begriff „Wirklichkeit“ als Sein, Existenz bzw. Dasein; Luhmanns Wirklichkeitsbegriff ist ungenau und weist eher auf Bedeutungen wie Weltsachverhalte hin. 84 Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 35; Luhmann warnt hier vor sprachlicher Verführung. Entsprechend beschwert sich Luhmann darüber, dass die grammatische Struktur indogermanischer Sprachen dazu tendiert, „die Prädikation auf Satzsubjekte zu erzwingen“, was bedeutet, dass Sein – bei Luhmann in Negation bzw. Grenze – und Prädikate traditionell einschränkend auf „Dinge“ bezogen sind und dabei miteinander verbunden werden (SS, S. 115, auch S. 595 f.). 85 Luhmann, Soziologie der Moral, 1978, S. 14, formuliert „eine Umstrukturierung des Gebrauchs von Negation“; und ebd., S. 14, S. 97, Anm. 10, zitiert er Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 4.0621: „Daß aber die Zeichen ›p‹ und ›~p‹ das gleiche sagen können, ist wichtig. Denn es zeigt, daß dem Zeichen ›~‹ in der Wirklichkeit nichts entspricht. Daß in einem Satz eine Verneinung vorkommt, ist noch kein Merkmal seines Sinnes (~~p = p). Die Sätze ›p‹ und ›~p‹ haben entgegengesetzten Sinn, aber es entspricht ihnen eine und dieselbe Wirklichkeit.“ Dem könnte man noch hinzufügen: „Alle Sätze der Logik sagen aber dasselbe. Nämlich nichts“ (Wittgenstein, ebd., 5.43). Demnach bezieht sich Logik weder auf Semantik noch auf Syntax, sondern auf Existenz (und Nichtexistenz). Auch vgl. Luhmann, Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus, in ders., SA 5, 1993, S. 39, Anm. 20.
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B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
spruchen kann. Dies ist so, weil die Negation bei der Sinnkonstitution generalisierend alle anderen Möglichkeiten beiseitelassen (Selektion) und durch „Negation der Negation“ den Selbstbezug ein und derselben Sinnmöglichkeit herstellen kann; Negation ermöglicht funktional durch die „Reflexivität und Generalisierung“ die Sinnkonstitution.86 Der Kernpunkt des Differenzansatzes liegt letztendlich in der Unterscheidung von Positivität und Negativität (Sein und Nichtsein), wobei diese Unterscheidung ihrerseits von der Realität (Seiendes) getrennt wird; und die Rede von Differenz bezieht sich in diesem Sinne konsequent immer auf die Form: „Form von Sinn“.87 Der Form steht dementsprechend „das Material“ gegenüber88 und dies bedeutet Umwelt als der formlose Grund des Systems. „Die Umwelt ist der Grund des Systems, und Grund ist immer etwas ohne Form.“89 Offenbar hat man hier mit den sogenannten unnegierbaren bzw. differenzlosen Begriffen zu tun, bei Luhmann heißt dies: Welt, Sinn und Realität.90 Sie sind unnegierbar, weil ihre Negation sie selber voraussetzt und reproduziert. Dies kann so sein, eben weil diese Begriffe neutral sind, weder positiv noch negativ, und gerade deshalb sowohl positiv als auch negativ sein können. 86 Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 36. Man beachte zum einen hier bereits die Mehrdeutigkeit des Negationsbegriffs bei Luhmann, soll sie aber je nach dem Kontext sorgfältig unterscheiden: Sie bezieht sich (i) auf Existenz bzw. Sein und (ii) auf die Identität und Verschiedenheit (dies und nicht jenes) und schließlich auch (iii) auf Person bzw. Subjektivität: auf „unvermeidlich persönlich treffende Negationstendenzen“ (SS, S. 214) im Zusammenhang der Thematisierungsschwelle. Zum anderen wirkt es in der Tat eigentlich auffallend, dass bei Luhmanns Systemtheorie die Verschiedenheit (der Sinnmöglichkeiten) fast unerwähnt bleibt, obwohl so oft von Identität geredet wird. Dabei wird die Verschiedenheit nicht geleugnet, sondern sie kann durch die „Technik der aufhebenden Nega tion“ sozusagen „überwunden“ und dann wieder negiert werden (Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 89). Die Verschiedenheit wird in die Differenz und schließlich in die Negation aufhebend absorbiert. Dadurch sind Subjekte zwar „verschiedenartig“, aber doch „austauschbar“ (Luhmann, ebd., S. 89). „Der andere ist ein alter Ego. […] Aber er ist nicht nur das, er ist auch alter Ego“ (SS, S. 177). Das Alter eines Alter Ego bedeutet demnach eben nichts, es ist der Sitz der Negation; und die Verschiedenheit und das Nichtsein werden dadurch in Differenz zusammen aufgehoben, wodurch der logische Widerspruch ja dialektisch umgangen wird. Und erst dadurch kann die Identität in den Mittelpunkt trotz und gerade wegen der Differenz gerückt werden: Differenz von Identität und Differenz. 87 SS, S. 147. 88 SS, S. 146. Man könnte in Bezug auf „das Material“ weiter zwischen Bedeutung und Medium differenzieren, vgl. B. V. 2. b). 89 SS, S. 602. 90 SS, S. 96: „Sinn ist also eine unnegierbare, eine differenzlose Kategorie.“ SS, S. 105: „Die Welt hat infolgedessen die gleiche Unausweichlichkeit und Unnegierbarkeit wie Sinn.“ SS, S. 283: „Wir setzen den Weltbegriff […] als differenzlosen Letztbegriff.“ SS. S. 245: „Die Differenz […] setzt diese [Realität] voraus.“
I. Paradigmawechsel für die Theorie von Einheit und Identität 39
Ihre Negation bedeutet nichts, ändert sie nicht, fügt ihnen nichts hinzu und muss sie selber eben voraussetzen.91 Insofern kann man Luhmanns Satz nachvollziehen: „Alle diese Begriffe sind differenzlos in dem Sinne, daß sie ihre eigene Negation einschließen.“92 Korrespondierend mit der nichts bedeutenden Negation sind sie eben differenzlos oder differenzloses Seiendes. Die Differenz muss in sie noch eingebracht bzw. installiert werden. Deshalb fungiert nun die Differenz an Stelle des bewusstseinsphilosophischen Subjekts als Träger der Sinnverweisungen. „ ‚Träger‘ ist mithin […] eine Differenz in den Sinnverweisungen, und diese Differenz hat ihrerseits ihren Grund darin, daß alle Aktualisierung von Verweisungen selektiv sein muß.“93 Ebenso kann man in die Welt als die „tragende Meta-Gewißheit“ alle möglichen Differenzen einführen und dann wieder auflösen.94 Schließlich wirkt eine Differenz als eine „Distink91 Luhmann, Stellungnahme, 1992, S. 384: Die Welt bleibt „eine stets mitgeführte Einheit, die weder positiv noch negativ, weder als Sein noch als Nichtsein“ zu erfassen ist. Luhmann, Gesellschaft als Differenz, 1994, S. 477: Die Systemtheorie beginnt mit „der Welt als einer ununterscheidbaren, in Bezug auf positiv und negativ unqualifizierbaren Einheit, die durch irgendeine Unterscheidung angeschnitten werden muß, wenn überhaupt etwas beobachtet werden soll.“ Schützeichel, Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann, 2003, S. 38, geht zwar davon aus, dass Sinn „ein differenzloser Begriff [ist], da Sinn nicht negiert werden kann“, er scheint jedoch nicht dazu zu kommen, die Frage nach dem Verhältnis der Negation (bzw. der Differenz) zu dem unnegierbaren Sinn zu stellen. 92 Luhmann, Erkenntnis als Konstruktion, 1988, S. 42. Bei der Seinsontologie wird die Negation (negative Seite) ausgeschlossen und die Realität bleibt einwertig (vgl. GdG, S. 901, S. 898, S. 905) und mit dieser ausschließlichen Einwertigkeit nimmt man immer einen ‚differenzlosen Grundbegriff‘ an (SS, S. 108). Bei Luhmann sind die drei Begriffe differenzlos, aber gerade weil sie die negative Seite einschließen. Und weil Negation eben nichts bedeutet, bedeutet die Negation von Welt, Realität und Sinn nach wie vor Welt, Realität und Sinn. Sie sind also differenzlos und trotz Negation unnegierbar, weil sie neutral sind und genau daher nicht nur einen Wert annehmen können. Nassehi, Tempus fugit?, 2000, S. 47, hält die drei Begriffe für einwertig, weil sie differenzlos sind, was mir missverständlich zu sein scheint. Ein weiterer differenzloser Begriff, „der nichts ausschließt“, könnte Konflikt heißen (SS, S. 531, Anm. 62), aber nicht einwertige, differenzlose Zeit wie bei Nassehi (vgl. Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft, 2008, S. 226 f.). 93 SS, S. 142. 94 SS, S. 106. Die Meta-Gewissheit der Welt soll die Parallele zur selbstreferentiellen Selbstgewissheit des Subjekts bei dem „cogito, ergo sum“ ziehen. Thomas, Welt als relative Einheit und als Letzthorizont, 1992, S. 328 f., unterscheidet drei Weltbegriffe bei Luhmann: W1 bezieht sich auf eine allen Sinn integrierende Geschlossenheit, W2 auf die System / Umwelt-Differenz und W3 auf die wirkliche Welt. Thomas verdächtigt eine „je systemrelative[n] Ontologisierung“ der W2 als eine je eigene Welt (ebd., S. 334) und sieht die Unvereinbarkeit zwischen W2 und W1, die nach Luhmann eben alle System / Umwelt-Differenzen außer Kraft setzen soll (ebd., S. 337 f.). Am schlimmsten ist Thomas zufolge die schlicht ontologisch „naiv-realis-
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tion“, die man „in die Realität einführt“;95 und „die Differenz […] überlagert sich einer durchlaufenden Realität und setzt diese voraus.“96 Man kann nun einsehen, dass das neue Paradigma der Differenz von System und Umwelt durch das Zusammenbringen von Differenz und differenzloser, wertneutraler Welt entsteht. Anhand der Überlagerung des Systems – als Differenz, als Sinnform – auf die Welt ergibt sich eine Systemreferenz. Dies bedeutet, dass ein System die ursprüngliche Welt durchdringt und die Welt dadurch sozusagen in das System überführt wird. Sie wird durch das System überformt. Erst dadurch wird das System eigens ausdifferenziert. Es gewinnt dabei mit der Zeit durch seine sich eingespielte „Selektionsgeschichte“ aus der Welt seine eigene Umwelt, „in der vieles möglich, aber nur weniges für es relevant ist“.97 Das System ist dann „als Differenz zu seiner Umwelt“ aufzufassen.98 Das System und seine Umwelt tische“ Rede von W3 (mit Ereignissen, Zeit, Kausalität usw.), die „als ‚Welt‘ des selbstreferentiellen Operierens der Systemtheorie als Teil der Wissenschaft im Sinne der Einheit der System / Umwelt-Differenz der Systemtheorie“ erst wieder nachvollziehbar wird (ebd., S. 338–341). Demnach scheint diese wirkliche Menschenwelt bei Luhmann nur eine systemtheoretische Operation zu sein. Diese Folgerung ist mir fragwürdig. Dann sieht Thomas hinsichtlich des Verhältnisses von W1 und W2 in der „Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens“ (SS, S. 101) das traditionell ontologische Sein (bzw. die Substanz), was Luhmanns Systemtheorie – entgegen seiner Behauptung von Differenz – wiederum in die Metaphysik von Einheit und Identität (von Sinn) zurückfallen lässt. Dabei fungiert die W1 als eine hingenommene Fiktion mit der Funktion der Absicherung der Anschlüsse zwischen Systemen mit ihren eigenen Welten (W2), so wie die transzendentale Subjektivtät bei Husserl die identische Welt für Subjekte garantiert, und erst dadurch kann Luhmann es sich leisten, ohne eine basale Gemeinsamkeit der Welten deren Differenzierung so gelassen zu beobachten (Thomas, ebd., S. 347–351). Man sieht an Thomas’ Kritik selber, dass immer wieder nach einer irgendwie gearteten Substanz gesucht wird und wie schwierig es ist, diese Ontologie zu verabschieden. Wenn man die unnegierbare Welt (W1) und die negierende Differenz (W2) deutlich trennt, wie hier versucht wird, dann kommt die wirkliche Welt (W3) eben nur durch die Differenz zustande. Es geht nach also wie vor um das Problem der (un- und missverständlichen) Deontologisierung. 95 SS, S. 244. 96 SS, S. 245. An diesem Punkt kann man den von Luhmann immer wieder zitierten Satz begreifen: „Distinction is perfect continence“ (Spencer Brown, Laws of Form, 1969, S. 1). Es geht nämlich um die Überlagerung der (zweiwertigen) Differenz auf die kontinuierliche Realität und damit um die Bestimmung der Grenze von Sinnform und Sinnmaterial (SS, S. 147, S. 602), von „diskontinuierliche[r] Infrastruktur“ der Selbstreferenz (SS, S. 191) und „Materialitätskontinuum“ (GdG, S. 100), von System und Umwelt. 97 SS, S. 185. 98 SS, S. 235. Daher kann die „Gesellschaft als Differenz“ definiert werden (Luhmann, Gesellschaft als Differenz, 1994, S. 477–481) und sie hat die Welt als ihre Umwelt. Die Welt ist dann eine durch die Gesellschaft als Sinnform durchdrungene Welt.
I. Paradigmawechsel für die Theorie von Einheit und Identität 41
bilden dadurch „das Differente“, das durch eine Differenz zusammengehalten wird; „es ist eben different, und nicht indifferent.“99 Um die Differenz von System und Umwelt aufrechtzuerhalten und die Einheit des Differenten zu reproduzieren, muss aber ein System noch seine Systematizität erhalten. Dafür braucht es „neben seiner bloßen Identität (in Differenz zu anderem) eine Zweitfassung seiner Einheit (in Differenz zu sich selbst)“.100 Bei der Differenz zu sich selbst handelt sich es offenbar um „Reflexion im Sinne einer Thematisierung der [bloßen] Identität (in Differenz zu anderem)“.101 Nach Luhmann ist die Umwelt (die andere) „Voraussetzung der Identität des Systems, weil Identität nur durch Differenz möglich ist“.102 Die Identität des Systems ist demnach durch differenzverwendende Abgrenzung zur Umwelt zu erreichen.103 Die Reflexion deutet zugleich auch darauf hin, dass das System Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung unternehmen kann und muss. Dabei macht die Reflexion den durch Identität bezeichneten, sich selbst beobachtenden Bereich „als Einheit [zweiter Fassung] für Relationierungen verfügbar“.104 Man könnte sagen, dass die Einheit auf Identität und die Identität wiederum auf Differenz (zur 99 SS, S. 38. Das Differente ist ein Singular, aber zugleich mit zwei Seiten. Es scheint die traditionelle Mehr-Formulierung für die Ganzheit zu ersetzen. Man könnte es wohl auch als etwas wie eine Dyade deuten. Dann spricht man nicht von Mehr, sondern von ‚eher … als …‘. Dazu vgl. Schmitz, Die Aufhebung der Gegenwart, 1998, S. 58 (Laing zitierend): „ ‚[…] wird für jede der beiden Personen, die dieses System bilden, mehr die Dyade, das System, die Ehe, das ‚Problem‘ als sie selbst.‘ “ Es ist besonders hervorzuheben, dass die Beziehung von System und Umwelt keine räumliche Beziehung ist, die Grenze zwischen ihnen keine räumliche Grenze darstellt wie die Anordnung: „Draw a distinction“ (Spencer Brown, Laws of Form, 1969, S. 3), es oft angedeutet hat. Eher bedeutet ihre Grenze eine bestimmte Form, die Welt zu explizieren und zu gestalten. Und diese abgrenzende Form heißt in der Soziologie „Differenzierung“, die „für die Einheit (oder die Herstellung der Einheit) des Differenten“ steht (GdG, S. 595). 100 SS, S. 38. Die Identität erscheint hier in zwei Formen: (i) bloße Identität und (ii) Identität in reflexiver Beziehung. Zu beachten ist auch, dass der Gegensatz der Identität, nämlich die Verschiedenheit, unerwähnt bleibt. Sie wird ja in Differenz aufgehoben. 101 SS, S. 234. 102 SS, S. 243. Hier könnte man die These von Glanville: „ ‚The Same Ist Different‘ “ (Glanville, The Same Is Different, 1981, S. 258), in Luhmanns theoretischen Kontext einbetten, der letztere gebraucht die Formel allerdings in seinem anderen, differenzlogischen Ansatz. Übersetzt sollte es heißen: Die Identität ist das Differente. 103 Es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass die Umwelt aufgrund des Komplexitätsgefälles umgekehrt die „Systemereignisse“ ermöglicht (SS, S. 243). Man könnte sagen, dass Zeit und Zufall aus dem Komplexitätsgefälle entstehen. 104 SS, S. 234. Man kann wohl sagen, dass die Einheit erster Fassung die Einheit des Differenten, nämlich Einheit von System und Umwelt, die Einheit zweiter Fassung durch Reflexion des Systems nun die Einheit des Selbst des Systems bedeutet.
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Umwelt) gegründet wird. Dabei funktioniert das System immer zugleich auf zwei analytisch getrennten, aber doch eng verbundenen Ebenen: Operation und Beobachtung, entsprechend bloßer Identität und reflexiver Identität bzw. Einheit erster Fassung und Einheit zweiter Fassung. Mit der Operation reproduziert sich das System gegenüber der Umwelt; mit (Selbst-)Beobachtung, die an sich wiederum eine Operation darstellt, bewacht das System die Differenz und konditioniert sie. „Beobachter ist nichts weiter als das Handhaben einer Distinktion wie zum Beispiel System und Umwelt.“105 Erst damit ausgestattet kann ein System „seine Einheit als Primat einer bestimmten Form der Differenzierung […] erreichen“.106 Die unterschiedlichen Formen der Gesellschaftsdifferenzierung – Segmentierung, Hierarchisierung, funktionale Differenzierung – werden dadurch auf die jeweilig benutzten (Leit-)Differenzen zurückgeführt und stellen die jeweiligen historischen Typen des Einheitsprinzips der gesellschaftlichen Ganzheit dar.107 105 SS, S. 245. Die Beobachtungstheorie soll man im Zusammenhang der Differenzerfahrung der Neuzeit beleuchten. Mit Beobachtung werden nun die beiden Werte bzw. Seiten – Sein und Nichtsein – zugleich gesehen und sozusagen als gleichberechtigt anerkannt. Die Realität ist nicht mehr einwertig. Ein Beobachter aber muss auf der reflexiven Ebene zugleich die Schwankung, die Unbestimmtheit sowie das Paradox vermeiden und zum Festlegen – zum Unterscheiden und Bezeichnen – verhelfen können. Das System muss deshalb die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung entwickeln (SS, S. 226) und dies bedeutet, dass das System die von ihm selbst benutzte Differenz beobachtet und dass es dabei auch beobachtet, wie es sich selber zwischen den beiden Werten einer Sinnform festlegt, um verstehen und kommunizieren zu können. Dabei muss die Beobachtung als Kommunikation selber eine Differenz benutzen und wird wieder mit dem Problem des allgemeinen kommunikationstheoretischen Paradoxes konfrontiert. Die Beobachtungstheorie wird dann bei Luhmann so ausgedehnt, dass sie nicht nur für die Differenz von Glauben und Nichtglauben, Meinen und Nichtmeinen, wahr und falsch u. ä., sondern auch für die Differenz von Ego und Alter Ego, System und Umwelt (mit anderen Systemen) gilt. Schließlich gibt es „keine eindeutige Lokalisierung von ‚item‘ welcher Art auch immer in der Welt und auch keine eindeutige Zuordnung im Verhältnis zueinander“ (SS, S. 243). Vgl. auch GdG, S. 178. 106 SS, S. 38. 107 Eine Differenz als Einheitsprinzip erreicht erst durch eine leitende Struktur – „Konstruktionsprinzip“ (SS, S. 38) – die Systematizität und man spricht erst dann von Differenzierung des Systems. Für die Wiederholung der Differenzierung in einem gegebenen System mit Einsetzung einer neuen Differenz soll auch eine leitende Struktur erforderlich werden, um zur Systematizität des neuen Systems zu gelangen. Eine Differenzierung bedeutet nämlich die Entfaltung einer Differenz. Deshalb muss man danach fragen, wie die Systematizität eines Systems erreicht werden kann. Müller, Differenz, Differenzierung, 2012, S. 74, sieht aber den Zusammenhang dieser beiden Begriffe darin, dass Differenzierung eine neue Ausbildung der System / Umwelt-Differenz innerhalb eines Systems bedeutet. Müller scheint angesichts des Differenzansatzes zu meinen, dass für Luhmann die Einheit gar keine Problemstellung mehr sein kann: „Denn so wenig Differenzierungstheorie bei Einheit beginnen muss, so wenig muss sie mit Einheit enden“ (Müller, ebd., S. 75). Mir scheint
I. Paradigmawechsel für die Theorie von Einheit und Identität 43
Doch wie soll man denn den Identitäts- und Einheitsbegriff unter der Perspektive der Differenz verstehen? Ist es logisch überhaupt möglich? Die logische Möglichkeit hat Luhmann selber bezweifelt. Dies wird sich dann als das theoretische Kernproblem des Differenzansatzes der Systemtheorie herausstellen. 4. Fazit Für Luhmanns Systemtheorie steht die Formel von Differenz von Identität und Differenz und mit der Formel soll die ganze Welt als der eigentliche Gegenstand dieser Theorie erfasst werden. Für ein rekonstruktives Begreifen der Systemtheorie muss aber die Differenz zwischen traditionellem Ansatz und Differenzansatz in Luhmanns Sinne deutlich beobachtet werden können. Daher wird am Anfang dieser Arbeit vor allem anderen der Seinsontologie die Differenz von System und Umwelt gegenübergestellt. Die Seinsontologie, und das heißt die ganze metaphysische Tradition seit der eleatischen Seinslehre, setzt sich aus einwertigem Sein und zweiwertiger Logik zusammen, daran angeschlossen wird dann das Einheitsproblem mit dem Schema von Ganzem und Teil. Historisch haben sich weitere Unter-Differenzen entwickelt. Für Luhmann stellen sie aber nur unendlich weiter reformulierende Variationen der ontologischen Einheitsformeln Sein und Nichtsein bzw. Ganzes und Teil dar. Das Einheitsproblem bleibt, es nimmt nur unterschiedliche Ausdrucksweisen an. Und man bleibt auf der Suche nach der Lösung auf dem längst festgefahrenen Weg stecken, indem man die einwertig beladene Realität im Bann der zweiwertigen Logik aufrechterhält. Dem allen entspricht die hierarchische Struktur der traditionellen Gesellschaft. Für die Systemtheorie von Luhmann ist es entscheidend, dass die ontologische Tradition und das Einheitsproblem in Wahrheit das Kommunikationsproblem zum Ausdruck bringen, es aber zugleich verschieben und verdecken. Dabei geht es um die Differenzerfahrung in der Gesellschaft mit Bezug auf die Einheit eines Gegenstandes. Differenz bedeutet eben prinzipiell symmetrische Zweiwertigkeit, die nun aber von der Realität an sich deutlich getrennt werden muss. Die Systemtheorie setzt an dieser Erfahrung der Differenz an und hebt hervor, dass die Einheit nur durch die Differenz zu erreichen ist. Ein Gegenstand – die Welt, die Gesellschaft oder etwas anderes – soll also mit einer Differenz erfasst werden. Und nur entlang der Differenz entsteht die neue Leitdifferenz von System und Umwelt. aber, dass das Gegenteil der Fall ist, weil der Differenzansatz eben die Einheit – die Welteinheit sogar – als Probemstellung im Auge hat, unabhängig davon, ob er damit erfolgreich ist oder nicht.
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B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
Der Differenzansatz der Systemtheorie behält nach wie vor das Einheitsproblem im Auge, wobei aber das Problem nun funktional als Kommunikationsproblem thematisiert wird. Es wird nämlich danach gefragt, wie die Kommunikation im Hinblick auf die Differenz in Sachen der Einheit doch ermöglicht wird und Anschlüsse finden kann. Luhmann fasst das Problem positiv eingestellt in der Figur der Paradoxie zusammen. Ich würde es als Problem der kommunikativen Unbestimmtheit bezeichnen, wobei die Differenzerfahrung eher in dem Kommunikativen steckt.108 Die Begriffe Einheit und Identität fungieren als grundlegende Kategorien auch in der Systemtheorie, sie werden aber sozusagen in Differenz miteinander verbunden. Die Einheit wird mit Setzung einer Differenz – Einheit der Differenz – hergestellt. Der damit bezogene Gegenstand erscheint nun zuerst als unfassbare Komplexität der Welt, die dann aufgrund der Systematizität des selbstreferentiellen Sozialsystems in das Sozialsystem mit Einschluss aller Subsysteme überführt bzw. überformt wird. Die Welteinheit wird nämlich mit Differenz überhaupt und weiterhin über die Differenz von System / Umwelt in die Identität des Systems überführt (hinein kopiert bzw. übernommen). Dadurch kann auch die gesellschaftliche Differenzierung als Form der Einheit der Gesellschaft zustande kommen. Darin soll das grundlegende Modell der Differenzlogik der Systemtheorie bei Luhmann – Beobachtung genannt – liegen: Anhand der Anschlüsse der Differenzen werden die Einheit und die Identität sozusagen ineinander übersetzt.109 Mit dieser begrifflichen Verbindung wird dann die Komplexität (Einheit) der Welt in die Kontingenz (Identität bzw. die zweite Fassung der Einheit) des Systems transformiert und somit reduziert. Das Verhältnis von Komplexität und Kontingenz wird dadurch eingerahmt. Die Differenzlogik setzt das Einheitsproblem mit Bezug auf die Welt fort, dabei muss sie sich wie bei der Seins ontologie auch stets mit dem Problem des Mehr-als-die-bloße-Summe sowie dem des ausgeschlossenen Dritten konfrontieren. 108 Die Differenz als kommunikative Unbestimmtheit enthält zwar die beiden Faktoren und verbindet sie eng miteinander. Wenn man aber den Akzent auf die Unbestimmtheit legt, sich gegen die „Idee einer durchgängigen Bestimmtheit von Ich und Welt“ wendet (Gamm, Flucht aus der Kategorie, 1994, S. 19) und die Unbestimmtheit im „vorprädikativen Sein des Nichtseyenden, das nicht nichts ist“, sieht (Gamm, ebd., S. 264, mit Hinweis auf Schelling), dann befindet man sich auf der Ebene der Sinnbestimmung und verfehlt den Differenzansatz, der sich gerade auf nichts bezieht. 109 Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1970, S. 26: „Was zwischen der Vernunft als selbstbewußtem Geiste und der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser scheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden läßt, ist die Fessel irgendeines Abstraktums, das nicht zum Begriffe befreit ist.“ Das Zwischen bei Hegel interpretiere ich mit der genannten Überführung von Einheit / Identität, die das Problem des Nicht-befreit-sein-zum-Begriff – das Problem der Paradoxie bei Luhmann – zur Folge hat.
II. Sinn, System und Welt45
Das bedeutet, dass das problematische Verhältnis von Einheit und Identität das Grundgerüst der Systemtheorie bildet. Nur wird es in der theoretischen Figur der Differenz – insbesondere der Differenz von System / Umwelt – konzentriert und dabei verwirrend ausgedrückt und hat logische (unlösbare) Probleme zur Folge. Dies alles findet sich schließlich wiederum in der Figur der Paradoxie als Ausdruck der Erfahrung mit der Weltinkonsistenz. Wie dargestellt bringt Luhmanns Differenzansatz viele begriffliche Verwirrungen mit sich und behindert das Verständnis. Kritisch gesehen wird der Begriff Sein mehrdeutig gebraucht, er kann Wirklichkeit (Realität), Identität oder auch Bestimmung (Einheit) bedeuten. Und auch der Begriff der Differenz wird nur ziemlich undeutlich beleuchtet. In der Tat wird die Differenz mit beiden Werten sehr weit auf alle Unterscheidungen ausgedehnt, sie muss selber aber m. E. auf die Trennung von Wirklichkeit und Attribut zurückgeführt werden. Sonst kann man nicht erklären, warum dasselbe wieder verschieden ist. Und schließlich wird auch das Einheitsproblem nicht sachgemäß geklärt und gelöst. Man kann es mit unterschiedlichen Formeln ausdrücken, wie das Mehr-als-die-Summe, das ausgeschlossene Dritte oder bei der Systemtheorie das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte bzw. Einheit der Differenz. Aber immerhin wird der Einheitsbegriff bereits vorausgesetzt, er wird mit beobachtenden Unterscheidungen nur unterschiedlich umformuliert. Die Begriffe wie Identität und Einheit bleiben ihrerseits aber hoch problematisch. Auf diesem theoretischen Hintergrund bewegt sich bei Luhmann die Differenz von System und Umwelt, die die Welt durchdringt und in die moderne Gesellschaft überführt. Für die abzuzielende Gesellschaftstheorie muss man aber mit dem systemtheoretischen Sinnbegriff anfangen.
II. Sinn, System und Welt Die Differenz steht nach dem oben Dargestellten wie ein Scharnier zwischen der Welteinheit und der Selbstreferenz des Systems. Sie wird zwischen das Problem der Einheit und das der Identität eingeschoben. In der Systemtheorie erzielt die Differenz als die paradigmatische Leitdifferenz die Einheit aber erst im Medium Sinn. 1. Sinnbegriff Im Unterschied zum organischen und maschinellen System stellt das Medium Sinn nach Luhmann eine gemeinsame evolutionäre Errungenschaft von psychischem und sozialem System dar. Der Begriff bezieht sich auf die Welt(komplexität), er ist daher nicht einseitig auf das Bewusstsein zurückzuführen bzw. zu fixieren.
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B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
Begrifflich kann man zunächst zwischen Sinnform und Sinninhalt unterscheiden. Die Sinnform ist eine Verweisungsstruktur. Sie erscheint als „Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns“; mit ihr wird die Welt als ein ganzer Horizont in Form der Differenz von etwas / allem anderen offen und zugänglich gehalten, wobei die Verweisung selber als Aktualisierung einer Sinnmöglichkeit den „Standpunkt der Wirklichkeit“ bildet.110 Was den Inhalt angeht, enthält die Welt nach Luhmann nicht nur Positives, sondern auch Negatives: Wirkliches und Mögliches und auch Unwirkliches und Unmögliches, also alles Denkbare bzw. Ausdrückbare. Und dies alles macht die Gesamtheit des Sinnhaften aus. Alles kann mit Sinnverweisung als wirklich aktualisiert werden, indem alles Sinnhafte als Sinnmöglichkeit in die Kommunikation bzw. das Bewusstsein eingebracht wird.111 Die Aktualisierung der einen Möglichkeit bedeutet nämlich zugleich die Potentialisierung der prinzipiell unendlichen anderen Möglichkeiten, die da weiter präsent bestehen. Man kann daher eine Pointe des Sinnbegriffs darin sehen, dass Sinn als eine Verweisungsstruktur eine Negation enthält. „In aller Sinnerfahrung“ liegt „zunächst eine Differenz“ vor.112 Oder mit anderen Worten: Das Sinnmedium funktioniert eben nur aufgrund der differenzierenden Negation. 2. Sinndimensionen als Weltdimensionen Im Rahmen der allgemeinen Verweisungsstruktur wird der Sinnbegriff weiter in sachliche, zeitliche und soziale Dimensionen eingeteilt. Den Sinn dieser begrifflichen Einteilung soll man in dem Bruch mit der Seinsontologie sehen, indem sich die zeitliche und soziale Dimension verselbständigt 110 SS, S. 93. Es ist auch zu beachten, dass die Wirklichkeit immer in der Gegenwart besteht: Die Aktualität erscheint „als momentane Gegenwart“ (GdG, S. 51) und „vorrangig ist Gegenwart […] als Aktualität bezeichnet“ (GdG, S. 53). Übrigens ist von der Differenz von Sinnform und Sinninhalt die andere Differenz von Medium und Form zu unterscheiden, siehe B. V. 2. b). 111 SS, S. 93. Dadurch scheinen im Sinnbegriff Bedeutung (Gedanke) und Existenz bereits implizit getrennt zu werden. Begrifflich ist unklar, was die Wirklichkeit eines aktualisierten Unmöglichen heißen soll. Dies könnte wohl nur dessen Ausdrückbarkeit bedeuten. Jedenfalls werden Bedeutung / Existenz getrennt und die Welt ist unbeschränkt, sie besteht bei Luhmann nicht nur aus tatsächlichen Sachverhalten wie bei Wittgenstein: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“; „die Welt ist durch die Tatsachen bestimmt und dadurch, daß es alle Tatsachen sind“; „die Tatsachen im logischen Raum sind die Welt“ (Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1; 1.11; 1.13). 112 SS, S. 111.
II. Sinn, System und Welt47
haben und sozusagen von dem Dingschema entfesselt werden. Sie sind keine Dinge mehr. Dabei kommt die Negation jeweils in Andersheit, in Vergangenheit bzw. Zukunft und im Alter Ego (als Nicht-Ich) zum Vorschein. Da diese Sinndimensionen jeweils auch universell wirken und alles Mögliche in der Welt einschließen, stellen sie auch zugleich „Weltdimen sionen“ dar.113 a) Sachliche Dimension von Sinn Die sachliche Sinndimension zeigt sich nicht im Sein (oder Nichtsein), sondern „im Anderssein“, nämlich in der wechselseitigen Negation der möglichen Sinnbestimmtheiten; dabei wird ein relationierender Zusammenhang der betreffenden Bestimmtheiten als „identischer Sinn“ aktualisiert, der aber „die Existenz von anderem nicht ausschließt, sondern gerade erhält und nur neutralisiert“.114 So geht es bei der sachlichen Dimension nicht um „ein ontisch gegebenes Weltfaktum“ oder dessen Sein bzw. Nichtsein, sondern um die negierende Sinnkonstitution, indem „in der wechselseitigen Negation der Andersheit zugleich wechselseitige Zugänglichkeit und, als Möglichkeit, wechselseitige Bestätigung beschlossen“ sind.115 Negation bewirkt also nicht Ausschluss, sondern Einschluss. Nicht als dies, sondern als „dies-und-nichts-anderes“ wird die Sinn-„Identität“ verstanden.116 Ähnlich erscheint der Sinngebrauch als „dies und nicht das“ sowie als „so und nicht anders“.117 Es steht offenbar in Zusammenhang mit dem allgemeinen Kommunikationsproblem. Dabei wird dem Identitätsbegriff eine Schlüsselstelle zugemessen und zugleich wird das Identitätsproblem eher in der sachlichen Dimension verortet.118 113 SS,
S. 112. Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 48 f. 115 Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 49. Luhmann gibt als Beispiele an (ebd., S. 48): Ein Pferd ist keine Kuh, eine Zahl ist kein Vergnügen, Schnelligkeit ist keine Farbe. Man beachte zunächst, dass es unklar bleibt, ob mit dem identischem Sinn – mit dem Identitätsbegriff – auf die zusammenhängende Relation (von Bestimmtheiten) oder auf etwas Einzelnes (die aktualisierte Bestimmtheit) Bezug genommen wird. Vgl. D. II. 2. b). 116 SS, S. 101. 117 SS, S. 112. 118 Die soziale und die zeitliche Dimension gehören insofern auch zu der sach lichen Dimension, wenn man sie – zum Beispiel „Personen oder Personengruppen“ (SS, S. 114) – zu Themen der sinnhaften Kommunikation macht und in dem Rahmen von diesem / anderem beobachtet. Es hängt also von dem benutzten Differenzrahmen ab. Das Identitätsproblem, auch in Bezug auf Person oder Zeit, soll deshalb auch in der sachlichen Dimension liegen. 114 Luhmann,
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Für Luhmann ist es entscheidend, dass die Identität nicht mehr „eines der Attribute des Seins und damit als selbsterklärend“ ist.119 Die Identität soll vielmehr von ihrer Funktion für die Lösung des Problems her definiert werden. Sie ist also kein ontologisches Attribut mehr, sie hat ihre Funktion in der Kontrolle der sinnhaften kommunikativen Operationen und kann erst durch Identifikation erreicht werden. Nach Luhmann setzt die Identität „eine Relation“ voraus, bei ihm heißt dies „die Grundrelation“ von System und Umwelt.120 Er lehnt jedoch die traditionelle Leibniz’sche Identitätsdefinition ab, die in Identität nur die wechselseitige Ersetzung zweier Variablen in allen Fällen sieht und damit auf der Ebene der Zeichen bzw. der Sprache stecken bleibt.121 Dagegen erreicht man die Identität nun nur durch „ein differenziertes Negieren“ in dem Sinne, dass etwas „identisch bleibt und seine Identität gerade dadurch hat, daß es Mögliches und Nichtmögliches zusammenhält. Sinn erscheint so als Identität eines Zusammenhanges von Möglichkeiten.“122 Demnach muss als erstes ein Zusammenhang, eine Relation, errichtet werden, die eben durch Negation (in der Differenz) hergestellt wird. Weiterhin wird die Identität in der Redundanz in dem Maße gesehen, als ein und dieselbe Leistung durch mehrere, füreinander substituierbare Möglichkeiten hervorgebracht werden kann. Identität bedeutet dann Gefährdungsabwehr „im Sinne von relativ unabhängiger Variabilität“ (des Systems gegenüber der viel höheren Komplexität der Umwelt).123 Die Redundanz bedeutet, dass man trotz und gerade wegen der Differenz unterschiedliche, aber funktional äquivalente Problemlösungen zur Verfügung haben kann.124 119 Luhmann,
Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 48. Identitätsgebrauch, 1996, S. 316. 121 Luhmann, Identitätsgebrauch, 1996, S. 316. Luhmann sieht das Problem der Leibniz’schen Formel wohl darin, dass sie ontologisch und für die Kontrolle der Kommunikation nicht behilflich bleibt. Das Problem liegt m. E. aber eher darin, dass die Leibniz’sche Identitätsformel trotz Popularität den Identitätsbegriff bereits voraussetzt, indem er eben identische Merkmale auf beiden Seiten erfordert (vgl. Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 16 f.). Es muss nach einem Identitätsbegriff ohne Wesenheit gesucht werden, der zugleich auch verschiedende Merkmale erlaubt. 122 Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 48. 123 Luhmann, Identitätsgebrauch, 1996, S. 317. 124 Luhmann spricht von „Doppelphänomen von Redundanz und Differenz“ in der Kommunikation: Die Redundanz erzeugt den Eindruck von „Richtigkeit“, „Objektivität“ und befördert die Ausbildung der Struktur, die Differenz ermöglicht dagegen Abweichung, Unsicherheit und Negation (siehe SS, S. 237 f.). Dann kann man die Formel von Differenz von Identität und Differenz (SS, S. 26, S. 27, S. 100) mit ‚Differenz von Redundanz und Differenz‘ übersetzen. Die Differenz ist immer verwirrend mehrdeutig, sie bündelt Negation und Identität undifferenziert zusammen. 120 Luhmann,
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Aber dann muss diese nicht-ontologische, sondern funktionale Identität mit Variabilität vereinbar sein. Das Problem der variablen Identität entsteht erst in der „Langsamkeit“ des zeitlichen Nacheinander, im „Prozeß der Selbstveränderung“, indem sich die Frage „nach Mindestelementen der Identität“ stellen kann.125 Für deren Lösung steht bei Luhmann die Identifikation in der negierenden Differenz. Man kann nämlich einerseits in der Umwelt als Realität „Identitäten“ auswählen, die „als Abstoßpunkte und als Kontrollfaktoren“ für die Operationen des Systems dienen, was aber nur anhand der Differenz im System selber stattfindet; das System erreicht dadurch andererseits eine „basale Selbstreferenz“ und kann sich auf sich selber beziehen; das System entwickelt also die nötige „Technik der Identifika tion“, identifiziert dadurch eigene Zustände gegenüber der Umwelt und erhält die „Kontrolle über die Identitätsbestimmung“.126 Dabei setzt diese Selbstidentifikation mithilfe anderer Identitäten offenbar voraus, dass Sinn sich durch anderes auf sich selbst beziehen kann. Es ist nämlich erforderlich, dass „jede Operation aus den Anschlußmöglichkeiten auf sich selbst zurückschließt und sich selbst nur so bestimmen kann“.127 Dieser Selbstbezug von Sinn soll erst anhand der (reflexiven) Negation der (generalisierenden) Negation ermöglicht werden, dabei kann durch die Selbstidentifikation die Identität „im Sinne von jeweils reduktiven Beziehungen zu sich selbst“ verstanden werden.128 125 Luhmann, Identitätsgebrauch, 1996, S. 317. Es geht um das alltäglich selbstverständliche, aber theoretisch sehr problematische Problem der Identität im Zeitfluss. Obwohl Luhmann auch die persönliche Identität als Beispiel – bei Doktor Bordeu im Reve de d’Alembert – anführt, besteht das Problem der Identität trotz der Veränderung in der Zeit eben für das Sozialsystem. Ein anderes interessantes Beispiel dafür ist die Identität während und nach dem Auswechseln (von Gehirn und übrigen Organen), siehe Blau, Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien, 2008, S. 50–66 (Ich und Selbst). 126 Luhmann, Identitätsgebrauch, 1996, S. 317 f. Man kann aus der Umwelt „Identitäten wie Worte, Typen, Begriffe“ einführen, „um Differenzen zu organisieren“ (SS, S. 112). Nach Mead soll die individuelle Selbstidentität (das Selbstbewusstsein) dadurch entwickelt werden, dass man die Verhaltensregeln übernehmen und sich in die Rolle des anderen versetzen kann. Man muss sich also gewissermaßen als einen anderen sehen und von sich distanzieren können. Dadurch entsteht ein generalisierter Anderer als Bezugspunkt für die individuelle Selbstidentität, weil ein Individuum eben erst durch andere zu sich findet. Es entsteht somit nämlich eine Selbstreferenz des Individuums. Praktisch kann man zum Beispiel in der Lautgebärde in der gemeinsam benutzten Sprache diesen Bezugspunkt finden (vgl. Mead, Eine behavioristische Erklärung des signifikanten Symbols, und ders., Die Genesis der Identität und die soziale Kontrolle, 1987, S. 290 ff., S. 299 ff.; vgl. Luhmann, GdG, S. 29, Anm. 21; ders., SS, S. 593 f.). 127 SS, S. 123. 128 SS, S. 136. Dadurch erreicht ein System auch seine Systematizität (SS, S. 38). „Man erkennt am Geräusch [also Identität], daß die Mülleimer geleert worden sind.
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Die Identität wird bei Luhmann nämlich durch die sachliche (Selbst-) Identifikation (eigener Zustände) bestimmt. Man scheint sagen zu können, dass die Differenz im Sinnmedium steckt und mit Negation eine Relation als einen Rahmen erzeugt, eben das einheitliche Differente vom So-undnicht-anders-sein, insbesondere das Differente von System und Umwelt. In diesem negierenden Rahmen wird eine sachliche Identifikation (Selektion) – so, aber doch nicht anders – vorgenommen, womit die Sinnidentität erzeugt wird. Die Identität steht also nur in einem Rahmen, dessen Verschieben zu ihrer Veränderung führen würde. Dadurch kann ein Seiendes unterschiedliche, nicht feste Identitäten erhalten.129 In dem konstitutiven Nega tionsverhältnis werden die beiden Seiten Sein und Nichtsein sowie die Zwischen-Relation eingeschlossen und zugleich wird die funktionale Identität durch Identifikation bestimmter Sinnbestimmtheiten definiert.130 Man geht heraus und kennt unter vielen Mülleimern den seinen sofort wieder [nämlich Rückbezug auf sich durch anderes], ohne daß es dazu eines Wortes, eines Namens oder gar eines Begriffs bedarf“ (SS, S. 136). Zwei Rückfragen wären wohl angebracht: (i) Ob Luhmanns Identitätsbegriff eine Entität wie bei Quine voraussetzt und (ii) wie Luhmann seinen Mülleimer nicht mit dem eines anderen verwechseln kann? 129 Sein und Seiendes werden nämlich getrennt. Vorweg ist anzumerken, dass es nun zwei Wege gibt, die Identität zu erreichen: (mit Leibniz) „das Prinzip der Identität A = A“ (SS, S. 624) oder (mit Luhmann) Identität durch Negation. Beides soll dann in der Figur der Selbstreferenz des Systems zusammengeschlossen werden. Es sind nämlich die Tautologie (kurzgeschlossene, reine Selbstreferenz) und die Paradoxie (blockierende Selbstreferenz) (vgl. SS, S. 59). Das Problem der Tautologie liegt darin, dass bei ihr die (nichts bedeutende, verdeckte) Negation nicht richtig – generalisierend und reflexiv, also selektiv bestimmend – funktioniert und daher ihren Sinn verliert (vgl. Luhmann, Tautologie und Paradoxie, 1996, S. 91). 130 Luhmann liegt es an der Überwindung der Ontologie, in der Negation sollen die ontologisch ausgeschlossene andere Seite sowie die Relation als Drittes aufbewahrt werden (vgl. GdG, S. 901). Der Sachsinn wird nicht mehr in dem Verhältnis von Gattung und Art lokalisiert, sondern eher in Negationen. Kritisch kann man bemerken: Genauer gesehen wird (i) der Identitätsbegriff bei Luhmann nicht definiert oder kennzeichnet und das Verhältnis von Identität und Identifikation (einer Bestimmtheit) bleibt unklar. Man spricht zum Beispiel zugleich von Staat als „Identifikationsformel“ (RdG, S. 437) und von Staat als Identität des politischen Systems (SS, S. 620). Es scheint, dass der Identitätsbegriff immer vorausgesetzt wird. Sonst kann die Selbstidentifikation nicht stattfinden. Wie aber kann man sich denn an etwas identifizieren? Ist das Selbst Identität oder irgendwie geartete Subjektivität? Dabei kommt es auch darauf an, dass das System ein selbstbeobachtendes Selbst entwickelt hat. Außerdem setzt (ii) die Identität nach Luhmann eine negierende Relation voraus, wobei es aber in der Tat um die Relationen Identität und Verschiedenheit geht; die Verschiedenheit wird aber bei Luhmann wie oben dargestellt in der Negation aufgehoben. Dadurch entsteht die Sinnidentität durch Negation (Differenz), die Negation wird ihrerseits aber mehrdeutig – zugleich mit Bezug auf Identität (so oder nicht so) und Wirklichkeit (aktuell oder potentiell) – gebraucht. Unten werde ich noch auf den Problemkomplex zurückkommen, wobei die Identität sowie die
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Mit der Bestimmung der Identität durch Differenz wird der sachliche Sinn nun in einer „primäre Disjunktion“ von diesem und anderem bzw. von innen und außen gesehen. Und „alles“ wird dadurch im Sachsinn erfasst. Dieser entsteht nämlich durch „die einfache Dualität“ von Innen- und Außenhorizont und stellt somit eine „ ‚Form‘ “ mit einer Grenze in dem Sinne dar, dass man sich von jeder aktualisierten Sinnverweisung aus in eine Richtung bewegen, aber zugleich jederzeit umkehren und in die entgegengesetzte Richtung gehen kann. Dabei überschreitet man stets die Grenze. Entscheidend ist, dass die beiden Horizonte bei jeder Sinnverweisung, welche Richtung auch immer, stets präsent bleiben.131 b) Zeitliche Dimension von Sinn Luhmanns Zeitbegriff geht von der an jedem Ereignis einsetzenden und erfahrbaren Differenz von Vorher und Nachher aus, die dann zur Differenz von Vergangenheit und Zukunft erweitert wird. Es muss besonders hervorgehoben werden, dass der wohl üblich klingende, aber in der Tat sehr eigentümliche Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft den Ausgangspunkt seiner Zeittheorie bildet. Um diesen Punkt nachvollzuziehen, sollte man bemerken, dass diese Differenz von Vorher / Nachher bzw. Vergangenheit / Zukunft „die Differenz von Anwesendem und Abwesendem“ unterminiert und sich erst dadurch von ihr als eine eigenständige Sinn dimension – nämlich als Zeit – befreit.132 Erst wenn sich die Zeitdimension verselbständigt, „neutral“ wird und sich die Differenz von Anwesendem und Abwesendem unterordnen kann, kann das Abwesende als „gleichzeitig aufgefaßt werden“ und erst nun braucht und hat man Zeit, um es zu erreichen. Sonst wird die Zeit (Vergangenheit und Zukunft) umgekehrt „im Dunkel des weit Abwesenden“ erfasst und dadurch dem „Wer / Was / Wo / Wie des Erlebens und Handelns“ zugeordnet.133 In diesem Fall gibt es gar keine Zeit, die Zeit ist vielmehr ein Ding. Sie wird nämlich im Abwesenden verortet, das aber ohne Zeit-Distanz immer schon da ist; die Zeit wird insofern in das Sein eingespannt. Sie wird dann in der Seinsontologie nur „in die Streckenbegriffe Vergangenheit / Gegenwart / Zukunft eingeteilt und nicht als stets gegenwärtig, als in der Gegenwart Verschiedenheit selber bereits Relationen darstellen und danach gefragt wird, ob die variable Identität doch logisch möglich ist. 131 SS, S. 114 f. Die Grenze, die jede Form mit sich bringt, soll durch jede Sinnaktualisierung hergestellt und durch den Anschluss einer weiteren, ebenfalls Grenze erzeugenden Sinnverweisung überschritten werden. 132 SS, S. 116. 133 SS, S. 116, auch Anm. 43 (mit Hinweis auf Augustinus).
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praktizierte Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft behandelt“.134 Das Abwesende ist dann nicht gleichzeitig, von dessen Gegenwart kann keine Rede sein; sondern es ist dinghaft da.135 Vergangenheit und Zukunft stellen bei Luhmann nämlich die Sonderhorizonte der Zeit dar. Das Abwesende, sowohl in Vergangenheit als auch in Zukunft, kann nun „ohne Rücksicht auf die Zeit, die man braucht, um es zu erreichen, als gleichzeitig aufgefaßt werden“ und damit wird „eine einheitliche, vereinheitlichende Zeitmessung“ ermöglicht. Dies führt dann – von der Gleichzeitigkeit des Abwesenden aus – zur Trennung der beiden Zeitaspekte: der Zeitpunktsequenzen (Linearisierung) und der Verhältnisse der Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft (Chronologisierung). Zeit bedeutet erst dadurch das Zwischen der beiden sich stets bewegenden Horizonte Vergangenheit und Zukunft, markiert das Nichtgegenwärtige in der Gegenwart und hält dadurch „die Interpretation der Realität im Hinblick auf eine Differenz von Vergangenheit und Zukunft“ offen.136 Man bemerkt hierin eine Entwicklung der Zeit als ein Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zurzeit als Zeitpunktsequenzen. Es gibt bei Luhmann demnach zwei Zeitarten: gleichzeitige Zeit und gemessene Zeit. Bei der gleichzeitigen Zeit sind Anwesendes und Abwesendes immer gleichzeitig da, sie haben sozusagen keinen Zeitabstand für Vermessung, obwohl sie in Horizonten von Vergangenheit und Zukunft bestehen und damit prinzipiell unerreichbar sind. Bei der gemessenen Zeit besteht die Zeit nur aus Zeitpunkten, zwischen ihnen kann gemessen werden; sie sind nun nicht mehr gleichzeitig und man braucht Zeit, um sich zwischen ihnen zu bewegen. Wichtig ist, dass die gemessene Zeit die gleichzeitige Zeit vorauszusetzen scheint, weil erst die gleichzeitigen Bezüge einen basalen, 134 GdG,
S. 903. Zusammenhang soll man in der unterschiedlichen Charakterisierung der Differenz von Anwesendem und Abwesendem sehen. Nur wenn man das Abwesende in die verselbständigte Zeitdimension eintaucht, erhält man das gleichzeitig Abwesende und bekommt erst dadurch mit der Zeitparadoxie – die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen – zu tun. Es ist eine Paradoxie, weil etwas, das nicht ist, doch ist. Wenn man aber umgekehrt die Zeit in die Differenz von Anwesendem und Abwesendem einschließt und die Zeit als Ist-Ding, als Strecke bzw. als Anfang und Ende begreift, geht es nach Luhmann auch um eine Paradoxie und ihre verharmlosende Lösung (vgl. GdG, S. 903). Nur dann soll es sich um eine Paradoxie im Schema von Ganzem und Teil, aber nicht um die Zeitparadoxie handeln. Dieser kennzeichnende Unterschied könnte wohl auf das Problem mit der Gegenwart zurückgeführt werden. Die Schwierigkeit mit dem Umschlagpunkt der Gegenwart führt nämlich dazu, dass die traditionellen Zeittheorien die Gegenwart in die Ewigkeit – außerhalb der Zeit – und damit auch in das Sein versetzt haben (vgl. Luhmann, Temporalisierung von Komplexität, 1980, S. 261). Luhmann löst das Problem mit Zufall bzw. Ereignis. 136 SS, S. 116. 135 Den
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gemeinsamen Punkt für die Messung der Zeitabstände schaffen können. Die beiden Zeitarten werden dabei in Beziehung gesetzt, miteinander verschränkt und die Zeit erscheint erst dadurch als Zeitfluss.137 Luhmanns Zeittheorie legt den Schwerpunkt aber eher auf die gleichzeitige Zeit. In der Zeitdimension muss nach ihm vermieden werden, dass die Sinnmöglichkeiten in der Zeitachse als prinzipiell unendlich lange Kette (Zeitfluss) erscheinen, weil man dann gezwungen wird, eine der unterschiedlichen Ketten zu fixieren oder diese Ketten einander konditionieren zu lassen, was eben unmöglich ist. Anders als dies muss man die sachliche Komplexität so vergegenwärtigen, „daß mein aktuelles Erleben die Gegenwart einer Welt voll anderer Möglichkeiten anzeigt, Welt sozusagen repräsentiert“.138 Demnach meint die Weltkomplexität alle Sinnmöglichkeiten, die nicht in der nacheinander folgenden Folge der Zeitpunkte, sondern bereits in der Gegenwart präsent und erfasst sind. Erst dadurch funktioniert die zeitliche Sinndimension. Die Zeit muss nämlich auf die Gegenwart konzentriert werden.139 Die Gegenwart wird weiterhin in zwei Arten manifestiert: irreversible und reversible Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft gelten nun als bewegte Zeithorizonte, die stets gleichzeitig präsent in der Gegenwart sind. In diesem Rahmen erscheint die Gegenwart in jedem Ereignis, in der Differenz von Vorher und Nachher sowie in jedem „Irreversibelwerden einer Veränderung“. Hierin liegt die irreversible und punktualisierte Gegenwart. Bei der punktualisierten Gegenwart beobachtet man an irgendetwas, dass sich etwas irreversibel verändert, wobei die irreversible Veränderung punktualisiert – ereignishaft – einsetzt. Luhmann sieht in dieser punktualisierten Gegenwart die hohe, unvermeidbare „Veränderungsfrequenz der Welt“. Anders als dies bringt die dauernde Gegenwart ihrerseits die Reversibilität insofern hervor, als eine laufende „Rückwendung zu vorherigen Ereignissen bzw. Handlungen“ ermöglicht wird: „Ein Ding ist noch da, wo man es verlassen hatte; ein Unrecht kann wiedergutgemacht werden.“ Der Abschluss der reversiblen Gegenwart im Sinne der irreversiblen Veränderung lässt nämlich noch auf sich warten.140 137 Man könnte sagen, dass aus einer Zeitparadoxie zwei Zeitbegriffe werden. Es geht dabei um die Modalzeit und die Lagezeit, die unten noch erörtert werden. 138 Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 47. 139 Dies bedeutet, dass man in die Zeitparadoxie des Zeitflusses im Zeitfluss gerät, wenn man sich die Sinnmöglichkeiten entlang eines Zeitflusses als eine Kette vorstellt. Dies soll durch die Konzentration auf die Gegenwart vermieden werden. 140 Alle Zitate, siehe SS, S. 117. Dabei stellt sich die Frage, wie sich die Differenz von gleichzeitiger und gemessener Zeit zu der Differenz von punktualisierter und dauerender Gegenwart verhält.
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Wichtig ist, dass Luhmann gerade in dieser dauernden Gegenwart die Selbstreferenz des Sinns in der Zeitdimension sieht. Dabei scheint die Zeit als Systemzeit und Weltzeit jeweils auf System und Umwelt verteilt und entsprechend unterschieden zu werden. Die irreversible Gegenwart, in der die flüchtende Weltveränderung stattfindet, bezieht sich auf die Weltzeit; und die reversible Gegenwart, die erst in der Zeit das Abwesende lokalisiert, entspricht der Systemzeit, womit das System die Welt interpretiert. Das System operiert in dem Sinne temporal, dass „dem Nacheinander im System eine Simultaneität in der Umwelt entspricht“.141 Und anhand der Differenz von System und Umwelt wird die irreversible Gegenwart (Weltzeit) dann mit der dauernden Gegenwart (Systemzeit) in einer Weise verschränkt, dass „das Präsentwerden einer am irreversiblen Ereignis noch sichtbaren Vergangenheit und schon sichtbaren Zukunft in einer noch dauernden Gegenwart“ ermöglicht wird.142 Nämlich in den Sinnsystemen, und nur in ihnen, wird die Zeit in der dauernden, reversiblen Gegenwart selbstreferentiell, und zwar in beide Richtungen – Vergangenheit und Zukunft. Die vergangene Veränderung sowie die zukünftige Offenheit werden sozusagen in die Gegenwart eingeholt.143 Die Differenz von gleichzeitiger und gemessener Zeit wird also zuerst in die punktualisierte und dauernde Gegenwart und sodann weiter in die 141 Luhmann, Identitätsgebrauch, 1996, S. 317. In diesem Zusammenhang wird auch das Problem der operativen und der strukturellen Kopplung zwischen System und Umwelt angesprochen. Die Ereignishaftigkeit bedeutet einerseits die Simulta neität „als Gleichzeitigkeit von dem, was im Moment im System und in der Umwelt aktuell ist“, sie zeigt aber andererseits, „daß irgendeine Realität in der Umwelt anders weiterläuft und Ereignisse mit anderen Anschlüssen versorgt als im System selbst“ (Luhmann, Autopoiesis als soziologischer Begriff, 1987, S. 314). Der Kontakt und die Differenz von System und Umwelt kommen im Ereignis – also in der irreversiblen Gegenwart – zum Vorschein. Dabei stellt sich das Problem: Es ist eben ein und dasselbe Ereignis, das in unterschiedlichen Systemen jeweils als Element erscheint. Ist es also ein Ereignis, das aber zwei verschiedene Elemente ausmacht? Oder ist es ein gemeinsames Element unterschiedlicher Systeme? 142 SS, S. 117. 143 Man erinnere sich an die Theorie von Protention und Retention bei Husserl. Die zeitliche Selbstreferenz kann auch als re-entry der Gegenwart in die Gegenwart angesehen werden, weil dabei etwas, das durch ein ereignishaftes Geschehen irreversibel in der gegenwärtigen Vergangenheit bzw. der gegenwärtigen Zukunft liegt, in die gegenwärtige Gegenwart gebracht wird. Es müssen aber die Sinnsysteme sein, die erst diese Selbstreferenz der Zeit – als Dauer im Gegensatz zum Umschlagen der Zeit – zustande bringen können. Dieser Sachverhalt der zeitlichen Selbstreferenz wirft das Problem des Zeitflusses in Zeitfluss in Zeitfluss usw. auf, das Fuchs als „die Frage […] im denkbar abstraktesten Sinne“ bezeichnet (vgl. Fuchs, Die Form romantischer Kommunikation, 1993, S. 219). Es geht m. E. in der Tat um die reine Modalzeit (Weltzeit), die modale Lagezeit (Systemzeit) sowie die logischen Antinomien der Zeit, was unten noch zu erläutern ist. Siehe C. II. 2. e) cc).
II. Sinn, System und Welt55
Weltzeit und Systemzeit überführt. Dabei sieht man, dass die Selbstreferenz der zeitlichen Sinndimension entlang dem Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Vorschein kommt. Sinn zieht in die Vergangenheit und die Zukunft überhaupt hinein und zugleich in die Gegenwart zurück; er bezieht sich auf sich selbst in der Zeit und bindet sich dadurch in der Gegenwart. Dabei wird auch die sachliche Dimension – die Identität durch Negation – involviert.144 Nur dadurch kann die Weltkomplexität in die Zeit eingespannt werden. Die Welteinheit wird nämlich im System in die Einheit der gegenwärtigen Differenz sowie in die zeitliche Selbstreferenz überführt.145 c) Soziale Dimension von Sinn: Kritik am Humanismus Die soziale Sinndimension besteht nach Luhmann (i) in der Annahme der anderen, (ii) in der Relevanz der Annahme der anderen und (iii) in der Universalität dieser Relevanz der Annahme für Wahrnehmung aller Weltkomplexität. Der soziale Sinn wird dadurch von der Sachdimension und der Zeitdimension befreit und erhält seine „alles durchgreifende Eigenständigkeit“, wobei nicht nur eine „Ego-Perspektive“, sondern auch „eine (oder viele) Alter-Perspektive(n)“ einbezogen werden müssen: „Jedem [Welt explizierenden] Sinn kann dann auch eine Verweisung ins Soziale abverlangt werden. […] Sozial ist also Sinn […] als Träger einer eigentümlichen Reduplizierung von Auffassungsmöglichkeiten.“146 Im sozialen Sinn besteht nämlich eine „Nichtidentität der erlebenden Subjekte“, indem ein anderes Subjekt als Nicht-Ich mit seiner eigenen Weltperspektive begegnet. Man kann dann – auf die sachliche Sinnidentität gestützt – lernen, die Perspektive des anderen bei sich zu aktualisieren und sie 144 Wie die Bewahrung und die Fortbildung der Identität des Systems im Zeitfluss möglich sind, bildet dann den Problemkomplex von Zeitbindung und Verzeitlichung. Das Durchhalten der Identität durch die Zeit, sozusagen Zeitbindung, erscheint früh bei Luhmann (vgl. Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: ders., AdR, 1981 (1965), S. 336–338). Dann wird seine Zeittheorie immer an das Problem der Identität gebunden (vgl. Luhmann, Eine Redeskription „romantischer“ Kunst, 1996, S. 342 ff.). Die Frage nach der Identiät bzw. Beharrlichkeit der Person, was üblicherweise empirisch gar kein Problem aufwirft, ist logisch mit der LügnerParadoxie eng verwandt. Luhmann stellt sie aber in das Zeitverhältnis. 145 Die Welt stellt sich dann als geordnete „Sinngeschichte“ insofern dar, als in der Gegenwart als Differenz „freigestellte Zugriffe“ auf die beiden Horizonte Vergangenheit und Zukunft garantiert und dadurch auch zugleich begrenzt werden (SS, S. 118). Die Geschichte ist nämlich keine Ereignissequenz, sie braucht nicht Anfang oder Ende, sondern sie besteht immer in der gegenwärtig selektiven Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart. 146 Alle Zitate SS, S. 119.
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sich dadurch anzueignen. Erst dadurch kann man sich von der eigenen Weltperspektive lösen. Man muss nicht mehr die Welt allein von sich aus konstituieren, sondern man hält zwei Weltperspektiven bereit.147 Dabei ist es zu beachten, dass Alter und Ego bei Luhmann keine Rollen, keine Personen und auch keine Systeme bedeuten. Sondern wie Dies und Anderes in Sachdimension, Vergangenheit und Zukunft in Zeitdimension, bilden Alter und Ego „Sonderhorizonte, die sinnhafte Verweisungen aggregieren und bündeln“.148 Soziales bedeutet nämlich, dass im Erleben und im Handeln immer ein Doppelhorizont bzw. eine Doppelperspektive besteht. Die Sozialität wird demnach in der Verweisungsstruktur der unterschied lichen Perspektiven gesehen. Sie kann deshalb nicht „auf die Bewußtseinsleistungen eines monadischen Subjekts“ bzw. auf „ ‚Intersubjektivität‘ “ zurückgeführt werden.149 Man soll Sozialität bei Luhmann also in der Differenz der Horizonte von Ego und Alter sehen, worin ein Negationsverhältnis steckt. In dieser Dimension fungiert der „Gegensatz von Konsens und Dissens“ als primäre Differenz: „Nur wenn sich Dissens als Realität oder als Möglichkeit abzeichnet“, bekommt man die andere Perspektive – Dissens als Realität, als andere Seite der Realität – und somit die soziale Dimension überhaupt; es wird dann um diese „vorausliegende Differenz“ als Angelpunkt „eine besondere Semantik des Sozialen“ als Theorie entwickelt, die ihrerseits der Differenz von Konsens und Dissens unterzogen werden kann.150 Auch die soziale Sinndimension wird damit selbstreferentiell und kann an die selbstreferen tiellen Systeme angepasst werden. Man kann also sagen, dass das Soziale anhand der Differenz von Konsens und Dissens – der Differenz von Vorher / Nachher strukturell ähnlich – in die beiden Horizonte Ego und Alter ausgedehnt wird. Und auch hier verweist Sinn auf Sinn; und Sinn bleibt identisch, obwohl sozial zweiseitig operiert wird. 147 Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 51 f. In diesem Zusammenhang geht es zugleich um das Problem von In- und Exklusion mit der Fragestellung, wer zu dem begegnenden und kommunizierenden Subjekt gezählt wird. Historisch werden nicht unbedingt alle Menschen dazu gezählt. Und theoretisch könnten Tiere und Dinge dazu geeignet sein. 148 SS, S. 119–120. Man neigt leicht dazu, das Soziale in den Beziehungen zwischen Personen – Mensch zu Mensch – zu sehen. Aber dies macht eine andere Fragestellung aus und ist m. E. bei Luhmann gerade nicht der Fall. Das Soziale erscheint bei ihm als Horizont, als Differenz beider Werte. Und der Sinn – auch der Sozialsinn – steht auch vor dem Menschen (psychischem System), nicht umgekehrt (vgl. SS, S. 141). 149 SS, S. 120. Bei Ego / Alter geht es nicht um Sachbezug, sondern eher um ein Zurechnungsproblem der Sinnmöglichkeiten (vgl. SS, S. 125 f.). 150 Alle Zitate, SS, S. 121.
II. Sinn, System und Welt57
Luhmann sieht seine Theorie der Sozialität als Doppelhorizont besonders dem traditionellen „Kardinalfehler des Humanismus“ gegenüberstehen. Demnach kann sich gerade beim Humanismus der soziale Sinn nicht zu einer eigenständigen Dimension entfalten. Er soll nämlich den Menschen insofern aufwerten, als der Mensch mit Zeitlichkeit und Sozialität ausgestattet wird. Oder man kann sagen, dass Zeit und Sozialität – die ganze Welt – im Menschen verankert und eingeschlossen werden. Der Mensch als monadisches Subjekt fungiert als „ein bevorzugter Gegenstand, neben dem es andere gibt“. Der Mensch wird als Gegenstand, und mit ihm auch Zeit und Sozialität, in der sachlichen Dimension verortet. Der soziale Sinn bildet sich schlicht „qua Bindung an bestimmte Objekte (Menschen)“ und dadurch fließen die soziale und die sachliche Dimension zusammen und verschmelzen miteinander. Von daher erhält der Mensch seine „Natur“, die dann das „Dilemma des eigenen Eingeschränktseins“ mit sich bringt.151 Man bewegt sich mit dem Humanismus also immer noch in der Seins ontologie bzw. dem Dingschema, wobei der Mensch (als Sache) wieder der Differenz von Perfektion und Korruption ausgesetzt ist. Demnach besteht streng genommen mit der Semantik des Menschen gar keine Sozialität und die anderen sind eben irrelevant.152 Dieser ‚sozialfreie‘ Humanismus kommt dann in der sogenannten Moralistik zum Vorschein. Entsprechend dem Dingschema bedeutet „Moral“ bzw. „Moralistik“ in der sozialen Dimension, dass „das ‚und so weiter‘ der Verweisung in die Horizonte anderen Erlebens und Handelns ersetzt [wird] durch Kombinationsbeschränkungen“.153 Dies impliziert, die primäre Differenz von Konsens und Dissens infrage zu stellen. Es bestehen eben nur eine Seite und ein Wert, die andere Seite und der andere Wert müssen korrigiert werden. Luhmann sieht aber, dass die Moral bzw. Moralistik in einer nun immer komplexer werdenden Gesellschaft ihre Grenze erreicht hat. Dies ist so, weil, wenn die Moral sich dem eigenständigen Sozialsinn anzupassen versucht, die Gesellschaft die moralische Toleranz überdehnen 151 Alle
Zitate, SS, S. 119, vgl. auch SS, S. 129 f. Humanismus stellt eine Variante des Einheitsproblems in Seinsontologie dar, wobei die Welteinheit in den Menschen als Subjekt verlagert wird. Es ist auch zu beachten, dass nach diesem Humanismus der Mensch nicht in der sozialen Dimension, sondern eher in der sachlichen lokalisiert wird. Der Mensch hat „eine Sachqualität“ (GdG, S. 928), stellt eben „das besondere Sachding“ (SS, S. 131) mit besonderer Natur dar. Konsequent könnte man in Luhmanns Sinne sagen, dass die vormoderne Gesellschaft (semantisch) gar keine Sozialität aufweist. Und wenn man noch im Menschen ein irgendwie geartetes Wesen suchen will, um seine Würde zu begründen, dann wird die Menschenwürde eben mit diesem Humanismus (noch) ohne Sozialität gesehen. 153 SS, S. 121. 152 Der
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B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
wird. Aber zugleich muss Moral doch einschränken und alles Ausgeschlossene muss diskreditiert werden. Beides widerspricht sich und führt unvermeidlich zur Pluralisierung der Moral. Schließlich können alle Varianten der Moral durch vielfältige Horizonte bzw. Perspektiven relativiert und infrage gestellt werden. Auch in Gestalt des Sittengesetzes oder der wechselseitigen Einschränkung kann die Moral der sozialen Sinndimension mit ihrem Doppelhorizont sozusagen nicht mehr gewachsen sein.154 Die soziale Sinndimension mit der Ego / Alter-Differenz bringt das Problem der Handlungsunbestimmtheit (die doppelte Kontingenz) hervor und verlangt nach der Verhaltensabstimmung. Es soll die soziale Dimension sein, die die Sinnkonstitution antreibt.155 Ihre entscheidende Bedeutung besteht darin, dass sie an die Stelle von Kosmos bzw. Subjekt u. ä. tritt, die Seinsontologie bzw. das Dingschema ablöst und erst dadurch dem neuen Paradigma der Differenz von System und Umwelt in Bezug auf das Einheitsproblem zur Geltung verhilft. Im Dingschema werden nämlich die drei Sinndimensionen der ganzen Welt als „eingeordnet in den Kosmos oder als Bewußtseinsstruktur des Subjekts“ gesehen.156 Darin dominieren die Sachlichkeit und die entsprechende hierarchische Struktur der Gesellschaft, wodurch das Problem der Unbestimmtheit bzw. Kontingenz mithilfe der religiösen Kosmologie absorbiert wird.157 Der Geltungsverlust der Religion führt dann dazu, das Problem ins menschliche Bewusstsein zu verlagern, welches die Ungewissheit absorbieren und die Welt zugleich entdinglichen soll. Dafür fungiert das Schema von Allgemeinem und Besonderem. Dabei wird aber das Dingschema weiter beibehalten, nur jetzt hat es seinen Sitz im Bewusstsein. Mit dem korrespondiert eben die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem Humanismus. Dies hat dann zur Folge, dass sich die soziale Sinndimension einerseits nicht verselbständigen kann, die sachliche und die zeitliche Dimension an154 SS, S. 121–122. Luhmann deutet auf Kant hin. Man sieht, dass sich die Moral bzw. Moralistik demnach auch eher auf die Sache (Natur, Wesen, Vernunft) als auf die Sozialität bezieht. Entsprechend der ontologisch einwertigen Realität gilt die Moralistik eben als einwertig. Oder man könnte so sagen, dass die Moral wie die zweiwertige Logik traditionell der einwertigen Ontologie und Hierarchie dient. Vgl. Luhmann, GdG, S. 1130: „Die Moral hat ja auch eine schlechte Seite, fordert dann aber als Moral, daß man sich gegen das Schlechte wendet, sich also für eine Änderung der Gesellschaft, wenn nicht für eine ganz andere Gesellschaft einsetzt.“ 155 Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 49, vermutet, „daß es soziale Zusammenhänge geben könne, die das sinnkonstituierende Erleben genetisch regulieren, und nicht lediglich im Verweisungshorizont des schon konstituierten Sinnes angezeigt sind“. 156 SS, S. 109. 157 Vgl. SS, S. 98.
II. Sinn, System und Welt59
dererseits in den Menschen eingesperrt werden. Man bekommt zwar noch kein Problem mit Sozialität und Unbestimmtheit, doch das Interesse wird nun auf den Menschen konzentriert. Die Welt waltet weiter stabil und fest und man sucht das ‚Wesen‘ im Menschen, von dem alles andere abhängt. Der Preis dafür besteht dennoch darin, dass dadurch der Mensch und sein Bewusstsein verdinglicht zu werden drohen. Und damit kehrt das Problem der Unzulänglichkeit und Korruption zurück, nur jetzt hat man „Verbesserungsziele und Zivilisationskritik“ im Sinn.158 Die Bemühung um die Realisierung der humanistischen Ideale in der Realität läuft letztendlich auf Kritik und Moralistik (Moralisierung) hinaus. Die Ausdifferenzierung der sozialen Dimension und damit die Leitdifferenz von System und Umwelt brechen nun mit dem Dingschema und dem notwendig moralisierenden Humanismus. Ohne den festen Rahmen, den das Dingschema bietet, widerfährt dem Menschen das Problem des unruhigen Sinns. Man hat das Soziale nun selber hervorzubringen und zu reproduzieren. Dafür kann man mit wechselnden Themen und Beiträgen die Monotonie ausschließen. „Wenn nichts zu sagen ist, muß man eben etwas erfinden.“159 Und auch das Beschäftigtsein macht die conditio humana der menschlichen Existenz aus.160 Der Mensch bleibt jetzt aber nicht mehr in seinem Bewusstsein, sondern er bezieht sich notwendig auf andere. Die Sozialität besteht eben in der Pluralität der Beobachtungsperspektiven. Sie bedeutet einerseits „Freisetzung von Unbestimmtheit der selbstreferentiellen Natur für neue Bestimmungen“ und andererseits „die Einbeziehung der Selbstreferenz des jeweils anderen“.161 Mit ihr werden die sachliche und zeitliche Dimension auch vom Dingschema entfesselt. Die drei Sinndimensionen können sich schließlich verselbständigen. 3. Fazit: Die moderne Welt Mit Sinn und seinen Dimensionen wird die Welt in drei Leitdifferenzen eingespannt. Die Welt zeigt Sache, Zeit und Sozialität auf, jeweils aufgrund einer Differenz zweier Horizonte: innen und außen, Vergangenheit und Zukunft sowie Ego und Alter. Mit der grundlegenden Sinndifferenz von Aktu158 SS,
S. 99, S. 119. S. 99. 160 Vgl. PdG, S. 272. Sonst bekommt man ennui bzw. Langeweile (vgl. Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., GuS 3, 1998, S. 231). Das heißt eben die reine Selbstreferenz und das Scheitern des Anschlusses der Kommunikation. 161 Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropoloie, in: ders., GuS 1, 1998, S. 212. 159 SS,
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B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
alisierung und Potentialisierung setzen sich diese Leitdifferenzen in jeweiligen Dimensionen ein, wobei jede Dimension ihre eigene Sinn-Selbstreferenz erhält und dadurch auch ihre eigene Ausdifferenzierung verstärkt. Die Selbstreferenz der Zeit zeigt sich dadurch, „daß jede Zukunft und jede Vergangenheit eines jeden Zeitpunktes in Zeitpunkte aufgelöst werden kann, für die das gleiche gilt“. Man kann sich dies so vorstellen, dass ein Zeitfluss mit Vergangenheit und Zukunft mit einem Zeitpunkt markiert wird, wobei der Zeitfluss wieder in Zeitpunkte aufgelöst wird, an deren jedem wieder ein Zeitfluss mit Vergangenheit und Zukunft markiert wird usw. Jeder Zeitpunkt bezieht sich auf sich durch seine Zeithorizonte zurück; der Zeitfluss erscheint im Zeitfluss und schließlich tritt die Zeit in der Zeit auf und bezieht sich auf sich. Dies erzeugt „selbstreferentielles Verzeitlichen der Zeit“, „eine unendliche Wiederholung der Zeit in der Zeit“. Angesichts der Komplexität der unendlichen Zeitmöglichkeiten in der Zeit wird es erforderlich, „gültige Akzente“ zu setzen und die Zeit somit besser zu konditionieren.162 Die Selbstreferenz des sozialen Sinns besteht darin, dass sich die Perspektive von Ego auf sich durch die Perspektive von Alter Ego zurückbezieht, wobei die Perspektive des beobachtenden Alter Ego eingeschlossen wird usw. Daraus entsteht ein zirkelhaftes Beobachtungsverhältnis. Die soziale Differenz Ego / Alter Ego bewegt sich kontinuierlich, aber eine Differenz wird auf eine andere bezogen und erhält damit ihren Anschluss. Der Sozialsinn wird somit selbstreferentiell „in sich ins Unendliche“ erweitert.163 Auch die Selbstreferenz des Sachsinns kommt dadurch zum Vorschein, dass jede aktualisierte Dies / Anderes-Differenz die Innen- und Außenhorizonte erschließt, wobei die sachliche Differenz wiederum sowohl nach innen als auch nach außen verschoben werden kann. Damit bewegt sich auch die Differenz der sachlichen Doppelhorizonte, aber eine Differenz wird auf eine andere bezogen. Damit erhält man eine selbstreferentielle und unendliche Sachwelt. Diese Sachwelt dringt einerseits „ins beliebig Große und ins beliebig Kleine“ ein, sie ist grenzenlos; sie stellt andererseits eine „bodenlose Konstruktion“ dar, indem mit den bewegten Doppelhorizonten alle Kom ponenten bzw. alle letzten Haltepunkte aufgelöst und wieder kombiniert werden können.164 Die Eigentümlichkeit der modernen Welt wird bei Luhmann dann in der Selbstreferenz und damit in der Unendlichkeit ohne Weltrand gesehen.165 162 Alle
Zitate SS, S. 131–132. S. 132. 164 SS, S. 132, vgl. SS, S. 624 f. 165 Hier könnte man auch Glanville / Valera, „Your Inside is Out and Your Outside is In“. (Beatles, (1968)), 1981, S. 638–641, folgen. Gemeint ist das Möbius163 SS,
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Nach ihm bringt die Selbstreferenz aber immer das Problem der Paradoxie mit sich. Wie oben dargestellt, betrifft dies die kommunikative Unbestimmtheit. In jeder Sinndimension wird man bei jedem aktualisierten Anschluss der bewegten Differenz mit der Paradoxie konfrontiert, bis zur Unendlichkeit des Horizontes. Man bekommt also das Problem der Paradoxie unendlicher Stufen in der modernen Welt, indem man immer zwei Seiten hat, die sich durch eine Grenze trennen und doch verbinden, eine Einheit formulieren und dadurch eine Welt – eine bodenlose Welt – stiften.166 Die Welt kann Band, das, anstelle des Zirkels auf einer Fläche wie bei Spencer Brown, als Form bestimmt wird. Dadurch können die Innenseite des nicht mehr zu reduzierenden Elements an dem einen Extrem und die Außenseite des doch alle Sachen einschließenden Universums an dem anderen Extrem ja kurzerhand miteinander verknüpft werden, mit der Folge: „The edges dissolve BECAUSE the forms are themselves continuous – they re-enter and loop around themselves“ (ebd., S. 640). Die Innenseite und die Außenseite, die durch einen gezeichneten Zirkel als Form entstehen, werden nun sozusagen als Werte (In und Out) in die eingesetzte Marke der Form – das Möbius-Band – einbezogen und absorbiert, sie fließen ineinander und weisen die Kontinuität der Welt auf. Dabei sollte man aber die unterstellte Theorie von Beschreibung und Existenz des Objekts beachten, dazu vgl. Glanville, The Same Is Different, 1981, S. 252–262. Luhmann sieht hierin eine ‚autologische Logik der Welt‘ (GdG, S. 58). 166 Hier möchte ich das Problem romantischer Ironie kurz ansprechen. Mit der Verselbständigung der Sinndimensionen wird die Welteinheit nicht mehr auf das menschliche Bewusstsein konzentriert. Das bedeutet nicht nur, dass das Allgemeine nicht mehr in dem Besonderen verankert wird, sondern auch, dass die Welt von dem Bewusstsein abgekoppelt und ihr selber sozusagen zurückgegeben wird. Nicht nur die Person, sondern auch die Sache und die Zeit werden befreit. Entsprechend dem Problem der Welteinheit entstehen auf allen Sinndimensionen kommunikative Unbestimmtheiten, die es abzufangen gilt. Vor diesem Hintergrund kann das Problem romantischer Ironie gesehen werden: In der Welt besteht kein fester Punkt mehr für die Menschen, deren Freiheit prinzipiell nicht mehr einzuschränken ist. „ ‚Romantisieren‘, schreibt Novalis, ‚ist nichts als eine qualitative Potenzierung. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es‘. Hegels Kritik der romantischen ‚Subjektivität‘ trifft nicht den Kernpunkt. Die Frage ist, warum ein derart gepflegtes Paradox angeboten wird“ (GdG, S. 1062, vgl. auch GdG, S. 1129, über „Reflexionsform der (romantischen) Ironie“). Die Antwort auf das Problem heißt in der Systemtheorie das Prinzip der funktionalen Differenzierung (vgl. SS, S. 196). Das philosophische Problem romantischer Ironie soll bei Fichte seinen ersten Ausdruck finden; aber siehe Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 1970, S. 49 (§ 4); hierin sieht Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 28 f., die klassische Darstellung der romantischen Ironie. Fritscher, Romantische Beobachtungen, 1996, S. 37, sieht Luhmanns ‚Beobachten‘ bei der Systemtheorie „als spezifische Aufklärung auf der Seite der Romantik, als soziologische Romantik“ und „als moderne Variante romantischer Ironie, die sich nicht in purer Differenz erschöpft. Als ein Beobachten, das nicht ‚postmodern‘ ist, weil es Differenz(en) und Identität(en) generiert“ (ebd., S. 41). Dabei bezeichnet ‚romanti-
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dann als Verzeitlichung des Sachlichen auf dem Boden des Sozialen charakterisiert werden; sie wird sozusagen ins Soziale eingespannt und der menschlichen Labilität in der Zeitflut ausgesetzt. Dies kann man mit Luhmann den „Grundsachverhalt basaler Instabilität“ nennen.167 Es gilt dann, diese Instabilität abzufangen.
III. Kontingenz, Kommunikation und Emergenz des Sozialen Der Sinn der Kommunikationstheorie bei Luhmann soll in der Überbrückung von ausdifferenzierten Sinndimensionen liegen. Dabei werden die drei Dimensionen in der Kommunikation als Element des sozialen Systems miteinander verknüpft, wodurch die Emergenz und Reproduktion des So zialen ermöglicht werden. 1. (Doppelte) Kontingenz, Differenz und Soziales Die Selbstreferenz mit Unbestimmtheit in Sinndimensionen schließt das Problem der Weltkomplexität an das der Kontingenz an. Die Komplexität zwingt zur Selektion im Sinne der Reduktion der Komplexität, was gerade zwangsläufig zur Kontingenz führt.168 Der Kontingenzbegriff bedeutet für Luhmann „Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist.“169 Es soll hier zunächst darauf aufmerksam gemacht werden, dass dieses Begriffsverständnis mehrdeutig ist, da es einerseits um Sein und Nichtsein im Sinne der Existenz (Wirklichkeit) und andererseits wiederum um Sosein und Nichtsosein (Bestimmung) geht. Und weiterhin muss man bedenken, warum sche Ironie‘ „ein Verfahren der Reflexion, das Versöhnung [im Sinne einer endgültigen Identität] ausschließt (nicht rational-vernünftige Potenzen!)“ (Fritscher, ebd., S. 42) Luhmanns Beobachtungstheorie stellt somit ein „ästhetisiertes Beobachten mit endlichen Begriffen, die gleichwohl das Unendliche ‚meinen‘ “ (ebd., S. 42), dar und macht daraus eine „Ästhetik des Beobachtens als sichtbar / unsichtbar machende Weltbeobachtung“ aus (ebd., S. 43). Demnach gilt Luhmanns Beobachtungstheorie als ästhetisch, aber nicht gesellschaftlich-strukturell relevant, was mir problematisch erscheint; und ungeachtet seiner fragwürdigen Bestimmung des Verhältnisses von Differenz und Identität scheint Luhmann das gepflegte Paradox – die romantische Ironie als Reflexionsform bei Fritscher – doch für einen Fall der allgemeinen Differenztheorie zu halten, nicht umgekehrt. 167 SS, S. 99. 168 SS, S. 47. 169 SS, S. 152.
III. Kontingenz, Kommunikation und Emergenz des Sozialen 63
etwas, was so ist (war, sein wird), auch zugleich anders sein kann.170 Genauer gesehen bezieht sich der Kontingenzbegriff auf „Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen“.171 Damit betrifft der Kontingenzbegriff bei Luhmann auch die sachlichen Bestimmungen eines existenten Gegenstandes und die Modalisierung bezieht sich dann auf die Bestimmungen, aber nicht auf den Gegenstand.172 In der Tat setzt Luhmann „die gegebene Welt“ voraus: „Die Realität dieser Welt ist also im Kontingenzbegriff als erste und unauswechselbare Bedingung des Möglichseins vorausgesetzt.“173 Demnach besteht die Welt ohne Zweifel, nur ist sie so und immer zugleich anders möglich. Der Kontingenzbe170 Dieser Kontingenzbegriff stammt von Leibniz: „contingens est, quod potest non esse“ (Schepers, Zum Problem der Kontingenz bei Leibniz, 1965, S. 337). Es kann nicht nur nacheinander, sondern zugleich anders sein. Die Modalform muss nach Luhmann von temporalen Kategorien getrennt werden. „Es hat zum Beispiel durchaus Sinn, von vergangenen Möglichkeiten zu sprechen, die dadurch, daß sie vergangen sind, nicht etwa unmöglich werden, sondern durchaus noch aktuelle Bedeutung behalten – zum Beispiel als Grundlage eines Schuldspruchs“ (Luhmann, Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang, in: ders., AdR, 1981, S. 208, Anm. 35). Vgl. auch SS, S. 117: „Ein Ding ist noch da, wo man es verlassen hatte; ein Unrecht kann wiedergutgemacht werden“. Hierbei liegt es eher an der Selbstreferenz der zeitlichen Gegenwart. In diesem Zusammenhang wird in Richtung Zukunft das Kontingenzproblem in contingentia futura als ein Problem der noch nicht gefällten Selektion gesehen, was die unbestimmte zukünftige Gegenwart an die gegenwärtige Gegenwart bindet (vgl. Baecker, Zeit und Zweideutigkeit im Kalkül der Form, 2002 (1996), S. 77). 171 SS, S. 152. 172 Es ist wichtig, für die folgende Erläuterung des Paradoxieproblems zu beachten, dass mit dem Kontingenzbegriff Bestimmung (‚Gedanke‘ bei Frege) und Existenz bei Luhmann getrennt werden, dazu siehe B. I. 3. b). Demnach soll das Sein eben nichts über die Realität bzw. das Seiende besagen. Obwohl Luhmann von der Existenz der Welt überhaupt ausgeht, ist es aber gerade mit der Trennung von Bestimmung und Existenz logisch gesehen eigentlich nicht mehr zwingend, die Existenz der Welt vorauszusetzen. Mit Schmitz würde man sagen, dass die Existenz (Wirklichkeit) kein Attribut von irgendetwas – auch nicht von Gott – mit logischer Notwendigkeit sein kann; und die Welt kann demnach eben nicht existieren (Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 44). So kann Luhmann zufolge nur Zeit, aber nicht Negation, alles eliminieren (Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 36) und Descartes braucht eben deswegen einen Gott, der „die Welt von Moment zu Moment neu schaffen“ kann (SS, S. 163). Bei Luhmann heißt es dann Autopoiesis des Systems; die Welt als solche wird also von dem Kontingenzbegriff ausgenommen. Schützeichel, Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann, 2003, S. 38 f., meint: „Negationen eliminieren keine Möglichkeiten des Sinnerlebens, weil alle Negationen im nächsten Schritt wieder negiert werden können“, was m. E. nicht zutrifft. 173 SS, S. 152. vgl. Luhmann, Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen, in: ders., SA 3, S. 36: Die Negationen „setzen ‚Welt‘ im Sinne eines in Bezug auf Position und Negation unentschieden Vorhandenen voraus“ und
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B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
griff drückt so verstanden eine Differenz für die Einheit der Welt aus, die Differenz und die Welt werden nun aber hinsichtlich ihrer Bestimmungen modalisiert: die Differenz von Sosein / Anderssein. Dies entspricht auch der Verweisungsstruktur des Sinns – die Differenz von Aktuellem / Potentiellem – und die Welt wird somit wandlungsfähig. Unter dieser Bedingung wird „Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar“ erfasst.174 Es gibt im Hinblick auf die von der Welt aufgeworfenen Probleme und ihre Lösung immer andere äquivalente Möglichkeiten. Dies ermöglicht „sozial unterschiedliche Sinnperspektiven (Sozialdimension)“,175 womit sich Soziales als ein zu lösendes Problem in Gestalt doppelter Kontingenz von Ego / Alter Ego stellt und zwar „an allem Sinn“.176 Man sieht hier sowohl sachliche als auch soziale Differenzerfahrung liegen. Man hat also keine einheitliche Perspektive der Welt mehr, eben darin sieht man auch die Freiheit und Unendlichkeit des individuellen Ego bzw. Alter Ego. Aber eben dies lässt das Soziale zum Problem werden. Es stellt sich nämlich „als Problem der Gleichsinnigkeit oder Diskrepanz von Auffassungsperspektiven“ dar.177 Weil man dadurch sein eigenes Verhalten mit dem des anderen abstimmen muss, machen Ego und Alter Ego ihr Handeln voneinander abhängig, was einen rein selbstreferentiellen Zirkel bildet. Und daher bleibt soziales Handeln schließlich logisch gar unmöglich, weil es in dieser reinen Selbstreferenz keine Bestimmung erhält. Hierin sieht Luhmann „eine Grundbedingung der Möglichkeit sozialen Handelns schlechthin“.178 Dafür muss eine (kontingente) Bestimmung zur Verfügung stehen. Diese Bestimmung muss man in der (Um-)Welt suchen. Nur durch Bezugnahme auf die Welt kann soziales Handeln seine Bestimmung finden. Dies bedeutet weiterhin, eine Funktion bei der Lösung der durch die Welt gestellten Probleme zu erfüllen. Also stellt die doppelte Kontingenz das Problem des Sozialen auf und gibt den Anlass „zur selektiven Akkordierung von Handlungen in Systemen“, die sich erst dann als Handlungssysteme von ihrer Umwelt ausdifferenzieren.179 mit dieser vorhandenen, neutralen Welt werden die Negation und die Kontingenz miteinander verbunden (vgl. ebd., S. 44 f.). 174 SS, S. 83. 175 SS, S. 153. 176 SS, S. 153. 177 SS, S. 153. Man soll hier die soziale Sinndimension und das Soziale genauer unterscheiden. 178 SS, S. 149. 179 SS, S. 153. Nach Luhmann sucht Parsons die notwendige Bestimmung sozialen Handelns in dem Wertkonsens, der bereits begrifflich in der sozialen Handlung angelegt wird (vgl. Luhmann, SS, S. 149). Dagegen sucht Luhmann die Bestimmung
III. Kontingenz, Kommunikation und Emergenz des Sozialen 65
So entsteht ein System aus Anlass des Problems doppelter Kontingenz durch Suche der sachlichen Bestimmung, nämlich durch „Abtasten von Differenzen“ in sozialer und sachlicher Sinndimension und durch den Versuch, sie in „bestimmte Form“ zu bringen und damit „für spezifische Intentionen eingerichteten Sonderhorizont der Lebenswelt“ zu erschließen.180 Dieser Sonderhorizont heißt soziales System, das sich von seiner Umwelt abgrenzt und ein Feld sozialen Handelns im Hinblick auf eine bestimmte Funktion – Problemlösung – ausmacht. Dabei fungiert die doppelte Kontingenz immer als generierender Motor, aber das soziale System wird nicht mehr auf die individuelle Person zurückgeführt werden.181 Dieselbe Konstellation gilt auch für das Verhältnis sozialer Systeme. Die Systeme mit ihren Umwelten bilden komplexe Reflexionsverhältnisse aus. auf dem Weg der (Um-)Welt, die ein unlösbares Problem darstellt. Mit diesem Kontingenzbegriff bricht Luhmann also mit dem Wertkonsens bei Parsons, den man nun als eine Variante des Dingschemas ansehen könnte. Luhmanns Kontingenzbegriff markiert deshalb eben auch den Übergang vom strukturell-funktionalen zum funk tional-strukturellen Ansatz. 180 SS, S. 83. In der Erschließung eines sozialen Horizontes trotz und wegen doppelter Kontingenz ist es entscheidend, dass man diskriminieren muss, aber nicht diskreditieren darf. Dafür soll eine Initiative mit einem typischen Sachthema dem Abtasten helfen, um die symmetrische doppelte Kontingenz zu asymmetrisieren und weitere Anschlüsse auszulösen. Vgl. Markowitz, Referenz und Emergenz, 1991, S. 36 f. 181 Luhmanns Lösung scheint mir nicht befriedigend zu sein. Eine Theorie des Sozialen soll m. E. drei Probleme beantworten können: (i) Wie kann man die Existenz des anderen Bewussthabers mir gegenüber feststellen? (ii) Wie kann man überhaupt mit dem anderen eine Beziehung eingehen, nämlich wie entsteht ein soziales Verhältnis als solches, das wie ein Gefüge beide Seiten bindet? (iii) Wie kann eine Sinnwelt im sozialen Verhältnis entstehen? Zu diesen Problemen vgl. Schmitz, Die Aufhebung der Gegenwart, 1998, S. 1–22. Für das erste Problem scheint Luhmann mit Ego und Alter Ego von dem Vorhandensein des anderen Bewussthabers auszugehen. Er schreibt: „denn wenn es überhaupt ein Alter Ego gibt, ist es, so wie das Ego auch“ (SS, S. 119), spricht von „Faktizität der Begegnung“ (SS, S. 151) und sieht den anderen darin, dass man „täuschen bzw. fürchten [kann], getäuscht zu werden“ (SS, S. 594). Damit wird die Antwort eher nur angedeutet als abgegeben, wobei aber einerseits der Solipsismus logisch nicht auszuschließen ist, andererseits die Antwort auf das Kontakt-Problem mit der Entstehung und dem Umfang des Sozialen zusammenhängt. Zum Beispiel: Ob die Sozialität im Sinne der Begegnung mit unbestimmten anderen auf Tiere und Dinge erweitert werden kann? Dann stellt die doppelte Kontingenz zwischen Personen nur einen besonderen Unterfall dar. Für das zweite Problem spricht er von dem Zirkel der reinen Selbstreferenz, die die Bestimmung für soziales Handeln braucht und die damit mit dem dritten Problem verknüpft wird. Mir scheint Luhmann von einem Sozial-Apriori insofern auszugehen, als er das Aufeinanderbezogensein überhaupt voraussetzt und sich auf das leicht zu störende Verhaltensabstimmen – die Differenzerfahrung – konzentriert. Dies ist so, wohl weil sein theoretisches Interesse hauptsächlich auf eine Gesellschaftstheorie für die moderne Gesellschaft bezogen ist.
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B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
Ein System erscheint als ein System in der Umwelt des von ihm beobachteten Systems, beide Systeme verändern sich durch wechselseitige Beobachtungsverhältnisse. Sie verhalten sich als Ego und Alter Ego und bilden gemeinsam eine Konstellation doppelter Kontingenz der sozialen Systeme. Man kann wohl von Sozialität zweiter Ordnung sprechen. In diesem Zusammenhang ergibt sich nach Luhmann das Problem der Interpenetration bzw. strukturellen Kopplung der Systeme, was die Möglichkeit der Bestimmung sozialen Handelns im jeweiligen System berührt. Ebenfalls muss die reine Selbstreferenz verhindert werden.182 Dafür muss nun im System das binäre Sinnschema eingeführt werden, weil man von sich aus „eine Alternative von Zustimmung oder Ablehnung“ schafft.183 Erst damit kann man sich binden und dadurch den Anschluss des anderen ermöglichen. Beide Systeme werden dann insofern integriert, als sachliche Kontingenz in soziale Differenz überführt wird und dabei anhand bestimmter Sinnschemen konditioniert wird. Luhmann schreibt: „Deren Kontingenz wird als Differenz interpretiert, und dieser Differenz wird ein bestimmtes Sinnschema unterstellt. Auf diese Weise wird am einzelnen Element eine strukturierte Offenheit hergestellt, die von den interpenetrierenden Systemen in verschiedener Weise in Anspruch genommen werden kann.“184
Man scheint den Mechanismus so sehen zu können, dass man von der sachlichen Kontingenz zur sozialen Differenz als doppelte Kontingenz übergeht und dabei die Lösung der reinen Selbstreferenz durch funktionale Festlegung sachlicher Bestimmung sucht. Erst dadurch entsteht das System mit seiner Umwelt. Dann werden sachliche Kontingenz und soziale Differenz weiterhin in dem binären Sinnschema des sozialen Systems zusammengeschlossen, um dadurch die Anschlüsse zu ermöglichen. Dieser Mechanismus führt dann zur Ausdifferenzierung der funktionalen Subsysteme mit deren wechselseitigen Kopplungen. 2. Emergenz des sozialen Systems: Person und Relation Es ist dabei zu beachten, dass jedes einzelne Element – wie Luhmann schreibt – „eine strukturierte Offenheit“ behält. Diese Offenheit eines jeden Elementes resultiert aus dem jeweils eingesetzten Sinnschema, das autonom gegenüber den anderen steht. Es ist also möglich, dass man mit unterschiedlichen Sinnschemen – als Sinnformen für die Welt – jedem Element unterschiedliche sachliche Bestimmungen gibt. Hierbei muss die Unterscheidung 182 Vgl.
SS, S. 149. S. 314. 184 SS, S. 315. 183 SS,
III. Kontingenz, Kommunikation und Emergenz des Sozialen 67
von psychischem und sozialem System zum Zug kommen, und zwar durch Relation der Elemente. In der unbestimmten Situation doppelter Kontingenz werden Ego und Alter Ego einander beobachten und etwas voneinander erwarten. Sie müssen und können sich nicht völlig verstehen. Aber man hat einander prinzipiell eben nur in dem Maße zu verstehen, als man miteinander kommunizieren kann. Dafür unterscheidet Luhmann zwischen Person und psychischem System.185 An diesem Punkt soll der unentschieden bleibende Streit zwischen Handlungs- und Kommunikationstheorie in der Soziologie kurz angesprochen werden. Luhmann nimmt eine strikte Trennung von psychischem und sozia lem System, von vorstellendem Gedanken und verstehender Kommunikation vor. Dies geschieht m. E. aufgrund der folgenden und ähnlichen ‚phänomenologischen‘ Beschreibung: „Psychische Prozesse sind keine sprachlichen Prozesse, und auch Denken ist keineswegs ‚inneres Reden‘ (wie immer wieder fälschlich behauptet wird). Es fehlt schon der ‚innere Adressat‘. Es gibt kein ‚zweites Ich‘, kein ‚Selbst‘ im Bewußtseinssystem […]. Achtet man unvoreingenommen genug darauf, was wirklich geschieht, wenn das Bewußtsein sich sprachförmig zu den nächsten Vorstellungen hinbewegt (zum Beispiel: während ich dies schreibe), so ist nicht mehr und nicht wengier gegeben als die sprachliche Strukturierung des Fortgangs von Vorstellung zu Vorstellung.“186
Schenkt man also genügende Aufmerksamkeit, bemerkt man bereits, dass die psychischen und die sprachlichen (sozial kommunikativen) Prozesse parallel und gleichzeitig stattfinden können, aber doch zwei verschiedene Sachen ausmachen. Dabei soll man auch beachten, dass Luhmann das ‚Ich‘ nicht leugnet, es aber nicht in dem psychischen System verortet. Das psychische System ist nicht mit dem Ich gleichzusetzen. Dem hinzufügend ist ebenfalls bemerkenswert, dass die Differenz zwischen psychischem und sozialem Sinn daran markiert wird, dass der erstere „am körperlichen Lebensgefühl“ und der letztere am Verstehen in der Kommunikation zum Vorschein kommt.187 Weiterhin ist „die Tiefe des psychischen Systems“ auch gar nicht zu erreichen, und wer versucht, „sich nicht mit der Person zu begnügen, sondern einen anderen wirklich kennenzulernen, [wird] im Bodenlosen des immer 185 SS,
S. 155. S. 367 f. Auch vgl. Luhmann, Wer kennt Wil Martens?, 1992, S. 140: „Das Problem ist nur, daß man sich nicht recht vorstellen kann, wie psychische oder gar körperliche Zustände bzw. Ereignisse als solche in der Kommunikation funktionieren können.“ 187 SS, S. 142. 186 SS,
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auch anders Möglichen versinken“.188 Man sieht, dass die doppelte Kontingenz sehr wohl in der bodenlosen Tiefe des psychischen Systems ihre Wurzel hat. Man kann nur versuchen, das Unbeobachtbare sozial als Person wahrzunehmen und zu deuten. Nur dann wird ein psychisches System zur Person, soweit es von anderen psychischen oder sozialen Systemen – einschließlich der Selbstbeobachtung – beobachtet werden kann. Es wird also insofern zu einem Personensystem, indem es von einem Beobachter wahrgenommen wird. In diesem Sinn fungiert eine Person als „Verkehrssymbol der sozialen Kom muni kation“.189 Sie hat ihr Substrat zwar im psychischen System bzw. im menschlichen Individuum, aber sie stellt eine Konstruktion des sozialen Systems dar. Insofern spricht Luhmann von „Personalisierung“ des sozialen Systems.190 Nur in Gestalt der Person wird ein psychisches System an sozialer Kommunikation beteiligt. Und dies macht eine notwendige Bedingung für die (Re-)Produktion sozialer Kommunikation aus, indem erst mit der Person die notwendige Attribution sozialer, mit sachlicher Bestimmung versehenen, Handlungen erfolgen kann.191 188 SS, S. 430. Das psychische System stellt bei Luhmann also einen Horizont der unendlichen Möglichkeiten dar; es kann dann die Persönlichkeitsmuster kopieren und aufnehmen; und mit ihm ergibt sich auch das Problem der Aufrichtigkeit (dazu vgl. SS, S. 207 f.; GdG, S. 311 ff.). Es scheint aber, dass bei Luhmann das Subjektive (Ich) und die Attribute (Bestimmungen) nicht analytisch klar getrennt werden. Nach ihm gilt der Mensch im Rechtssystem als Punkt, an dem alle Werte konvergieren können. Der Mensch erlaubt alle Möglichkeiten und bekommt Probleme damit. Dazu kann man sagen, dass der Bewussthaber „an keinen festen Satz von Attributen gebunden“ ist (vgl. Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 91). Aber das Subjektive (Ich) scheint kein eigenes Thema für Luhmann zu bilden. 189 Vgl. Luhmann, Das Erziehungssystem der Gesellschaft, 2002, S. 39. Natürlich ist eine Person keine Fiktion, sie spiegelt eher die Unbeobachtbarkeit des psychischen Systems. Man weiß zum Beispiel nicht, wie eine Erwartung in einem psychischen System an Wahrscheinlichkeit gewinnt (vgl. SS, S. 158). 190 SS, S. 155. 191 Bei seinem Widerspruch gegen Luhmanns Trennung von sozialem und psychischem System geht Greshoff, Ohne Akteure geht es nicht!, 2008, S. 451, davon aus, dass Luhmann in einer Situation doppelter Kontingenz „aus den Operationen zweier psychischer Systeme, die je für sich auf der Basis von aneinander anschließenden Gedanken / Vorstellungen prozessieren, ein soziales System emergieren [sieht], dessen basale Elemente Kommunikationen sind. Dafür nimmt er [Luhmann] eine Art von Transformation der Operationen der psychischen Systeme zu kommunikativen Komponenten des bei ihrem Zusammentreffen entstehenden sozialen Systems an. Das soziale System geht irgendwie aus den Operationen psychischer Systeme hervor, ist nach seinem Entstehen aber etwas, das gänzlich frei von jeglichem Gedanklichen ist.“ Dafür aber braucht eine Selektion durch Kommunikation doch „ein intentionales Moment“, das „Information im Verstehen erzeugt“ (Greshoff, ebd., S. 454), daher muss das soziale System auf „sehr subjekthafte – weil intentional-
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Dabei wird die beobachtete Person erlebt und wahrgenommen und sie „erfährt“ es und wird dadurch „angeregt“, auch sich selber als Person zu beobachten; „ ‚Psychologisches‘ dieser Art gehört mithin zur emergenten Realität sozialer Systeme, die sich der Autokatalyse durch doppelte Kontingenz verdankt“.192 Hierbei liegt – wie dargestellt – ein Zirkel der reinen interessenbasierte – Vorgänge“ zurückgeführt werden (Greshoff, ebd., S. 456). Und dies bedeutet: auf die psychischen Systeme, die personalen Subjekte, Ego bzw. Alter Ego. Greshoffs Ansatz liegt m. E. aber gerade eine Vermengung von Person und psychischem System zugrunde. Die Person als Prozessor bei Luhmann ist nicht mit psychischem System gleichzusetzen. Auch geht Luhmann nicht „von Alter / Ego als psychischen Systemen“ (Greshoff, ebd., S. 461) aus; Ego und Alter Ego bilden eher die Horizonte sozialer Dimension, sie sind aber keine psychischen Systeme. Dabei muss man nicht die engen, teilweise auch intentionalen Beziehungen beider System arten bestreiten, aber es gibt doch gar keine Transformation von dem einem zu dem anderen System, wie Greshoff es dargelegt hat. Vielmehr wird der (sachliche) Sinn als Material von beiden Systemarten gemeinsam, aber je als Gedanke oder Information, benutzt, worin die gesuchte „andere Betriebsgrundlage“ (Greshoff, ebd., S. 462) des sozialen Systems gesucht werden soll. Wenn man aber ein psychisches System als intentionales Subjekt betont, wie bei Greshoff, dann bleibt das alte Problem, wie das Subjekt mit Intentionalität die Außenwelt erreichen kann, also wie es „als ‚Akteure immer nur in Ausschnitten ihrer Identität am Prozessieren der verschiedenen sozialen Systeme beteiligt‘ “ (Greshoff, ebd., S. 465, auf Esser verweisend) – sozusagen wie ein abgespaltener Teil des psychischen Systems – wird. Es ist dann nur folgerichtig, dass das Handeln als „ein gedankliches Phänomen“, nämlich als ein Umsetzen der von einem Akteuer erzeugten Intentionalität, angesehen wird (Greshoff, Wie weiter in der Sozialtheorie?, 2008, S. 492). Dazu vgl. Srubar, Akteure und Semiosis, 2008, S. 484: „Greshoff betritt damit ohne Not einen Weg, der sich ja bereits auf Luhmanns Seite – wie Greshoffs Kritik bestens zeigt – als ungangbar erweist.“ Das psychische System mit Intentionalität bei dem methodischindividualistischen Ansatz scheint m. E. tief in dem traditionellen Subjekt zu stecken. Schneider, Wie ist Kommunikation ohne Bewusstseinseinschüsse möglich?, 2008, S. 471, trennt zwar die Prozesse psychischer und sozialer Operationen, unterscheidet dabei aber auch ihre Sinninhalte, so dass man „das psychisch erreichte Verstehen in den Operationszusammenhang von Kommunikation transponiert“. Mir scheint dies nicht notwendig. 192 SS, S. 159. Nach Martens, Handlung und Kommunikation als Grundbegriffe der Soziologie, 2010, S. 182, sieht Luhmanns „Theorieprogramm“ vor, dass das Psychische und das Soziale getrennt werden und damit „nichts Psychisches im Sozialen eingehen“ kann und dass die Selektionen wie Information, Mitteilung und Verstehen „als Beschreibungen psychischer Systeme betrachtet werden“ sollen; Luhmann begeht aber „Inkonsequenz“ sowie „Fehler“, da er stattdessen diese Selektionen als „Operationen im Sozialen“ beschreibt. Dazu könnte man nur sagen, dass Luhmanns angebliche fehlerhafte Inkonseqnenz eben nur als soziale, aber nicht psychische Selektionen erscheint, wobei auch etwas Psychisches an Luhmann – aber nicht Luhmanns psychisches System – wahrgenommen wird. An diesem ‚etwas Psychologischen‘ bzw. auch dem „körperlichen Lebensgefühl“ (SS, S. 142) erscheint m. E. in der Tat das Problem des Subjektiven (Ich), das nicht hintergehbar wirkt, das das Soziale sowie das Psychische – beide strikt unterschiedliche Prozesse – durchzieht und seit Descartes von den Philosophen immer nachgefragt wird. Man denke
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Selbstreferenz vor, den es zu unterbrechen gilt.193 Abgesehen davon geht es hier aber um die soziale Dimension. Nach Luhmann folgt man hier der Formel: „Ich tue, was Du willst, wenn Du tust, was ich will“.194 Erst damit führen die Erfahrung der sachlichen Kontingenz und die wechselseitigen Bezugnahmen der Personen dazu, dass eine „emergente Ebene des Zwischensystemkontaktes“ – eine emergente Realität – entsteht.195 Demnach setzt die neue emergente Realität des sozialen Systems immer mindestens zwei Personen als informationsverarbeitende „Prozessoren“ voraus,196 sie kann aber nicht mehr auf diese Prozessoren reduziert werden. Diese soziale Realität bildet selber nun eine neue zirkuläre Einheit aus, worin die „unterschiedlich selektive Anschlußfähigkeit“ durch Kommunikation zustande gebracht und die intransparente Weltkomplexität in eine relativ transparente überführt wird.197 an Luhmanns Eimer (SS, S. 136). Kants transzendentale Apperzeption wird dann mit Person als wahrgenommenes Bewusstseinssystem bei Luhmann auf das Soziale erweitert (vgl. SS, S. 195 f., über Kants selbstreferentielles Subjekt bzw. transzendentales Apriori). Das Subjektive wird nun in doppelter Kontingenz erfahren und erweckt; es wird nicht mehr als ein apriorisches Subjekt bzw. als Weltprinzip begriffen. „Ein Ich allein könnte so gar nicht leben“ (vgl. SS, S. 120). Gemeint ist, dass das Ich also nicht als monadisches Subjekt bzw. Bewusstsein existieren kann, sondern immer in der sozialen Dimension in Bezug auf einen anderen (Alter Ego) mit unterschiedlicher Perspektive. Daher könnte man schließen, dass das Ich, was nicht mit dem psychischen System gleichzusetzen ist, dem sozialen System angehört und die Systeme beider Arten durchzieht (vgl. auch SS, S. 126 f., über die wechselseitige Bezugnahme von Ich und Du.; auch SS, S. 191, „diskontinuierliche Infrastruktur“ für die Selbstreferenz des sozialen Systems). 193 Vgl. SS, S. 149. 194 SS, S. 166. Nassehi, Geschlossenheit und Offenheit, 2003, S. 69 f., S. 96 f., sieht in dem wechselseitigen Wiedereintritt der Differenzen von beiden Seiten aus ein Netz der sozialen Anschlüsse entstehen. 195 SS, S. 159. Diese soziale Realität braucht keine Intersubjektivität. Der Begriff der Intersubjektivität ist ein „Unbegriff“ (Luhmann, Wie ist soziale Ordnung möglich?, in: ders., GuS 2, 1993, S. 238), weil sich mit ihm Soziales wieder auf ein monadisches Subjekt zurückführen lässt (vgl. SS, S. 120) und dann in der Tat nur eine Fiktion ist. Das Inter der Intersubjektivität hat dann keine Referenz, bedeutet gar Leugnung der emergenten Realität des Sozialen. 196 SS, S. 191. 197 SS, S. 159. Luhmann scheint die Webersche Definition des sozialen Handelns als subjektiv gemeinten Sinn auf die emergente Realität des sozialen Systems und auf die darin zu verarbeitende Weltkomplexität zu beziehen. Der Sinn an sich ist objektiv, kann auch subjektiv wahrgenommen werden, stellt aber keine bloß subjektive Projektion dar. Erst dann wird der objektive Sinn Personen zugeschrieben und ist insofern subjektiv gemeint. „Dies Artikulationsniveau sollte nicht unterschritten werden; es ermöglicht eine adäquate Rekonstruktion dessen, was Weber gemeint haben könnte, wenn er vom ‚subjektiv gemeinten Sinn‘ der Handlung sprach“ (SS, S. 393 f.). Der Vorgang der Zuschreibung des Sinns kann sozial und auch psychisch
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Außer der vorausgesetzten, Information prozessierenden Person, die nicht mit dem psychischen System gleichzusetzen ist, erfordert die Emergenz der sozialen Realität die Relation, die erst die Handlungen als Elemente des sozialen Systems fungieren lässt.198 Elemente können „gezählt“ und verknüpft werden. So wie es keine Elemente ohne relationale Verknüpfung gibt, so bestehen keine Relationen ohne Elemente. Insofern scheint Luhmann Relation nur als Relation der zählbaren Elemente anzusehen und die Zahl der Relationen kann man auch aufgrund der Zahl der Elemente errechnen.199 Für die emergente Realitätsebene des sozialen Systems besteht die Pointe der Differenz von Element / Relation darin, dass man nicht von der Zählung umstritten bleiben, was sogar normal alltäglich ist. Aber ohne diese Attribution kann man nicht wissen, ob und welche Kommunikation welchem Subjekt zuzuschreiben ist. Ich kann nämlich zwischen meiner und deiner Kommunikation nicht unterscheiden. Erst mit der Attribution kann die autopoietische, selbstreferentielle Reproduk tion des sozialen Systems laufen. In diese Richtung scheint Nassehi den subjektiv gemeinten Sinn als Beobachtungsschema für die Zuordnung des Verhaltens zu deuten (vgl. Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, 2006, S. 72 f., S. 107), und Baecker sieht die Einheit des Handlungssystems in der „Einheit der Divergenz unterschiedlich gemeinten Sinns“ (Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005, S. 36). Luhmann besteht darauf, dass das psychische System vom Sozialsystem abzugrenzen ist, er lässt Soziales nicht auf Psychisches zurückführen. Damit will er wohl gegen Aktpsychologien votieren, hinter ihnen steht immer noch das Dingschema. Die Pointe des soziologischen Paradigmenstreites scheint dann darin zu bestehen, dass auch eine soziale Handlung irgendwie mit dem Subjektiven zu verknüpfen ist. Es ist das wie immer kritisierte Subjekt, „das sich erzählt und dem erzählt wird, dass es Subjekt seiner Handlungen ist“ (Nassehi, ebd., S. 99). Man könnte sagen, dass ein Mindestmaß am Subjektiven unvermeidlich ist, was bei Luhmann eben mit Person als etwas Psychologischem geschieht. Die Person als Prozessor macht keine eigenständige Realitätsebene aus, durchzieht aber Soziales und Psychisches. Letztendlich aber wird nach einem neuen Verständnis des Subjektiven gefragt, das mit dem objektiven Sinn zusammengebracht werden kann. 198 Die Relation als solche scheint in Diskussionen über die Emergenz nicht thematisiert zu werden, während man angesichts von Emergenz nach Reduzibilität oder Irreduzibilität der betreffenden Eigenschaften im Zusammenhang von Ganzem und Teil sowie nach Selbstorganisation zwischen den Mikroelementen und Makrophänomenen fragt (vgl. Greve / Schnabel, Einleitung, 2011, S. 9–22; Mayntz, Emergenz in Philosophie und Sozialtheorie, 2011, S. 167 ff.). Bei Luhmann soll es nicht darum gehen, dass die soziale Realität einen andersartigen Sachsinn als bei psychischem System hat. Es kommt eher auf die Verselbständigung der sozialen Dimension und in ihr auf die Relationierung sachlicher Sinnbestimmungen an. Dabei bezieht sich die Relation auch auf das Problem der Deontologisierung (GdG, S. 901). 199 SS, S. 44. Dann scheinen Elemente und Relationen bei Luhmann immer zahlfähig und prinzipiell zählbar zu sein. Die Elemente sind von Anfang an die einzelnen Elemente. Und es gibt keine zahlunfähige Relation, da sie immer zugleich mit den gezählten Elementen verbunden ist.
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der Elemente, sondern von der Relation bzw. Relationierung der Elemente ausgehen soll. Dies ist so, weil Luhmann in der Zählung die Beziehungen der Elemente auf die ‚quantitativen‘ Kategorien reduziert sieht. Aber „Qualität“ der Elemente ergibt sich nur dadurch, „daß sie relational in Anspruch genommen, also aufeinander bezogen werden. Das kann in realen Systemen […] nur selektiv geschehen […]. Qualität ist also nur möglich durch Selektion; aber Selektion ist notwendig durch Komplexität.“200 Luhmann scheint damit zwei Arten von Relation zu unterscheiden: quantitative und qualitative. Und ein Element soll nicht nur zählbar sein, sondern es muss seine Qualität als ein Element in einem System durch seine qualitative Relationierung mit anderen Elementen erhalten. Nur eine qualitative Relation erzeugt den Unterschied der Qualität und macht erst ein Element zu einem Element für ein System. Hierin soll man die oben genannte strukturelle Offenheit eines jeden Elementes sehen. Dabei muss die notwendige Selektion hinsichtlich von Elementen und auch von deren Relationen erfolgen, was in der Tat bedeutet, dass die Komplexität nun in ein bestimmtes Sinnschema und eine bestimmte Konditionierung der Relationierung reduziert werden kann.201 Mit Konditionierung drückt Luhmann Bedingungen der Möglichkeiten für eine Ordnung der Elemente in folgendem Sinne aus: „eine bestimmte Relation zwischen Elementen wird nur realisiert unter der Voraussetzung, daß etwas anderes der Fall ist bzw. nicht der Fall ist“.202 Man beachte hier, dass eine Vorfrage für die konditionierende Relation vorliegt, nämlich ob etwas der Fall sei oder nicht. Es geht also um die Individuation von etwas als ein Fall von etwas, was vorentschieden werden muss. Und nur dann können die Elemente konditionierend relationiert werden, je nachdem ob es zu dem betreffenden System gehört oder nicht. Nur in diesem Sinne qualifiziert bei Luhmann die Relation die Elemente. Anders formuliert, es geht um die „Redundanzen, die die Varietät des Systems einschränken“.203 Hier sieht man wiederum den Mechanimus der differenzierenden Negation. Die Kontrolle der Qualität der Elemente – oder deren Zugehörigkeit – geht nun aber von der Relation aus. Mit dieser „Aufwertung des Ordnungs200 SS,
S. 42. SS, S. 315 und S. 44. 202 SS, S. 44. 203 WissendG, S. 230. Luhmanns Formulierung der Konditionierung bringt zwei Sachen zusammen und vermengt sie: Eigenschaft für Prädikation von etwas (Fallsein oder Nichtfallsein) und Relation. Es wird unten noch ausgeführt, dass Eigenschaft und Relation zwar beide gleichfalls Gattung sind, aber getrennt werden sollen. Insbesondere muss eine Relation nicht immer zahlfähig sein. Von dem Problem der Redundanz / Varietät her handelt es sich wiederum um die Identität des Systems. 201 Vgl.
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wertes von Relationen“ kritisiert Luhmann die ontologische Tradition, die nach ihm bis zum „mathematischen Weltentwurf der frühen Neuzeit“ gedauert hat. In dieser Tradition wurde einerseits die Einheit eines Elementes, zum Beispiel einer sozialen Handlung, für substantiell „ontisch vorgegeben“ gehalten und entsprechend wurden „Maßeinheiten, Maßstäbe und Aggregationen willkürlich und nur für Zwecke der Verwendung gewählt“; in dieser Tradition wurde andererseits der Relationsbegriff „als geringwertig betrachtet […], weil die Relation sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht“.204 Diese Situation verändert sich erst seit der Mathematisierung der Naturwissenschaft: „Diese Deontologisierung und Funktionalisierung des Element ansatzes ist in der modernen Wissenschaftsbewegung durch die Mathema tisierung der Naturwissenschaften in Gang gebracht worden.“205 Jetzt gilt ein Element nicht mehr als ontisch vorgegeben. Und „was man zählen kann, kann man auch weiter auflösen, sofern ein operativer Bedarf dafür besteht.“206 Die Ontologie wird somit zuerst aufgebrochen. Aber dann heißt ein Element nur „jeweils das, was für ein System als nicht weiter auflösbare Einheit fungiert“.207 Und die Handlung als ein unauflösbares Element für das zugehörige System verdankt „ihre Einheit dem Relationsgefüge des Systems“.208 Nur durch die Relationierung der eigenen Elemente wird das Soziale als eigenständige Realität produziert. Luhmann sieht diese Emergenz als eine Konstitution von oben: „Elemente sind Elemente nur für die Systeme, die sie als Einheit verwenden, und sie sind es nur durch diese Systeme.“209 Er scheint einen Einheitsbegriff im Auge zu haben: Die Einheit des Elementes darf nicht ontisch, muss aber 204 Alle
Zitate SS, S. 43. S. 42; siehe auch GdG, S. 901. 206 SS, S. 42. 207 SS, S. 43. 208 SS, S. 42. Luhmanns Deontologisierung besteht dann (i) in der Trennung von Sein (sowie Nichtsein) und Seiendem und (ii) in der Hervorhebung der Relation. Und all dies manifestiert sich in der basalen Selbstreferenz im Sinne der Differenz von Element und Relation (SS, S. 600). Mir ist eher zweifelhaft, ob man sich dadurch bereits von der Ontologie befreit hat, zumal wenn die Mathematisierung möglicherweise eine vollständige Durchsetzung der traditionellen Ontologie bedeutet. Und die Differenz von Element und Relation könnte nur eine Variation der Kategorienlehren sein, die sich von der Theorie der zehn Kategorien über die Unterscheidung von Substanz, Modus sowie Relation bis zu Reduzierung auf Ereignis und Relation gewandelt haben, wobei die Relation tatsächlich immer abgewertet wird. Dazu vgl. Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, 1994, S. 17–26. 209 SS, S. 43. Die Emergenz von oben, nicht von unten, bedeutet von dem „Realitätsunterbau“ unabhängig zu sein (SS, S. 43), „nicht ‚materialmäßig‘ vordeterminiert“ zu sein (SS, S. 44) und schließlich die „Unterbrechung und Neubeginn des Aufbaus von Komplexität“ (SS, S. 44). Die Emergenz des Sozialen erfolgt bei Luhmann also dadurch, der Realität die Differenz bzw. Form hinzuzufügen. 205 SS,
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zählbar und nicht weiter auflösbar sein; und sie muss anhand der Relation hervorgebracht werden.210 Erst durch diese Einheit anhand des Relationsgefüges, das einer bestimmen Differenz von System / Umwelt eigentümlich ist, kann ein soziales System seine Emergenz im Sinne von Autopoiesis erreichen. Die Eigenständigkeit des sozialen Systems stützt sich sowohl auf Person als auch Relation. Die Personen sind unentbehrlich für die Emergenz des sozialen Systems, die Emergenz kann aber nicht auf sie reduziert werden. Und die Relation, die einer Differenz von System / Umwelt jeweils eigentümlich ist, lässt erst die unterschiedlichen, nicht aufeinander reduzierten Realitätsebenen entstehen. Und auch sie garantiert zugleich die Anschlüsse der qualifizierten Elemente, nämlich die operativ geschlossene Autopoiesis des Systems. 3. Kommunikation als autopoietische Reproduktion der Differenzen In der Systemtheorie stellt nun die Kommunikation das letzte, nicht weiter auflösbare Element für die emergente Realität des sozialen Systems dar. Sie ist auch die basale Einheit, mit deren Auflösung das Soziale mit verschwinden würde. Nur durch die Kommunikation reproduziert sich die emergente Realität des Sozialen. Dabei kann der Kommunikationsprozess auf Handlungen reduziert werden, um die letzteren auf die infrastrukturellen Prozessoren, nämlich die Personen, in doppelter Kontingenz zu attribuieren und um dadurch die Anschlussgrundlagen für weitere Kommunikationen zu gewinnen. Die Handlung stellt daher kein Grundelement für ein soziales System dar. Diese theoretische Grundentscheidung für den Vorrang der Kommunikation gegenüber der Handlung, die die vorrangige Stellung bei den meisten soziologischen Theorien einnimmt, scheint auch mit dem systemtheoretischen Anliegen der Deontologisierung zusammenzuhängen. Die Handlungstheorie geht nach Luhmann von der Handlung an sich aus, hinter ihr steht 210 Der Begriff der (nicht weiter auflösbaren) Einheit des Elementes ist verwirrend, da er sich sowohl auf das Element als auch auf die Relation bezieht. Ein Element ist angesichts des gehörigen Systems in dem Sinne unauflösbar, dass die weitere Auflösung die Realitätsebene verändert. Aber wenn „Element“ eine Einheit darstellt, ist es an sich zählbar oder unzählbar? Und wenn sie zählbar ist, soll sie an sich auch auflösbar sein. Sonst stellt sie etwas ungeteiltes Eines dar, was gerade ontologisch ist. Oder ist die Einheit des unauflösbaren Elementes eine unzählbare Einheit? Man soll m. E. die Einheit des Elementes von der Differenz von System / Umwelt her verstehen, die nun anhand der Relation vermittelt wird. Die Einheit des Elementes soll die durch die System / Umwelt-Differenz überführte Welteinheit in einer sozialen Handlung sein. Die Einheit einer Handlung als „unerläßliche Selbstsimplikation des Systems“ (SS, S. 191) ist eben die Einheit der Welt.
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ein mit Motiven ausgestattetes Subjekt wie eine Substanz. Dann gilt die soziale Handlung nur als Unterfall der Handlung überhaupt wie bei Weber oder das soziale System macht nur einen analytischen Aspekt der Handlung wie bei Parsons aus. Wenn man nun umgekehrt von der Weltkomplexität als Problembezug ausgeht, die in der Formel Einheit der Differenz Ausdruck findet und somit abgefangen wird, kommt man auf die Kommunikation als letztes Element des Sozialen. Die Weltkomplexität bzw. die Einheit soll dann anhand der System / Umwelt-Differenz in die Selbstreferenz des Systems überführt werden, Erst dadurch wird die selbstreferentielle Kommunikation als einzelne Handlung – ja als „unerläßliche Selbstsimplifikation des Systems“ – den eben anhand einer Differenz verbundenen Personen zugeschrieben.211 Mit anderen Worten bedeutet die Option für die Kommunikation als grundlegender Begriff und Theorieansatz die Aufgabe der Seinsontologie, deren Substanz hier in Gestalt des mit einem Motiv bzw. freiem Willen versehenen Subjekts auftritt und in diesem Sinne handelt. Es kommt bei Luhmann eher auf die Differenzen in Sinndimensionen an.212 Vor diesem Hintergrund bedeutet eine Kommunikation auch nicht mehr Übertragung einer betreffenden Nachricht von einem Absender zu einem Empfänger, so wie etwas Dinghaftes durch einen bestimmten Kanal transportiert wird. Sondern sie stellt ein selektives Geschehen im Sinnhorizont dar: „Kommunikation greift aus dem je aktuellen Verweisungshorizont, den sie selbst erst konstituiert, etwas heraus und läßt anderes beiseite. Kommunikation ist Prozessieren von Selektion.“213 Die Kommunikation kann also als ein Prozess der Reproduktion der Differenzen – ein negierender Prozess – verstanden werden. Es ist einmal die sachliche Differenz und dazu kommt ein andermal die soziale Differenz. Bereits als „Selektion“ bzw. als „Auswahl“ konstituiert Kommunikation einen Sinnhorizont.214 In diesem Sinne besteht Kommunikation in einer Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen. Die Information und die Mitteilung scheinen je dem sachlichen und dem sozialen Sinn zu entsprechen und erstellen Se211 SS,
S. 191. Entscheidung für Kommunikation gegen Handlung scheint mit dem Auflösungsprozess des Substanzdenkens parallel zu laufen, der schließlich nur Ereignis und Relation wie bei Hume und Mach übrigbleiben lässt (vgl. Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, 1994, S. 24 f.). Mit Kommunikation geht die Systemtheorie somit gerade auch antihumanistisch gegen das positionale Subjekt (vgl. Schmitz, Der Weg der europäischen Philosophie, Bd. 2, 2008, S. 241) mit allen seinen substantiellen Qualitäten vor. Luhmann spricht auch von der „Entsubjektivierung des Kommunikationsbegriffs“ (Luhmann, ÖK, S. 65). 213 SS, S. 194. 214 SS, S. 194. 212 Diese
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lektionen aus je einem Möglichkeitshorizont. Für den Kommunikationsbegriff ist aber das Verstehen entscheidend, das bei Luhmann als Information / Mitteilung-Differenz begriffen wird. Es wird nämlich insofern verstanden, als das, was mitgeteilt wird, von dem mitteilenden Verhalten unterschieden wird. In dieser Unterscheidung liegt das Verstehen und damit findet die Kommunikation auch bereits statt, gleichgültig, ob man richtig, falsch, missverständlich oder irrtümlich verstanden hat. Auch wenn man (inhaltlich) missverständlich versteht, werden Information und Mitteilung ohnehin unterschieden. Auch missverständlich läuft die Kommunikation weiter ab und die Gesellschaft wird ebenfalls reproduziert.215 An dem Punkt des Verstehens wird weiterhin die Kommunikationstheorie an die Differenz von Operation und Beobachtung angeschlosssen. Beobachtung ist „die Basisoperation von Verstehen“, und Verstehen stellt eine „besondere Form des Beobachtens“ dar; dabei bedienen sich beide der Differenz von System und Umwelt sowie der Differenz von Ego und Alter Ego, um in einer bestimmten Sinnform kommunikativ die Weltkomplexität zu verarbeiten.216 Die moderne Person – als Prozessor – befindet sich nach Luhmann nämlich immer in einem „Zwiespalt“, indem sie sich einerseits als „Teil der Sinnwelt“ draußen und daher als mitteilbare Information begreifen kann und indem sie andererseits die Freiheit hat, dies zu tun oder nicht zu tun und daher „über sich als selbstreferentielles System“ verfügt.217 An der Person selber findet sich bereits die Differenz von Information und Mitteilung; sie nimmt eine distanzierende Position zu sich – zwischen ihr selber und der Welt – ein. Fast kann man sagen, dass man notwendigerweise unauthentisch, unaufrichtig und ironisch kommuniziert.218 Diese Distanz zu sich als Selbstverständnis ist der stärkeren Differenzierung der Gesellschaft verdankt, hat ihren sozialstrukturellen Hintergrund und erzeugt eine selbstabspaltende Aporie. Statt ein selbstreferentielles, transzendentales Prinzip im Subjekt zu bemühen, bewirkt für die Systemtheorie gerade diese Aporie die „Sozialität der Situationsauslegung“.219 Nämlich beobachtet und versteht Ego in einer doppelten Kontingenz Alter Ego – als Nicht-Ego, indem der letztere operiert und 215 SS,
S. 194–196. S. 110 f., S. 130. Die Beobachtung als Unterscheidung und Bezeichnung entspricht dem Verstehen als Differenz von Information und Mitteilung. 217 SS, S. 195. 218 SS, S. 430. 219 SS, S. 196. An diesem Punkt der zwiespältigen Distanz zu sich entscheidet Luhmann, sich sozusagen auf den anderen einzulassen, greift nicht wie Kant auf ein transzendentales Ich zurück. „Wo immer Menschen anfangen, ihre Weltbilder distanzlos zu bewohnen und ihre Einteilungen des Seienden im ganzen als eine Arena realer Kämpfe zu erleben, dort sind sie der Versuchung ausgesetzt, für ihre Identi216 SS,
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sich mitteilt. Dadurch wird einerseits eine einzelne Kommunikation „sozusagen von hinter her“ durch beobachtendes Verstehen abgeschlossen220 und andererseits zwingt die verstehende Beobachtung dazu, dass Alter Ego sich zu distanzieren hat. Die Aporie der freien Person deontologisiert dadurch das transzendentale Subjekt, „daß Ego das Verhalten Alters als Kommunikation auffaßt und ihm dadurch zumutet, diese Distanz anzunehmen“.221 Durch die verstehende Kommunikation wird es nun möglich, dass die Differenz von Operation und Beobachtung auf beiden Seiten wechselseitig eingesetzt wird. Die Differenz von Information und Mitteilung wird darin „beobachtet, zugemutet, verstanden und der Wahl des Anschlußverhaltens zu Grunde gelegt“.222 Und umgekehrt kann die Kommunikation anhand der Differenz von Operation und Beobachtung aufrechterhalten werden, sie wird also autopoietisch. Das Verstehen, das Information und Mitteilung sozusagen zu einer neuen Einheit der Differenz zusammenfasst, bildet den laufenden „Punkt“ der Relationierung von einzelnen Kommunikationen;223 tätskonstrukte bis zum bitteren Ende zu kämpfen und für ihre Fiktionen zu töten“ (Sloterdijk, Luhmann, Anwalt des Teufels, 2010, S. 153). 220 SS, S. 198. Gensicke, Luhmann, 2008, S. 55: „Dergestalt ist Kommunikation also ein Vorgang der Mitteilungskonstruktion im Nachhinein.“ 221 SS, S. 196. 222 SS, S. 196. Greshoff, Ohne Akteure geht es nicht!, 2008, S. 452, sieht, dass das Verstehen in der angeschlossenen Mitteilung nicht mehr als eigenständige Selektion wahrgenommen wird und dass es als „eine Art von Bestandsaufnahme einer vorgängigen Mitteilung“ die „anschließende Anschlussentscheidung und darüber eine Folgemitteilung maßgeblich prägt“. Das trifft m. E. nicht auf Luhmanns eher formales Verständnis des Verstehensbegriffs zu. Und das Verstehen als Unterscheidung von Information und Mitteilung kann in der Anschlussmitteilung zum Vorschein kommen und schließt damit eine kommunikative Einheit ab. Aber dies ist nicht notwendig, weil es auch sein kann, dass es nur verstanden, aber nicht zugleich durch eine weitere Mitteilung angeschlossen wird. Man soll nämlich das eine Kommunikation abschließende Verstehen von der daran angeschlossenen Mitteilung begrifflich, nicht zeitlich, unterscheiden; wie groß oder wie klein die Zeitdistanz ist, soll dafür keine Rolle spielen. Dazu vgl. SS, S. 231. Schneider, Wie ist Kommunikation ohne Bewusstseinseinschüsse möglich?, 2008, S. 472, hält aber zwei nacheinander folgende Mitteilungen für notwendig: „Eine elementare Kommunikationseinheit kann deshalb nur durch eine Sequenz von zwei Mitteilungsereignissen produziert werden“. 223 SS, S. 126. Greshoff, Ohne Akteure geht es nicht!, 2008, S. 465 f., sieht bei der Zurechnung sozialer Selektionen, zum Beispiel die Zurechnung des Verstehens als Handlung, das Problem der „Referenzverschiebungen“ und (mit Greve) „ein unendliches Progressproblem“, weil eine Zurechung nur an einem Zeitpunkt erfolgt und sich daraus eine Zeitpunktsequenz mit der Folge ergibt, dass gar keine Zurechnung erfolgen kann. Folgerichtig kann man sich demnach gar nicht von der Stelle rühren und eine Handlung hervorbringen. Und dies ist so, weil die Systemtheorie sich verweigert, ein intentionales Subjekt für die Zurechnung vorauszusetzen. Ebenso sieht Martens, Handlung und Kommunikation als Grundbegriffe der Soziologie, 2010, S. 184, das Problem und will den endgültigen Triumph der Handlungstheorie
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und eben an diesem laufenden Punkt werden die sachliche und die soziale Dimension unter wechselbezüglicher Relationierung eingetaucht. Dabei muss aber beachtet werden, dass eine Kommunikation nicht selbstverständlich Anschluss findet und noch nicht die soziale Realität zustande bringt. Von dem Kommunikationsbegriff soll nämlich die Differenz von Annahme / Ablehnung sorgfältig ausgegrenzt werden. Die Emergenz der sozialen Realität hängt nicht von Elementen, sondern von der Relationierung der Elemente ab. Eine einzelne Kommunikation muss noch ihren Anschluss finden. Hierin sieht man das Problem der kommunikativen Unbestimmtheit wieder. Und eben an diesem Punkt unterscheidet sich die systemtheoretische Kommunikationstheorie von den anderen, die üblicherweise an Sprache ausgerichtet sind. Sie schließen Luhmann zufolge nämlich begrifflich bereits den Anschluss ein, heben einseitig das mitteilende Verhalten hervor und überschätzen die Sprache. Diese Überschätzung hat dann zur Folge, dass diese Theorien die Notwendigkeit der Einführung der Kommunika tionsmedien für das Aufrechterhalten des Kommunikationsprozesses – eben für die Annahme des Kommunikationsangebotes – vernachlässigen.224 Man legt also Wert auf Sprache, sieht in ihr bereits die Garantie der Kommunikationsanschlüsse. Daraus resultiert nach Luhmann, dass gerade die emergente Realität des Sozialen verfehlt wird, die erst die sprachtheoretischen Differenzierung ermöglichen soll.225 gegen Luhmanns kommunikationstheoretische „Anomalitäten“ darin sehen, dass das anschließende Verhalten für die nachträgliche Zurechnung des vorherigen Verhaltens als Handlung „immer zu spät“ kommt. Dieser Widerspruch hält aber die Differenz von Operation und Beobachtung sowie von Handlung und Zurechnung offenbar für ein Verhältnis der zeitlichen Nachträglichkeit, was fragwürdig ist; und zugleich könnte man sich fragen, ob nicht erst die Intentionalität des Subjekts dieses Problem von Progress und Zeitdistanz erzeugt. 224 Man beachte in diesem Zusammenhang, dass die Kommunikationsmedien – nach Luhmann: Geld, Macht, Wissen und Liebe – das ontologische Sein ablösen, seine Funktion aber übernehmen und als Garantie der kommunikativen Anschlüsse fungieren (vgl. SS, S. 135, S. 205). 225 SS, S. 196 f. Die Sprachtheorie von K. Bühler mit der Differenz von Darstellung, Ausdruck und Appell – verstanden als Information, Mitteilung und Erfolgserwartung – und die analytisch-philosophische Theorie von Sprechhandlungen mit der Differenz von lokutionärem, illokutionärem und perlokutionärem Akt haben nach Luhmann die Isolierung der einzelnen Aspekte mit deren jeweiliger Dominanz zur Folge. Sie fallen dadurch auf die mitteilende Person zurück und können damit nicht die emergente soziale Realität hervorbringen, worauf die Kommunikationstheorie bei Luhmann hinauslaufen will. Eine Theorie des kommunikativen Systems kann also nicht in der Sprache ihre Grundlage suchen, eher umgekehrt setzt das MiteinanderReden und auch die schriftliche Kommunikation die soziale Realität voraus (vgl. SS, S. 196 f.); auch die Zeichenstruktur bildet noch keine eigenständige Selbstreferenz (vgl. SS, S. 107). Dasselbe gilt für Srubar, Akteure und Semiosis, 2008, S. 485 f. Dabei wird die Sprache (Semiosis) als Überbrückung zwischen Struktur und Akteur
III. Kontingenz, Kommunikation und Emergenz des Sozialen 79
4. Fazit Bei der Kommunikationstheorie geht es um die Verarbeitung des Problems der Unbestimmtheit nach Verlust der Seinsontologie. Dabei geht man von der Kontingenz aus. Der Kontingenzbegriff bezieht sich einerseits auf die sachliche Bestimmung der Welt, nämlich die Differenz Sosein / Nichtsosein. Andererseits handelt es sich um die Differenz Sein / Nichtsein, wobei auch auf die Zeitdimension – Vergangenheit und Zukunft – Bezug genommen wird. Dadurch wird die Welt modalisiert – weder notwendig noch unmöglich – und daher kontingent; sie kann immer zugleich – nicht nur zeitlich nacheinander – anders sein. Angesichts der kontingent werdenden Welt gibt es auch keine einheitliche Perspektive von ihr. Dementsprechend entsteht auf dem Boden der sozialen Dimension das Problem doppelter Kontingenz zwischen Ego und Alter Ego und damit das Problem des Koordinierens des sozialen Handelns. Erst hiermit wird das Soziale als solches wahrgenommen und als Problem bewusst aufgeworfen. Man kann sagen, dass eben die Differenzerfahrung die Soziologie ins Leben gerufen hat. Vor diesem Hintergrund erhält dann die Bildung des Sozialsystems den dauernden Impuls aus der Unruhe in doppelter Kontingenz. Aus ihr entsteht die emergente Realität des Sozialen anhand der Kommunikation, wobei die Person als das wahrgenommene psychische System – als Prozessor der Information – eine Infrastruktur des Sozialsystems bereitstellt. Die Kommunikation, die in der Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen besteht, wird als Handlung den Prozessoren (Ego und Alter Ego) zugeschrieben. Man soll auch auf das Verhältnis von Element und Relation im System bei Luhmann achten, wobei die Qualifikation bzw. die Konditionierung der Elemente durch die Relation erfolgt. Die Relation betrifft wiederum die Strukturbildung und damit die Sinn-Form des Systems. Er kritisiert damit die ontologische Tradition und nimmt eine Deontologisierung vor. Allerdings geht er bei der Relation von der Mathematisierung aus. Dies erscheint mir problematisch zu sein, weil dies möglicherweise eher die Durchsetzung der ontologischen Tradition bedeuten könnte. Die Emergenz des Sozialen als eine eigenständige Realität entsteht nur durch den Prozess, der die einzelnen Kommunikationen relationiert. Dabei wird das Verstehen mit Beobachtung verschränkt. Das Verstehen vollzieht gesehen und damit soll Luhmanns strikte Abgrenzung von psychischem und sozialem System in Frage gestellt werden. In Luhmanns Sinne setzt der Sprachgebrauch aber soziale Realität voraus und die Sprache als ein gemeinsames Medium vermengt auch nicht die operativen Prozesse beider Systemarten. Die Prozesse haben dieselbe Welt zum Gegenstand, finden aber anhand von verschiedenen Sinnformen statt.
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die Differenz von Information und Mitteilung und bildet einen laufenden Punkt; die Beobachtung wird von Ego und Alter Ego wechselseitig vorgenommen und ermöglicht damit kommunikativ auch die autopoietische Reproduktion des Sozialen. Als Hauptproblem wird die kommunikative Unbestimmtheit dadurch konditioniert und kontrolliert, sie bleibt aber doch, da man nach wie vor die Freiheit zur Differenz beibehält: annehmen oder ablehnen, obwohl und gerade wenn man versteht.226
IV. Strukturbildung des sozialen Systems Die Struktur überbrückt jede einzelne Kommunikation und schränkt zugleich die Möglichkeiten des Anschlusses ein. Sie wird in diesem Sinne als Verhaltenserwartung definiert und bewirkt Selektion. Gewissermaßen steht die Struktur über der zeitlichen Differenz und sorgt im Zeitfluss für Stabilität und Konsistenz. 1. Strukturbildung und Zeitverhältnis Die immer komplexer werdende Welt und die doppelte Kontingenz der intransparenten Individuen – als Prozessoren – erfordern und ermöglichen die emergente Realitätsebene sozialer Kommunikation. Die autopoietische Reproduktion eines Sozialsystems als emergente Realität hängt von der Anschließbarkeit der einzelnen Kommunikation ab und dafür muss das System sich an einer bestimmten Form orientieren. Die Funktion der Form – Unterscheidung und Bezeichnung – wird bei Luhmann mithilfe der Strukturen erfüllt. Der Strukturbegriff bezieht sich daher vor allem auf die Kommunikation bzw. Handlung als das letzte, nicht weiter auflösbare Element des Systems, 226 Hinsichtlich des Streits in der Soziologie – Handlung oder Kommunikation – könnte man hier eine theoretische Konstellation vermuten: Wenn man von dem Subjekt ausgeht, das mit irgendeinem Wesen – Vernunft, Wille, Intentionalität oder gar Neuron – versehen wird, dann muss man den anderen so verstehen, indem man versucht, vom eigenen psychischen System auszugehen, in das psychische System des anderen einzudringen und somit sein Wesen zu erfassen. Man wird die Position der Handlungstheorie einnehmen und mit ihren Schwierigkeiten konfrontiert, wobei das Soziale von dem Psychischen nicht strikt getrennt wird. Wenn man dagegen dieses Subjekt aufgibt, dann muss man nicht mehr das Soziale auf das Psychische zurückführen. Im Gegensatz dazu werden beide Bereiche deutlich getrennt und man versteht nur im Sozialen, indem man Information und Mitteilung unterscheiden kann. Dabei wird die Kommunikation als Handlung zugleich Personen – nicht zu psychischen Systemen – zugeschrieben. Dies soll die Kommunikationstheorie sein. Wo aber hat das Subjektive dann seine Residenz in der Welt? Der soziologische Streit könnte eine abgeleitete Variante dieses Problems darstellen.
IV. Strukturbildung des sozialen Systems81
nicht auf Wirklichkeit und Erkenntnis. Eine Struktur stellt kein Wirklichkeitskriterium dar und garantiert keinen Realitätsbezug im Sinne von Zusammenfallen von Erkenntnis und Gegenstand; und sie handelt nicht von der Feststellung bestimmter Merkmale, sondern von dem Anschluss der Elemente, der durchaus hochindividualisiert sein kann.227 Die Struktur bedeutet vielmehr „Variationsschranken“228 für die Selbstreferenz der einzelnen Elemente, die sich aufgrund der der Welteinheit gegenüberstehenden Systematizität ergibt und dabei die Zweitfassung der Einheit darstellt.229 Es müssen einerseits die Schranken bestehen, wodurch die Elemente eines bestimmten Systems nur an dessen Elemente angeschlossen werden und die Geschlossenheit bilden; andererseits muss doch der Varia tionsraum für die Bestimmung von Stellung und Funktion der einzelnen Elemente erhalten werden, um offen gegenüber der Welt zu bleiben und gerade damit die Strukturbildung und ihre Veränderung zu ermöglichen.230 Erst mithilfe von Strukturen kann ein System eine dynamische Balance zwischen Weltoffenheit und Systemgeschlossenheit versuchen. So gesehen reguliert eine Struktur die Relationierung der Elemente als soziale Handlungen; sie bewirkt selektive „Einschränkung der im System zugelassenen Relationen“.231 Oder um es noch einmal schlichter zu sagen: Eine Struktur ist ein selektiver und kontingenter Raum eingeschränkter Möglichkeiten; sie stellt die „Selektion einer Einschränkung“ dar.232 Eine Struktur schränkt also ein und ermöglicht dadurch die Autopoiesis des sozialen Systems. Sie bedeutet demnach die selektive und kontingente Rela tionierung der Relationierung der Elemente.233 227 Luhmann warnt davor, „die literarische Struktur“, die sich aus strukturalistischen bzw. phänomenologischen Analysen ergibt, für ausreichende Wirklichkeitskriterien zu halten; außerdem bedeutet die Struktur nicht die Typisierung hinsichtlich der Merkmale (vgl. Luhmann, SS, S. 380–2). 228 SS, S. 62. 229 Vgl. SS, S. 38. 230 Vgl. SS, S. 62. 231 SS, S. 384. 232 SS, S. 387. 233 Ohne effektive strukturelle Einschränkung der Möglichkeiten wird das soziale System zu vielen Anregungen ausgesetzt, was schließlich in „Langeweile“ enden würde, nämlich in der Unmöglichkeit der Kommunikation (SS, S. 386). ‚Ennui‘ bedeutet für Luhmann „Funktionsdefekte von Strukturen“ (ebd., Anm. 22). Als Reaktion darauf fungiert die soziale Struktur, insbesondere für die handelnden Individuen, als Abfangen romantischer Ironie. Über die Ermöglichung der Kommunikation durch die Einschränkung der Möglichkeiten vgl. Fuchs, Die Form romantischer Kommunikation, 1993. Eine andere Ansicht sieht das Problem in romantischer Subjektivität: „Quelle der Langeweile und Frustration (ennui), weil ein Mensch, der sich so über alles zu stellen vermag, nicht mehr ganz in etwas aufgehen und mit Haut
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In diesem Zusammenhang soll man auch beachten, dass sich die Struktur selber als ein Emergenzphänomen zeigt und auf einer anderen Ebene als die Elemente steht. Wie oben dargestellt, wird ein Element durch die Einheit der Differenz von Element und Relation zu einem Element eines bestimmten Systems ‚qualifiziert‘: Damit wird die Kontinuität der Realität unterbrochen, die nun verschiedene Schichten mit sich bringt. Dies ist der Vorgang der Emergenz durch „Unterbrechung und Neubeginn des Aufbaus von Komplexität“.234 Dieser Vorgang der Emergenz wird noch einmal ‚konditio niert‘, was die Zulassung bzw. Einschränkung einiger bestimmter Relationierungen der Elemente bedeutet.235 Der Begriff der Struktur fasst Quali fizierung / Konditionierung weiter in eins zusammen. „Die Strukturen, die Kommunikation mit Kommunikation verknüpfen, beziehen Information ein, sind also Weltstrukturen. Sie erfassen im System alles, was für das System überhaupt relevant werden kann.“236 Und „Struktur leistet […] die Überführung unstrukturierter in strukturierte Komplexität.“237 Die Welteinheit wird also mithilfe der Struktur in die andere Einheit, eben die ‚Zweitfassung‘ der Einheit der Selbstreferenz des Systems, überführt und die Weltkomplexität wird somit reduziert. „Aber der Begriff der Reduktion bezeichnet nur noch eine Relationierung der Relationen.“238 Die Strukturbildung bedeutet also die Relationierung der Relationierung (der Elemente), die eine Unterbrechung der Realitätsebenen bewirkt, wodurch die Einheit der Differenz wieder mit der Selbstreferenz des Systems zusammenfällt. An die Strukturbildung wird ferner das Zeitverhältnis gebunden. Eine neue Komplexität wird aufgebaut und strukturiert, um nur nicht in die zerund Haar dabei sein kann, sondern mit dem Hochgefühl des Darüberstehens zusammen die Peinlichkeit empfindet, neben seiner Rolle zu stehen“ (Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 28). Beide Ansichten stimmen miteinander darin überein, dass die Kommunikationsmöglichkeiten eingeschränkt werden müssen. 234 SS, S. 44. 235 „Wir nehmen an, ohne das theoretisch sicher begründen zu können, daß Systeme mindestens Mengen von Relationen zwischen Elementen sein müssen, daß sie sich aber typisch durch weitere Konditionierungen und damit durch höhere Komplexität auszeichnen“ (SS, S. 45). Wenn ein System eine Menge der Relationen zwischen Elementen darstellt und die Komplexität der entsprechenden Realitätsebene erreicht, dann muss ein System nur aus zählbaren Elementen und zahlfähigen Relationen bestehen. Unten ist noch darzustellen, dass dies dann zur Unlösbarkeit des Paradoxieproblems führt. 236 SS, S. 382. Da die Struktur demnach die Weltstruktur – Struktur der Welt – bedeutet, sieht man hierin wieder einmal ein, dass die ganze Welt – die Einheit der Welt – in ein System überführt werden muss, wodurch ein Subsystem trotz und gerade wegen seines besonderen Standpunktes der Relevanz aufgrund seiner Strukturen eben universal funktioniert. 237 SS, S. 383. 238 SS, S. 49.
IV. Strukturbildung des sozialen Systems83
fallene und chaotische Komplexität zurückzufallen. Eine Ordnung muss gerade aus dem drohenden Chaos entstehen. „Sie [die Strukturbildung] zieht gerade aus dem Zerfall der Elemente, hier: dem zwangsläufigen Aufhören jeder Handlung, Energie und Information für die Reproduktion von Elementen, die dadurch immer strukturell vorkategorisiert und doch immer neu erscheinen. Der Strukturbegriff präzisiert, mit anderen Worten, die Relationierung der Elemente über Zeitdistanzen hinweg.“239
Die Struktur vermag also die Kluft zwischen den Elementen (Handlungen bzw. Ereignissen) zu überbrücken, die erscheinen und sofort wieder entschwinden; sie muss sich aber auch von den vermittelten Elementen abstrahieren. Sonst verschwinden zusammen mit den einzelnen Elementen die Struktur selber und auch das System. Eine Struktur muss nämlich „beim Auswechseln der Elemente fortbestehen und reaktualisiert“ werden können.240 In der Tat wirken sich die Momenthaftigkeit des Elementes und die selektive Einschränkung der Struktur aufeinander aus. Hierbei beachte man, dass die Struktur genau an dem Punkt der irreversiblen Gegenwart (eines Ereignisses) zur Geltung kommt. Die momenthaften Ereignisse machen einen Prozess aus, der den Übergang von einem Aktuellen zu einem anderen darstellt und anhand der „Vorher / NachherDifferenz“ abläuft.241 Diese zeitliche Differenz, die die immer entschwindende Gegenwart erzeugt, zwingt zum Handeln, dabei bringt dies zugleich den einschränkenden Ausschluss / Anschluss anhand der Struktur zum Ausdruck. Diese Gegenwart ist „uncharakterisiert wie der Punkt“,242 an dem die Struktur in der Zeit nur immer als gegenwärtige Struktur erscheint. Zugleich bringt jedes Ereignis bzw. Handeln mit sich ein „Mindestmoment an Überraschung“ bzw. eine „Neuheit“,243 was auf die Weltkomplexität, aber nicht auf die Subjekte zurückzuführen ist.244 239 SS,
S. 383. S. 383. Zusammen mit System als Menge der Relationen ergeben sich hier weitere Probleme: Einerseits wird auch eine Struktur letztendlich verschwinden, wie sieht die Menge dann aus? Und andererseits muss man sich eine Menge der Relationen der Relationen der Relationen usw. vorstellen können. Daraus entsteht eine unendliche Kette, die schwer zu durchlaufen ist. Unten ist noch darzustellen, dass eine Theorie des chaotischen Verhältnisses für die Problemlösung nötig ist. Siehe C. II. 2. c) über die Aporie der Relation. 241 SS, S. 388. 242 SS, S. 389. 243 SS, S. 390. 244 Das Handeln scheint eher auf die Weltkomplexität bezogen zu werden, aber die Zeit wird eher formal charakterisiert und bezieht sich auf die Selbstreferenz. Wie oben dargestellt, können die Differenz von Vorher / Nachher und die Selbstreferenz der Gegenwart anhand von Paradoxie der modalen Lagezeit erläutert werden, was unten noch auszuführen ist. Jedenfalls besitzt die Differenz der Gegenwart den Zen240 SS,
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Die ‚Zeitform‘ wird also in die Struktur eingebaut. Damit verbindet die Struktur den Vorher / Nachher-Punkt der irreversiblen Gegenwart, die zusammen mit der reversiblen Gegenwart die selbstreferentielle Zeit hervorbringt. Zugleich erscheint der autopoietisch ablaufende „Punkt“245 des Verstehens im Kommunikationsprozess zusammen mit der Struktur, die sich auf die Kommunikation über die Welt bezieht und die „Sinnformen“246 bereithält. Es ist nämlich die Struktur, die die Realitätskontinuität unterbricht und die Realität mit Differenz formt.247 Die Gegenwart erscheint also mit der Strukturbildung und treibt die Autopoiesis des Systems nach vorne, welche die Elemente verknüpft und zugleich die emergente Realtitätsebene sozialer Kommunikation reproduziert. Die Gegenwart und die Kommunikation, „Energie und Information für die Reproduktion von Elementen“,248 fallen dann an demselben Punkt zusammen, so dass die Kommunikation nur gegenwärtig stattfindet. Das autopoietisch selbstreferentielle System entsteht also in der Zeit und läuft durch die Zeit, was sich als Strukturbildung und Strukturveränderung darstellt. Das Zeitverhältnis kann dann als Nerv der Differenzlogik der Systemtheorie angesehen werden; erst mit der Zeit wird die Differenz in die Welt eingekerbt. Dies ist sozusagen der Sündenfall bzw. die Weltverletzung und die Welt wird damit modalisiert. tralwert in Luhmanns Theorie (vgl. Luhmann, Zeit und Handlung (1979), in: ders., SA 3, 1991, S. 106–110). Man könnte hier die momenthafte Differenz von zuvor / danach und die Theorie des affektiven Subjektiven zusammenbringen: Danach wird es bereits anders! Damit wird das Subjektive erweckt und die Handlung ausgelöst. Diese gegenwärtige Differenz bedeutet dann für das Sozialsystem die ununterbrochene Suche nach Anschluss und erst dieser Punkt verleiht der modernen Gesellschaft einen formalen Zusammenhalt des Ganzen. Der Zusammenhang wird noch bei der operativen Kopplung gesehen. 245 SS, S. 126. 246 SS, S. 382. 247 Man sieht hierin den systemtheoretisch inneren Zusammenhang von Operation und Zeit, den Luhmann mithilfe von Spencer Browns Logik des Formenkalküls zum Ausdruck bringen soll. Selbstverständlich braucht jede Operation Zeit. Darauf kommt es aber nicht an. Vielmehr geht es um das in der Zeit versteckte Problem der Anschlussfähigkeit. Für Mathematiker bzw. Logiker scheint diese innere Dimension der Zeit meist nicht zu bestehen. Daher schreibt Hennig, Luhmann und die Formale Logik, 2000, S. 190: „Richtig ist, daß Unterscheiden in dem Sinne Zeit erfordert, in dem auch Rechnen Zeit erfordert. Niemand würde jedoch den Rechenoperationen eine zeitliche Dimension zuschreiben. 7 + 5 ist 12 und ‚wird‘ es nicht erst. Daher bleibt unklar, wieso gerade die Laws of form eine ‚operative Logik‘ enthalten sollen, nur weil sie von Operationen handeln. Das ist nämlich nichts Besonderes. Es gibt keine Logik, die nicht von Operationen handelt.“ Die Kritik verfehlt also die Pointe. Die Resultate der aneinander anschließenden Operationen in Zeit machen dann die Struktur – „Konstrukte“ – aus (WissendG, S. 516 f.). Allerdings muss man die Zeitdimension noch mit dem Negationsproblem zusammen betrachten. 248 SS, S. 383.
IV. Strukturbildung des sozialen Systems85
2. Strukturwert und Zeitbindung Im Zusammenhang der Strukturbildung wird die Weltkomplexität in der Zeitform im System temporalisiert. Die Strukturen beziehen sich zugleich auch auf die Qualifizierung und damit die Relevanzperspektive. Die Strukturen eines Systems müssen „alles, was für das System überhaupt relevant werden kann“, erfassen.249 Dann entsteht mit der Temporalisierung, nämlich Verzeitlichung, das Problem, dass die Relevanzperspektive in der Zeit laufend verändert wird. Dementsprechend werden auch die Probleme von Zeitbindung und Strukturwert einer Relation aufgeworfen. Die laufende Verschiebung des Relevanzgesichtspunktes ergibt sich aus der puren Sukzessivität der Elemente (Ereignisse). Das erscheinende und sofort verschwindende Ereignis findet, wie dargestellt, immer an dem Punkt der Vorher / Nachher-Differenz der irreversiblen Gegenwart statt und dies passiert eben in der Zeit. Anhand der Gegenwart entstehen die beiden Zeithorizonte (Vergangenheit und Zukunft), sie werden beide als gegenwärtige Vergangenheit und gegenwärtige Zukunft auf die Gegenwart hin zentriert und in sie integriert. Dies wird nur durch die reversible Gegenwart und die Zeitbindung ermöglicht.250 Die Ereignisse bilden eine Kette, der Punkt der Gegenwart bewegt sich in der Zeit mit den von ihr aus gestalteten Horizonten. Nun werden mit jedem neuen gegenwärtigen Ereignis in der Zeit die Zeithorizonte ganz und gar geändert. Jedes Ereignis bewirkt „eine Gesamtveränderung von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart – allein schon dadurch, daß es die Gegenwartsqualität an das nächste Ereignis abgibt und für dieses (für seine Zukunft also) Vergangenheit wird“.251 Dies betrifft das bereits angesprochene Phänomen des Zeitflusses im Zeitfluss im Zeitfluss usw., da jede Gegenwart einen eigenen Zeitfluss erzeugt. (Darin verbirgt sich das logische Problem der Antinomie der modalen Lagezeit.) Jede neue Gestaltung der Zeithorizonte deutet die Änderung des Relevanzgesichtspunkts und damit der Anschlussmöglichkeiten an. „Mit dieser Minimalverschiebung kann sich zugleich der Relevanzgesichtspunkt ändern, der die Horizonte der Vergangenheit und Zukunft strukturiert und begrenzt. Jedes Ereignis vollzieht in diesem Sinne eine Gesamtmodifkation der Zeit.“252 Die punktuelle Realisierung jedes Ereignisses an der Vorher / Nachher-Differenz bringt demnach eine Gesamtmodifikation der Zeit mit sich, wobei diese Modifikation „nur in der Zeit und nur dank der Zeit 249 SS,
S. 382. Luhmann, Temporalstrukturen des Handlungssystems – Zum Zusammenhang von Handlungs- und Systemtheorie, in: ders., SA 3, S. 143. 251 SS, S. 390. 252 SS, S. 390. 250 Vgl.
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möglich“ ist und wodurch sie ein „Maximum an Freiheit gegenüber der Zeit“ gewinnt.253 Man gewinnt die Freiheit eben in der laufendenden Umstrukturierung der Zeithorizonte und der Anschlussmöglichkeiten aufgrund der Änderung des Relevanzgesichtspunktes. Dies hat aber zu viele Möglichkeiten zur Folge, welche als Irritationen wirken und letztendlich die Langeweile bzw. ennui im Sinne der Defizite der Anschlussfähigkeit erzeugen.254 Es fehlt der reinen Sukzessiviät der Ereignisse an der nötigen Einschränkung für die Anschlussmöglichkeiten. Die Strukturbildung muss daher die Zeit binden und ermöglicht den Anschluss der Elemente für die Reproduktion des sozialen Systems. Damit jeder Horizontverschiebung die Ereignisse ausgewechselt und deren Rela tionierungen ausgetauscht werden können, kann sich die Zeitbindung nicht mehr auf die abwechselnde Relationierung der laufenden Elemente, sondern auf die Selektion der Relationierung beziehen. Man muss also etwas suchen, was sich über den Zeitfluss sozusagen hinwegsetzen kann, wenn man von den ereignishaften Elementen und deren Relationierungen ausgeht. Dafür wird die Struktur von der Qualität der konkreten Elemente und Relationen abstrahiert. Der Strukturwert einer Struktur besteht eher in der „Auswahl“255 einer aktualisierten Relationierung aus einer Vielzahl der möglichen Relationierungen der Elemente, welche gerade auch durch die Struktur (vorläufig) ausgeschaltet und ausgeschlossen werden. Eine Struktur bedeutet daher Auszeichnung und zugleich selektive Reduktion, welche die Überführung der Einheit und die Relationierung der Relationierung bezweckt.256 Im Hinblick auf diese Auswahl ist auch von „Relationsgefüge“ die Rede.257 Der Strukturwert ergibt sich, wenn nämlich die konditionierende Auswahl der Relationen mit deren einschränkendem Effekt konstant bleiben kann. Insofern kann ein System „Strukturvorgabe“ und damit die „ ‚innere Führung‘ “ für die besondere Qualität, Zugänglichkeit und Verknüpfbarkeit seiner Elemente erhalten. Die Struktur bedeutet schließlich die „Selektion eingeschränkter Möglichkeiten“: Selektion der Selektion.258 253 SS, S. 390. Sowohl ‚in der Zeit‘, ‚dank der Zeit‘ als auch ‚gegenüber der Zeit‘ meinen stets allein die Zeithorizonte anhand der Gegenwart. Mit jeder Gegenwart wird immer die Zeit als zwei Zeithorizonte gebunden. Luhmanns Beschreibungsweise erzeugt den Effekt der Verfremdung. Dabei werden die Zeitparadoxie, nämlich die Unvereinbarkeit von Vergangenheit / Zukunft mit Gegenwart, sowie die Paradoxie der modalen Lagezeit, nämlich die echte Gegenwart unter vielen Gegenwarten, nicht explizit thematisiert. 254 Vgl. SS, S. 386. 255 SS, S. 384. 256 Vgl. SS, S. 49. 257 SS, S. 42, S. 49. 258 Alle Zitate siehe SS, S. 384.
IV. Strukturbildung des sozialen Systems87
Die Konstanz einer Struktur resultiert ihrerseits aber nur aus der wechselseitigen Einschränkung der Strukturen. Eine Struktur ist selber kontingent, sie entsteht auch im Zeitfluss der Ereignisse. Die erfolgreich etablierten Strukturen dienen dann auch als Gesichtspunkte für weitere Selektionen der Strukturen; eine Strukturselektion schränkt also auch die weitere Strukturselektion ein. Die Strukturen konditionieren damit einander „und das festigt die Struktur“.259 Dadurch bringt eine Struktur die Invarianz ins System. Die ‚Invarianz‘ anhand der Struktur ist aber nicht mit Stabilität aufgrund eines ‚Prinzips‘ gleichzusetzen, sondern sie stellt nur für die Reproduktion ein „Operationalisierungserfordernis von Einschränkung“ dar.260 In diesem Punkt besteht der Strukturwert ferner in „einer (relativen) Absicherung gegen die Wiederzulassung des Ausgeschalteten“.261 Allein diese Invarianz kann die innere Führung des Systems bewirken und ermöglicht dann die Zeitbindung in dem Sinne, „daß die pure Sukzessivität von Ereignisketten – eine nach der anderen – überwunden wird durch übergreifende oder durchkontinuierende Relevanzen“.262 Da der Relevanzgesichtspunkt ‚gebunden‘ wird, ermöglicht die Gegenwart in der Vorher / Nachher-Differenz, „daß sie [Zukunft bzw. Zeit] sowohl vergeht als auch kontinuieren kann“.263 Man erhält die Anschlussfähigkeit in die (dunkle) Zukunft trotz der Irreversibilität der Zeit (Selbstreferenz der Gegenwart durch die zukünftige Gegenwart). Die Einzelheit der Ereignisse wird so überwunden, und das Ganze aus diesen Ereignissen scheint eine bleibende Identität im Zeitfluss zu erhalten, was auch in der Selbstreferenz der Zeit durch Gegenwart / Zukunft gesehen werden kann. Da ein Ereignis zuerst als ein Punkt ohne jede Qualifizierung erscheint, besteht es in der Differenz von Vorher und Nachher durch „Abhebung vom Bisherigen“, worauf seine Neuheit, Einmaligkeit, Einzigartigkeit, Singularität, minimale Überraschung und Emergenz zurückzuführen sind.264 Zugleich kann ein Ereignis nicht temporalisiert und an einem Zeitpunkt verankert werden, „ohne jede Überraschungskomponente, ohne Abweichung vom sachlich Festliegenden“.265 Bei jedem Ereignis bestehen also alle drei Sinndimensionen mit deren Differenzen. 259 SS,
S. 385. S. 383. Die Invarianz, die die Struktur des Systems herstellt, bezieht sich auf dessen Identität. 261 SS, S. 383. 262 Luhmann, Temporalstrukturen des Handlungssystems (1980), in: ders., SA 3, 1991, S. 137. 263 Luhmann, Temporalstrukturen des Handlungssystems (1980), in: ders., SA 3, 1991, S. 137. 264 Vgl. SS, S. 390. 265 SS, S. 391. Ein Ereignis ist nach Luhmanns Charakterisierung dann zuerst ein Punkt des unbestimmten Eindeutigen, dann wieder in gewissem Maße sachlich be260 SS,
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Der Strukturwert verbindet einerseits den „Sprung“266 zwischen Ereignissen mit dem „Kontinuum der Zeit“267; er bewirkt andererseits den binären An- / Ausschluss. Mit der springenden Vorher / Nachher-Differenz hängt die doppelte Kontingenz zusammen, aber anhand der binären Strukturierung der Kombinationsmöglichkeiten kann die Kontingenz wieder auf ein Minimum reduziert werden.268 Dies alles bringt dann die Reproduktion des Systems in Gang. Dies weist aber zugleich auf Enttäuschung und Varianz hin, die eine Struktur durchhalten und abfangen muss. Gegenüber den Ereignissen muss eine Struktur deshalb die Erwartbarkeit herstellen, die den Horizont des Handlungssinns aufspannt. Sie ist insofern für Luhmann „ein Komplementärbegriff zur Ereignishaftigkeit der Elemente“ und „er bezeichnet eine Bedingung der Möglichkeit basaler Selbstreferenz und selbstreferentieller Reproduktion des Systems“.269 Man sieht bisher, dass die Struktur die Weltkomplexität ins System überführt. Durch die Strukturbildung kann die Anschlussfähigkeit der Ereignisse hergestellt werden, die die Reproduktion des Systems aufrecht erhält. Eine Struktur ist „nie als Summe oder als Häufung“ aufzufassen, sondern sie zeigt die Einheit an.270 Die Welteinheit aufgrund von Differenz, einschließlich der Differenzen in allen Sinndimensionen, wird somit als Systemeinheit in Gestalt der basalen Selbstreferenz jedes einzelnen Elestimmt. „Nur auf der Ebene seiner Elemente ist ein System voll konkretisiert“ (SS, S. 394) und „temporalisierte Elemente (Ereignis, Handlungen) haben aber immer ein Moment der Überraschung an sich, sind immer Neukombinationen von Bestimmtheit und Unbestimmtheit“ (SS, S. 395). Der Zusammenhang von System, Struktur und Element kann so auf das Problem der Individuation einer Sache hin betrachtet werden. Darin soll die Möglichkeit der vielfachen Qualifizierung eines Ereignisses zu mehreren Elementen bestehen. 266 SS, S. 388. 267 SS, S. 391. 268 Vgl. SS, S. 388. 269 SS, S. 392–393. Über die komplementären Beziehungen zwischen Struktur und einzelnem Element vgl. Luhmann, Temporalstrukturen des Handlungssystems, in: ders., SA 3, S. 137 f.: „Eine Handlung findet nicht einfach in der Anschlußhandlung, die sie intendiert und auslöst, ihre Erfüllung und ihr Ende; sie kann auch für nächste und übernächste Schritte noch Bedeutung behalten und Schritt für Schritt neue Kombination zwischen Altem und Neuem stimulieren. […] Die Abfolge bleibt Abfolge, kann aber in jedem ihrer Schritte auf mehr zurück- bzw. vorgreifen als nur auf die unmittelbar anschließenden Ereignisse. […] In einer Melodie können Einzeltöne für eine lange Folgeentwicklung bedeutsam bleiben, andere verlieren ihre Bedeutung schon mit dem nächsten Ton. All dies ist nur möglich, weil aus Ereignis sequenzen, die von Moment zu Moment irreversibel werden, Ausgewähltes in die zweite, die begrenzt dauernde Gegenwart überführt werden kann.“ Eine Struktur muss also die Überführug der Schritte bewirken, sie verbindet die Einzelheit und die Kontinuität, was aber logisch schwierig ist. 270 SS, S. 393.
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mentes produziert. Daher ist jedes Element (Kommunikation bzw. Handlung) mit „Selbstbezüglichkiet“ und daher auch mit „self-identity“ und „self-diversity“ ausgestattet; dies bedeutet, dass das System bzw. ein einzelnes Element sich intern bestimmt und zugleich Spielraum für externe Mitbestimmung lässt.271 Die Struktur funktioniert dabei im System mit dem Schema von Invarianz / Varianz. Die Verzeitlichung der Weltkomplexität und die Temporalisierung der Elemente des Systems haben zu durchschlagenden Konsequenzen geführt. Das muss man einsehen, um die Standpunkte der Systemtheorie von Luhmann genauer erfassen zu können. Da man von der Vorher / Nachher-Differenz der Gegenwart ausgehen muss, wird alles der zeitlichen Diskontinuität ausgesetzt, so dass es „kein zeitfestes Wesen“ mehr im Sinne von „Grund, Gesetz und Notwendigkeit“ gibt.272 Die Welt wird durch die Zeit deontologisiert. Wenn noch von ‚Grund‘ bzw. ‚unverfügbarer Norm‘ geredet wird, dann kann dies eben nur Autopoiesis sein, die gerade aus der Differenz der Gegenwart ihre Energie schöpft. „Notwendigkeit ist nichts anderes als die autopoietische Reproduktion selbst.“273 Die Autopoiesis bedeutet, trotz der entschwindenden Gegenwart weiter zu machen und sie zu transzendieren; sie stellt insofern den ‚Grund‘ aller Ordnung dar. Sonst hört die Operation auf und wird beendet. Dies erklärt, warum Luhmann die Einheit nicht mehr in einem irgendwie gearteten Einheitsprinzip bzw. einer letzten absoluten Identität gegründet sieht, sondern in der Differenz, vor allem in der Zeitdifferenz. Dementsprechend wird die Autopoiesis sogar als die unverfügbare Norm der Gesellschaft erklärt, sie tritt nun in der Tat an die Stelle des ontologischen Grundes. Die Verzeitlichung erfordert dann die notwendige Kompensation in der Zeitbindung durch Strukturbildung, was im System die (relative) Invarianz des Relevanzgesichtspunktes bewirkt und die soziale Handlung überhaupt ermöglicht. Weil aber jedes temporalisierte Element eine „Neukombination von Bestimmtheit und Unbestimmtheit“274 darstellt und immer eine Überraschung mit sich bringt, bleibt es auch stets möglich, Abweichungen zu produzieren und anders zu handeln. Im System werden also mit Differenz von Invarianz / Varianz die Elemente hergestellt und angeschlossen. Dies 271 SS, S. 393. In diesem Zusammenhang zitiert Luhmann Whiteheads philosophische Kosmologie. Es ist noch einmal darauf aufmerksam zu machen, dass es um die emergente Realität des sozialen Systems geht, wobei jedes einzelne Element sowohl die Selbstreferenz (Selbstbestimmung) als auch die Fremdreferenz (Raum für externe Mitbestimmung) – nämlich eine Differenz – trägt. Nur damit kann das Element identity und diversity aufzeigen. 272 SS, S. 394–395. 273 SS, S. 395. 274 SS, S. 395.
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spielt auch eine entscheidende Rolle im Hinblick auf das Problem der Gerechtigkeit im Rechtssystem. Und gerade daraus resultiert die notwendige „Selbstabstraktion des Gegenstandes“:275 Selbstabstraktion des Systems von konkreten Elementen. Dies geschieht dann durch Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Systems. Nur hier kehrt die Identität, nun aber als Problem, zurück; sie kann nicht mehr als alle Probleme absorbierender Grund gelten, sondern erscheint in der Differenz von Invarianz / Varianz. Damit eng verbunden zeigt sich die Struktur nun in der Erwartbarkeit; die soziale Struktur stellt nichts anderes als Erwartungsstruktur dar. Sie hat – mit Blick aufs Handeln – für das Problem der Entscheidung im Schema konform / abweichend „den zentralen theoretischen Stellenwert“.276 Und von der Entscheidung hängt nach Luhmann auch die Zukunft ab. Wie dargestellt, besteht der Strukturwert einer Struktur in ‚Selektivität‘ von Kombinationsmöglichkeiten. Dementsprechend bezeichnet die Erwartung Einschränkung: „Einschränkung des Möglichkeitsspielraums“.277 Im Kommunikations prozess wird dieser Raum mit Themen und Beiträgen besetzt und damit wird die Sinngleichheit (Sinnidentität) verdichtet. Dies erzeugt einen Ausschlusseffekt, aber gerade indem ein abweichendes Handeln gleichzeitig ermöglicht und zwar als Störung eingestuft wird. Also reduziert eine Erwartungsbildung als Strukturbildung zwar die Komplexität, mit Erwartungsverdichtung geht jedoch zugleich die Erwartungsenttäuschung einher. Jenseits der Grenze der Erwartung werden alle heterogenen, störenden Ereignisse auf die Erwartungsenttäuschung reduziert und darin gehalten. Auf all diese enttäuschenden Ereignisse wird dann mit zwei Stilen reagiert: kognitiv oder normativ – Wissen oder Norm.278 Eine Erwartung bildet eine „Sinnform“279 im Schema Konformität / Abweichung, reduziert die Komplexität und bringt eine Ordnung hervor. Eine Ordnung kann kein Ende im Sinne eines Endziels haben, sondern sie muss anhand der Differenz weiter operieren.280 Dem ist hinzuzufügen, dass eine 275 SS,
S. 16. S. 397. Der entscheidende Punkt könnte darin liegen, dass in einem Sinnschema wie konform / abweichend u. ä. eine (unsichtbare, nichts bedeutende) Nega tion verborgen steckt. Darauf komme ich unten noch zurück. 277 SS, S. 397. 278 Vgl. SS, S. 398. 279 SS, S. 399. 280 Vgl. SS, S. 395. Ein Schema der Operation stellt eine Sinnform dar; eine Form (des Sinns) bedeutet aber Luhmann zufolge eine Unterscheidung mit zwei Seiten, die eben mit dieser Differenz verbunden werden. Diese Differenz macht dann weiterhin den Punkt aus, an dem Kommunikation, Zeitlichkeit sowie immer übersehene Negation zusammenfallen. 276 SS,
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Ordnung auch keinen Anfang hat, der von der Ordnung unabhängig existiert und auf den die Ordnung zurückzuführen ist. Eine Ordnung entsteht dadurch, „daß relativ zufällige Handlungsereignisse, wenn sie vorkommen, durch ihr Geschehen erwartungsbildend wirken und daß das Anschlußgeschehen dann weniger zufällig abläuft“.281 Eine Ordnung entsteht und besteht demnach allein zufällig – ohne Grund und Ziel – und in Gestalt des binären Schemas, das die Latenz im Sinne der blockierten Möglichkeiten des „Rearrangements der Sinnverweisungen des Systems“ auch erzeugt.282 Und der ‚Anfang‘ wird dann gar erst nachträglich (semantisch) in der Ordnung hergestellt.283 Und erst mit der Reduktion der Komplexität durch Erwartungsbildung wird eine Entscheidungssituation überhaupt ermöglicht und der Druck bzw. Zwang zur Entscheidung erzeugt. Dabei soll zunächst darauf aufmerksam gemacht werden, dass bei Luhmann die Entscheidung nicht direkt mit Handlung, sondern mit Erwartung als soziale Struktur verbunden wird. Nur dadurch wird die Entscheidung eigens soziologisch thematisiert und mit der Handlungstheorie im Zusammenhang sozialer Strukturen zusammengebracht. Eine Entscheidung wird demnach nicht wie üblich als „Wahl zwischen Alternativen“ betrachtet, nach deren sozialen Konditionierungen wird dann noch nachträglich gefragt.284 Eine Entscheidung fragt auch nicht nach dem Grenzwert im Sinne der rational optimalen Relationierung von Zweck und Mittel bzw. der Maximierung des Nutzens.285 Das Grenzwert-Modell 281 SS,
S. 398. S. 399. 283 Eine Ordnung hat weder Anfang noch Ende, braucht keinen Grund, sie entsteht aus der Evolution in Gestalt des binären Schemas. Dies erklärt, dass nicht eine Vernunfttheorie und die vernünftige Begründung, sondern die Evolutionstheorie und die binären Codierungen der Systeme bei Luhmann die tragende Rolle spielen. Wenn man die „strukturellen Gründe“ (SS, S. 399) für einzelne Ereignisse sucht, dann muss man die soziale Erwartung betrachten, die diese Ereignisse ermöglicht und jene anderen blockiert. Man kann sogar die Vermutung aufstellen, dass die Semantiken von Grund und Anfang anhand der Erwartungen produziert werden, um Rearrangement in der Latenz zu blockieren oder auch zu ermöglichen. 284 SS, S. 400. Falsch ist nach Luhmann die offizielle Darstellung des Freiheitsproblems: „Nur frei gewähltes Verhalten könne moralisch beurteilt werden“ (GdG, S. 947). Er meint, dass die Freiheit durch die Differenz von gut und böse aufkommt. Verkehrt ist nach ihm aber, wenn die Differenz von gut und böse der offiziellen Meinung folgend erst durch Freiheit hervorgebracht wird, wobei man sich in der Tat einen freien Willen als die Natur des Menschen ontologisch denkt. Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 371: Die Meinung, die Freiheit in „Wahlmäßigkeit“ und daher in „Wahlfreiheit“ zu sehen, scheitert bereits an den spontanen Reaktionen und an der unbewussten Fahrlässigkeit. Mit der Wahlfreiheit entfällt dann auch die Freiheit im Sinne des Anderskönnens. 285 Vgl. SS, S. 403. 282 SS,
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ist, „soziologisch gesehen, nicht der ursprüngliche und wohl auch kaum der normale Fall, der ein Entscheidungsverhalten auslöst“.286 Nach Luhmann wird dann eine Entscheidung getroffen, „wenn und soweit die Sinngebung einer Handlung auf eine sie selbst gerichtete Erwartung reagiert“.287 Angesichts der Verzeitlichung des Elementes (Handlung) kann nur die Strukturbildung den Handlungssinn oder die Handlung überhaupt ermöglichen. „Erwartungsstrukturen sind zunächst ganz einfach Bedingung der Möglichkeit anschlußfähigen Handelns und insofern Bedingung der Möglichkeit der Selbstreproduktion der Elemente durch ihr eigenes Arrangement.“288
Eine andere Bedingung für die autopoietische Reproduktion liegt demnach in der Entscheidung, die ja auf die binäre Reduktion der Komplexität anhand der sozialen Erwartung zu reagieren meint. Die Erwartung wird ihrerseits also erwartet, es muss „der Erwartungsbezug in die Sinnbestimmung“ des Handelns aufgenommen werden,289 erst daraus resultiert eine Entscheidungslage, was dann die Alternative von Konformität und Abweichung ergibt. Die bloße bzw. objektive Erwartungsstruktur macht noch keine Differenz aus. „Der bloße Vollzug genügt nicht. Demnach verliert also ein Handeln, das zur Routine wird, den Charakter einer Entscheidung.“290 Insofern läuft „eine Handlung ihrerseits immer erwartungsorientiert [ab …]. Dadurch entsteht kein Entscheidungsdruck.“291 Die Entscheidung nimmt also die Differenz von Konformität / Abweichung wahr und deutet die Abweichung bzw. den abweichenden Handlungssinn an.292 Der Differenz von Invarianz / Varianz ähnlich ergibt sich bei der Entscheidung nämlich das Problem der Differenz von Sinngleichheit / Variation. Die Erwartung verdichtet sich im Kommunikationsprozess und erzeugt für die Handlung die Sinngleichheit, welche dann anhand der Entscheidung im Konfliktfall oder bei Abweichung wieder reaktualisiert wird. Dies macht die 286 SS,
S. 400 f. S. 400. 288 SS, S. 392. 289 SS, S. 401. 290 SS, S. 401. 291 SS, S. 400. 292 Es verhält sich analog: Das objektive Recht (Gebote / Verbote) genügt nicht, das subjektive Recht muss hinzukommen (vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1997, S. 23 f.). Ohne auf das objektive Recht anhand des subjektiven Rechts zu reagieren, macht das objektive Recht keinen Handlungssinn aus. Es ergibt sich dann auch keine Differenz von Recht und Unrecht. Bei Luhmann besetzt gerade das subjektive Recht die Stelle der strukturellen Kopplung zwischen Gesellschaft und Individuum. Man kann wohl sagen: zwischen sozialem Sinn und Entscheidung. Das Leerlaufen des subjektiven Rechts erzeugt schließlich ‚Rechtslethargie‘. 287 SS,
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Selbstreferenz des Handelns aus. „Die Handlung bezieht sich auf sich selbst dadurch zurück, daß in ihren Sinn eingeht, daß sie erwartet wird.“293 Die durch die Erwartungsstruktur vermittelte Sinngleichheit bewirkt die reflexive Relation bei der Selbstreferenz. Das bedeutet, dass die Entscheidung, die die Erwartung erst ins Spiel einbringt, „ihre eigene Vorher / Nachher-Differenz“ überbrückt und damit die selbstreferentielle Reproduktion des Systems weiterlaufen lässt.294 Noch einmal wird mit der Entscheidung die Weltkomplexität in die Selbstreferenz des Systems überführt. Dabei wird mit jedem Entscheidungstreffen aber zugleich die offene kontingente Alternative der Erwartungsstruktur umgeformt. Aus einer rein offenen Kontingenz wird eine Kontingenz des „Auch-anders-möglich-gewesen-sein der getroffenen Entscheidung“295 und beide Formen der Kontingenz werden nach dem Entscheidungstreffen relationiert. Die Qualität der Kontingenz wird also mit der Vorher / Nachher-Differenz der Entscheidung, positiv oder negativ, geändert. Anders als die Entscheidungstheorie der Optimierung bzw. Maximierung scheint die Pointe der Luhmann’schen Theorie darin zu liegen, dass ein eleganteres Drittes zwischen der Erwartungsstruktur und der Entscheidung besteht und beide sozusagen aufhebt. Dies bedeutet, dass man die Erwartungsstruktur offen aufrechterhält, „ohne daß die Entscheidung dadurch ihren Charakter als Entscheidung und ihre Identifizierbarkeit verlöre. Die Entscheidungssituation bleibt konstituiert, ihre Definition kann noch geändert werden.“296 Eine Handlung wird durch Erwartung und Entscheidung ermöglicht. Eine Erwartungsstruktur reduziert die Komplexität, in ihr besteht notwendig ein „Ausmaß an Bestimmtheit bzw. Vieldeutigkeit“;297 eine Entscheidung bedeutet Grenzziehung, sie erhält aufgrund der Komplexität immer einen Entscheidungsspielraum, den man ausnutzen kann. Man kann wohl sagen, dass eine Grenze deutlich genug gezogen werden muss, aber eben nicht eindeutig im Sinne der Alternativlosigkeit. Sonst kann auch vom Handeln keine Rede mehr sein. Es ist „eine strukturell erzwungene Variation im Modus selbstreferentiellen Handelns“,298 indem „verschiedene interne Operationen auf Grund interner Identitätskriterien zum selben Resultat führen“.299 Eine Entscheidung stellt 293 SS, S. 401. Die Handlung bildet sich erst durch diese selbstreferentielle bzw. reflexive Zurückspiegelung, was aber zugleich die Möglichkeit der Abweichung – als eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Handlung – impliziert. 294 SS, S. 402. 295 SS, S. 402. 296 SS, S. 403. 297 SS, S. 403. 298 SS, S. 404. 299 WissendG, S. 517. Vgl. SS, S. 393, mit Selbstreferenz enthält jedes Handeln die Komponente von ‚self-identity‘ und ‚self-diversity‘. Sowohl Invarinaz / Varianz
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dann für das alltägliche, normale Leben in der Tat die Kombination von Sinngleichheit und Variation – Identität der Verschiedenheit – dar; sie bleibt aber trotzdem eine kontingente Entscheidung, immer kann sie anders ausfallen. Variation trotz Zwang? Identität trotz Verschiedenheit? Luhmann nennt dies Paradoxie, mit ihr stellt sich das Problem der kommunikativen Unbestimmtheit. 3. Strukturwahl und Funktionsorientierung Die Entscheidung reagiert auf die Erwartungsstruktur und bewirkt damit, dass anhand der Erwartungsstruktur die Sinngleichheit in die Handlung aufgenommen und daher die Selbstreferenz des Handelns bzw. des Systems ermöglicht wird. Dabei wird die Welteinheit wieder in die Selbstreferenz überführt und es findet die Reduktion der Komplexität statt. Eine Ordnung entsteht zuerst durch zufällige Ereignisse und dann festigen sich die Strukturen selber durch ihre wechselseitige Konditionierung. Trotzdem bleiben die Kontingenz und ein Spielraum von Invarianz / Varianz (bzw. Sinngleichheit / Variation bzw. Bestimmtheit / Unbestimmtheit) zwischen Erwartung und Entscheidung. Die Verzeitlichung der Welt bringt in dieser Weise mit Notwendigkeit die Evolution und die Ordnung hervor. Vor diesem Hintergrund stellt sich das Problem, welche Strukturen mit welchen „Merkmalen“300 in der Evolution durchhalten und die Einheit des Gesellschaftssystems zustande bringen können, die nun durch die Differenz des Systems zur Umwelt gestiftet wird. Die Strukturwahl des evolutionierenden Gesellschaftssystems muss im Hinblick auf die Einheit der Differenz erfolgen. Die funktionale Differenzierung und die Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems werden hiermit angesprochen. Da die Strukturwahl die Einheit bzw. die Komplexität des Gesellschaftssystems berücksichtigen muss, orientiert sie sich an der Funktion im Sinne der Differenz von Problemstellung und Problemlösung.301 Das Problem, das es zu regulieren gilt, resultiert aus der Differenz vom System zu seiner als auch Sinngleichheit / Variation weisen auf das Problem der Identität des Systems hin, wobei zwischen Identität und Identifizierung weiter unterschieden werden soll, und zwar im Hinblick auf die (negierende) Differenz. Der Problemkomplex ist unten noch zu erläutern. 300 SS, S. 404. 301 Sowohl die Hierarchisierung als auch die funktionale Differenzierung müssen als Ordnungsprinzip die Funktion der Problemlösung erfüllen. In der modernen Gesellschaft besteht die Hierarchisierung weiter, nur nun gilt die Funktionsorientierung als das vorrangige Prinzip. Die Hierarchisierung – „als transitiver Ordnungsaufbau“ – stellt nach Luhmann ein Einheitsprinzip dar; sie begünstigt auch Komplexität, strafft und zentriert aber zu stark das soziale System (vgl. SS, S. 405 f.).
IV. Strukturbildung des sozialen Systems95
Umwelt; die Problemstellung ist an das Gesamtsystem gerichtet, die Problemlösung erfolgt aber im Teilsystem. Dabei bestehen unterschiedliche Möglichkeiten für die Problemlösung und die Funktion stellt eben die Einheit der Differenz von realisierten / potentiellen Möglichkeiten dar. Die Funktion wirkt wie eine Abkürzung für das Gesamtsystem: die Einheit der Differenz von System / Umwelt, von Gesamtsystem / Teilsystem und von unterschiedlichen Lösungsmöglichkeiten. „Auch Funktionen dienen mithin der Selbstbeschreibung eines komplexen Systems, der Einführung eines Ausdrucks für Identität und Differenz in das System.“302 Die Einheit und die Identität des Systems werden also an die Strukurwahl und die Selbstbeschreibung gebunden, was wiederum unter der Leitung von Funktion und Differenz erfolgt. Man kann wohl sagen, dass erst das zu lösende Problem den Relevanzgesichtspunkt herausgebildet und dann die „Redundanz“303 für die Identitätsbildung ermöglicht hat. Die Funktionsorientierung stellt dann „ein morphogenetisches Prinzip von ausschlaggebender Bedeutung“ dar,304 sie erzeugt „Redundanz“ im Sinne von verschiedenen, funktional aber äquivalenten Erfüllungsweisen und gewinnt „erstrangige Bedeutung“ für Strukturwahl und Ordnungsaufbau.305 Und dies gilt sowohl für die Ebene des Handelns als auch für die Ebene von Beobachtung und Beschreibung. Hierbei soll man bereits darauf aufmerksam machen, dass diese funktionale Redundanz eine ambivalente Identität andeutet. Sie signalisiert Sicherheit und Unsicherheit zugleich, da man nebenbei andere äquivalente Möglichkeiten bereithält und bereithalten muss. Die Alternative bleibt offen, was die Evolution befördert. Diese Orientierung an Funktion bei der Strukturwahl und damit die ambivalente Identität sind auf die soziale Situation zurückzuführen. Im Kommunikationsprozess können Ego und Alter Ego nicht gleichzeitig kommunizieren. „Somit gibt es ständig fluktuierende Verteilungen von Handlungsund Beobachtungschancen, beides kommt nebeneinander vor und greift ineinander, sobald Beobachtung kommuniziert oder sogar beobachtet wird.“306 Man kommuniziert also nacheinander. Dabei stellt die Beobachtung selber eine gewisse Distanz beibehaltende Handlung dar.307 Aus der 302 SS,
S. 406. S. 386. 304 SS, S. 407. 305 SS, S. 406. Luhmann bezieht die Identität nicht begrifflich auf Sachwesen (wie bei A = A), sondern funktional – als Redundanz – auf ihren Gebrauch für die Problemlösung. Man braucht trotzdem aber doch einen Identitätsbegriff für das Problem der Paradoxie. 306 SS, S. 407. 307 Die „Distanz“ der Person zu sich ermöglicht die Übernahme des Standpunktes des anderen und verknüpft die einzelnen Kommunikationen im Verstehen (vgl. SS, 303 SS,
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Selbstreferenz des Handelns, die anhand der aneinander anschließenden Beiträge entsteht, ergibt sich dann differenzierend die Selbstbeobachtung des sozialen Systems. Und dadurch werden wiederum andere Sachsichten laufend in den Kommunikationsprozess eingebracht. „Als kommunizierbare Differenz von Handeln und Beobachten ist Selbstbeobachtung diejenige Operation, die dem Strukturaufbau sozialer Systeme zugrunde liegt, die ihn betreibt.“308 Die Selbstbeobachtung ermöglicht dann, die Problemstellungen und ihre möglichen Lösungen in spezifizierte funktionale Zusammenhänge zu bringen, was wie ein Mechanismus die Funktionsorientierung auslöst und weiter rekursiv bestärkt. Und in der Evolution wird die Selbstbeobachtung immer beibehalten, aber Handeln und Beobachten werden verstärkt differenziert. Dies führt dazu, dass die Themen der Selbstbeobachtung des sozialen Systems erweitert werden und die Kommunikationsweise möglicherweise geändert wird.309 Historisch gesehen mündet diese Entwicklung dann schließlich in die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems mit seiner Selbstbeschreibung. 4. Fazit Die Systembildung, die anhand der Kommunikation erfolgt, erfordert die Strukturbildung. Struktur bedeutet eine Schranke: Einschränkung des Variationsraums bzw. der Möglichkeiten der Relationierung der Elemente (Kommunikationen, Handlungen). Nur dadurch wird ermöglicht, zwischen Weltoffenheit und Systemgeschlossenheit zu balancieren. Genauer gesehen, bedeutet eine Struktur eine Relationierung der Relationierung der Elemente, S. 196). Im Prozess der Kommunikation kann dann die Beobachtungshandlung gewisse Distanz bewahren, wodurch das System zur Selbstbeobachtung und zum Strukturaufbau befähigt wird. Diese Differenzierung von Handeln / Beobachten weist ferner auf die Differenzierung von Beobachtung erster und zweiter Ordnung hin, was mit dem Problem der sozialen Widersprüche zusammenhängt (vgl. SS, S. 491). Es scheint so zu sein, dass sich der Kommunikationsprozess anhand der gewissen Distanz zu einer dynamischen Einheit im Verhältnis von Hin und Her, Geben und Nehmen gestaltet. 308 SS, S. 408. 309 Die Abgrenzung und das Ineinandergreifen von Handeln und Beobachten erfolgen nach Luhmann auf dem Weg der Rollenverteilung oder auf dem Weg der Schriften und des Druckes. Die entlastende Abgrenzung durch Rollenverteilung muss durch „besonderes Prestige“, „religös interpretierbare Exzeptionalität“, „erworbene Reputation“ und schließlich durch „Institutionalisierung von Forschungsstätten“ gesichert werden. Auf dem Wege der Schrift wird der Leser vom Handeln befreit, und das Gelesene (Handlung) wird beobachtet. Die Trennung von Handeln / Beobachten erweitert dadurch die möglichen Themen für die Selbstbeobachtung des sozialen Systems (vgl. SS, S. 409).
V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung97
sie ist eine ausgewählte und relativ stabile Sinnform für die Qualifikation der einzelnen Elemente. Und mit ihr wird die Welt überformt. Die Struktur entsteht aus basalen, elementaren und momenthaften Operationen, sie wird aber von ihnen abstrahiert. Die Struktur wird damit besonders mit der Zeitdimension verbunden: Sie kommt immer in der Gegenwart zur Geltung, muss aber die gegenwärtige Differenz von Vorher / Nachher überbrücken. Sie fasst dadurch die einzelnen Ereignisse zu einem Prozess der Kommunika tion zusammen, sie verschwindet aber nicht mit den Ereignissen. In der Struktur werden also die Verzeitlichung (Temporalisierung) und die Zeitbindung gebunden. Mit der Verzeitlichung kann der Relevanzgesichtspunkt mit nur einem ‚Sprung‘ jederzeit total geändert werden, mit der Zeitbindung sind aber Kontinuität und Identität im Zeitfluss und daher die binäre Codierung für die Konditionierung erforderlich. Dabei entsteht die logische Antionomie der Zeit: Zeitfluss in Zeitfluss in Zeitfluss usw. Unter diesem Strukturverständnis werden dann die kognitive Erwartung und die normative (kontrafaktische) Erwartung unterschieden. Die Selbstreproduktion des Sozialsystems erzwingt die Selektion der möglichen Anschlüsse. Dafür erzeugt die Struktur im Sinne der (kognitiven und normativen) Erwartung eine Konstellation der Erwartungserwartung eine Entscheidungssituation. Es wird verlangt, eine Entscheidung zu treffen. Erst dadurch wird der Kommunikationsprozess sozusagen belebt und in Gang gehalten. Dadurch entfallen auch die Semantiken von Anfang, Telos, Grund u. ä. Nur in der Autopoiesis des Sozialsystems besteht die Notwendigkeit, was zur Orientierung an der Funktion des Sozialsystems führt. Hiermit wird die Systembildung mit der Theorie der (funktionalen) Differenzierung der Gesellschaft gekoppelt.
V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung Wenn die Welteinheit mit der Leitdifferenz von System / Umwelt abgefangen und die Weltkomplexität dadurch in die Selbstreferenz des Systems überführt wird,310 dann wird das kommunizierende Sozialsystem durch die Zeit, nämlich die ablaufende gegenwärtige Vorher / Nachher-Differenz, veranlasst, die Strukturen zu bilden und zu verändern, um die autopoietisch selbstreferentielle Reproduktion der emergenten Realität aufrechtzuerhalten. Dies führt zur Differenzierung von Handlung und Beobachtung. Dementsprechend wird das System auch zur Selbstbeobachtung befähigt, was die Differenzierung wieder verstärkt und spezifiziert.311 310 Vgl. 311 Vgl.
SS, S. 38. SS, S. 407.
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Mit dieser Sichtweise kann nun auch die Differenzierung des Gesellschaftssystems betrachtet werden.312 Dabei macht die System / Umwelt-Differenz den Ausgangspunkt für die weiteren Differenzierungen in System und in Umwelt aus. Bei der Umweltdifferenzierung sieht ein System in seiner Umwelt andere Systeme, in deren Umwelt stehen dann wiederum andere Systeme. Die Umwelt wird in unterschiedliche System / UmweltPerspektiven anhand der „Beobachtung“313 jeweils von einem bestimmten System aus differenziert und besteht in der Einheit der daraus entstehenden, sich überschneidenden „Relationen“.314 Anders als bei der Umwelt erfolgt die (interne) Systemdifferenzierung „aus dem Prozeß der autopoietischen Reproduktion“315 von anschließbaren, neuen Ereignissen. Mit jeder internen Differenzierung eines neuen Systems wirkt das bereits bestehende System als „Sonderumwelt“316, als Außengrenze des ausdifferenzierten Systems. Mit einem neu ausdifferenzierten System ergibt sich zugleich eine neue System / Umwelt-Differenz, wodurch die ganze Umwelt-Einheit auch anders beobachtet und verändert wird. Die System- und die entsprechende Umweltdifferenzierung bauen die Komplexität sowohl auf als auch ab. Dabei geschieht die Differenzierung nicht durch Gliederung bzw. Zerlegung des Gesamtsystems in Teilsysteme, sondern sie stellt eine „Selbstselektion des Teilsystems“317 im Sinne eines wiederholten und reflexiven Prozesses dar. „Systemdifferenzierung ist demnach Wiederholung der Systembildung in Systemen in Richtung auf Steigerung und Normalisierung der Unwahrscheinlichkeit.“318 Und sie erzeugt ebenso die „reflexive Steigerung der Ausdifferenzierung des Systems“.319 Die innere Systembildung wird dann „autokatalytisch“ und insofern „selbstselektiv“ und das System wird „in seiner Funktionsrichtung gesteigert“; dabei entsteht „eine neuartige Umwelt“, und ein neuer Anpassungsprozess setzt ein.320 312 ‚Ausdifferenzierung‘ bezeichnet die Entstehung eines Sozialsystems und mit ihm seiner Umwelt, sogar aus „einer nicht weiter eingeschränkten Welt“ (GdG, S. 597), wie das Sozialsystem Gesellschaft selber der Fall ist. So bedeutet die Ausdifferenzierung eines Systems die Systembildung überhaupt. ‚Systemdifferenzierung‘ bedeutet aber Differenzierung weiterer Systeme innerhalb eines bereits ausdifferenzierten Systems wie bei ‚Gesellschaftsdifferenzierung‘. So kann ein System auch im Vorgang der Systemdifferenzierung ausdifferenziert werden. 313 SS, S. 258. 314 SS, S. 256. 315 SS, S. 258. 316 SS, S. 259. 317 SS, S. 260. 318 SS, S. 259. 319 SS, S. 259. 320 SS, S. 260.
V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung99
Systemdifferenzierung bedeutet also mehrfache Wiederholung des Gesamtsystems „in sich selbst“.321 „Die Einheit des Gesamtsystems muß dann in der Art und Weise Ausdruck finden, in der jede dieser Arten von Teilsystemen ihre Beziehung zur Umwelt (die die anderen enthält) handhabt; denn in differenzierten Systemen ist jedes Teilsystem zugleich es selbst und Umwelt für andere.“322 Die Einheit des Gesamtsystems wird nämlich in der jeweiligen Differenz von Teilsystem und Teilsystemumwelt abgefangen und ausgedrückt. Das Gesamtsystem wird „dann mehrfach in sich selbst enthalten. Es multipliziert seine eigene Realität.“323 Dementsprechend „fungiert jedes Teilsystem als Artikulation der Selbstreferenz des Gesamtsystems“;324 die Ganzheit artikuliert sich also als Differenz von Teilsystem / seiner Umwelt und wird damit in die Selbstreferenz des Teilsystems überführt. So gesehen wiederholt sich die Systembildung mit der System- und der Umweltdifferenzierung. In einem differenzierten System stellt sich seine Einheit als „unitas multiplex“ dar, die dann in die Selbstreferenz je eines Teilsystems überformt wird.325 Die Differenzierung hat nicht Zerlegung bzw. Gliederung, sondern eher Vervielfältigung der Realität des Gesamtsystems zur Folge, indem die Welteinheit und die Gesamtsystemeinheit durch jedes Teilsystem in seiner Weise ihren Ausdruck in der jeweiligen System / Umwelt-Differenz finden. Als ein Ganzes wird das Gesamtsystem sozusagen in sich rekonstruiert, die Weltkomplexität wird dabei wiederholt und vervielfacht in den Subsystemen je als ihre Eigenkomplexität zum Ausdruck gebracht. Dies erfolgt aber, indem die Subsysteme jeweils nach ihrer Leitdifferenz „einen Teil der Gesamtkomplexität“ aufnehmen.326 Dabei wird das Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt beibehalten, was gerade die Antriebskraft der Differenzierung erzeugt. Der ganze Zusammenhang transformiert ja die Welteinheit über Differenz in die Selbstreferenz – eine reflexive Relation – des Systems. 321 SS,
S. 262. S. 260. 323 SS, S. 262. 324 SS, S. 262. 325 Vgl. SS. S. 38. 326 SS, S. 262. Luhmann lehnt die Vorstellung der Zerlegung des Gesamtsystems ab, spricht aber wiederum von Teil. Diese etwas verwirrende Formulierung soll man m. E. dahingehend verstehen: Der eine Gegenstand – die mit irgendeiner Differenz gesehene Ganzheit der einen Welt – wird durch die Differenzierung in vielfältige Differenzen überführt. Die eine Welt ist aber keine Menge der vielen Welten, sondern sie ist die vielen Welten; die eine Gesellschaft ist keine Menge der Subsysteme, sondern sie ist mehr als die Summe der Subsysteme und ist durch die Vervielfältigung zugleich alle Subsysteme. Dabei soll man beachten, dass sich sowohl (Leit-) Differenz als auch Differenzierung einerseits auf die Einheit des Systems und andererseits auf die Sinnform (Differenzerfahrung) beziehen. Mit Differenz als Sinnform will Luhmann das Versprechen der Einheit einlösen. Vgl. B. I. 3. 322 SS,
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1. Gesellschaftsdifferenzierung: Kopplung der Systeme und In- / Exklusion Da die Gesellschaft als ein jede Kommunikation umfassendes Gesamtsystem gilt und für alle sozialen Teilsysteme die Außengrenze bildet, geht man nun von der Gesellschaftsdifferenzierung aus und fragt nach den „Differenzierungsmustern“.327 Die Gesellschaft bedeutet demnach auch die Außen-Grenze alles Sozialen, das den eigentlichen Gegenstand der Systemtheorie als eine Theorie der Gesellschaft bei Luhmann bildet. Ihre Realität soll aber nach der nicht zerlegenden Differenzierung vervielfacht und dabei je anders qualifiziert werden, was für die moderne Gesellschaft am deutlichsten zum Zug kommt. Die Gesellschaftsdifferenzierung macht daher das Kernproblem der Soziologie aus und bezieht sich auf die grundlegende Struktur der Gesellschaft. Sie behandelt die Form, welche Einheiten und Differenzen herstellt und so das Verhältnis der Teilsysteme je mit ihren System / Umwelt-Differenzen zueinander bestimmt. Sie stellt damit die führende Struktur der Gesamtgesellschaft dar und steuert jede soziale Kommunikation.328 Diese Struktur errichtet und schränkt zugleich den Raum der kommunikativen Möglichkeiten ein, markiert nämlich die Grenze des Komplexitätsgrades, den eine Gesellschaft jeweils erreichen kann. In diesem Zusammenhang spielen die Probleme der Kopplungen zwischen Systemen sowie der In- und Exklusion der Individuen eine besondere Rolle. a) Operative und strukturelle Kopplung Im Zusammenhang der Systemdifferenzierung muss das Problem der Einheitsbildung der Gesellschaft eigens aufgeworfen werden. Die Gesellschaft als Gesamtsystem, das in die Teilsysteme differenziert wird, bleibt als solche doch dieselbe. Aber wie ist ihre Einheit – das Mehr der Gesellschaft als bloße Summe der Teilsysteme und ihre Durchwirkung in ihnen – aufrechtzuerhalten, wenn jedes ausdifferenzierte Teilsystem mit seiner eigenen System / Umwelt-Differenz die operative Geschlossenheit und damit seine eigene Einheit und Identität aufweist? Dasselbe Problem kann von der Perspektive des einzelnen Elementes (Ereignis, Handlung, Kommunikation) aus dahin formuliert werden, wie ein und dasselbe Ereignis gleichzeitig die Elemente unterschiedlicher, aber doch gleichfalls operativ geschlossener Teilsysteme sein kann. Ein autopoietisch geschlossen operierendes System 327 SS,
S. 257. GdG, S. 611.
328 Vgl.
V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung101
muss seine eigenen Elemente selber reproduzieren und kann die eigenen Elemente nicht an die Elemente von anderen Systemen in seiner Umwelt anschließen. In diesem Fall spricht man von operativer Kopplung, in jenem von struktureller Kopplung. Mit den beiden Arten der Kopplung soll die Theorie mit der Leitdifferenz von System und Umwelt das Problem der Vereinheitlichung der Vielheit beantworten.329 Dabei soll man von der Unterscheidung der Ebenen von Operation (Element, Ereignis) und Struktur ausgehen. Die operative Kopplung bezieht sich auf das einzelne Element, das gleichzeitig mehreren Systemen zugeordnet wird und dadurch die Systeme koppeln kann; die strukturelle Kopplung zielt hingegen eher auf die Abgrenzung der Teilsysteme ab. Eine strukturelle Kopplung ist keine Operation, sie wird als „gegeben“ unterstellt und steht gar „orthogonal“ zu Operationen.330 Nur die Operationen bauen systemeigene Strukturen auf, die strukturelle Kopplung tut es nicht. Außerdem besteht eine strukturelle Kopplung nur im System, nicht in der Umwelt. Sie hat die Funktion zu erfüllen, ein System „auf bestimmte Störungen“ aus der Umwelt zu konzentrieren.331 Ein System braucht seine Umwelt, soll aber nicht unbeschränkt allen Irritationen aus der Umwelt ausgesetzt werden, sonst geht es mit dem System so bald zu Ende.332 Die strukturelle Kopplung stellt die transportierende und sperrende Bahn der Irritationen zwischen Systemen dar, sie behindert und ermöglicht den Einfluss der Umwelt auf das System. Sie bewirkt eine einschränkende Verknüpfung zwischen Systemen und spezifiziert dadurch auch die funktionale Differenzierung der Systeme. Dabei besteht diese Kopplung immer innerhalb des Systems und ist auf die Struktur bezogen. Man könnte die koppelnde Funktion nach außen dann darin sehen, dass sie die Strukturen der gekoppelten Systeme – die jeweilige Einschränkung der Anschlussmöglichkeiten in einem System – aufeinander einstellt. 329 Die Theorie von operativer und struktureller Kopplung von ausdifferenzierten Systemen wird in Luhmanns Systemtheorie besonders im Hinblick auf die moderne Gesellschaft entwickelt. Aber so wie sich die Vervielfältigung der sozialen Realität durch Systemdifferenzierung auf die traditionelle und auch moderne Gesellschaft beziehen kann, wobei es an dem Unterschied von homogener oder heterogener Vervielfältigung liegen könnte, könnte auch die Theorie der strukturellen und operativen Kopplung auf unterschiedliche Gesellschaftstypen allgemeine Anwendung finden. Luhmann zufolge muss dabei nur genug abstrahiert werden (vgl. SS, S. 263, Anm. 37). 330 RdG, S. 445. 331 RdG, S. 445. 332 Als ein Beispiel: „Alle denkbaren Pressionen [aus der Umwelt] deformieren das Recht“ (RdG, S. 445). Deshalb muss jedes System – auch das Rechtssystem – für sein Überleben die für es notwendigen Irritationen selber auswählen können.
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B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
Dabei wird trotz der operativ geschlossenen Grenze zwischen System und Umwelt ein „Materialitätskontinuum“ vorausgesetzt: „Alles Einrichten und Erhalten von Systemgrenzen […] setzt ein Materalitätskontinuum voraus, das diese Grenzen weder kennt noch respektiert.“333 Die Grenze wird im Rahmen der Unterscheidung von Handeln / Beobachten durch Operation „systemrelativ, aber gleichwohl objektiv“334 eingeführt und erst auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung erkennbar.335 Die ‚Realität‘ wird dann systemrelativ hergestellt und sie erlebt eben aufgrund von Emergenz und Differenzierung „Unterbrechung und Neubeginn des Aufbaus von Komplexität“.336 Die Realitätsebenen werden also unterbrochen und die Systeme anhand einer Grenze voneinander abgegrenzt. Aber „Grenzen sind nicht zu denken ohne ein ‚dahinter‘, sie setzen also die Realität des Jenseits und die Möglichkeit des Überschreitens voraus.“337 Es besteht also immer die Realitätskontinuität, was allein die operative und strukturelle Kopplung ermöglicht.338 Vor diesem Hintergrund bewirkt die strukturelle Kopplung die „Umformung analoger (gleichzeitiger, kontinuierlicher) Verhältnisse in digitale, die nach einem entweder / oder-Schema behandelt werden können, und ferner Intensivierung bestimmter Bahnen wechselseitiger Irritationen bei hoher Indifferenz gegenüber der Umwelt im übrigen.“339
Aber nicht alle Systeme koppeln strukturell mit allen anderen. Unter den Systemen werden nur bestimmte strukturelle Kopplungen für ‚Digitalisierung des Sinns‘ aus Irritationen produziert und aufrechterhalten.340 Dadurch befördert und verstärkt die strukturelle Kopplung zwischen System und 333 GdG,
S. 100. S. 244. 335 Vgl. GdG, S. 93. 336 SS, S. 44. 337 SS, S. 52. Beachtenswert ist, dass die beiden Begriffe Grenze und Differenz eng miteinander verbunden sind (vgl. SS, S. 53 f.). Man soll die Differenzerfahrung – Form und Realität – wiedererkennen. 338 Man sieht hier mit Bezug auf die Welt den Zusammenhang von Grenzsetzung, Abgrenzung und Entgrenzung. Das kontinuierliche Material kann man wohl wie „die ‚Ursuppe‘ oder den Weltzustand der Entropie als zugleich einfach und komplex […], also als Paradox“ verstehen (Luhmann, Die Soziologie des Wissens, in: ders., GuS 4, 1999, S. 157). 339 GdG, S. 779. 340 In diesem Sinne gelten Verfassung, Eigentum, Vertrag und zentrale Notenbank als eigens entwickelte strukturelle Kopplungen. Nowak, Die Verfassung als strukturelle Kopplung von Politik und Recht, 2007, S. 40, begreift strukturelle Kopplung als wechselseitige Beobachtbarkeit und Irritierbarkeit. Wechselseitige Beobachtungen können alle Systeme gegenüber allen anderen machen, aber nicht zwischen allen Systemen besteht strukturelle Kopplung. Und sie bringt das Verhältnis von entweder / oder hervor, die Autorin zielt aber gerade auf die verknüpfende Identität zwi334 SS,
V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung103
Umwelt zugleich die Entwicklung bestimmter Strukturen innerhalb des Systems. Die Kopplung bewirkt nämlich katalysatorisch die Ausdifferenzierung der Systeme. Und die Gesellschaft als Ganzheit wirkt sich auch nur durch die Bahnen struktureller Kopplung in Gestalt bestimmter Irritationen, die bestimmte Teilsysteme immer beschäftigen, auf der Ebene der Teilsysteme aus.341 Die Irritationen aus der gesellschaftsinternen Umwelt tragen zum Wachstum der Systeme bei und insofern können sie – entsprechend der ‚Form‘ im System – als ‚Grund‘ der Systeme angesehen werden: „Die Umwelt ist der Grund des Systems, und Grund ist immer etwas ohne Form. Möglich ist nur die Einrichtung von Differenzen im System […], die auf Differenzen in der Umwelt reagieren und dadurch für das System Information erzeugen.“342
Die Irritationen, die die strukturellen Kopplungen zu filtern haben, ergeben sich ja daraus, dass das kontinuierliche Material unterschiedlich ‚digitalisiert‘ werden kann. Dann können die Systeme mit je digitalisiertem Eigen-Sinn einander nicht mehr verstehen. Damit wird das Problem der operativen Kopplung auch angesprochen, die sich auf dasselbe Ereignis mit mehreren Zugehörigkeiten bezieht. Dies lässt ein identisches Ereignis zu mehreren Elementen werden. Dadurch wird die theoretische Vereinbarkeit zwischen Identität und Differenzlogik in Frage gestellt. Die operative Kopplung würde nämlich mit der theoretischen Ausgangsannahme unvereinbar sein, dass die Elemente doch nur anhand eigener Selbstreferenz der jeweiligen Systeme produziert werden können. Und dies würde konsequent die Differenzlogik zu Fall bringen. Luhmann schreibt über operative Kopplung aber: „Es bleibt zwar richtig, daß interpenetrierende [nämlich strukturell koppelnde] Systeme in einzelnen Elementen konvergieren, nämlich dieselben Elemente benutzen, aber sie geben ihnen jeweils unterschiedliche Selektivität und unterschied liche Anschlußfähigkeit, unterschiedliche Vergangenheiten und unterschiedliche Zukünfte. Die Konvergenz ist, da es sich um temporalisierte Elemente (Ereignisse) handelt, nur je gegenwärtig möglich. Die Elemente bedeuten daher, obwohl sie als Ereignisse identisch sind, in den beteiligten Systemen verschiedenes; Sie wählen aus jeweils anderen Möglichkeiten aus und führen zu jeweils anderen Konsequenschen Recht und Politik (für die EU) ab, wobei die aus der operativen Geschlossenheit resultierenden Schwierigkeiten – die Differenzlogik – unberücksichtigt bleiben. 341 Vgl. GdG, S. 780. 342 SS, S. 602. Die strukturelle Kopplung zwischen sozialem und psychischem System wird eigens als ‚Interpenetration‘ bezeichnet. Was über strukturelle Kopplung im Allgemeinen gesagt wird, gilt auch für Interpenetration im Besonderen, vgl. SS, S. 292: „Soziale Systeme entstehen auf Grund der Geräusche, die psychische Systeme erzeugen bei ihren Versuchen zu kommunizieren.“
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zen. Das heißt nicht zuletzt: daß die als nächstes sich ereignende Konvergenz wieder Selektion ist; daß also die Differenz der Systeme im Prozeß des Inter penetrierens reproduziert wird.“343
Ein Ereignis ist identisch für alle Systeme und gleichzeitig verschieden je für ein bestimmtes System. „Was immer passiert, passiert mehrfach – je nach Systemreferenz. […] Und dies, obwohl es für alle Systeme dasselbe Ereignis ist!“344 Genau an einem einzelnen, momentanen und gegenwärtigen Ereignis erscheint die Einheit und Vielheit der Gesellschaft, die unitas multiplex, die die operative Kopplung zum Ausdruck bringen soll. Die Teilsysteme konvergieren zwar momentan jeweils an einem einzelnen Element, von dort aus werden sie aber sofort wieder selektiv anders angeschlossen werden. Dadurch werden Differenz und Identität zusammengebracht. Wie sollte man nun das Verhältnis von Identität, Verschiedenheit und Differenzlogik erklären? An diesem Punkt wird die logische Schwierigkeit der Systemtheorie auf eine Aporie zugespitzt.345 Mir scheint die Pointe des Zusammenhangs der Gesellschaftsdifferenzierung angesichts von struktureller und operativer Kopplung darin zu bestehen, dass man von der Verzeitlichung anhand der Vorher / Nachher-Differenz der Gegenwart ausgehen muss. Es wird dabei das kontinuierliche Material vorausgesetzt, das die Stellung der ursprünglichen und unbeobachtbaren Welt besetzt und die ‚Kontinuität der Unterscheidung‘ garantiert: „Distinction is perfect continence.“ (Spencer Brown) Dann tut sich die Differenz anhand der Zeit in der Welt auf, so dass die Welt verletzt und beobachtbar wird. Das Material und die Welt werden damit temporalisiert und das momenthafte Ereignis kommt dadurch hervor. Ein Ereignis bedeutet genau die Differenz von Vorher und Nachher. Erst dann wird die Bedingung der Möglichkeit von Systembildung und Gesellschaftsdifferenzierung – Vorgang der wiederholten Systembildung im System – bereitgestellt, indem der notwendige Perspektivenwechsel mit den temporalisierten 343 SS, S. 293. Vgl. WissendG, S. 32: „Auch innerhalb des Kommunikationssystems Gesellschaft sind ja Mehrsystemzugehörigkeiten von Ereignissen (zum Beispiel eine Zahlung als Änderung eines Rechtszustandes) zu beobachten. Solche Mehrsystemereignisse haben jedoch nicht nur eine Geschichte, sondern mehrere Geschichten und je nach System verschiedene.“ Vgl. auch GdG, S. 605. 344 GdG, S. 599. 345 Daher meint Jung, dass die Differenzlogik in den Selbstwiderspruch zu geraten und in die Ontologie der Identität einer Substanz zurückzufallen droht. Jung, Identität und Differenz, 2009, S. 50 f.: „Elemente, die unabhängig oder jenseits von systemspezifischen Sequentialitäten existieren, kann es in diesem begrifflich-konzeptuellen Rahmen ebenso wenig geben wie ein Operieren jenseits der Grenzen von Systemen. […] Das Konzept einer Identität der Elemente steht allerdings im Widerspruch zu einem differenzlogischen Verständnis gesellschaftlicher Teilsysteme als operativ geschlossene, selbstreferentielle Systeme.“
V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung105
Elementen (Ereignissen bzw. Handlungen) ermöglicht wird. Die Selbstreproduktion des kommunikativen Systems erfordert nämlich „einen ständigen Perspektivenwechsel“, den Wechsel zwischen der System / UmweltDifferenz – hier: der Differenz von Teilsystem und Gesamtsystem Gesellschaft als Umwelt – einerseits und der Selbstreferenz des Teilsystems andererseits.346 In diese Selbstreferenz muss die Einheit der Differenz (von Teil / Ganzem) überführt und darin verarbeitet werden, wobei die Ganzheit stets sowohl innerhalb als auch außerhalb des Systems – unitas multiplex in einem Element – bewahrt wird. Das Ereignis als temporalisiertes Element muss nämlich „zeitpunktbezogen“ und „abstrakter“ konstituiert werden, um „in einem solchen Gesamtsystem dann noch über Differenzierungsschranken hinweg als Element fungieren“ bzw. „über Systemgrenzen hinweg verknüpfen“ zu können.347 Das Ereignis ist also zum einen allen Systemen gemeinsam, dabei ist es unqualifiziert und selbst identisch (self-identity); es wird zum anderen in die Selbstreferenz der Teilsysteme überführt und anhand unterschiedlicher Differenzen von Relation / Element qualifiziert, es ist selbst verschiedentlich (self-diversity).348 Das heißt: Alle Systeme konvergieren immer an ereignishaften einzelnen Operationen, sie machen daraus aber jeweils eigene Elemente und schließen daher dieselbe Operation an die andere, aber immer nur eigene Operation an. Daher hat ein und dieselbe Operation unterschiedliche Geschichten, je nachdem, in welchem System sie jeweils angeschlossen wird. So schreibt Luhmann: „Entsprechend haben wir den Begriff des Elements entontologisiert. Ereignisse (Handlungen) sind keineswegs Elemente ohne Substrat. Aber ihrer Einheit entspricht keine Einheit ihres Substrats [im Sinne des kontinuierlichen Materials]; sie wird im Verwendungssystem durch Anschlußfähigkeit erzeugt.“349
Auf diese Weise funktioniert die operative Kopplung deontologisierend. Dadurch werden aber zugleich die Irritationen unter Teilsystemen erzeugt, mit denen sich die strukturelle Kopplung als selektierende Bahn beschäftigt. Die strukturelle Kopplung gewährleistet, dass die unterschiedlichen Qualifikationsweisen ein und desselben Elementes abgrenzend funktionieren können. Die operativ geschlossenen Systeme können nicht alle Irritationen aus der Umwelt zulassen, sondern sie müssen je in ihrer strukturellen Weise auswählen, wobei sie für die eigene Selbstreproduktion ebenfalls auf andere Systeme in der Umwelt achtgeben müssen. Die Systeme werden auf einer Seite an prinzipiell unendlichen Punkten miteinander ‚operativ‘ gekoppelt, 346 SS,
S. 262 f.; vgl. SS, S. 38. S. 263. 348 Vgl. SS, S. 42 f., S. 292 f. 349 SS, S. 292. 347 SS,
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sie können aber auf der anderen Seite ihre abgrenzende Differenzen ‚strukturell‘ bewahren und koordinieren.350 Die strukturelle und operative Kopplung beziehen sich aufeinander aber doch in der systemtheoretischen Differenzlogik. Auf der Ebene der Operation können die beiden Kopplungen nicht gesehen werden, da eine Operation sozusagen blind abläuft und schlicht tut, was sie tut; allein anhand der Unterscheidung von Handlung und Beobachtung können sie dann beobachtet werden.351 In Bezug auf die Reproduktion autopoietischer Systeme könnte man sagen, dass mit der operativen Kopplung der Punkt des laufenden Verstehens im Kommunikationsprozess und der Punkt der Gegenwart-Differenz konvergieren. Genau hierin liegen ebenso der Punkt der Differenz-Einheit und der Punkt der Identität des Systems.352 An diesem Punkt zeigt sich ein Ereignis zugleich als ‚self-identity‘ und ‚self-diver sity‘, was die Systemdifferenzierung überhaupt ermöglicht. Dabei können die Teilsysteme mithilfe struktureller Kopplungen selektiv entscheiden, wie sie zeitlich, sachlich und sozial die Komplexität des Gesellschaftssystems aufnehmen und darauf reagieren, damit Strukturen aufbauen und eigene Elemente – self-diversity des Elementes – je anders qualifizieren.353 Die Teilsysteme überschneiden sich daher nicht, obwohl ein identisches Element mehrere Systemzugehörigkeiten aufzeigt. Die Identität muss von der Differenz her erfasst werden. Und dies hängt mit dem Problem des Sinnschemas zusammen. Luhmann schreibt: 350 Vgl. Krause, Luhmann-Lexikon, 2001, S. 162: Operative Kopplung ist strukturelle Kopplung im Vollzug. Man soll nicht vergessen, dass die Operationen der Teilsysteme zugleich Operationen der Gesellschaft sind. Außerdem wird hiermit nur der Gedankengang von operativer und struktureller Kopplung versuchsweise rekonstruiert, um die behauptete Differenzlogik aufzuzeigen. Die logischen Schwierigkeiten mit ‚self-identify‘ und ‚self-diversity‘ des zwiespältigen Elementes sowie mit der qualifizierenden Relation werden damit noch nicht ausgeräumt. 351 Vgl. GdG, S. 93. Auch WissendG, S. 88: „Eine besondere Leistung der Beobachtung besteht vor allem darin, Ereignisse mit Mehrsystemzugehörigkeit als Einheiten identifizieren zu können.“ Die Theorie der Beobachtung schießt die Sinnzuschreibung ein. Luhmanns Formulierung legt oft eine Identitätslogik nahe, wobei wie üblich zwischen Identität als solcher und Identifizierung nicht unterschieden wird. Dadurch würde man weiter um Differenzlogik und Identitätslogik streiten. 352 Vgl. SS, S. 38. Es wird erinnert, dass mit Differenz die Identität und auch die oft vernachlässigte Verschiedenheit verbunden werden. 353 An diesem Punkt des operativ koppelnden Ereignisses kommt auch die umstrittene, abgerissene Einheit der Gesellschaft zum Vorschein. „Tatsächlich führt die Ausdifferenzierung, die von Parsons so genannte ‚Revolution‘ zu einem Abreißen der gesamtgesellschaftlichen Koordination der Funktionssysteme“ (PdG, S. 135 f.). Die Identität der Gesellschaft fungiert deshalb als ein beunruhigendes Problem der miteinander in Konflikt geratenen Identitäten.
V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung107 „Die Integration liegt nicht in einer letztlich zu Grunde liegenden (substantiellen, subjekthaften) Identität und auch nicht (wie zumeist gesagt wird) in einem par tiellen Sichüberschneiden der Systeme. Sie liegt darin, daß verschiedene Systeme in der Reproduktion ihrer Elemente dasselbe Differenzschema verwenden, um Informationen zu verarbeiten, die sich aus den komplexen Operationen des jeweils anderen Systems ergeben. Nicht Einheit, sondern Differenz ist die Interpenetra tionsformel, und sie bezieht sich nicht auf das ‚Sein‘ der Systeme, sondern auf ihre operative Reproduktion.“354
Am Anfang steht nämlich die Differenz im Sinne desselben Differenzschemas von Teilsystem / Gesellschaft. Mit diesem Differenzschema wird die Einheit der alle Teilsysteme umfasssenden Gesellschaft abgefangen.355 Das Schema fungiert so als ‚Interpenetrationsformel‘ für alle Systeme, nur es kann von dem jeweiligen System anders eingesetzt werden. Dies bedeutet, dass das Differenzschema zugleich auf die selbstreferentiell operative Reproduktion innerhalb der Systeme bezogen wird. Deshalb schreibt Luhmann weiterhin: „Dieses Sinnschema läßt sich dann, je nach Bedarf, weiter präzisieren und gegen andere Schematisierungen absetzen. Auf diese Weise wird am einzelnen Element eine strukturierte Offenheit hergestellt, die von den interpenetrierenden Systemen in verschiedener Weise in Anspruch genommen werden kann.“356
Die Einheit der Welt wird immer an die Selbstreferenz der Systeme gebunden, die trotz der operativen Kopplung doch voneinander abgrenzend operieren.357 354 SS,
S. 315. der Perspektive der Zeit könnte man auch die gegenwärtige Differenz von Vorher / Nachher als die Interpenetrationsformel sehen, weil die Systeme immer gleichzeitig, also zum selben Zeitpunkt, operieren. Die Zeit durchdringt alle Systeme, setzt sich über alle Grenzen der Systeme hinweg, macht alle betroffen und verbindet alle. Insofern gilt die Zeit auch als Lösung der Paradoxie der Einheit (vgl. SS, S. 231). 356 SS, S. 315. 357 Ich interpretiere „dasselbe Differenzschema“ als Differenzierungsmuster der ganzen Gesellschaft, das von allen Systemen jeweils präzisierend in Anspruch genommen wird. Da die Systeme operativ geschlossen bleiben müssen, hält Jung, Identität und Differenz, 2009, S. 55, dasselbe Differenzschema mehrerer Systeme für unmöglich: „Die Differenzschemata sind also nicht identisch, sondern analog.“ Und daher hat ein Element nur analoge Bedeutung (Jung, ebd., S. 56): „Ein Umweltereignis hat also in den gekoppelten Systemen eine ähnliche Bedeutung, weil es im Rahmen analoger Differenzschemata kontextuiert wird.“ Es gibt demnach nur analoge Differenzschemata und analoge Bedeutungen. Diese Ansicht widerspricht aber direkt dem Prinzip der funktionalen Differenzierung. Eher ist m. E. das Differenzschema genau ein und dasselbe, das von allen Teilsystemen geteilt wird; die Bedeutungen sind aber nicht analog ähnlich, sondern ganz verschieden. Jung sieht dann den Grund eines für mehrere Systeme identischen Elementes im kontinuierlichen Material: „Es handelt sich also bei Mehrsystemereignissen […] um eine auf der 355 Aus
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B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
b) Inklusion / Exklusion und Gesellschaftsformen Da die Systembildung immerfort auf der Grundlage doppelter Kontingenz der Personen erfolgt, hat die Gesellschaftsdifferenzierung außer der Seite der Kopplungen der Teilsysteme auch eine Kehrseite und wirkt sich nämlich auf das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum aus. Dieses Verhältnis als ein anderes grundlegendes Problem bei der Gesellschaftsdifferenzierung wird dann als Inklusion eines Individuums in die Gesellschaft und als seine Exklusion aus ihr artikuliert. Für In- und Exklusion gibt es dabei unterschiedliche Regeln, die man in zwei Dimensionen als Kriterien einordnen kann: gleichartig / ungleichartig und gleichrangig / ungleichrangig.358 Mit den betreffenden Regeln zusammenhängend gibt es vier historisch sich durchsetzende und somit herrschende Formen der Gesellschaftsdifferenzierung: segmentäre Differenzierung, Zentrum / Peripherie-Differenzierung, hierarchiEbene des zeitlichen und materiellen Realitätskontinuums zwischen System und Umwelt gegebene Identität des kommunikativen Ereignisses. Auf der Ebene der systeminternen ‚Realität‘, d. h. als Elemente (bzw. Operation) des Systems hingegen handelt es sich um unterschiedliche Kommunikationen“ (Jung, ebd., S. 58–59). Die analoge Kontinuität des Materials ist aber mit der zeitpunktbezogenen Identität eines Ereignisses unvereinbar. Außerdem scheint Jung mit dem Materialitätskontinuum das Realitätskontinuum gleichzusetzen, insofern steckt die Realität noch in der alteuropäischen Ontologie; bei Luhmann bedeutet sie im Rahmen der Differenzlogik eher Unterbrechung des Kontinuums: „Realität ist die Differenz von System und Umwelt, also Umwelt in Differenz zum System und System in Differenz zur Umwelt“ (WissendG, S. 318, dazu vgl. SS, S. 44). Die Realitätskontinuität weist vielmehr auf die traditionelle Ontologie hin: „So kann man davon ausgehen, daß es ein Realitätskontinuum der Welt […] gibt, in dem alles, was es gibt, die Form des Seienden oder noch genauer: die Form des (sichtbaren und unsichtbaren) Dings (res) annimmt“ (GdG, S. 905 f.). Das Realitätskontinuum bezieht sich also auf das Sein bzw. die Identität im Sinne einer irgendwie gearteten Substanz mit der ontologischen Funktion des Einheitsprinzips (SS, S. 315). Was Luhmann verabschieden will, wird ihm von Jung als theoretischer Fehler vorgeworfen. Demnach würde die Theorie struktureller Kopplung – und auch die Verfassung als Recht und Politik trennende strukturelle Kopplung – bei Luhmann fallen. So fängt Luhmann nach Jung eigentlich mit Identität, nicht mit Differenz, an. Anders als Jung aber soll das analoge und kontinuierliche Material m. E. von dem zeitpunktbezogenen Ereignis sorgfältig getrennt werden. Zu ähnlichem Einwand Luhmanns gegen Wil Marten siehe GdG, S. 92, Anm. 123. Luhmann verfolgt zwar einen nicht substanziellen Identitätsbegriff, er bietet allerdings – auch mit Funktionsorientierung – noch kein alternatives Verständnis der Identität an; trotzdem ist es wichtig, Identität zusammen mit Differenz und Kontingenz zu denken (vgl. SS, S. 315). 358 Vgl. Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, 2000, S. 150. Luhmann spricht von der Differenz von gleich und ungleich: nach „Arten von Personen“, nach „Qualität“, nach „Bestimmung zum Leben“, nach „Ranggruppen“ und schließlich nach „Menschen“ (Luhmann, SS, S. 264). Die Differenzierung nach „Menschen“ bringt das Problem der Werte mit sich; dies soll auch den Hintergrund des Verständnisses der Menschenrechte ausmachen.
V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung109
sche bzw. stratifikatorische Differenzierung und schließlich funktionale Differenzierung.359 Diese jeweilig führenden Differenzierungsformen mit ihren Regeln für Inklusion und Exklusion stellen die grundlegende Struktur der Gesellschaft dar, indem sie einerseits den Raum der jeweils erreichbaren sozialen Kommunikationen einschränkend abstecken und andererseits die Zuweisung der Plätze zu Individuen in der Gesellschaft vorsehen. Die Inklusionsregeln variieren mit der Strukturbildung der Gesellschaft. Da die soziale Ordnung die Strukturbildung der Sozialsysteme erfordert und die Strukturen zwangsläufig ‚diskriminieren‘ bzw. differenzieren, findet die Inklusion deshalb nur im Rahmen erwartungskomplementären Handelns statt. Die Exklusion stellt aber die „Gegenstruktur“ der Inklusion dar, sie begründet nach Luhmann sogar den Sinn und die Form sozialer Ordnung gerade durch „die Existenz nichtintegrierbarer Personen“.360 Die soziale Ordnung stellt also eine Form mit zwei Seiten dar, sie enthält notwendigerweise Inklusion und Exklusion. Die Differenzierungsformen der Gesellschaft – das Verhältnis der Sozialsysteme zueinander – und die Regeln für Inklusion und Exklusion der Individuen – das Verhältnis der Gesellschaft zu Individuum – bedingen einander.361 Dieser begriffliche Zusammenhang bietet den theoretischen Rahmen für die darzustellende geschichtliche Entwicklung.362 Die segmentäre Gesellschaft richtet sich an dem Prinzip der Abstammung bzw. der Residenz aus. Die differenzierten Segmente sind im Prinzip gleichartig und gleichrangig. Die Inklusion erfolgt durch die Zuordnung zu einem 359 Vgl. SS, S. 261. Die Differenzierung von „konform / abweichend“ (SS, S. 261) scheint quer zu allen geschichtlichen Formen zu stehen. Sie soll die charakterisierende Eigenschaft der Normativität darstellen, ohne sie würde keine Form der Gesellschaftsdifferenzierung möglich sein (vgl. SS, S. 400). 360 GdG, S. 621. Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft bedeutet einerseits die Auflösung des hierarchischen Inklusionsmusters und andererseits die Inklusion aller Individuen. Ob das Ideal angesichts der Formtheorie der sozialen Ordnung zu erreichen ist, scheint aber fragwürdig zu sein. Und weil die Einheit der Gesellschaft aufgrund funktionaler Differenzierung durch ihre Teilsysteme vervielfacht wird, wird auch eine Exklusion aus einem Teilsystem strukturell vervielfacht. Eine Kette der Exklusionen bildet sich daraus und erzeugt einen verheerenden Effekt für die Betroffenen. Im Zusammenhang der Menschenrechte als Prinzip der Inklusion wird die Exlusion in Bezug auf Struktur betrachtet. 361 Hier ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Gesellschaftsform bzw. Inund Exklusion immerhin nur von der positiven Seite aus beobachtet und angeschlossen werden. Sie setzen nämlich voraus, „daß man an der Differenzierung selbst und ihren Inklusionsregeln teilnimmt, und nicht auch davon noch ausgeschlossen wird“ (GdG, S. 622). 362 Im Allgemeinen erfasst die (begriffliche) Einheit durch die Differenz von System und Umwelt die Einheit in der Differenzierung der Gesellschaft mit deren geschichtlichen Formen.
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Segment. Weil man außerhalb der Gesellschaft alleine nicht zu existieren vermag, gibt es auch kaum Exklusion. Und alle Mitglieder werden in die Familie und weitere Segmente eingegliedert.363 Die erreichbare Komplexität der sozialen Kommunikation bleibt relativ beschränkt, die Gesellschaft wird hauptsächlich durch die Interaktionen der Anwesenden reproduziert. Die Reziprozität im Sinne von gleich-zu-gleich gilt als Grundnorm, die die Aufrechterhaltung der segmentären Differenzierung begünstigt.364 Die stratifikatorische Differenzierung findet ihren Ausdruck in Hochkulturen. Diese Differenzierungsform orientiert sich historisch wohl zuerst an der Differenz von Zentrum und Peripherie, auf dieser Grundlage entwickelt sich dann als zusätzliche Differenz die Hierarchisierung durch soziale Schichtung.365 Insofern kann die Spitze der Hierarchie vom Zentrum aus die Außengrenze des ganzen Gesellschaftssystems kontrollieren. Die hierarchische Differenzierung wird dabei durch die Zentrum / Peripherie-Differenz – Stadt und Land – sozusagen ‚gegliedert‘. Die segmentäre Differenzierung besteht einerseits räumlich insbesondere auf dem Land weiter, sie findet aber andererseits innerhalb jeder Schicht unter der hierarchischen Vorgabe statt. Die Inklusion erfolgt durch die Zuordnung zu einem Schicht entsprechenden Haushalt, und zwar nach Geburt bzw. Aufnahme. Dabei wird besonders im Zentrum der Adel weiterhin nach Rängen hierarchisiert und die Oberschicht schließt sich durch Endogamie ab.366 Die Teilsysteme sind ungleichartig und auch ungleichrangig; die Gesellschaft als Ganzes bzw. Einheit wird durch die hierarchische Spitze in der Oberschicht repräsentiert. Diese Schicht als Spitze repräsentiert somit die Identität der ganzen Gesellschaft; und sie kann dies erreichen, indem nur sie über die Fähigkeit zur Selbstbeschreibung verfügt, die Zugänge zu Ressourcen kontrolliert und damit die soziale Ordnung bestimmt. Die Kontakte zwischen Zentrum und Peripherie bleiben allerdings relativ gering; dies bedeutet, dass die politische Macht vor der Entstehung des modernen Territorialstaates noch nicht die Gesellschaft durchdringen kann. Beachtenswert ist, dass die Exklusion vor dem Hintergrund jetzt durch „Unterbrechung von Reziprozitätserwartungen“ vollzogen wird, während die Inklusion für Unterschiede durch Systemdifferenzierung sorgt. Aber ebenso 363 Die archaische Gesellschaft, die in Horden lebt und sich an Alter und Geschlecht orientiert (GdG, S. 612), bleibt hier unberücksichtigt; ihr fehlt es allerdings an der evolutionären Errungenschaft Familie, die als Segment eine „künstliche Einheit“ für Differenzierung der doch vor ihr bestehenden Gesellschaft darstellt (GdG, S. 634 f.). 364 Vgl. GdG, S. 650 f.; über die Rechtsentwicklung in segmentärer Gesellschaft vgl. GdG, S. 638–640. 365 Vgl. SS, S. 261; GdG, S. 613. 366 GdG, S. 695–701.
V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung111
anders als in segmentären Gesellschaften, in denen die Exklusion in Form der Vertreibung ins Freie – auch Freigabe zur Tötung – durchführt wird, wobei kaum jemand überleben könnte, wird die Exklusion als „undifferenzierter Restbestand“ nun auch „innergesellschaftlich“ vorgenommen, und zwar durch religiöse Sinngebung bzw. Arbeitsorganisation für diesen Bereich.367 Man sieht, dass die Differenz von Gesellschaftssystem und (natürlicher) Umwelt in die Gesellschaft selber überführt bzw. wiedereingeführt (re-entry) wird. Daran könnte man die deutliche Ausdifferenzierung der Gesellschaft aus der Welt – Gesellschaft als eigens bestehendes Sozialsystem – beobachten. Mit der geschichtlichen Entwicklung stellen dann die Korruption und der Untergang des Adels diese Differenzierungsform – Hierarchisierung der Differenz von Ganzem / Teil – und somit auch die In- und Exklusion durch Schichtung in Frage. Historisch bedeutet dies, dass die Hierarchisierung als Form des Gesellschaftssystems allmählich in Konflikt mit ihrer eigenen ehemaligen Voraussetzung, nämlich der Differenzierung von Zentrum und Peripherie, gerät. Die Spitze des Zentrums verliert die Kontrolle über die abgrenzende Beziehung des Gesellschaftssystems zur Umwelt, sie kann nicht mehr die alle Teilsysteme zusammenhaltende Außengrenze des Systems bestimmen und die Herstellung von Einheiten und Differenzen im System regulieren. So repräsentiert die Spitze nicht mehr die Identität des Systems, indem die durch die Differenz gestiftete Einheit nicht bei ihr in das System wieder eintritt. Der Vorgang erscheint als eine dialektische Entwicklung beider Prinzipien in der stratifikatorischen Gesellschaft und dies führt schließlich zur funktionalen Differenzierung.368 Interessanterweise haben dabei gerade die am gesellschaftlichen Rand umherziehenden Statuslosen, die sich im Exklusionsbereich in der Gesellschaft aufhalten und eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, die historische Wanderung in die moderne Gesellschaft ausgelöst – in eine Gesellschaft ohne Zentrum und Spitze.369 Die funktionale Differenzierung überlagert nun die weiter bestehende segmentäre und stratifikatorische Differenzierung. Was zuvor als „undifferenzierter Restbestand“ im Exklusionsbereich bleibt, wird heute zum ‚Prinzip des Menschen‘. Inklusion und Exklusion werden sozusagen umgepolt. Obwohl die moderne Gesellschaft sich „am Menschen“ ohne ranggemäße Unterschiede orientiert, erfordert diese Orientierung an der „Ideologie“ des freien und gleichen Menschen aber doch wieder Unterschiede anhand der „Werte“.370 Folgerichtig ist, dass Gleichheit und Ungleichheit gleichzeitig zunehmen. 367 GdG,
S. 623 f. SS, S. 261. 369 Vg. GdG, S. 624 f. 370 SS, S. 264. 368 Vgl.
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Die moderne Gesellschaft versetzt also das Individuum außer Haus und Schicht, geht von „Nichtseßhaftigkeit“ aus, so „daß die konkreten Indivi duen nicht mehr konkret placiert werden können“.371 Das Individuum hat „keinen sozialen Status, der zugleich das definiert, was der Einzelne nach Herkunft und Qualität ‚ist‘ “.372 Die funktionale Differenzierung entzieht der Ist-Ontologie die gesellschaftlich-strukturelle Grundlage. Das Individuum erhält seine Individualität nicht mehr durch Inklusion, sondern umgekehrt durch Exklusion, es steht sozusagen außerhalb der Gesellschaft und hat daher nicht Inklusionsindividualität, sondern die Exklusionsindividualität.373 Das Individuum muss dann erneut in die Gesellschaft eingeschlossen werden. Dafür muss das Individuum seine Kopplung mit Funktionssystemen ständig wechseln, womit seine Handlung Anschluss finden und kommunikativ je wirtschaftliche, rechtliche oder andere Sinngebung erhalten kann.374 Diese „Exklusionsindividualität“ hat also gar noch stärkere Abhängigkeit zur Folge.375 So muss man alle Teilsysteme durchlaufen und immer unterwegs sein. Die (soziale) Identität und die Selbstverwirklichung werden nun überhaupt zum Problem; und es wird typisch, zu erklären, „wer man ist“, aber schließlich kann man „eigentlich nicht wissen, wer man ist, sondern muß herausfinden, ob eigene Projektionen Anerkennung finden“.376 Das 371 GdG, S. 624 f. Die Christianisierung, die Benutzung des römischen Rechts für die Regelung der In- und Exklusion, die Nichtsesshaftigkeit und die Orientierung am unterschiedlosen Menschen als Individuum scheinen in der Tendenz von Abstraktion und Universalisierung zusammenzufallen, um dann den Übergang zur funktionalen Differenzierung zu ermöglichen und zu intensivieren. 372 GdG, S. 625. Vgl. RS, S. 148: In der segmentären Gesellschaft ist das Strukturprinzip der Verwandtschaft dagegen selbstverständlich und alternativlos und „man ist eben verwandt“. 373 Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., GuS 3, S. 158 f. 374 Vgl. GdG, S. 625. 375 „Die Semantik der Individualität scheint nun geradezu eine kompensatorische Funktion für stärkere Abhängigkeiten zu übernehmen. Das Individuum rettet sich in die Subjektheit und in die Einzigartigkeit als diejenige Beschreibung, die durch keinerlei empirisch-kausale Abhängigkeiten infrage gestellt werden kann“ (Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., GuS 3, S. 160). 376 GdG, S. 627. In diesem Zusammenhang schätzt man Luhmann zufolge wegen des Mangels an fester Identität die intimen Beziehungen, „in denen man rundum mit Neigungen und Schwächen bekannt ist und akzeptiert wird“ (GdG, S. 627). Die Intimität schließt „Inkommunikables ein und schließt damit auch die Erfahrung der Inkommunikabilität ein. Alter wird für Ego in Hinsichten bedeutsam, die Ego dem Alter nicht mitteilen kann“ (SS, S. 310). Es betrifft nämlich weder moralische noch sprachliche Grenze, sondern das, was prinzipiell nicht mitgeteilt werden kann. Das Liebespaar sucht dadurch die Abgrenzung von der Gesellschaft (Luhmann, Einführende Bemerkungen, in: ders., SA 2, 1982, S. 174 f.). Gewissermaßen fungiert die Intimität als „undifferenzierter Restbestand“ – Exklusionsbereich – für die moderne Welt. Aus einer anderen Perspektive sieht man mit Schmitz das Problem in der
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Individuum hat also keine vorgegebene Wesensbestimmung mehr für seine Identität, es kommt für seine Inklusion nun auf Sinngebung der Handlung im Kommunikationsprozess an. Entsprechend der Exklusionsindividualität des Individuums ohne feste Eigenschaft orientiert sich die Differenzierung der modernen Gesellschaft an Funktionen. Alle Funktionsbereiche beziehen sich je universal auf die ganze Gesellschaft und spezialisieren sich auf Lösung der Probleme. Die Gesellschaft kommt aufgrund der inneren System / Umwelt-Differenzen im systemtheoretischen Sinne vervielfältigt zum Vorschein. Die Inklusion der Individuen soll dabei ermöglicht werden. In traditionellen Gesellschaften wird die Homogenität der Welt durch Segmentierung bzw. durch die repräsentierende Spitze garantiert. Insofern kann die Welt als Ganzes in Teile dekompositiert werden und man hat trotzdem stets eine gemeinsame Welt, und zwar nur eine. Mit der funktionalen Differenzierung zeigt sich nun die Gesellschaft nach der Leitdifferenz von System / Umwelt mehrfach und je anders.377 Jedes Teilsystem beobachtet die Welt auf seine eigene Weise, verarbeitet die Weltkomplexität in eigener Selbstreferenz. Dabei verschärft sich das Problem noch durch operative und strukturelle Kopplungen. „Was immer passiert, passiert mehrfach – je nach Systemdifferenz.“378 Damit erhält „jedes Faktum und jede Möglichkeit in dieser Gesellschaft […] eine Mehrzahl gesellschaftlich relevanter sinnhafter Bedeutungen“.379 Die Welt, die Gesellschaft und das einzelne Ereignis kommen so oft und so oft anders vor. Das Kernproblem liegt darin, dass der generelle Orientierungskonsens an den Grenzen der Teilsysteme aufhört, obwohl sie über einander gut inTrennungsangst: Das Inkommunikable betrifft das einzige und unersetzbare Subjektive, was einen absolut und zugleich absolut isoliert macht und damit die Angst vor Trennung erzeugt (Schmitz, Die Aufhebung der Gegenwart, 1998, S. 165–169). Dies drängt zur Intimität. Andererseits sieht Schmitz in dem Verlust des selbstverständ lichen Status die Menschen von der Stellung in die Rolle versetzt und damit das Kindesalter verlassen, dadurch entsteht das Problem der „Entfremdung von sich und Unsicherheit im eigenen Sein“ (Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 28). Insofern gilt die Liebe als drängendes Problem des Subjektiven, das mit Luhmann in Exklusion leben würde. 377 Deshalb kann die moderne Gesellschaft nach Luhmann nicht mit Arbeitsteilung, kapitalistischer Gesellschaft, Industriegesellschaft u. ä. beschrieben werden. Diese Beschreibungen versuchen der modernen Gesellschaft ein Wesen zuzuschreiben. Außerdem setzen sie schon das Bestehen der sozialen Ordnung voraus, die es aber gerade zu thematisieren gilt. Die Gesellschaft ist voll von (universalen) Kontexten (polykontextural) oder mit Weber: Wertsphären. Sie ist „ausschließlich als Ordnung oder System […] als Regulativ des Erkennens, Handelns und Wertens“ zu verstehen (Schmindinger, Metaphysik, 2006, S. 22). Zudem noch ist sie eine vervielfachte Ordnung. 378 GdG, S. 599. 379 Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, 2000, S. 185.
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formiert werden könnten und immerhin die „Kategorisierbarkeit des Geschehens“ angesichts ein und desselben Ereignisses durch alle besteht.380 Die funktionale Differenzierung führt „zu einem Abreißen der gesamtgesellschaftlichen Koordination der Funktionssysteme“.381 Jedes Teilsystem folgt seiner eigener Logik, kennt seine eigene Welt, beansprucht seine legitime Indifferenz gegenüber der Umwelt. Alle geraten dann miteinander in Konflikte. Sie können aber doch nicht umhin, sich in einer gemeinsamen Welt zu begegnen. Dies führt konsequent zu einer hohen Dynamisierung der Gesellschaft, da Unabhängigkeit und Abhängigkeit voneinander gleichzeitig ungeheuerlich gesteigert werden. Die Gesellschaft durchläuft eine „allgemeine Verwandlung von Latenzen in Kontingenzen“,382 die ‚anderen bloßen‘ Möglichkeiten werden nun strukturell ermöglicht. Die gesellschaftliche Grenze, die zuvor anhand der Hierarchie noch gezogen werden kann, wird nun nur ständig verschoben, wobei die Welt und das Subjekt als „Grenzmarken“ ins Unbeobachtbare verlegt werden.383 Man könnte in der sich verschiebenden Weltgrenze in der Tat wieder die Differenzen sehen, die in den Sonderhorizonten der Sinndimensionen eingesetzt werden.384 Vor diesem Hintergrund muss die Gesellschaft mit ihrer problematischen Identität und ihrer abgerissenen Einheit konfrontiert werden, die sie selber hervor380 Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, 2000, S. 186. In diesem Zusammenhang erwähnt Schimank zwei Beispiele. Ein und demselben Ereignis eines Zugunglücks kann man politisch, wirtschaftlich, juristisch, erzieherisch usw. einen Sinn geben. Es wird in Funktionssystemen je nach ihren Schemata verarbeitet. Und einen festen Schubser können Ego und Alter gemeinsam als Missverständnis kategorisieren. Es scheint bemerkenswert zu sein: (i) Ein Zugunglück bzw. ein Schubser markiert eine deutlichere Differenz von Vorher / Nachher in der Zeitdimension, einen gemeinsamen Punkt, der sich auf die Funktionssysteme auswirkt und sie in Verarbeitungsgang setzt; (ii) erst diese markierten Zeitpunkte, aus welchen Anlässen auch immer, erinnern an die gemeinsame Welt und und stellen den Kohäsionsfaktor dar; (iii) ein ‚Zugunglück‘ scheint eine Semantik des Alltags zu sein, die noch nicht in ein bestimmtes Teilsystem eingerahmt wird. Es scheint also eine grundlegende Bedeutungsschicht vor den differenzierten Semantiken zu geben. 381 PdG, S. 136. Auch GdG, S. 742 f.: „Die Repräsentation der Einheit in der Einheit war differenzierungsformabhängig gewesen. Sie mußte aufgegeben werden“, weil jedes Teilsystem ihr eigenes Verhältnis von Zeitlichkeit und Sozialität „in sich“ aushandeln und die Gesellschaft repräsentieren muss, so dass es dafür „keine Reduktion mehr“, also keine Einheit mehr, gibt. Darum erscheint die Einheit als unlösbares Problem der Paradoxie. 382 PdG, S. 314. 383 PdG, S. 314; vgl. SS, S. 602; RdG, S. 176. 384 SS, S. 113–122. Dabei könnte man auch in dem unbeobachtbaren Subjekt einen differenzlosen Begriff – wie Welt, Sinn, Realität – vermuten, das dann in sich alle Werte konvergieren lässt. Die funktionale Differenzierung stellt daher nochmals eine Differenz (mit innerer Negation) dar, die die Welt überzieht.
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bringt. Und das Individuum, das um sein eigenes Selbst eigentlich auch nicht wissen kann und gar eine Inkommunikabiltät darstellt,385 muss sich darin (mithilfe der Menschenrechte) zurechtfinden. Somit wird dem ‚rationalen‘ bzw. ‚vernünftigen‘ Individuum auch die Funktion der Vermittlung der Funktionssysteme zugemutet, die jetzt mit ihrem jeweiligen Monopol nur „in sich besser zu koordinieren“ und „auf Koordination zwischen ihnen zu verzichten“ wissen.386 2. Funktionale Differenzierung Die funktionale Differenzierung überlagert die traditionelle Hierarchisierung als Ordnungsprinzip, sie deontologisiert die Seinsontologie auf der Ebene der Gesellschaft. Dabei kommt es auf den binären Code als innere Systemform an, der in Verbindung mit dem Kommunikationsmedium die Autonomie der Funktionssysteme ermöglicht. a) Ausdifferenzierung der Funktionssysteme Die moderne Gesellschaft bietet also niemandem einen festen Platz mehr an, sondern man kommt immer in einen neuen Status. Insofern ist jeder frei und gleich und bleibt in gewissen Maßen ein Neuankömmling, und die Gesellschaft befindet sich in einer permanenten hohen Mobilität. Für das Problem der Stabilität einer gesellschaftlichen Differenzierungsform – welcher Typ auch immer – ist aber nicht die Mobilität an sich entscheidend, sondern es kommt darauf an, ob „die Neuankömmlinge wissen oder lernen können, auf was es in ihrem neuen Status ankommt“.387 Es geht also darum, ob die Individuen den Aufforderungen der gesellschaftlichen Strukturen, nämlich den Inklusionsbedingungen, genügen. Wenn es ihnen gelingen kann, die betreffenden Verhaltenserwartungen zu erfüllen, dann kann auch die hoch mobile Personalfluktuation mit der Stabilität der Differenzierungsform im Sinne einer „Stabilität von Kommunikationsregulierungen mit Innen / Außen-Unterscheidung“ vereinbar sein.388 Demnach muss die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft gleichfalls wie andere Differenzierungsformen einerseits effektiv und stabil genug ihre (internen sowie externen) Kommunikationsgrenzen regulieren und dabei andererseits die hohe soziale Mobilität hinsichtlich von In- und Exklusion ertragen. Als neue Form gewinnt diese strukturelle Notwendigkeit ihre Gestaltung für die 385 Vgl.
SS, S. 207, S. 310. S. 709, S. 740. 387 GdG, S. 706. 388 GdG, S. 706. 386 GdG,
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moderne Welt dann in der Ausdifferenzierung der Funktionssysteme.389 Eine Funktion wird nicht mehr auf einzelne Haushalte verteilt, sondern sie wird auf ein bestimmtes System konzentriert. Als Problemlösung ist eine Funktion durch nur ein System für die gesamte Gesellschaft zu erfüllen. Somit wird die Gesellschaft in Politik, Wirtschaft, Recht, Erziehung, Religion usw. – je nach nur einer bestimmten Funktion – reproduziert. Ein Funktionssystem kann nicht für ein anderes einstehen. Um auf diese Weise eine Funktion für die so differenzierte Gesellschaft zu erfüllen, muss entsprechend eine Kommunikationsweise eingeführt werden, deren Besonderheit in der binären Codierung der Kommunikationsmedien besteht. Die Kommunikation nimmt dann die Form an, die eine Unterscheidung mit zwei Seiten bedeutet, womit die Einheit der grenzenlosen Welt eingefangen wird. Mit dieser (wieder) erreichten Einheit können die Individuen dann ihr Verhalten im Kommunikationsprozess je nach Funktionen aufeinander abstellen. b) Binäre Codierung und Kommunikationsmedien Die Kommunikation der Funktionssysteme erfolgt hauptsächlich in drei Arten von Kommunikationsmedien: Sprache, Verbreitungsmedien und Erfolgsmedien. Es soll angebracht sein, hier zunächst kurz die Medientheorie bei Luhmann zu erörtern. Das Medium ist im Hinblick auf die Differenz von „Medium und Form“ zu verstehen und darauf bezogen bedeutet Kommunikation Prozessieren dieser „Differenz von medialem Substrat und Form“.390 „Es kommt dabei auf die Differenz selbst an, und nicht nur auf die jeweils in der Operation verdichtete Form“, obwohl der Formbegriff ebenso als „die Markierung einer Unterscheidung“ aufzufassen ist und daher die Differenz von Medium und Form als „autologisch“ erscheinen lässt.391 Das ‚Medium‘ wird also erst mit der Formverwendung von Medium und Form sichtbar. Aber es geht nicht um irgendeine bestimmte, konkrete Formverwendung, die Form im allgemeinen Sinne bringt doch die ‚Differenz‘ zum Vorschein; mit dieser Differenztheorie des Mediums will 389 Deshalb ist Luhmann der Ansicht, dass nicht die hohe Mobilität als solche, sondern die Entstehung einer neuen Differenzierungsform den Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung bewirkt. Die hohe soziale Mobilität macht dabei ein sichtbares Begleitphänomen des Vorgangs aus, sie selber bedeutet aber nicht bereits die Instabilität der stratifikatorischen Form der Differenzierung. Nach Luhmann gibt es deshalb keinen (geschlossenen) Aufstieg einer neuen Klasse, eher findet die neue Form ihren Ausdruck darin, dass die Adelsschicht ihre Lebensform verändert (GdG, S. 706 f.). 390 GdG, S. 195. Man erinnere sich daran, dass der Differenz ein Negationsverhältnis zugrundeliegt. 391 GdG, S. 198.
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Luhmann den Übertragungsbegriff sowie die dabei mitgebrachte Vorstellung „der ontologischen Fixpunkte“ vermeiden.392 Medium ist dadurch von dem beobachtenden Einsatz der Form abhängig, zugleich mithilfe der weiteren Unterscheidung von loser und strikter Kopplung des medialen Substrats können die „Formen […] als Selektion im Bereich eines Mediums“ fungieren, dabei kann zum einen „das Medium Form werden“ und man muss zum anderen „in das Medium einprägende Formen“ einführen.393 Das Medium und die Form spielen miteinander. Die Pointe der Medientheorie bei Luhmann scheint darin zu bestehen, dass die Differenz bzw. die Form vom Medium als mediales Substrat abzugrenzen ist, wobei die Form aufgrund der Differenz doch ihren Sitz im Medium hat; die Form ist weder Bedeutung (Sinninhalt als alles Denkbare) noch Medium (Material), aber sie erscheint doch nur durch und im Medium – die Form bzw. die Differenz im Medium, was erst die Kommunikation des Sinninhaltes ermöglicht.394 Was das Kommunikationsmedium Sprache anbetrifft, stellt sie nach Luhmann eine symbolische Generalisierung dar und bewirkt eine strukturelle Kopplung zwischen Gesellschaft und Individuum. Das Symbolische besteht in der Differenz von wiederverwendbarem Bezeichnendem (Wort) und Bezeichnetem (Ding), wobei diese Differenz von beiden kommunikativen Seiten „als Dasselbe“ betrachtet wird. Dies setzt die Zeichenfunktion der Wörter, die vertraute Identität, beim Sprachgebrauch voraus. Und dies bedeutet auch, dass keine ‚Natur‘ mehr zwischen der Gesellschaft und dem Menschen vermittelt. Dabei bringt die Sprache jeder Sinneinheit zwei Fassungen – Ja / Nein – und legt dadurch den Grund für die binäre Codierung aller Formen der autopoietischen Kommunikationen. Damit wird einerseits ein Individuum nicht durch den Kommunikationsprozess fremd determiniert, sondern es kann mit Nein ein „Minimum an Freiheitsgraden“ beibehalten und entscheiden, ob es die Kommunikation annimmt oder unterbricht.395 392 GdG,
S 195. S. 196 und S. 197. 394 Merkwürdig gibt Luhmann das Licht als ein Beispiel des Mediums: „ ‚Licht‘ ist kein physikalischer Begriff“ und „Licht wird in den Kathedralen zugelassen“ und wird somit zur „Form“ (GdG, S. 196, S. 197). Die Kathedrale erbringt also eine Differenz in das Medium Licht und Licht wird (sichtbare) Form: „Es werde Licht!“ (Genesis 1, 3, Luthertext) Krämer hebt die „Medialität“ der Kommunikation bzw. Welt hervor (Krämer, Form als Vollzug, 1998, S. 559, S. 572), sie scheint Luhmanns Theorie gerade umgekehrt zu haben, indem sie die Form versteht als Realisierung „derjenigen Optionen, die das Medium bereit hält und in welches die Form nach ihrer Verflüssigung und nach ihrem Verbrauch auch wieder eingehen wird“ (Krämer, ebd., S. 568); dadurch macht sie die Form genealogisch von dem Medium abhängig. 395 Die Darstellung siehe GdG, S. 112–113; vgl. auch SS, S. 137. 393 GdG,
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Man behält sozusagen die „basale Souveränität“ bei sich.396 Andererseits läuft die Kommunikation mit der binären Codierung als Form ab, die „immer gegeben ist und in jedem Moment“ die andere Seite mitführt.397 Die Binarisierung der Funktionssysteme wird dadurch prinzipiell ermöglicht. Die binäre Codierung vollzieht und durchdringt nun – negierend einschränkend – universal die Überführung aller Kommunikation (Welteinheit) in die Selbstreferenz des Systems.398 Mit zwei Werten, die durch eine bloße Negation miteinander verbunden werden, führt ein Funktionssystem einerseits intern Universalismus und Spezifikation und andererseits nach außen die Indifferenz gegenüber anderen Codierungen durch.399 Die weltliche Einheit der Differenz wird damit über die Einheit der Differenz von System / Umwelt hinweg in die Einheit der binär codierten Werte übersetzt. Dabei wird jede Kommunikation erfasst und die Informationsverarbeitung wird binär technisiert. Als Ergebnis kommt es nun allein auf das strukturelle Entweder-Oder-Verhältnis an: wahr oder unwahr, rechtmäßig oder rechtswidrig u. ä. Diese binär universale Codierung der Funktionssysteme geschieht aber nur mithilfe der Verbreitungsmedien und Erfolgsmedien. Sie sind nach Luhmann evolutionäre Errungenschaften. Außer Sprache gelten Schrift, Druckpresse und moderne Massenmedien als Verbreitungsmedien. Diese Medien erweitern den zeitlichen und räumlichen Empfängerkreis der Information und erhöhen damit die soziale Redundanz: „Dieselbe Information“ wird immer weiter verbreitet und Leute sprechen dann von derselben Sache. Damit werden auch die Solidarität und die Zugehörigkeit befördert. Doch wenn man schon eine Schrift lesen kann, ist man in der Lage, weitere Schriften zu lesen. Mit der Beherrschung der Schrift verliert man also die Kontrolle darüber, 396 Als Beispiel hat man immer „eine nicht eliminierbare Dispositionsgewalt über das Recht“ (Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechtssystems, in: ders., AdR, S. 38, vgl. ebd., S. 49). 397 GdG, S. 113. Man beachte nochmals, dass der Kommunikationsbegriff nicht die Differenz von Annahme und Ablehnung enthält (vgl. SS, S. 196 f.). Die Differenz Annahme und Ablehnung kommt erst mit dem Medium Sprache in den Kommunikationsprozess und liegt damit allen binären Codes zugrunde. Die sprachtheoretischen Kommunikationstheorien schmuggeln nach Luhmann die Annahme in den Kommunikationsbegriff und lassen dabei die Ablehnung außer Acht. Vgl. B. III. 3. Eine andere Frage ist aber, woher das Nein kommt. Luhmanns Formulierung scheint anzudeuten, dass das Nein durch Sprache ‚erzeugt‘ wird. Dies scheint mir aber irreführend, denn die Negation (Nein) soll ihre anthropologische Wurzel haben. Die Sprache bringt die Negation nur zum Ausdruck. Aber wichtig bleibt, dass die Welt – wie Luhmann sagt – verdoppelt wird und in jedem Moment auf eine andere Seite hinweist. 398 Vgl. SS, S. 38, S. 262; GdG, S. 595; RdG, S. 187–191. 399 Vgl. GdG, S. 709.
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was gelesen wird. Dieser Effekt wird noch dadurch gesteigert, dass mit der Verbreitung die Information ihren Wert verliert und dass gerade dadurch immer neue Informationen verlangt werden. Die Druckpresse und schließlich die Massenmedien steigern und beschleunigen diese Entwicklung noch weiter.400 Die Medien bringen die Massenkommunikation zustande und wirken dabei stabilisierend und destabilisierend zugleich. Die gesellschaftliche Reproduktion kann nun nicht mehr in unmittelbarer Interaktion erfolgen. Es wird eher unmöglich, die Adressaten direkt zu erreichen, um in unmittelbarer Interaktion (auch missverständlich) verstanden und akzeptiert zu werden.401 Der Gebrauch der Schrift und anderer Me dien erleichtert die Unterscheidung von Handeln / Beobachten, erweitert und spezifiziert die kommunikativen Themen erheblich und begünstigt auch die funktionale Differenzierung.402 Die Nein-Kommunikation wird eben durch das Ausfallen des Drucks der Anwesenden in Interaktionen begünstigt. Diese Umstände machen den Anschluss der Kommunikation problematisch, weil man nicht mehr berechnen kann, ob eine mitgeteilte Information als Prämisse weiterer Kommunikation fungieren kann oder nicht. Das Problem der Annahme / Ablehnung stellt sich als explizites Problem der funktionalen Differenzierung.403 Und dafür muss man funktional äquivalente Möglichkeiten suchen, um die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation zu reduzieren und den Gebrauch der Negation zu regulieren. Darin besteht nach Luhmann der Sinn der Erfolgsmedien: Geld, Macht, Wahrheit, Liebe u. a. Historisch geht die Politik an dieses Problem zuerst mit Zensur und Strafandrohung heran und versucht, die gesellschaftliche Kommunikation unter Kontrolle zu bringen. Die Geldwirtschaft reguliert und kontrolliert aber ihrerseits durch den Markt der Verbreitungsmedien alle Bereiche der Kommunikation. Und für die Zensur fehlt es der Politik auch an festen Kriterien. Die politische Kontrolle erweist sich schließlich als nicht mehr möglich.404 400 GdG,
S. 202 f. gesellschaftliche Reproduktion geht natürlich weiterhin auf der Grundlage der Interaktion vor. „So reproduziert sich auch die moderne Weltgesellschaft unaufhörlich auf der Ebene erwartungsgesteuerter Interaktion; aber sie ist kaum in der Lage, sich selbst angemessen zu beschreiben“ (SS, S. 387). Die Interaktion kann jedenfalls nicht mehr als Modell der Gesellschaft gelten. 402 Vgl. SS, S. 407, S. 523. Zum Beispiel wird das Medium Wahrheit so differenziert, dass man schließlich nicht mehr unterschiedliche (religiöse, rhetorische, philosophische) Formen der Wahrheit akzeptiert (vgl. GdG, S. 709). Man hat vielmehr nur eine Wahrheit: wissenschaftliche Wahrheit. Und jedes Medium wird dem Monopol eines bestimmten Systems zugeordnet. 403 Vgl. GdG, S. 203. 404 Vgl. GdG, S. 729. Es ist bemerkenswert, dass die „materialistische“ Geldwirtschaft als die „geistvollste Hervorbringung der modernen Gesellschaft“ (GdG, 401 Die
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Der Prozess der Differenzierung der Funktionssysteme kann so auch als ein komplizierter geschichtlicher Vorgang der Umstellung von Politik auf Wirtschaft verstanden werden. Die Hierarchie wird allmählich aufgelöst, „das Geld scheint auf dem Wege zu sein, das Medium schlechthin zu werden.“405 Und die internationalen Finanzmärkte stellen sich als „ein neuer weltgesellschaftlicher Zentralismus“ heraus.406 In diesem Zusammenhang erlangen dann die Erfolgsmedien – Geld und andere – ihre volle Geltung und fungieren – anstatt des ‚Seins‘ – als Lösung für das Problem von Annahme oder Ablehnung.407 Sie greifen konkrete Situationen über und generalisieren sie, können als Symbol genug Druck zur Annahme einer Kommunikation erzeugen.408 Damit halten sie die selbstreferentielle Reproduktion der Kommunikation in Gang und die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme mit ihren spezifischen Programmen wird dann irreversibel.409 S. 758) mit der hohen Aufwertung des Menschen in einem strukturellen Zusammenhang zu stehen scheint. Und erst dadurch gilt der Mensch als das Zentrum, an dem sich die Differenzierung orientiert (SS, S. 264). Dies könnte dazu führen, dass der Mensch (als Medium?) auch an Inflation leidet wie das Geld. 405 GdG, S. 723. 406 GdG, S. 727. 407 Das Problem Annahme / Ablehnung und der unentbehrliche Druck zur Annahme einer Kommunikation durch symbolisch generalisierte Medien handeln nach Luhmann von der Legitimität der modernen Gesellschaft, deren Krise in der Unwahrscheinlichkeit des Inganghaltens der sozialen Kommunikation liegt, vgl. Luhmann, Einführende Bemerkungen, in: ders., SA 2, 1982, S. 180–187. Sie lösen das Sein ab (SS, S. 205) und garantieren den autopoietischen Anschluss: „Notwendigkeit ist nichts anderes als die autopoietische Reproduktion selbst“ (SS, S. 395). 408 Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium scheint dabei ein Korrelat für die Strukur des Sozialsystems darzustellen. Es greift die Einzelheit (der Elemente bzw. der Situationen) über, streift die Einzelheit ab und stellt die Redundanz – dasselbe – her. Somit stellen sie einzelne Elemente und Situationen in Relationen (Identität bzw. Verschiedenheit), was nötig für die Einheit des Systems ist. 409 Was die Erfolgsmedien angeht, spricht Luhmann noch von ‚symbiotischen Mechanismen‘, wobei Medien wie Macht, Geld, Wissen und Liebe, je zu Gewalt, Befriedigung der Bedürfnisse, Wahrnehmung und Sexualität zugeordnet werden (vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 11). Somit werden die Funktionssysteme mit dem organischen System des Menschen gekoppelt. Man könnte hier das vermisste theoretische Verhältnis von Sinn und Sinnlichkeit bzw. Körperlichkeit suchen (vgl. Krämer, Form als Vollzug, 1998, S. 572 f.). Ob der starke Einfluss der Erfolgsmedien auf das menschliche Verhalten seine anthropologische Grundlage hat oder auf gesellschaftliche Strukturbildung und -veränderung zurückzuführen ist, bleibt ein anderes Problem. Als Beispiel scheinen die Knappheit als wirtschaftliches Problem und mit ihr die Geldwirtschaft, deren Verständnis nach Luhmann auf die Zeitwahrnehmung bezogen werden muss, ihren Grund in gesellschaftlichen Strukturen zu haben (vgl. GdG, S. 758). Man könnte fragen, was die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien und mit ihnen die Funktionssysteme mit dem menschlichen vitalen Antrieb zu tun haben und wie die Differenzierungsformen der Gesellschaft sich auf die Gestaltung des Antriebs auswirken.
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3. Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Gesellschaft Die hierarchische Gesellschaft vermag noch effektiv die Grenze ihrer kommunikativen Möglichkeiten zu kontrollieren und damit ihre Einheit zu bewahren. Sie verfügt nämlich über einen Teil, mit dem sich alle Teile identifizieren, wenn auch – anders als in segmentären Gesellschaften – die interne Asymmetrie und Ungleichheit deutlich vergrößert werden. Die Einheit und die Identität der Gesellschaft werden deshalb auf deren Spitze zentriert und um das Zentrum erhalten die Schichten und die Individuen ihr Wesen. In ihrer Selbstbeschreibung hat diese Gesellschaft daher auch einen Grund oder erzählten Anfang inne, der die Kontingenzen aller Kommunikation absorbieren soll. Alles hat einen Grund. Die Selbstbeschreibung erfüllt damit auch eine legitimierende Funktion für die Gesellschaft. Mit der funktionalen Differenzierung wird das Verhältnis umgekehrt. Die Welt wird als Bezugspunkt ins Unbeobachtbare verschoben. Die Kommunikationsmöglichkeiten werden einerseits zwar in das Unendliche entfesselt, es gibt aber andererseits auch keine Kommunikation mehr – z. B. mit Gott – außerhalb des Gesellschaftssystems.410 Man kann sich nicht mehr auf Grund bzw. Anfang berufen, der nun besonders wegen Verzeitlichung der sozialen Verhältnisse nicht mehr als Grundlage der Ordnung gelten kann. Stattdessen wird die Selbstbeschreibung als solche dringlich und unentbehrlich, weil sie „Selbsterfassen“ der autopoietischen und sich schließenden Gesellschaft bedeutet.411 Mit ihr kann man „die neue Ordnung aus sich selbst heraus“ interpretieren.412 Für alle Gesellschaftstypen gilt die Strukturbildung aufgrund einzelner Operationen als „Voraussetzung für jede Beobachtung und Beschreibung eines Systems“,413 indem die Struktur zum einen die Invarianz gegenüber den abwechselnd aktualisierten Elementen zur Geltung bringt und zum anderen die nicht gewählten Möglichkeiten effektiv ausschaltet. Damit ermöglicht sie 410 „[…] Dysangelium […], daß weder Offenbarung noch Gebet als Kommunikation zu denken sind“ (Luhmann, Läßt unsere Gesellschaft Kommunikation mit Gott zu?, in: ders., SA 4, S. 229). Aber vielleicht ergibt sich aus dem Dysangelium immerhin ein Evangelium, weil nun der liebe Gott selber durch die Sperrung dem Problem der kommunikativen Unbestimmtheit nicht mehr ausgesetzt werden muss. Er wird davon sozusagen entlastet und dadurch auch von dem Problem der weltlichen Übel befreit, wodurch man nicht mehr zu einer Theodizee mit Gottes Tod – wie bei Fichte und Nietzsche – gelangen muss (Marquard, Theodizeemotive in Fichtes früher Wissenschaftslehre, 1994, S. 150–152). Die Theodizee wird vielmehr auf die Menschen und die Gesellschaft übertragen und kommt ohne Kommunikation mit Gott aus. Ob man mit Gott auf andere Weise Kontakte aufnehmen kann, ist ein anderes Problem. 411 GdG, S. 708. 412 GdG, S. 713. 413 SS, S. 386.
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den relativ stabilen Relevanzgesichtspunkt (Identität bzw. Redundanz) und fungiert in der Tat negierend in Luhmanns Sinne: generalisierende Ausschließung und reflexiver Beziehung. „Beobachtung und Beschreibung“ beziehen sich also auf die Identität des Systems und stellen dabei das ganze System vereinfacht dar, da sie nicht alle einzelnen Elemente abbilden können und müssen. Sie bringen beide ein vereinfachtes Selbst „in die Reichweite der Informationsverarbeitungskapazität realer Systeme“ ein,414 wodurch ein System sozusagen einen bewegten Fixpunkt – eben seine Identität – zur Selbst identifizierung erhält. Ohne Grund erreicht man auch die Identität. Die Einheit der Gesellschaft wird nun bereits wegen der Ausdifferenzierung der Funktionssysteme ‚abgerissen‘.415 Die Teilsysteme müssen dabei „ihre spezifische Operationsweise definieren oder über Reflexion ihre Identität bestimmen, um regeln zu können, welche Sinneinheiten intern die Selbstreproduktion des Systems ermöglichen, also immer wieder zu reproduzieren sind“.416 Über Reflexion bedingt die Identität der Teilsysteme also die interne Abgrenzung der Einheiten in der Gesellschaft. Ferner muss sich die Strukturbildung – die Identitätsbildung – an der Funktion orientieren: „Auch Funktionen dienen mithin der Selbstbeschreibung eines komplexen Systems, der Einführung eines Ausdrucks für Identität und Differenz in das System.“417 Die Einheit und die Identität eines Systems werden durch seine Funktion – Lösung einer bestimmten Problemstellung für die Gesamtgesellschaft – gesteuert. In diesem Sinne müssen alle Funktionssysteme ihre eigene Selbstbeschreibung in Gestalt der Reflexionstheorie entwickeln, wobei die Beschreibung der ganzen Gesellschaft auch eingeschlossen wird. Die Einheit der Gesellschaft wird allein anhand der Differenz von Teilsystem / Gesellschaft im Teilsystem ausgedrückt; und die Selbstbeschreibung der Teilsysteme muss Selbst- und Fremdreferenz enthalten.418 Die Folge ist, dass es keine konkurrenzfrei repräsentierende Selbstbeschreibung der Gesellschaft gibt, deren Einheit ja abgerissen wird. Es ist der „Verlust der natürlichen Repräsentation […]: die Unmöglichkeit einer repraesentatio identitatis. Das nie ganz gegenwärtige Ganze kann nicht als Ganzes vergegenwärtigt werden.“419 414 SS,
S. 386. PdG, S. 136. 416 SS, S. 61. 417 SS, S. 406. 418 Die Gesellschaft erscheint als eine „Rekonstruktion ihrer eigenen Einheit durch eine interne Differenz“ (GdG, S. 614), um die Komplexität zu reduzieren, also die Einheit der Mannigfaltigkeit zu erreichen. 419 Luhmann, Tautologie und Paradoxie, in: ders., Protest, 1996, S. 82. Man beachte, dass das Ganze, das sowieso niemals in der Gegenwart erscheint, jetzt gleichfalls nicht durch die vereinfachte Beschreibung vergegenwärtigt werden kann. 415 Vgl.
V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung123
Mit Selbstbeschreibung entwickelt sich auch die Semantik des Systems, die (in Texten) als Träger strukturierter Sinnformen erscheint. Sie kann nämlich ausgebildete Strukturen (Identität) aufbewahren und damit die (Selbst-)Beobachtung regulieren, indem sie die einzelnen Elemente auf den allgemeinen Sinn bezieht.420 Die Selbstbeobachtung wird durch strukturelle Vorgaben gesteuert und bedingt ihrerseits die Selbstbeschreibung. Entsprechend der Differenzierung der Funktionssysteme wird ein Ereignis nun auf unterschiedliche allgemeine Semantiken bezogen: Was passiert, passiert immer mehrfach. Die Semantiken der Funktionssysteme haben ihren gemeinsamen Hintergrund nur in der unbeobachtbaren, alle Differenzen auflösenden Welt, die erst anhand der Differenzen beobachtet wird.421 In der Semantik verfügt ein Sozialsystem über die hergestellten und bewahrten Sinnformen für die weitere Reproduktion der Gesellschaft. Die Selbstbeschreibung wird daher für die moderne Gesellschaft unentbehrlich und bezieht sich über einzelne Elemente hinaus auf das grundlegende Problem von Einheit und Identität des Systems. Es gilt aber zu bedenken, wie ein Teilsystem seine Identität und Einheit bewahren kann, wenn die Gesellschaft in das Teilsystem überführt werden muss, deren Einheit doch zerrissen wird und deren Identität abhanden gekommen ist, eben weil jedes Teilsystem auf seine eigenen Einheit und Identität beharren muss. Vor diesem Hintergrund erhält die Gesellschaft nach Luhmann zwei Formeln für ihre beunruhigende Identität: Tautologie und Paradoxie, womit auch der „Schlußstein“ der Systemtheorie gelegt wird.422 Und erst hier kommen wir bei der Problemstellung der vorliegenden Arbeit an. 4. Fazit Die Systemdifferenzierung bedeutet bei Luhmann Wiederholung der Systembildung. Sie stellt keineswegs Gliederung bzw. Zerlegung eines Systems in Teilsysteme, sondern vielmeher einen reflexiven Prozess der Systembildung anhand einer neuen System / Umwelt-Differenz im System dar. Dieser Prozess kann in einem System und auch in seiner Umwelt – in anderen Systemen – erfolgen, wodurch hoch differenzierte System-Umwelt-Verhältnisse entstehen. Die Gesellschaft stellt eine Struktur der unitas multiplex 420 Die Semantik entspricht nicht immer der tatsächlich funktionierenden Struktur, insbesondere in Übergangszeiten ergibt sich oft die Diskrepanz von Semantik und Struktur. 421 Vgl. SS, S. 105. 422 WissendG, S. 507. Die Paradoxie wird oft als Problem der Selbstreferenz bzw. der Autologie des Systems gesehen und bleibt unlösbar. Man soll sie aber m. E. im Licht der Differenzlogik betrachten.
124
B. Konzeption des kommunikativen Sozialsystems
(Identität der Identitäten) dar, die anhand der jeweiligen System / UmweltDifferenz und des jeweiligen binären Systemcodes je auf eigene Weise ins System überführt wird. Die unitas multiplex des Gesamtsystems wird sozusagen noch einmal vervielfältigt. Diese prekäre Konstellation wird mit der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft verschärft, weil die nun ausdifferenzierten Funktionssysteme jeweils ihr universales Funktionsmonopol für das Gesamtsystem und damit zugleich ihre Indifferenz gegenüber allen anderen beanspruchen. Zwischen den Subsystemen bestehen operative und strukturelle Kopplungen, die das schwierige Verhältnis zwischen der operativen Geschlossenheit und der Umweltoffenheit des Systems balancieren soll. Entsprechend der Vervielfältigung der Gesellschaft durch die Subsysteme wird das Problem zugespitzt aufgeworfen, wie ein und dasselbe Element eines Systems zugleich auch Element der anderen Systeme zu sein vermag (also: self-identify and self-diversity). Ohne dieses Zugleich können die Subsysteme nicht gekoppelt werden, mit dieser Kopplung droht aber die operative Geschlossenheit des Systems (und damit die Umwelt-Offenheit) durchbrochen zu werden. Logisch kann man das Problem daher so darstellen, dass ein und dasselbe Element (Ereignis) zugleich mehrfach identifiziert wird und unterschiedliche Identitäten erhält. Dies ist m. E. zwar prekär, aber logisch durchaus möglich. Außer dem Verhältnis zwischen einzelnen Sozialsystemen wird auch das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum – anhand der Differenz von In- und Exklusion – im Zusammenhang der Systemdifferenzierung thematisiert. Parallel zur Umstellung von der stratifikatorischen Differenzierung auf die funktionale Differenzierung als maßgebendes Differenzierungsprinzip der modernen Gesellschaft erhält das Individuum seine Exklusionsindividua lität im Gegensatz zur Inklusionsindividualität in der traditionellen Gesellschaft. Das Problem wird dahin umformuliert, wie ein Individuum erneut in die Gesellschaft eingeschlossen werden und dadurch an den Funktionssystemen teilnehmen kann. Dabei muss hervorgehoben werden, dass es nach Luhmann keine Inklusion ohne Exklusion gibt. Es ist also unrealistisch und auch bereits logisch unmöglich, von einer vollständigen Inklusion ohne Exklusion zu träumen. Im Allgemeinen soll man bei Luhmanns System theorie der negativen, oft übersehenen oder gar verdrängten Seite die angemessene Aufmerksamkeit schenken. Die grundlegende Struktur der unitas multiplex – auch im Zusammenhang der operativen und strukturellen Kopplungen – stellt demnach die gesellschaftstheoretische Auflage der modernen Welteinheit der Differenz dar, die ihrerseits das Grundproblem des Verhältnisses von Einheit und Identität – das Mehr als die bloße Summe bzw. das ausgeschlossene Drit-
V. Systemdifferenzierung und funktionale Differenzierung125
te – mit sich bringt. Man sieht hier eine Logik der Gesellschaft im strengen Sinne. Für die gesellschaftliche Selbstreproduktion besteht die Lösung in der Ausbildung der invarianten, Redundanz erzeugenden Strukturen, die oberhalb der Elemente bei der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der Gesellschaft zum Vorschein kommen. Dabei macht die Selbstbeschreibung der gesellschaftlichen Einheit anhand der unterschiedlichen, einander ablösenden Semantiken eine notwendige Voraussetzung für die Autopoiesis der modernen Gesellschaft aus, weil nur die Selbstbeschreibung trotz abgerissener Einheit und problematischer Identität der Gesellschaft die kommunikative Selbstorientierung ermöglicht. Alternativen gibt es keine mehr.
C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem I. Einheit, Identität und Negation in Bezug auf Differenz und Selbstreferenz In Kapitel B. habe ich die Konzeption des autopoietisch selbstreferentiellen Sozialsystems bei Luhmann so dargestellt, dass die Welteinheit in die Selbstreferenz des Systems überführt wird. Dabei gründet sich die Einheit bzw. die Ganzheit gerade nicht mehr auf Identität, sondern auf (jeder gesetzten) Differenz. Daraus resultiert die Formel der Einheit der Differenz. Die Differenz trennt und verbindet das Differente (als Einheit) zugleich, sie überformt als Sinnform die (differenzlose) Welt und fällt mit deren Überführung in die Selbstreferenz – die sogenannte zweite Fassung der Einheit – zusammen,1 wobei Identität ihrerseits in Gestalt reflexiver Relation zum Vorschein kommt. Aber am Anfang steht doch die Differenz, wobei die zwei Dimensionen – Welteinheit durch Differenz und Identität (bzw. Selbstreferenz) des Systems – in einem Atemzug genannt werden, weshalb deren innere Verbindung leicht übersehen und übergangen wird. In diesem Rahmen finden die Systembildung und auch die Systemdifferenzierung statt, dabei steht die historische Umstellung von der primär stratifikatorischen auf die primär funktionale Differenzierung im Mittelpunkt von Luhmanns Systemtheorie. Der Systemdifferenzierung steht die Weltkomplexität als Problem gegenüber; die (funktionale) Systemdifferenzierung dient eben zur Lösung der Problemstellung hinsichtlich der Weltkomplexität. Die Systembildung geht von der Situation doppelter Kontingenz aus, die Differenz von Ego und Alter gilt dabei als antreibender Motor und bringt als „Interpenetrationsformel“2 die Systembildung zwingend hervor. Die Systembildung vollzieht sich dann im Kommunikationsprozess, der an den ‚Punkt des Verstehens‘ laufend angeschlossen wird und die emergente Realität des Sozialen zustande bringt. Die Kommunikation wird anhand der Attribution als Handlung angesehen und Personen zugeschrieben, wobei sie – als Operation bzw. Selektion bzw. Ereignis – stets auch an dem ‚Punkt‘ 1 Vgl. SS, S. 38. Eine Unterscheidung bedeutet den „Zusammenhang des Unterschiedenen“ und den „Unterschied des Unterschiedenen“ (Luhmann, Bemerkungen zu „Selbstreferenz“ und zu „Differenzierung“, 1993, S. 143). 2 SS, S. 315; auch vgl. SS, S. 258.
I. Einheit, Identität und Negation zu Differenz und Selbstreferenz127
der Vorher / Nachher-Differenz der Gegenwart vorkommt. Einzig und allein mit dem verzeitlichten Ereignis – mit dem Punkt des kommunizierenden Verstehens zusammenfallend – wird die Differenz überhaupt in die ursprüng lich unbeobachtbare, ja, neutrale, Welt eingesetzt. Das immer nur momenthafte, gegenwärtige und identische Ereignis erfährt aber in unterschiedlichen Systemen aufgrund der jeweiligen Relation / Element-Differenz verschiedene Qualifikation: Dasselbe Element ist also unterschiedliche Elemente und kann mehreren Systemen angehören, wobei mit ihm die Welt und die Gesellschaft immer mehrfach erscheinen. Genau dieses Phänomen macht das theoretische Problem der operativen und strukturellen Kopplung der ausdifferenzierten Funktionssysteme aus, die in Bezug auf die Gesellschaft als Ganzes jeweils auf eigene Weise den universalen Anspruch auf die Repräsentation der Einheit des gesamten Systems erheben. Und da ein Zentrum für die alles umfassende Einheit wie bei einer hierarchischen Ordnung nicht mehr möglich ist, müssen die Systeme für die eigene Orientierung – je unter der Leitung einer Funktion – Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung führen. Dabei stellen sie auch Semantiken (mit Texten) her, die mit Strukturen korrelieren und sie für die eigene Reproduktion semantisch aufbewahren. Man bemerke hier bereits, dass der Identitätsbegriff ziemlich problematisch ist. Die Identität wird nicht nur wie bei der Sinntheorie durch Nega tion bestimmt, sondern sie befindet sich ferner in einem (unversöhnlichen) Widerstreit mit sich. 1. Unfassbare Einheit Die Einheit der Welt, die als der eigentliche Gegenstand der Systemtheo rie gilt und aufgrund der Systembildung in das Soziale – Gesellschaftssystem bzw. Subsystem – eingespannt wird, erscheint in unterschiedlichen Fassungen. Sie ist die Differenz an sich im Sinne des Mehr-als-die-bloßeSumme-der-Teile und sie scheint in dieser Gestalt keinen logisch einwandfreien Ausdruck zu finden. Sie ist auch das ausgeschlossene Dritte, das in der zweiwertigen Logik eben nicht zu verorten und nirgendwo in der Welt ist. Mit der funktionalen Differenzierung als Gesellschaftsform erscheint die Einheit weiterhin aufgrund der operativen und der strukturellen Kopplung zwischen Subsystemen sowohl auf der Ebene des Elementes als auch auf der Ebene des Gesellschaftssystems; sie kommt als vervielfältigte Einheit bzw. als Problem der unitas multikomplex bzw. als Identität der Identitäten – nämlich die Paradoxie – vor. In dem systemtheoretischen Anliegen der Deontologisierung wird das traditionelle Schema von Ganzem / Teil im Zusammenhang von Einheit und Vielheit umgedeutet. Das Ganze wird nicht in
128
C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
die dinghaften Teile, die dann eine Summe bilden, zerlegt; es wird auch nicht auf ein einziges Zentrum zentriert, sondern jedes ‚Teil‘ stellt gleichzeitig das Ganze dar. Dies bedeutet, dass die Auswirkung des Ganzen auf der Ebene der Teile durch den Einsatz des Ganzen erfolgt, nämlich durch die Überführung der Gesellschaft in jedes Teilsystem mithilfe der Differenz von Teilsystem / Gesellschaft. Aber wie ist die Darstellung logisch möglich? Als ein koppelndes Band soll die Differenz also die Einheit der Vielheit ermöglichen. Die Einheit, die durch Differenz errichtet wird, stellt aber eine ‚Unschärfe‘ bzw. ‚Restunschärfe‘ der Welt dar.3 Die Einheit der Differenz ist so gesehen eine logisch unausdrückbare, unfassbare Ortlosigkeit, die es aber zu erfassen gilt. 2. Identität und Einheit Erst in der dargestellten Perspektive wird nun die Identität von der Differenz her thematisiert und problematisiert. Der Gebrauch des Identitätsbegriffs ist bei Luhmann aber recht verwirrend. Die Differenz, die sozusagen die erste Fassung der Einheit trägt und die Welt als eine Ganzheit auffängt, bringt das Problem der Unschärfe bzw. Paradoxie mit sich. Diese erste Fassung der Einheit wird dann mithilfe der Selbstreferenz des Systems in die zweite Fassung – eben das Selbst der Selbstreferenz – verwandelt, wobei die Einheit in Gestalt der Identität des Systems herzustellen ist.4 Die „Identität“ des Systems bedeutet nämlich demnächst (i) die Einheit bzw. Ganzheit, indem das System aufgrund der selbstreferentiellen Reproduktion „die eigene Einheit“ bezeichnen kann.5 Die Einheit wird somit an die Identität 3 Luhmann spricht von „Restunschärfen“ (ders., ÖK, S. 81), von „genau placierten Unschärfen“ (ders., „Distinctions directrices“ (1986), in: ders., SA 4, 1987, S. 23) und davon, „daß Einheit eigentlich nur als unscharf gesehene Differenz von Bedeutung ist“ (Luhmann, Stellungnahme, 1987, S. 319). Diese Unschärfe der Differenz im Allgemeinen wird dann ins System überführt und erscheint im binären Code. Nach Luhmann erfordert diese Unschärfe „unklares Denken“ und „oberflächliche[r] Lektüre“ eben als eine Lösung (Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., GuS 3, S. 21 f., Anm. 24.; S. 25, Anm. 32). 4 SS, S. 654. Dabei setzt man die immer laufende Reproduktion der emergenten Realität des Sozialen anhand der Fort-Setzung der Differenzen voraus. 5 Luhmann, Bemerkungen zu „Selbstreferenz“ und zu „Differenzierung“, 1993, S. 141. Im Zusammenhang mit Luhmanns These der Paradoxie bringt Welsch, Vernunft, 1996, S. 922 f., ebenfalls „die Selbstinklusion bzw. Selbstreferenz“ in Verbindung mit „den Ganzheitsaussagen“. Er lehnt allerdings die Lösung bei der Typentheorie ab und spricht von einer konstitutiven „ ‚Unsauberkeit‘ “ der Welt, aber er hält die Ganzheit für Totalität und daher für „Nicht-Gegenstand“, deshalb ist das Problem der Paradoxie „weniger logisch oder mathematisch, sondern allein durch genuin philosophisch-reflexive Denkmittel“ zu behandeln (Welsch, ebd., S. 923 und
I. Einheit, Identität und Negation zu Differenz und Selbstreferenz129
gebunden und die in der Differenz verborgenen, ungelösten Probleme machen die Selbstreferenz des Systems – die Kernfigur des neuen Paradigmas bei der Systemtheorie – logisch problematisch. Die Identität erscheint auch in ‚Beobachtung‘ im Unterschied zu ‚Operation‘. Eine Beobachtung stellt Unterscheidung und Bezeichnung – beide gleichzeitig – dar, sie setzt die Differenz von dies / jenes, unterscheidet etwas von anderem und bezeichnet dieses Etwas. Damit kann das System sich selber bezeichnen und sich von seiner Umwelt unterscheiden. Auf diese Weise erfolgen die Selbstreferenz und die Fremdreferenz, aber nur im System. Als Operation erzeugt die Beobachtung autopoietisch die rekursiven Anschlüsse; als Beobachtung orientiert sie sich aber am System und ist auf das System, nämlich auf die immer mitlaufende Selbstreferenz, angewiesen.6 Die Identität bedeutet hier in der Tat (ii) die Relation der Identität, die mit der Relation der Verschiedenheit verbunden ist. Sie nimmt hier aber zugleich (iii) die Gestalt reflexiver Relation (Selbstbeobachtung, Selbstbeschreibung, Selbstreferenz) an. Dies Identitätsverständnis bedeutet insofern die Abgeschlossenheit des Systems gegenüber der Umwelt und muss Luhmann zufolge von der Identität im Sinne der Einheit des Systems abhängig bleiben. Ein weiteres Verständnis des Identitätsbegriffs betrifft (iv) die Identifikation, indem man die ontologischen Wesensbestimmungen aufgibt und sie ersetzt „mit Selbstreferenz der Objekte: Was sie sind, bestimmen sie selber.“7 Ein selbstreferentielles Objekt wie Bewusstsein bzw. Sozialsystem bestimmt sich selber und muss sich dafür mit Attributen identifizieren können. Dies ist wichtig für das soziale System, da es gegenüber der Umwelt offen bleiben und den „Zusatzsinn“ anhand der Informationsbeschaffung für die autopoietische Reproduktion einführen muss.8 Dabei wird auch die Identität im Sinne von Relation bzw. Ganzheit berührt. Hierbei wird die Identität mit der Identifikation leicht, aber wohl unangemessen, vermischt. Gerade dies passiert auch bei Luhmann. Das Problem der Identität (v) im Sinne der Redundanz auf der Ebene der Struktur wird damit auch angesprochen. Die Identität als Redundanz ist unentbehrlich, aber problematisch, gerade weil der zu identifizierende Sinn instabil ist und laufend wechselt. Es geht also um das Problem der DiffeAnm. 12). In C. II. 2. wird noch über die zwiespältige Welt erläutert, wobei man die Ganzheit begrifflich und die Paradoxie formallogisch zu behandeln versucht. 6 Luhmann, Bemerkungen zu „Selbstreferenz“ und zu „Differenzierung“, 1993, S. 141. 7 Luhmann, Bemerkungen zu „Selbstreferenz“ und zu „Differenzierung“, 1993, S. 142; vgl. SS, S. 593 f. 8 SS, S. 605.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
renz von Invarianz / Varianz. Die Identität kann auch (vi) als Gleichheit aller Merkmale auf den beiden Seiten eines Gleichheitszeichens (A = B bzw. A = A) verstanden werden, obwohl Luhmann gerade dies ablehnt.9 Bis hier kann man bereits einsehen, welche Verwirrungen der Identitätsbegriff verursachen kann. Und man soll vor diesem Hintergrund die folgende Auseinandersetzung um die Differenzlogik und deren deontologisierendes Programm nachzuvollziehen versuchen. Das umstrittene Problem besteht nämlich darin, ob die sogenannte Differenzlogik nur scheinbar auf Differenz, in der Tat aber auf Identität gegründet wird. Oder anders formuliert: ob die Differenzlogik überhaupt durchführbar ist, wenn sie wirklich auf Differenz gegründet wird. In Bezug auf das Problem ist vor allen Dingen die fundamentale Aporie zu betrachten, die man in Luhmanns Systemtheorie festzustellen meint: „In Wirklichkeit ist dieses Konzept [das Konzept der Autopoiesis] nämlich unvereinbar mit seinem eigenen Programm einer soziologischen Aufklärung, das er immer noch für sich reklamiert. Während die Abklärung der Aufklärung die Theo rie auf das Paradigma der Differenz verpflichtet, ist […] das der Autopoiesis zugrundeliegende Verfahren der Selbstreferenz untrennbar an das Paradigma der Identität gebunden. Als nicht einlösbares Postulat erweist sich unter diesen Voraussetzungen die von Luhmann behauptete Vorgängigkeit der Differenz von Fremdreferenz und Selbstreferenz, die durch ihren späteren Wiedereintritt in sich selbst bekanntermaßen auch das hervorbringen soll, was der Bewußtseinsphilosophie noch als ein unbedingtes Apriori gelten mußte, nämlich die Identität des Selbst, auf das die Operation der Selbstreferenz ausgerichtet ist.“10
Die gemeinte Aporie besteht nämlich darin: Die Differenzlogik postuliert einerseits den Vorrang der Differenz von Selbst- und Fremdreferenz gegenüber der Selbstreferenz, sie gebraucht andererseits mit Selbstreferenz aber immer bereits den „übliche[n] Begriff der Reflexivität“ in der Bewusstseins philosophie. Demnach bedürfen sowohl die Differenz als auch die Auto poiesis immerhin „eines sich identischen Selbst“.11 9 Vgl.
SS, S. 624.
10 Wagner / Zipprian,
Identität oder Differenz?, 1992, S. 397. Nach Wagner / Zip prian wird Luhmanns Theorie der Selbstreferenz „in nuce identitätslogisch gebaut“ (ebd., S. 398), und zwar über Herbert Spencer auf Schellings Identitätsphilosophie zurückgeführt, stellt daher eigentlich eine „Metaphysik“ dar (S. 398); demnach bleibt die Systemtheorie von Luhmann schließlich auf dem am Anfang des 19. Jahrhunderts bereits erreichten Theorieniveau stecken. 11 Beide Zitate siehe Wagner / Zipprian, Antwort auf Niklas Luhmann, 1993, S. 144 f. Fritscher, Romantische Beobachtungen, 1996, S. 43, hält Luhmanns Systemtheorie für eine soziologische Variante romantischer Ironie, wobei man mit ‚Beobachten‘ „Differenz und Identität ohne Vernichtung unendlicher Möglichkeitshorizonte“ einsetzt. Und „Differenz ist gewiß primär und keine funktionale Identität findet zur Identität der Welt-Substanz mit sich selbst zurück. Aber Identität ist gleichwohl real, nicht bloße Fiktion“ (ebd., S. 43, Anm. 14). Insofern scheint Wag-
I. Einheit, Identität und Negation zu Differenz und Selbstreferenz131
Das grundlegende Problem der Differenzlogik scheint also darin zu bestehen, dass sie sich in der Tat an dem Modell der neuzeitlichen Bewusstseinsphilosophie orientiert und deshalb die Identität trotz der wiederholten Behauptung des Vorrangs der Differenz voraussetzt. In der Tat gehen die Kritiker immer wieder von diesem Punkt aus. Frank bestreitet daher überhaupt die Möglichkeit des Selbst des selbstreferentiellen Sozialsystems, da nach ihm ausschließlich Subjekte „sich zu sich“ verhalten können und „die Wiederkehr des Reflexivpronomens (‚Selbst-‘) dann ein untrügliches Indiz“ für die aufsässige Subjektivität bedeutet.12 Auch auf dieser Linie vermisst Habermas „eine vernünftige Identität“ als Anhaltspunkt für die Kritik der Gesellschaft und diese Identität scheint als Zentralperspektive in einer irgendwie ausgeprägten Öffentlichkeit zu bestehen, die ihrerseits die Grundlage in der Intersubjektivität aufgrund der Sprechhandlung mit Geltungsansprüchen hat. Er schreibt: „Öffentlichkeiten lassen sich als höherstufige Intersubjektivitäten begreifen. In ihnen können sich identitätsbildende kollektive Selbstzuschreibungen artikulieren. ners / Zipprians Interpretation der Systemtheorie selber ein „alt-europäisches Identitätsdenken“ auch „nicht ganz im Unrecht“ (Fritscher, ebd.) widerzuspiegeln. Mit Differenz muss man die Identität ja nicht ausschließen, nur die Schwierigkeit besteht im Begriff der Differenz(-Logik) und deren Verhältnis zu der problematischen Identität. Dasselbe gilt auch für Jung, die meint, „dass die [System-]Theorie bei dem Versuch einer strikt differenzlogischen Erklärung bzw. Beschreibung sozialer Sinnkonstitutionsprozesse scheitert“ (Jung, Identität und Differenz, 2009, S. 176); nach ihr legt Luhmanns Theorie „eine Identität der Elemente gekoppelter Systeme“ und folgerichtig die unter der Hand wirksame Identitätslogik nahe, was streng differenzlogisch nicht gegeben sein kann (vgl. Jung, ebd., S. 204, S. 218). 12 Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 1986, S. 12. Auch Frank, ebd., S. 22: „Was immer mit ‚Selbst‘ noch gemeint sein mag, wir haben an einen Sachverhalt zu denken, der ursprünglich mit sich bekannt ist und erst kraft dieser Bekanntschaft in ein verstehendes Selbstverhältnis eintreten kann.“ Mit dem Selbst scheint Frank die Subjektivität bzw. die Individualität zu meinen, wovon die Identität nicht klar getrennt wird; die letztere wird so mit beiden erstgenannten vermischt. Luhmann würde die Subjektivität der Individuen nicht bestreiten, aber die emergente Realität des Sozialen hervorheben, auf die sich das Selbst der Selbstreferenz bei ihm bezieht. Es wäre m. E. besser, die Begriffe Subjektivität und Identität – als Relation oder als Einheit – voneinander klarer zu trennen, damit die Selbst-Referenz des Sozialsystems als eigenständige Realität (mit Subjekten als bedingender Umgebung) zumindest vorstellbar bleibt. Nebenbei ist es bezeichnend, dass das Selbst sehr rätselhaft ist. Es kann nicht nur auf Einheit, Identität, Subjektivität, auf Sozialsystem sowie auf Bewusstsein, sondern auch auf nichts bezogen werden. „Das Wort ‚selbst‘ hat überhaupt keine eigenständige Bedeutung. Es bezeichnet nichts; es ist, technisch gesprochen, ein synkategorematischer, kein kategorematischer Ausdruck“ (Beckerman, Gehirn, Ich, Freiheit, 2008, S. 61). Es gibt zu bedenken, dass das rätselhafte Wort selbst, das für Philosophen die unhintergehbare Grundlage der Menschheit ausdrückt, gar nichts für die Neurowissenschaft bezeichnet. Es bezieht sich m. E. in der Tat aber auf Identität im Sinne der (reflexiven) Relation.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
Und in der höher aggregierten Öffentlichkeit auch ein gesamtgesellschaftliches Bewußtsein.“13
Dagegen weist Luhmanns Sozialsystem Habermas zufolge nur an einzelnen Elementen die Selbstbeziehung auf, stellt trotz ihnen doch eine „SelbstLosigkeit“ dar, indem das System „im Sich-Wissen konstituiertes Selbst“ nicht erreicht; dieses Selbst bringt aber in der traditionalen Subjektphilosophie „eine letzte, Identität und Nicht-Identität umgreifende Identität“ zum Ausdruck.14 Während Frank dem Sozialsystem das Selbst überhaupt abspricht, vermisst Habermas gerade umgekehrt das Selbst des Sozialsystems bei der Systemtheorie, wobei beide Autoren gleichfalls den Identitätsbegriff in der Tradition der Subjektphilosophie lokalisieren und verstehen. Tatsächlich wird das Problem der Einheit der Mannigfaltigkeit der Welt (nur) seit der neuzeitlichen Subjektphilosophie auf die Identität des begreifenden Subjekts zentriert, um die Einheit (Ganzheit) von dessen Standpunkt aus zu erreichen. Um dem Problemkomplex angemessen zu begegnen, soll man aber ausholen und dabei eine systematische Betrachtung einbeziehen.15 Systematisch bezieht sich das Einheitsproblem (i) komplementär auf das Mannigfaltige, dafür dann (ii) auf den, wenn überhaupt, alles einigenden, letzten ‚Grund‘ und schließlich (iii) auf das Sein-Denken-Verhältnis, was das ‚Wissen‘ der gesuchten Einheit betrifft und in der Neuzeit in das problematische (Sich-)Wissen des Selbstbewusstseins mündet.16 In Bezug auf das Mannigfaltige besteht die Kernfrage in der Differenzierung des Einheitsbegriffs und in der Verortung des Relationsbegriffs. Begreift man die Einheit zunächst als ummittelbare, letzte, unteilbare und beziehungslose Einfachheit, entsteht das Mannigfaltige durch eine Zusammensetzung der so verstandenen einfachen Elemente. Das Mannigfaltige durch das Zusammenhalten der Elemente bedeutet aber etwas in sich Bezie13 Habermas,
Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985, S. 435. Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985, S. 431–2. Diese von Habermas verlangte vernünftige Identität fungiert für Kritik. Luhmann aber zielt zum einen auf die emergente Realität des Sozialen (das Dritte) ab, wobei er die Tragweite der Sprachtheorie wie bei Habermas bezweifelt (vgl. Luhmann, SS, S. 196 f.), er stellt andererseits die gemeinsame Identität (Habermas, ebd., S. 440) in Frage. Man kann Kritik üben, auch „ohne sich auf eine konsenspflichtige Realität einlassen zu müssen“ (Luhmann, Literatur als Kommunikation, 2008 (1996), S. 383). Die Realität verpflichtet also nicht. Man könnte letztlich Luhmanns Gegenkritik so zusammenfassen: Vor Habermas lebt die Frankfurter Schule eigentlich von dem Differenzansatz, der dann vermisst wird (Luhmann, Tautologie und Paradoxie, in: ders., Protest, 1996, S. 89 und Anm. 7); dazu vgl. auch ÖK, S. 249 ff. 15 Zu der Geschichte des Verhältnisses von Einheit und Vielheit, vgl. Schmidinger, Metaphysik, 2006, S. 69 ff. 16 Zahn, Einheit, 1973, S. 321. Im Lichte des Einheit / Identität-Problems folge ich hier Zahns Darstellung. 14 Habermas,
I. Einheit, Identität und Negation zu Differenz und Selbstreferenz133
hungsvolles. Aus dem beziehungslosen Einfachen wird das beziehungsvolle Mannigfaltige. Insofern widerspricht die Einheit als Einfachheit sich selber. Und wenn man die Einfachheit zugleich als Bedingung für Zählbarkeit ansieht, dann muss man einen weiteren Einheitsbegriff angeben, der die Einheit von zählbarer Einheit und zählbarer Vielheit bestimmt. Wenn man schließlich die tautologisch, einfach mit sich identischen Einfachheit als solche bestimmen will, muss man dafür bereits unvermeidlich einen Unterschied einführen. Sonst kann diese begriffliche Bestimmung der Einheit nicht erfolgen, davon kann man auch gar nicht sprechen. Der Unterschied scheint also immer bereits in der Einheit zu sitzen, er deutet selber aber das Mannigfaltige an.17 Allein von der Begriffsbestimmung her kann man hier den miteinander verschränkenden Zusammenhang von Einfachheit, Zählbarkeit, Beziehung (Relation) und Unterschied beobachten. Sowohl in dem Mannigfaltigen als auch in der tautologischen Einfachheit selber scheint also eine Unterschiedenheit verborgen zu sein. Dabei könnte man eine Ähnlichkeit mit der Formel der ‚Einheit der Differenz‘ bei Luhmann wahrnehmen. Die Disjunktion von Einfachheit und Unterschiedenheit wird für den Einheitsgedanken untrennbar und unentbehrlich, sie kann sogar eine selbstwidersprüchliche (dialektische?) Beziehung entfalten. Die Einfachheit und die Unterschiedenheit in ihr führt einerseits zu dem Und von Einheit und Mannigfaltigkeit, was auf den noch zu suchenden Einheitsbegriff hinweist. Andererseits sieht man in der unteilbaren, einfachen Einheit den ‚Grund‘ für das Mannigfaltige. Das Und bedeutet nämlich: „Einheit soll die Verschiedenheit und Vielheit eines Mannigfaltigen hervortreten lassen, dieses aber zugleich auch in seinem Zusammengehören darstellen. Die Verschiedenheit soll nicht im Gleichen verschwinden, sondern im Selben erscheinen. Hier legt sich der Gedanke nahe, Einheit als Grund der Verschiedenheit anzusehen, der als solcher in dieser ‚enthalten‘ ist.“18
Die Einheit stellt demnach den „Grund“ dar und gründet „die aus diesem Grund artikulierte und so durch ihn zusammengehörende Mannigfaltigkeit“.19 Hinsichtlich der Unterschiedenheit und der Mannigfaltigkeit wird das Grunddenken sozusagen zwangsläufig. Und der Grund umfasst die Einheit und die Mannigfaltigkeit sowie die Identität (bzw. das Selbe) und die Verschiedenheit zugleich. Augenscheinlich kann dieser Grund dann je in der Natur, der Vernunft bzw. dem Selbstbewusstsein lokalisiert werden. 17 Zahn, Einheit, 1973, S. 321–323, Hier wird ansatzweise von der Einheit als Einfachheit ausgegangen und außer logischen Verwirrungen kann man eine Gruppe anderer Begriffe fast zwingend involviert sehen. 18 Zahn, Einheit, 1973, S. 325, 19 Zahn, Einheit, 1973, S. 325. Somit wird die Differenzlogik bei Luhmann fast ausformuliert (vgl. Luhmann, SS, S. 38); das Und deutet auf das Mehr-als-dieSumme-der-Teile hin.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
Die unvermeidliche Unterschiedenheit in der umfassenden Grundeinheit deutet nämlich auf die Grenze und daher auch – gerade das Gegenteil der umfassenden Einheit – auf die Endlichkeit hin. Unser Wissen kann immerhin nur ein endliches, begrenztes Wissen sein, es strebt aber (naturgemäß) ein umfassendes, unbedingtes Wissen an. Der letzte unbedingte Grund kann als Stoppformel fungieren und damit alles – auch alle Unterscheidungen – gründen. Wenn aber die Frage nach ihm selber gestellt wird, dann kommt das Einheitsproblem wieder auf, aber nun in der Reflexionsform der Einheit von Einheit sowie des Wissens von Wissen. Daraus resultieren die Kritik der Vernunft und die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis. Von daher entwickelt sich das Einheitsproblem zum Problem der Identität von dem (gründenden) Subjekt mit dem (gegründeten) Subjekt als Objekt, was dann mithilfe der Figuren Vernunft, Gott sowie das Absolute u. ä. behandelt wird. Es bringt dadurch aber zugleich prinzipielle Schwierigkeiten hervor, dass die „Momente [der Einheit] unterschieden werden, die doch identisch sein sollen und die Sprache muß nacheinander sagen, was doch ‚an sich‘ ‚mit einem Schlag‘ ist“.20 Dieser Komplex von Einheit und Identität bleibt als Problem des Selbstbewusstseins (Subjekt = Objekt) bei Kant ungelöst; bei Fichte wird mit einem vermittlungslosen absoluten Ich nach einer Lösung gesucht; und bei Hegel tritt die Subjekt-Objekt-Identität in dialektischen Beziehungen auf. Eine Lösung scheint aber prinzipiell unmöglich zu sein, weil das Problem uns eben zu nahe ist: „Das sich selbst zum Objekt habende Subjekt wird hier lediglich als Identitätspunkt fixiert, wobei die Frage des Wissens der Identität mit sich im dunkeln bleibt. Für diskursive Erkenntnis bleibt die sich wissende Einheit des Selbstbewußtseins als deren eigene Voraussetzung das Dunkelste, weil unvermittelt Nächste.“21
Die hier nur kurz angedeutete Theorietradition des Einheitsproblems nennt Luhmann Humanismus. Er bestreitet nicht die Orientierung der Differenzlogik an dem Modell der Subjektphilosophie und sieht das allererste 20 Zahn, Einheit, 1973, S. 330. Hiermit wird die Einheit in die Identität transformiert. 21 Zahn, Einheit, 1973, S. 335. Mit ‚Prinzip‘ scheint Gloy nur das Verhältnis von Ganzem und Teil, aber noch nicht die Verbindung von Einheit und Identität zu identifizieren. Für sie besteht die Lösung des Einheitsproblems immer in der Letztbegründung. Dafür braucht man ein letztes Prinzip, das den beiden Kriterien von „Universalität“ und „Konstitutivität“ genügt; das Prinzip muss also einerseits als „eines (monistisch)“ und „umfassend“ und andererseits nicht nur als Gliederungsschema, sondern zugleich als Konstitutionsprinzip fungieren. Das Prinzip soll demnach alles umfassen und darstellen, und zwar auch das Dargestellte selber konstituieren. Das letzte Prinzip läuft dann auf die unvermeidliche Zirkularität hinaus als „Ausdruck einer letzten, unaufhebbaren Relativität“ (Gloy, Systemtheorie, 1998, S. 227).
I. Einheit, Identität und Negation zu Differenz und Selbstreferenz135
Modell bzw. die wegweisende Fundstelle der Selbstreferenz in dem Satz von Descartes: cogito, ergo sum.22 Eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zeigt sich eben noch in dem theoriegeschichtlichen Ergebnis des Einheitsproblems: „Die unbegreifliche einfache Einheit muß sich dann in ihrer Äußerung auch als Prinzip der Differenz verstehen lassen.“23 Die Einheit artikuliert sich also „als Prinzip der Differenz“, wobei sie bei Luhmann die Paradoxie der Selbstreferenz heißen soll und in einem anderen Sinn wieder als das dunkelste bzw. nächste Problem vorkommt. „Der Kardinalfehler des Humanismus“ besteht nun darin, dass er sich auf die Erkenntnistheorie konzentriert und die Sozialität vernachlässigt:24 Man gebraucht nur eine einzige Innen / Außen-Differenz (Subjekt-Objekt), übergeht die kontingenten bzw. inkongruenten Perspektiven von Ego und Alter und nimmt die emergente Realität des Sozialen nicht zur Kenntnis.25 Es ist auch bereits irreführend, die Alternative von Identität oder Differenz aufzustellen, als würden die beiden einander ausschließen, während Luhmann von der Differenz von Identität und Differenz spricht.26 Wo ist nun der Sitz der von Luhmann gemeinten Differenz bei Kritikern? Die Identität ist beunruhigend sowie verschlüsselt, sie erscheint als Problem.27 22 Zum Vergleich mit Kant und Hegel, siehe SS, S. 606 f., auch S. 496. Zu Descartes’ Satz, siehe Luhmann, Selbstreferenz und binäre Schematisierung, in: ders., GuS 1, 1998, S. 304; ders., Wie ist soziale Ordnung möglich, in: ders., GuS 2, 1993, S. 236; auch vgl. ders., Identitätsgebrauch, 1996, S. 320. 23 Zahn, Einheit, 1973, S. 335–6. Es besteht hier zwar eine erstaunliche, aber wohl nur äußerliche Ähnlichkeit. Der theoretische Sprungpunkt liegt in dem Verständnis des Differenzbegriffs. 24 SS, S. 119. 25 Es wurde trotzdem bei Fichte „schon sehr genau gedacht […]: Das Ich setzt die Differenz von Ich und Nicht-Ich und steigert sich selbst dann zu einem idealen Ich ‚über und innerhalb der Grenze‘. Aber mehr noch bei der Orientierung an Vernunft geriet damit die Sozialdimension aus den Augen“ (Luhmann, Tautologie und Paradoxie, in: ders., Protest, 1996, S. 83). Vgl. Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, 1971, S. 318: „Demnach schwebt das ideale Ich mit absoluter Freiheit über und innerhalb der Grenze. Seine Grenze ist völlig unbestimmt.“ Luhmann übernimmt die Formel „über und innerhalb der Grenze“ von Fichte. Die Formel erinnert daran, dass die unfassbare Einheit „über“ der Grenze (Differenz) zugleich „innerhalb“ der Grenze (Differenz) überführt wird; dann ist die Identität ja völlig unbestimmt. In diesem Zusammenhang könnte man die von Fichte übernommene Formel mit dem dritten Wert im Sinne der „Selbstbezeichnung der Grundoperation“ der Beobachtung bei Varela vergleichen, womit „jede Beobachtung als Anwendung einer Unterscheidung nicht nur eine Bezeichnung des Beobachteten, sondern auch eine Bezeichnung der Beobachtung selbst ermöglicht. Man gewinnt […] die Möglichkeit ich zu sagen“ (Luhmann, Einige Probleme mit „reflexivem Recht“, 1985, S. 3). 26 SS, S. 26, S. 37, Anm. 11. 27 Vgl. Luhmann, Tautologie und Paradoxie, in: ders., Protest, 1996, S. 84; ders., Die Religion der Gesellschaft, 2000, S. 25.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
Sie enthält keine feste Bestimmung mehr und ist von der Differenz her zu thematisieren. Wenn man zuvor die Gewissheit für die Einheit noch in der Identität des Subjekts finden konnte, macht jetzt gerade die Identität das Problem aus. Eine wichtige Pointe, die die Differenzlogik vor der Subjektphilosophie auszeichnet, scheint mir nun darin zu bestehen, dass die Differenzlogik die Einheit bzw. die Ganzheit mit ihren beiden Seiten ins System überführt. Um die Welt zu beobachten, muss man in die Einheit die Unterscheidung einführen. Eine Differenz weist immer zwei Seiten auf, dabei gibt es keine richtige Seite; oder anders formuliert, auch die falsche Seite besteht in ein und derselben Welt.28 Bei der Subjektphilosophie erhält man mit der Einführung der Differenz die Disjunktion von Einheit und Mannigfaltigkeit als Grundlage des Erkennens. Diese das Mannigfaltige umfassende Einheit, die die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis bei Kant ausmacht, erzeugt ihrerseits eine weitere abgrenzende Differenz. Mit der Einheit, die den Erfahrungsbereich anhand der Begriffe des Verstandes im menschlichen Subjekt abdeckt, wird aber einerseits die andere Seite der Differenz übergangen und ‚draußen‘ gelassen und gerade damit kann man andererseits nun den ‚Grund der Einheit‘ in der Vernunft bzw. im Subjekt finden, nämlich das transzendentale Apriori. Zusammen mit der Konzentration auf die Identität kann das Subjekt dann als zusammenhängende Synthese von Einheit und Vielheit fungieren, die entsprechend der Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt bei Kant getrennt werden.29 Anders als dies trennt das Sozialsystem Einheit und Vielheit nicht wie Innen und Außen, sondern sie sind beide ungetrennt im System, womit das Sozialsystem sich autopoietisch reproduzieren kann.30 Jeder Ansatz, der nach dem letzten Grund bzw. der Letztbegründung sucht, scheint dazu geneigt zu sein, die Überführung (Übernahme bzw. Hineinkopieren) der ganzen Welt mit ihren beiden Seiten ins System bei Luhmann zu verfehlen. Die Einheit durch Differenz bei Luhmann stellt keine Gliederung der Welt dar, wie Gloy meint; aber mit der Differenz passt doch zur funktionalen Differenzierung die These, dass „Alles Eines und Eines Alles sei“.31 Das Ganze 28 Vgl.
ÖK, S. 253. SS, S. 51. 30 Die Umwelt wird nicht in das System absorbiert und nicht nur seitens des Systems fingiert. Eher wird die Welt als ein Ganzes mit der Systembildung in eine neue emergente Realität überformt, zugleich aber bleibt die Welt als Um-Welt zurück. Die Subjektphilosophie trennt zuerst Subjekt und Objekt, blendet aber das Objekt gerade mit dem subjektiven Apriori aus, um die Gewissheit im Subjekt zu suchen. Das Subjekt – das Ding an sich – ist schließlich beziehungslos und die Vielheit hat keine Eigenständigkeit. 31 Gloy, Systemtheorie, 1998, S. 232; dies ist das von Gloy genannte ‚Relationssystem‘ bei Leibniz. Nach ihr scheitert diese Systemart aber an der totalen Unbestimmtheit, wobei die Relationen selber nicht eingeschlossen werden. Mir liegt die 29 Vgl.
I. Einheit, Identität und Negation zu Differenz und Selbstreferenz137
ist unmittelbar in jedem Teil präsent und jede Monade spiegelt das Universum wider, sie ist selber das ganze Universum. Von hier aus gelangt man zu dem Problemkomplex der Einheit / Identität und der geschichtlichen Umstellung der Differenzierungsformen der Gesellschaft – also zu dem Zusammenhang von Semantik und Struktur. Wie dargestellt, bezeichnet bei Luhmann Identität in erster Linie die Einheit bzw. Ganzheit. Weil nun die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft kein Zentrum mehr aufweist, mit dem sich alles in der Gesellschaft identifizieren kann, wird stattdessen die azentrische Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung – mit Texten für die Aufbewahrung der Sinnformen – für die Reproduktion des Sozialsystems vorgenommen. Die Einheit wird also hergestellt, beschrieben und dann als Identität in Texten ausgedrückt. Daher spricht man von Industriegesellschaft, Klassengesellschaft, Informationsgesellschaft usw. Die Selbstbeschreibung ist unentbehrlich, nur gibt es keine einzig richtige Beschreibung mehr. Die Identität der Gesellschaft findet daher nach Luhmann ihren Ausdruck in der Formel: „Die Gesellschaft ist, was sie ist; oder: die Gesellschaft ist, was sie nicht ist.“32 Sie erhält zwei Reflexionsformen für die Selbstbeschreibung: Tautologie und Paradoxie, worin die Identität der Gesellschaft verschlüsselt wird und – nicht mehr als Grund – als Identitätsprobleme erscheint. Da die Einheit in die Selbstreferenz überführt wird, erscheint die Selbstreferenz unausweichlich ebenfalls in den zwei Formen Tautologie und Paradoxie. Die Selbstreferenz des Systems ist deshalb tautologisch und somit überflüssig und wenn die Negation hinzugefügt wird, dann wird sie Pointe hier darin, dass dasselbe Prinzip unterschiedlich – mit Grund oder mit Differenz? – operiert wird. 32 Vgl. Luhmann, Tautologie und Paradoxie, in: ders., Protest, 1996, S. 83; Parallele Formulierungen finden sich und fordern die Leser auf, genauer nachzuvollziehen: „Sie [die tautologische Beobachtung zweiter Ordnung] selbst ist das, was sie nicht ist“ (ders., Identität, in: ders., SA 5, S. 16); „sie [die Theorie der Physiokraten] stellt sicher, daß sie zumindest einen Weg weisen kann, auf dem die Realität das wird, was sie ist und nicht ist, nämlich natürliche Ordnung“ (ders., Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., GuS 3, S. 54); „aus ‚A weil non-A‘ wird ‚A ist non-A‘ “ (ÖK, S. 81), wobei Luhmann mit dem zitierten Satz meint, die logische Antinomie in den Widerspruch zu transformieren und so mit dem Widerspruch die Antinomie zu entschärfen; „Sie [rechtstheoretische Figuren] eliminieren die Paradoxie des ‚Recht weil Unrecht‘ oder ‚Unrecht weil Recht‘ durch Transformation in einen Widerspruch: ‚Recht ist nicht Unrecht‘ und ‚Unrecht ist nicht Recht‘ “ (ders., Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S, 189) sowie „Ausblendung der unerträglichen Einsicht, Recht sei, was es (nicht) sei“ (ebd., S. 198); „alles, was jetzt als Identität fungiert, beruht auf künstlicher, kontingenter Selbstsimplifikation – sei es, daß man so sein will wie andere; sei es, daß man anders sein will als andere“ (ders., Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., GuS 3, S. 227), wonach die Identität die beiden Formen von So-sein und Anders-sein hat.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
paradox (bzw. widersprüchlich). Beide Formen sind aber nicht anschluss fähig und müssen nämlich enttautologisiert oder entparadoxiert werden.33 Hier soll man den Einheitsbegriff bei Luhmann genauer fassen. Die Welt an sich ist unfassbar, sie wird erst anhand von Differenz beobachtbar gemacht. Dabei wird die Grenze der Innenseite zur Außenseite gezogen und die Differenz erzeugt somit diese Einheit von Innenseite und Außenseite. Nach Luhmann liegt die Welt – mit Spencer Brown als „the unmarked state“ benannt – aber auf der zweiten Außenseite, die gerade durch die mit Differenz erzeugte Einheit abgegrenzt wird. „Dies wäre dann die Welt. […] Der ‚unmarked state‘ – das ist eine Leerformel für das, was nicht unterschieden, sondern durch Unterscheiden nur in Form gebracht werden kann mit der Folge, daß es auch andere Unterscheidungen, andere Formen, andere Bezeichnungen gibt.“34
Die Differenzlogik geht also von einem Weltbegriff aus, der – Gott ähnlich – ein differenzloses und deshalb unteilbares Einfaches darzustellen scheint.35 In der Tat spricht Luhmann auch vom Emanationsprinzip: „Aus der Einheit des Ursprungs entsteht Differenz.“36 Mit diesem Einheitsbegriff 33 SS,
S. 58 f. Zeichen als Form, 1993, S. 61. Die Operation des Systems braucht eine Grenzziehung, die Welt aber nicht: „Nur die Welt kann nicht mit Grenzen, nicht als Form, nicht mit etwas auf der anderen Seite der Grenze gedacht werden“ (ders., ebd., S. 61). Die Welt ist ja neutral, sie erlaubt und löst alle Unterscheidungen auf (vgl. SS, S. 105 f.). Eben damit verschiebt sich der Horizont grenzenlos. 35 Luhmann zitiert Nikolaus von Kues: „Extra te igitur, Domine, nihil est potest“ und meint, dass ein streng denkender Theologe bezweifeln würde, ob man die Unterscheidung von Welt und Gott einführen kann, wenn Gott an sich ohne Form, nämlich Unterscheidungslosigkeit, ist. Und dies hat zur Folge, „daß man alles in der Welt in der Weise einer ‚contrahierten‘ visio Dei betrachten kann. Die contractio bezieht sich dann nicht auf Gott und nicht auf die Welt, sondern nur auf den sich selbst beobachtenden Betrachter“ (Luhmann, Zeichen als Form, 1993, S. 61, Anm. 38). Gott ist „die sich voll zugängliche Einheit“ (Luhmann, WissendG, S. 74), ist das unterschiedslose Einfache. Die Welt – the unmarked state – ist demnach an sich unterschiedslos und wird mit Einführung der Differenz durch einen Beobachter beobachtbar. Insofern macht Luhmanns operative Logik Halt vor dem deus absconditus wie bei Cusanus, aber anders als Hegels Wesenslogik. Dazu vgl. Schmitz, Hegels Logik, 1992, S. 9, S. 19. Eine analoge Sichtweise findet sich in: Muhr, Logik, 1992, S. 23 f. Wenn alle möglichen Welten, nämlich physikalisch, technologisch, moralisch, rechtlich u. a. mögliche Welten leer und alle gleich wären, dann könnte man „von der Welt“ sprechen. Mit Luhmann spricht man von Tautologie und die Welt ist also ein Einfaches ohne Differenz; sie erlaubt aber alle möglichen Differenzen und löst sie wieder auf. Allerdings bezweifelt Muhr den Sinn der Rede von möglichen Welten „der [gleichen] Welt“. Man könnte hier den Zusammenhang von Leerheit und Differenz überlegen. 36 Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., GuS 3, S. 13. „Aus einer Einheit entsteht eine Differenz, in der das, was die Einheit war, als Gegenteil seines 34 Luhmann,
I. Einheit, Identität und Negation zu Differenz und Selbstreferenz139
erscheint dann die Tautologie auch als Paradoxie, weil sie beide gleichfalls die Einheit ausmachen und dabei auch die Unbestimmtheit der Identität zum Ausdruck bringen. Allerdings soll man zwischen beiden noch differenzieren: „Tautologien sind Unterscheidungen, die nicht unterscheiden; sie sind Unterscheidungen ohne Differenz. […] Man kann von einer Tautologie nur sprechen, wenn ein zweiteiliges Beobachtungsschema unterstellt wird: Etwas ist, was es ist. Die Aussage selbst negiert jedoch die Zweiteiligkeit und behauptet die Selbigkeit. Sie negiert also das, was sie selbst ermöglicht, womit auch die Negation ihren Sinn verliert.“37
Demnach stellt die Tautologie eine reflexive Zweistelligkeit – etwas ist etwas bzw. A ist A – dar, sie negiert aber die ‚Zweiteiligkeit‘. Sie unterscheidet, ist aber differenzlos. Sie scheint die Einfachheit (Selbigkeit) auszudrücken, die dann mit der Identität in Form der reflexiven Relation bezeichnet wird. Man begegnet hier wieder der Schwierigkeit des sprachlichen Nacheinanders bei der Subjekt-Objekt-Identität: Man stellt die zweistellige Formel A = A auf, erhält aber nur ein A. Aber genau wie die Tautologie nimmt der Widerspruch (bzw. die Paradoxie) eben auch nur die reflexive Identität an. Nur bei Widersprüchen geht es „um Tautologien mit zugesetzter Negation. A ist (nicht) A. […] Es handelt sich bei allen Tautologien, also auch bei Widersprüchen, um extrem verkürzte, pure Selbstreferenz. Gewonnen wird damit beliebige Anschlußfähigkeit. Jede bestimmte oder näher bestimmbare Anschließung setzt dann eine Entfaltung der Tautologie voraus, die zusätzliche (und das heißt zwangsläufig: einschränkende) Bestimmungen in sich aufnimmt.“38
Die Tautologie ist differenzlos, die Paradoxie erhält aber eine Negation. Daraus kann man bereits folgern, dass die Negation in der Differenz vorkommt und umgekehrt. Man beachte weiterhin vorsichtig, dass die (zugesetzte) Negation nicht den Inhalt der Identität beeinflusst und die Identität nicht bestimmt. Es ist eben Identität, die – sei es positive, sei es negative – aber immerhin „pure Selbstreferenz“ ist. Der ‚Sinn der Negation‘ betrifft dann nicht die Bestimmung der Identität. Die Identität – sei es tautologische, sei es paradoxe – ist nur eine reflexive Relation; sowohl Tautologie als auch Paradoxie sind insofern reine (pure) Selbstreferenz. Als reflexive Identität bezeichnen sie beide – als Formen der Selbstreferenz des Systems – Gegenteils wieder vorkommt“ (Luhmann, Frauen, Männer und George Spencer Brown (1988), in: ders., Protest, 1996 (1987), S. 115). 37 Luhmann, Tautologie und Paradoxie, 1996, S. 97. 38 SS, S. 493–494. Übrigens soll man mit Schmitz zwischen Identität und Identifizierung deutlicher unterscheiden, um die zusätzlichen, einschränkenden Bestimmungen (als „Zusatzsinn“, SS, S. 605) aufnehmen – identifizieren bzw. zuschreiben – zu können. Dazu vgl. C. II. 2.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
gleichfalls die Einheit der Welt. Die Identität ist nämlich an sich leer bzw. inhaltslos, muss die Bestimmungen in sich aufnehmen. Sie ist aber hinsichtlich des Inhalts in der Tat gleichgültig und insofern erweist sie sich als beliebige Anschlussmöglichkeiten. Genau durch die Notwendigkeit einerseits und die Beliebigkeit andererseits wird der Anschluss unsicher und wirft das Problem der kommunikativen Unbestimmtheit auf. Die tautologische und die paradoxe Form der Identität bezeichnen die Einheit und bringen dabei zugleich die Differenz mit Anschlussfähigkeit zum Vorschein. Der Sitz der Negation wird in diesem Zusammenhang verortet. Damit geht Luhmanns Systemtheorie über das bloße Zusammenhängen der Einheit mit der Identität hinaus.39 Die Identität des Sozialsystems kann demnach aber weder selbig noch beliebig bleiben. Sie schwankt zwischen Tautologie und Paradoxie als eine beunruhigende Identität. Das Sozialsystem muss seine (funktionale) Identität anhand von Struktur und Semantik – Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung – auf die Weise gestalten, dass die Unbestimmbarkeit in die Bestimmbarkeit verwandelt wird, wobei die Identität (Redundanz) die Unbestimmtheit mit sich bringt. Vor dem Hintergrund der funktionalen Differenzierung muss sie sogar als „die selbsterzeugte Unbestimmtheit des Systems“ reproduziert werden, um auf die Unzugänglichkeit, Unbekanntheit und Unbestimmbarkeit der modernen Welt reagieren zu können.40 Die Gesellschaft wird dadurch in dynamischem Zustand gehalten. Das Identitätsproblem zeigt sich besonders deutlich in historischen Übergangszeiten und erscheint als Diskrepanz von Struktur und Semantik. Die Selbstbeobachtung und die Selbstbeschreibung der Gesellschaft erfolgen dann entlang „der Abstraktion des Identitätsproblems“ und werden als „Reaktion auf strukturelle Transformationen des Gesellschaftssystems“ verstanden.41 In diesem Sinne können der soziale Wandel und die geschichtliche Evolution anhand von Tautologie und Paradoxie beschrieben und als Differenz von Invarianz / Varianz der Identität – sowohl strukturell als auch semantisch – dargestellt werden. Daran anschließend soll man aber nach der Besonder39 Vgl. Nassehi, Wie wirklich sind Systeme?, 1992, S. 59, Anm. 33. Nassehi bezeichnet Tautologie und Paradoxie je mit ‚A = A‘ und ‚A = – A‘, wobei er auf das Problem der Bestimmbarkeit und die Einführung des Zusatzsinns hinweist. Allerdings geht er nicht auf das Identitätsproblem ein und nimmt an der Formel ‚A = – A‘ keinen Anstoß. Ist das logisch überhaupt möglich? Es geht m. E. um den Zusammenhang von Einheit, Identität (als Relation) und Identifizierung (Aufnahme der Bestimmung). Die drei Begriffe werden aber oft in dem einen Terminus Identität verwirrend vermengt. 40 Luhmann, Literatur als Kommunikation (1996), 2008, S. 375. 41 Luhmann, Tautologie und Paradoxie, 1996, S. 80, S. 82. Man sieht hier den möglichen Sinn der logischen Formen Tautologie und Paradoxie für die geschicht liche Evolution des Gesellschaftssystems.
I. Einheit, Identität und Negation zu Differenz und Selbstreferenz141
heit fragen, die die Paradoxie vor der Tautologie auszeichnet. Die eigens der Paradoxie zugesetzte Negation wird in diesem Zusammenhang weiter erläutert. 3. Negation und Theodizee Es ist mir besonders aufgefallen, dass man ausgerechnet dem Problem der Negation bei Luhmann fast keine Aufmerksamkeit schenkt. Dabei bildet gerade die Negation den springenden Punkt, der die Differenzlogik von den humanistischen Theorien mit allen Grundgedanken scheidet. Auch bei den Subjektphilosophien kennt man die Differenz, die Grenze und die Negation. „Der Begriff der Grenze enthält den Aspekt der Position und Negation.“42 Worin besteht dann die paradigmatische Besonderheit der Differenztheorie? Dabei kann man wohl wieder von Luhmanns Weltbegriff ausgehen. Die Welt ist unnegierbar, weil man nur in der Welt die Welt negieren kann. Man bestätigt sie, eben wenn man sie negiert. Die Welt erduldet alle Unterscheidungen und löst sie wiederum auf. Sie ist differenzlos, stellt also eine Selbigkeit dar, ist tautologisch. Die Welt ist die Welt, sie erlaubt alle Anschlussmöglichkeiten.43 Aber worin ist denn die Negation in aller Welt, wenn man doch von Negation bzw. Nichtnegation der Welt sprechen kann? In der Tat liegt die Negation nicht in der Welt an sich. Die Welt enthält also keine Negation in sich, indem „die Negativität in der Welt selbst keinen Ort hat, da nichts negativ sein kann“; die Welt kennt keine Unwahrheit und keinen Irrtum, „die Welt irrt sich nicht über sich selbst“. Nur der Mensch hat das „Privileg“, Irrtümer zu begehen; und dies impliziert, dass das Wissen um die Welt und auch dessen Korrektur allein dem Menschen zugeschrieben werden. Der Sitz der Negation liegt sozusagen im Menschen (als Subjekt, Bewusstsein, Individuum). Da die Welt (Logos) sich nicht irrt und das Wissen um sie daher eigentlich keine Irrtümer mit sich bringt, kann man nicht beim empirischen Menschen bleiben, der doch Irrtümer begeht. Man muss ein transzendentales Subjekt bzw. einen transmundanen Ort – „etwas Nichtempirisches“ bzw. „ein alogisches Etwas“ als Träger des Wissens – haben. In diesem Sinne gilt das Subjekt als letzte Grundlage der Gewissheit. Mit der Zunahme des empirischen Wissens wird aber diese Zurechnung problematisch, eben weil man diese Zurechnung „nicht mehr empirisch, sondern nur noch in sich [im Subjekt] selbst verorten kann“.44 42 Zahn,
Einheit, 1973, S. 325. oben B. I. 3. b). 44 Alle Zitate, WissendG, S. 12. Das Subjekt wird sozusagen in seiner reinen Selbstreferenz gefangen. 43 Vgl.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
Die Zurechnung des Wissens und mit ihr die Negation werden dann nach Luhmann in die soziale Kommunikation – in doppelte Kontingenz von Ego und Alter Ego – verlegt. „Zwar gibt es keine negativen Tatsachen. Die Welt ist, was sie ist. Aber durch Codierung der Kommunikation über Realität erreicht man, daß alles, was aufgegriffen wird, als kontingent behandelt und an einem Gegenwert reflektiert werden kann.“45 In der Welt kann nämlich nichts negativ sein, in ihr sind keine negativen Tatsachen und die Welt bleibt immer wie sie ist. Nur durch die binäre Codierung werden die Differenz – wie die von wahr und unwahr – und damit die Negation in die Welt eingelassen und darin entfaltet, sei es im individuellen Subjekt, sei es im sozialen System. Die Welt wird nun kontingent. Hier ist auch zu beachten, dass die Negativität vor der Selbstreferenz liegt: „Die Negativität liegt vielmehr auch der Selbstreferenz noch voraus und macht sie erst möglich, indem sie ihr die Funktion der Selbst-Bestimmung gibt.“46 Daher enthält die Welt zwar Wirkliches und Mögliches und auch Negatives (Unwirkliches und Unmögliches).47 (Un-)Wirkliches und (Un-)Mögliches scheinen dabei aber nur Weltsachverhalte zu bedeuten, die dann ebenfalls in die Selbstreferenz des Systems überführt werden, wobei erst ihre Wirklichkeit und / oder ihre Unwirklichkeit hinzukommen.48 Dafür tritt die Negation ein, sie wird an der abgrenzenden Leitdifferenz von System und Umwelt lokalisiert: „Die Negation muß dann als eine systeminterne Operation begriffen werden, die sich auf die Relation zwischen System und Umwelt bezieht, also etwa eine Enttäuschung von Erwartungen (aber nicht ein negatives Faktum) feststellt.“49
An diesem Punkt scheidet sich Luhmanns Systemtheorie auch von Hegels Dialektik des absoluten Geistes. Die letztere baut zwar auch die Negation in 45 ÖK,
S. 77. Temporalisierung von Komplexität, in: ders., GuS 1, 1998, S. 212 f. 47 Vgl. SS, S. 93. 48 Man beachte hier die Unterscheidung von ‚(Un-)Wirklichem‘ (Faktum bzw. Ding) und ‚(Un-)Wirklichkeit‘ (Existenz). Auch Negatives (Unwirkliches, Unmögliches) kann als Weltsachverhalt ohne Wirklichkeit dargestellt werden. Dies kann man leicht bei der Romanlektüre – der fiktionalen Realität – erfahren. 49 Luhmann, Soziologie der Moral, 1978, S. 14. Damit formuliert Luhmann „eine Umstrukturierung des Gebrauchs von Negation“ (ders., ebd.). Die Negation hat damit zwei Fassungen: Die eine bezieht sich auf Fakten (Sachverhalte bzw. Tatsachen, auch „negatives Faktum“), die andere – und erst hier befindet sich das systemtheoretische Anliegen – auf Annahme / Ablehnung bzw. Erfüllung / Enttäuschung einer strukturellen Erwartung. Man sieht hier, dass Tautologie und Paradoxie keinen Unterschied im Hinblilck auf den Sachsinn machen. Gerade deshalb ist die Negation (nur) bei der Paradoxie zu sehen. Es geht um die Differenzerfahrung. Dabei könnte man auch in der soziologischen Ethnomethodologie einen ähnlichen Ansatz erblicken (vgl. Joas / Knöbl, Sozialtheorie, 2004, S. 220 ff.). 46 Luhmann,
I. Einheit, Identität und Negation zu Differenz und Selbstreferenz143
sich ein, bewegt sich aber in der hierarchischen Differenz von höher / niedriger. Sie setzt sich die Perfektion zum Ziel, indem das Absolute alles einschließt und in sich ‚aufhebt‘, so dass „am Ende nur noch das Ausschließen ausgeschlossen ist“ und „alles Mögliche wirklich“ wird; die Freiheit durch Negation heißt dann Freiheit zur Perfektion, nicht Freiheit zur Korruption, und dementsprechend gilt es den Mangel bzw. die Korruption zu korrigieren.50 Insofern gilt Hegels Dialektik als ‚perfekte‘ Formulierung der ontologischen und humanistischen Tradition, die Luhmann zufolge seinsweise einseitig bzw. einwertig ist und die Relation deklassiert.51 Bei Luhmann werden die Weltsachverhalte also in die binär codierte Selbstreferenz des Systems überführt, wobei das System sozusagen auf der Negation ‚gegründet‘ wird. Und „Selbstreferenz wird zum Wirklichkeitskriterium schlechthin“.52 Um Luhmanns Systemtheorie angemessen zu begreifen, soll man nämlich sorgfältig zwischen dem Sachverhalt (Begriff, Bedeutung) und der Wirklichkeit (Existenz, Tatsächlichkeit, Wahrheit) unterscheiden; bei Luhmann wird aber diese Unterscheidung mit Negation nur verwirrend angedeutet.53 Der Begriff der Negation ist bei ihm in der Tat ambivalent – positiv und negativ zugleich.54 So kommt bei ihm gerade mit der Negation (bzw. Täuschung) 50 GdG, S. 422 f. Vgl. SS, S. 496 f. Der eigentliche Unterschied der beiden Theo rien resultiert nämlich aus den am Anfang stehenden Leitdifferenzen. 51 GdG, S. 901 f. Wegen und trotz aller Ähnlichkeiten scheiden sich die Geister radikal gerade an der Negation, die man auf die letzte Identität oder auf die bleibende Differenz beziehen kann. 52 SS, S. 393. 53 Diese wichtige Unterscheidung wird bei der Erörterung des Differenzansatzes mit Verweis auf Frege, Husserl sowie Wittgenstein und bei der Erörterung der Kontingenz bereits einmal angesprochen, siehe B. I. 3. b) und B. III. 1. 54 Als Beispiel, Luhmann, Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: ders., AdR, S. 400: Der Geltungsgrund des positiven Rechts liegt eben in seiner Negierbarkeit. Man könnte darin den Sitz von Sinnlosigkeit bzw. Unsinn sehen. Für Luhmann kann die Sinnlosigkeit nur „in einer Verwirrung von Zeichen“ bestehen (SS, S. 96), sie stellt somit einen negativen, aber doch sinnhaft kommunikablen Weltsachverhalt dar. Es gibt nämlich ohne Zweifel die Sinnlosigkeit als Phänomen in der Welt. Was auszuschließen ist, ist lediglich, dass der Sinn nicht mehr anhand der Differenz von Position und Negation zur Geltung kommt. Es gibt keine Sinnlosigkeit bzw. Sinn-Negation im Sinne von Aufhören-mit-Sinn, weil sonst von Sinnhaftigkeit bzw. Sinnlosigkeit usw. überhaupt keine Rede mehr sein kann (vgl. GdG, S. 49). Kirchmeier, Sinn, 2012, S. 118, hält eine Konzeption von Sinnnegation für nötig, aber es scheint mir die Pointe zu verfehlen, wenn Balke einerseits den Unsinn mit dem Wahnsinn (bei Foucault) vergleicht und andererseits die Unentbehrlichkeit von Sinn als „zum unendlichen Sprechen“ versteht (Balke, Dichter, Denker und Niklas Luhmann, 1999, S. 144–147), weil der Unsinn-Sinn eben einen Sachverhalt darstellt und die Sinn-Negation von existentieller Art ist. Man kann nicht nur schweigen, sondern auch schlicht aufhören; von unendlichem Sprechen kann keine Rede sein. Eher könnte man in Sinnlosigkeit bzw. Unsinn als
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
– aber nicht mit Sein – die Wirklichkeit (Existenz, Tatsächlichkeit) eines Weltsachverhaltes zum Vorschein. Und erst anhand der Negation wird die Differenz gesetzt: Die Negation wirkt einschränkend, indem sie diese Möglichkeiten zulässt und jene anderen verdrängt. Damit aktualisiert sich die Verweisung des Sinns „als Standpunkt der Wirklichkeit“.55 Und nur mit der Negation, die nun in der Selbstreferenz arrangiert wird, kann der Sinn sowohl Positivität als auch Negativität – positive und negative Sachverhalte – übergreifend annehmen und daher eine unnegierbare Kategorie darstellen.56 Dadurch wird die ganze Welt mit der Operation des binär codierten ‚Grenzfall des Sinns‘ eine negative Selbstbezüglichkeit finden, das Wort Unsinn „drückt sein Bezeichnetes aus, so wie es auch seinen eigenen Sinn bezeichnet“ (Deleuze, Logik des Sinns, 1993, S. 93); das Wort Unsinn verkörpert also den Unsinn, worin man sogar den Mechanismus der Sinnerzeugung verortet (vgl. Deleuze, ebd., S. 96–100). 55 SS, S. 93. 56 Vgl. SS, S. 92; WissendG, S. 321. Wie man den Sitz der Negation bestimmt, soll eine sehr grundlegende Theorieentscheidug ausmachen. Im Üblichen scheinen Logiker und Mathematiker die Negation auf der Ebene der Bedeutung zu lokalisieren und sie für eine Bedingung zur Unterscheidung zu halten, während Luhmann die Negation eher auf die Ebene der Existenz bringt und sie mit und in der Unterscheidung bzw. Differenz sehen lässt. So liegt eine innovative Pointe bei Luhmanns Lektüre von Spencer Browns Anweisung „Draw a distinction“ darin, „daß die Operation des Negierens den Gebrauch einer Unterscheidung voraussetzt (und nicht, wie die Logiker meinen müßten, der Gebrauch einer Unterscheidung die Negation“ (WissendG, S. 517). Demnach steht die Negation nicht vor der Unterscheidung, sondern sie erscheint mit bzw. gar nach der Unterscheidung. Dem widerspricht Hennig, Luhmann und die Formale Mathematik, 2000, S. 171, diametral: „Tatsächlich ist aber fast nichts anderes vorausgesetzt als eben das Negationsverhältnis, das zwischen Verschiedenheit und Nichtverschiedenheit besteht.“ Man muss zum Beispiel zuerst eine Menge und erst dann ihr Komplement etablieren, wobei bereits eine Negation in Bezug auf (Nicht-)Verschiedenheit vorgeht und zwischen beiden inkompatiblen Dingen besteht (Hennig, ebd.). Demnach besteht für Mathematiker anscheinend keine andere Möglichkeit, während Luhmanns nichtklassische Reflexionslogik betonen will, dass auch eine mathematische „Operation ist, was sie ist, und zwar auch dann, wenn sie dies negiert. Daraus kann gerade nicht auf ein Anderssein, auch nicht auf ein Nichtanderssein geschlossen werden“ (WissendG, S. 517). Obwohl es negiert wird, bleibt es dasselbe! Luhmanns Mathematik wird also nicht begriffen. Zu Luhmann ist aber noch anzumerken: Es gibt keine negative Tatsache in der Welt, aber es gibt sehr wohl negative Sachverhalte. Man kann durchaus den Satz aussprechen und seinen Sinn verstehen, auch wenn dabei das tiefgreifende logische und ontologische Problem nicht bemerkt wird: Es gibt in der Welt tatsächlich keinen Pegasus. Man soll sich schließlich an den Gottesbeweis erinnern. Nur Luhmanns Formulierung verursacht die Vermengung von Bedeutungsebene und Existenzebene: „ob es […] unwirkliche Möglichkeiten überhaupt gibt“, der Kontingenzbegriff bedeutet dann „Seiendes in der Möglichkeit seines Nichtseins, kombiniert also in eigentümlicher Weise positive und negative Aussagen über Mögliches und Wirkliches, nämlich so, daß über etwas positiv festgestelltes Wirkliches die Möglichkeit des Nichtseins positiv ausgesagt wird“ (Luhmann, Rechtstheorie im interdisziplinären
I. Einheit, Identität und Negation zu Differenz und Selbstreferenz145
Systems dynamisiert, auch die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme wird mit weiterer Spezifizierung der Negationsfähigkeit ermöglicht.57 Mit Negativität beginnt ein selbstreferentielles System seine eigene kontingente Selbstbestimmung auszugeben. Dabei wird zuerst auf der Ebene der einzelnen Elemente (Ereignisse) begonnen und mit basalen Operationen werden dann die Strukturen entwickelt.58 Die Negation wird dabei mit Verzeitlichung verbunden und fällt mit der gegenwärtigen Vorher / NachherDifferenz zusammen. Die Kontingenz sieht man darin, dass es nachher bereits anders – geändert – wird. Da die Selbstbestimmung bzw. -beschreibung des Systems seine Identität betrifft, die in zwei Formen als Tautologie und Paradoxie ausgewiesen wird, steht das Problem der Identität mit der Negation in einem internen Verhältnis. Luhmann nennt dies das ‚Problem der Theodizee‘: wie die Einheit „mit dem Negativen in sich selbst fertig wird“,59 wobei man mit der Differenz keine „legitimierende Identität“60 – keine richtige Bestimmung bzw. IdentiZusammenhang, in: ders., AdR, S. 205, mit Verweis auf Quine). Mit Kontingenz wird also die Wirklichkeit (Existenz, Tatsächlichkeit) einer Bestimmung (Eigenschaft, Attribut) von etwas behauptet und zugleich in Frage gestellt. Verständlich ist daher, dass man bei Luhmanns eingebauter Negation nur „Paare von Dingen“ mit Namen (Hennig, ebd., S. 171) finden kann. 57 Mit der ambivalenten Position der Negation schwankt Luhmann m. E. zwischen Ich-Philosophie und Mir-Philosophie (vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 204 f.; Böhme, Philosophieren mit Kant, 1986, S. 229–239). Wenn die Negation und mit ihr die Wirklichkeit am binären Code im System verankert werden, dann scheint Luhmann auf der Linie der Subjektphilosophie seit Fichtes Ich zu bleiben: Am Anfang ist die Tat – Draw a distinction – und die Welt wird binär technisiert. Die Systemtheorie scheint insofern eine Soziotechnologie zu sein. Wenn die Negation – verursacht von der gegenwärtigen Zeitdifferenz – vor der Selbstreferenz des Systems verortet wird, dann erscheint das binär codierte System als eine reagierende Abwehr gegen die chaotische Umwelt. Und insofern nähert sich Luhmann der Mir-Philosophie und optiert gegen die Theorie der intentionalen Handlung, die ein Wesen für die Ordnung bereits im Handlungsbegriff sieht. Übrigens könnte man in Luhmann einen verkehrten Meinongianer sehen, da Luhmann Frege und anderen folgend Existenz von Gedanke trennt, aber dadurch die Schwierigkeit bekommt, die Negation – Existenz und Nichtexistenz – in der Welt zu verorten. Meinong sieht die nichtexistenten Dinge in der Welt, Luhmann muss aber die Negation von der (unnegierbaren) Welt ins System verschieben. Aber so wie viele Philosophen Meinongs „Antwort nicht verstehen“ (Hübner, Metaphysik, 2003, S. 137), ist Luhmann ebenso schwer zu begreifen. Doch für Luhmann kommt es wohl nicht auf seine persönliche philosophische Positionierung an, sondern es geht darum, die vor Augen bestehende moderne Gesellschaft so zu beschreiben, wie sie – auf dem Pfad der Subjektphilosophie? – in der Tat hoch technisch organisiert wird. 58 SS, S. 392 f. 59 Luhmann, Selbst-Thematisierung des Gesellschaftssystems, 1973, S. 24. 60 SS, S. 111.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
tät – mehr erhalten kann. Dies ist insbesondere so, weil die Identität (des Individuums sowie des Sozialsystems) nicht mehr von der Herkunft, sondern von den verzeitlichten Differenzen abhängt. Daraus entsteht auch die Paradoxie des Codes, „wenn eine selbstreferentielle Operation nicht einfach sich selbst bestätigt, sondern die Selbstbestätigung über die Implikation des Gegenteils laufen läßt.“61 Das Problem der Theodizee läuft somit auf die logische Antinomie hinaus und umgekehrt.62 4. Fazit Die Kritik an Luhmanns Systemtheorie setzt einerseits mit der Ansicht ein, dass die sogenannte systemtheoretische Differenzlogik sich in der Tat immer noch an der Identität orientiert und sogar auf das theoretische Niveau vor 1800 zurückfällt. Andererseits bestreitet man grundsätzlich die Möglichkeit eines selbstreferentiellen Selbst des Sozialsystems. Demnach steckt Luhmann – trotz aller Propaganda der theoretischen Neuheit – immer noch in der Tradition der Bewusstseinsphilosophie. Diese Kritik ist m. E. berechtigt, wenn Luhmann die Einheit unmittelbar – trotz der Differenz – an die Identität bindet. Unberechtigt ist die Kritik aber, dass diese Verbindung Identität / Einheit keine Lösung, sondern eher die Fragestellung im Zusammenhang einer Gesellschaftstheorie der modernen Gesellschaft darstellt. Man möchte den Sachverhalt beschreiben, dass die Einheit und die Identität wegen der grundlegenden Strukturen der modernen Gesellschaft unerreichbar und problematisch werden. 61 Luhmann, „Distinctions directrices“ (1986), in: ders., SA 4, 1987, S. 22. Im Hinblick auf die Theodizee – sic deus, unde malum? – unterscheidet sich Luhmann von anderen klassischen Autoren (Leibniz, Kant, Fichte, Schelling, Hegel) dadurch, dass bei letzteren die Theodizee die Rechtfertigung betrifft und daher die Belastung bzw. Entlastung eines irgend gearteten Prinzips (Gott, freier Mensch, Natur u. ä.) behandelt. Damit wird aber das Böse bzw. das Übel als negative Seite nicht erlaubt. Vgl. Marquard, Theodizeemotive in Fichtes früher Wissenschaftslehre, 1994, S. 143–158. Dies ist der von Luhmann kritisierte Humanismus. Luhmann deontologisiert nun die Theodizee, indem er die legitimierende Identität ausschließt und die negative, böse bzw. üble Seite doch anerkennend berechtigt. Immerhin kann man in der Systemtheorie ein Theodizeemotiv sehen, dessen Entfaltung aber in einem Begriffskomplex verborgen gehalten wird. 62 Hierbei ist zuerst anzumerken, dass die Paradoxie mit Identität (als reflexiver Relation) und Negation nicht nur rhetorisch, sondern tatsächlich logisch antinomisch ist. Nach Link / Niebergall, Logik, 2003, S. 109, entsteht eine logische Paradoxie, wenn das Wahrheitsprädikat „negiert“ und „reflexiv“ angewandt wird. Kneer / Nassehi, Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, 2000, S. 106, nennt mit „Selbstreferenz und Benutzung einer Unterscheidung“ zwei Bedingungen für die Entstehung der Paradoxie, wobei es aber unklar ist, ob und wie die Negation einbezogen ist. Luhmann sieht die Paradoxie ohnehin bereits in der Selbstreferenz.
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie147
Trotzdem soll man vor diesem Hintergrund nach der Möglichkeit der Differenzlogik fragen. Um das logische Problem der Selbstreferenz des Sozialsystems in den Griff zu bekommen, soll man vor allem den verwirrend gebrauchten Identitätsbegriff bei Luhmann differenzieren: als Einheit, als dies, als (reflexive) Relation, als Identifikation sowie als (strukturelle) Redundanz. Dabei beachte man auch, dass der Einheitsbegriff bei ihm zwischen dem Einfachen (Gott ohne jede Differenz) und der nicht genauer definierten Differenz (Gott mit allen Differenzen) schwankt. Der Selbstbewusstseinsphilosophie folgend wird die selbstreferentielle Einheit des Sozialsystems mit Identität bezeichnet, die ihrerseits zwei Formen erhält: Tautologie und Paradoxie. In diesem Zusammenhang soll der theoretische Stellenwert der Negation besondere Beachtung finden. Die Negation wird der Paradoxie zugesetzt, sie unterscheidet dadurch Paradoxie von Tautologie und verändert dennoch nicht die Identität (und die Einheit) des Systems. Der Negation entspricht nichts Inhaltliches, obwohl sie allem Sinnhaften zugesetzt werden kann. Sie bezieht sich in der Tat auf die ‚Sinnwerte‘: Sein oder Nichtsein. Luhmann hat hierbei eine entscheidende systemtheoretische Umschreibung der Unterscheidung von Gedanke (Bedeutung) und Existenz (Wirklichkeit) – auf Frege, Husserl und auch Wittgenstein verweisend – versucht.63 Damit wird der Problemkomplex von Einheit / Identität in den Problemkomplex von Tautologie / Paradoxie umgeformt, der dann in der Gestalt der Theodizee – Identität mit innerer Negation bzw. selbstnegierende Identität – vorkommt. Der Negationsbegriff ist ambivalent: sowohl positiv als auch negativ. Die Negation hat nämlich mit Kontingenz der Identität zu tun, kommt in der System / Umwelt-Differenz vor und manifestiert sich in der einschränkenden und kombinierenden Funktion des zweiwertigen Codes. Die Systemtheorie erweist sich als in der logischen Paradoxie gegründet. Damit ist sie möglicherweise bereits zum Scheitern bestimmt.
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie Das Problem der Paradoxie bildet, wie dargestellt, den Schlussstein der Systemtheorie. Die Paradoxie erregt aber Verwirrungen und Irritierungen. Hier werden zunächst einige Ansätze zur Problemlösung betrachtet, um den Problemzusammenhang zu verdeutlichen. Daran schließe ich meinen Vorschlag an. 63 Habermas beklagt zutreffend, dass bei Luhmann anhand seines Sinnbegriffs „der interne Zusammenhang von Bedeutung und Geltung aufgelöst“ wird (Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985, S. 431). Der Ansatz von Luhmann neigt tatsächlich dazu: Trennung von Bedeutung (Begriff) und Existenz. Aber diese Trennung ist eben eine Sache der Theorieentscheidung. Die Folge ist dann: Bedeutung ist nur Bedeutung, es gibt keine richtige Bedeutung im Sinne des Konsenses mehr.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
1. Paradoxie zwischen Identität und Differenz „Was heißt, sich an Differenz statt an Identität orientieren?“64 Die Differenzlogik lehnt nach Clam den Vorrang der Identität als Präsenz des Seienden in Selbigkeit mit sich selbst ab, sie kennt „keine in sich zentrierte Identität, sondern nur ein Ineinander von Identität und Differenz, dass an sich nichts ist, sondern nur im operativen Vollzug der Grenzziehung und Unterscheidung etwas wird“; insofern ist „das Es-selbst-sein […] Vollzug der Differenz Es / Nicht-Es, wie sie im Es selbst reflektiert wird“; auch entsteht die Systemidentität durch Reflexion der Differenz von System und Umwelt; aus diesem Reflexionsmodell resultieren eine „Protologik“ und die wiederholt beschworene „Paradoxologie“.65 Worin aber die Paradoxie in der genannten Protologik besteht, ist eigentlich nicht einzusehen, wenn man einmal von der in der Philosophie üblichen Selbstreflexion des Subjekts absieht.66 Aber auch mit der Reflexion setzt man dann wieder bei dem sichidentischen Selbst an, die Differenz wird damit sozusagen absorbiert.67 Ebenso schreibt Baecker, „daß das System nichts anderes ‚ist‘ als der Unterschied zwischen dem System und seiner Umwelt“. Dafür stellt er die 64 Clam,
Was heißt, sich an Differenz statt an Identität orientieren?, 2002. Was heißt, sich an Differenz statt an Identität orientieren?, 2002, S. 9, S. 26 f. Mir scheint die Ansicht von Clam problematisch zu sein, da er mit „nichts“ und „etwas“ an die Unterscheidung von Relation und Eigenschaft nicht denkt. Bei Luhmann steht nicht nichts an sich da, sondern gerade umgekehrt ist alles – auch Unmögliches – da in der Welt. Übrigens wird bei der Erläuterung des Differenzansatzes oft behauptet, dass etwas keine Identität an sich hat, sondern es seine Identität nur durch die Differenz zu etwas anderem erhält. Aber man fragt nicht weiter, ob und wie von Identität auf Differenz (im Sinne der Verschiedenheit?) gefolgert werden kann und umgekehrt? Identität und Differenz (als Verschiedenheit) sind aber doch zwei unterschiedliche, je eigenständige Kategorien. 66 Clam beharrt – Luhmann folgend – auch darauf: „es gibt Paradoxie“ und fragt nach diesem „es gibt“, also nach dem „Sein des Paradoxes überhaupt“ (siehe Clam, Die Grundparadoxie des Rechts und ihre Ausfaltung, 2004, S. 142–3). Aber was das Sein der Paradoxie aussagen soll, ist eben das Problem. Ist es irgendein Weltsachverhalt? Ein Modus der Existenz? Oder etwas anderes? Clam wendet sich auch gegen die folgende Vorstellung: „Das Paradox sei ein (logischer) Widerspruch, eine endgültige Hemmung der Denkbewegung, das denkerische Zeugnis der Realunmöglichkeit von etwas“ (Clam, ebd., S. 136). Dem ist zuzustimmen. Allerdings hebt Clam dann wie bei einigen anderen unmittelbar hervor, Paradox sei „der Anfang einer Geschichte“ (ebd.). Er interessiert sich nicht so sehr für Paradoxie an sich, sondern eher für Entparadoxierung, nämlich den Anschluss der Operationen. 67 Wie die Formel Differenz von Identität und Differenz (Luhmann) mit dem Ineinander von Identität und Differenz (Clam) vereinbar ist, ist zu bedenken. Clam hält m. E. die Einheit der Differenz und die Identität anhand der Selbstreferenz nicht weit genug auseinander. Außerdem wird der Identitätsbegriff nicht genauer definiert: Substanz, Eigenschaft, Relation? 65 Clam,
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie149
Basisformel der Systemtheorie auf: „S ≠ S, wenn S = S (S, U)“ (S = System, U = Umwelt), wobei die Formel S = (S, U) die Spaltung der Weltkausalität durch die Grenze des Systems zur Umwelt bedeutet und das System sowohl der inneren als auch der äußeren Kausalität ausgesetzt wird. System und Umwelt bestimmen einander und spielen wechselseitig die Rolle von Ursache und Wirkung. In dem Sinne, dass die Kausalität aus der Umwelt durch die Systemgrenze unterbrochen wird und deshalb unbestimmt ist, stellt das System „die Relation zwischen Selbstbestimmung und Unbestimmtheit“ dar. Insofern wird von unbestimmter Selbstbestimmung gesprochen und „das System reproduziert sich nicht als Identisches, sondern als Differentes“.68 Ob es bei der Differenz um die genannte gespaltete Kausalität geht, ist zu bezweifeln; ohne Leugnung der Weltkausalität kommt es für die autopoietisch selbstreferentielle Reproduktion des Systems wohl eher auf Struktur und Zeit an.69 Noch fragwürdiger ist, dass Baecker das Differente ausschließlich auf das System bezieht, während mit der gespalteten Kausalität die Differenz von System und Umwelt angedeutet wird. Aber so wie die Differenz, ist auch „das Differente“ beiderseitig; es schließt nämlich System und Umwelt ein und bereitet dabei das grundlegende Problem des Verständnisses des Differenzbegriffs.70 Obwohl man sich mit dem Differenten von dem Identischen abheben will, scheint mir aber, dass die Identität weiter anhaftet; zudem ist die Basisformel „S ≠ S“ augenscheinlich selbstwidersprechend und kann nichts aussagen. Luhmann folgend würde eine Basisformel wohl eher dahingehend formuliert: S = S (Tautologie), S ≠ S (Paradoxie bzw. Widerspruch) und S / U = S (S / U);71 die Differenz S / U entsteht also nur im System, indem das System sie dem Weltmaterial aufdrückt. Jedenfalls bleibt der Zusammenhang von Identität, Differenz, Paradoxie undurchsichtig. Nassehi sieht die Paradoxie ausdrücklich mit der Identität zusammen, die im Reflexionszirkel des subjektiven Bewusstseins den Grund hat. Traditionell sucht man die Enttautologisierung der Paradoxie im apriorischen, vorempirischen Grund – also in einer invarianten Substanz (Ich, Urquellenpunkt u. ä.). Darin liegt das identische Selbst, das seitens von Kritikern Luhmanns Systemtheorie unterstellt wird. Nach Nassehi kann man nun mit der Systemtheorie die Identität erreichen, ohne theoretisch eine invariante Substanz vorauszusetzen. Dies geschieht ihm zufolge anhand des Ereignisbegriffs und der Unterscheidung von Operation und Beobachtung bei Luhmann. Eine 68 Alle Zitate siehe Baecker, Die Theorieform des Systems, 2002, S. 90–91; vgl. auch Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005, S. 30. 69 Vgl. SS, S. 26. 70 Vgl. SS, S. 38; GdG, S. 595. 71 Vgl. WissendG, S. 492.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
Paradoxie kommt nämlich als Selbstbezüglichkeit vor, wenn ein System die Differenz von System und Umwelt auf sich anwendet, wie ein Subjekt eine Selbstbeobachtung vornimmt. Wenn nun die Beobachtung als Operation, als Ereignis, verstanden wird, kann Nassehi zufolge die Substanz für die Identität, wie sie bei der Theorie des präreflexiven Selbstbewusstseins ist, vermieden werden. Sie muss nur durch eine weitere Beobachtung beobachtet werden, da sie sich selber nicht beobachtet und eben nicht beobachten kann: „Damit eine Beobachtung eines Systems von einer zweiten Beobachtung des gleichen (!) Systems beobachtet werden kann, bedarf es demnach keiner invarianten Systemsubstanz und keiner invarianten Elementstruktur des Systems, sondern nur der Unterscheidung von Vorher und Nachher, d. h. der Zeit.“72
Nicht mehr durch Substanz, sondern durch Zeit soll demnach die tradi tionell bekannte Paradoxie der Selbstreflexion des Subjekts gelöst werden. Wenn ein System sich beobachtet, verursacht die Beobachtung die Paradoxie „durch gleichzeitige Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zum System“, weil die Beobachtung als Operation sich nämlich in dem Beobachteten – eben dem System – nicht finden kann; aber wenn das nächste Ereignis als anschließende Beobachtung auftritt, gehört die vorherige Beobachtung doch „nun eindeutig zum System“; aber die Paradoxie bleibt dadurch ungesehen.73 Da die Zeit aus den aneinander anschließenden Ereignissen besteht, die selber keine Zeit brauchen, kann die Paradoxie somit stetig verschoben werden. Durch die laufende Zuordnung der operativen Beobachtungen zum System wird zwar das System auch stets modifiziert, aber mit der Zeit der Ereignisse kann die Paradoxie umgangen werden. Die Zeit wird ihrerseits nicht mehr aufgrund der Identität der Substanz konzipiert, sondern anhand der Differenz von Vorher / Nachher bzw. Vergangenheit / Zukunft. Die Identität, die sich ein System zuschreibt, wird so anhand der Differenz hergestellt. „Schon der operative Aspekt der Identitätserzeugung stellt auf den Differenzcharakter der Identität ab. Das Identische ‚ist‘ das NichtIdentische […], was es also vermeintlich ‚ist‘, hier: das Nicht-Identische.“74 Das System wandelt und verändert sich, aber an jedem Ereignispunkt kann die Paradoxie durch die Zeitdifferenz Vorher / Nachher verdeckt werden. Das System ist also, was nicht mehr ist. Kann man mit Zeit die paradoxe Selbstbezüglichkeit entparadoxieren? Oder ist das Gegenteil der Fall? Es scheint mir, dass die Selbstbezüglichkeit eine reflexive Relation darstellt und an sich gar keine invariante Substanz braucht, um eine Paradoxie zu entstehen und darstellen zu lassen. Man 72 Nassehi, Das Identische „ist“ das Nicht-Identische, 1993, S. 479. Über Selbstbewusstsein und Zeit, vgl. Brauner, Das präreflexive Cogito, 2007, S. 176 ff. 73 Nassehi, Tempus fugit?, 2000, S. 35. 74 Nassehi, Das Identische „ist“ das Nicht-Identische, 1993, S. 480.
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konzipiert irgendeine Substanz, eigentlich nur um diese Paradoxie zu stoppen, genau wie Luhmann es der traditionellen Seinsontologie bescheinigt.75 Aber die Paradoxie als ein ‚logisches Verhältnis‘ hat mit der Zeit selber nichts zu tun, obwohl sie in der Zeit entstehen kann. Vielmehr bringt die Zeit selber ihre Paradoxien mit sich, sie zeigt sich als Paradoxien. Nassehi denkt die Paradoxie entlang der Selbstreflexion des Subjekts. Zu einem ernsthaften Problem wird sie aber nur als negative Selbstbezüglichkeit, als ‚Identität durch Negation‘. Daher könnte man die Formel wohl so formulieren: Das Identische ist (nicht) das Identische oder: das Identische ist (nicht) das Nicht-Identische, da die Selbstreferenz entweder überflüssig oder paradox ist.76 Nach Luhmann werden mit der Befreiung der Zeitdimension aus dem ‚Sein‘ die Paradoxien erst sichtbar, mit der Temporalisierung vermehren sie sich sogar. Daher spricht man auch von ‚Zeitbindung‘. Kritiker unterstellen der Systemtheorie einen Identitätsansatz, der wiederum auf eine Substanzmetaphysik zurückgeführt werden kann. Anhänger bestreiten das unterstellte Substanzdenken und heben die Identität durch Differenz hervor. Dem Ausgeführten kann man entnehmen, dass für beide Seiten die Paradoxie mit Identität zu tun hat. Die Paradoxie liegt nämlich zwischen Identität und Differenz. Ebenfalls beiderseitig bleibt aber unerklärt, wie man die Paradoxie als solche genau nachvollziehen soll. Ist sie tatsächlich so paradox? Man erinnere sich daran, dass die Identität zwei Formen hat: Tautologie und Paradoxie. Und die Besonderheit der Paradoxie bei Luhmann liegt in der zugesetzten Negation. Gerade mit der Zeit als Differenz von Vorher / Nachher kommen m. E. die Negation und mit ihr die Paradoxie zum Vorschein, weil es mit momenthaften Ereignissen immer bereits anders wird: Etwas ist nicht mehr. Die Paradoxie entsteht mit der Zeit. Und dies bedeutet weiterhin Kontingenz. Genau auf die Verzeitlichung und auf die Kontingenz reagieren die Differenz (Systemdifferenzierung) und die Identität (Selbstreferenz des Systems). Darin liegt die Pointe der Orientierung an der Differenz, die mit der problematischen Identität – der Systematizität des Systems – verbunden wird.77 75 Vgl. GdG, S. 901, S. 904, S. 928. Man möchte im Subjekt ein Wesen finden, um seine Identität zu bestimmen. Aber sowohl für Subjektivität als auch für Identität braucht man wohl kein Wesen, um trotzdem eine Selbstbezüglichkeit bzw. Paradoxie zu finden. 76 SS, S. 59. 77 Man beachte, dass die Differenz ambivalent ist und sich gleichzeitig auf Einheit und Negation bezieht. Warum denn soll man die Deontologisierung vornehmen und gegen den Identitätsansatz optieren, wenn die Welt doch eine feste, invariante Substanz als Grundlage hätte? Es ist nur so, weil die Welt anders konzipiert und die Gesellschaftsstruktur verändert wird. Insbesondere wird dabei alles in die Zeitflut
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Für die Systemtheorie fordert Luhmann eine mögliche „Logik selbstreferentieller Systeme“, wobei diese Logik nicht nur die Erkenntnis betrifft, sondern „ein allgemeiner Sachverhalt“ ist.78 Das Selbstbewusstsein stellt insofern nur einen Unterfall dar; und die geforderte Logik soll doch „Differenzerfahrung“ – das Problem der kommunikativen Unbestimmtheit – organisieren und somit den „Realitätskontakt“ garantieren können.79 Mit der Selbstreferenz des Systems taucht aber zugleich die Paradoxie notwendigerweise auf.80 In der Tat erscheinen die Paradoxien überall in der System theorie, um schließlich als der eigentliche ‚Grund‘ der ganzen Theorie zu gelten. Wenn man sich an dem Modell des Selbstbewusstseins orientiert, dann wird die Lösung der Paradoxie bereits hinsichtlich dieses typischen Falls vom Logiker als unmöglich befunden: „Diese Zweieinheit von Bewußtsein und Sein, ihre Identität und Nichtidentität zugleich, ist logisch leider nicht möglich.“81 Im Zusammenhang der Erkenntnis wird das Problem der Selbstreferenz dann in „die logische Unabschließbarkeit“ verlagert; und man braucht eine „schlurige Logik“, um Mannigfaltiges auf dessen Einheit zurückzuführen; und schließlich muss sich auch die Logik mit ihrer eigenen Selbstreferenz konfrontieren.82 Das Problem liegt ja „in den Schwierigkeiten logischer und theorietechnischer Art“,83 aber immerhin bietet Luhmann selbst keine Lösung dafür an; schon an einer klareren Exeingetaucht (Temporalisierung, Kontingenz), wohl auch der Gott, der sich in der Gesellschaft „Ich bin der ‚Ich-bin-da‘ “ nennt (Exodus 3, 14, nach Einheitsübersetzung). 78 SS, S. 31. 79 SS, S. 13. 80 SS, S. 58 ff. 81 Blau, Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien, 2008, S. 18. In Anmerkung 8 sagt Blau, dass der Versuch zur Lösung der Antinomie auch bei jeder nichtklassischen Logik unmöglich ist, weil sie doch den klassischen Identitätsbegriff und individuierte Objekte voraussetzt. Damit würde bereits angedeutet, dass die logische Paradoxie nicht durch eine dreiwertige Logik u. ä. zu lösen ist, weil dasselbe Problem sich bei dem dritten Wert wiederholt. Eine weitere Schwäche der Orientierung am Selbstbewusstsein liegt m. E. darin, dass mit diesem Reflexionsverhältnis von Ich / Nicht-Ich das Nicht-Ich als Nicht-Sein leicht mit der Umwelt gleichgesetzt wird, so dass die Differenz von System und Umwelt oft nicht klar von der inneren Differenz in der Selbstreflexion des Systems getrennt wird. Nur wegen dieser Vermengung gelangt Eley zu der Ansicht, dass die Aussage: ‚es gibt selbstreferentielle Systeme‘ „schon sinnlos“ ist, weil das Nichtsein des Systems „als Anderes (Umwelt)“ verstanden wird (Eley, Soziale Systeme und deren Logik, 1986, S. 87). 82 Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie, in: ders., GuS 1, 1998, S. 204; ders., Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, in: ders., GuS 2, 1993, S. 159; ders., Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme, in: ders., SA 3, 1991, S. 24, Anm. 44. 83 GdG, S. 33.
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie153
plikation des Paradoxieproblems fehlt es seinen Texten. In der Tat ist er der Meinung, dass eine logisch einwandfreie Darstellung der Paradoxie unmöglich ist. Damit bleibt das Anfangsproblem und mit dessen Lösung steht und fällt die Systemtheorie. Göbel schreibt dazu: „Soziale Systeme sind als selbstreferentielle Systeme operierende Systeme auf paradoxer Grundlage, weil die logische Analyse von Selbstreferenz auf deren tautologische oder paradoxe Qualität verweist. Alle rein logischen Überlegungen indizieren daher, daß sie eigentlich gar nicht operieren können. Empirisch geschieht dies aber. Demnach müssen sie als sich selbst permanent überlistende Systeme, als die eigene konstitutiv paradoxe Basis permanent kaschierender Systeme beschrieben werden. Die nie zu einem Ende kommende, antifinalistische Entparadoxierung von Paradoxien ist demnach das ‚Link‘ zwischen Logik und Sozio-Logik selbstreferentieller Systeme.“84
Dabei kann man wohl zurückfragen, wenn bereits rein logisch gesehen selbstreferentielle Operationen unmöglich sind, wie können die Sozialsysteme sich empirisch doch überlisten, und zwar mithilfe welcher Logik? Im Folgenden will ich – der Anregung von Schulte folgend – die betreffende Theorie der Neuen Phänomenologie (Hermann Schmitz) referieren und nach einem möglichen Link zwischen Logik und Sozio-Logik suchen.85 Dabei 84 Göbel, Theoriegenese als Problemgenese, 2000, S. 298 f. Göbel meint allerdings, dass das gesuchte Link bzw. die Logik des Sozialen sich an dem Ich-Subjekt orientieren soll und insofern „eine Weise der Beziehung auf sich selbst“ darstellt und daher: „Sozio-Logik ist Auto-Logik“ (Göbel, ebd., S. 301, auch S. 170). Es gilt aber hier anzumerken, dass man zwischen Ich und Identität genauer unterscheiden soll. 85 Schulte, Der blinde Fleck in Niklas Luhmanns Systemtheorie, 1993, S. 188 ff. Schulte sieht das ursprüngliche Modell der Paradoxie auch im Subjekt, das sich beobachtet. Allerdings geht es bei ihm (wie bei Luhmann) zum einen nicht (nur) um die Identität, sondern um Sein und Nichtsein (Tod), „sofern man ‚sich selbst‘ von ‚nicht sich selbst‘ unterscheiden will, also die paradoxe Vorstellung des eigenen Nichtseins als des Außerhalb seiner selbst“. Es handelt sich zum anderen um die Stabilisierung der Systemoperation anhand der zweiwertigen Logik. Schulte konzentriert das Problem der Paradoxie dann auf das Ich-Problem und vermengt dabei die Subjektivität (als subjektive Sachverhalte) und die Identität (Bestimmtheit / Unbestimmtheit). Von daher sieht er in der Fundierungsparadoxie des Sozialsystems bei Luhmann ein verborgenes Ichproblem im Sinne der objektiven Welt als Mein-Nichtsein (Mein-Tod): eine Welt ohne Ich. Durch diese Verlegung von Identität auf das Ich bedeutet die autopoietische Operation des Systems mit seinem unbeobachtbaren blinden Fleck nun die Verdrängung meines Todes, die nach Schulte das grundlegende Motiv aller Theorien – hier der Systemtheorie insbesondere – ausmacht (vgl. Schulte, Epimenides bei Hermann Schmitz und Niklas Luhmann, 1993, S. 66, S. 74 ff.) Meine Subjektivität wird demnach gerade an meinen paradox vorzustellenden Tod – meinen Pegasus? – untrennbar gebunden und dies soll im Hintergrund von Luhmanns Systemtheorie stehen: mein Ich, das in der Welt nicht zu finden ist. Die von Schulte genannte grundlegende Paradoxie könnte m. E. durch Bezugnahme des Codes von Leben / Tod auf die Differenz von Existenz / Nichtexistenz (Negation der Existenz) gesehen werden: Leben oder Tod, ich bin eben das
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
geht es um eine mögliche, einwandfreie Darstellung der logischen Paradoxie im Zusammenhang von Einheit, Identität, Relation, Zeit, Subjekt u. a. Mit diesem Vorschlag sollen die logische Möglichkeit der Selbstreferenz des Systems und die Pointe des Problems der Paradoxie noch deutlicher zum Ausdruck gebracht werden. Dabei sollen Identität, Einheit und Differenz weit genug voneinander getrennt werden, an deren Kurzschluss bei Luhmann das Verständnis der Rede von Paradoxie leidet. 2. Problem der logischen Paradoxie bei der Neuen Phänomenologie Die vorliegende Arbeit referiert die Theorie der Neuen Phänomenologie, die von Hermann Schmitz ins Leben gerufen worden ist, aus mehreren inhaltlichen Gründen. Vor allem geht es (i) um die Metaphysikkritik, die die Systemtheorie teilt und als Differenztheorie mit der sogenannten Deontologisierung betreibt. An diesem Punkt wird zugleich versuchsweise verdeutlicht, dass möglicherweise dieser Differenzansatz selber immer noch in der ontologischen Tradition stecken bleibt. Insbesondere ist die traditionell vom Sein ausgeschlossene ‚Relation‘ bei Luhmann selber weiter „metaphysisch zu deklassieren“.86 Dann werden (ii) die bei der Systemtheorie verwirrend miteinander verschränkten Begriffe von Identität und Einheit deutlicher getrennt und genauer bestimmt. Auf dieser Grundlage soll (iii) das Kernproidentische Ich. Clam, Was heißt, sich an Differenz statt an Identität orientieren?, 2002, S. 64, Anm. 86, meint, dass Schulte Luhmann beim Problem des Bezugs selbstreferentieller Systeme auf die Welt da draußen sehr Unrecht tut, da trotz ihrer Selbstreferenz die Systeme immer auf die Außenwelt hinweisen. Es scheint mir aber, dass Luhmanns Vorwurf gegen die Ontologie – Ausschluss des Nichtseins – der Theorie der Todesverdrängung bei Schulte doch parallel läuft. Aber Luhmann geht einen Schritt weiter, indem er danach fragt, wie denn die Ordnung der Gesellschaft trotz der Negation – trotz des Todes – doch möglich bleibt. In diesem Sinne ist er noch radikaler als Schulte, dessen Kritik dann gegenstandslos wird. Der blinde Fleck als Punkt der Paradoxie symbolisiert das Problem der kommunikativen Unbestimmtheit, es geht um die Weltsachverhalte bewegende Differenz von Existenz / Nichtexistenz (Negativität). Die Differenz bricht an ihm sozusagen in die Welt ein und zwingt zum Anschluss der Operationen der Systeme. Sonst hören die Systeme auf und finden ihren Tod. Anstatt Todesverdrängung könnte man eher von einem Gottesbeweis bei Luhmann sprechen. Man muss ja selbstreferentiell das Schreiben beschreiben, aber nicht Rauchen beschreiben, sonst kommt das Schreiben zusammen mit Zigaretten zum Ende (vgl. Luhmann, Suche der Identität und Identität der Suche, 1996, S. 594). Insofern spiegelt Luhmanns Theorie selber die Gesellschaft treu wider. Übrigens bringt Schulte auch das Problem der (romantischen) Subjektivität bei Luhmann zum Ausdruck, die in Luhmanns Systemtheorie Spuren hinterlässt. 86 GdG, S. 901; auch vgl. SS, S. 42 ff., S. 57 ff.
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie155
blem der Paradoxie, die nach Luhmann mit der Selbstreferenz des Sozialsystems unausweichlich auftaucht und logisch verzweifelnd wirkt, formallogisch behandelt werden. Dabei wird die Paradoxie vom Selbstwiderspruch unterschieden, in den sie nicht entgleisen soll. Hierbei werden auch die Zeitantinomien einbezogen. Und schließlich könnte mithilfe dieser Möglichkeit logischer Konstruktion (iv) die strukturell bodenlose Unendlichkeit der modernen Welt, die in der Sinntheorie bei Luhmann aufgezeigt wird, beleuchtet werden.87 a) Differenzierung der vier Einheitsbegriffe Das Einheitsproblem steht mit der Formel der Einheit der Differenz stets im Mittelpunkt der Systemtheorie, wobei Luhmann die Einheit mit der Identität verbindet und die Vernachlässigung der Relation in der traditionellen Ontologie beklagt. Schmitz behandelt das Einheitsproblem von vornherein auch zusammenhängend mit dem Relationsbegriff, wobei ihm zufolge die Identität selber eine Relation unter anderen darstellt. Sehr anders als bei Luhmann besteht die Kennzeichnung der Geschichte des Einheitsproblems nach Schmitz aber gerade darin, dass die Konzeption der Einheit bzw. des Einen zur Degradation der Kategorie des Mannigfaltigen geführt hat, das aber unter anderen gerade auch in Relationen wie Identität und Verschiedenheit vorkommt. Das zentrale Anliegen der Neuen Phänomenologie angesichts des Einheitsproblems könnte man demnach in der ‚Deontologisierung‘ durch die Rehabilitierung des Vielen bzw. des Relativen sehen. Aber es sollte nun bedenklich sein, die Einheit mit der Identität (so unmittelbar) zu verbinden. Dabei differenziert Schmitz vier Einheitsbegriffe: analytische, numerische, synthetische und elementare Einheit. Als erstes bezieht sich (i) die analytische Einheit auf die Eigenschaft und bedeutet, „Fall von etwas zu sein, einen Titel haben zu können, eine Eigenschaft zu besitzen“; sie entspricht grammatisch dem unbestimmten Artikel, braucht ihn aber logisch nicht. Dann bedeutet (ii) die numerische Einheit (oder auch: individuelle Einheit) „die Fähigkeit, die Anzahl einer (endlichen) Menge um 1 zu vergrößern: die Einzelheit“; mit ihr kann ein einzelnes Element „zu einem individuellen oder zahlfähigen Mannigfaltigen [gehören], innerhalb dessen 87 Bei Schmitz begegnet man wieder einmal einem riesenhaften Lebenswerk. Es ist hier nicht möglich, sich eingehender mit dem Werk auseinanderzusetzen. Versucht wird nur, den systemtheoretischen Problemkomplex in eine andere, vergleichbare Begrifflichkeit sozusagen einzutauchen. Durch diesen queren Vergleich könnten einige begriffliche Schlüsselpunkte ausgesucht werden, um das Problem der Paradoxie bei Luhmann aufzuklären.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
zwischen seinen Elementen nirgends chaotisches Verhältnis (Unentschiedenheit bezüglich Identität und Verschiedenheit) besteht“. Als drittes bedeutet (iii) die elementare Einheit „Einfachheit“, nämlich „das Eine als das Einfache“. Schließlich stellt (iv) die synthetische Einheit „das Eine als das Ganze“ dar, das „Einheit durch Zusammenfassung oder Verklammerung“ herstellt und damit die „Zerstreuung in Vielheit“ verhindert.88 Mit Einheit kann man nämlich (i) die Eigenschaft (analytische Einheit), (ii) die Einzelheit (numerische Einheit), (iii) das Einfache (elementare Einheit) oder (iv) das alles zusammenfassende Ganze (synthetische Einheit) meinen. In Bezug auf diese begriffliche Differenzierung kann man allein mit der numerischen Einheit (Einzelheit), aber nicht mit der analytischen Einheit (Eigenschaft), die Dinge einzeln zählen; doch ein Ding kann seine analytische Einheit (Eigenschaft) haben, ohne dabei einzeln und zählbar zu sein. Bereits auf den ersten Blick fällt auf, dass die Einheit bei Luhmann ziemlich undifferenziert gebraucht wird. Sie kann sich auf die Einzelheit (der Elemente), die analytische Einheit (Qualifikation der Elemente), die synthetische Einheit (die soziale Struktur bzw. das System als solches) und dann die elementare Einheit (die ursprüngliche Welt, the unmarked state, Gott) beziehen. b) Das Eine, das Seiende und Abwertung des Vielen und der Relation Die abwertende Degradation der Relation oder mit Luhmann: die Deklassierung, beginnt nach Schmitz bereits mit Aristoteles. Sie erfolgt dadurch, dass auch die elementare und die synthetische Einheit die Universalität für sich beanspruchen, die aber eigentlich nur der analytischen und der numerischen Einheit zugeschrieben werden sollen. Die analytische und die numerische Einheit haben „Universalität“ in dem Sinne, dass sie gemeinsam „allem zukommen [können], was sich einzeln angeben läßt“. Wenn nämlich Etwas als Einzelnes erscheinen kann, ist es entweder Eins oder Viel (numerische Einheit) und zugleich ein Fall von etwas (analytische Einheit). Demnach kann man die so verstandene Universalität darin sehen, dass jedes Einzelne seine Eigenschaft hat und daher von Prädikation bzw. Individuation eines Dinges sprechen.89 88 Alle Zitate siehe Schmitz, Relationen, 2005, S. 33–34; ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 107. Der dritte Einheitsbegriff – das Einfache – findet sich nach ihm bei Plotin und Leibniz, der vierte Einheitsbegriff – das verklammernde Ganze – bei Kant. 89 Schmitz, Relationen, 2005, S. 34. Hier ist es zunächst anzumerken, dass die Paradoxie von unitas multiplex der Gesellschaft – operative und strukturelle Kopp-
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Mit Aristoteles fängt die Abwertung des Mannigfaltigen mit dem Begriff des Einen an. Er bestimmt das Eine als Adihaireton mit dem Zusatz „im Verhältnis zu sich“, wobei das Eine sowohl „ungeteilt“ (synthetische Einheit) als auch „unteilbar“ (elementare Einheit) bedeuten kann. Mit dem Einen denkt Aristoteles aber zugleich auch das Seiende (wie seiender Mensch) mit einer Eigenschaft wie Mensch (analytische Einheit) und mit der Einzelheit wie einem Menschen (numerische Einheit). Dadurch werden alle vier unterschiedlichen Einheitstypen vermischt und die Einheit (als das Eine) wird zugleich mit dem Seienden gekoppelt. Die elementare und die synthetische Einheit erhalten durch die Vermengung – ebenso wie die analytische und numerische Einheit – die Universalität, sie können jetzt also auch allem Seienden zukommen. Es ist dann nur folgerichtig, wenn die Relation eben wegen des Einen die Wesenheit nur am wenigsten haben kann.90 Zusammenfassend bedeutet etwas Einzelnes nun zugleich etwas Ungeteiltes bzw. etwas Unteilbares und umgekehrt. Alles wird nämlich zu dem Einen, das keine Beziehung zu anderem haben kann, eben weil es gar keine Relation im eigentlichen Sinne geben kann und alles nur an sich ist. Das Eine wird zudem auch mit der Eigenschaft (analytischer Einheit) fest verbunden, es hat sozusagen ein Wesen. Man könnte hier bereits die Wurzel von dem bei Luhmann genannten Dingschema, Humanismus, der Moralistik und schließlich Ontologie und Grunddenken finden. Jedes Ding hat seine feste Position; jeder Mensch hat seine prinzipiell nicht zu ändernde, nicht zu negierende Bestimmung (in einer festen Hierarchie); und die Relation als solche wird dabei ausgeschlossen.91 Diese Geschichte der Abwertung wird dann von den Scholastikern fortgesetzt. Bei ihnen wird das Eine als Ungeteiltes definiert und gilt als unilung – von den beiden universalen Einheiten handelt: Eigenschaft und Zählbarkeit (Einzelheit). Beides scheint in der synthetischen Einheit erfasst zu werden. 90 Schmitz, Relationen, 2005, S. 34. Wie erwähnt (siehe C. I. 2.), wird das Eine bzw. die Einfachheit immer zugleich als Bedingung für die Zählbarkeit gesehen. Aber gerade an diesem verschränkenden Punkt beginnt Schmitz zufolge die Geschichte der ontologischen Abwertung der Relation. Zu der Vermischung der Einheitstypen: „Weil jedes in Beziehung auf sich selbst unteilbar ist. Dies aber ist eben seine Einheit“ (Aristoteles, Metaphysik, 1041a 19); „denn dasselbe ist ein Mensch und seiender Mensch und Mensch“ (Aristoteles, ebd., 1003b; auch 1054a). (Man erinnere sich an Tautologie als Selbigkeit bzw. Einheit bei Luhmann.) Zu der Deklassierung der Relation: „daß das Große und das Kleine und alles dergleichen notwendig etwas Relatives (prós ti) ist; das Relative aber ist unter allen Kategorien am wenigsten ein Ding (phýsis) und eine Wesenheit (ousís) und ist später als das Qualitative und das Quantitative“ (Aristoteles, ebd., 1088a 23 f.) sowie „daß das Relative am wenigsten eine Wesenheit und etwas Seiendes ist“ (Aristoteles, ebd., 1088a 29). 91 Vgl. GdG, S. 901, S. 625; SS, S. 119 f., S. 130 f.; RdG, S. 12.
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versale Bestimmtheit für alles Seiende. Das Seiende wird somit mit dem ungeteilten Einen gleichgesetzt, „so daß alles Seiende unter dem Titel des Einen – ens et unum convertuntur – eine Spitze gegen das Viele als das Geteilte erhält“.92 Das Seiende wird dadurch auf das Einzelne mit Ungeteiltsein eingeschränkt, alles Seiende erscheint nur als ‚ungeteiltes Einzelnes‘. Die Einfachheit und die Einzelheit werden sozusagen kurzgeschlossen. Dies führt dazu, dass man bei Dingen einzig und allein an ein einzelnes, einfaches und unteilbares Ding denkt und das Mannigfaltige als solches nicht mehr in den Blick kommt. Demnach besteht das Minderwertige am Mannigfaltigen (bzw. am Relativen) in dieser ontologischen Tradition darin, dass das Mannigfaltige nicht einfach, unteilbar und einzeln sein kann. Das Mannigfaltige hat immer mehr als das Eine; die Relation – wie bei der Selbstreferenz bei Luhmann, sei es tautologisch, sei es paradox – hat notwendigerweise mindestens zwei Glieder, die miteinander relationiert werden. Sie sind daher keine Substanz, keine realen Dinge, können nur als reine Gedankendinge gedanklich hinzugefügt werden. Geschichtlich zieht dann Ockham die radikale Konsequenz: „Jede Sache, die von jeder anderen Sache real verschieden ist, ist wahrhaft eine Sache an sich, weil der Wahrheit und dem Wesen nach von jeder anderen Sache abgezogen; daher ist in Wirklichkeit nichts außer abgelösten (absoluten) Sachen vorhanden.“ Schmitz bezeichnet diese ganze Seinstheorie als ‚Singularismus‘: Alles sei einzeln. Es gibt nur isolierte einzelne Dinge an sich, keine Mannigfaltigkeit bzw. keine Relation im ‚realen‘ Sinne. Folgerichtig mündet diese Tradition schließlich in Humes Zweifeln an der Kausalität: „All events seem entirely loose and separate. One event follows another, but never we can observe any tie between them.“ Die Welt besteht nun nur aus isolierten Ereignissen.93 Wenn man Schmitz folgt, dann könnte man sagen, dass diese Tradition des Singularismus mit Abwertung der Mannigfaltigkeit und Relation – mit dem Dingschema bei Luhmann vergleichbar – ihren Ausgangspunkt bei der Vermischung der Einheitstypen hat und letztendlich in eine Ontologie der Ereignisse mündet. Gerade dies scheint bei Luhmann der Fall zu sein. Er gebraucht den Einheitsbegriff undifferenziert und das Sozialsystem erscheint ebenfalls in Ereignissen als basalen Elementen, die aneinander angeschlossen werden. Obwohl er die Relation hervorhebt, wird sie aber in der Tat nicht eingehender erklärt. Durch Anlehnung an die Mathematik scheint die Relation der Elemente sogar ein Werk der Vernetzung der einzelnen Ereig92 Schmitz, Relationen, 2005, S. 35. Als Beispiel gelten bei Plotin das Eine und dessen Emanation, bei Leibniz unteilbare Substanzen. 93 Schmitz, Relationen, 2005, S. 35–36 (Ockham, Sentenzenkommentar l; Hume, Enquiry concerning human understanding, nach Schmitz, ebd., S. 36).
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nisse zu sein, die schließlich eine Variante des ‚unteilbaren Einen‘ darstellen. Die Komplexität, die es zu reduzieren gilt, scheint dann ein prinzipiell zählbarer Komplex zu sein. Aus dieser Sicht könnte insofern die Systemtheo rie m. E. noch in der ontologischen Tradition stecken und gar eine Variante des Singularismus darstellen, obwohl sie das Anliegen der Deontologisierung betont. Gleichzeitig aber deuten Begriffe wie „Materialitätskontinuum“ u. ä. doch einen Widerspruch gegen den Singularismus an. Und die Differenzerfahrung scheint gegen die Verbindung der Eigenschaft (analytischer Einheit) mit dem Einen (elementarer Einheit) vorzugehen. Auch die Relation, die die einzelnen Elemente verbindet, spielt mit Recht eine basale Rolle für das selbstreferentielle Sozialsystem. Nur im Hinblick auf das systemtheoretische Anliegen muss noch erläutert werden, dass die Relation (bzw. das Rela tionsgefüge) dafür zwar notwendig, aber nicht ausreichend ist. c) Aporie in der Abwertung der Relation Nach Schmitz führt der Singularismus zu einer logischen Aporie, in der er gefangen wird. Dabei soll man einsehen, dass die Relation nicht nur nicht abzuwerten ist, sondern sie muss als eine eigenständige Kategorie vorausgesetzt werden. Wenn nämlich alles im Sinne des Singularismus – ens et unum convertuntur – aufgrund numerischer Einheit einzeln ist und daher eine Anzahl um 1 vergrößern kann, dann ist eine Relation – als etwas Seiendes – ebenso nur ein einzelnes Ding. Man hat aber nun irgendwie die einzelnen Dinge zu verbinden. Sonst kann man überhaupt nicht denken und handeln. Wenn aber zwei Dinge zusammenzuhängend sind, dann braucht man dafür eine Relation, die für die beiden Beziehungsglieder als ein überbrückendes Drittes fungiert. Da nun alles einzeln ist und auch die Relation selber ein einzelnes Ding ausmacht, braucht man ein weiteres Drittes für die Verknüpfung zwischen den Beziehungsgliedern und der Relation als dem ersten Dritten. Dasselbe kann sich ohne Ende wiederholen und erzeugt eine Aporie: „Durch Iteration des Verknüpfungsbedarfs entstehen immer neue Lücken für zusätzliche Relationen mit der Geschwindigkeit der Exponentialfunktion über 2, und es kommt nie zur Verknüpfung der beiden ursprünglichen Beziehungsglieder, weil dieser Erfolg durch einen progressus ad infinitum von Zwischenstufen der Verknüpfung vereitelt wird.“94 94 Schmitz, Relationen, 2005, S. 37. Schmitz nennt diese Aporie der Relation „Bradley-Kafka-Paradox“ (mit Hinweis auf Bradley, Appearance and Reality, 1916). Dieser Schluss sieht der Achilles-Paradoxie bei Zenon ähnlich. Es ist nämlich ein Prozess unendlicher Teilung und man könnte vermuten, dass das Problem der Zenon-Paradoxie in dem Singularismus liegt. Das genannte Bradley-Kafka-Paradox könnte man auch als eine ontologische und logische Erklärung für die soziologisch
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Diese logische Aporie zeigt die Unwahrscheinlichkeit, von einem einzelnen zum nächsten überzugehen, geschweige denn, von den einzelnen Elementen auf die Ganzheit aufzusteigen, wenn man auf dem Seienden als ungeteiltes Einzelne beharrt. Die Aporie leugnet, dass alles einzeln ist. Es gibt also in der Welt Dinge, die doch nicht einzelne Dinge sind. Und um etwas Einzelnes zu erreichen, muss man die Relation voraussetzen, die selber aber nicht etwas Einzelnes ist. Wenn Luhmann das Komplexitätsproblem darin sieht, „jedes Element mit jedem anderen zu verknüpfen“, dann hat er mit Recht die basale Selbstreferenz des autopoietischen Systems als „die Unterscheidung von Element und Relation“ zu bestimmen.95 Die Relation kann dann zum „Relationsgefüge“ ausgebildet werden, wodurch die Struktur die einzelnen Elemente (Ereignisse) im Prozess überbrückt und gewissermaßen überdauert.96 Bei ihm scheint die Relation aber nur subsidiär für die einzelnen Elemente da zu sein, ohne ihre nicht vereinzelte Eigenständigkeit zu erlangen. Wohl gerade deshalb bleibt das Einheitsproblem als Kernproblem ungelöst, weil man von den einzelnen Elementen logisch nicht auf die Einheit im Sinne der Ganzheit des Systems steigen kann. Luhmann orientiert sich an dem Modell des Selbstbewusstseins wie an dem Satz des Descartes und wird dabei trotz der Hervorhebung der Differenz an die Selbstreflexion gebunden, wobei üblicherweise die Relation eben nicht als eigentliches Problem ins Auge gefasst und thematisiert wird.97 Von dem theoretischen Komplex bleibt dann nur die neblige Formel ‚Einheit der Differenz‘ als Paradoxie übrig. thematisierte Intransparenz der modernen Individuen heranziehen (vgl. GdG, S. 627). In Kafkas Roman „Das Schloß“ stößt der Landvermesser K, um den Kontakt mit der Verwaltung zu erreichen, jedesmal auf ein dazwischen geschobenes Glied, was dann eine unendliche Vermittlungskette erzeugt. „Der Roman symbolisiert die Fremdheit unter Menschen und Institutionen, die Unmöglichkeit, unmittelbar an jemand heranzukommen, sofern es sich nicht um momentane und primitive Kontakte handelt. Diese Fremdheit ist gemäß dem Bradley-Kafka-Paradox programmiert durch das Axiom ‚Alles ist einzeln‘ “ (Schmitz, ebd., S. 38). Man gerät nämlich zufällig in eine (moderne) Welt, in der alles Geschehen in unendliche Elemente protokollierend aufgelöst wird, für die wieder unendliche Stellen zuständig sind. Und es wird einem auch nicht verboten, weiter vorzudringen, man durchläuft immer neu auftauchende zuständige Stellen in einer total verwalteten Welt des redenden Nichts, bis man mit leibhaftiger Wirklichkeit einfach zugreift und dasteht (Binder, Das stumme Sein und das redende Nichts, 1976, S. 374–378). Die ontologische Abwertung der Relation schreitet so gesehen gerade in der totalen, labyrinthischen Vernetzung fort, wobei das unendliche Reden die Wirklichkeit (im Sinne der Ganzheit bzw. der Geltung) von Grund aus verfehlt. 95 SS, S. 73, S. 600. 96 SS, S. 42, S. 49, S. 471 ff. 97 Wie zum Beispiel Gloy, Systemtheorie, 1998, S. 238 f. Man dreht sich immer um die rätselhafte Identität zwischen Subjekt und Objekt, kommt aber nicht auf die
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d) Relation und Einheit Anders als bei Luhmann genießt die Relation nach Schmitz gegenüber der Einzelheit sogar Priorität. Angesichts der Aporie des Singularismus wird danach gefragt, wie ein Ding bzw. ein Element seine (nicht selbstverständliche) Einzelheit erhalten kann. Dafür müssen die ‚Bestimmtheit‘ und die ‚Besonderheit‘ zusammengebunden werden; sie stellen beide je eine Rela tion dar und betreffen je die Eigenschaft (analytische Einheit) und Identität (bzw. Verschiedenheit). Die Einzelheit hat also die Relation zu bemühen. Dabei soll die Differenzierung der vier Einheitstypen beibehalten werden, um den Zusammenhang von Einheit und Identität genauer zu bestimmen. aa) Einzelheit aus Bestimmtheit und Besonderheit (Identität) Ein einzelnes Ding bedeutet ‚dieses Etwas‘. Es kommt zu seiner Einzelheit nur durch die Verbindung von Bestimmtheit (als etwas) und Besonderheit (dieses). Etwas ist einzeln, wenn es eine Anzahl um 1 vergrößern kann. Die Anzahl selber ist nach Schmitz die Eigenschaft der umkehrbar eindeutigen Abbildung. So definiert er sie: „Anzahlen sind Eigenschaften von Mengen bezüglich der Möglichkeit umkehrbar eindeutiger Abbildung. […] Anzahl einer Menge ist die Eignung einer beliebigen Menge dazu, umkehrbar eindeutig auf M abgebildet zu werden.“98
Daher bedeutet auch der Begriff „Zahl“ eine Relation – nämlich die Relation „Eignung zu etwas“, und „Zahl ist die Zählbarkeit einer Menge, da Zählen umkehrbar eindeutiges Abbilden ist.“99 Erst durch die Zählbarkeit erhält eine Menge die Eigenschaft Anzahl, d. h. die numerische Einheit (eins bzw. viel). Weiterhin werden Mengen bei Schmitz definiert „als Umfänge von Gattungen in einem ganz weiten Sinn dieses Wortes, nämlich beliebiger Titel, unter die etwas als Fall gebracht werden kann, und zwar gerade solche Umfänge, die eine Anzahl im angegebenen Sinn haben“.100 Das Fallsein Idee der Unterscheidung zwischen Einzelheit und Identität als Relation. Außerdem ist es noch anzumerken, dass, wie der Differenzbegriff ambivalent ist, der Relationsbegriff bei Luhmann ebenso uneindeutig ist. Er könnte sowohl auf Einheit (das Eine) als auch auf Negation (wie in Differenz von System und Umwelt oder von beiden Codewerten) bezogen werden. Aber immerhin wird beides – Differenz und Relation – gleichfalls abgewertet. 98 Schmitz, Relationen, 2005, S. 38. 99 Schmitz, Relationen, 2005, S. 39. 100 Schmitz, Relationen, 2005, S. 39.
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bedeutet die Bestimmtheit, sie ist selber auch eine Relation, nämlich ein Sachverhalt, dass etwas ein Fall von etwas ist. Ein Sachverhalt kann also nicht etwas Einzelnes sein, sondern er stellt selber eine Relation dar. Diese sehr komplexe und mühsame Kette der Begriffsbestimmungen kann man so zusammenfassen, dass die Einzelheit eines Dinges nach Bestimmtheit im Sinne des Fallseins von etwas verlangt. Dafür muss man die Begriffe Anzahl, Zählbarkeit, Menge, Umfang und Gattung durchlaufen, die zwischen Einzelheit und Bestimmtheit stehen. Dabei werden die Relationen mehrerer Stufen – Eignung sowie Fallsein – auch bereits vor der Einzelheit eingesetzt, welche die Eigenschaft (analytische Einheit) bedeuten und die Bestimmtheit erst ermöglichen. Die Einzelheit ist nämlich nicht immer schon da, sie erfordert viele Bedingungen. Man muss in der Welt noch nach ihr – nach der Relation des Fallseins von etwas als etwas – suchen und sie feststellen. Umgekehrt gibt es in der Welt durchaus auch nichtnumerische Dinge. Dazu gehören nach Schmitz Gattungen. Wenn nämlich die Gattung einzeln ist, dann wird die logische Aporie des Singularismus auch bei ihr zur Geltung kommen. Für die Feststellung einer Relation des Fallseins anhand einer Gattung braucht man dann eine weitere Gattung, um die Einzelheit der vorderen Gattung zu erhalten usw. Und dies führt dazu, dass, wenn die Gattung auch einzeln ist, es dann gar nichts Einzelnes gibt, weil man sonst dafür unendliche Stufen durchlaufen muss. In Wirklichkeit kann man aber doch ein Fallsein feststellen. Daher muss es „mindestens Gattungen (und Fälle der Relation des Fallseins) geben, die nicht einzeln sind“.101 Dies bedeutet, dass man nicht nur die Relation braucht. Allein Relation reicht noch nicht aus, sondern man benötigt noch die nichtnumerischen Gattungen (Sachverhalte bzw. Bedeutungen), um die Bestimmtheit (analytische Einheit) und dadurch die Einzelheit (numerische Einheit) eines Dinges zu erreichen. Dieses nichtnumerische Seiende weist auf den unten noch zu erläuternden Begriff der Situation sowie die synthetische Einheit hin.102 Neben der Bestimmtheit (Fallsein, analytische Einheit) hat man noch die Besonderheit (Identität und Verschiedenheit) nötig, um etwas als ein einzelnes Ding zu erhalten. Das Fallsein bedeutet ‚etwas als etwas‘ (als etwas usw.), es bedeutet aber noch nicht dieses Etwas. Es wird damit noch nicht von einem anderen Etwas unterschieden. Die gesuchte Identität – zu Ver101 Schmitz,
Relationen, 2005, S. 40. numerische Einheit setzt die analytische Einheit und die synthetische, nichtnumerische Einheit voraus, wobei die Relationen notwendigerweise involviert werden. 102 Die
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schiedenheit parallel – kann man nach Schmitz aber nicht mit der traditionellen Methode speficia et differentia, nämlich mit der Kombination der verschiedenen Gattungen, finden, weil man dabei einerseits die beiden Aspekte Bestimmtheit und Identität vermischt und andererseits die gesuchte Identität (dies) zirkelhaft voraussetzt und benutzt. Nach Schmitz muss man nämlich immer bereits um das Ding wissen, um sagen zu können, dass dieses Ding irgendwelche Eigenschaften hat. Aus der analytischen Einheit – Bestimmtheit mit Gattung bzw. Umfang – resultiert noch nicht die numerische Einheit, dafür muss noch die Identität hinzukommen. Dabei soll man aber die Bestimmtheit (Bedeutung, etwas als etwas) von der Identität (dieses etwas) sorgfältig trennen. Und was ist nun ‚Identität‘? Die übliche Auffassung der Identität sieht sie im Übereinstimmen aller Eigenschaften von zwei Sachen. Diese Definition ist nach Schmitz zirkelhaft, da man bei den zwei Sachen jeweils doch bereits um dasselbe etwas wissen muss; sonst kann man gar nicht wissen, dass sie jeweils diese und jene Eigenschaften haben, noch bevor man sie beide vergleicht. Auch das Vergleichen der Eigenschaften beider Seiten erfordert ein Drittes für die Vermittlung zwischen Eigenschaften. Dann entsteht wieder die unendliche Kette der Verbindungen. Angesichts dieser Überlegungen ist es entscheidend, dass der Identitätsbegriff gar nicht definierbar ist. Die „Identität dürfte nicht ohne Zirkel definierbar sein, so daß das Verständnis, worum es sich bei ihr handelt, nicht aus Begriffen gewonnen werden kann, sondern nur durch Aufweis an einem exemplarischen Fall“; sie braucht „Vertrautheit“ wie beim Erkennen derselben Farbe oder bei der Selbstidentifizierung einer Person.103 Demnach ist der Identitätsbegriff begrifflich undefinierbar, man kann die Identität sozusagen nicht begrifflich erreichen. Sie kann nur eingeübt und aufgezeigt werden. Luhmann geht von der Differenz von System und Umwelt aus und die Einheit der Differenz wird mit Identität als Systematizität des Systems bezeichnet. Mit der negierenden Differenz wird auch die (Sinn-)Identität durch 103 Schmitz, Relationen, 2005, S. 41. Man beachte bereits den Zusammenhang von Identität / Verschiedenheit sowie Einzelheit / Einheit. Die übliche Leibniz’sche Definition der Identität sagt gar nichts. Wie in B. II. 2. a) dargestellt wird, lehnt Luhmann auch die Identität in Form „A = A“ ab (SS, S. 624). Die vertraute Identität und ihre begriffliche Unterscheidung von Einzelheit (Identität ≠ Einzelnes) sind wichtige Hinweise, da der Identitätsbegriff bei Luhmann auch rechtstheoretisch eine zentrale Rolle spielt. Er bezeichnet die Einheit des Systems sowie die Gerechtigkeit (als Konsistenz der Entscheidungen) mit Identität (Redundanz) und spricht zum Beispiel von dem „vertrauten Metakontext“ (RdG, S. 346) im Rahmen der analogischen Argumentation im Zusammenhang der einzelnen, also verschiedenen Einzelfälle.
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Negation definiert.104 Die Analyse der Einzelheit jedes Elementes, das im System zu relationieren ist, zeigt als ihre Bedingungen aber, dass (i) die beiden Begriffe Einheit und Identität deutlicher auseinandergehalten werden sollen und dass (ii) die Einzelheit (numerische Einheit) außer Relation und Bestimmtheit (analytischer Einheit) noch die nichtnumerische Einheit (synthetische Einheit) voraussetzt. Nur mit dieser theorieinternen ‚Bifurkation‘ innerhalb der Formel Einheit der Differenz könnte man m. E. die Paradoxie bei Luhmann nachvollziehen. Im Anschluss daran werden die Identität und die synthetische Einheit erläutert. bb) Identität und Wirklichkeit in der primitiven Gegenwart Wenn jede begriffliche Bestimmung der Identität unausweichlich eine vorhandene Bekanntschaft mit Identität impliziert, dann soll deren Wurzel mindestens verortet werden. Die Identität zeigt sich nach Schmitz an dem Punkt der ‚primitiven Gegenwart‘ in dem affektiven Betroffensein auf dem Boden des Leibes. In der primitiven Gegenwart werden zugleich fünf grundlegende Dimensionen der Welt vereint: Raum, Zeit, Sein, Ich und Dies. Das affektvie Betroffensein kann zuerst anhand der persönlichen Identität illustriert werden. Dabei soll man im Sinne von Schmitz zwei Unterscheidungen beachten: (i) objektive und subjektive Sachverhalte, (ii) Identität und Identifizierung.105 Die Welt besteht nämlich nicht nur aus objektiven bzw. neutralen Sachverhalten, sondern es gibt noch subjektive Sachverhalte. Ein Sachverhalt ist in diesem Sinne objektiv bzw. neutral, dass jeder ihn aussagen kann, soweit er der betreffenden Sprache mächtig ist. Ein Sachverhalt ist subjektiv in dem Sinne, dass ausschließlich nur ich ihn aussagen kann; wenn andere ihn aussagen, dann können sie ihn immer nur mit Hinweis auf mich aussagen. Nun erfordert die persönliche Identität als erstes die Identifizierung der objektiven Sachverhalte mit einer Person, wodurch man sagen kann, was man ist und dass man etwas ist. Die identifizierten, objektiven Sachverhalte müssen aber irgendwie in die subjektiven Sachverhalte – also meine Sachverhalte – verwandelt werden, um die Identität der Person zu formen. Diese Verwandlung kann aber nicht bloß mit Selbstzuschreibung stattfinden, weil man mit noch so vielen Selbstzuschreibungen immer noch nicht wissen 104 SS,
S. 38, S. 112 ff. Vgl. B. II. 1. Punkt (ii) wird üblicherweise übersehen und von Schmitz eigens hervorgehoben, vgl. C. II. 2. e) dd). 105 Der
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kann, ob ein zugeschriebener Sachverhalt mich angeht und mein Sachverhalt ist oder nicht.106 Es muss also ein Sprung zwischen objektivem und subjektivem Sachverhalt geschehen, um ich zu erreichen: „Für solche Selbstzuschreibung bedarf die Identifizierung des Sprunges aus dem Milieu der objektiven (oder neutralen) Sachverhalte in das für mich subjektive, die höchstens ich aussagen kann, wenn auch die Anderen so gut wie ich – aber nur mit mindestens implizitem Bezug auf eine reale oder fiktive Aussage von mir – darüber sprechen können.“107
Bei der Selbstzuschreibung fängt man bei objektiven Sachverhalten an, aber in einer ausschließlich aus objektiven Sachverhalten bestehenden objektiven Welt kann man sein Ich nicht finden. Um zu seinem Ich zu gelangen, muss man irgendwie aus der objekiven Welt in die subjektive Welt springen, die aus subjektiven Sachverhalten besteht. Erst dieser Sprung ins Subjektive ermöglicht die Vertrautheit mit der Identität seiner selbst und damit die persönliche Identität. Die Identität, die nicht definierbar ist, zeigt sich mit dem Sprung. Der Sprung, der die Identität aufzeigt und die IchSubjektivität im Sinne der subjektiven Sachverhalte ermöglicht, gründet Schmitz zufolge auf dem affektiven Betroffensein. Es sind „die Tatsachen meines affektiven Betroffenseins, die für den Sprung der Selbstzuschreibung die unerläßliche Brücke bilden. Nur bei ihnen ist die Identität, daß es sich um mich selber handelt, so selbstverständlich, daß Selbstzuschreibung überflüssig wird.“108 106 Dieses entscheidende Problem wurde von Fichte zuerst gestellt und von Schmitz wieder aufgedeckt: Ich schreibe, auch die anderen schreiben, wie kann ich mein Schreiben von dem Schreiben der anderen unterscheiden? Dazu vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 27 ff. Um die Schärfe des Problems zu verdeutlichen, kann man fragen, wie Descartes mit dem „cogito, ergo sum“ sein Denken doch von dem Denken der anderen unterscheiden könnte? Mit Denken wird mein Denken noch nicht erreicht (vgl. Böhme, Philosophieren mit Kant, 1986, S. 234 ff.). Parallel dazu kann man das Problem von Luhmanns Mülleimer stellen: „Man erkennt am Geräusch, daß die Mülleimer geleert worden sind. Man geht heraus und kennt unter vielen Mülleimern den seinen sofort wieder, ohne daß es dazu eines Wortes, eines Names oder gar eines Begriffs bedarf“ (SS, S. 136). Woher könnte Luhmann seinen Mülleimer von denen der anderen unterscheiden? Im „konkreten Umgang mit Objekten und Ereignissen“ (SS, S. 136) sieht auch Luhmann das Vertrautsein mit Identität, wobei er die Subjektivität nicht klar von der Identität unterscheidet. Ebenfalls kann man wohl nicht von „operans sum!“ sprechen (Nassehi, Wie wirklich sind Systeme?, 1992, S. 63), weil man nicht von operans zu sum übergehen kann; bestenfalls könnte von ‚operans est‘ die Rede sein, wobei beim est die Differenz des Systems zur Umwelt und deshalb die operative Geschlossenheit des Systems problematisch werden. Hierin steckt m. E. das eigentliche Problem des Verhältnisses von Sozialsystem und dem Subjektiven. 107 Schmitz, Relationen, 2005, S. 41 f. 108 Schmitz, Relationen, 2005, S. 42.
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Das Subjektive (Ich) bedeutet in diesem Verständnis nicht einen für die (kausale) Zurechnung feststehenden Punkt.109 Sondern es bedeutet die subjektiven Sachverhalte aufgrund des affektiven Betroffenseins. Erst damit kann man aus objektiven Sachverhalten jeweils meine Sache, meine Eigenschaften und auch meine Handlung bzw. Kommunikation erhalten.110 Das affektive Betroffensein schafft also die Gewissheit. Es hat aber seinerseits die Grundlage in primitiver Gegenwart am Leib. Bei Schmitz stellt zum einen der Leib eine dynamische Struktur von Engung und Weitung dar, zum anderen erscheint die primitive Gegenwart in ihrer reinen Form nur in einer extremen Engung des Leibes. Das menschliche Leben befindet sich zwar dauernd unter dem Vorzeichen der primitiven Gegenwart, was die basale Bedingung des Lebens ausmacht; aber die reine primitive Gegenwart bricht nur als ein Ausnahmezustand ein.111 Entscheidend ist, dass sich in der primitiven Gegenwart die fünf Dimensionen der Welt aufzeigen: 109 Dies ist das positionale Subjekt seit Descartes. Das Problem dieses positionalen Subjekts liegt genau darin, dass man mit ihm nicht sein Ich erreichen kann. Und mit diesem positionalen Subjekt sieht die moderne Existenz so aus, dass immer mehr und mehr objektive Sachverhalte zwischen der Welt und mir – Bradley-KafkaParadox – eingeschoben werden. Der Selbstkontakt wird dadurch bereits schwieriger. Es bestehen nicht mehr meine festen Sachverhalte wie ein fester Platz in der Gesellschaft. Und dann muss man immer wieder erklären, wer man ist. Man gibt sich beständig Mühe, bewusst die Selbstidentifizierung vorzunehmen, um sein Ich, seine Sachverhalte, aussagen zu können. Die Vertrautheit mit der Identität seiner selbst ist nicht mehr so selbstverständlich. Schließlich weiß man nicht, was sein Ich bzw. seine Existenz ist (vgl. GdG, S. 627). Dann droht die Bemühung um Selbst identifizierung in Langeweile zu verfallen. 110 An diesem Punkt wird der Streit zwischen Handlungstheorie und Systemtheo rie in der Soziologie wieder einmal berührt. Das Problem der Handlungstheorie sehe ich darin, dass sie zwar mit Recht auf dem subjektiven Faktor beharrt, aber dem positionalen Subjekt anhaftet. 111 Schmitz, Relationen, 2005, S. 42. Die leibliche Engung kann unterschiedlich – wegen Angst, Schmerzen usw. – verursacht werden. Die primitive Gegenwart bildet zwar die Quelle der Gewissheit für die Selbstzuschreibung und Identität, sie wird aber normalerweise nur annähernd vorgezeichnet. Interessant und auch antihumanistisch genug ist, dass das Phänomen von Leiblichkeit und primitiver Gegenwart nach Schmitz ebenfalls beim tierischen Leben besteht. Nicht nur der Mensch, sondern auch Tiere können Identität und Verschiedenheit wahrnehmen, eben unter dem Vorzeichen der primitiven Gegenwart. Der kennzeichnende Unterschied besteht darin, dass nur der Mensch zählen und einzelne Dinge – durch Hinzufügen der Bestimmtheit – feststellen kann. Demnach kennen die Tiere zwar Identität, haben Vertrautheit mit ihr und gewinnen damit Gewissheit; sie können sich aber nicht aus der primitiven Gegenwart emanzpieren und leben so nur in Unbestimmtheit (siehe Schmitz, ebd., S. 43); dazu vgl. GdG, S. 122: „die Besonderheit von Menschen durch Teilhabe an sinnhafter Kommunikation“ und SS, S. 191: Person als verarbeitender Prozessor der Informationen. In diesem Zusammenhang kann man wohl auch den Begriff der Autopoiesis verorten. Luhmann wird vorgeworfen, diesen Begriff aus der
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie167 „Das leiblich spürbar engende affektive Betroffensein ist der Königsweg, der zu dem Bewußthaben, was ich bin, die Gewißheit hinzubringt, daß ich das selber bin. Am Ende, auf dem Gipfel der Engung, steht beim Einbruch des Plötzlichen, das aus der gleitenden Dauer des Dahinlebens reißt, die primitive Gegenwart, in der die fünf Dimensionen normaler, zur Welt aufgespannter Orientierung – das Hier und die Weite, das Jetzt und die Dauer, Sein und Nichtsein, Identität und Verschiedenheit, das Eigene und das Fremde – auf ihre ersten Pole einsinken, die miteinander zu einem Hier-jetzt-sein-dieses-ich verschmelzen, das erst im Rückblick, wenn die normale Orientierung wiederkehrt, die Unterscheidung der fünf Seiten oder Momente gestattet.“112
Im Hinblick auf den Problemkomplex der Paradoxie beachte man hier besonders (i) die Zusammenkunft von Identität und Sein (Wirklichkeit). Bei der Zeitantinomie und der Paradoxie des Selbstbewusstseins kommen jeweils noch die Zeit und das Subjektive (ich) hinzu. Außerdem wird (ii) die Einheit (Bestimmtheit) auch in der primitiven Gegenwart von der (absoluten) Identität getrennt. Wenn nämlich die primitive Gegenwart nicht nur vorgezeichnet ist, sondern in ihrer reinen Form einbricht, dann werden die normalerweise trennbaren fünf Dimensionen auf einen einzigen Punkt zusammenschrumpfen. Aber genau an diesem Punkt der reinen primitiven Gegenwart trennen sich Identität und Bestimmtheit (Einheit) absolut vonein ander: „Im Zusammenbruch der in fünf Dimensionen aufgespannten Orientierung beim Aufzucken primitiver Gegenwart verschwindet die Bestimmtheit als etwas, aber die Eindeutigkeit der Fixierung auf mich und auf Sein bleibt; so ist die primitive Gegenwart das unbestimmte Eindeutige und die Urform der Identität, ohne die nichts es selbst wäre, sondern alles in gleitende Dauer und Weite zerginge.“113
Die (absolute) Identität hat also ihre Urform im unbestimmten Eindeutigen (Identität = unbestimmte Eindeutigkeit). Um zu dem ‚dieses Etwas‘ (numerische Einheit, Einzelheit) zu gelangen, braucht man die Bestimmtheit (Etwas) und die Besonderheit (dieses, Identität). Ihr Zusammenschluss geschieht aber nur im normalen Zustand des Menschen, und zwar unter dem Vorzeichen der Biologie mit Unrecht auf die soziale Welt der Menschen übertragen zu haben. Der Begriff ist nach dem Vorwurf bestenfalls nur metaphorisch zu verstehen. Die biologische Autopoiesis besagt die Selbstreproduktion der Lebewesen und ihre Fähigkeit, sich von anderen Lebewesen zu unterscheiden. Sie hat m. E. in der Tat einen Bezug auf die primitive Gegenwart und das affektive Betroffensein. Auch die soziale Welt kann nicht diese Grundlage abstreifen. Sonst existiert man einfach nicht weiter. Die Autopoiesis würde dann aufhören (vgl. SS, S. 395). Der Vorwurf des Biologismus gegen Luhmann trifft also nicht zu, durch die Systemtheorie könnte sogar ein Existentialismus schimmern: Sein oder Nichtsein. Es gibt keine Alternative außer NichtAutopoiesis. Vgl. Burckhardt, Vorwort des Herausgebers, 2010, S. 7, Anm. 1. 112 Schmitz, Relationen, 2005, S. 42. Mit Luhmann könnte man wohl auch von fünf Differenzen sprechen. 113 Schmitz, Relationen, 2005, S. 42.
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primitiven Gegenwart. In der reinen primitiven Gegenwart bleibt aber nur die Identität in ihrem Urbild übrig, die Bestimmtheit (etwas als etwas, Einheit) verschwindet und fällt sozusagen in die Welt der Bedeutungen (synthetische Einheit) zurück. Die begriffliche Unterscheidung von Bestimmtheit und Besonderheit – Einheit und Identität – wird hier verwirklicht.114 Mit der Identität werden aber auch die anderen Dimensionen (Hier, Jetzt, Sein und Ich), die mit Identität an einem Punkt zusammengebunden werden, von der Bestimmtheit getrennt. Man kann somit zwei Ebenen unterscheiden: die Ebene der leiblich primitiven Gegenwart und die Ebene der weltlichen Bestimmtheit (Bedeutung). Dementsprechend unterscheidet Schmitz auch Existenz-Induktiva und Attribute. Nach ihm hat das Sein im Sinne der Wirklichkeit bzw. Existenz seinen Sitz auch in der primitiven Gegenwart; es ist wie der Identitätsbegriff ebenso undefinierbar, weil man das Sein notwendig zirkelhaft gebrauchen muss, um es begrifflich zu definieren. Man kann das Sein als Wirklichkeit nur aufzeigen und am Leib spüren.115 Aus dieser theoretischen Konstruktion resultiert am wichtigsten, dass man nun von der Unterscheidung zweier Ebenen – primitive Gegenwart und Bestimmtheit – ausgehen soll. Sie finden sich normalerweise unter dem Vorzeichen primitiver Gegenwart zusammen, man hat dann eine normale Welt mit einzelnen Dingen. An dem Punkt der reinen primitiven Gegenwart werden sie aber deutlich getrennt, man hat dann die absolute Gewissheit hinsichtlich der fünf Dimensionen der Welt; dies ist aber eine unbestimmte Welt, sie hat keine Bestimmtheit. Auf dieser begrifflichen Grundlage und durch Hinzufügung der Negation kann man weiterhin unterscheiden (i) Identität und Wirklichkeit (als Sein), 114 Nach Schmitz besteht ein einzelnes Etwas nämlich zwischen der absoluten Identität (dem unbestimmten Eindeutigen) und den nichtnumerischen Gattungen (bzw. den chaotisch-mannigfaltigen Situationen der Bedeutsamkeiten). Man muss ‚dieses Etwas‘ aus dem Meer der unbestimmten nichtnumerischen Bedeutungen mithilfe der primitiven Gegenwart (Urbild der Identität) ausschöpfen. Beide Pole sind gleichfalls unbestimmt. Mit Tautologie und Paradoxie will Luhmann die Identität und damit die Einheit eines Systems bezeichnen. Sachlich zielt er nämlich auf ‚dieses Etwas‘ eines sozialen oder psychischen Systems ab. Aber er hat die Identität und die Einheit analytisch nicht deutlicher getrennt, was auch üblich ist. Erst mit der Schmitz’schen Trennung von Identität und Einheit (Bestimmtheit) könnte es logisch möglich sein, dass ein und dasselbe Ereignis (Identität) einen unterschied lichen Sinn (Bestimmtheit) erhält. Und erst dies ermöglicht die funktionale Differenzierung der Sinnsysteme und ihre operative Kopplung an den einzelnen Elementen (Kommunikationen bzw. Handlungen). Die operative Geschlossenheit (des identischen Systems) kann auch trotz der informationellen Offenheit (Kontingenz, Komplexität wegen der Sinnbestimmtheit) aufrechterhalten werden. 115 Schmitz, Relationen, 2005, S. 43; ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 38 ff. Diese wichtige Unterscheidung wird in B. I. 1. b) erwähnt.
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Negation von Identität und Negation von Wirklichkeit. Diese unterschiedenen Aspekte beziehen sich nur auf die Existenz-Induktiva, sozusagen auf nichts; hier wird noch kein Bezug auf die Bestimmtheit (Bedeutung) genommen.116 Wenn die Bestimmtheit hinzugenommen wird, dann kann man unterscheiden (ii) etwas Identisches, etwas Wirkliches, etwas Nichtidentisches und etwas Unwirkliches. Man könnte hierin die sinnhafte Welt in Luhmanns Sinne sehen, die alles nur Vorstellbare – positiv oder negativ – einschließt, aber an sich neutral ist.117 Man soll sich vor der Vermengung zwischen (i) und (ii) verhüten. Und zugleich soll man darauf aufmerksam machen, dass die primitive Gegenwart als Quelle des Lebens zwar nicht nur, aber auch die zeitliche Gegenwart enthält. Die zeitliche Gegenwart gilt bei der Systemtheorie als Antreiber der Operation des Sozialsystems und erscheint in der gegenwärtigen Differenz von Vorher und Nachher. Dabei bringt jedes operative Ereignis etwas Plötzliches und etwas Neues mit sich, um soziale Kommunikation zu reproduzieren. In dieser Kommunikation könnte man dann im Sinne von Schmitz auch (iii) eine operative Verbindung von Zeit, Wirklichkeit und Bestimmtheit sehen. Dabei gerät das System nach Luhmann aber wegen der Selbstnegation von Sinn in die Gefahr der logischen Paradoxie. Für deren Lösung soll man nun noch die Theorie der synthetischen Einheit heranziehen. cc) Synthetische Einheit: Situation und Konstellation Um die logische Aporie des Singularismus zu umgehen, erfordert die Einzelheit nicht nur Relation, sondern auch ein nichtnumerisches Seiendes, aus dem man die Gattung für die Bestimmtheit herausfinden kann. An dem Punkt der reinen primitiven Gegenwart wird die Bestimmtheit geschieden, die in das nichtnumerische Seiende zurückfällt. Die Hervorhebung der Relation bzw. Mannigfaltigkeit im Gegensatz zur Einzelheit läuft damit auf eine Theorie der nichtnumerischen, zahlunfähigen Bedeutungen hinaus, die umgekehrt als logisch notwendige Grundlage die Einzelheit erst ermöglichen. Für diese nichtnumerischen Bedeutungen steht bei Schmitz der Begriff der Situation. Nach ihm ist eine Situation 116 Hier beziehe ich mich auf die oben erwähnte These von Wittgenstein: Negation bedeutet nichts. Auch nur sehr vereinfacht wird hier Schmitz’ Theorie der Bedeutung, die in drei Arten (Sachverhalt, Programm und Frage) unterteilen lässt, angedeutet. Es kommt in diesem Zusammenhang darauf an, die Trennung der Ebenen von Existenz und Bedeutung deutlich zu machen. 117 Freges Unterscheidung von Gedanke und Existenz, die Luhmann zitiert hat, könnte ungefähr (ii) und (i) entsprechen, aber in Bezug auf Wirklichkeit, nicht auf Identität. Im Hinblick auf das Recht geht es um die Unterscheidung von Norm und Geltung, dementsprechend könnte man Negation von Norm und Negation von Geltung unterscheiden.
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„charakterisiert durch Ganzheit (d. h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen), ferner eine integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen und eine Binnendiffusion dieser Bedeutsamkeit in der Weise, daß die in ihr enthaltenen Bedeutungen (d. h. Sachverhalte, Programme, Probleme) nicht sämtlich – im präpersonalen Erleben überhaupt nicht – einzeln sind. Die Ganzheit einer Situation zieht keineswegs notwendig Einzelheit nach sich.“118
Demnach bezeichnet der Begriff der Situation in diesem theoretischen Zusammenhang die synthetische, nichtnumerische Einheit bzw. die alles zusammenfassende, binnendiffuse Ganzheit, die nach außen abgegrenzt wird. Sie kann zwar die Einzelheit (numerische Einheit) enthalten, aber sie muss es nicht. In diesem Fall wird die Einzelheit – aber nicht die Identität – durch die Situation sozusagen abgezogen, in ihr werden dann die Bedeutungen – Sachverhalte, Programme und Probleme – impliziert. Die Bedeutungen müssen eben nicht einzeln und numerisch sein. Man sieht, dass die beiden Bestandteile der Einzelheit – Bestimmtheit und Identität – nicht nur getrennt werden können, sondern auch in der nichtnumerischen, binnendiffusen Situation zugleich aufgehoben, aber nicht fest zusammengebunden werden.119 Für die Einzelheit müssen diese Bedeutungen aus der sie aufhebenden Situation ausgeschöpft werden. Nach Schmitz geht man dabei von Situation zu Konstellation über. Nämlich hat der Mensch zum einen eine ihm eigentümliche Fähigkeit, sich aus der reinen primitiven, dabei eindeutigen, aber unbestimmten Gegenwart bis zu einem gewissen Maße abzulösen; und er ist zum anderen in der Lage, die Bedeutungen (Gattungen bzw. Begriffe) mittels der sprachlichen Sätze aus der nichtnumerischen Einheit zu explizieren. Der Mensch kann die Bestimmtheit erlangen und zugleich durch Verbindung mit Identität die numerische Einheit – Einzelheit der einzelnen Dinge – erreichen. Aufgrund der so explizierten einzelnen Faktoren macht er sich ein „Bild“ von der Situation machen. Damit modelliert er die Situation und dadurch entsteht aus einer nichtnumerischen Situation eine ‚Konstellation‘. Das Bild „übersetzt […] die binnendiffuse Bedeutsamkeit der 118 Schmitz, Situationen und Konstellationen, 2005, S. 22. Nach Schmitz hat die Welt den „Weltstoff“ als ihre Grundlage, der durch Situationen und Konstellationen aufgegliedert wird. Der Weltstoff könnte mit dem Begriff des Materialkontinuums bei Luhmann vergleichbar sein. 119 Man soll darauf achten, die synthetische Einheit nicht mit der unteilbaren Einfachheit (elementarer Einheit) zu verwechseln. Wie Bestimmtheit von Identität getrennt wird, bedeutet das Bestreiten der Einzelheit nicht zugleich das Vermengen von Identität und Verschiedenheit. Man kann gut zwischen Sachverhalten – identisch oder verschieden – unterscheiden, ohne ihre Einzelheit festzustellen. Auch ohne Nummer kann man eine Ordnung erhalten. Anders verhält sich es bei dem Problem der Paradoxie, wobei gerade die Unterscheidung zwischen Identität und Verschiedenheit problematisch ist.
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Situationen in eine Konstellation einzelner Faktoren“.120 Damit wird die nichtnumerische binnendiffuse Situation anhand einiger Abstützpunkte kontrollierbar und der Mensch erhält dadurch eine Orientierung in der Welt. Aber trotzdem kann er sich nicht vollständig von der primitiven Gegenwart und der synthetischen Einheit ablösen. Es bleibt immer möglich, in die reine primitive Gegenwart zu geraten oder in eine chaotisch unbestimmte Situation zurückzufallen. Das menschliche Leben bleibt so gesehen grundsätzlich ein tierisches Leben.121 Wenn man sich auf die systemtheoretische Fragestellung nach der Einheit (Ganzheit) der Gesellschaft bzw. der Welt zurückbesinnt, die wegen logischer Schwierigkeiten jeweils mit dem Mehr-als-die-Summe-der-Teile, dem ausgeschlossenen Dritten, dem blinden Fleck, unitas multiplex der Funk tionssysteme und schließlich auch mit der Differenz ausgedrückt wird, könnte man davon ausgehen, dass alle diese Variationen ihre Entsprechung in dem Begriff der synthetischen Einheit im Sinne einer nichtnumerisch binnendiffusen Situation finden können. Dabei resultieren die logischen Schwierigkeiten außer der begrifflichen Vermengung der verschiedenen Einheitstypen wohl daraus, dass man immer nur die einzelnen Elemente im Auge hat.122 Von den einzelnen Dingen aus kann man die Summe, aber nicht ‚das Mehr‘ erreichen. Setzt man aber bei der Differenz an, wird kein Begriff für das Mannigfaltige bereitgestellt, das mit dem ausgeschlossenen Dritten bzw. dem blinden Fleck aber wiederum eher verdunkelt als erhellt wird. Die Differenz allein reicht für die Lösung des Problems also nicht aus. Man könnte hierbei aber sehen, dass sich die Differenz von System und Umwelt im Sinne des Verhältnisses von der (binären) Sinnform und dem Sinnmaterial (dem formlosen Grund) dem Verhältnis von den beiden Ebenen primitiver Gegenwart und synthetischer Situation ähnlich verhält. Wenn man es sich erlaubt und zwischen Theorien übersetzt, könnte man die Gesellschaft als eine Ordnung der (funktional spezifizierten, binär codierten) Explikation des Weltstoffs verstehen. Nur anders als zuvor ist diese Ordnung in der Moderne kontingent, komplex, temporalisiert und voll von Konflikten 120 Schmitz,
Relationen, 2005, S. 47. Relationen, 2005, S. 46 f. Schmitz bezeichnet Tiere und Säuglinge als „präpersonalen Bewußthaber“; sie können nicht die einzelnen Dinge zählen, müssen deshalb immer nur mit Rufen, Schreien u. ä. ganzheitlich kommunizieren. Aber der Mensch, der zählen und mithilfe der Konstellation als Instrument die Situation – nichtnumerische binnendiffuse Einheit – gewissermaßen kontrollieren kann, muss weiter ebenso ganzheitlich und leiblich leben. Er darf die Quelle seines Lebens also nicht verlassen. 122 Dies könnte man in dem prinzipiell unbegrenzten Vermögen von Auflösung und Rekombination sehen (vgl. SS, S. 624 f.). 121 Schmitz,
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zwischen den Subsystemen geworden.123 Die Strukturbildung bei Luhmann oder die Konstellation bei Schmitz sind gleich der Orientierung der Handlungen unentbehrlich. Nur so kann ein soziales System sich autopoietisch selbstreferentiell reproduzieren, indem man zurück- und vorgreifen kann. Im Sinne von Schmitz setzt dies aber nichtnumerische Situationen voraus. Und dies bedeutet auch, dass die schlichte Orientierung an den Netzwerken aus einzelnen Elementen problematisch für die gesellschaftliche Selbstreproduktion ist, weil man dann ohne die einbettenden Situationen – wegen der zwischen den einzelnen Elementen liegenden logischen Lücke – nicht mehr zurück- und vorgreifen kann.124 Die Kritik an der Deontologisierung bei Luhmann soll dann heißen: Sie geht nicht weit genug. e) Probleme logischer Paradoxien Als begriffliche Grundlage für die mögliche Lösung der logischen Paradoxie soll nun das Ergebnis dienen, das soeben entlang dem Problem der Einzelheit der Dinge erzielt wird. Man geht dabei von vier verschiedenen Einheitsbegriffen aus und hebt durch die Widerlegung des Singularismus – mit dem Dingschema bei Luhmann vergleichbar – anhand der logischen Aporie die Relation sowie die Mannigfaltigkeit als je eigenständiges Sein hervor. Es gibt nicht nur die numerische, sondern auch die nichtnumerische Einheit und Mannigfaltigkeit. Die Einzelheit als numerische Einheit erfordert Bestimmtheit (analytische Einheit) und Besonderheit (Identität). Diese beiden Komponenten der Einzelheit können getrennt und auch gebunden werden, haben ihren Sitz je in synthetischer, nichtnumerischer Einheit (Situation) und in primitiver Gegenwart mit ihren fünf Dimensionen. Der 123 Hier wird nur ein Gedankenexperiment versucht, das zur Beleuchtung des Theoriedesigns dient. Die beiden Theorien sind in vielen anderen Hinsichten doch sehr verschieden. Vgl. Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie, 2003, S. 277: „Standpunkte der ersten Art, starre Aggregate einzelner Grundsätze, sind dagegen bestenfalls Konstellationen; Konstellation (Vernetzung einzelner Faktoren) ist überhaupt der wichtigste Gegenbegriff zu Situation“ und „Situationen reduziert Komplexität“. Man könnte wohl annehmen: Die Komplexität kann nur in der Situation aufgehoben bzw. implantiert werden. 124 Man erinnere sich an das genannte Bradley-Kakfa-Paradox. An manchen Stellen deutet Luhmann auch die binnendiffuse nichtnumerische Situation an. Die Lebenswelt als Meta-Gewissheit erlaubt alle Unterscheidungen und löst sie wieder auf (SS, S. 115 f.); dasselbe gilt für den Menschen, in dem alle Werte konvergieren. Auch in der Gerichtspraxis braucht man das Nichteinzelne wie „Gerichtsgebrauch und Tradition“, um die juristischen Argumenationen abzurunden und zu einer Entscheidung zu gelangen (RdG, S. 406). Ohne diese nichtnumerischen Situationen, die in der Praxis entwickelt werden, läuft der Rechtsbetrieb wohl nicht ab und die juristische Argumentation – die Analogie zwischen Einzelfällen – wäre auch nicht möglich.
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eventuelle Einbruch der reinen primitiven Gegenwart aufgrund der extremen Engung des Leibes erzeugt einen eindeutigen und unbestimmten Zustand als Urform der Identität. Bestimmtheit und Bedeutung einerseits, Wirklichkeit, Identität und Ich andererseits werden dabei als zwei Ebenen eindeutig voneinander unterschieden. Es wird hier auch eigens betont, dass, wenn die Negation hinzugenommen wird, man sorgfältig unterscheiden soll, worauf sie sich bezieht: Bestimmtheit, Identität oder Wirklichkeit?125 Es gilt auch als eine Voraussetzung, dass man sich zwischen numerischer und nicht numerischer Einheit bewegen kann. Dies bedeutet, dass die Einzelheit für Bedeutungen weder notwendig noch selbstverständlich ist und dass sie abgestreift werden kann, ohne dass Bestimmtheit und Identität dadurch abhandenkommen müssen. Die fragwürdige Einheit des Selbst des Sozialsystems bei Luhmann durch die Differenz stößt in der Selbstreferenz auf die notwendige, aber unlösbare Paradoxie. Wie dargestellt bringt die Paradoxie die kommunikative Unbestimmtheit zum Ausdruck. Aber dies bestimmt nur das Wesen des systemtheoretischen Paradoxieproblems. Ein sehr anderes Problem ist, ob eine Theorie mit der Paradoxie in ihrem Mittelpunkt überhaupt möglich ist. Diese Paradoxie soll nicht nur eine rhetorische, sondern eine echt logische Antinomie sein. Sie erscheint bei Luhmann in varianten Gestalten und bezieht sich – zusammen mit der Tautologie – auf die problematische Identität des Sozialsystems. Die Tautologie und die Paradoxie bezeichnen je die Identität (Systematizität), die ihrerseits die Einheit benennt. Nachdem der Einheitsbegriff mithilfe der Theorie von Schmitz differenziert und das nichtnumerische Mannigfaltige eingeführt worden ist, kann man nun die logische Möglichkeit der (systemtheoretischen) Paradoxie zu erklären versuchen. aa) Paradoxie als Anzeichen der unstimmigen Wirklichkeit Die Schwierigkeit mit Paradoxien im Sinne der logischen Antinomien im traditionellen Denken resultiert nach Schmitz genau aus der einseitigen Überschätzung der numerischen Einheit. Mit ihr erscheint eine Antinomie als ein Selbstwiderspruch, der nichts aussagen kann, da er etwas behauptet und gleichzeitig die Behauptung zurücknimmt.126 Nimmt man nun die Trennung von numerischer und analytischer Einheit vor und nimmt man zusammen mit der Relation das der Anzahl unfähige, binnendiffuse Mannigfaltige (synthetische Einheit) an, dann erscheinen die logischen Antinomien als 125 Dieser Punkt wird auch bereits bei der Erörterung der Paradigmen in B. I. 3. mehrere Male gefragt. 126 Vgl. Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 98.
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Zeichen für die unstimmigen Gesichtszüge der Wirklichkeit. Dieser unstimmigen Wirklichkeit steht die ‚konkurrierende Identität‘ gegenüber, die in logischen Antinomien zum Vorschein kommt. Hierin soll die Pointe der Problemlösung im Sinne von Schmitz bestehen. Dabei gelten die unstimmige, nicht so numerisch glatte Wirklichkeit sowie die konkurrierende Identität ebenfalls für Zeit und Selbstbewusstsein. Die ‚beunruhigende‘ und ‚verschlüsselte‘ Identität des Sozialsystems in Tautologie und Paradoxie bei Luhmann ist m. E. auch nur als konkurrierende Identität nachvollziehbar. Sonst gerät sie in einen logischen Widerspruch und würde die Systemtheorie zum Fall bringen. Die Antinomien, die tatsächlich bestehen und an sich einen Sachverhalt darstellen, sind jedenfalls nicht logisch unmöglich, sondern sie weisen auf eine nichtnumerische Wirklichkeit hin, die oft übergangen wird. Bei der Behandlung der logischen Paradoxie geht man üblicherweise unmittelbar von der Annahme der eindeutigen Bestimmtheit aus.127 Die Verbindung von Besonderheit (Identität, Eindeutigkeit) und Bestimmtheit (analytischer Einheit) wird fraglos angenommen: Alles ist einzeln. Dies bedeutet, dass man mit jeder verständlichen Behauptung prinzipiell feststellen kann, ob sich die Sache so oder nicht so verhält, wie es behauptet wird. Es besteht sozusagen ein binär codiertes Verhältnis von Entweder / Oder. Eine Behauptung ist dann wahr oder falsch, es gibt keine dritte Möglichkeit. Eine logische Antinomie sagt aber gerade etwas aus, was zugleich wahr und falsch ist. Die Sache ist so und zugleich nicht so. Insofern muss die Antinomie ein logischer Selbstwiderspruch sein. Wie dargestellt hat die (absolute) Identität ihre Urform im unbestimmten Eindeutigen bzw. im eindeutigen Unbestimmten. Ohne jede Bestimmtheit weiß man um dies absolut gewiss, so wie die Tiere es auch können. Die Einzelheit wird abgestreift und Besonderheit und Bestimmtheit werden getrennt. Wenn man außer der Einzelheit nun weiterhin die Annahme der Eindeutigkeit suspendiert und Identität und Bestimmtheit in der nichtnumerischen Einheit sozuagen aufheben lässt, dann erhält man eine zwiespältige Wirklichkeit. Daraus entsteht eine andere Alternative: Eindeutigkeit und Zwiespältigkeit. Dies bedeutet, dass man nicht mehr von der Entscheidbarkeit der Frage danach ausgehen muss und kann, ob die behauptete Sache sich wie behauptet verhält oder nicht. Die prinzipielle Entscheidbarkeit angesichts des behaupteten Sachverhaltes – so oder nicht so, wahr oder falsch – wird dann nicht mehr selbstverständlich, genau wie die Einzelheit keineswegs so natürlich ist wie oft gemeint. 127 Es ist nämlich der normale Zustand mit Vorzeichen primitiver Gegenwart im Unterschied zur eindeutigen Unbestimmtheit als Urbild der Identität im Einbruch der reinen primitiven Gegenwart.
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Es besteht nämlich noch eine weitere Alternative: Entscheidbarkeit oder Unentscheidbarkeit bzw. Entschiedenheit oder Unentschiedenheit.128 Erst damit kommt die Antinomie nicht als logischer Widerspruch vor, sondern sie weist auf die nichtnumerische, binnendiffuse Mannigfaltigkeit hin. Als Beispiel für diese zwiespältige Wirklichkeit führt Schmitz die von ihm genannte „Husserl’sche Puppe“ an.129 Diese Puppe kommt als Figur vor, die innerhalb einiger Sekunden sowohl als Frau als auch als Puppe erscheint und so wahrgenommen wird. Dieselbe Figur schwankt zwischen den beiden Bestimmtheiten, als Frau und als Puppe. Man beachte aber, dass es sich dabei nicht bloß um Zweifel handelt, ob man eine Frau oder eine Puppe sieht. Es betrifft nicht eine möglicherweise falsche Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes. Sondern dieselbe Figur kommt vor als „ein Zwittergebilde, in dem die unvereinbaren Erscheinungen einer Frau und einer Puppe um Identität mit einem Dritten, dieser Figur, konkurrierten“.130 Mit Husserl kann man sagen: „Es sind zwei sich vermöge des gemeinsamen Kerngehaltes durchdringende Wahrnehmungen“, zwischen den beiden Wahrnehmungsauffassungen erfolgt aber „nicht ein glatter Bruch in Form einer entschiedenen Enttäuschung“; es findet nämlich nicht ein entschiedener, sondern ein unentschiedener Widerstreit, der eine Einheit bildet, statt.131 An dem Phänomen orientierend, das in der 128 Als hinweisende Verknüpfung mit diesem Lösungsansatz vgl. SS, S. 10 f. (auf den Dezisionismus verweisend): „Systeme haben eine Fähigkeit zur Evolution nur, wenn sie Unentscheidbares entscheiden können.“ Die Rede von der Entscheidung des Unentscheidbaren ist somit nur mithilfe der Alternative Entschiedenheit / Unentschiedenheit nachvollziehbar. Es geht um das Schwanken zwischen dem Eindeutigen und dem Nicht-Eindeutigen, um das Ringen von Eindeutigkeit und Zwiespältigkeit. Die binäre Codierung, die Bekämpfung der Paradoxie im Sinne der kommunikativen Unbestimmtheit sowie die Entscheidungslage beziehen sich dann darauf, von der Zwiespältigkeit (dem nichtnumerischen Mannigfaltigen) zur Eindeutigkeit (Einzelheit) zu gelangen. Luhmanns Lösung dafür besteht aber nicht im Aufbau eines logischen Systems, sondern in Externalisierung bzw. Gödelisierung, zum Beispiel mithilfe des Verfassungstextes. Vgl. E. II. 2. a). 129 Vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 194–199; ders., Logische Untersuchungen, 2008, S. 117–120; ders., Die Aufhebung der Gegenwart, 1998, S. 81. Die Figur der Husserl’schen Puppe zeigt das nichtnumerische Mannigfaltige, das unstimmige Gesicht der Welt. Zum Vergleich könnte man die „Kipp figuren“ heranziehen, wobei z. B. eine Figur je nach dem Fokus der Aufmerksamkeit als Kelch oder als Abbildung zweier Gesichter erscheint (vgl. Joas / Knöbl, Sozialtheorie, 2004, S. 229 f.). Allerdings stecken darin sehr unterschiedliche Ansätze, es kommt darauf an, ob man die Bewusstseinsleistung oder die gekippte Bedeutung hervorhebt. 130 Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 26. 131 Husserl, Erfahrung und Urteil, 1985, S. 99–104. In diesem Zusammenhang könnte man auch Luhmanns Anschluss der Sinntheorie an Husserl finden. Bei der Wahrnehmung bringt jede Vergegenwärtigung (einer bestimmten Farbe als Beispiel)
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Husserl’schen Puppe erscheint, wird die logische Antinomie bei Schmitz so erklärt, dass Bestimmtheit und Besonderheit getrennt werden und es zu einer Konkurrenz von unvereinbaren Bestimmtheiten um die Identität mit einem Dritten kommen kann. Die Antinomie bzw. logische Paradoxie entsteht aus der konkurrierenden Identität. In Bezug darauf könnte man mit Luhmann von der inneren Negation in der Identität (Theodizee) bzw. einer negierenden Identität sprechen.132 bb) Formale Logik der Unentschiedenheit: Einfache, endlichfache und unendlichfache Der weitere Schritt bei der Schmitz’schen Behandlung der Antinomie besteht dann darin, dass der Geltungsbereich des Satzes des ausgeschlossenen Dritten aus der klassischen zweiwertigen Logik erweitert wird. Der Satz wird angesichts der Antinomie nicht nur nicht suspendiert oder sogar explizit aufgegeben wird, wie manche Lösungsansätze es nahelegen. Sondern er wird gerade umgekehrt in Verbindung mit der Annahme der zwiespältigen Wirklichkeit auf die Alternative von Entschiedenheit und Un entschiedenheit hinsichtlich der behaupteten Bestimmtheiten ausgedehnt. Interessanterweise spricht Luhmann auch von einer „Metacodierung“ der Logik.133 Der Satz des ausgeschlossenen Dritten wird üblicherweise als „eine unbestimmte Allgemeinheit“ (Husserl, ebd., S. 106) mit sich als Umfang anderer möglicher Farben. Das bedeutet: „Die Vergegenwärtigung ist nur insofern mit dem Gewißheitsmodus ausgestattet, als sie trotz der bestimmten, in ihr auftretenden Färbung ihren Unbestimmtheitsmodus in Bezug auf sie innehält“ (Husserl, ebd., S. 107). Mit Vergegenwärtigung geht man von einer allgemeinen Unbestimmtheit zu einer Bestimmtheit, die aber nur „einen modalisierten Gewißheitscharakter“ (Husserl, ebd., S. 107) hat. Neben der vergegenwärtigten bestehen also immer andere Möglichkeiten. Bei Luhmann hat der Sinn zwei Horizonte in jeder Sinndimension; er zeigt eine Verweisungsstruktur mit Überschuss der Sinnmöglichkeiten, die dann mit der Systembildung durch die binäre Codierung mit zwei Seiten – Verhärtung der beiden Horizonte? – reguliert wird, wobei man auf der positiven Seite anschließt; auf der anderen, negativen Seite (Unwert) bestehen die anderen prinzipiell unbegrenzten Möglichkeiten. Und diese Differenz bzw. der Streit schafft – mit Husserl – „die Einheit des Gegeneinander, der damit aneinander gebundenen Möglichkeiten“ (Husserl, ebd., S. 104). Trotz der Formel von Einheit der Differenz scheint Luhmann aber nicht zu merken, dass die miteinander streitenden Sinnmöglichkeiten sich in ein und derselben Gestalt dynamisch übereinander schieben, wie es in der genannten Husserl’schen Puppe erscheint und von Schmitz beobachtet wird. 132 Siehe C. I. 3. Die beiden Theorien weisen sozusagen aus der Ferne eine Übereinstimmung auf. Übrigens wird diese negierende Identität im Recht vom Rechtstext getragen und sie ermöglicht die Identität des Rechts, vgl. D. II. 2. 133 Hinsichtlich des Problems von futuris contingentibus schreibt Luhmann, GdG, S. 896, Anm. 49, ähnlicherweise, dass die Logik „eine Metacodierung von
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entweder A oder non-A, entweder A oder B (B ≠ A) verstanden. Es gibt demnach kein Drittes, es besteht dann keine Differenz an sich im Sinne von etwas Dazwischen-Stehendem. Die Differenzlogik, die gerade in der Differenz das verbindende und trennende Differente sowie die Interpenetrationsformel vorsieht,134 ist demnach zum Scheitern bestimmt. Die Differenz wird bestenfalls als eine abstrakte, nur gedanklich imaginäre, aber nicht real dazwischen laufende Linie vorgestellt, die selber mathematisch ebenso schwer zu definieren ist. Der Satz wird mit der Schmitz’schen Erweiterung jetzt von „A v ¬ A“ (A oder nicht A) zu „!A v ¬!A“ (entschieden A oder nicht entschieden A) umgeformt. Das Ausrufungszeichen bedeutet die Entschiedenheit: ! = entschieden. Dabei enthält die zweite Seite des erweiterten Satzes – „¬!A“ – zwei Möglichkeiten: (i) „! ¬A“ (entschieden nicht A) und (ii) „unentschieden, ob A“. Das letztere wird bei Schmitz mit dem Zeichen ! ausgedrückt. Man sieht, dass angesichts der behaupteten Bestimmtheit A entschieden werden kann (entschieden A oder entschieden nicht A); hier kommt aber nun das Dritte hinzu, nämlich unentschieden A. Ob es A ist oder nicht ist, bleibt prinzipiell unentschieden. Durch diese Umformulierung findet die Zwiespältigkeit der Wirklichkeit als Phänomen ihren formalen Ausdruck.135 Damit bleibt der Satz des ausgeschlossenen Dritten in Kraft, aber man erhält doch das ‚geltende‘ bzw. ‚wahre‘ Dritte als etwas Unentschiedenes, auf das als Sachverhalt der gültig bleibende Satz ausgedehnt wird und seine Anwendung findet. Hinsichtlich des Dritten kann man weiter fragen, ob das Dritte selber – nämlich unentschieden A – entschieden oder auch unentschieden (das weitere Dritte) ist usw. Das dadurch logisch existierende Dritte, als etwas Wirkliches, bringt dabei durch sein gleichzeitiges Beibehalten zweier Bestimmtheiten das nichtnumerische Mannigfaltige zum Ausdruck. Im Hinblick auf die Systemtheorie soll erst mithilfe dieser Voraussetzung die Vereinbarkeit zwischen der Differenz als solcher und der binären Codierung (des Funktionssystems) logisch ermöglicht werden. ‚schon entschieden / noch nicht entschieden‘ “ braucht und dadurch den Satz des ausgeschlossenen Dritten aufrechterhält. Der Differenzansatz der Systemtheorie will also zum einen den Fall der Unentschiedenheit, die die traditionelle Seinsontologie als Paradoxie vermeiden will, einschließen. Dazu vgl. GdG, S. 895; SS, S. 207 f., S. 234. Und er befürwortet zum anderen auch keine andere als die zweiwertige Logik. 134 Vgl. SS, S. 38, S. 315 f. 135 Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 122. Parallele Darstellungen der Logik der unendlichfachen Unentschiedenheit findet man auch in: Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 232 f.; ders., Subjektivität, 1968, S. 95 ff.; ders., Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, 1994, S. 146 ff.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
Auf Grundlage dieser Überlegungen entfaltet Schmitz dann eine formale Logik der Paradoxie mit drei Typen der Unentschiedenheit: einfach unentschieden, iteriert unentschieden sowie unendlichfach unentschieden. Zunächst wird die Mengenparadoxie von Russell bei Schmitz mit der einfachen Unentschiedenheit behandelt.136 Diese Paradoxie besagt: M ist der Umfang aller Mengen, die sich selber nicht als Element enthalten. Daraus können zwei einander widersprechende Behauptungen bzw. Sachverhalte entstehen: „MεM“ (M ist Element von sich) und „¬MεM“ (M ist kein Element von sich). Mit dem tradtionellen Verständnis des Satzes des ausgeschlossenen Dritten, das in sich keine Unentschiedenheit einschließt, muss mit den beiden Behauptungen „!MεM“ sowie „!¬MεM“ gemeint werden, also mit Entschiedenheit des Behaupteten. Daraus resultiert notwendigerweise ein logischer Widerspruch. Wenn man aber für die Vermeidung des Widerspruchs im Sinne einer mehrwertigen Logik einen dritten Wert wie „offen“ einführt oder in anderer Weise die Bewertung von „wahr“ bzw. „falsch“ umgeht, dann muss man die beiden anderen Werte – eben wahr oder falsch – ausschließen. Dies führt aber zu der Behauptung, dass „MεM“ nicht wahr ist. Damit kehrt aber die Antinomie wieder zurück. Entsprechendes gilt auch für „¬MεM“. Man soll nämlich davon ausgehen, dass die aus der Mengenparadoxie abgeleiteten beiden Behauptungen zugleich wahr und falsch sind. Gibt man die Annahme der eindeutigen Bestimmtheit auf, bedeutet die Behauptung von „MεM“ nicht mehr unbedingt „!MεM“ (entschieden M). Sie kann auch als „¬!MεM“ – nämlich unentschieden, ob MεM – verstanden werden. Damit stellt sich „MεM“ dar als „eine zweideutige Formel, deren Sinn nicht genügend bestimmt ist, um ihr Wahrheit oder Falschheit zusprechen zu können“. Es verhält sich so: Die Bestimmtheit besteht zwar, wird aber ‚nicht eindeutig‘ entschieden. Von der Formel „MεM“ kann nicht auf ihre Wahrheit oder Falschheit geschlossen werden. Dasselbe gilt für „¬MεM“. Man bestreitet die beiden Werte wahr und falsch nicht, sondern man hat nicht genügend Gründe, zwischen ihnen zu entscheiden. Und dies ist der existierende Sachverhalt, den die Antinomie besagt. Sie bringt eine Tatsache zum Ausdruck, dass zwei unvereinbare Sachverhalte miteinander um die Tatsächlichkeit konkurrieren. Den Grund der Paradoxie sieht Schmitz darin, dass die beiden Behauptungen einerseits bloß nach Schlussregeln auseinander geschlossen werden und keine anderen sachliche Beweise außer der Logik für die eigene Wahrheit erbringen können. Und es fehlt andererseits den ausgedrückten Sachverhalten an „Kraft zu dynamischer Konkurrenz“. Daher bleiben die beiden behaupteten Sachverhalte in einer trägen Gleichgültigkeit bzw. trägen Unentschiedenheit. Insofern bereitet die 136 Die Darstellung über die Mengenparadoxie siehe Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 122–124.
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie179
Russell’sche Antinomie auch keine besondere Schwierigkeit. Man genügt ihr bereits mit der einfachen Unentschiedenheit („¬!MεM“). Aber nicht alle Antinomien stellen nur eine Konkurrenz unvereinbarer, dennoch träger Sachverhalte ohne dynamische Kraft dar. Man kann doch auch gute Gründe und Beweise für die unvereinbaren Behauptungen aufbringen. In diesem Fall sind die Antinomien nicht mit einfacher Unentschiedenheit zu ‚erledigen‘. Die Unentschiedenheit angesichts einer behaupteten Bestimmtheit stellt dann eine Tatsache dar, nach deren Entschiedenheit auf der zweiten Stufe wieder gefragt wird. Die Unentschiedenheit wird also in jeder Stufe iteriert. Es ist unentschieden, ob unentschieden ist, ob unentschieden ist usw., ob eine Behauptung stimmt oder nicht. Wenn angesichts einer Bestimmtheit sowohl ihre Entschiedenheit als auch ihre einfache Unentschiedenheit verneint werden, dann kommt man zu zweifacher Unentschiedenheit, die die Entschiedenheit und einfache Unentschiedenheit aufhebt und dadurch den Satz des ausgeschlossenen Dritten sozusagen eines Weiteren anhält. Die zweifache Unentschiedenheit steht eine Stufe höher, bringt dabei einen (potentiellen) logischen Widerspruch gewissermaßen unterhalb von sich mit, dass weder Entschiedenheit noch einfache Unentschiedenheit vorkommen. Die zweifache Unentschiedenheit an sich stellt nämlich einen Sachverhalt dar, der als ein Weder-Noch kein logischer Widerspruch ist. Umgekehrt hat die Negation der zweifachen Unentschiedenheit aber den logischen Widerspruch zur Folge: sowohl die einfache Unentschiedenheit als auch die Entschiedenheit. Um diesen Widerspruch des Sowohl-als-Auch zu vermeiden, hat Schmitz den Begriff der Negation für die höhere Stufe der Unentschiedenheit neu definiert. Die Negation der zweifachen Unentschiedenheit besteht demnach „in der Adjunktion von einfacher Unentschiedenheit und Entschiedenheit, die ihrerseits mit der Negation der einfachen Unentschiedenheit gleichwertig ist“; und entsprechend wird die Negation auf einer höheren Stufe als „Adjunktion der nächstniederen Stufe und ihrer Negation“ bestimmt.137 In der Praxis bedeutet dies, dass man mit einer Negation der Unentschiedenheit auf einer höheren Stufe nicht auf der nächstniederen Stufe steckt und in den Widerspruch des Sowohl-als-Auch gerät, sondern dass man entweder auf die nächstniedere Stufe der Unentschiedenheit hinuntergeht und dort bleibt oder noch einmal durch die weitere Negation auf die übernächstniedere Stufe übergeht usw., bis man möglicherweise wieder auf den Boden der Entschiedenheit herunterkommt. Man erhält nämlich auf irgendeiner Stufe die Unentschiedenheit als Sachverhalt aufrecht und bleibt dort trotz aller dynamischen Kräfte oder man kommt doch herunter. Aber der logische 137 Schmitz,
Logische Untersuchungen, 2008, S. 128.
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Widerspruch aufgrund des Satzes des ausgeschlossenen Dritten wird damit jedenfalls vermieden. Aufgrund dieser angestellten Überlegungen über dynamische Antinomien und die Unentschiedenheit höherer Stufen baut Schmitz dann ein formales Kalkül der Antinomien auf.138 Zuerst wird die Negation definiert:139 D1. ¬ ! 1 k df !k v !¬k [Negation einfacher Unentschiedenheit von k = entschieden k oder entschieden nicht k, wobei ‚k‘ einen Satz, das Zeichen ‚! ‘ die Unentschiedenheit und das Zeichen ‚!‘ die Entschiedenheit bezeichnen.] D2. ¬ ! nk df ! n – 1k v ¬ ! n – 1k [Negation von Unentschiedenheit der n-ten Stufe von k = Unentschiedenheit der (n – 1)-ten Stufe von k oder die Negation der Unentschiedenheit der (n – 1)-sten Stufe von k, wobei n größer als 1 ist.]
Dann werden die Axiome des Kalküls angegeben und die Lehrsätze aus Axiomen und Definitionen der Negation abgeleitet. Hierbei nimmt man einen metasprachlichen Standpunkt an, um die Axiome, die doch in der Kalkülsprache zur Geltung kommen, anzugeben. Jeder Satz der Form „! nk“ (unentschieden angesichts von k auf der Stufe n) erhält dann metasprachlich den Namen (n + 1, k), wobei die Kennziffer um 1 erhöht wird, weil der Standpunkt des Angebers immer eine Stufe höher als die Unentschiedenheit liegt. Die einfache Unentschiedenheit hat also den Namen (2, k); die zweifache Unentschiedenheit (3, k), usw. Und die Entschiedenheit angesichts k hat entsprechend den Namen (1, k). Die Axiome lauten demnach wie folgt: A 1: Wenn (n, k) wahr ist, dann ist weder (n – 1, k) noch ¬(n – 1, k) wahr, wobei 2 < n < ω ist (ω = die kleinste transfinite Ordnungszahl). [Wenn auf der n-ten Stufe die Unentschiedenheit als eine Tatsache festgestellt wird, nämlich wenn sie als Sachverhalt wahr ist, dann kann auf der nächstniederen Stufe weder die Unentschiedenheit als Tatsache noch deren Negation festgestellt werden, die nach der zweiten Definition der Negation die Feststellung der Unentschiedenheit auf der übernächstniederen Stufe bedeuten würde. Dieses Axiom bringt die unvermeidliche Verletzung des Satzes des ausgeschlossenen Dritten zum Ausdruck, die sich allerdings eine Stufe darunter befindet, womit die Darstellung der Unentschiedenheit auf der höheren Stufe ermöglicht wird.] A 2: (n, k) ist genau dann wahr, wenn (n, ¬k) wahr ist, wobei 1 < n ist. [k und nicht-k haben angesichts des Problems der Unentschiedenheit den gleichen logischen Rang und tragen das gleiche Schicksal, „weil Unentschiedenheit immer zweiseitig ist, als Unentschiedenheit ob … oder …“.140] 138 Die Darstellung des Kalkülsystems siehe Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 129–133. 139 In Klammern […] ist meine Erläuterung. 140 Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 130.
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie181 A 3. Wenn (2, k) wahr ist, ist weder (1, k) noch (1, ¬k) wahr. [Die einfache Unentschiedenheit bedeutet, dass die Entschiedenheit weder von k noch von nicht-k eine Tatsache ist. Dies ist eben die Unentschiedenheit.]
Mit Definitionen und Axiomen erhält man dann die folgenden Lehrsätze des Kalkülsystems der Logik der Unentschiedenheit: (I) Wenn (m, k) oder (m, ¬k) wahr ist, dann ist weder (i, k) noch (i, ¬k) wahr, wobei 0 < i < m ist. [Wenn auf der m-ten Stufe die Unentschiedenheit von k oder nicht-k als Tatsache festgestellt wird, kann auf den niederen Stufen keine Unentschiedenheit als Tatsache gelten.] (II) ¬(n, k) ist genau dann wahr, wenn (n – 1, k) v (n – 2, k) v … v (1, k) v (1, ¬k) wahr ist. [Wenn die Unentschiedenheit von k auf irgendeiner Stufe als Tatsache verneint wird, bedeutet dies, dass auf irgendeiner niederen Stufe die Unentschiedenheit als Tatsache festgestellt wird oder schließlich auf dem Boden für k oder nicht-k entschieden wird.] (III) Wenn (n, k) wahr ist, dann ist auch ¬(m, k) wahr, wobei m > n ist. [Die Feststellung der Unentschiedenheit als Tatsache auf einer niederen Stufe hat zwangsläufig die Negation der Unentschiedenheit auf einer höheren Stufe zur Folge, weil sonst die Unentschiedenheit auf der niederen Stufe eben keine wahre Tatsache ist, sondern sie selber bleibt unentschieden.] (IV) Es können nicht sowohl (n, k) als auch ¬(n, k) wahr sein. [Die Feststellung der Unentschiedenheit als Tatsache schließt deren Negation aus.] (V) Wenn mindestens (n, k) oder (n, ¬k) wahr ist, dann ist weder (m, k) noch (m, ¬k) wahr, wobei m > n ist. [Weil k und nicht-k angesichts des Problems der Unentschiedenheit das gleiche logische Schicksal teilen, kann weder k noch nicht-k auf einer höheren Stufe als tatsächliche Unentschiedenheit gelten, wenn es sich auf einer niederen Stufe bereits so verhält.] (VI) Es gibt höchstens ein einziges n, dass mindestens (n, k) oder (n, ist; und mit n > 1 wird sowohl (n, k) als auch (n, ¬k) wahr sein.
¬k)
wahr
[k und nicht-k teilen angesichts des Problems der Unentschiedenheit das gleiche Schicksal und sei es k, sei es nicht-k, die Unentschiedenheit als festgestellte Tatsache kann nur auf einer einzigen Stufe bestehen; weder unterhalb noch oberhalb dieser einzigen Stufe kann die Unentschiedenheit noch einmal als Tatsache gelten.]
Mit diesen abgeleiteten Lehrsätzen bekommt man einen Überblick über das System des Kalküls für die logischen Antinomien, geradezu ein formales Kalkülsystem der Paradoxie. Die Pointe des formalen Systems von Schmitz könnte man dahingehend zusammenfassen: Wenn auf irgendeiner bestimmten Stufe die Unentschiedenheit angesichts einer Behauptung als Tatsache festgestellt wird, dann kann es weder oberhalb noch unterhalb dieser Stufe nochmals eine andere Unentschiedenheit geben, die als Tatsa-
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
che gilt und eine Konkurrenz der unvereinbaren Sachverhalte um die Identität mit ein und demselben Dritten aufweist. Oberhalb der Stufe kann es nur Negation jeder Unentschiedenheit geben und unterhalb der Stufe wird noch danach gefragt, ob die Unentschiedenheit unentschieden ist oder nicht. Der Lehrsatz (IV) bringt diese Pointe zum Ausdruck. Dafür bildet der Negationsbegriff den Kernpunkt des Kalkülsystems, der trotz der Verletzung des Satzes des ausgeschlossenen Dritten die Darstellung der Unentschiedenheit auf einer höheren Stufe ermöglicht. Diese vorgestellte Möglichkeit einer logisch einwandfreien Darstellung der Antinomien zeigt, dass die logische Paradoxie keineswegs eine Blockade des Denkens und einen Selbstwiderspruch der Wirklichkeit bedeutet. Das formale System bringt aber auch zum Ausdruck, dass die Antinomie mit der endlichfachen Unentschiedenheit noch nicht beseitigt oder neutralisiert wird, insbesondere wenn, anders als die einfache Unentschiedenheit wie bei der Russell’schen Antinomie, die voneinander unabhängigen Beweise für die Entschiedenheit auf der Grundstufe doch erbracht werden können.141 Die Besonderheit der Antinomien mit dynamischer Kraft besteht darin, dass die um die Identität mit einem Dritten konkurrierenden, unvereinbaren Behauptungen unabhängig voneinander – je mit eigenen sachlichen Gründen – bewiesen werden können. Sie sollen nicht einer trägen Gleichgültigkeit überlassen werden. Genau daher muss für die dynamische Konkurrenz gefordert werden, die unendlichfache Unentschiedenheit zu steigen, wodurch die mit dem binären Code von wahr / unwahr erfolgende Entschiedenheit hinsichtlich der Identität mit oder Verschiedenheit von dem Dritten auf der Grundstufe überhaupt nicht mehr vorkommt, weil man auf der unendlichfachen Stufe nicht mehr von der Unendlichkeit auf die Endlichkeit hinuntersteigt. Im selben Zug aber wird durch die unendlichfachen Stufen der Unentschiedenheit die Unentschiedenheit selber auch unendlichfach entschärft, wobei die Antinomien als Sachverhalt der Unentschiedenheit doch bleiben und die zwiespältige Struktur der Wirklichkeit aufweisen. Die Lügner-Paradoxie, die seit der Antike bis heute als logische Antinomie schlechthin gilt, wird dann als klassisches Beispiel für die unendlichfache Unentschiedenheit von Schmitz in Betracht gezogen.142 Die Eigentüm141 Schmitz nennt drei Beispiele für die dynamischen, beweisfähigen Antinomien: Cantors Antinomie des Satzes der Potenzmenge, Burali-Fortis Antinomie der Folge der Ordnungszahlen sowie die Antinomie des unbezeichneten Zahlennamens bei Hilbert / Ackermann, siehe Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 134. In diesem Zusammenhang spricht er auch von turbulenten Umfängen im Sinne der zahlunfähigen Gattung in dem beweisbaren Spagat der Wirklichkeit (ebd., S. 138, S. 142). 142 Siehe Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 139–142. Die beiden Wahrheitsbedingungen W1 und W2, die Definition des Lügner-Satzes als „!Pseu“
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie183
lichkeit dieser Antinomie besteht ihm zufolge nun darin: Die unvereinbaren Behauptungen in ihr besitzen einerseits wie bei der Russell’schen Mengenparadoxie ebenso keine sachlichen, außerlogischen Beweise für sich; aber im Gegensatz zu der Mengenparadoxie kann diese Antinomie andererseits nicht einfach unentschieden bleiben. Die Lügner-Paradoxie weist nämlich eine dynamische Antinomie ohne außerlogische Gründe auf. Für ihre formale Darstellung benutzt Schmitz dann das von Tarski entwickelte Wahrheitskriterium: Ein Satz bzw. eine Aussage ist genau dann wahr, wenn es so ist. Als ein Beispiel dafür gilt: Der Satz ‚Es regnet‘ ist genau dann wahr, wenn es regnet. Dementsprechend definiert er den Wahrheitsbegriff mit zwei Bedingungen: W1: p → N′p. W2: N′p → p. [‚p‘ steht für einen Satz bzw. eine Aussage; ‚→‘ für den Konditional; ‚N′p‘ für eine Funktion, die ‚p‘ einen Satz mit der Form ‚… ist wahr‘ zuschreibt, wobei ein Name für ‚p‘ in der freien Stelle eingesetzt wird. ‚N′p‘ bedeutet also: ‚p‘ ist wahr.]
Dann wird der Lügner-Satz: ‚Ich lüge jetzt‘ so definiert: (1) !Pseu df „!Pseu ist nicht wahr.“ [‚!‘ bedeutet Entschiedenheit.]
Mit diesem Verfahren der Definition will Schmitz die definitorische Zirkularität vermeiden. Ihm zufolge entspricht das Verfahren der Praxis der Namensgebung der päpstlichen Bullen mit den beiden Anfangswerten; oder man sieht es auch der Übung an, die Anfangszeile eines nicht betitelten Gedichts als Definiens im Verzeichnis zu gebrauchen, das auf sein Definien dum auf der angegebenen Seite hinweist. ‚Pseu‘ gilt also als Definiens, sein Definiendum ist der Satz: „Pseu ist nicht wahr“. Mit ‚Pseu‘ soll damit für den Lügner-Satz ein Name gegeben werden, der in der Satzform ‚… ist wahr‘ für die freie Stelle eingesetzt wird.143 Daran anschließend kann man mit logischer Schlüssigkeit den Satz völlig bestätigen: Ich lüge jetzt. Aufgrund dieses Satzes geht Schmitz von den zwei folgenden Aussagen als einander widersprechenden Annahmen (A) und (B) aus, die je einen Sachverhalt zum Ausdruck bringen: (A) !Pseu ist nicht wahr. (B) !Pseu ist wahr. und die Annahmen (A) und (B) für den Schluss werden hier nach dem Original zitiert. 143 Wenn man den Lügner tatsächlich in eine Gedichtsammlung aufliest, was würde aufkommen? Ein paradoxes, selbstnegierendes Gedicht? Vgl. F. II.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
Mit (A) anfangend kann man mit einer Anwendung der Wahrheitsbedingung W1 zu dem Satz „ ‚!Pseu ist nicht wahr‘ ist wahr“ kommen und dann folgert man in Verbindung mit der Definition (1) durch den Einsatz des Namens ‚!Pseu‘ für den Lügner-Satz gerade die widersprechende Annahme (B): „!Pseu ist wahr“. Startet man umgekehrt mit (B), dann kann man entsprechend der Definition (1) den Lügner-Satz für seinen Namen ‚!Pseu‘ in dieser Annahme (B) einsetzen und zu dem Satz „ ‚!Pseu ist nicht wahr‘ ist wahr“ gelangen und weiter in Verbindung mit der Wahrheitsbedingung W2 wird man die widersprechende Annahme (A) ableiten: „!Pseu ist nicht wahr“. Die Lügner-Paradoxie erweist sich also als ‚logisch richtig‘ und stellt eine durch schlüssige Folgerung bestätigte Antinomie dar. Man kann sie nach Schmitz aber nicht durch Berufung auf endlichfache Unentschiedenheit neutralisieren, weil bei dem Lügner die Unentschiedenheit jeder endlichfachen Stufe stets zugleich die Negation der Entschiedenheit von Pseu (¬!Pseu) mit sich bringt. Die zugesetzte Negation löst aber die heruntersteigende Bewegung aus und dadurch läuft die Lügner-Paradoxie da unten – unaufhaltsam – wieder an usw. Man kann also nicht wirklich den Lügner unter sich unterbringen und unterbinden, indem man sich eine Stufe höher positioniert.144 Daher hat man es nötig, mit dem Lügner anhand des soeben vorgestellten Logiksystems auf die unendlichfache Unentschiedenheit zu steigen, um die Lügner-Paradoxie eben dadurch unendlichfach zu entschärfen, bis der Lügner unsichtbar – oder mit Luhmann – invisibilisiert wird. An diesem unaufhaltsamen Loslaufen des Lügners unterscheidet sich die Lügner-Paradoxie abgrundtief von der Russell’schen Mengenparadoxie. Der Grund dafür besteht Schmitz zufolge darin, „dass sich Affirmation und Negation nicht so wie bei den anderen Antinomien auseinandernehmen lassen“. Wenn man nämlich (A) behauptet, dann wird auch (B) in Verbindung mit Definition (1) innerlich zugleich behauptet und umgekehrt. Mit jeder Behauptung entsteht also ein Widerspruch. Mit jeder Behauptung erhebt man aber „den Anspruch auf Tatsächlichkeit des Ausgesagten, und damit indirekt auf Wahrheit der Aussage“. Demnach beansprucht die Behauptung sowohl von (A) als auch von (B) je für sich die Wahrheit, die aber zu einem notwendigen Widerspruch zu führen scheint.145 Dazu schreibt Schmitz: 144 Man beachte hier nochmals die oben angegebenen Definitionen (D1 und D2) der Negation. Man könnte auch in anderer Richtung den Sachverhalt so beobachten, dass die Unentschiedenheit auf jeder Stufe genau den Satz ‚Ich lüge jetzt‘ bedeutet und damit immer wieder die Negation der erreichten Unentschiedenheit auslöst. Man wird gezwungen, weiter nach oben zu treiben, aber man erreicht einen letzten R uhepunkt nicht. Übrigens sieht der Lügner hierbei dem Sisyphus gewissermaßen ähnlich. 145 Alle Zitate, Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 140. Man erinnere an Goethe bei Luhmann: Jeder Sinn erregt den Gegensinn; und jede Kommunikation provoziert den Protest. Siehe SS, S. 204, S. 218, S. 238.
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie185 „Dieser Widerspruch hat seinen Sitz nicht im Inhalt der Aussage, sondern im Zusammentreffen dieses Inhaltes mit dem Akt des Behauptens; er ist also nicht formal, sondern performativ, entfaltet sich aber zu einem formalen Widerspruch wegen des unzertrennlichen Zusammengehörens von Inhalt und Akt der Behauptung.“146
Die Pointe der von Schmitz gestellten Theorie über den Lügner könnte man so zusammenfassen, dass es bei dem Lügner nicht auf den Inhalt, sondern auf die Wirklichkeit (Tatsächlichkeit, Wahrheit) des Inhaltes ankommt. Die Wirklichkeit liegt (mit der Identität) auf der Ebene der primitiven Gegenwart, nicht auf der Ebene der Bedeutung (Bestimmtheit). Sie kommt durch die performative Behauptung zum Vorschein, aber unaufrichtig, auf negative Weise. Die Wirklichkeit bringt sich nämlich durch und in der Negation zum Ausdruck. Die Affirmation und die Negation lassen sich ja „nicht so weit wie bei den anderen Antinomien auseinandernehmen“. Die Negation wird so innerlich installiert, woran gerade es der Mengenparadoxie fehlt. Sie bezieht sich an erster Stelle auf die Wirklichkeit und nur dann auf den Inhalt (etwas Wirkliches). Allein dadurch kann der Lügner in Form des logisch einwandfreien Widerspruchs auftreten. Dieser Lügner ist nicht aufzuhalten, kann aber entschärft werden und weist auf das unstimmige Weltgesicht im Sinne der synthetischen, nichtnumerischen Einheit hin. Er stellt gewissermaßen eine konkurrierende Identität der Welt dar, indem die beiden behaupteten Sachverhalte miteinander um die Identität mit dem Lügner(-Satz) konkurrieren und darüber unendlichfach unentschieden bleiben. Er gerät trotzdem nicht in den logischen Selbstwiderspruch, weil ohne entschiedene Identität die behaupteten Sachverhalte nicht als einzelne Dinge mit eindeutiger Bestimmtheit unvereinbar aufeinander stoßen. Sie sind in der nichtnumerischen Einheit impliziert und nicht völlig vereinzelt, obwohl sie sich in Sekunden gleichzeitig aufdrängen. Schmitz folgend könnte man in dem Lügner sogar einen Anzeiger der Lebensquelle – der nichtnumerischen Welt – sehen.147 Dass die Negation mit der Wirklichkeit so innerlich verschränkt wird und sich daher zunächst nicht auf den Inhalt bezieht, könnte man mit Wittgensteins These zusammenbringen: Negation bedeutet nichts. Dabei könnte die Unterscheidung von Bestimmtheit und Identität sowie von primitiver Gegenwart und synthetischer Einheit (bei Schmitz) – im Hinblick auf den begrifflichen Rahmen – der Unterscheidung von Gedanke und Existenz (bei Frege), von Bedeutung und Wirklichkeit und auch von Norm und Geltung entsprechen. Nur vor diesem theoretischen Hintergrund soll „ein allgemei146 Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 141. An dem Lügner erweisen sich also die beiden Ebenen – Bedeutung und primitive Gegenwart, Bestimmtheit und Identität – als schließlich untrennbar. 147 Über die klassische, mit dem Lügner vergleichbare Rechtsparadoxie, den Rechtsstreit zwischen Protagoras und seinem Schüler Euathlos siehe D. I. 4.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
nes kommunikationstheoretisches Paradox“ verortet werden, das die „Differenzerfahrung“ sowie die Deontologisierung in Luhmanns Systemtheorie bezeichnet.148 Im Hinblick auf das gesuchte ‚sozio-logische Link‘ zwischen Logik und Sozialsystem gilt es trotz aller kommunikativen Unbestimmtheit festzustellen, dass (i) das Sozialsystem einerseits logisch doch nicht blockiert werden muss und dass (ii) der Differenzansatz als neues Paradigma auf die Wirklichkeit (Sinnform), nicht auf den Weltinhalt (Sinnmaterial) abgestimmt ist. Und nur so kann (iii) jede Differenz die Einheit stiften, die mit der Identität bezeichnet und in der Sytematizität erfasst und reproduziert wird. Den systemtheoretischen Differenzansatz in die Neue Phänomenologie übersetzend soll es um Wirklichkeit und deren Negation, synthetische Einheit sowie konkurrierende Identität gehen. Auch (iv) die Struktur der modernen Welt könnte anhand des formalen Systems der Lügner-Paradoxie dargestellt werden. Die drei Sinndimensionen bei Luhmann werden je mit einer Differenz gestiftet. Sie bringen jeweils zwei Horizonte mit sich, die durch den wiederholten Einsatz der dazugehörigen Differenz in beide Richtungen prinzipiell unendlich weiter verschoben werden können. Die moderne Welt zeigt damit eine Struktur der sachlichen, zeitlichen und sozialen Unendlichkeit auf.149 Der sich vital auswirkende ‚Katalysator‘ für den Aufbau dieser modernen Welt bzw. Gesellschaft liegt aber in der doppelten Kontingenz von Ego und Alter Ego, die durch die wechselseitige Antizipation von beiden Seiten einen unbestimmbaren Zirkel – die Tautologie – erzeugt. Zu diesem kommt noch die Negation – die Paradoxie – dadurch hinzu, dass man gerade durch die Antizipation der Antizipation anders als vorausgesagt, also abweichend, handeln kann. Und „das Problem wiederholt sich auf allen Stufen der Reflexion des Problems: In dem Maße, als die Voraussage sich spezifiziert […], gewinnt der andere eben dadurch die Möglichkeit, sich der Voraussage zu entziehen.“150 Dies trifft genau und präzise das Grundproblem der Differenzerfahrung. Demnach steckt die Negativität in der doppelten Kontingenz fest, fordert im Interesse der Verhaltensabstimmung die „Negation dieser Negativität“,151 148 Vgl.
B. I. 3. B. II. 3. Die logische Paradoxie in der Zeitdimension in C. II. 2. e) cc) wird hier vorweggenommen. 150 Wenn man den Lügner tatsächlich in eine Gedichtsammlung aufliest, was würde aufkommen? Ein paradoxes, selbstnegierendes Gedicht? Vgl. F. II. 151 Man beachte hier nochmals die oben angegebenen Definitionen (D1 und D2) der Negation. Man könnte auch in anderer Richtung den Sachverhalt so beobachten, dass die Unentschiedenheit auf jeder Stufe genau den Satz ‚Ich lüge jetzt‘ bedeutet und damit immer wieder die Negation der erreichten Unentschiedenheit auslöst. Man wird gezwungen, weiter nach oben zu treiben, aber man erreicht einen letzten Ruhepunkt nicht. Übrigens sieht der Lügner hierbei dem Sisyphus gewissermaßen ähnlich. 149 Vgl.
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie187
wobei aber die tief sitzende Negativität als eigentlicher Antreiber stets dabei bleibt. Die Negativität wird dann differenzierend in die drei Dimensionen verbreitet und ruft auf jeder fortschreitenden Stufe in der je beiderseitigen Sinndimension eine Unbestimmbarkeit hervor, die jetzt der antinomischen Unentschiedenheit hinsichtlich der Identität und Verschiedenheit im Sinne von Schmitz entsprechen soll. Weiterhin schreibt man in der traditionellen Ontologie die Paradoxie als Einheitsformel durch weitere Unterscheidungen um und fort, die dann in irgendeinem letzten Grund enden:152 „Die Paradoxieauflösung läuft über eine Mehrheit von hintereinandergeschalteten Unterscheidungen und gewinnt mit jedem Schritt sowohl Unsichtbarkeit als auch Plausibilität. Mit der Abstraktion der Zusatzunterscheidung wird verdeckt, daß es sich bei dem oben / unten-Schema sowohl um eine Inklusionshierarchie (Adel und Volk sind Teile des Ganzen) als auch um eine auf eine Ämterorganisation gegründete Weisungshierarchie handeln kann.“153
Logisch ausschlaggebend ist, dass sich die Negation (analytisch) „auf allen Stufen“ – ja unendlichfach – mit Bezug auf die Formel der Systemeinheit wiederholt, dabei setzt man die semantischen Unterscheidungen (dialektisch?) ein und schaltet sie hintereinander.154 Die Moderne kennzeichnend steht aber nicht mehr der Grund bzw. die Natur bzw. die darauf gegründete Differenz von oben und unten (wie Adel und Volk) zur Verfügung. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die moderne Welt, indem sie nun zusammen mit dem Lügner in allen Richtungen durch unendlichfache Stufen der Unentschiedenheit durchläuft. „Sic itur ad astra!“155 cc) Zeit und ihre Antinomien Für Luhmann besteht die Lösung für das Paradoxieproblem letztlich in der Zeit: „Zeit ist so gewissermaßen ein Schema, mit dem die Unterscheidung (der Beobachtung) ihre eigene Paradoxie entparadoxieren kann: erst links, dann rechts“; dies bedeutet, dass die Paradoxie mit „einer Differenz von vorher und nachher“ zu lösen ist, aber gerade diese zeitliche Differenz weist ihrerseits eine Paradoxie auf, da die beiden Seiten der Unterscheidung 152 Alle Zitate, Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 140. Man erinnere an Goethe bei Luhmann: Jeder Sinn erregt den Gegensinn; und jede Kommunikation provoziert den Protest. Siehe SS, S. 204, S. 218, S. 238. Der Lügner hegt also eine Differenz – Negation – in sich. 153 Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 141. An dem Lügner erweisen sich also die beiden Ebenen – Bedeutung und primitive Gegenwart, Bestimmtheit und Identität – als schließlich untrennbar. 154 Über den möglichen Zusammenhang von der formalen Logik und der dialektischen Logik vgl. C. II. 2. e) dd), im Zusammenhang mit der Antinomie des Selbstbewusstseins. 155 Aeneis IX 641, zitiert nach Eisenhut, Die Lateinische Sprache, 1996, S. 129.
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„gleichzeitig gegeben“ sind.156 Die Paradoxie wird bei Luhmann in ein Zeitproblem transformiert und findet als Zeitantinomie insbesondere in der Formel Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen ihren Niederschlag. Bei ihm ist die Zeit vor allem auf die Gegenwart konzentriert, die als Sitz der Aktualität in der basalen Aktualität / Potentialität-Sinndifferenz gilt. Zum einen geschieht alles in der Gegenwart, was überhaupt geschieht, und zwar immer „gleichzeitig“; zum anderen geht man ebenfalls in der aktuellen Gegenwart von der einen Seite zu der anderen über, zumal in allen Sinndimensionen. Die Gegenwart allein macht daher noch nicht die eigentliche Zeit aus, sie braucht die Differenz von Vorher und Nachher, von Vergangenheit und Zukunft. Dies ist die Temporalisierung der Gegenwart (Verzeitlichung). Nur dadurch kann man anhand der Vergangenheit die Redundanz herstellen und die Varietät aus der Zukunft ausschöpfen. Die Vergangenheit und die Zukunft sind damit in der Gegenwart „präsent“. Die Ungleichzeitigen kommen also gleichzeitig in der Gegenwart – vorweg bzw. wieder – zum Vorschein.157 Die sich darin zeigende antinomische Struktur der Zeit sitzt tief in der basalen Sinnform von Aktualität / Potentia lität. Weiterhin wird die Gegenwart als Paradoxie mitbringende Zeit in die irreversible und reversible Gegenwart differenziert, wobei die erstere den ereignishaften Moment und die letztere die Dauer hervorzuheben scheint. Das Sozialsystem reproduziert seine Elemente immer nur in der gegenwärtigen Differenz; die Gesellschaft wird somit temporalisiert. Daraus resultiert das Problem der Zeitbindung, die im Sinne der Kontinuität der Identität im Zeitfluss herzustellen ist. Der Zeitfluss scheint aber eben paradox zu sein. Man könnte hier allenfalls den inneren Zusammenhang von Zeitantinomie und Identität sehen. Den Erörterungen der Einzelheit der Dinge sowie der Lügner-Paradoxie folgend wird nun hier versucht, auch die Zeit von der Ebene der Bestimmtheit auf die der Identität (bzw. Wirklichkeit) umzustellen, womit man der Zeit – einschließlich von Zeitantinomien – in der basalen Sinnform Aktualität und Potentialität bei Luhmann gerecht werden könnte. Die Zeit wird dadurch sozusagen ‚entdinglicht‘, was auch der Temporalisierung in Luhmanns Sinne entsprechen soll. 156 WissendG, S. 80. Und „dem Hektor war es, wie überliefert, völlig egal, ob der Vogel links oder rechts fliegt“ (Luhmann, Identitätsgebrauch, 1996, S. 336). Man will sagen: Sei es links, sei es rechts, es bleibt also tautologisch, weil das (zeitliche) Überschreiten – eine Operation der Negation – eben nichts bedeutet. 157 GdG, S. 52 f.; vgl. SS, S. 113: „Die Zukunft ist Zukunft nur als Zukunft einer Gegenwart-mit-Vergangenheit; aber sie ist nicht die Vergangenheit und geht auch nicht […] letztlich in sie über.“
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Und weiterhin soll man den Zeitbegriff differenzieren.158 Schmitz unterscheidet drei Arten der Zeit: (i) die reine Lagezeit, (ii) die modale Lagezeit und (iii) die reine Modalzeit.159 Mit diesen drei Zeitarten bringt die Zeit zwei Zeitantinomien mit sich: (i) die Antinomie der modalen Lagezeit – Zeitantinomie schlechthin – und (ii) die Antinomie des Zeitflusses. Sie könnten bei Luhmann je (i) der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen und (ii) der ereignishaften Differenz von Vorher und Nachher in der irreversiblen Gegenwart entsprechen. Und erst mit dieser Begrifflichkeit könnte dann Luhmanns Lösung der Paradoxie durch die Zeit nachvollziehbar sein. Die reine Lagezeit erscheint Schmitz zufolge in einer Anordnung von Dingen durch Beziehung des Früheren zum Späteren oder zwischen den Gleichzeitigen. Sie stellt also eine Reihe von Zeitpunkten mit Abständen dar: früher – gleichzeitig – später. Man beachte hier, dass es in der reinen Lagezeit keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern nur ein reines Lageverhältnis gibt. Diese reine Lagezeit bildet auch die physikalische Zeit. Anders als die reine Lagezeit ist unsere alltägliche Zeit die modale Lagezeit, die erst die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enthält. In dieser modalen Lagezeit werden die Dinge in drei Blöcke eingeteilt: die vergangenen, die gegenwärtigen und die zukünftigen. Die vergangenen Dinge sind nicht mehr; die zukünftigen sind noch nicht. Man sieht, dass in der modalen Lagezeit, aber nicht in der reinen Lagezeit, das Verhältnis von Sein (Gegenwart) und Nichtsein (Vergangenheit und Zukunft) vorkommt. Die Lagezeit wird nun sozusagen ‚modalisiert‘. Nur in der modalen Lagezeit besteht das Seinsverhältnis (Existenz, Wirklichkeit); nur hier gibt es Sein und Zeit (im alltäglichen Sinne). Mit Bezug auf die Gegenwart sieht das Seinsverhältnis dann nach Schmitz so aus: Die gegenwärtigen Dinge sind weder zukünftig noch vergangen, sie sind „nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr“. Die zukünftigen Dinge sind noch nicht, werden aber einmal gegenwärtig, aber doch noch nicht vergangen sein; sie werden „nicht mehr noch nicht und noch nicht nicht mehr […] sein“. Die vergangenen Dinge sind nicht mehr, waren aber einmal gegenwärtig, aber doch nicht zukünftig; sie waren „nicht mehr noch 158 Wie bei dem Einheitsbegriff scheint Luhmanns Begriffsgebrauch auch hinsichtlich des Zeitbegriffs nicht differenziert genug zu sein. Die Unterscheidung zwischen den Ebenen von Sinnform und Sinnmaterial – als Entsprechung der Unterscheidung von Wirklichkeit und Bedeutung – wird auch nicht klar hervorgehoben. 159 Über die Zeittheorie, siehe Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 24–37; ders., Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 247–274.
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nicht und noch nicht nicht mehr“. Weil es allein in der Gegenwart das Sein gibt, nicht aber in der Vergangenheit und Zukunft, entsteht bereits hier die Zeitantinomie schlechthin, nämlich: „vergangene oder zukünftige Gegenwart kann es nicht geben, weil nichts sowohl sein als auch nicht sein kann“.160 Man könnte hier zugleich bemerken, dass die Zukunft und die Vergangenheit zu der Gegenwart in einem Negationsverhältnis (Nicht-Sein) stehen und umgekehrt. Genau durch diesen Bezug erhält das Zukünftige die zukünftige Gegenwart und das Vergangene die vergangene Gegenwart; insofern sind Vergangenheit und Zukunft bereits stets in der Gegenwart präsent. Damit wird ebenfalls die sogenannte Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen bei Luhmann zum Ausdruck gebracht, die in der Tat nur unsere alltägliche, aber antinomische Zeit darstellt. Könnten Vergangenheit und Zukunft eigentlich gar nicht sein, muss man auch an der Zeit überhaupt zweifeln. Gibt es Zeit? Wie könnten sonst aber Erinnerung, Planung, Handlung, soziale Kommunikation usw. überhaupt stattfinden? Auch Luhmanns (reversible) Gegenwart würde dann nicht sein. Dem theoretischen Zweifel steht die Praxis zwar diametral gegenüber. Mit dieser Zeitantinomie würde die Autopoiesis des Systems aber zum Scheitern verurteilt, weil man nicht zurück- und vorgreifen, nicht Anschluss finden kann. Diese Zeitantinomie erweist sich Schmitz zufolge auch als „ein Beweis der Wirklichkeit von Unmöglichem“:161 Ein Ding wie die Zeit soll unmöglich sein, aber es ist doch wirklich. Man könnte von der Unmöglichkeit des Seins sprechen, indem das Sein in der Zeit ist und nicht ist. Luhmanns Lösung für das Paradoxieproblem besteht im Allgemeinen darin, weitere anschließende Unterscheidungen zu treffen, eben „erst links, dann rechts“. Diese Lösung gebraucht die Zeit, ist praktisch gemeint. Die theoretische Lösung besteht aber Schmitz zufolge in der Wahrnehmung der zwiespältigen Bestimmtheiten, was – wie dargestellt – die Ablehnung des Singualarismus ‚alles ist einzeln‘ bedeutet. Die Zeitantinomie richtet dann keinen Widerspruch an, sondern sie bringt eine Irritierung hervor, die wie die genannte Husserl’sche Puppe einen wahrgenommenen, zwar zwiespältigen, aber doch existierenden Sachverhalt darstellt. Dabei konkurrieren die unvereinbaren Bestimmtheiten miteinander um die Identität mit etwas Drittem, das gleichzeitig die unvereinbaren Bestimmtheiten aufzeigt. In der Zeitantinomie geht es um die Konkurrenz von Vergangenem, Gegenwärtigem sowie Zukünftigem, um die Identität mit der Gegenwart, wobei es 160 Die Darstellung des Seinsverhältnisses siehe Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 25. 161 Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 25.
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schließlich auf die Konkurrenz von Sein und Nichtsein ankommen soll. Aber grundsätzlich scheitert die Zeit (mithilfe des oben dargestellten Formalsystems) doch nicht an der Logik. An diesem Punkt könnte man zugleich einsehen, dass es durchaus kein Zufall ist, dass die systemtheoretische Deontologisierung bei der Entfesselung von Nichtsein einsetzt und dabei mit dem Zeitproblem eng verbunden wird. Mit der Differenz entfesselt man von der Ontologie die Paradoxie und löst sie dann mit Zeit.162 Bei der Antinomie der modalen Lagezeit geht es darum, ob angesichts der Antinomie die Zeit überhaupt möglich ist. Das Problem wird entsprechend dem Alltag bejaht. Bei der Antinomie des Zeitflusses wird Schmitz zufolge nun weiterhin nach der Gegenwart überhaupt gefragt. Die reine Lagezeit als Lageverhältnis fließt gar nicht. Der Fluss der Zeit besteht im Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, nämlich nur in der Struktur der modalen Lagezeit. Im Zeitfluss werden die zukünftigen Dinge einmal in der Gegenwart sein, die vergangenen Dinge sind bereits wieder nicht mehr in der Gegenwart. Die Gegenwart wächst dabei in die Zukunft und der Zeitfluss stellt sich so dar, dass „die Vergangenheit wächst, die Zukunft schrumpft und die Gegenwart wechselt, indem sie sich gleichsam an der Spitze der Vergangenheit in die Zukunft hineinfrisst“.163 Der Zeitfluss zeigt sich aber als eine Antinomie, indem die Zeit selber wieder im Fluss der Zeit fließt. Nämlich fließt die Zeit in der Struktur der modalen Lagezeit, die so viele (vergangene, gegenwärtige und zukünftige) Gegenwarten aufzeigt, mit der wechselnden Gegenwart. Unausweichlich stellt sich dann die Frage nach dem ‚Stand der Zeit‘. Wo ist die Zeit jetzt? Bei welcher Gegenwart verweilt die Zeit gerade, wenn alles doch nur in der Gegenwart geschieht? Die Antwort darauf kann man aber Schmitz zufolge weder in der reinen Lagezeit noch in der modalen Lagezeit finden. Zum einen stellt die reine Lagezeit eine bloße Anordnung der Dinge dar, wobei kein Ding sich vor anderen auszeichnen kann. Da jedes Ding in einer Gegenwart steht, sind alle Gegenwarten gleichberechtigt. Folgerichtig kann es gar keinen Zeitfluss geben. Zum anderen kommt in der modalen Lagezeit die Gegenwart als ein Augenblick von jetzt an. Aber sie kommt ebenfalls nur bei sich an und läuft nicht weiter. Dann gibt es ebenfalls keinen Zeitfluss. Wo steht nun die Zeit bzw. die Gegenwart im Zeitfluss? Man könnte sich den Sachverhalt so vorstellen, dass man einerseits nicht weiß, wo die Gegenwart eigentlich liegt, wenn in der modalen Lagezeit die 162 Dies soll ja den Kernpunkt des Differenzansatzes von Luhmann ausmachen: Man stellt sich von Sein auf Paradoxie, von Grund auf Zeit um. Vgl. B. I. 3. Die Paradoxie und die Zeit als Probleme bedrohen aber theoretisch die Systemtheorie selber. 163 Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 27.
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Gegenwart sowohl vergangen als auch gegenwärtig und wieder zukünftig ist. Und andererseits entsteht an jedem (gegenwärtigen) Zeitpunkt, in Vergangenheit bzw. Gegenwart bzw. Zukunft auch immer, ein Zeitfluss, der entsprechend in einem Zeitfluss in einem Zeitfluss usw. fließt, wobei man nicht weiß, wo man sich befindet. Wohl genau aufgrund dieser Struktur der miteinander verschränkenden Zeitflüsse verändert jedes Ereignis in jeder gegenwärtigen Zeitdifferenz Vorher / Nachher den gesamten Relevanzgesichtspunkt und man gewinnt die größte Freiheit gegenüber der Zeit, aber eben in der Zeit;164 zugleich erzeugt jedes System mit seinen eigenen Anschlüssen jeweils die eigene (System-)Zeit, wobei ihr eigener Zeitfluss durch die operative Kopplung zwischen den Subsystemen anhand jedes gemeinsamen Ereignisses gleichzeitig in den Zeitflüssen der anderen Systeme fließt.165 Aber alles geschieht nur in der (irreversiblen) Gegenwart und hängt von ihr ab. Die Systemtheorie wird so gesehen ebenfalls der Antinomie des Zeitflusses ausgesetzt. Für das Problem findet sich die ‚reine modale Zeit‘ bei Schmitz. Die modale Lagezeit entsteht ihm zufolge nur dadurch, dass die reine Lagezeit als Reihe von früher, gleichzeitig und später in die drei modalen Zeitmodi von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angelegt wird. Dadurch sind die zukünftigen Dinge „früher zukünftig als gegenwärtig und später vergangen als gegenwärtig“, die vergangenen Dinge sind „später vergangen als gegenwärtig und war[en] früher zukünftig als gegenwärtig“. Um die Gegenwart als Mitte stellen sich die zukünftigen Dinge als eine Beziehung des Früheren zum Späteren dar, die vergangenen Dinge umgekehrt als eine Beziehung des Späteren zum Früheren. Damit wird in der reinen Lagezeit mit jedem Zeitpunkt als Gegenwart eine neue Reihe – früher, gleichzeitig, später – aufgestellt und daraus entsteht ebenso eine neue Zusammensetzung der drei Zeitmodi – ein neuer Zeitfluss. Das Verfahren wiederholt sich, der Zeitfluss erscheint im Zeitfluss im Zeitfluss usw. Es kommt zu einer prinzipiell unendlichen Reihe der vergangenen und zukünftigen Gegenwarten, die miteinander um „die einzige ‚richtige‘ Gegenwart“ – die echte Gegenwart und das Sein – konkurrieren.166 Hier setzt die reine Modalzeit ein. Sie ist nach Schmitz im Gegensatz zu der reinen Lagezeit ohne zeitliche Abstände und Lagen. Ihr Sitz liegt in der primitiven Gegenwart mit ihren fünf Dimensionen; und sie er164 SS,
S. 390. bezieht sich auf die Zeitdimension der operativen Kopplung der Subsysteme und könnte eine Darstellung der von Fuchs genannten „Frage […] im denkbar abstraktesten Sinne“ sein, siehe B. II. 2. b). 166 Diese Zusammensetzung von beiden Zeittypen siehe Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 28. 165 Dies
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scheint in Form des plötzlichen Einbruchs des Neuen mit affektivem Betroffensein aufgrund der leiblich spürbaren Engung. Das Neue stellt etwas unmittelbar Bevorstehendes, „ein Nochnichtsein als Noch-nicht-fertigsein“, dar; aber es wird nicht von der Gegenwart abgerückt, wie es bei der modalen Lagezeit der Fall ist. Mit dem Eintritt des Neuen wird dann die Gegenwart von der gleitenden Dauer abgerissen, sie wird jetzt als der absolute Augenblick abgehoben, der aber nicht in der Lagezeit besteht. Die Dauer ist vorbei und sinkt in die Vergangenheit. Dadurch entsteht die Modalzeit überhaupt, wobei Zukunft und Gegenwart untrennbar in einem einzigen Geschehen verschmolzen und von der verabschiedeten Vergangenheit getrennt werden. Erst damit kommt die ‚einzig richtige Gegenwart‘ in der Zeit an und man kann wissen, wo nun der Stand der Zeit liegt. Und die Zeit fließt.167 Im Hinblick auf die Systemtheorie beachte man zunächst die gegenwärtige Differenz von Vorher und Nachher, die nach Luhmann die Zeit im eigentlichen Sinne konstituiert und eine minimale Neuheit bei jeder Kommunikation ermöglicht. Die Vorher / Nachher-Differenz aber soll nur aufgrund der reinen Modalzeit hervorgebracht werden; man könnte ja die basale Sinndifferenz von Aktualität und Potentialität bei Luhmann auf die echte Gegenwart zurückführen. Nur wenn die reine Modalzeit die Antinomie des Zeitflusses löst und damit den letzteren ermöglicht, kann die (modale Lage-)Zeit als Lösung des Paradoxieproblems bei Luhmann fungieren.168 Allein unter dieser Bedingung hält man die autopoietisch selbstreferentielle Reproduktion des Sozialsystems in Gang und kommt bei der temporalisierten Gesellschaft an.169 Außerdem könnte man die operative Kopplung zwi167 Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 29. Die reine Modalzeit schafft sozusagen eine Asymmetrie unter den Gegenwarten und lässt somit die Zeit fließen. 168 WissendG, S. 115: „Das Problem liegt also in der Zeit, und auch die Lösung liegt in der Zeit.“ Und das heißt wie soeben erwähnt: „erst links, dann rechts“ (WissendG, S. 80). 169 Insofern könnte die Zeit selber als sich bewegender, ewiger Grund fungieren. Nach Luhmann entsteht die Semantik der Ewigkeit seit der Antike daraus, dass man nicht in der Lage ist, die „punktualisierte Gegenwart“ bzw. den „Punkt des Umschlags“ in der Zeit zu lokalisieren; man denkt sich daher diesen Punkt als „zeitlos“ und „außerhalb der Zeit“, also ewig (Luhmann, Temporalisierung der Komplexität, in: ders., GuS 1, 1998, S. 261, mit Hinweis auf die „Paradoxie des Augenblicks“ bei Platon und Werner Beierwaltes). Mit Schmitz könnte ‚der Punkt des gegenwärtigen Umschlagens‘ bei Luhmann gewissermaßen außer der Zeit – außer der modalen Lagezeit – liegen, aber in der reinen Modalzeit des absoluten Augenblicks – bestehen. Hierin findet sich die Ewigkeit. Bei Luhmann wird die moderne Gesellschaft allerdings in die Zeit eingetaucht und muss sich „bei beschleunigtem Tempo von Strukturänderungen und beim Verlust aller durch Herkunft gegebenen Sicherheiten auf scharfe Brüche zwischen Vergangenheit und Zukunft einstellen, die die jeweils aktuelle Gegenwart mit Entscheidungs- und Orientierungsanforderungen belasten,
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schen den Subsystemen auch mithilfe der Theorie der reinen Modalzeit beobachten. Die Subsysteme ‚berühren‘ einander an einem Ereignis, schließen sich dann wieder je an den eigenen operativen Prozess an. Man scheint diese Kopplung so verstehen zu können: Alle Subsysteme haben ihren eigenen Zeitfluss (modale Lagezeit), was zu einer Antinomie des Zeitflusses für die gesamte Gesellschaft führt. Die Gesellschaft fragt dann nach ihrem Zeitstand angesichts der vielen Zeitflüsse und Gegenwarten. Die Antwort darauf – auch auf die Frage von Fuchs – erscheint in dem für alle Subsysteme gemeinsamen Ereignis, bei dem die echte Gegenwart vor allen anderen ausgezeichnet wird, und zwar unabhängig von den je noch zu spezifizierenden Sinninhalten der Elemente der Subsysteme. Man könnte von der reinen Modalzeit der Gesellschaft sprechen, worin die Subsysteme miteinander gekoppelt werden. Setzt man eine Etage tiefer bei der Kommunikationstheorie an und bestimmt die Paradoxie als Problem der kommunikativen Unbestimmtheit, erhält ihre Lösung durch die Zeit einen weiteren Sinn. Es kommt ja auf die reine Modalzeit an. Diese Modalzeit taucht in diesem Problem nämlich mit einer inneren Plötzlichkeit auf und wohnt der „momentanen Aktualität“ eines Handelns inne, worin ein bestimmter Sinninhalt mitgeteilt wird, dessen „Anschlußwert“ – ja oder nein – aber zuerst unentschieden bleibt.170 Jedenfalls ist eine kommunikative Mitteilungshandlung „im Moment für alle Beteiligten dieselbe und zwar gleichzeitig dieselbe“ in dem Sinne: „Alle haben es im Moment mit dem gleichen Objekt zu tun, und daraus ergibt sich eine Multiplikation der Anschlußmöglichkeiten für den nächsten Moment.“171 In dem aktuellen Moment der Mitteilung werden Ego und Alter Ego – und auch die Subsysteme – durch die „Synchronisation“ der Zeitflüsse gekoppelt, wobei alle dasselbe Objekt in dem Maße haben, als der Mitteilende „nicht mehr bestreiten [kann], daß er gesagt hat, was er gesagt hat“ und ein anderer ebenso „nicht zu einem Widerspruch und nicht zu einer Blockierung [kommt], weil das Geschehen asymmetrisch als Sequenz geordnet ist und so erlebt wird“.172 In dem aktuellen Moment, hier verstanden als Punkt der reinen Modalzeit, wird nämlich die Zeit asymmetrisiert, die sich dann als sequentielle Zeit entfaltet. Und in diesem Momentanen wird man sozusagen festgelegt, indem man weder bestreiten noch die in der Gegenwart nicht erfüllt werden können“ (Luhmann, Die Soziologie des Wissens, in: ders., GuS 4, 1999, S. 175). 170 SS, S. 230. Genauer genommen kann das aktuelle Moment nicht der Punkt der reinen Modalzeit in der primitiven Gegenwart sein, der eindeutig, aber völlig unbestimmt ist und insofern blockiert. Das aktuelle Moment nähert sich eher lediglich unter dem Vorzeichen der primitiven Gegenwart der reinen Modalzeit. 171 SS, S. 231. 172 SS, S. 231.
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widersprechen kann.173 Die Paradoxie als kommunikative Unbestimmtheit – das Problem der Differenzerfahrung – wird in diesem und nur in diesem Augenblick durch die Zeit aufgelöst. Aber dann entfalten sich die Zeitantinomien und der Anschlusswert einer Handlung – positiv oder negativ – bleibt von dem Inhalt getrennt und ungewiss.174 Letztlich befindet sich das System durch die wechselseitige Wahrnehmung von Ego und Alter Ego immer „in einer Art Dauererregung“.175 dd) Antinomie des Selbstbewusstseins: Scheinbare und echte Als ein dringendes Anliegen der neuzeitlichen Philosophie definieren die meisten Theorien das Thema als Problem der Selbstidentität des beobachtenden Subjekts. Diese Identität ist evident, nur ihre Erklärung bleibt hinsichtlich des gefragten Subjekts sehr problematisch. Dies ist der Identitätsansatz. Wie bei der Analyse der Differenzerfahrung gezeigt wird, sieht Luhmanns Differenzansatz ebenso im Selbstbewusstsein (bei Descartes) das erste Beispiel der Selbstreferenz. Daraus resultiert aber das Problem mit der Identität, dann mit der Tautologie und Paradoxie in der Systemtheorie.176 Das Problem des Selbstbewusstseins wird bei der Analyse der Einzelheit der Dinge bei Schmitz ebenfalls berührt. Nach ihm werden dabei die subjektiven von den objektiven Sachverhalten unterschieden und die undefinierbare Identität zeigt sich genau bei dem Sprung von objektiven zu subjektiven 173 Man muss sich vor allen Dingen festlegen (Selbst-Festlegung), um die Kommunikation unternehmen zu können (vgl. SS, S. 228). 174 Göbel, Theoriegenese als Problemgenese, 2000, S. 219, sieht die Lösung der Paradoxie durch die Zeit darin, „daß Unterscheidung und Bezeichnung zugleich gegeben sind, das Überschreiten der Grenze zwischen Bezeichnung und Unterscheidung aber Zeit braucht und dies die Form ist, in der die Paradoxie entparadoxiert wird“. Dies scheint mir nicht zuzutreffen, da die Unterscheidung und die Bezeichnung bei Luhmann ein und dasselbe Verhalten darstellen und kein Überschreiten zwischen beiden stattfinden muss. Was in der Tat zugleich gegeben ist, sind die beiden, wegen Differenz gegebenen Anschlusswerte, wobei sie – egal links oder rechts – außerhalb einer Kommunikation bleiben. Die Lösung erfolgt nämlich zuerst (i) in der momentanen Selbstfestlegung der Beteiligten und dann (ii) durch die aktuellen Anschlüsse im Zeitfluss. Dabei eröffnet die Beobachtung zweiter Ordnung stets der Ungewissheit das Tor. 175 SS, S. 239. Die Handlung selber garantiert nicht von sich aus ihren Anschluss (vgl. SS, S. 235). 176 Allerdings liegt Franks Einwand gegen Luhmanns Ansatz – wie dargestellt – darin, dass nur die Person (mit Selbstbewusstsein), nicht das Sozialsystem, diese Identität von Subjekt und Objekt (Selbst-Identität, Selbstreferenz) haben kann. Im Gegensatz dazu meinen Wagner und Zipprian, wieder eine Identitätslogik und deren fundamentale Aporie bei Luhmann festzustellen.
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Sachverhalten (Ich) auf. Dabei wird betont, dass der Fehler des üblichen Identitätsansatzes (Identitätslogik) in der Verwechslung von Identität und Identifizierung besteht. Nach Schmitz kommt es beim Selbstbewusstsein also nicht so sehr auf die Identität, sondern eher auf die Identifizierung an. Wenn nun die Identität tatsächlich besteht, aber nicht bemerkt wird, dann kommt man auch nicht zum Selbstbewusstsein. Dafür reicht die Identität nämlich nicht aus. Umgekehrt kann man zum Selbstbewusstsein kommen, auch wenn die Identität gar nicht tatsächlich besteht. Dazu reicht die Identifizierung bereits aus, weil man sich doch falsch identifizieren kann. Die Identität ist dann für das Selbstbewusstsein weder notwendig noch zureichend; das Selbstbewusstsein soll nicht als Identität, sondern als Identifizierung von Subjekt und Objekt aufgefasst werden.177 Man könnte hier auch das Verhältnis von reiner Selbstreferenz und Fremdreferenz des Sozialsystems betrachten, es kommt nämlich auf die unterscheidende Bezeichnung im Sinne von Identifizierung der Sinnmöglichkeiten im Horizont an.178 Üblicherweise sieht man im Selbstbewusstsein aber doch zugleich die Identität sowie deren Paradoxie. Schmitz zufolge sind die beiden Sachen begrifflich genauer zu unterscheiden. Für das Selbstbewusstsein kommt es allein auf die Selbst-Identifizierung – aber nicht auf die Selbstidentität – an, dabei findet dies durch die Selbstzuschreibung der Sachverhalte statt. Dafür braucht man die Unterscheidung zwischen den subjektiven und objektiven Sachverhalten (als zu identifizierenden Bestimmtheiten) und auch die primitive Gegenwart sowie das affektive Betroffensein aufgrund der Struktur des Leibes. Nur dadurch kann man die logische Aporie der unendlich langen Kette vermeiden und das Ich doch erreichen. Das Ich im Sinne des Subjek177 Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 365. Demnach ist der Identitätsansatz grundsätzlich falsch. Als ein interessantes Beispiel gibt Schmitz, Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie, 1994. S. 166, den „Machs Fall“ an: „Ich [Mach] stieg einmal nach einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr ermüdet in einen Omnibus, als eben von der anderen Seite ein Mann hereinkam. ‚Was steigt da doch für ein herabgekommener Schulmeister ein‘, dachte ich. Ich war es selbst, denn mir gegenüber befand sich ein großer Spiegel.“ Die Identität besteht zwar, aber hilft nicht weiter. Dagegen fordert Pardey, Identität, Existenz und Reflexivität, 1994, S. 219 (mit Hinweis auf Henrich), dass die Identität und das Wissen von dieser Identität für das Selbstbewusstsein vorausgesetzt werden müssen. 178 Man vergleiche die beiden Beobachtungen: Man kann sich – unabhängig von der Identität – auch falsch identifizieren (Schmitz) und man kann zwischen wahr und falsch kreuzen und das identische Subjekt bleiben [Luhmann zu dem Satz von Descartes, siehe B. I. 3. b)]. Dem Ergebnis zufolge kann sich der Zweifel melden, ob nicht der Streit zwischen der Identitätstheorie und der Differenztheorie mindestens in falschem Namen geführt wird; es kommt eher auf die (wahre und falsche) Identifizierung an.
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tiven in der primitiven Gegenwart fungiert als Punkt überhaupt, dem man die identifizierten Sachverhalte zuschreibt. Die Pointe von Schmitz liegt nun darin, dass in dem Punkt der primitiven Gegenwart das Ichsein und die Identität – nicht Identifizierung beim Selbstbewusstsein – ungetrennt verbunden werden. Ich bin „als dieses mir fortan präsent, ohne eine Identifizierung nötig zu haben“,179 dieses Ich in der primitiven Gegenwart steht vor jeder Identifizierung. Schmitz unterscheidet daher zwei Arten von Selbstbewusstsein: Selbstbewusstsein mit und ohne Selbstzuschreibung. Beides zusammen macht das Funktionieren des Selbstbewusstseins möglich und man kommt erst dann überhaupt zu sich. Damit wird sozusagen auch die übliche Paradoxie des Selbstbewusstseins als Scheinproblem der Selbstidentität erledigt.180 Aber auch hier fängt die echte Paradoxie des Selbstbewusstseins an. Wie bei der Analyse der Einzelheit gezeigt, schwankt der Mensch unter dem Vorzeichen der reinen primitiven Gegenwart, von der er sich bis zu einem gewissen Maße emanzipieren kann. Dementsprechend können die Eigenschaft (analytische Einheit) und die Identität (Besonderheit) zum einzelnen Ding zusammengebunden oder innerhalb einer nichtnumerischen Einheit getrennt beibehalten werden. Man kann also numerische und nichtnumerische Einheit (und Mannigfaltigkeit) haben, wobei die letztere bei Schmitz eigens als ‚Situation‘ bezeichnet wird. In der reinen primitiven Gegenwart gelangt man auch zu dem Urbild bzw. der Urform der Identität im Sinne der eindeutigen Unbestimmtheit bzw. unbestimmten Eindeutigkeit. Die echte Paradoxie des Selbstbewusstseins besteht nun darin, dass man sich für die Identifizierung eines Sachverhaltes mit dem Ichsein der reinen primitiven Gegenwart annähern muss. Dadurch kann der Sprung überhaupt geschehen. Diese Annäherung befördert dabei die Eindeutigkeit, verursacht aber den Verlust der Bestimmtheit und dadurch wird die Zuschreibung wiederum problematisch. Das menschliche Bewusstsein befindet sich Schmitz zufolge also in einem Spagat und schwankt immer zwischen numerischem Mannigfaltigem und chaotischem, der Anzahl unfähigem Mannigfaltigem. In diesem Sinne stellt das Selbstbewusstsein ein instabiles, ambivalentes bzw. n-spaltiges Mannigfaltiges dar. Darin besteht genau die Antinomie des Selbstbewusstseins, dass „mehrere Etwasse um die Identität mit demselben Etwas [nämlich mit ‚diesem Ich‘] konkurrieren“.181 179 Schmitz,
Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 368. die beiden Arten von Selbstbewusstsein sowie die Scheinparadoxie des Selbstbewusstseins vgl. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 194–205. Beim Selbstbewusstsein unternimmt das Subjekt nämlich eine Selbstidentifizierung, die nicht Selbstidentität ist, sondern Ich-Identität voraussetzt. 181 Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 369. 180 Über
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Eine Person kann mit sich prinzipiell unendliche Sachverhalte identifizieren und sie sich zuschreiben, wobei die identifizierten Sachverhalte inhaltlich die personale (und soziale) Identität gestalten.182 Und sie konkurrieren beständig um die Identität mit diesem Ich. In diesem Sinne besitzt die Person nur eine instabile, konkurrierende Identität. Logisch gesehen wird eine Person mit jedem neu identifizierten Sachverhalt bereits zu einer anderen, sie droht nämlich in einen logischen Selbstwiderspruch zu geraten. Eben damit scheint die evidente Identität von Subjekt und Objekt unmöglich zu sein.183 Die Person steht demnach in instabiler Identität zwischen numerischem und chaotischem bzw. unbestimmtem Mannigfaltigem, man lebt sozusagen in und mit der Antinomie und hat keine Substanz als seine feste Identität. Aber die Lösung für die logische Antinomie des Selbstbewusstseins liegt hier auch nicht in einer Substanz oder einem Sein, sondern in der Wahrnehmung der nichtnumerischen, instabilen bzw. chaotischen Mannigfaltigkeit in dem Ichsein, das in der primitiven Gegenwart mit der Identität zusammengebunden wird. Die personale Dauer und die Identität der Person im Zeitfluss bedeuten entsprechend das Zusammenfassen aller Phasen der Lebensgeschichte und werden dadurch erklärt, dass alle Phasen stets um die Identität mit derselben Lebensgeschichte – also mit demselben Ich – konkurrieren.184 Nach der Verständigung mit dem Lügner, der tief in uns steckt, kann man nun noch einmal auf seine scheinbar paradoxe, eher trügerische Erscheinungsform auf der Oberfläche zurückkommen: die Paradoxie der Selbst identität des Subjekts (Subjekt = Objekt). Es soll hier nach der Wurzel der Scheinbarkeit gefragt werden, worin die systemtheoretisch sowohl tautologische als auch paradoxe Selbstreferenz des Sozialsystems eingekleidet wird. Dabei geht es nach Schmitz um die Identität in Form einer reflexiven Relation: Dies ist dies. Diese reflexive Form der Identität – Selbstbezüglichkeit – hat ihre Wurzel ihm zufolge ebenfalls in der reinen primitiven Gegenwart mit der Urform der Identität ohne jede Bestimmtheit, also die absolute Identität im Sinne der eindeutigen Unbestimmtheit. Hier soll man nur ‚dies!‘ haben können. Diese Urform in der primitiven Gegenwart wird dann in dem von der reinen primitiven Gegenwart emanzipierten, mehr oder weniger normalen Zustand ihre Spuren in der reflexiven Form hinterlassen. Man vermag sich also von dem Punkt der reinen primitiven Gegenwart zu distanzieren und man kann dann (rückblickend oder mit Luhmann: beobach182 Hierin besteht die Unterscheidung zwischen Attributen und Existenz-Induktiva bei Schmitz, siehe B. I. 3.; ders., Logische Untersuchungen, 2008, S. 91: Der Mensch hat „keinen festen Satz von Attributen“. 183 Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 142 f. 184 Schmitz, Jenseits des Naturalismus, 2010, S. 369.
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tend) ‚dies ist dies‘ – reflexiv – aussagen. ‚Dies!‘ entfaltet sich zu ‚dies ist dies‘, ohne dabei die Bestimmtheit festzulegen. Dieselben Dinge können dann zweimal erscheinen. Diese reflexive Relation entsteht durch die Entstellung des Urbilds der Identität, aber trotzdem bleibt sie immer bei „der Fixierung auf allein dieses nunmehr numerisch Eines“ und stellt sich dar als „die Identität, die etwas nur auf sich bezieht“.185 Die reflexive Relation bleibt nämlich bei ‚diesem Etwas‘ (Identität und numerische Einheit), kann aber mehrere Glieder haben; sie stellt ein Ergebnis der Entfaltung der primitiven Gegenwart dar, aber ohne die primitive Gegenwart ganz verlassen zu können und zu dürfen, weil man sonst auch gar keine Identität mehr feststellen kann. Und eben durch die Entfaltung der Gegenwart kommt die Identität als reflexive Relation in die Welt der einzelnen Dinge.186 Man könnte demnach die übliche, aber scheinbare Paradoxie des Selbstbewusstseins dahingehend erklären, dass die punktuelle absolute Identität in einem eher emanzipativen Zustand als reflexive Relation – ein Sachverhalt – beschrieben wird. Dabei bleibt sie aber nach wie vor unter dem Vorzeichen der primitiven Gegenwart mit dem Ichsein zusammengebunden. Daher kann man von dem ‚dies!‘ über das ‚dies ist dies‘ zu dem ‚Subjekt = Objekt‘ (ich = ich) kommen. Dasselbe Subjekt scheint sich von sich zu emanzipieren, Dasselbe wird (nicht) das Verschiedene. Damit können die Schwierigkeiten mit dem sprachlichen Nacheinander in der Subjekt-ObjektIdentität (bei Zahn) auch gewissermaßen beantwortet werden, indem man die Identität im Sinne der absoluten Eindeutigkeit von der Identität im Sinne reflexiver Relation trennt. Sie sind beide miteinander verbunden, befinden sich auf parallelen, aber doch unterschiedlichen Ebenen.187 185 Schmitz,
Relationen, 2005, S. 50. reflexive Relation, wobei ein Ding zweimal erscheint, bereitet in dem Maße Schwierigkeiten besonders für die Mengentheorie, als ein Ding als Element einer Menge ‚zweimal‘ erscheint. Wenn man aber mithilfe des sogenannten WienerKuratowski-Verfahrens das Problem zu umgehen versucht und das Element einmal als Teilmenge in der Menge wie (a (a)) erscheinen lässt, scheitert man Schmitz zufolge ebenfalls an der Zirkelhaftigkeit, weil die Identität immerhin erkannt und vorausgesetzt wird (siehe Schmitz, Relationen, 2005, S. 49). 187 In der Analytischen Philosophie wird nach dem Erkenntniswert der beiden Identitätssätze a = a sowie a = b und nach dem Verhältnis von ‚xRy‘ und ‚xRx‘ – ‚R‘ für Relation – gefragt (Pardey, Identität, Existenz und Reflexivität, 1994, S. 3–6, S. 30 f.), wobei man als Ergebnis zu der Verneinung der üblichen Ansicht von ‚xRx‘ als einem Spezialfall von ‚xRy‘ kommt (Pardey, ebd., S. 191) und vor einem „Jargon der Reflexivität“ der modernen Welt warnt (Pardey, ebd., S. 191). Mir scheint die Verwirrung eher daraus zu entstehen, dass man die beiden angeblich klaren Identitätssätze in der Tat auf unterschiedliche Ebenen – Identität (Eindeutigkeit im Urbild) oder Bedeutungen (Bestimmtheit) – beziehen kann. Die Sätze a = a sowie a = b – als Ausdrücke des Selbstbewusstseins – stehen gerade dazwischen. Auch eine Dialektik scheint mir nur dann möglich zu sein, wenn man einen Spagat zwi186 Diese
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
Folgt man der Theorie von Schmitz, bereitet auch die Identität der Person nicht ein logisch prinzipiell unlösbares Problem.188 Wie eine Person ihre Identität gestalten kann und soll, bleibt eine andere Frage. Mit Bezug auf die Systemtheorie des Sozialsystems könnte man nun feststellen, dass die Selbstreferenz – die theoretische Kernfigur der ganzen Theorie – mithilfe der Differenzierung von Identität und Identifizierung überhaupt ermöglicht wird, wobei die logische Paradoxie auch nicht mehr paralysierendes Probschen den beiden Schichten aufspannt. Dabei sind öfters die Termini wie die abstrakte bzw. konkrete Allgemeinheit und die bestimmte bzw. unbestimmte Allgemeinheit u. ä. anzutreffen. Sie vermengen m. E. neben dem Wirrwarr der Einheitsbegriffe die verschiedenen Ebenen und begehen den von Luhmann genannten humanistischen Kardinalfehler, weil sie eine feste Verbindung von Begriff und Wirklichkeit versuchen (vgl. Zahn, Einheit, 1973, S. 326 f.). 188 Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, 1967, S. 7, sieht das eigentliche Problem nicht in dem Selbstbewusstsein, sondern in der ‚Bedingung des Denkens‘ über den Sachverhalt des Selbstbewusstseins als Reflexion; dafür soll man das Ich als „Ursprung“ für die reflexive Gleichung Ich = Ich ins Auge fassen, in der das Ich zweifach erscheint; im Grunde genommen redet die Gleichung also nur „der sekundären Selbstauslegung des Ich“ das Wort. Henrich meint nämlich, dass das Ich als solches doch nicht (nur) in der Reflexionsbeziehung zu sich erscheint. Die Reflexion gilt in der Tat als sekundäres Phänomen, wobei stets ein ‚vorhandenes Wissen um Ich‘ vorausgesetzt wird, das aber unerreichbar zu sein scheint. Die in dem Reflexionsmodell verdeckte und verdunkelte Besonderheit des Ich liegt in der dabei implizit aufgezeigten Ablösung des Ich von aller weltlichen Wirklichkeit, von daher sieht er Fichtes philosophische Einsicht in dem vor der Reflexion liegenden ursprüng lichen Selbstsein (Henrich, ebd., S. 12–17). Diese Sichtweise ist einerseits Schmitz’scher Betrachtung des reflexiven Selbstbewusstseins als Scheinparadoxie ähnlich, Henrich kommt andererseits aber nicht zur Annahme der Unterscheidung von objektivem und subjektivem Sachverhalt trotz des unlösbaren Problems der Zugehörigkeit von bewussteinsmäßiger Selbstreflexion als einem anzuschauenden Sachverhalt und Reflexion als erkennendem Begriff desselben Sachverhaltes. Anschauung und Begriff, wie soll man diese beiden Faktoren zur Einheit im Ich bringen? Dann sieht Henrich in der Figur des Auges von Urania Fichtes ursprüngliche Einsicht in das Ich als unmittelbares, unvermitteltes Wissen (Henrich, ebd., S. 25– 37). Wohl daher bestimmt er die Lösung des Ich-Problems in der Abwendung von der Identität als reflexive Relation zugunsten der „Selbstvertrautheit als vollkommen irrelational“ (Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 1986, S. 60). Man muss bei Henrich also die ‚Relation von Anschauung und Begriff‘ in den Griff bekommen. Das Kernproblem besteht mir aber darin, dass sowohl Anschauung als auch Begriff das Ich im Sinne des Subjektiven nicht zu erreichen scheinen, weil eine Anschauung der Reflexion – wie cogito – das Ich nicht bestätigen kann, und weiterhin weiß man mit einem Begriff der Reflexion noch nicht, ob und wie dieser beschreibende Begriff mir – dem anschauenden Ich – zugeschrieben wird oder nicht. Vgl. auch Blau, Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien, 2008, Kapitel 1: Unlogisches, interessante Beispiele für das Ich-Problem, insbesondere S. 50 ff. über ‚Ich und Selbst‘. Allerdings ist mir zweifelhaft, ob man mit dem Begriff „Identität“ ohne die Theorie der subjektiven Sachverhalte weiterkommt. Hierin liegt schließlich die tiefe theoretische Kluft.
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie201
lem bereitet. Die Kritiker werfen Luhmann vor, dass seine Differenztheorie in der Tat nur eine Identitätstheorie im traditionellen Stil darstellt. Man vermischt dabei – Luhmann selber ebenso – Identität und Identifizierung.189 Nimmt man die Schmitz’sche Theorie an, braucht die personale Identifizierung keine Identität, sondern das Subjektive in der primitiven Gegenwart. Dies bedeutet, dass die Identität zwar mit dem personalen Ich eng verbunden ist, aber doch von dem Ichsein getrennt werden kann. Auch Tiere kennen Identität und Verschiedenheit. Daher kann ein Sozialsystem seine Identität in der Gestalt der Selbstreferenz haben, die nicht mit dem personalen Ich verbunden ist, aber doch durch identifizierte Elemente – Unterscheiden und Bezeichnen – verändert werden kann. Somit wird das psychische System (Ich-Person) auch klarer vom Sozialsystem getrennt.190 Bei der 189 Die von Luhmann zitierte These von Glanville, The same is different, weist dasselbe Problem auf. In Bezug auf das Objekt überhaupt geht Glanville von der Unterscheidung der zwei Rollen desselben Objekts aus, die es abwechselnd einnehmen kann, „self-observing“ und „self-observed“, wodurch das Objekt überhaupt beschrieben und seine Existenz und Selbstreproduktion garantiert wird, und zwar im Sinne der Autonomie, ohne jeden Bezug auf andere (vgl. Glanville, The Same Is Different, 1981, S. 253 f.). Hierin könnte man sehen, dass es in der Tat um die immerhin unterstellte Identität als reflexive Relation und um die zwei zu identifizierenden und zuzuschreibenden Rollen geht. Dann können zwei Objekte je auf ihrer Self-observed-Ebene wechselseitig die zwei Rollen einnehmen, so dass die beiden verschiedenen Sachen eine Identität miteinander – the sameness – in der Zeit erreichen können. Als Beispiel werden der Laut „arbor“ und das Zeichen für Baum bei Saussure angeführt (ebd., S. 257). Daher ist die These „The same is different“, folgendermaßen zu verstehen: „assumed where there is an identity, the things identified are the same, not different“ (ebd., S. 258), und „the sameness ‚lies‘ in the computation of similarity in observations“ (ebd., S. 258). Bei der genannten Identität handelt es sich tatsächlich nur um die Identifizierung zweier Sachen miteinander. Allerdings will Luhmann mit der Differenz bzw. dem Differenten etwas anderes thematisieren. 190 Zum ersten: Dass das Ichsein und die Identität eng zusammengebunden werden, erschwert die ablösende Ausdehnung der Selbstreferenz vom menschlichen Bewusstsein auf das Sozialsystem als ein eigenständiges reales System, weil man sich die Selbstreferenz ohne Verbindung mit dem Ich kaum vorstellt. Außer dem cogito verweist Luhmann, SS, S. 58 sowie Anm. 60, auch auf weitere Faktoren wie sentire, Genießen sowie die Existenz bei der Selbstreferenz des Bewusstseins. Zum zweiten: Hier zeigt sich in dem anthropologischen Phänomen des Genießens eine bemerkenswerte Parallele zwischen der Identität als reflexive Relation und der Reflexivität als prozessuale Selbstreferenz des Sozialsystems (SS, S. 601). Mir scheint nämlich – wie bei den Formeln a = a und a = b – die reflexive Identität am Werk zu sein bei dem autopoietisch selbstreferentiellen Prozess wie Genießen des Genießens, Denken des Denkens, Lernen des Lernens, wobei man wiederum die beiden Ebenen Identität und Bestimmtheit sorgfältig unterscheiden soll. Dazu vgl. Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie, in: ders., GuS 1, S. 216; ders., Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, in: ders., GuS 2, S. 192. Zum dritten: Auch in der Selbstreferenz scheint ein Paradigmawechsel zu stecken. Vor Kant bedeutet der Genuss
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
Zuschreibung der gehörigen Elemente hat man nur die Identität und Verschiedenheit zu unterscheiden, wofür die Personen als „Prozessoren“ der selbstreferentiellen Reproduktion des Sozialsystems sorgen können. Das Sozialsystem weist dann eine instabile, konkurrierende Identität und eine binnendiffuse Mannigfaltigkeit auf. Nur ohne die dauernde persönliche Identität aufgrund des Ich scheint die Identität des Sozialsystems im Zeitfluss, wenn nicht logisch, dann für die Praxis problematisch zu sein.191 Die Identität des Sozialsystems in Gestalt der Selbstreferenz legt auch eine Identität in Gestalt reflexiver Relation nahe. Die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft stellt m. E. eine Identität als reflexive Relation mit mehreren Gliedern – den Subsystemen – dar. Deshalb zeigt sich die Gesellschaft als unitas multiplex bzw. Identität der Identitäten. Die Einheit der Gesellschaft erscheint jeweils in der Einheit ihrer Subsysteme, da die Gesellschaft dieselbe Identität mit unterschiedlichen Bestimmtheiten zeigt. Die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme der Gesellschaft könnte man nämlich als eine n-tupels-Relation verstehen. Sie stellt eine Entfaltung des unbestimmten Eindeutigen – unter dem Vorzeichen ein und desselben Ereignisses in der Gegenwart – dar. Die Gesellschaft bleibt dann das Identische, mit reflexiver Relation vermehrt sie sich hinsichtlich der Relationsglieder, und zwar jetzt mit unterschiedlichen Bestimmtheiten. Luhmanns Systemtheorie bezeichnet so verstanden eine Polykontexturalität der Gesellschaft. Nur sie macht ihre grundlegende logische Struktur nicht klar. 3. Fazit Mit der Darstellung von Theorien der synthetischen, nichtnumerischen Einheit sowie der instabilen, konkurrierenden Identität bei Schmitz möchte die vorliegende Arbeit einen Vorschlag für eine nachvollziehbare Lösung des Problems machen, wie die Gründung des Sozialsystems auf der logischen Paradoxie, wie Luhmann sie seinen theoretischen Schlussstein nennt, überhaupt möglich ist. Die Angebote der Verfechter der Differenzlogik noch Existenz, er erschließt die volle Dass-Wirklichkeit und erreicht dabei auch das Ich, ohne das Denken bemühen zu müssen. Nach Kant (dem Deutschen Idealismus) verliert der Genuss seine existentielle Natur, die Freiheit und der absolute Wert des Menschen fordern nun gerade, den Genuss nicht zu berücksichtigen, man hat dann viel Was und Wie des Erscheinens, aber keine Dass-Wirklichkeit mehr (Binder, „Genuß“ in Dichtung und Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, 1976, S. 25–27). Gewissermaßen erscheint die autopoietische Selbstreferenz der funktionalen Systeme als ‚viel Was, ohne Dass‘. Das Bradley-Kafka-Paradox wäre dann nur folgerichtig. 191 An diesem Punkt kehrt das Problem des Sozialen als eigene Realität außerhalb der Personen wieder, was bei Luhmann mit der doppelter Kontingenz von Ego und Alter Ego wohl zu leicht genommen wird.
II. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie203
scheinen nicht zufriedenzustellend zu sein, weil sie Luhmanns Rätsel eher wiederholen als entwirren. Auch die Zeit als Lösung der Paradoxie erfordert eine genauere Differenzierung des Zeitbegriffs, da die Zeit selber auch Paradoxien aufweist. Der hier vorgeschlagene Ansatz nimmt Luhmanns eigene Bestimmung des Verhältnisses von Identität und Einheit als Ausgangspunkt an: Die Einheit des selbstreferentiellen Sozialsystems wird mit dessen Identität bezeichnet; die Selbstreferenz bedeutet nämlich die Bezeichnung der Einheit durch die Identität. Die Pointe des Ansatzes besteht nun darin, dass der Einheitsbegriff viel genauer als bei Luhmann differenziert und zugleich von dem Identitätsbegriff deutlich getrennt wird. Die beiden Begriffe werden nicht mehr unmittelbar – wie auch bei Luhmann – miteinander verbunden, sondern ihnen werden unterschiedliche Ebenen und Sitze – Situation und primitive Gegenwart im Sinne von Schmitz – zugeschrieben. Wenn Luhmann einerseits das „Dingschema“ aufgibt und auf die Deontologisierung abzielt, sich andererseits die Einheit der Welt bzw. Gesellschaft zum Ziel der Theo rie setzt, dann kann die gesuchte Einheit weder in der analytischen Einheit (Bestimmtheit) noch in der numerischen Einheit (Einzelheit), aber auch nicht in der elementaren Einheit (dem Einfachen) liegen, sondern nur in der synthetischen Einheit im Sinne der nichtnumerischen Mannigfaltigkeit. Luhmann hebt zur Deontologisierung zwar die Relation gegenüber den Elementen hervor. Mit ‚Relation‘ meint er aber ambivalent zum einen die Differenz, dabei scheint er zum anderen bei den numerischen, einzelnen Relationen stecken zu bleiben. Dadurch bleibt die Ganzheit unerreichbar und auch die Paradoxie unlösbar bzw. nicht darstellbar, weil sie immer in den logischen Widerspruch zu geraten drohen. Luhmanns Deontologisierung scheint nämlich nicht den Singularismus (alles ist einzeln) nicht zu überschreiten. Wenn aber die Einzelheit der Dinge nicht abgestreift wird, dann ist die Paradoxie als logischer Widerspruch nicht zu vermeiden. Bei dem alternativen Ansatz wird die logische Paradoxie nun als Ausdruck der konkurrierenden Identität und damit auch der unstimmigen, zwiespältigen Wirklichkeit verstanden. Bei ihr konkurrieren miteinander mehrere Bedeutungen (Sinnmöglichkeiten), die in einer synthetischen, nichtnumerischen Einheit der Situation impliziert werden und deren Einzelheit dabei ‚abgelegt‘ werden kann, um die Identität mit einem Selben, wobei die Identität und die Verschiedenheit – beides Kategorien der Relation – hinsichtlich einer Bestimmung unentschieden bleiben. Man beachte hier gerade bei der Paradoxie die mittelbare Verbindung von Einheit und Identität. Mit der Theorie der konkurrierenden Identität werden zugleich das personale Selbstbewusstsein und die Zeitantinomien erklärt. Dadurch gewinnt man einerseits die Möglichkeit des selbstreferentiellen Selbst – Identität – des Sozialsystems, da man nun die Identität als Relation von der personalen
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
Subjektivität deutlicher trennen kann; man kann andererseits besser als bei Luhmann den komplizierten Problemkomplex der Zeit, auch die Selbstreferenz auf der Zeitdimension, nachvollziehen. Die Verzeitlichung (Temporalisieurng) sowie die Zeitbindung können im Rahmen des Verhältnisses von Modalzeit und Identität verortet werden. Die Überführung der Welteinheit (Weltlogik) in die Selbstreferenz des Sozialsystems (Systemlogik) wird demnach in das Verhältnis von der nichtnumerischen Mannigfaltigkeit (synthetischer Einheit) und der durch identifizierte Bedeutungen gestalteten und somit kontingenten Identität übersetzt. Mithilfe der metatheoretischen Verteidigung und Kritik soll die logische Paradoxie nicht mehr große Schwierigkeiten für die Reproduktion der Gesellschaft bereiten und die Gründung des Sozialsystems aufgrund der Paradoxie wird sogar ermöglicht.
III. Probleme der Paradoxie des selbstreferentiellen Sozialsystems Im Anschluss an die versuchte ‚Begründung‘ von Paradoxie, die als letzte Formel und Schlussstein im Mittelpunkt der Systemtheorie steht, werden einige ihrer Implikationen noch kurz ausgeführt. 1. Sinn der Rede von Paradoxie bei der Systemtheorie Der Sinn der systemtheoretischen Rede von Paradoxie im Sinne logischer Antinomien liegt m. E. vor allem in dem modernen Anliegen der Deontologisierung der Welt, die aber als eine soziologische Gesellschaftstheorie vorkommt. Hinsichtlich der logischen Möglichkeit des Anliegens überhaupt kann die Paradoxie mithilfe der Theorie der konkurrierenden Identität verstanden werden, dabei zeigt sie das unstimmige Weltgesicht und gilt als Anzeichen für binnendiffuse Situationen bzw. das nichtnumerische Mannigfaltige. Damit gerät die Paradoxie nicht in logischen Widerspruch und das systemtheoretische Anliegen wird auch sozusagen gerettet. Dann dreht sich die systemtheoretische Rede von Paradoxie stets um das Einheits- und Identitätsproblem, sie bezieht sich damit zugleich auf die Selbstreferenz des Sozialsystems. Die meisten Kritiker setzen bei der Identität an und rätseln um die Differenz. Anders als bei Luhmann und seinen Kritikern wird hier vorgeschlagen, den Einheitsbegriff deutlicher von dem Identitätsbegriff zu trennen, um beide dann wieder, aber mittelbar zu verknüpfen. Mit diesem sozio-logischen Link könnte auch die Selbstreferenz des Sozialsystems (Systematizität) erzielt werden.
III. Probleme der Paradoxie des selbstreferentiellen Sozialsystems205
Aber hinter und neben diesen logischen, ontologischen und soziologischen Problemen liegt m. E. der entscheidende Punkt in der ‚eigens Paradoxie zugesetzten Negation‘, die sich in der Differenz versteckt, nichts bedeutet und gerade deshalb den letzten Sinn der Rede von Paradoxie – die Theodizee – ausmacht. 2. Einwertiges Seinskonzept und zweiwertige Formtheorie Die traditionelle Ontologie hat ihren Ausgangspunkt nach Luhmann in der „Primärunterscheidung von Sein und Nichtsein“, der dann die „Primäreinteilungen“ (Kategorien) und weitere Einteilungen folgen.192 Anhand der nachgeschalteten Einteilungen kann das Sein in der ontologischen Primärunterscheidung stets auf der Seite des Seins Anschluss finden, man gewinnt sozusagen eine Selbstreferenz des Seins (re-entry des Seins), während aber das Nichtsein auf der anderen Seite beiseitegeschoben und ausgeklammert wird. Die Seinsontologie ist insofern einwertig. Sein ist Sein; Sein und Denken sind auch dasselbe. Die zweiwertige Logik widerspricht aber dieser primären Seinseinteilung, da in der sozialen Kommunikaton über „dasselbe“ Sein doch Unterschiedliches ausgesagt wird. Die „Seinsidentität“ garantiert also nicht dieselbe Meinung über dasselbe Sein. Mit der Meinungsverschiedenheit beginnt dann der Streit um Wahrheit und Falschheit, als könnte dasselbe Sein wahr und falsch zugleich sein.193 Sein und Denken sind nicht immer dasselbe. Mit der zweiwertigen Logik besteht also das Nichtsein als andere Seite weiter und daraus entsteht die Paradoxie. Diesem Paradoxieproblem begegnet man dann mit der Unterscheidung von Wissen und Meinung, die aber bloß eine Variation der ontologischen Einteilungen darstellt. Mit den letzteren bleibt man zum einen stets nur im Seinsbereich, aber nicht im Bereich des Nichtseins; man kann zum anderen damit jedoch nicht die Einheit (von Sein und Nichtsein) erreichen. Daher bedeutet die ontologische Primärunterscheidung (Sein / Nichtsein) nach Luhmann letztlich eine „Verharmlosung der Paradoxie des Unterscheidens“,194 indem die Unterscheidung Sein und Nichtsein alle ihren Variationen durchspielt und sich dabei die Logik stets unterordnet. Die (einwertige) Ontologie steuert die (zweiwertige) Logik.195 192 GdG,
S. 902 f. S. 903–904. 194 GdG, S. 903. 195 Man könnte mit der zweiwertigen Logik bereits die Differenzierung von Handlung und Beobachtung beobachten (vgl. SS, S. 407); das Erkennen als Handeln 193 GdG,
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
In diesem Seinskonzept werden als Beispiel die Zeitmodi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als „Streckenbegriffe“, aber „nicht als stets gegenwärtig, als in der Gegenwart praktizierte Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft“ verstanden. Die Zeitmodi werden nämlich nicht in der Gegenwart als Differenz von Vergangenheit und Zukunft verbunden. Luhmann zufolge kann damit von ‚Zeit‘ eigentlich nicht geredet werden.196 Die Zeitmodi sind insofern eben nur drei Dinge, die ihr Sein – aber nicht Nichtsein – immer mit sich tragen. Sie sind ebenfalls nicht vergangen oder zukünftig, sondern als Dinge da. Und dies heißt ‚Dingschema‘. Dasselbe gilt für Prinzipien wie Ursprung, Anfang, Grund u. ä., die lediglich ein einwertiges, seinsmäßiges Einheitsprinzip darstellen. Gesellschaftlich wird die Paradoxie der Einheit des Verschiedenen transformiert „in Einteilungen, die im Übrigen mit den Inklusionsprinzipien der Gesellschaft harmonieren, die für jeden Menschen einen festen bestimmten Platz in der gesellschaftlichen Differenzierung vorsehen“.197 Die Auflösung der Paradoxie besteht demnach in der geordneten Einteilung des Seins bzw. der Gesellschaft, jeder Mensch bekommt einen festen Platz zugeschrieben. Umgekehrt bedeutet die Paradoxie die (Möglichkeit der) Abweichung von dieser festen Seinseinteilung, der Mensch wird mit der Paradoxie seinen festen Platz und im Allgemeinen seine festen Bestimmungen verlieren. Kann nämlich ein und dasselbe Individuum zugleich anders sein, liegt bereits eine Paradoxie vor. Die mit jeder Einteilung entstandene Verschiedenheit der beiden Seiten und das Nichtsein in der ontologischen Primärunterscheidung (Sein / Nichtsein) deuten bereits auf dieses abweichende Etwas-anderes-Sein hin. Mit dem Ignorieren des Nichtseins und mit der geordneten Primäreinteilung ausschließlich auf der Seinsseite wird in der Semantik des seinsmäßigen Prinzips diese Möglichkeit des Etwas-anderes-Seins verdeckt und verdrängt. Und ebenso mit der Verdrängung der anderen Seite wird die Paradoxie der Einheit der Verschiedenheit verharmlost bzw. (auf-)gelöst.198 wird wechselseitig beobachtet und thematisiert und die Logik beginnt ihre Ausdifferenzierung zu einem eigenständigen, geschlossenen System. Man könnte hierin auch eine gesellschaftstheoretische Erklärung des Logiksystems sehen. 196 GdG, S. 903. Mit Schmitz würde man sagen, dass es keine Modalzeit und daher keine Zeitmodi gibt. Dann kann es auch keine fließende Zeit geben. 197 GdG, S. 903. 198 Mit Schmitz könnte man sagen, dass mit der verdrängten Paradoxie die numerische Einheit (einzelne Sache) mit der analytischen Einheit im fest geordneten Zusammenhang gebunden wird. Etwas kann nur eine feste, aber keine andere Bestimmtheit haben, es kann also nicht etwas anderes zugleich sein. Sonst ist das Identische das Nicht-Identische.
III. Probleme der Paradoxie des selbstreferentiellen Sozialsystems207
Von dem systemtheoretischen Standpunkt aus stellen sich sowohl die ontologischen als auch die logischen Unterscheidungen gleichfalls als ZweiSeiten-Form dar. Die entscheidende Diskrepanz zwischen beiden ist: „Das Seinsschema besitzt nur einen Wert mit Designationsfunktion. Der andere Wert (die Außenseite der Form) bezeichnet nichts. In der Logik besteht dagegen ein Umtauschverhältnis zwischen den beiden Werten wahr oder unwahr. Sie ist symmetrisch, man könnte sagen: seinsmäßig symmetrisch gebaut.“199
Demnach ist die Seinseinteilung als Form auch zweiseitig, sie ist aber asymmetrisch und daher einwertig, weil man einseitig auf dem Sein beharrt und das Nichtsein überhaupt nicht erscheinen lässt. Dagegen ist die Logik als Form zweiseitig symmetrisch, sie weist also immer auf die Möglichkeit des Etwas-anderes-Seins des identischen Seins hin. Die zweiwertige Logik trägt demnach von Anfang an die Paradoxie in sich, die als logische Schwierigkeit eigentlich jede Zwei-Seiten-Form (Differenz) hervorbringen würde. Diese Form-Struktur wird aber mit der Dominanz des Seins „seinsmäßig symmetrisch gebaut“ in dem Sinne, dass die zweiwertige Logik nur im Dienst der Erkenntnis des einwertigen Seins eingesetzt wird und insofern ebenso als einwertig gilt. Sie wird nun für die Anzeige des Irrtums des ‚falschen Denkens‘ benutzt, und zwar eben nur von der Seinsseite aus. Das falsche Denken kommt zwar vor, hat aber keinen Seinswert und soll verboten werden. Die symmetrische Zweiwertigkeit wird unter der asymmetrischen Einwertigkeit geführt, „die Asymmetrie hat als Ordnungswert den Vorrang – so wie der Adel vor dem Volk oder die Stadt vor dem Land“.200 Die zweiwertige Logik arbeitet also mit den ontologischen Seinsprämissen. Sie hat nach Luhmann ihr Problem aber genau darin, dass „ihr Seinskonzept es ihr verbietet, demselben Gegenstand sich widersprechende Prädikate zuzuordnen. Von ihr aus gesehen ist das Sein einwertiges Sein“.201 Die Ontologie hat nur einen Wert Sein, die klassiche Logik hat zwei, aber doch streng getrennte Werte. Gerade dadurch dient die Logik mit ihrer Zweiwertigkeit dem einwertigen Sein und schließt „alles Dritte“ aus.202 (Dies bedeutet, dass man von der zu selbstverständlichen Annahme der eindeutigen Bestimmtheit ausgeht: Alles ist einzeln.) In dieser ontologischen Welt hat alles „die Form des Seienden oder noch genauer: die Form des (sichtbaren oder unsichtbaren) Dings (res)“.203 In diesem Dingschema erhalten die Dinge ihr Wesen nach Gattung und Art. Das Dingschema dominiert 199 GdG,
S. 904 f. S. 905. Man könnte hier das traditionelle Zusammenfallen von Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik und Gesellschaftstheorie sehen. 201 GdG, S. 905. 202 GdG, S. 905. 203 GdG, S. 905 f. 200 GdG,
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
seitdem „das europäische Form-Denken“ in Gestalt der Dialektik seit Platon und liegt der Kontroverse zwischen dem Realismus und dem Nominalismus zugrunde; dementsprechend gilt die Absicht eines Menschen, „ein anderer zu sein“ als Anzeichen des Wahnsinns.204 Im Allgemeinen wird mit dem Gebrauch der Zwei-Seiten-Form unter dem Regime des einwertigen Seinskonzepts das Problem der Paradoxie verharmlost und verdrängt, indem man an dem Seinswesen festhält. Das Sein wird mit dem Seienden als Ding gleichgesetzt und alle Dinge haben ihr Wesen. (Das Sein ist das ungeteilte, einfache Eine. Darauf dominiert die numerische Einheit.) Das Substanzdenken ist dann nur folgerichtig. Alles hat einen festen Platz und ein festes Attribut, jeder hat seine zugeschriebene Bestimmung. Und alles Dritte, wie es durch das Nichtsein der anderen Seite angedeutet wird, wird schroff ausgeschlossen. Mit der Form als solche scheint aber immerfort das Etwas-anderes-Sein mit allen Variationen durch: Man kann ein anderer sein; etwas kann etwas anderes sein; einem Gegenstand können die einander widersprechenden Prädikate zugeschrieben werden; und dasselbe kann wahr und falsch sein. Alles, was im ontologischen Seinsdenken nicht erlaubt wird. kommt (potentiell) vor. Mit Luhmanns Formtheo rie wird also nach einem anderen Seins- und Weltkonzept gefragt, das zum einen das Etwas-anderes-Sein des identischen Etwas (Paradoxie) erlaubt, sich aber zum anderen mit der zweiwertigen Logik zusammendenken lässt.205 204 GdG, S. 906. Luhmann ist für „das europäische Form-Denken“, aber gegen das Dingschema der ontologischen Tradition. Offenbar soll man dafür ein alternatives Schema für das Formdenken herausfinden. Nach Luhmann scheint es in der Trennung von Gedanke und Existenz, Bedeutung und Wirklichkeit, in der Diskontinuität zwischen Sein und Denken zu bestehen. Zolo, Reflexive Selbstbegründung der Soziologie und Autopoiesis, 1985, S. 525–6 sieht Luhmanns Grund für seine (vermeintliche) Ablehnung der klassischen zweiwertigen Logik in der „Unbrauchbarkeit der klassischen Logik bei der Behandlung des Problembegriffs, und zwar hauptsächlich deshalb, weil der Problembegriff das Bestehen ‚mehrerer Lösungen‘ impliziere“. Zolo meint, dass der funktionalistische Problembegriff nur „umfangreichen Rückgriff auf logische Disjunktionen“ bedeutet, aber es ist für ihn nicht einzusehen, warum durch die disjunktiv miteinander verbundenen, aber unvereinbaren Lösungen eines Problems die logischen Widersprüche gesellschaftliche Widersprüche darstellen und deshalb empirische Bedeutung erlangen können. Die Schwierigkeit besteht m. E. genau in dem Unverständnis des Bestehens anderer möglicher Lösungen: Unter der einwertigen Seinsontologie werden Luhmann zufolge die negative Seite des logischen Codes und mit ihr die anderen negierten, nichtseienden Möglichkeiten verdrängt und unsichtbar gemacht. Sie bestehen trotzdem. Geht man wie hier aus der Trennung von Bedeutung und Existenz aus, soll man leichter einsehen, dass durch Hinzufügung der Existenz (Wirklichkeit) – man denke an den Geltungsanspruch bei Habermas – die anderen Lösungen gesellschaftliche Widersprüche erzeugen. 205 Offenbar hat Luhmann selber Schwierigkeiten mit dem Seinsbegriff und meint mit dem ‚Sein‘ oft sehr Verschiedenes. Im Sinne des Ursprungs bzw. des Grundes
III. Probleme der Paradoxie des selbstreferentiellen Sozialsystems209
3. Sozialitätskonzept: Paradoxie als freigesetzte Negativität Für das alternative Seinskonzept steht nun die Paradoxie. Dabei zieht man einerseits das Nichtsein als andere Seite in Betracht und bezieht die letztere andererseits weiterhin auf die soziale Dimension. Mit der historischen Evolution der Differenzierungsformen der Gesellschaft hat nämlich die funktionale Differenzierung allmählich dazu geführt, dass die Sozialität in „einer wechselseitigen Rücksicht“ von Ego und Alter Ego gesehen wird. Die neue Sozialität wird dadurch hergestellt, dass die Selbstreferenz die Fremdreferenz und die (reine) Selbstreferenz umgreift, beide fundiert und auf diese Weise die Selbstreferenz des anderen in sich aufnimmt. In der Seinsontologie wird der Mensch rein negativ und privatim bewertet, gerade weil er ein Wesen-Sein hat. Die neue Sozialität eröffnet sich aber zur Selbstreferenz des anderen, also zur anderen, negativen Seite. Die Sozialität gründet dann auf der doppelten Kontingenz von Ego und Alter Ego. In der historischen Übergangszeit geht man von der Perfektion als Natur des Menschen zur Perfektibilität über, die ja die beiden Seiten impliziert: Perfektion oder Perversion. Mit der Perfektibilität verzichtet man nämlich auf die nur privatim verstandene Positivität und legt die Negation tiefer „auf den Ursprung (des Menschen)“, wobei die „ursprüngliche Negativität“ „in der Freisetzung von Unbestimmtheit der selbstreferentiellen Natur für neue Bestimmungen“ besteht. Man könnte sagen, dass die Sozialität namentlich in der freigesetzten, nun nicht mehr zurückzuhaltenden Negativität (Paradoxie) verwurzelt ist und dass der Mensch seinen Ursprung gerade in der Unbestimmtheit hat und immer nach einer neuen Bestimmung verlangt. (Mit Schmitz hat der Mensch ja keinen festen Satz von Attributen.) Und mit seiner ursprünglichen Negativität ist der Mensch bemüht, „Fremdbestimmung in Selbstbestimmung zu transformieren“; seine Bestimmungen werden ihm also nicht mehr durch die anderen von außen zugeschrieben, sondern von ihm selber erworben. Die Individualität bildet dadurch die Grundlage der Sozialität, die anhand der Selbstreferenz auch die Fremdreferenz einschließt.206 u. ä. meint das Sein das Einfache bzw. das Ununterscheidbare; mit dem Sein werden aber auch Existenz (Wirklichkeit), Identität und Bestimmtheit gemeint. Er wirft oft mit dem Seinsbegriff die unterschiedlichen Bedeutungen von ‚Ist‘ in einen Topf: Existenz, Identität und Kopula. All dies spiegelt aber eine begriffliche Anstrengung wider, wie sein Weltbegriff es zeigt, der auch alles Nicht-Existierende enthält. 206 Alle Zitate siehe Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie, in: ders., GuS 1, 1998, S. 212. Diese Sozialität erscheint historisch semantisch zuerst in der Differenz von Altruismus und Egoismus, Selbstliebe und Fremdliebe (vgl. ders., Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., GuS 3, S. 238 f.). Die Selbstliebe soll diese Differenz übergreifen. Sie muss – mit Fichte – ja „über und innerhalb der Grenze“ sein. In der Seinsontologie ist der Mensch sozusagen ein isoliertes, individuelles
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
In dieser Sozialität spielt die Negation die zentrale und ursprüngliche Rolle. „Die Negativität liegt vielmehr auch der Selbstreferenz noch voraus und macht sie erst möglich, indem sie ihr die Funktion der Selbst-Bestimmung gibt.“207 Die hervorgehobene Negation, die ebenso tief in der Selbstreferenz des Sozialsystems steckt, bedeutet die Freisetzung der Unbestimmtheiten und entwickelt sich historisch zur Paradoxie als „Orthodoxie“ des 20. Jahrhunderts.208 Es geht also mit der Negation zugleich um „das zu Negierende als Unbestimmtheit“; und diese Negativität ist dann wieder durch die „determinierende Negationen“ zu überwinden.209 Die Ordnung entsteht sozusagen durch die Negation der Negation. Nur daher bildet die Selbstreferenz den „Punkt, in dem alle Differenzen zusammenfallen“.210 Hiermit stellt sich für die Funktionssysteme mit ihren binären (negierenden) Codierungen auch die Aufgabe, die Negativität zu regulieren, die in der modernen Gesellschaft immer weiter reproduziert wird.211 Dadurch können die Negationen „immer positiv anschlußfähig gebraucht“ werden, so dass „alles Negative […] positiv in einem rekursiv operierenden System“ wird.212 So gesehen stellt sich die moderne Gesellschaft – das Soziale überhaupt – als Generator der Negativität dar, die dann in den Funktionssystemen wieder Ding, es könnte streng genommen von Sozialität gar keine Rede sein; und erst mit der neuzeitlichen Sozialität bekommt man das Problem der Unterscheidung von Inklusions- und Exklusionsindividualität. 207 Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie, in: ders., GuS 1, 1998, S. 212 f. 208 GdG, S. 1144. 209 Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie, in: ders., GuS 1, 1998, S. 213. Man kann hier wieder bemerken, dass die Negation bei Luhmann einen Doppelbezug hat. Einerseits bedeutet die Negation nichts, sie hat keine Entsprechung in der Wirklichkeit; andererseits bezieht sich die Negation auf die Bedeutungen, hier: die (Un-)Bestimmtheiten. Der Angelpunkt liegt immer in der Trennung von Gedanke und Existenz. 210 Luhmann, Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, in: ders., GuS 2, 1993, S. 168. 211 Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie, in: ders., GuS 1, 1998, S. 214: Man kann „den Menschen als eine Negativität“ verstehen, „die jeder binären Schematisierung vorausliegt und Schematismen zu ihrer eigenen Bestimmung erst einsetzt“. Der unruhige (romantische?) Mensch und die funktional differenzierte Gesellschaft bilden also füreinander den Komplementärbegriff. 212 Luhmann, Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus, in: ders., SA 5, 1993, S. 39. Bühl, Luhmanns Flucht in die Paradoxie, 2000, S. 232 f. wirft Luhmann vor, mit einer Negation alle möglichen Positionen zu beziehen und damit „das logische Wunder“ hervorzukehren; die Negation hat nach Bühl aber auch „einen akkretiven Aspekt, der etwas Neues in die Welt setzt, womit ‚Gegenidentitäten‘ geschaffen werden“. Was Bühl Luhmann vorgeworfen hat, scheint gerade Luhmann vorzunehmen, nur gibt es kein genanntes logisches Wunder. Bei Luhmann ist die Trennung von Identität (der Bestimmtheit) und Wirklichkeit (Negation) allerdings deutlicher als bei Bühl.
III. Probleme der Paradoxie des selbstreferentiellen Sozialsystems211
negiert werden muss. Der negierende Binarismus der Funktionssysteme hat diese negierende Sozialität – Paradoxie als kommunikative Unbestimmtheit – als seinen historischen und gesellschaftlichen Hintergrund. 4. Konstruktivismus als Formtheorie der Erkenntnis Die Paradoxie als Problem der kommunikativen Unbestimmtheit wird in der Sozialität ausgelöst und wird erkenntnistheoretisch als Konstruktivismus bezeichnet. Nach Luhmann muss der Konstruktivimus aber „nicht antirealistisch“ sein, so wie er oft im Rahmen des Gegensatzes von Realismus und Idealismus verstanden wird. Und bereits aus dem Sachverhalt, dass das Erkennen überhaupt durchgeführt wird, resultiert die Feststellung: „Es gibt eine Außenwelt“. Nur zu dieser Außenwelt hat man keinen unmittelbaren Zugang, man kann sie nämlich nicht unvermittelt erreichen, man muss sie noch erkennen: „Das Erkennen kann nicht ohne Erkennen zur Außenwelt kommen.“ Bei Luhmann enthält der Konstruktivismus also zwei Faktoren: der selbstreferentielle Prozess des Erkennens sowie die unabhängig existierende, aber doch unbekannt bleibende Realität (Außenwelt), wobei man gar nicht dem Solipsismus bzw. Skeptizismus verfallen muss. Insofern bringt der Konstruktivismus aber „nichts Neues“.213 Die alten Probleme, wie ein geschlossenes Subjekt seinen Gegenstand erreichen kann und ob der Solipsismus doch möglich bleibt, werden in diesem eigens soziologischen Zusammenhang sozusagen neutralisiert: „Wenn ein erkennendes System keinerlei Zugang zu seiner Außenwelt gewinnen kann, können wir deren Existenz bestreiten, aber ebenso gut und mit mehr Plausibilität daran festhalten, daß die Außenwelt so ist, wie sie ist. Beide Varianten sind unbeweisbar. Zwischen ihnen kann nicht entschieden werden.“214
Die echt innovative Pointe des Konstruktivismus sieht Luhmann daher nicht in der Behauptung des selbstreferentiellen Erkennens, sondern in der erkenntnistheoretisches Problem artikulierenden Form, die erst das selbstreferentielle Erkennen und damit die Erkenntnis der objektiven realen Welt 213 Alle Zitate, Luhmann, Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus, in: ders., SA 5, 1993, S. 32–33. Der Konstruktivismus bedeutet dann, dass ‚dieselbe objektive‘ Welt durch vielfache Prozesse der Selbstreferenzen ausgelegt und insofern vervielfacht werden kann. Man soll hier darauf achten, die objektive Welt von dem erkennenden Subjekt sorgfältig zu unterscheiden. Es gibt demnach keine erkennbare Welt ohne ‚konstruktiv subjektive‘ Perspektive, was mit der objektiven Wirklichkeit der Welt durchaus vereinbar ist. 214 Luhmann, Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus, in: ders., SA 5, 1993, S. 37. Die Welt ist „nur kognitiv unzugänglich“ (ders., ebd., S. 41). Demnach bleibt nicht die Existenz, sondern die Erreichbarkeit des Gegenstandes problematisch.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
überhaupt ermöglicht. Dabei kommt es auf die Unterscheidung an, die beim Erkennen voraus- und eingesetzt wird. Traditionell wird dafür die Unterscheidung von Sein und Nichtsein angewandt, um die Realität zu behandeln. Die Realität wird dadurch ontologisiert. Nun setzt der systemtheoretische Konstruktivismus, der bei Luhmann in der Tat eine Formtheorie bedeutet, gerade bei der „De-ontologisierung der Realität“ an.215 Dafür treten an die Stelle der ontologischen Unterscheidung von Sein und Nichtsein die Unterscheidungen von System und Umwelt sowie von Operation und Beobachtung. Erkennen besteht nun nicht im Korrespondieren mit einer Außenwelt, sondern es wird ‚erkannt‘, indem die Operation des Systems anhand der nichts bedeutenden Negation abläuft und die Grenze zur Umwelt reproduziert, wobei die beobachtende Operation zugleich beobachtet wird. Der erkennende Vorgang stellt dadurch – mit Heranziehung weiterer relevanter Differenzen – einen selbstreferentiellen Zirkel durch die Anschlüsse der Unterscheidungen dar. Demnach bedeutet die ‚konstruktivistische Erkenntnis‘ in dem Vorgang des Erkennens erzielte „wiederverwendbare Resultate“, die im System als operative Anschlüsse einschränkende Redundanzen fungieren, indem „es nicht nur für Negationen, sondern schon für Unterscheidungen und Bezeichnungen (also: für Beobachtungen) in der Umwelt des Systems keine Korrelate gibt“.216 Dabei geht man nach wie vor davon aus, dass die zu erkennende Außenwelt unbestritten bleibt. Die Möglichkeit der Erkenntnis nach dem systemtheoretischen Konstruktivismus könnte man nun so zusammenfassen. Zum einen erfolgt das Erkennen anhand der beobachtenden Operation mit innerer Negation, wobei die negierende Beobachtung dem zu erkennenden Objekt (Realität) eben nichts hinzufügt. Zum anderen bleibt die reale Welt aber ‚unbekannt‘, indem die Erkenntnis im System, aber nicht in der Umwelt konstruiert wird. Die Erkenntnis soll nicht subjektiv, fiktional oder gar illusionär sein, die dunkle Welt wird aber nur im System sozusagen selektiv expliziert. Die Erkenntnisse als „wiederverwendbare Resultate“ (Redundanzen) beziehen sich in der Tat auf die systeminterne Identität, die der Form nach eine Rekursivität darstellt, inhaltlich aber mit Diversität rechnen muss. Man kann von ‚Erkenntnis als Konstrukt‘ sprechen, das Verschiedenheiten an einem identischen Kern zusammenhält.217 Der erkenntnistheoretische Standpunkt des 215 Luhmann, Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus, in: ders., SA 5, 1993, S. 37. 216 Luhmann, Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus, in: ders., SA 5, 1993, S. 39–41. 217 Vgl. WissendG, S. 517. Konstruktion heißt also eher Hinzufügung der beobachtenden Negation als inhaltliche (Er-)Findung. Genauer genommen handelt es sich dabei um zwei Ebenen, die oben analysiert, aber bei Luhmann nicht deutlich ge-
III. Probleme der Paradoxie des selbstreferentiellen Sozialsystems213
systemtheoretischen Konstruktivismus ist sehr realistisch eingestellt, gerade weil der „Eigenbeitrag“ des erkennenden Systems für die Erkenntnis bloß in dem dafür eingesetzten Unterscheiden besteht, genau in der Negation zum Ausdruck kommt und eben nichts zu der zu erkennenden Welt beiträgt. Für Luhmann werden die Kontroversen um den Konstruktivismus hiermit bereits beigelegt. Viel beachtenswerter ist, dass dadurch das üblicherweise auf die Sachdimension bezogene Erkenntnisproblem mit dem Zeitproblem verbunden wird.218 Luhmanns Konstruktivismus verlegt somit die Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis vom irgendeinem Grund über die identifizierbare Sinnbestimmung (Entsprechung oder nicht) auf die operative Anschließbarkeit, die in der negierenden Differenz das Problem von (Nicht-)Wirklichkeit, ja das Form-Problem, betrifft. Als Formtheorie der Erkenntnis, die m. E. schließlich das Trennung-Verbindung-Verhältnis von Bestimmung und Wirklichkeit zum Gegenstand hat, wird das Erkennen von der Fremdbegründung auf die Selbstbegründung (Selbstreferenz) umgestellt. Dabei wird auch die Negativität (kommunikative Unbestimmtheit) verarbeitet. 5. Selbstbegründung anhand der Zeit Mit der Formtheorie richtet man sich auf die Selbstbegründung aus, die ihrerseits auf die (Temporalisierung der) Zeit zurückzuführen ist. Damit wird zugleich jede Begründung prinzipiell in Frage gestellt. Luhmann zufolge kann die Begründung nämlich zwei Formen annehmen: „Abwesendes und Geltendes“.219 Das Abwesende ist nicht erfahrbar, aber durch soziale Kommunikation wird es stets in die Gegenwart eingeführt, es bleibt daher gleichzeitig präsent vorhanden. Das Abwesende führt insofern eine „paradomacht werden: die Identität als reflexive Beziehung bei dem selbstreferentiellen Erkennen (a = a) sowie die Identifizierung der verschiedenen Weltsinnbestimmungen bei der erkennenden Konstruktion (a = b). Vgl. ders., Die Paradoxie der Form, 1993, S. 201: „[D]ie Form der Form ist ein Paradox. […] Ein Paradox ist die in sich selbst enthaltene Form ohne Hinweis auf einen externen Standpunkt, von dem aus es betrachtet werden könnte. Es ist daher Anfang und Ende in einem.“ Die Benutzung der Form als Unterscheidung ist unausweichlich, um überhaupt erkennen zu könnnen. Es geht dabei um die Identität als reflexive Relation, wobei man wiederum Schwierigkeiten hat, sie von der Identifizierung klar abzugrenzen und dann wieder mit ihr in Beziehung zu setzen. 218 Luhmann, Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus, in: ders., SA 5, 1993, S. 41 f. 219 Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders., SA 5, 1993, S. 105. Die Umstellung von Abwesendem auf Geltendes deutet dabei eine geschichtliche Übergangszeit an und entspricht der Evolution der Differenzierungsform der Gesellschaft.
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
xe Existenz: abwesend und anwesend zugleich“.220 Dasselbe gilt auch für Geltendes, nur man orientiert sich dabei eher normativ. In diesem Sinne fungieren Abwesendes und Geltendes als Grund für Begründung und damit auch als Lösung der Paradoxie. Dies ist nach Luhmann aber fragwürdig geworden. Und man könnte sich den Punkt an der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen – ja an dem Phänomen der Antinomie der modalen Lagezeit – ansehen. Genau an diesem Punkt scheiden sich Ontologisierung und Deontologisierung. Auch Abwesendes und Geltendes weisen mit ihrer paradoxen Existenz diese Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen auf. Entscheidend scheint aber zu sein, dass es ihnen an der Gegenwart und damit auch an der Zeit im eigentlichen Sinne fehlt. Die Zeit fungiert wie das einwertige ontologische Sein. Die Gegenwart dient zwar als Grenze von Vergangenheit und Zukunft, die beiden letzteren aber stellen die „jeweils inaktuellen Zeithorizonte“ dar und die Zeit wird „detemporalisiert – so, als ob es Zeit wie ein Ontologicum immer gäbe“.221 Die Zeitmodi gelten als „Streckenbegriffe“ und „nicht als stets gegenwärtig“, aber gerade dann kann Abwesendes „in einer heute kaum mehr begreifbaren Weise als gegenwärtige Vergangenheit und damit als Maßstab gesehen“ werden.222 Die Zeitparadoxie wird damit ontologisch überbrückt. Mit dem Übergang zur Geltung (im 19. Jahrhundert) fasst man den Aspekt der Gleichzeitigkeit in der Zeitantinomie direkt ins Auge: „die Gleichzeitigkeit der Welt und vor allem die Gleichzeitigkeit des Denkens und Kommunizierens aller Systeme“.223 Aber es kann trotzdem „nicht gleichzeitig begründet werden“, das zum Ziel gesetzte Begründen scheint nämlich immer nur im Ungleichzeitigen (Abwesendes) stattzufinden, im Gleichzeitigen muss aber alles Begründen früher oder später abgebrochen werden.224 Mit Geltendem verdeckt man wieder die Zeitparadoxie und ‚löst‘ sie damit.225 220 Luhmann,
Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders., SA 5, 1993, S. 105. S. 901. 222 GdG, S. 903. 223 Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders., SA 5, 1993, S. 107. 224 Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders., SA 5, 1993, S. 107. Nach Luhmann bringen alle Großsymbole wie das Utilitätsprinzip, die Vernunft, der Wille, das Apriori, der kommunikative Diskurs diese Schwierigkeit mit sich. Man könnte sagen: Sie wollen begründen, und zwar (temporalisierend) gleichzeitig, was aber eben wegen der Zeitantinomie nicht möglich bleibt. 225 Den komplizierten Problemzusammenhang könnte man wie folgt nachvollziehen: Die Geltung befindet sich in einer überleitenden Stelle zwischen Abwesendem (Geltendem) und Verzeitlichung, sie bezieht sich in der Tat auf die Gleichzeitigkeit in der Zeitparadoxie und symbolisiert den problematischen (Ewigkeits-)Punkt des 221 GdG,
III. Probleme der Paradoxie des selbstreferentiellen Sozialsystems215
Auf diese Weise der Thematisierung verlegt Luhmann die (Selbst-)Begründung in die Zeitdimension. Es kommt auf die Zeit an. Die Pointe scheint darin zu bestehen, dass mit der Differenz von Vorher und Nachher die Zeithorizonte Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart ‚synchronisiert‘ werden können. Man temporalisiert und deontologisiert die Zeit (Verzeitlichung) und erfasst dabei die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigen: die Einheit der Differenz von Zeithorizonten (als beide Werte). Dies heißt eben die Paradoxie der Einheit der Differenz. Die Synchronisation sorgt dafür, „welche Ereignisse im Modus der Gleichzeitigkeit zusammen aufgetreten sind bzw. auftreten werden“.226 Es geht nämlich um selektive Anschlüsse von Vergangenheit zur Zukunft. Die Gegenwart fungiert hier als „Punkt“ bzw. „eine logisch paradoxe Position“, sie ist gerade „die Einheit der Unterscheidung selbst, also die Nichtunterschiedenheit des Unterschiedenen“.227 Und gerade diese logische Unstimmigkeit bzw. Unbestimmtheit der Gegenwart (Paradoxie) ermöglicht den Übergang in der Zeit; in diesem Sinne funktioniert die Paradoxie als „ein Vermittlungskonzept“ und begründet verzeitlichend.228 6. Fazit: Paradoxie als Kontingenzproblem Die Paradoxie als Problem liegt der Systemtheorie von Luhmann zugrunde und durchzieht alle theoretischen Dimensionen. Insofern fungiert sie als ein alles zusammenhaltendes Symbol und bringt unter anderem das Anliegen der Deontologisierung der einwertigen Ontologie, die moderne Sozialigegenwärtigen Umschlags von Vorher und Nachher. Kann man den Punkt theoretisch nicht erfassen, greift man auf ontologisches Abwesendes (Geltendes) zurück. Die Zeit ist dann ein Ding. Kann man ihn aber erfassen, deontologisiert man die Zeit. Dann betreibt man nicht mehr Begründung, sondern (selbstreferentielle) Selbstbegründung mit Paradoxien. Vgl. C. II. 2. e) cc), über Zeitantinomien. 226 Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders., SA 5, 1993, S. 117. Die Synchronisation sorgt demnach für die Gleichzeitigkeit. Dadurch hat die Sinngeschichte „wahlfreien Zugriff auf den Sinn von vergangenen bzw. künftigen Ereignissen ermöglicht, also ein Überspringen der Sequenz“ (SS, S. 118). Luhmanns Gegenwart mit Synchronisation scheint der modalen Lagezeit im Sinne von Schmitz zu entsprechen. Daran anschließend bekommt man das Problem der Entparadoxierung der Zeitparadoxie, die oben analysiert wird. Hierbei soll der Zufall – der reinen Modalzeit entsprechend? – eine auszeichnende Rolle spielen, vgl. SS, S. 236, S. 231. Umgekehrt kann ein Zufall als ein Ereignis ohne Koordination durch Strukturen bestimmt werden, vgl. SS, S. 170. 227 Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders., SA 5, 1993, S. 129. 228 Luhmann, Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders., SA 5, 1993, S. 109. Auch die Geltung wird dann nicht mehr auf Geltendes, sondern ebenso auf die Zeit in der Gegenwart ‚gegründet‘, sie stellt sich dann auf einen „Freiheitsraum anderer Bestimmungsmöglichkeiten“ – auf die Paradoxie – in doppelter Kontingenz von Ego und Alter Ego ein (vgl. SS, S. 169 f.).
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
tät mit Negativität, den erkenntnistheoretischen Konstruktivismus sowie die (Selbst-)Begründung (als Geltungsproblem) zum Ausdruck. In dem ganzen Zusammenhang dieser Themen beziehen sich wohl nicht alle von Luhmanns Reden von Paradoxie unmittelbar auf die logische Antinomie; die vorliegende Arbeit hält es aber für durchaus berechtigt, von der Paradoxie im Sinne der strengen logischen Antinomie auszugehen. Die letzte Pointe des Paradoxieproblems könnte dann darin liegen, dass durch alle unterschiedlichen Themen hindurch die logische Antinomie in ihren Variationen das Kernproblem der Kontingenz bzw. der Unbestimmbarkeit der modernen Welt am schärfsten zum Vorschein bringt. Die logischen Antinomien bilden ein Grenzproblem, sie ist trotzdem nicht aus der Welt zu schaffen, sondern sie treten auf und zeigen die Allgemeinheit der unbestimmten Kontingenz auf. „Paradoxien sind nicht auf einen (zu vermeidenden) circulus vitiosus zurückzuführen, sondern solche Zirkel sind mißlungene Formen der Entparadoxierung.“229 Die logischen Antinomien stellen demnach eine fehlgeschlagene Entparadoxierung dar, die an der Unbestimmbarkeit der Welt scheitert. In Praxis bedeuten diese „rein logischen Schwierigkeiten der Selbstreferenz“ nur, „daß es in der wirklichen Welt Systeme gibt, deren Beschreibung durch andere Systeme in diesen (!) zu unentscheidbaren logischen Widersprüchen führt“.230 Die ‚realen‘ Systeme haben nämlich bei ihrem Operieren kein Problem mit den logischen Antinomien; die letzteren erscheinen und stören nur für beobachtende und beschreibende Systeme.231 Sie geben lediglich existierende Sachverhalte wieder, die es theoretisch und praktisch abzufangen gilt. Dafür bietet sich die Systemtheorie als Lösung an: „Aber wenn man Selbstreferenz, sei es als Paradoxie, sei es als Tautologie, mit herkömmlicher logischer Genauigkeit als ein Problem ansieht und dafür eine Lösung sucht, kann man sie in der Theorie selbstreferentieller Systeme finden. […] Die Theorie selbstreferentieller Systeme bietet dafür eine – nicht logisch einwandfreiere, aber empirisch überzeugendere – Alternative an.“232 229 Luhmann,
Tautologie und Paradoxie, 1996, S. 98. S. 58. Man beachte das Ausrufezeichen! 231 Nicht in dem beschriebenen System, sondern in den anderen es beschreibenden Systemen stört die unlösbare logische Antinomie. Luhmann meint wohl, dass, obwohl die Paradoxie als richtige Charakterisierung gilt, das beschriebene System – wie ein gewöhnliches, aber rätselhaftes Wunder – doch an dem unlösbaren logischen Problem sozusagen „vorbeilebt“ (Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1985, S. 17–19); und auch die Rechtstheorien haben die Paradoxie im Auge, „um haarscharf an ihr vorbeizuzielen“ (Luhmann, Einige Probleme mit „reflexivem Recht“, 1985, S. 6). Die Paradoxie wird zum ‚Problem‘ also nur für das beobachtende, nicht für das operierende, Paradoxie erzeugende System selber. 232 WissendG, S. 360 f. Luhmanns Kritik an der Theorie der Ebenenhierarchie heißt: Die Ebenen sind eine Metapher, sie sind nicht abschließbar und ohne Refe230 SS,
III. Probleme der Paradoxie des selbstreferentiellen Sozialsystems217
Die Möglichkeit der logisch einwandfreien Darstellung der Paradoxie wird aber oben bereits analysiert. Der Punkt der systemtheoretischen Lösung liegt hier eher in der Anschlussfähigkeit der Operationen und in der Autopoiesis des Sozialsystems. Das Problem der Paradoxie ist damit schließlich auf das Kontingenzproblem zurückzuführen. Kontingenz bedeutet, dass etwas immer ‚gleichzeitig anders sein‘ kann. Außer der Zeitdimension (Gleichzeitigkeit) bringt die Kontingenz mit sich noch Bestimmtheit (Sosein oder Anderssein) und Existenz (Sein oder Nichtsein). Man könnte sagen, dass Luhmanns Deontologisierung einerseits Gedanke und Existenz (Frege) trennt und andererseits das Nichtsein als die andere Seite – den anderen Wert – sozusagen emanzipiert und anerkennt. Dadurch wird die Negation aus dem ontologischen Sein entfesselt, sie ruft die Kontingenz hervor, kommt in ihr als Paradoxieproblem vor, leitet die kommunikativen Anschlüsse und durchgreift alle Themen. Die Negation, die nichts bedeutet, dies ist das Leere, das Negative und das Loch nach unten, ist ja Luhmanns zu steile Zinne bei Hölderlin: „Gerne durchschau’n sie mit ihm das herrliche Körpergebäude, Doch zur Zinne hinauf werden die Treppen zu steil.“ (Hölderlin) „Die Zinne – das ist die Selbstreferenz, die Bedingtheit des Vollen durch das Leere, des Positiven durch das Negative Jedermann sieht die massiven Zacken aufragen. Der Soziologe durchschaut die Zinne, er sieht die Löcher zwischen den Zacken, und die weisen nach unten.“233
Diese theoretisch-begriffliche Durchdringung der Weltkontingenz wird genau durch die logische Antinomie am schärfsten und am deutlichsten in dem Maße ausgedrückt, als bei ihr etwas gleichzeitig so und nicht so ist bzw. gleichzeitig so ist und nicht ist.234 renz aufeinander nicht verständlich. Also berühren sich die hierarchischen Ebenen immer irgendwie, was die Antinomien wieder erscheinen und nicht erfassen lässt. 233 Zusammen mit Hölderlins Versen, Luhmann, Autopoiesis als soziologischer Begriff, 1987, S. 308. Ist alleine ‚der Soziologe‘ gemeint? Ihm zufolge werden die anderen ebenfalls theoretisch orientierten Soziologen vielleicht beim Beobachten der Zinne von Schwindel erfasst oder sie halten diese Zinne für Schwindel; immerhin schon „aus Karrieregründen“ kann man ihn nicht aushalten und durchhalten (vgl. Luhmann, ebd., S. 320). Ähnlich meint er die Juristen (vgl. RdG, S. 24). 234 Vgl. B. I. 3. Hier wird noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass Luhmann den Seinsbegriff ziemlich mehrdeutig gebraucht hat. Ich stütze meine Interpretation auf die Schmitz’sche Unterscheidung von Attribut und Existenz-Induktiva, deren eine Dimension unter anderen die Wirklichkeit (Existenz) ist, und verbinde diese Unterscheidung im Zusammenhang des Paradoxieproblems von fern mit der These von Wittgenstein: Negation bedeutet nichts, in dem Sinne, dass sich die Wirklichkeit in Negation manifestiert und an sich ebenso wie die Negation nichts bedeutet. Man soll auch beachten, dass die Kontingenz zwei Faktoren hat: Bestimmtheit und Wirklichkeit. Sie kann sich also auf beide Dimensionen beziehen, die man jeweils genau unterscheiden soll. Nach Schmitz, Hegels Logik, 1992, S. 15 f., erschei-
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C. Logische Möglichkeit der Selbstreferenz vom Sozialsystem
Die Negation wirkt sich dann in der doppelten Kontingenz aus und erscheint in der ‚Differenz(erfahrung)‘ von Annahme und Ablehnung eines Kommunikationsangebots. Von daher gelangt man über die Selbstreferenz des Sozialsystems, die tautologisch und paradox ist, bis zur (Selbst-)Begründung. Das Geltungsproblem könnte damit auf das (soziale) Kontingenzproblem zurückgeführt werden, wobei der Zeitfaktor – die zeitliche Differenz bzw. die Zeitantinomie – für Luhmann zugleich die letzte Erscheinungsform und Lösung der Paradoxie zu sein scheint. Mit der Selbstreferenz (Identität) im Zeitfluss, der alles Begründen in Frage stellt, läuft die Paradoxie schießlich auf das Problem der Theodizee im Sinne der selbstnegierenden Identität hinaus.
nen die Paradoxien (Widersprüche) bei Hegel nur in der Welt der Satzsinne (Sachverhalte), aber nicht in der sinnfälligen Welt. Folgt man Luhmanns Kontingenz theorie, könnten auch Hegels Widersprüche dann doch sozial sinnfällig sein.
D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem I. Ansatzpunkte der systemtheoretischen Rechtstheorie bei Luhmann Das Ergebnis der Analysen in Kapitel B. und C. hat gezeigt, dass es bei der Paradoxie um den Zusammenhang von Negation und Weltbegriff geht. Man kann es kurz so ausdrücken, dass die Negation alle möglichen Sinnbestimmungen der Welt angeht, dass sie aber die Welt inhaltlich nicht beeinflusst. Mit der Negation wird also die (Un-)Wirklichkeit einer Bestimmung berührt, mit ihr nimmt die Welt inhaltlich aber weder zu noch ab. Dabei unterscheidet man einerseits zwischen Wirklichkeit und Bedeutung, Existenz und Gedanke; und man nimmt andererseits an, dass nichts der Negation in der so verstandenen Welt entspricht. Die Negation hat keine Entsprechung in der Welt, die trotz der Negation dieselbe Welt bleibt. Nur die Welt wird damit ‚verletzt‘ und wird daher kontingent und zugleich komplex. Mit dem Sündenfall – nämlich der Differenz – bekommt es die Welt sozusagen mit dem Problem von Leben und Tod zu tun, die Autopoiesis läuft an und die Komplexität muss reduziert – aufgebaut und abgebaut – werden. Ebenso geht es bei dem Problem der Rechtsparadoxie um die ‚Negation des Rechts‘. In der Tat hat Luhmann diesen Zusammenhang bereits früh hervorgehoben. Die Negationen müssen nämlich dem Rechtsthema „angehängt werden, sie müssen sich auf etwas – und sei es auf ‚das Sein‘ – beziehen, und dazu muß das Thema erst kreiert und in den sozialen Prozeß eingeführt werden. Themen sind mögliche Kristallisationspunkte für Negationen“1 Das Recht soll nämlich vom einwertigen Sein befreit und somit deontologisiert werden. Dieser Zusammenhang geht später in der Bildung und Ausdifferenzierung des Rechtssystems auf. Die Welteinheit wird dann – zu anderen Funktionssystemen parallel – eigens in die binär codierte Selbstreferenz des Rechtssystems überführt, wobei es einerseits um das „Recht als Kontingenzregulierung“ und andererseits um die „Rekonstruktion von Kontingenz als
1 Luhmann, Kommunikation über Recht in Interaktionssystemen, in: ders., AdR, 1981, S. 54. Das kreierte Thema entspricht dem „Zusatzsinn“ (SS, S. 605). Dass die Negation dem so eingeführten Sinn angehängt wird, bewirkt gerade die Paradoxie (und dann auch die Entparadoxierung).
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Recht oder Unrecht“ geht.2 Dadurch werden anhand der Differenz die Einheit und Identität des Rechts und seine Selbstbeobachtung und -beschreibung behandelt. Dabei wird mit der Negation zugleich der Blick auf das Ganze durch den Blick auf die Kontingenz ersetzt und man muss auch „die unangenehme Erfahrung des Im-Unrecht-Sein ins Auge“ fassen.3 Außer dem Kontingenzansatz soll man bei Luhmanns Systemtheorie des Rechts einige Prämissen beachten. Es geht um einen dezidiert „nichtnormativen“ Theorieansatz, der nicht den „Normbegriff als Grundbegriff“ bestimmt; daher wird das Recht auch nicht als ein schließlich auf einen selbstreferentiell kurzgeschlossenen Grund zurückzuführendes, Normensystem gesehen, sondern als ein System mit Fakten und Normen – eben die ganze Welt.4 Aber das Recht ist ebenso nicht die Differenz von Fakten und Normen, Sein und Sollen, sondern die Differenz von Recht und Unrecht. Die Pointe von Luhmanns Rechtstheorie könnte vor allem darin gesehen werden, dass sie dem Methodischen Dualismus widerspricht.5 Eine Rechtstheorie muss demnach (i) sowohl Fakten als auch Normen und (ii) so wohl Recht als auch Unrecht im Rechtssystem umfassen. Sonst wird je eine Hälfte des Gegenstandes – des Rechts – bereits durch Voreingenommenheit ausgeschaltet.6 2 Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: ders., AdR, 1981, S. 270; ders., Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: ders., AdR, 1981, S. 412. Über die Systembildung und -ausdifferenzierung, vgl. Luhmann, SS, S. 38, S. 49, S. 59, S. 105 f., S. 262, S. 315. 3 Luhmann, Rechtstheorie im interdisziplinären Zusammenhang, in: ders., AdR, 1981, S. 200; ders., Kommunikation über Recht in Interaktionssystemen, in: ders., AdR, 1981, S. 58. 4 Vgl. RdG, S. 12, S. 33, S. 501 f. Die Norm als Grundbegriff ist ontologisch einwertig und differenzlos. Vgl. B. I. 3. b). Üblicherweise glaubt man, dass die Fakten nur nebenbei die Materialien ausmachen; und das Unrecht wird schlicht nicht gesehen, da man nur nach dem Recht fragt. 5 RdG, S. 30: „Was die Tradition uns gibt, sind nicht Recht konstituierende Unterscheidungen, sondern Unterscheidungen, die im Rechtsbetrieb selbst produziert und mit jeweils begrenztem Ertrag verwendet werden.“ Die Unterscheidung von Sein und Sollen, Fakten und Normen – der Methodische Dualismus – stellt demnach lediglich eine Umformulierung des seit der Seinsontologie immer wieder gestellten Einheitsproblems des Gegenstandes Recht dar, und zwar eine rechtsintern reproduzierte Umformulierung unter vielen anderen. Sie ist nicht an sich falsch, sondern gilt nach Luhmann nur als sekundär, verfehlt aber daher grundlegend das Recht. 6 Ein knapper, aber beispielhafter Vergleich könnte den entscheidenden Unterschied der Theorieansätze von vorherein deutlich herausstellen. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 2009, S. 7, erwähnt die Unterscheidung von der dogmatischen Jurisprudenz und der soziologischen Betrachtungsweise des Rechts, wobei die erstere auf den normativen Geltungsanspruch in Bezug auf die Anwendung der Rechtsvorschriften abzielt und damit das rechtmäßige von dem unrechtmäßigen Handeln unterscheidet, während die letztere das geltende Recht nicht als verbindlich, sondern
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Weiterhin gilt die Umstellung von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft als die Rahmenbedingung, worin die „europäische Anomalie“ ungefähr mit dem 12. Jahrhundert beginnt und mit dem Durchbruch der Menschenrechte, und zwar gerade in deren schwerer Verletzung, heute zu der Endstation der Entwicklung zu gelangen scheint.7 Das Verhältnis des Rechts zu der Zeit – Verzeitlichung und Zeitbindung des Rechts – steht hierbei im Mittelpunkt, indem mit der Verzeitlichung die Rechtsbindung immer stärker in Frage gestellt wird. Und schließlich fragt eine soziologische Rechtstheorie unter solchen Umständen nicht vor allem danach, was das Recht ist (Rechtsphilosophie), sondern es liegt eher an dem „Sinn seines Tuns“ eines Juristen, also an dem Sinn des juristischen Handelns als ein soziales Handeln, der nun in der Möglichkeit der Gerechtigkeit im Sinne der Gleichheitsformel unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft besteht.8 1. Evolution des Rechts: Vom traditionellen Recht zum positiven Recht Die Evolution des Rechts stellt einen Vorgang der Positivierung des Rechts dar. Sie nimmt nach Luhmann ihren Ausgangspunkt im Rechtserleben bei dem Zufallsereignis – ja Setzung einer Differenz – und dessen Verarbeitung. Dabei geht man mit der Zeit allmählich von dem unmittelbaren Kurzschluss von Rechtsdenken und Rechtsverletzung zur mittelbaren, objektiven und kritischen Verfahrenstechnik über. Das Fehderecht und das Gottesurteil werden dann durch das von der Politik unterstützte und organisierte Verfahren für die Prüfung der Fälle abgelöst und nur auf dieser Grundlage kann man schließlich sogar mit der verträglichen Willenserklärung die Rechtsbindung für die Zukunft entfalten.9 Dies soll bedeuten, als „Tatsache“ und „Produkt bestimmter gesellscaftlicher Prozesse“ ansieht, die Vorschriften dann „in ihrem sozialen Kontext zu verstehen“ sind. Raiser scheint hier zu übersehen, dass eben diese maßgebende Unterscheidung von rechtmäßig und unrechtmäßig in der normativen Rechtsdogmatik eine soziale „Tatsache“ darstellt, sie ist daher „in ihrem sozialen Kontext“ zu erfassen, ist ja ins Zentrum der Rechts soziologie zu rücken. Diese Vernachlässigung verursacht in Luhmanns Sinne die Folge: „Es fehlt in ihnen [heterogenen Forschungsansätzen] das Recht selbst, und damit fehlt auch der innere Zusammenhang dieser verschiedenen Forschungsansätze“ (Luhmann, RS, S. 6). 7 Vgl. RdG, S. 13, S. 25, S. 586. 8 Vgl. RdG, S. 11, S. 33. 9 Luhmann, Evolution des Rechts, 1970, in: ders., AdR, S. 22 f.; man könnte das Vertragsinstitut als die konsequenteste Entfaltung der bindenden Rechtsverhältnisse trotz und gerade wegen der Kontingenz ansehen. In diesem Zusammenhang beachte man auch, dass man ohne das politische verfahrensgemäße Organisieren der
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dass man Distanz gewinnt und zwischen Handlung / Beobachtung unterscheiden kann,10 dadurch entsteht mit der Verarbeitung der Rechtserlebnisse aber auch die Möglichkeit der Rechtsänderung als herausforderndes Problem. „Evolution setzt Selbstreproduktion und Beobachtung voraus. Sie kommt durch abweichende Selbstreproduktion zustande. […] Die Evolution läuft über Unentscheidbarkeiten.“11 In diesem Zusammenhang wird in der Antike die seit jeher entstandene Rechtsordnung als vorgegeben, ja als natürlich, angesehen. Jede Rechtsänderung und die institutionelle Entwicklung als solche werden mit allen Mitteln bekämpft und schlicht als Rechtsbruch behandelt und erschwert. „Das Problem der Erwartungssicherheit dominiert, das Durchsetzungsinteresse bleibt sekundär.“12 Das Recht hat sozusagen keine Zukunft. Doch kommem mit der Zeit immer die Anlässe zum abweichenden Variieren vor. Man benutzt im Verfahren der Entscheidung zum Beispiel die starke „Ritualisierung und Formalisierung des Rechts“, um die Änderung überhaupt zu ermöglichen; darauf reagiert man zugleich mit semantischer „Differenzierung von Gehorsam und Änderungsbegehren“, mit „Dispens vom geltenden Recht“ und mit „ius eminens“, nämlich mit dem Prinzip „princeps legibus solutus est“; schließlich aber kann die Zukunft sogar den Gesetzgeber von der Bindung an seine eigenen Gesetze befreien und ermöglicht damit jederzeitige Änderbarkeit des Rechts; ebenfalls erhält die Demokratie ihren Sinn, indem sie als die neueste Form gilt, die Risiken der Rechtsänderung abzufangen.13 Erinnert man sich an das Wesen des Rechts in der Bindung bzw. in der Einschränkung des Verhaltens, erkennt man auch, dass die Möglichkeit der Rechtsänderung keineswegs selbstverständlich ist. Sie ist in der Tat hoch unwahrscheinlich. Man muss die Risiken aus der Änderung abfangen können. In der traditionellen Gesellschaft orientiert man sich an der Stabilisierung bzw. Vergangenheit (Anfang) und hat das Problem mit der verändernden Variation des Rechts. Das Recht bleibt stets das Recht,14 es kann nicht Unterstützung nicht aus der evolutionären Sackgasse der multifunktionalen Institu tionen ausgehen kann; vgl. GdG, S. 638–640. 10 Vgl. SS, S. 407; GdG, S. 37. 11 SS, S. 492; vgl. SS, S. 10 f. 12 Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: ders., AdR, 1981, S. 119. 13 Luhmann, Evolution des Rechts, in: AdR, 1981, S. 23–24. Hinsichtlich der Einstellung zur Rechtsänderung und der Zeitorientierung stellen die Demokratie in der Antike und die in der Moderne in der Tat geradezu einen direkten Widerspruch dar; von der antiken Demokratie als Vorbild für die moderne Demokratie kann wohl gar keine Rede sein. 14 Ps 94, 15 (Luthertext): „Denn Recht muss doch Recht bleiben, und ihm werden alle frommen Herzen zufallen.“
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zum Unrecht werden und „am Anfang war kein Unrecht.“15 Die moderne Gesellschaft richtet sich umgekehrt an der Variation bzw. Zukunft aus und bekommt das Problem der Stabilisierung. Dabei scheint die Variation immerfort mit der Seite des Unrechts verknüpft zu werden und „am Anfang war Unrecht, Gewalt und Betrug.“16 Demnach wird das Recht bei Luhmann deutlich auf Evolution – nicht auf Prinzip bzw. Grund – aufgebaut, wobei es auf Differenzsetzung und deren Änderung ankommt: Stabilisierung und Variation. Es geht nämlich um die (Aus-)Differenzierung des Rechts und genau dafür wird in der Geschichte das Naturrecht erfunden und gebraucht. Das Naturrecht steht Luhmann zufolge nicht dem positiven Recht, sondern dem traditionellen Recht kritisch gegenüber. Es ist nämlich die Natur, die als „ein neues Prinzip der Invarianz und Unverfügbarkeit“ eingeführt wird17; das überlieferte Recht kann dann auf die Natur zurückgeführt werden, sie gilt als Grund des Rechts überall und einheitlich. Aber dieses Naturrecht selber kann gerade nur durch ein vergleichendes Bewusstsein erkannt werden, es erweckt ja dieses Bewusstsein. Die Natur gilt als ewig und invariant, aber deshalb tritt die Alternative bereits in Augenschein. Man könnte sagen: Mit Natur wird nach wie vor die einwertige Ontologie behauptet, dass nur die positive Seite das Sein hat. Aber doch taucht das Kontingenzproblem schleichend bereits auf. Der Naturbegriff ist in sich ambivalent, mit ihm kann man das überlieferte Recht sowohl begründen als auch kritisieren. Entscheidend ist aber, dass der Naturbegriff der Variation des Rechts und damit der Differenzierung des Gesellschaftssystems dient. Die Evolution des Rechts mündet später mit Natur geschichtlich in die Kontingenz des (positiven) Rechts.18 Die Natur (Grund) des Naturrechts ermöglicht die Variation des Rechts, das Recht des Naturrechts führt dann zur Institutionalisierung des positiven Rechts. In dieser evolutionären Beziehung steht das Naturrecht nämlich für das Rechtsdenken einer „hierarchischen Ordnung von Rechtsquellen“ und mit der Unterscheidung von lex divina, lex aeterna, lex naturalis, lex humana oder lex positiva kann das niedrigere Recht durch das höhere Recht – mit der 15 Luhmann,
Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., GuS 3, 1998, S. 24. Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., GuS 3, 1998, S. 49. 17 Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft (1970), in: ders., AdR, 1981, S. 120. 18 Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: ders., AdR, 1981, S. 119–120. Als Luhmanns Beispiele des kritisierenden Naturrechts gelten die Sophisten und das reformerische Kirchenrecht. Das Naturrecht ermöglicht zwar die Variation des Rechts, es bedeutet aber zugleich „ein Symptom für das mangelnde Vertrauen in die effektive und hinreichend komplexe Organisation sozialer Prozesse“ und „Leugung der Eigenleistung des sozialen Systems der Gesellschaft bei der Konstitution von Recht“ (Luhmann, ebd., S. 120). 16 Luhmann,
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Differenz von Oben / Unten – begründet werden; daraus erhält das Rechtssystem „einen hierarchisch strukturierten Variationsrahmen des Rechts“; dies läuft dann wiederum auf „die Institutionalisierung des positiven Rechts“ hinaus.19 Die Pointe des Mechanismus der Positivierung des Rechts scheint demnach darin zu bestehen, dass man „die Vorstellung einer Hierarchie von Rechtsquellen und Rechtsmaterien […] unter dem Schirm des angeblich invarianten höheren Rechts“ benutzt, um die „Ausbreitung des variierbaren positiven Rechts“ zu betreiben.20 Man legt also ein höchstes, grundlegendes und invariantes Prinzip in eine hierarchische Ordnung, um eben diese Ordnung intern zu variieren (setzen und ändern). Vor diesem Hintergrund gewinnt die politische Gesetzgebung historisch den Primaten und verkörpert nun das höhere, positivierte Recht. Zu dieser Entwicklung parallel laufend wird der Rechtsgrund „aus der Tradition in die Transzendenz, praktisch also in die Ebene theologisch disputierbarer Prinzipien“ verlegt, damit wird das Variationsproblem des Rechts sozusagen in das (theologische) Kontingenzproblem des Rechts verwandelt und insofern kommt bereits „alles Recht als kontingent“ vor, weil die Verlegung von der Tradition auf die Transzendenz (irgendwelcher Prinzipien) auf die „Vorstellung göttlich gesetzten Rechts als höchster Form des Rechts“ hinweist; dabei kann Gott es aber immer ‚zugleich anders sein‘ lassen, die politische Gesetzgebung hat also eine „Verunsicherung des Rechtsgefüges“ zur Folge.21 Wenn man also auf die Tradition als Grund verzichtet, dann kann man den letzten Grund nur bei Gott sehen; aber eben erst mit Gott erreicht man eine totale Variierung bzw. absolute Kontingenz. Dies bedeutet, dass man sich auf das Naturrecht auch nicht mehr verlassen kann. Stattdessen wird mit Kontingenz nun die binäre Codierung mit ihrer Paradoxie als Grundlage des Rechts gefragt. Die moderne Staatsordung entsteht eben innerhalb und aufgrund dieser kontingenten Welt, die keine Gewissheit in irgendeiner Substanz mehr findet. Als ein „modus vivendi“ ist diese Ordnung sozusagen unvermeidlich: Mit Bezug auf das Staatsrecht hat die Politik nichts mehr für die „theoretische Schlichtung des Streites der Othodoxien mit religiösem und moralischem Anspruch“ übrig und durch das Privatrecht gilt die „politische 19 Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: ders., AdR, 1981, S. 121. 20 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechtssystems, in: ders., AdR, 1981, S. 25. Dem zugrundeliegenden Modell wird man noch bei der Verfassung und den Menschenrechten begegnen, immer im Rahmen von Kontingenz und Autopoiesis. 21 Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: ders., AdR, 1981, S. 121 f. Die Positivierung des Rechts hat also einen theologischen Hintergrund. Vgl. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1999 (1965), S. 27: Naturrecht und Legeshierarchie sind „nicht mehr als Glaubensartikel“.
I. Ansatzpunkte der systemtheoretischen Rechtstheorie bei Luhmann225
Schlichtung des Streites der Interessen“ als belästigend und überflüssig. Der Staat – ja das politische System – wird genau vor dem Hintergrund der voranschreitenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft „ausdifferenziert, konstitutionalisiert und schließlich demokratisiert“. Dazu parallel findet die Individualisierung ihre massive Entfaltung und nun wird auch die Freiheit als Rechtsposition formuliert.22 Am Ende wird die Produktion des Rechts „zur laufenden Routineangelegenheit des Staatslebens“ und die Grundrechte bringen auch in diesem Zusammenhang die „Umorientierung vom alten ethischen Bindungsdenken zu einem neuen Anspruchsdenken“ zum Ausdruck.23 Man könnte hier sehen, dass die Einrichtung der modernen Staatsordnung eine strukturelle Schlüsselrolle für die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme innerhalb der Gesellschaft spielt. Mit Errichtung des Staates werden gegenüber der Politik zugleich Religion (Kosmologie) und Wirtschaft (Gesellschaft der Privatpersonen) jeweils als besonderer Bereich ausdifferenziert und abgegrenzt; dementsprechend wird nur vor dem Hintergrund der Staatsordnung die Freiheit als Rechtsposition formuliert. Das Individuum wird mit Freiheitsrechten ausgestattet, es steht nun aber außerhalb der Gesellschaft. Das Individuum tritt dann erst anhand seiner Freiheitsrechte wieder in die Gesellschaft ein und nimmt an Subsystemen wie Religion und Wirtschaft teil.24 Die Staatsordnung bedeutet gleichzeitig die Ausdifferenzierung der Politik selber zu einem autonomen Funktionssystem, wodurch die politische Macht ausschließlich in dem politischen System konzentriert wird. Umgekehrt kann man nicht mehr mit politischer Macht die Wahrheits- oder Wirtschaftsfrage beantworten. Die gesamte Gesellschaft wird entpolitisiert, indem das politische System sich ausdifferenziert und zugleich nur ein Funktionssystem unter anderen darstellt. Die Rechtsevolution läuft also mit der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft zusammen und mit der internen Differenzierung (in Staatsrecht und Privatrecht) fungiert das Rechtssystem wie ein Vermittler zwischen Politik und Gesellschaft. Dies geschieht aufgrund der funktionalen und 22 Alle Zitate, Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechtssystems, in: ders., AdR, 1981, S. 42. Übrigens verhindern die Kasernierung der Gewalt durch das Staatsrecht und die variationsreichen Handlungsmöglichkeiten aufgrund des Privatrechts den direkten Rückgriff auf Gewalt (vgl. Luhmann, Rechtszwang und politische Gewalt, in: ders., AdR, 1981, S. 172). 23 Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., AdR, 1981, S. 25; Luhmann, Grundrechte als Institution, 1999 (1965), S. 27. Man könnte von der Umstellung von der Reziprozität auf die subjektiven Rechte sprechen. 24 Hierin sieht man die Pointe des subjektiven Rechts. Diese Evolution mündet nun in die ‚Rechtslethargie‘, eben weil das subjektive Recht das Individuum anscheinend nicht mehr mit der Gesellschaft koppeln kann, darin könnte auch die Krise der Staatsordnung bestehen. Darüber ist in E. III. 3. noch auszuführen.
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entpolitisierenden Differenzierung der Gesellschaft. Immer anhand irgend eines unabänderbaren Rechts – Ursprung, Anfang, Grund, Natur, Vernunft usw. – wird die Rechtsänderung ermöglicht, so dass man mit dem Recht Vergangenheit und Zukunft überbrückend verbinden und für die Verhaltenserwartung die „temporären Stabilisierungen“ erreichen kann.25 Das Rechtssystem entwickelt sich dann zu einem ‚selbsttragenden‘ System, indem es „eine neue Ebene der Komplexität erreicht hat, die sich kraft ihrer eigenen Möglichkeit trägt – bis zum Beispiel das Recht so komplex und die Möglichkeiten der Rechtsänderung so vielseitig geworden sind, daß mit diesen Selektionsmöglichkeiten politisch balanciert werden kann und nicht mehr die Tatsache, daß überhaupt Recht geändert werden soll, bereits ein schwieriges politisches Problem darstellt.“26
Das Rechtssystem vollzieht also einen re-entry, es wird positiviert, ausdifferenziert und selbstreferentiell. Es trägt sich nun. Das Recht reguliert seine eigene Setzung und Änderung (Autopoiesis) in einer entpolitisierten Gesellschaft, ohne notwendigerweise eigens politische Aufregung hervorzurufen. Mit der Selbstvariation des Rechts muss man aber das Unrecht – eigentlich die Änderung des Rechts selber – ins Recht einbringen und im Recht unterbringen. Das bedeutet, dass sich das Recht intern mit der Negation bzw. Kontingenz – Theodizee des Rechts – abfinden können muss. Die Risiken der Rechtsänderung angesichts der Erwartungssicherheit müssen aber auch extern balanciert werden, und zwar durch die Politik (Demokratie), so dass die Rechtsänderung keine politischen Schwierigkeiten verursacht. In diesem Spannungsverhältnis wird das Recht verständlicherweise mit der Politik enger gekoppelt als mit anderen Teilsystemen, was im Betrieb der modernen Gesetzgebung und Verfassung seinen Niederschlag findet. Das Recht stellt von daher eine zweite Codierung der politischen Macht dar.27 Versucht man den Vorgang der Evolution des Rechts gedanklich zusammenzufassen, erscheint die Evolution als ein lang anhaltender Umkehrungsprozess des Verhältnisses von Einfachem und Mannigfachem. Zuvor wird das Komplexe mit dem Einfachen begründet, jetzt muss das Einfache durch das Komplexe erklärt werden: „Das Einfache muß aus dem Komplexen erklärt werden (als Reduktion) und nicht umgekehrt“, es kommt nicht mehr auf „etwas Einfaches“, sondern auf „in sich hochkomplexe Einheiten“ in einer Ordnung an, durch die erst jene Einheiten „für selektive Relationie25 Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., AdR, 1981, S. 25. Das Recht wird stets auf Zeit bezogen. 26 Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., AdR, 1981, S. 25. 27 Vgl. PdG, S. 55.
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rungen“ als Einheiten gelten.28 Man sieht auch für das Rechtssystem dieselbe Ordnungsvorstellung von Einheit und Mannigfaltigkeit in der Theorie des autopoietisch selbstreferentiellen Sozialsystems. Ebenfalls orientiert man sich ontologisch zuvor an dem Seienden, das nicht nichtseiend ist. Mit dem Prinzip ‚Ens et Verum et bonum convertuntur‘ sucht man in der Handlung „feste (nicht nichtseiende) Momente“, nämlich den Zweck, der als Wahrheit gilt; jetzt aber richtet man sich nicht mehr aus „an dem, was nicht ist, sondern an dem, was auch anders sein könnte“.29 Der Verzicht auf das Einfache sowie die Anerkennung des Nichtseienden bilden zusammen die deontologisierende Folie für das Rechtsverständnis bei Luhmann. Damit werden in der Rechtsevolution die Probleme von Einheit / Relation sowie die Probleme von Existenz / Gedanke angesprochen, die die Paradoxie des Rechts betreffen. Das positive Recht stellt sich als eine evolutionäre Errungenschaft des umkehrenden Vorgangs dar und seine Begründung wird von dem Einfachen auf das Komplexe, von außen auf innen umgestellt. Diese Verlagerung des Grundes ist auch angesichts der Funktion des Rechts in der Aufrechterhaltung der Verhaltenserwartungen nachzuvollziehen. Es scheint nämlich naiv zu sein, wenn man sich angesichts der riesigen Menge der unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten bzw. heterogenen Verhaltenszumutungen immer noch auf irgendeinen Grund berufen möchte, um das Recht als enttäuschungsfeste Verhaltenserwartung zu begründen. Die Erfüllung der Aufgabe des positiven Rechts soll nun in der Selbstreferenz und binären Codierung des Rechtssystems erfolgen.
28 Vgl. Luhmann, Konflikt und Recht, in: ders., AdR, 1981, S. 93 u. Anm. 2. Das Einfache bezieht sich zum Beispiel auf „invariante Gegebenheiten“, „unendlich ferne coincidentia oppositorum“, „zeitlich invariant und sachlich alternativlos“, „die Vergangenheit […] als Symbol seiner Unabänderbarkeit“, „das Feste“, „feststehende, konkret überlieferte ethische Institutionen“, „konkurrenzlos anerkanntne Statusordnungen“ und „Vorgabe invarianter Normen“ (dazu siehe ders., AdR, 1981, S. 28, S. 78, S. 119, S. 145, S. 149, S. 151). Das Komplexe erscheint in Gestalten wie „das Bewegliche“, „Risiko unkontrollierbarer Fluktuationen“ sowie „gesellschaftliche Vorgabe variabler Problemstellungen“ (dazu ebd., S. 145, S. 149, S. 151). 29 Luhmann, Wahrheit und Ideologie, in: ders., SA 1, S. 57. Zu der einwertigen Ontologie siehe ders., GdG, S. 900 ff. Was nicht nichtseiend ist, verdrängt die Negation und zeigt keine Korruption auf. Man sieht dabei nochmals Luhmanns Kritik an Webers und Parsons Handlungsbegriff (vgl. SS, S. 191 f.). Man könnte das Prinzip „ens et verum et bonum convertuntur“ auf das Prinzip „ens et unum convertuntur“ (Singularismus bei Schmitz) beziehen, indem mit dem ersteren die Negation und damit die Relation ausgeschlossen werden, während das letztere ebenfalls zur Abwertung der Relation führt. Man beachte aber einmal mehr, dass der Relationsbegriff bei Luhmann zusammen mit dem Differenzbegriff ambivalent ist.
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2. Begrifflichkeit der Paradoxie des Rechts Um Luhmanns These der Paradoxie des Rechts nachzuvollziehen, soll es außer dem Negationsbegriff ebenso ausschlaggebend sein, die Begriffe wie Rechtscode, Rechtswert, Rechtsbegriff, Rechtssystem sowie Nichtrecht deutlich voneinander zu trennen. a) Rechtscode und Norm Die Positivierung des Rechts hat die Kontingenz des Rechts zur Folge. Dies bedeutet nicht nur, dass das Recht änderbar ist, sondern mehr noch, dass das Recht immer zugleich anders sein kann. Dementsprechend wird auch der einwertige Grund des Rechts nach Luhmann in den zweiwertigen Code Recht / Unrecht verwandelt, um das Recht binär zu codieren. Der binäre Code stellt eine soziale Struktur dar, erzeugt eine spezifische Differenz für das Rechtssystem und gibt eine eigentümliche Differenzerfahrung wieder. An dieser Differenz, der Unterscheidung von Recht oder Unrecht, orientieren sich die Rechtskommunikationen, wodurch das Recht die Stabilisierung der Verhaltenserwartung aufrechterhalten und seine allein zuständige Funktion in der modernen Gesellschaft erfüllen kann. Die Aufstellung, Verwendung und Aufrechterhaltung der Recht / UnrechtDifferenz ist keineswegs leicht und selbstverständlich. Vor allen Dingen soll man diese Differenz (rechtmäßig / rechtswidrig) von der anderen Differenz von normmäßig / normwidrig sorgfältig trennen und sehen, dass man sowohl im Recht als auch im Unrecht normgemäß oder normwidrig handeln kann. Auch im Unrecht stellt man Normprojektionen auf, immer behauptet man diese und bestreitet jene Verhaltenszumutung; und eventuell enttäuscht man eine Normerwartung schwer, wenn man jeden rechtgemäß behandeln muss, der aber rechtswidrig gehandelt hat.30 Man könnte sagen: Alle sozialen Bereiche haben ihre eigenen Normen, das Recht an sich ist aber keine 30 Die Unterscheidung und der Konflikt zwischen Recht und anderen Normen (Moral, Sitte) liegen deshalb nicht so sehr in den inhaltlichen Bestimmungen, sondern eher in den verschiedenen Codierungen. Die Unterscheidung von Recht / Unrecht durchkreuzt die Unterscheidung von gut / schlecht (böse), die beiden Unterscheidungen decken sich nicht mehr. Mit der weiteren Codierung von Recht durch die Differenz von erlaubt / verboten wird das Recht noch weiter von der Moral abgelöst, das Gute kann dann verboten und das Schlechte kann erlaubt werden (vgl. SS, S. 511). Schließlich verliert die Moral die Kontrolle über den Einsatz des Rechtscodes und das Recht wird also amoralisch (moralisch neutral). All dies ist nur schwer auszuhalten und bedeutet eine kaum zu überschreitende Schwelle für die Evolution des Rechts. Dass für viele Leute und viele Kulturkreise schon der Rechtsgebrauch als unmoralisch bewertet und im Allgemeinen abgewertet wird, ist durchaus nachvollziehbar und sogar moralisch geboten.
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Norm. Die Norm als soziale Struktur bringt die Differenz von Erfüllung und Enttäuschung mit sich, hierin liegt die Normativität. Als Beobachten erster Ordnung stabilisiert die Norm damit die Verhaltenserwartung; der binäre Code des Rechts stellt „ein Beobachten zweiter Ordnung“ dar und „überformt“ somit alle Normerwartungen.31 Die Differenz von Erfüllung und Enttäuschung soll also anhand der Differenz von Recht und Unrecht geprüft werden. Man könnte sogar sagen, dass die Rechtskommunikation als eine eigenständige soziale Kommunikation erst mit dieser zweiten Differenzierung ihren Anfang nimmt. Dabei fragt man nun einzig und allein danach fragen: Recht oder Unrecht? Für die Beantwortung werden entsprechende Programme entwickelt. Die Frage nach normmäßig / normwidrig bleibt zwar notwendig, ist aber sekundär. Ebenso wichtig ist es, im Auge zu behalten, dass mit dem Rechtscode die negative Seite – die Normenttäuschung bzw. das unangenehme Unrecht – kommunikabel wird.32 Der binäre Code des Rechts tritt an die Stelle der Grundnorm und gründet das Rechtssystem als ein ausdifferenziertes und eigenständiges Kommunikationssystem. Die binäre Codierung des Rechts weist dabei eine historisch evolutionäre und eine logische Dimension auf, insofern enthält die Systemtheorie des Rechts zugleich eine geschichtliche Logik des Rechts: die „Entfaltung der Tautologie“ des Rechts (Enttautologisierung) und „Auflösung der Paradoxie“ des Rechts (Entparadoxierung) bei Luhmann.33 Das Recht stellt eine soziale Erwartung bzw. Struktur dar, die mit einzelnen Handlungen in einem Verhältnis von „gegenseitiger Ermöglichung“ steht. Und eben aufgrund dieses Verhältnisses ist die Ordnung nicht mehr „auf einen von ihr unabhängigen Anfang zurückzuführen“; es sind vielmehr „relativ zufällige Handlungsereignisse“, die durch ihr Geschehen erwartungsbildend wirken, wodurch das Anschlussgeschehen weniger zufällig abläuft.34 Man könnte sagen, dass die Identitätsbildung evolutionär mit dem Zufall beginnt; der Anfang ist ja Zufall. Dann nur „mit Hilfe eines Gedächtnisses können Erstvorfälle das System binden“.35 Dadurch entfaltet sich die Identität mit binären Schemata zur Bindung bzw. Normativität.36 31 RdG,
S. 166. Definition der Rechtswissenschaft als eine Normwissenschaft genügt dann offenbar nicht, weil es, zugespitzt formuliert, nicht um die Normen, sondern schlicht nur ums Recht, Recht / Unrecht, geht: Wer steht im Recht und wer im Unrecht? Der normativistische Ansatz der Rechtstheorie ist demnach fragwürdig. 33 RdG, S. 168. Zu den Begriffen von Tautologie, Paradoxie sowie Negation, vgl. B. I. 3. b). 34 SS, S. 398. 35 SS, S. 504. 36 Vgl. RdG, S. 128. 32 Die
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Nach dieser Ordnungslogik fängt das Recht ebenfalls mit dem Zufall an.37 Mit einem zufälligen Fall und dessen Verarbeitung wird zuerst das Recht – auch zufällig – in die Welt gesetzt. Der Anfangspunkt wird gesetzt, die Handlung erfolgt schlicht ohne jede Beobachtung; später setzt die Unterscheidung von Handlung und Beobachtung ein und man gewinnt Distanz.38 Das Recht kann nun emphatisch bestätigt und damit verdoppelt werden. Es wird nämlich in eine Tautologie verwandelt: „Recht ist Recht“.39 Man sieht hier die Identität als reflexive Relation, mit Luhmann würde man sagen: die Selbigkeit des Rechts. Aber der Bestätigung steht wieder der Widerspruch gegenüber, da das Recht des einen gleichfalls das Unrecht des anderen meint. Man beachte hier einmal mehr vorsichtig, dass der eingebrachten Negation (Nein, Widerspruch) nichts entspricht. Das Recht wird jetzt „durch Einfügung einer Negation“ in Paradoxie umformuliert: „Recht ist Unrecht“.40 Doch sowohl die Tautologie (a = a) als auch die Paradoxie (a = b (nicht a)) weisen nach wie vor das identische Recht, dieselbe Identität desselben Rechts, auf. Das Recht bleibt inhaltlich identisch, es nimmt weder zu noch ab. Nur sein Existenzzustand (Geltung) wird dabei geändert.41 Wenn man weiterhin die Tautologie und die Paradoxie zusammenfasst, dann ergibt sich „ein logisch verbotener Widerspruch“: Recht ist sowohl Recht als auch Unrecht.42 Dieses logische Problem manifestiert, dass Recht und Unrecht bis zu dieser evolutionären Phase aufgrund derselben Identität noch zirkulierend ineinander übergehen können, und dies könnte bedeuten, dass die Negation nicht fest reguliert wird. An diesem Punkt spricht man wohl besser nicht von Widerspruch, sondern von logischer Antinomie des Rechts, in der letzteren besteht die ‚unerträgliche Einsicht‘ der fundamentalen Paradoxie des Rechts: Recht sei 37 Zu der folgenden Ausführung über die (tautologische bzw. paradoxe) Entfaltung des Rechtscodes siehe Luhmann, RdG, S. 165–170. 38 Vgl. SS, S. 407. Jede Handlung bzw. Operation setzt einen Punkt als Anfang in die Welt, weil jedes Ereignis eine minimale Neuheit mit sich bringt (vgl. SS, S. 390 f.). Mit ‚Anfangspunkt‘ wird hier nicht ein zeitlich bestimmbarer, messbarer Anfang gemeint. Man könnte in dem einsetzenden Zufall ‚die Identität im Urbild‘, in der späteren Differenz von Handlung und Beobachtung die Identität als reflexive Relation sehen. 39 RdG, S. 168. Man beachte, dass die Selbstreferenz sich auf die Ebene der Rechtswerte bezieht. 40 RdG, S. 168. 41 Logisch streng genommen soll man sagen, dass die (synthetische) Einheit, eben das Selbst des selbstreferentiellen Rechtssystems, ‚dieselbe‘ Einheit bleibt. Wegen der identifizierten Bestimmungen (mithilfe der Programme) wird die Identität zusammen mit Existenz (Geltung) geändert. Das Problem kann hier aber vorläufig übergangen werden. 42 RdG, S. 168.
I. Ansatzpunkte der systemtheoretischen Rechtstheorie bei Luhmann231
(nicht) Unrecht.43 Daraus resultieren dann alle weiteren Variationen der Paradoxie des Rechts. Darauffolgend muss diese Antinomie „durch Konditionierungen ausgeschlossen“ werden, dies heißt ja mit den programmierenden Unterscheidungen, womit Recht und Unrecht nicht mehr ineinander übergehen, sondern beide jetzt einen relativ stabilen Widerspruch – ein „Relationsgefüge“ als gesellschaftliche Struktur – darstellen, genau den binären Rechtscode: Recht ist Recht und Recht ist kein Unrecht. Die Tautologie wird somit entfaltet und die Paradoxie aufgelöst. Für die Praxis bedeutet dies, dass die fundamentale Paradoxie als „Heiligtum des Systems“ im Gericht als Zentrum des Rechtssystems behandelt – ‚gepflegt‘ – wird.44 b) Codewerte des Rechts und Rechtsbegriff Um die innere Struktur des binären Codes deutlicher zu machen, soll man zwischen dem Rechtsbegriff und den Rechtswerten ausdrücklich unterscheiden. Das Begriffspaar Recht / Unrecht bezeichnet nach Luhmann zum einen die „Eigenwerte des Rechts“, beide Werte funktionieren im Rechtssystem als „das Universalschema rechtsimmanenter Wertung“; zum anderen ist die binäre Codierung selber moralfrei, wobei aber das Recht als ein Gegenstand doch moralisch bewertet (und kritisiert) werden kann.45 Offenbar muss man die Rechtsbestimmung (Rechtsbegriff) von der Recht / Unrecht-Differenz trennen und nur das erstere kann moralisch bewertet werden, die Rechtswerte sind als solche moralfrei. Nur mithilfe dieser begrifflichen Unterscheidung als Voraussetzung können die Wertbegriffe Recht / Unrecht so unmittelbar miteinander verbunden werden: „Recht und Unrecht greifen immer komplementär ineinander. Sie treten immer zu zweit auf“; und eben dadurch kann der Rechtscode ein „hohes Maß an Formalität und Technizität“ erzielen.46 Die Rechtswerte treten demnach nicht einseitig, sondern immer zweiseitig auf. Dadurch bilden sie die Paradoxie des Rechts. Im Hinblick auf das Recht besagen sie – Recht und / oder Unrecht – schlicht nichts Inhaltliches, sie umfassen alles, aber ihnen entspricht nichts in der Welt. Man könnte auch ‚das Formale des Rechts‘ in dem binären Code liegen sehen.47 Und nur daraus resultiert der nötige Hochstand der Forma43 Vgl.
RdG, S. 485: „die Grundparadoxie der Selbigkeit von Recht und Unrecht“. S. 320. Sich an die Terminologie von Wiethölter und Teubner anlehnend könnte man von „ ‚Rechtspflege‘ als Pflege der Rechtsparadoxie“ sprechen (siehe Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien, 2003, S. 25). Aber man frage sich doch einmal, was denn im Heiligtum des Rechts verschlossen und unsichtbar gehalten wird? 45 Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 173. 46 Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 175. 47 Wenn man das Formale der formalen Logik sucht, nämlich die abgrenzende Linie gegenüber allen Inhalten (vgl. Hoyningen-Huene, Formale Logik, 1998, S. 23– 44 RdG,
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lität und Technizität, um dann durch die weitere Institutionalisierung die Funktion des Rechtssystems zu erfüllen und der Sicherheit des Verhaltenserwartens zu dienen, eben weil nun alles entweder im Recht oder im Unrecht ist. Bei der Sache des Rechts weiß man entweder im Voraus, auf welcher Seite man sich befindet; oder man muss im Fall eines Streits seinen normativen Anspruch durchsetzen. Mit der Differenzierung von Rechtsbegriff und Rechtswerten – eine Besonderheit der Systemtheorie gegenüber der Handlungstheorie – wird eine theoretische Scheidelinie gezogen. Alexy sieht im Hinblick auf das Recht auch die Trennung von Geltung und Begriff, allerdings hält er es für notwendig, die Geltung in den Rechtsbegriff einzuschließen. Er befürwortet daher einen nicht geltungsfreien Rechtsbegriff, um das Problem des Verhältnisses von Recht und Moral nicht in dem Sinne zu trivialisieren, dass man mit einem geltungsfreien Rechtsbegriff alle inhaltlichen Bestimmungen erlaubt und sich dabei zugleich mit dem logischen Nichtwiderspruch schon zufrieden gibt. Hierbei umfasst sein Rechtsbegriff Setzung, Anwendung und Durchsetzung von Recht, fast könnte man sagen: das ganze Rechtssystem.48 Mit der Feststellung, man könne sich widerspruchsfrei ein niemals in Kraft tretendes Rechtssystem vorstellen, interessiert man sich offenbar nicht weiter dafür, ob und wie in einem, wenn auch nur so vorstellbaren Rechtssystem, Recht und Unrecht unterschieden wird. Und mit dem genannten nicht geltungsfreien Rechtsbegriff wird dieser in der Tat mit dem positiven Rechtswert gleichgesetzt; die negative Seite – das Unrecht – wird nicht gesehen, nicht anerkannt und angenommen, sie wird mit Moral gedeckt und somit ‚beseitigt‘.49 27), dann könnte man in der klaren Unterscheidung von Existenz und Bedeutung suchen; außerdem könnte man das Formale nicht auf die Logik und Mathematik beschränken, da zum Beispiel auch die Poesie ihre formale Dimension hat. 48 Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 2002, S. 44 ff. 49 Unrecht bedeutet dann potentiell Unmoral. Obwohl Freges Satz „Die Gedanken sind weder Dinge der Außenwelt noch Vorstellungen“ als sein philosophischer Grundsatz gilt, zieht Alexy daraus eine andere Konsequenz als bei Luhmann. Von Freges ‚Gedanken‘ scheint für Alexy die Existenz nicht getrennt zu werden (vgl. Alexy, Antworten in „Philosophischer Wegweiser“, 2010, S. 10 f.). Auch Habermas bezieht sich auf Freges Satz. „Wir sind nicht Träger der Gedanken, wie wir Träger unserer Vorstellungen sind“ (siehe Habermas, Faktizität und Geltung, 1997, S. 25). Er sieht aber dann den Träger der Gedanken in der Sprache und beschwört weiter die Einheit von Gedanken (Bedeutung) und Existenz (Geltung). In der Tat fällt es nur schwer, den nicht geltungsfreien Rechtsbegriff loszuwerden. Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, 2011, S. 58 f., schreibt: „Codierung ist ohne Programmierung nicht denkbar. Letztere füllt erstere mit Inhalt; nur gemeinsam ermöglichen sie die Einheit eines autopoietischen Systems.“ Dann wird der Rechtscode als „zeitliche Invarianz“ bezeichnet und die „Differenz von Änderbarkeit und Nichtänderbarkeit“ auf die Rechtsprogramme bezogen (Schulte, ebd., S. 59). Bei Luhmann kenn-
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Bei Kelsen taucht das Unrecht als Thema – im Zusammenhang der Staatsrechtstheorie – immerhin auf und mit dem Unrecht wird zugleich, anders als bei Alexy, ein logischer Widerspruch gesehen, wenn man dabei von der Rechtsordnung als Staatswille ausgeht. „Die einheitliche Staatsperson soll somit zugleich das Recht und dessen Negation wollen, ein unmöglicher Widerspruch! Mit der Annahme eines Staatsunrechts gerät die Theorie in die gleichen Schwierigkeiten, die der Theologie im Problem der Theodizee begegnen: Wie kann Gott, dessen Wille das Gute ist, die Sünde, das Böse wollen?“50
Es besteht nämlich eine Parallelität zwischen Jurisprudenz und Theologie „mit dem Problem des Unrechts im System des Rechts, des Bösen im System des Guten, des Irrtums im System der Wahrheit“.51 Allerdings findet Kelsen die Lösung der Theodizee des Rechts in dem Institut der Rechtskraft, indem es gegenüber dem letzten Urteil der höchsten Instanz gar „keinen Justizirrtum, kein Staatsunrecht“ gibt.52 Um dieses Ziel zu erreichen, muss Kelsen zufolge entweder der Staat dem Recht untergeordnet werden oder die Existenz des Staats als eine natürliche Realität, die als Natur bzw. Sein den Normen gegenübersteht, geleugnet werden. Der Staat ist daher allein als Staatsperson aufzufassen, die die Rechtsordnung dem Staat verleiht; er kann höchstens dem Recht gleichgesetzt, aber nicht als eigene Realität entgegengesetzt werden.53 zeichnet die Änderbarkeit die Positivität des Rechts, was in der Negation und daher in der Differenz der rechtlichen Codewerte zum Vorschein kommt. Man muss also in die „zeitliche Invarianz“ die variierende Dimension fügen und Code und Programm doch denkbar auseinanderhalten. Zum Beispiel behält die Moral ohne ausgeprägte Programme immer den Moralcode. Sonst bleibt man mit dem vermeintlich untrennbaren inhaltlichen Erfüllen des Codes durch Programme schließlich implizit bei dem nicht geltungsfreien Rechtsbegriff, auch wenn man explizit auf die GrundNorm und das absolut Richtige verzichtet. 50 Kelsen, Gott und Staat, 1964, S. 50. 51 Kelsen, Gott und Staat, 1964, S. 51. 52 Kelsen, Gott und Staat, 1964, S. 51. Mit Hinweis auf Merkl soll die Unfehlbarkeit des Papstes auch eine Anwendung des Institutes der Rechtskraft auf die Gotteslehre darstellen. Dazu könnte man mit Luhmann sagen, dass die Kontingenz dadurch eingeschränkt, der Gott gebunden wird; aber dies ist der Preis, den man für die Unfehlbarkeit des Papstes bezahlt. Weiterhin soll diese Lösung mit Institut der Rechtskraft zugleich die Setzung eines Zeitpunktes bedeuten, mit dem das Urteil endgültig wird und der Fall nicht mehr verhandelt werden kann. Die Lösung stellt somit ‚die einzig richtige Lösung‘ dar. Aber wohl gerade mit der Zeit kann alles Endgültige wieder aktualisiert werden, das Unrecht behält also immer noch die Chance, rehabilitiert zu werden. Die Paradoxie des Rechts kann man nicht aus der Welt schaffen. 53 Dies ist „der rein erkenntniskritische Anarchismus“, der die Existenz des Staats verneint, so wie ein Atheist die Existenz Gottes verleugnet; die Staatsrechtslehre gilt dann als „eine reine Rechtstheorie“, genau die reine Rechtslehre (Kelsen,
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Es gilt festzustellen, dass man – sowohl mit der Moral als auch mit der Grundnorm – nach wie vor ein Zusammenfallen von Rechtsbegriff und Rechtsgeltung erwartet. Die binären Rechtswerte sind bekannt und vertraut, aber man tut sich schwer mit der Trennung von Begriff und Geltung (Normativität und Geltung) sowie mit der inneren Negation des Rechts. Daher fasst man nur das Recht (Rechtsbegriff = Rechtswert) ins Auge, da aus allen naheliegenden – praktischen und theoretischen – Gründen niemand auf der Seite des Unrechts stehen will, zumal es immer Unmoral impliziert. Den ‚Makel‘ können insbesondere die Juristen sich nicht leisten. c) Recht, Unrecht und Nicht-Recht Eng zusammenhängend mit der Differenz von Rechtsbegriff und Rechtswerten fällt das Problem ebenso schwer, die Differenz von System und Umwelt begrifflich effektiv von der Differenz von Recht und Unrecht abzugrenzen. Die traditionelle einwertige Ontologie verfügt ja bereits über eine zweiwertige Logik, diese Logik mit ihren beiden Werten dient aber der Seinsseite, auf der Gedanke und Existenz konzentriert und zusammengeschweißt werGott und Staat, 1964, S. 53 f.). Das zentrale Anliegen der reinen Rechtslehre sieht man von daher in der rechtlichen Unterwerfung der politischen Macht und mit ihr auch der Interessen der Herrschenden. Allen Bemühungen zum Trotz verbirgt sich dahinter aber die Schwierigkeit mit der gesellschaftlichen Differenzierung der Funktionssysteme und den entsprechenden logischen Problemen. Kelsen spricht im Hinblick auf die Differenz von Recht und Politik und auf deren Einheitsproblem von der „Vergewaltigung der Logik“ durch die Staatsrechtslehre, von dem „logisch-systematischen Widerspruch“, von dem „logisch unmöglichen Dualismus“ (Kelsen, ebd., S. 44, S. 46, S. 48). Daher braucht man immer eine Grundnorm, um die Einheit von Recht und Politik (aus der Perspektive eines Juristen) zu garantieren und die logischen Probleme zu ‚invisibilisieren‘. Dadurch nimmt man unabsichtlich in Luhmanns Sinne die stratifikatorische Ordnungsvorstellung in Kauf. Zudem kann man sich auch nicht damit von dem einander verschränkenden, immer umstrittenen Rangverhältnis von Staat und Recht befreien. Dagegen sieht der Ansatz von Luhmann die Lösung nicht in der Einheit, sondern in der Differenz, indem das politische System auch nur ein Funktionssystem unter anderen darstellt und die Gesellschaft insofern entpolitisiert wird. Man soll sogar deutlich aussprechen, dass die Erwartung, den Staat rechtlich zu binden, eine Illusion, bestenfalls ein frommer Wunsch ist, auf dem der Rechtsstaat fußt (vgl. Luhmann, RdG, S. 479, S. 491). Die Einheit entsteht nach Luhmann nur durch eine emergente Ordnung des sozialen Systems, nicht durch die Gründungskraft eines Grundes. In diesem Sinne bleibt die reine Rechtslehre in der ontologisch hierarchischen Ordnungsvorstellung stecken, deshalb ist das Unrecht bei Kelsen nur schwer zu verorten: Kann die Grundnorm das Unrecht erzeugen? Dazu vgl. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1993, S. 78–80; vgl. auch Luhmann, SS, S. 117, S. 162 f., Kritik an Kelsens Theorie der Grundnorm. In my opinion Kelsen cannot answer ‚the third question‘ about the ‚construction of wrong‘ (siehe A. I.).
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den. Die Seite des Nichtseins gilt höchstens als Mangel des Seins, als Irrtum.54 Die hierarchische Ordnung an sich erweist sich in diesem Zusammenhang als alternativlos. Auf diesem Hintergrund ist Recht mit Weltordnung bzw. Gesellschaft überhaupt gleichgesetzt; außer Recht gibt es nichts: kein Unrecht, kein Nicht-Recht, überhaupt keine andere Seite. „Das Unrecht ist kein Recht. Unrecht und Nichtrecht können theoretisch nicht unterschieden werden (obwohl doch nicht jedes Handeln ein Rechtsproblem aufwirft), und diese Nichtunterscheidung stützt ihrerseits den Eindruck der Unausweichlichkeit einer Rechtsordnung.“55
Diese unausweichliche Rechtsordnung heißt im Allgemeinen Naturrecht, bei ihm machen das Unrecht und das Nicht-Recht dasselbe aus. Nach Luhmann muss die Grenze von System / Umwelt aber doch von der Differenz von Recht / Unrecht klar getrennt werden, „denn es hätte zur Folge, daß alles rechtmäßige Handeln ins Rechtssystem gehörte und in dessen Umwelt kein rechtmäßiges Handeln vorkäme, und vice versa für Unrecht“.56 Da man nun im Recht(ssystem) – aus moralischen Gründen – kein Unrecht sehen kann und will, wird das Unrecht in das Nichtrecht – in die Umwelt, nämlich die Gesellschaft – ausgelagert, mit der unglücklichen Folge des Weltuntergangs. Luhmann sieht die Funktion des Rechtssystems 54 Vgl.
GdG, S. 904 f. S. 27. 56 SS, S. 510, Anm. 32. Die innere Differenz eines Codes scheint von der System / Umwelt-Differenz oft nicht genau getrennt zu werden. Mit dieser Ungenauigkeit schreibt Hennig, Luhmann und die Formale Mathematik, 2000, S. 192: „Das System differenziert sich aus, indem es die Operationen limitiert, die ‚innen‘ angeschlossen werden können. Jede solche Einschränkung ist eine Festlegung der Grenze zwischen System und Umwelt, also eine Selbstbeobachtung“. Die nicht angeschlossene Seite wird dadurch bereits mit der Umwelt gleichgesetzt. Auch im Zusammenhang der Erörterung der Paradoxie von Einheit der Form mit zwei Seiten (wahr / unwahr) schreibt Horster als Beispiel: „Der Unterrichtsforscher beispielsweise beobachtet eine ausgewählte Schulklasse in einer bestimmten Hinsicht und läßt andere Klassen, das gesamte Schulsystem, die Schulpolitik seines Landes und andere Gegebenheiten innerhalb der Klasse unberücksichtigt. Er setzt also Grenzen oder trifft Unterscheidungen. Er versetzt damit alles andere in die Umwelt, um beobachten zu können“ (Horster, Niklas Luhmann, 1997, S, 71 f.). Dadurch werden ‚alle anderen Gelegenheiten‘ in die Umwelt und damit in die Seite des Unwahren verschoben. Dies würde dann folgerichtig eine ‚unwahre Schulpolitik‘ zum Erstaunen aller herbeirufen und angesichts der Praxis der Schulpolitik kann man wohl vor dieser Konsequenz um ihre Wahrheit oder Unwahrheit gut herumrätseln. Vielleicht stellt dies eben ein Beispiel für den systemtheoretischen Unsinn von Luhmann dar: „[…] habe ich [Luhmann] das Bedürfnis, in jedes Buch mindestens einen Unsinn hineinzubringen“ (Horster, ebd., S. 46). Immerhin ist ein Unsinn bei Luhmann nicht schlicht schlimm, sondern er bildet – wie bei Deleuze – einen extremen Fall des Sinns und manifestiert dessen Unnegierbarkeit; mit seinem Unsinn-Schreiben praktiziert Luhmann selber seine Theorie. 55 RdG,
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für die Gesamtgesellschaft vor allen Dingen in der Stabilisierung der Verhaltenserwartung in der fluktuierenden Zeit, wobei die Strukturen der Gesellschaft doch Widersprüche und Konflikte – Nein und Gegennein – ermöglichen. Daraus entstehen die Risiken, dass die Konflikte in der Gesellschaft eine zerstörende Dynamik entfalten. Angesichts dieser Risiken fungiert das Rechtssystem als Immunsystem der Gesellschaft. Dabei muss das Recht aber nicht die richtige Antwort für die Beseitigung der Konflikte suchen, sondern trotz der laufend entstehenden Konflikte die autopoietische Reproduktion der Gesellschaft ermöglichen. „Das Immunsystem dient nicht der Korrektur von Irrtümern, sondern der Abschwächung struktureller Risiken […]. Es hat nicht die Funktion, falsche Auffassungen über das, was recht ist, zu eliminieren, […] sondern es ermöglicht es dem Gesellschaftssystem, mit dem strukturbedingten Risiko einer ständigen Reproduktion von Konflikten zurechtzukommen.“57
Dies soll in Luhmanns Sinne bedeuten, dass das Rechtssystem über einzelne Fälle hinausgehende generalisierte Regeln bilden können muss. Dabei bewahren die Regeln die miteinander in Konflikt stehenden, einander negierenden Auffassungen, ja auch das Unrecht in dem identischen Rechtssinn – gegenüber dem Nicht-Recht – auf. Aber anhand dieser Funktion des Rechtssystems als Immunsystem für die Gesellschaft will man immerfort das Unrecht (als das Ungerechte) aus dem Rechtssystem verbannen. „Das Recht überprüft mit anderen Worten sowohl die Normen, die es dem Recht als auch diejenigen, welche es dem Unrecht, seiner Umwelt, zugeordnet hat“.58 Man sieht hier, dass das Unrecht mit der Umwelt des Rechts abgedeckt und dadurch mit dem Nichtrecht vermengt wird. Und „bei dem, was Recht als Unrecht bezeichnet und damit der Umwelt des Rechtssystems zuordnet, handelt es sich ja ebenfalls um Kommunikationen, die demzufolge Bestandteil der Gesellschaft bleiben. Das Recht trägt im fortlaufenden Operieren also stets auch seine Umwelt, das Unrecht, als Alternativnormen im Sinne potenziellen zukünftigen Rechts mit.“59 57 RdG,
S. 567. Die Begründung der Menschenrechte bei Luhmann, 2006, S. 44. Ähnlich äußert sich Welsch, Vernunft, 1996, S. 688: Luhmann folgt der Logik von Spencer Brown mit der Anweisung ‚draw a distinction‘ und dies hat zur Folge, dass alles, „was sich der Logik dieser Unterscheidung nicht fügt und daher in die ‚Umwelt‘ des betreffenden Systems verbannt wird“, ausgeschlossen wird. Daraus ergibt sich ein „Ausschlußmechanismus“ (Welsch, ebd.) und man muss schon eine Entscheidung zwischen den theoretischen Paradigmen treffen. Die Umwelt, die bei Luhmann als Grund des Systems gilt (SS, S. 602), wird wie eine Deponie begriffen. 59 Noll, Die Begründung der Menschenrechte bei Luhmann, 2006, S. 44, Anm. 179. 58 Noll,
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Mit der Beschwörung des gerechten Rechts hat man das Unrecht in die Umwelt verlagert und macht damit die Gesellschaft zur Unrechtsgesellschaft. Gerade dadurch führt man den Weltuntergang herbei. Dies ist offenbar ein nicht gewolltes Ergebnis und hat seinen Grund in der Annahme, dass das Recht mit der Gesellschaft deckungsgleich ist. Und dies, weil man das Unrecht im Recht nicht ertragen kann und will.60 Mit dem „Tetralemma des Rechts“ – Recht (rechtmäßig), Unrecht (rechtswidrig), Rechtssystem (Recht und Unrecht), Umwelt (Nicht-Recht) – wird bei Calliess die Differenz von Recht / Unrecht von der Differenz von System / Umwelt deutlicher getrennt.61 Allerdings wird die Paradoxie bei Luhmann und mit ihr das Unrecht m. E. nicht richtig aufgefasst, wobei das System auch mit dem Systemcode vermischt wird. Calliess geht dabei von dem Problem aus, was und wie das Recht bei einem prozeduralen Rechtsparadigma reguliert, wenn nun die inhaltlichen Kriterien für die Rationalität einer Entscheidung hauptsächlich den anderen Funktionssystemen – Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw. – in der Umwelt des Rechts überlassen werden. Luhmanns Schwierigkeit mit der Paradoxie sieht er darin, dass die binären Codes der ausdifferenzierten Funktionssysteme füreinander als Rejektionswerte fungieren und dass daher eine vorgeschaltete Entscheidung dem Einsatz eines bestimmten binären Codes voran60 Da man an dem Menschen im Sinne von Subjekt und damit an der einwertigen Ontologie festhält, wird die negative Seite, hier das Unrecht, angesehen als „das Unwillkommene“ sowie als ein „Rest von Defekten, die dann der Welt oder der Gesellschaft angelastet werden mußten“ (SS, S. 108–109). Dies könnte Nolls Verständnis von Luhmann gut beschreiben. Er fasst Luhmanns Startpunkt so auf: „Das Recht hat gerecht zu sein“ (siehe Noll, Die Begründung der Menschenrechte bei Luhmann, 2006, S. 6). Allein dieses betont rechtsphilosophische Pathos könnte den kühlen Luhmann stutzig machen (dafür vgl. RdG, S. 217 f.). Und mit dem Immunsystem Recht will Luhmann m. E. den von strukturellen Störungen möglicherweise verursachten Weltuntergang nicht ausschließen oder vermeiden, wie Noll es meint (vgl. Noll, ebd., S. 44; Luhmann, RdG, S. 566). Und wenn der Weltuntergang wirklich einzutreten droht, warum soll man keine ungerechte Rechtsauffassung vertreten, um – auf der Seite des Unrechts – die Welt zu retten? Den unabsichtlichen, aus moralischen Motiven herbeigeführten Weltuntergang – eine Götterdämmerung – mag allenfalls der Luhmann, der sich bockig nennt (Gensicke, Luhmann, 2008, S. 17), sehr bedauern. Eine ähnliche Schwierigkeit mit der Abgrenzung von Unrecht zu Nichtrecht erscheint auch bei Amstutz’ Versuch, ein mögliches rückwirkendes Recht im Zusammenhang des transitionalen Rechts durch Anschluss an die latenten Erwartungen zu konstruieren, siehe Amstutz, Ex facto ius oritur, 2007, S. 253: „Im umgekehrten Fall trifft das Gegenteil zu: Retroaktives Recht ist dann Nichtrecht.“ Gemeint wird, dass, wenn die latenten, anzuschließenden Erwartungen sich nicht finden, das retroaktive Recht nicht als Recht – aber dann als Unrecht oder Nicht-Recht? – fungieren kann. 61 Calliess, Das Tetralemma des Rechts, 2000, S. 302–3.
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gehen muss. Hier wird man mit der Paradoxie der unitas multiplex der funktional differenzierten modernen Gesellschaft konfrontiert. Darin sieht Luhmann ein strukturell notwendiges, aber unlösbares, logisches Problem. Eine mögliche Lösung dafür kann man durch die Einführung der anderen Codes ins Rechtssystem auf dem Weg der Rechtsprogramme erreichen. Hierbei aber muss nach Calliess die Ebenendifferenzierung wieder herangezogen werden, dadurch kehrt das Problem der Paradoxie doch zugleich in Gestalt der Selbstanwendung des Rechtscodes zurück; und dies führt schließlich „zum Zusammenbruch der Codierung in der Gleichung Recht = Unrecht bzw. Recht, weil Unrecht“.62 Demnach stellt die Ebenendifferenzierung keine echte Lösung dar und der vermeintliche Zusammenbruch des Codes wegen der von Luhmann genannten fundamentalen Paradoxie des Rechts scheint unvermeidlich zu sein.63 Um dies doch zu vermeiden, schlägt Calliess das Tetralemma des Rechts vor, um die Differenz von Recht / Unrecht von der Differenz von Rechtssystem / Umwelt abzugrenzen, wobei mit dem Recht(ssystem) Recht und Unrecht erfasst werden. Demnach kann das Recht anhand des Verhätnisses System / Umwelt über seine Grenzen reflektieren, und zwar geht es hier „nicht um den Code Recht / Unrecht, sondern um die Systemform Recht (Innenseite) und Nicht-Recht (Außenseite)“.64 Er meint damit, die Differenz von System / Umwelt (Nicht-Recht) und die Differenz von Recht / Unrecht auseinanderzuhalten und zugleich die anderen Codes aus der Umwelt (nämlich Geld, Macht u. a.) aufgrund der Reflexion der Systemgrenze des Rechts zur Umwelt ins Rechtsystem einzuführen, ohne dass aber der Rechtscode dabei aufgehoben wird. Dadurch kann das Rechtssystem nun 62 Calliess, Das Tetralemma des Rechts, 2000, S. 298 f. Calliess scheint zugleich anzunehmen, dass Luhmann die anderen Codes (Rejektionswerte) für das ausgeschlossene, unfassbare Dritte eines binären Rechtscodes hält. Dies ist m. E. nicht der Fall. Das ausgeschlossene Dritte ist der blinde Fleck jeder Differenz, der letztendlich auf die Welt bzw. die Gesellschaft hinweist, worin auch die anderen Codes enthalten sind. Vgl. SS, S. 284: „Jede Differenz wird so zum Weltzentrum“. 63 Obwohl Calliess’ Verständnis der Formel Recht = Unrecht als Zusammenbruch des Rechtscodes und als dessen Aufhebung durch andere ins Rechtssystem eingeführte ‚Rejektionswerte‘ m. E. nicht zutrifft, nimmt er die Formel offenbar als augenscheinlich widersprüchlich wahr. Stattdessen stellt er die andere Formel auf: „Recht = Die Einheit von Recht und Unrecht = alle am Rechtscode (rechtmäßig / rechtswidrig) orientierten Kommunikationen“ (Calliess, Das Tetralemma des Rechts, 2000, S. 300). Auf das ‚Und‘ dieser Einheit geht er allerdings nicht ein. Anders als Calliess verstehe ich das Problem der unitas multiplex zuerst als Problem der operativen Kopplung der Subsysteme, die dann ins jeweilige Subsystem überführt wird und bei dem jeweiligen Code auftaucht. Ob dies zum Zusammenbruch der binären Codierung führt, hängt wiederum von dem Verständnis der Formel wie ‚Recht ist Unrecht‘, sowie ‚Wahrheit ist Unwahrheit‘ u. ä. ab. 64 Calliess, Das Tetralemma des Rechts, 2000, S. 300.
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die „zulässige Justizverweigerung“ im Sinne der „Selbstbeschränkung des Rechts“ praktizieren, indem es bei Ausübung seiner eigenen Kompetenz die funktionale Differenzierung berücksichtigt.65 All dies soll das prozedurale Rechtsparadigma zum Ausdruck bringen. Das Unrecht wird bei Calliess zwar nicht in die Umwelt (Gesellschaft) abgelegt. Aber das Rechtssystem, das sich mit der einen Differenz auf seine Umwelt bezieht, soll auch nicht mit der Einheit der anderen Differenz von Recht und Unrecht wie bei Calliess verwechselt werden. Das Rechtssystem muss nämlich deutlich von dem Rechtscode mit den beiden Werten getrennt werden; das Recht im Sinne des Rechtssystems enthält außer dem Code noch viele andere Komponenten. Noch wichtiger ist, dass nun die Umwelt keine Stellung im Rechtssystem mehr beziehen kann, wenn das Rechtssystem mit der Differenz von Recht / Unrecht gleichgesetzt wird. Die Gesellschaft als Umwelt wird ja nicht mehr mit Unrecht gleichgesetzt, aber sie wird umgekehrt draußen gelassen.66 Die Differenz von Rechtssystem und Nicht-Recht – die Einheit der Welt – soll also als solche ins Rechtssystem unter den Rechtswerten überführt werden, wobei die Gesellschaft als solche doch weiter allen Funktionssystemen zur Verfügung bleibt. Nur so kann das Unrecht in der Welt (= Differenz von System / Umwelt) seinen Platz erhalten, aber doch nicht einfach in die Gesellschaft (als Nichtrecht) verschoben werden. Dass die Unterscheidung von Unrecht und Nichtrecht von fundamentaler Bedeutung, theoretisch aber schwer zu bestimmen ist, kann man auch bei Hofmann spüren, wobei er aber die Differenz von Recht / Unrecht und die von Recht / Nichtrecht je der Entscheidungs- und der Beobachtungsperspektive zuordnet. Die Unterscheidung von Recht und Unrecht „ist mit jeder Rechtsordnung gegeben, konstituiert sie, ohne selbst […] aus der Rechtsordnung erklärt oder gerechtfertigt werden zu können“.67 Es gilt hier zuerst anzumerken, dass dieses gemeinte Gegebensein der nicht zu rechtfertigenden Unterscheidung von Recht und Unrecht die Tendenz zur Ontologisierung bei Hofmann aufzuzeigen scheint. Die binäre Codierung von Recht 65 Calliess,
Das Tetralemma des Rechts, 2000, S. 305–307. geht zwar von dem Auseinanderhalten der Differenz von Recht und Unrecht sowie der Differenz von System und Umwelt, aber in der Tetralemmamethode des Rechts gilt letzere Differenz nur als eine Weise für Umgang mit ersterer Differenz. Die letztere wird in der Tat auf die erstere reduziert. Es stimmt zwar, dass die letztere die erstere als Grundlage braucht; aber die Umwelt als Nichtrecht wird nicht mit dem Rechtscode hervorgebracht. Und die Differenz von System und Umwelt betrifft eher die Selbstbeschreibung des Rechts, die den Einsatz des Codes orientiert. Die beiden Differenzen sollen nicht aufeinander zurückgeführt, aber übersetzend aufeinander bezogen werden. 67 Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 2000, S. 23. 66 Man
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und Unrecht erscheint bei Luhmann aber gerade als deontologisierend, wobei man das Unrecht zu verorten versuchen soll. Im Gegensatz dazu weisen nach Hofmann die beiden Seiten „in solchen ‚konträren‘ Gegensätzen“ aller funktionalen Codes einen „Richtungs- und Steigerungssinn“ auf, wodurch das Unrecht „als Inbegriff der Abweichung vom rechten Weg in der Perspektive des Frevelhaften“ gilt, das Recht „auf das Rechte als seinen Fluchtpunkt“ hinausläuft und sich als „nie ganz fassbare Perspektive“ erweist.68 Der Scheidepunkt liegt nun darin, dass die binären Funktionscodes als nomologische Differenz bezeichnet und als Parallele zu Heideggers ontologischer Differenz angesehen werden, wobei diese bedeutet, dass „das Sein des Seienden nicht selbst wieder ein Seiendes ist, sondern das Allgemeine an dem, was jeweils in besonderer Weise ist“.69 Demnach kommen die Differenz und das Sein (des Seienden) im etwas Allgemeinen vor, scheinen nämlich in allgemeinen Gegenständen bzw. Gedanken (bei Frege) zu bestehen, während sie bei Luhmann dagegen auf der Ebene der Existenz (Wirklichkeit bzw. Geltung) liegen.70 Daher spiegelt der Richtungs- und Steigerungssinn in der Tat tendenziell die einwertige Ontologie in Luhmanns Sinne wider, wobei das Unrecht zwar bezeichnet wird, aber eben nur für das Recht als Sein-Seite und das Unrecht im eigentlichen Sinne schließlich nicht ist. Des Weiteren gilt für die „streng positivistischen oder soziologischrealistischen Rechtstheorien“ aber immerhin „nicht ein konträrer [Gegensatz] (Recht-Unrecht), sondern der kontradiktorische von Recht und NichtRecht“, weil sie erst dadurch auf der Unterscheidung von Recht und anderen Funktionsbereichen wie Politik, Wirtschaft, Moral usw. beharren können, aber mit der Folge, dass sie nicht mehr in der Lage sind, „staatlich organisiertes Unrecht“ einzusehen.71. Hofmann scheint zu meinen: Nimmt man die von außen beobachtende Unterscheidung von Recht und Nicht-Recht als maßgebend an, verfehlt man die gegebene, für jede Rechtsordnung eigens konstitutive Unterscheidung von Recht und Unrecht und man kann folge68 Hofmann,
Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 2000, S. 23. Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 2000, S. 24. 70 Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 49, bezieht sich ebenfalls auf Heideggers These, „daß das Sein nicht das Sein des Seienden sei“, dabei zielt er aber auf die „destruierende Antimetaphysik“ ab. Vgl. B. I. 3. b). 71 Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 2000, S. 24. Das persönliche Schicksal von Kelsen, der trotz der Vernichtung seiner bürgerlichen Existenz aufgrund seiner positivistischen Theorie auch in den schlechtesten Regelungen des NS-Regimes das Recht sieht, gilt bei Hofmann als Zeugnis dafür (Hofmann, ebd.). M. E. sieht Kelsen bereits das Problem des Unrechts im Recht, kann es aber nicht lösen; dazu kommend führt er die Rechtsgeltung immer auf den Staat zurück, obwohl er den Staat theoretisch auf eine Rechtsperson reduziert und damit dem Recht ‚unterwirft‘. Diese Strategie erscheint angesichts seines Schicksals und des historischen Vorgangs dann eher als rhetorisch. 69 Hofmann,
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richtig das staatliche Unrecht nicht einsehen und ihm begegnen; daher ist die positivistische Position, z. B. Luhmanns definitive Unterscheidung von System und Umwelt, wenn nicht theoretisch schlicht falsch, dann mindestens nicht brauchbar. Die beiden Unterscheidungen – Recht / Unrecht und Recht / Nicht-Recht – scheinen sogar einander auszuschließen. Aber man könnte doch die Fragen melden, wie man ohne die Unterscheidung von Recht und Nicht-Recht dann der Einheit des Gegenstandes Recht(ssystem) gerecht werden und wie man Unrecht von Nicht-Recht unterscheiden und sie in Beziehung setzen kann. Dabei ist noch zu bemerken, dass mit der Betonung des Richtungssinns des Rechts gegen den Unrechtsstaat der Richtungssinn des Unrechts möglicherweise ebenfalls verstärkt wird. Dann kehrt man wieder zu der ontologischen Problematik des Unrechts zurück.72 72 Viele Autoren verfehlen m. E. eben bereits am Anfang den Ansatzpunkt der Differenzierung von Unrecht und Nicht-Recht. Sehr bezeichnend für die Juristen zitiert Dreier, Hans Kelsen und Niklas Luhmann, 1983, S. 433, Luhmanns Satz: „Denn der Geltungsgrund des positiven Rechts liegt nur noch in seiner Änderbarkeit selbst, in seiner Negierbarkeit.“ Dazu schreibt Dreier: „Damit liegt in paradox-negierender Weise der Geltungsgrund des Rechts nur noch in der Möglichkeit seiner Verneinung, also in der Möglichkeit, aus Recht Nicht-Recht und aus Nicht-Recht Recht zu machen.“ Das Unrecht wird nicht wahrgenommen und zugleich mit NichtRecht vermischt und dies ohne Verständnis für die Negation. Aber auch Ladeuer, The Theory of Autopoiesis as an Approach to a Better Understandig of Postmodern Law, 1999, S. 10, spricht mit Bezug auf „a binary code […] of the legal system“ von „distinction between law and non-law“, anders als Luhmanns Unterscheidung von right and wrong (Recht und Unrecht), siehe Luhmann, The Third Question, 1988, S. 154. Martens, Die Selbigkeit des Differenten, 1995, S. 308, spricht der Unterscheidung Recht und Unrecht den universalen Charakter ab und lässt nur die Unterscheidung von Recht und Nicht-Recht die ganze Welt abfangen, „denn alles was nicht Recht ist, ist eben Nicht-Recht“. Doch was nicht Recht ist, könnte nicht Nicht-Recht, sondern Unrecht sein. Und Menke, Subjektive Rechte, 2008, S. 83, sieht bei dem Rechtscode die Unterscheidung Recht1 und Unrecht1, die im Rechtssystem vorgenommen wird; dabei wird das Rechtssystem an sich wieder als Recht2 bezeichnet und der Umwelt des Rechtssystems – bei ihm als Unrecht2 bezeichnet – gegenübergestellt. Da in der Umwelt (Unrecht2 als „das Andere des Rechts“) nichts unterschieden wird und zugleich alles anders sein kann, muss die Unterscheidung von Recht1 und Recht2 ins Unrecht2 – nämlich die Umwelt des Systems – projiziert werden, also ein ‚re-entry‘, aber nun umgekehrt in Richtung Umwelt, wodurch die Rechtsoperation überhaupt angefangen werden kann. Demnach ist die Gesellschaft wiederum mit dem Unrecht gleichgesetzt; und offenbar hat man nicht nur Schwierigkeiten mit der Unterscheidung von Unrecht und Nicht-Recht, sondern man kann es schlicht nicht unterlassen, das geschlossene Rechtssystem doch in die Gesellschaft ‚wiedereintreten‘ zu lassen; ein autopoietisches Rechtssystem mit Abgrenzung zur Gesellschaft bereitet offenbar nach wie vor Unbehagen. Dasselbe Problem besteht wohl auch bei Teubner. Bei der ihm fast selbstverständlichen Paradoxie des Rechtscodes liegt es ihm an ihrer Rezeption (Teubner, Dreiers Luhmann, 2005, S. 210 f.); zugleich scheint das Recht – der Rechtscode – über die Grenze des Rechtssystems hinauszudrängen, indem er – anders als Luhmanns dem Rechtssystem
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Wenn man sich von der einwertigen auf die zweiwertige Ontologie umstellt, dann bekommt man das Nicht-Recht im Sinne der anderen sozialen Ordnung als Rechtsordnung. Das Rechtssystem erhält auch in diesem Sinne das Unrecht und muss dessen Sein anerkennen. Die Nicht-Recht-Ordnung als eine andere negierende Möglichkeit der gesellschaftlichen Ordnung wird nämlich auf der negativen Seite des Codes widergespiegelt und das Rechtssystem kann erst dann negiert werden und anders – kontingent – sein. Im Hinblick auf die Polykontexturalität der modernen Gesellschaft geht es um den Problemkomplex von strukturellen und operativen Kopplungen der Funktionssysteme. Genau in diesem Sinne formulieren die Codes der Funktionssysteme „einen Präferenzwert, nämlich den positiven Wert, der die Anschlußfähigkeit der Operationen im autopoietischen System vermittelt. Der Negativwert (Unrecht, Nichthaben, Unwahrheit, Transzendenz) bezeichnet aber die Reflexion der Bedingungen (oder wenn man so will: der Nichtselbstverständlichkeit) der Anschluß fähigkeit; er bezeichnet also nicht etwas, was durch Steuerungsbemühungen in Richtung auf den anderen Wert verringert werden soll.“73
Das Unrecht bezeichnet wie gleichfalls andere Negativwerte also nichts, mit der zugesetzten Negation bringt es die Bedingungen eines operativen Anschlusses zustande, mit ihm entsteht eben auch die Paradoxie des Rechts immanente Gerechtigkeit als Kontingenzformel des Systems – „eine das Recht transzendierende Gerechtigkeit“ bzw. „ ‚Umweltgerechtigkeit‘ des Rechts“ fordert (Teubner, ebd., S. 202). Das Verhältnis des Unrechts zu dem Nicht-Recht stellt sich als Thema gar nicht. Schließlich spricht auch Bora, Das Recht der Gesellschaft (1993), 2012, S. 230 f., zwar von dem nichtnormativen Ansatz, aber das Problem der Differenz von Unrecht und Nicht-Recht bleibt unerwähnt. 73 Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, S. 339. Nimmt man die Unterscheidung von Gedanke und Existenz an, dann könnte man sagen: Der positive Wert bedeutet die Verbindung von beiden und hat deshalb Präferenz, der negative Wert bedeutet mit ‚Negation‘ die Trennung von beiden als Gegenposition zur einwertigen Ontologie. Vgl. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2000, S. 66 (mit Hinweis auf Gotthard Günther): Der positive Wert ist der „Designationswert“, der negative Wert der „Reflexionswert“; „die Designation dient nur der Bezeichnung dessen, was in ontologischer Sprache Sein oder Seiendes heißt. Der nicht-designierende Wert bleibt somit frei für andere Aufgaben, die sich zunächst allgemein als Reflexion der Einsatzbedingungen des Designationswertes begreifen lassen. […] bekommt der positive Wert den Sinn, die Anschlußfähigkeit der Operationen des Systems für Operationen des Systems zu bezeichnen. Das System kann nur auf dieser Seite operieren. Der negative Wert ist dann wiederum frei, um den Sinn solcher Operationen als Information beobachtbar zu machen mit der Maßgabe, daß auch die Beobachtung nur in der Form einer systeminternen Operation erfolgen kann.“ Die negative Seite scheint zugleich die ‚Latenz‘ zu bezeichnen, die für die positive Seite die Bedingungen der Möglichkeiten bereitet. Vgl. auch ders., RS, S. 123: abweichendes Verhalten als negative Seite Unrecht gilt als „ ‚variety pool‘ des sozialen Systems“.
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– Recht wird Unrecht – im Sinne von Luhmann. Man könnte sagen, dass das Unrecht die Bedingungen der Wirklichkeit bzw. des Geltungszustandes des Rechtssystems bezeichnet. Zugleich beachte man, dass das Recht(ssystem) erst durch Hinzukommen des Unrechts – dem Recht hinzufügend – binär codiert und dadurch als ein geschlossenes autopoietisches System von der Gesellschaft sozusagen abgelöst – funktional ausdifferenziert – wird, indem seine Reproduktion nicht mehr untrennbar mit dem Nicht-Recht verschränkt wird.74 3. Binäre Codierung des Rechts und Einheit / Identität des Rechts Erst mit der klärenden Unterscheidung zwischen dem Rechtscode, den Rechtswerten, dem Rechtsbegriff und dem Rechtssystem kann man die Überführung der Welteinheit in das Rechtssystem nachvollziehen. Die Paradoxie der Einheit der Welt wird nun über die Grenze des Rechtssystems zur Gesellschaft (Nicht-Recht) in seinen binären Code von Recht und Unrecht übersetzt und dort untergebracht. Die Paradoxie des Rechts hat ihre Wurzel letztendlich in der Weltparadoxie, die in dem Mehr-als-die-bloße-Summe 74 Erst mit dem Unrecht und daher mit dem binären Code kann das Rechtssystem die ganze Welt bzw. Gesellschaft im Rechtssystem universell mit Rechtssinn umfassen und ausstatten, aber zugleich wird die Gesellschaft nicht mehr wie früher mit dem Recht gleichgesetzt (Gesellschaft = Rechtsordnung). Es gibt nun sowohl Unrecht als auch Nicht-Recht. In Bezug auf den Code als Form kann es keine partielle Autonomie des Rechts geben. Vgl. Luhmann, Einige Probleme mit „reflexivem Recht“, 1985, S. 2: „Eine Frau ist schwanger oder sie ist nicht schwanger, sie kann nicht ein bißchen schwanger sein.“ Nur dadurch definiert ein autopoietisches System seine eigenen Elemente und daher gibt es kein halbes Element. Teubner / Willke betonen zwar basale Zirkularität aller Subsysteme als deren Autonomie, beharren aber darauf, dass rechtliche und politische Steuerungen „sich auf ein eigenständiges Interaktionssystem (bestehend aus den Inter-System-Beziehungen der Teile) beziehen können, welches als die Schnittmenge der gemeinsamen Umwelten dieser Teile nicht mehr Isomorphie der Operationsmodi verlangt, sondern nur noch wechselseitige Beeinflußbarkeit durch ‚strukturelle Kopplung‘ “ (Teubner / Willke, Kontext und Autonomie, 1984, S. 33). Mit dieser „Schnittmenge“ scheint auch der Rechtscode wieder über sich hinaus – im Nicht-Recht – zu fungieren, so dass das Recht zwar keine Entscheidung selber, aber doch die Entscheidungsprämissen für andere Systeme fällt (vgl. Teubner / Willke, ebd., S. 29 f.) Gewiss kann man eine Rechtskommunikation an eine politische oder andere Kommunikation, sowohl in der traditionellen als auch in der modernen Gesellschaft (strukturelle / operative Kopplung), anschließen. Aber in der stratifikatorischen Gesellschaft wird das Recht mit der Gesellschaft gleichgesetzt und untrennbar vermengt, dabei gibt es kein (nichtseiendes) Unrecht, kein Nicht-Recht und keine Autonomie des Rechts; mit der Ausdifferenzierung der funktionalen Subsysteme können dann deren Codes als eigene Formen einander nicht mehr überschneiden.
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bzw. dem ausgeschlossenen Dritten erscheint. Im Rechtssystem heißt sie der blinde Fleck der Differenz des Rechtscodes. Und nicht nur die Einheit, sondern auch die Identität des Rechtssystems, die durch die Differenz zur Umwelt entsteht und dadurch definiert wird, erscheint ebenfalls im Rechtscode. Die Identität bezeichnet bei Luhmann die Einheit, soweit ein System sich selbstreferentiell reproduzieren kann. Folgerichtig erscheint die Rechtsidentität – ja auch Identität als reflexive Relation – als Tautologie und Paradoxie des Rechts, sie hängt nämlich von den beiden Rechtswerten ab: Recht und Unrecht.75 Nur insofern der binäre Rechtscode etabliert wird, kann das Rechtssystem aufgrund dieser evolutionären Errungenschaft als ein autonomes Sozialsystem ausdifferenziert werden und seine eigene autopoietische Selbstreproduktion aller Operationen organisieren. Das Rechtssystem erhält dabei seine operative Geschlossenheit und zugleich seine informationelle Offenheit zur Umwelt aufrecht. Das Recht wird wegen der Offenheit stets den umwelt lichen Störungen (Geräuschen, Sinnunruhen) ausgesetzt, gleichzeitig werden die Rechtsinformationen wegen der Geschlossenheit ausschließlich im Rechtssystem – an dem Rechtscode orientiert – produziert. Außerhalb des Rechtssystems gibt es keine Rechtskommunikation. Das Recht wird damit auch selbstreferentiell mit der Folge, dass das System in seinen Operationen „in sein eigenes Produkt eingeht, sich selbst immer voraussetzen muß, also immer schon mitgedacht ist“, es bringt eine „Selbstimplikation“ – das Selbst des Rechts – mit sich.76 Die Autopoiesis und die Selbstreferenz des Rechtssystems werden beide aufgrund des binären Codes errichtet. Die binäre Codierung spannt sozusagen einen Kontingenzraum auf und spannt die Welt ein, so „daß sie die Welt als kontingent konstruiert. Alles, was vorkommt, kann entweder den positiven oder negativen Wert annehmen, entweder Recht oder Unrecht sein“.77 Die ganze Welt stellt damit im Rechtssystem eine kontingente Rechtswelt dar; alles in der Welt – Wirkliches / Mögliches und auch Unwirkliches / Unmögliches – wird (noch einmal) binär codiert, ist entweder Recht oder Unrecht. Man könnte in dem Maße auch von einem Konstruktivismus des Rechts sprechen, als die Welt mit der Differenz der binär codierenden Rechtswerte kontingent überformt wird. Man könnte nun die Einheit / Identität des Rechts bei Luhmann zusammenfassen. Der binäre Rechtscode artikuliert die Welteinheit und daran anschießend die Systemeinheit. Er ermöglicht einen Kontingenzraum des 75 Vgl. SS, S. 38, S. 58 f. Nach diem Differenzansatz hängt die Einheit / Identität des Rechtssystems eher von Rechtswerten als dem Rechtsbegriff ab. 76 Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 175, S. 176. 77 Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 171–2.
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Rechts, der autopoietisch selbstreferentiell in Differenz zur (Um-)Welt reproduziert wird und seine Identität hervorbringt. Diese Identität des Selbst des selbstreferentiellen Rechtssystems bezeichnet genau dessen Einheit und wird ebenso wie die Einheit in dem Rechtscode untergebracht. Das Rechtssystem – ein Raum der Kontingenz des Rechts – hat dann zwei Formen der autopoietischen Reproduktion des Rechts: Tautologie und Paradoxie. Diese kontingente Identität des Rechts kennzeichnet die Positivität des Rechts. Sie wird von der grundlegenden Struktur der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft bedingt und um diese kontingente Identität des Rechts kreisen die Probleme wie Gerechtigkeit und Zeitbindung. Die logischen Schwierigkeiten der Identität des Rechts resultieren aber wie oben dargestellt aus der Negation, der nichts entspricht. Der in der Evolution etablierte Rechtscode muss es erreichen, dass Recht Recht und Unrecht Unrecht bleibt. Die beiden Werte deuten aber bereits an, dass man von einer Seite zur anderen Seite übergehen kann, also mit Negation. Sonst gibt es keine Differenz der beiden Werte. Entscheidend ist, dass bei Luhmann trotz des Übergehens Recht weiter Recht bleibt und Unrecht weiter Unrecht bleibt, dass Recht nicht Unrecht wird und umgekehrt. Das negierende Übergehen soll nichts an der stabilen Differenz von Rechtswert und Unrechtswert ändern. „Die Tautologie ergibt sich daraus, daß die Werte des Codes mit Hilfe einer Negation, die nichts bedeutet, austauschbar sind. Recht ist nicht Unrecht. Unrecht ist nicht Recht. Negationen sind aber Operationen, die die Identität des Negierten voraussetzen und nicht verändern dürfen. Insofern kann man den Code auch als eine bloße Duplikation des Präferenzwertes bezeichnen. Er besagt, daß Recht nicht Unrecht sein darf und Unrecht nicht Recht. Nur wenn das gesichert ist – und als Gegenbeispiel eignen sich immer wieder die griechischen Tragödien, die genau diese Errungenschaft am Gegenfall spiegeln sollten – kann man im oben behandelten Sinne von Technisierung sprechen.“78
Man frage sich ja, worauf sich die Austauschbarkeit von Rechtswert und Unrechtswert bezieht, wenn die Negation bzw. das Übergehen nichts bedeutet. Offenbar bleibt nach dem Übergehen mit Negation Rechtswert Rechtswert und Unrechtswert Unrechtswert. Sonst gerät man in die Spirale der griechischen Tragödien, worin die Stabilität der binären Codierung zu fallen droht.79 Die Austauschbarkeit der beiden Rechtswerte bezieht sich m. E. 78 RdG, S. 188. Vgl. Luhmann, Die Codierung des Rechts, 1986, S. 176: Für die Festlegung eines Wertes ist „ein und nur ein Operator erforderlich, der üblicherweise als Negation aufgefaßt wird“. 79 Vgl. RdG, S. 204. Die griechischen Tragödien spiegeln demnach das Problem der Einheit der beiden Rechtswerte wider und erscheinen als Unentscheidbarkeit – das ausgeschlossene Dritte. Daher spricht man von Entscheidung des Unentscheidbaren in einer Entscheidungssituation. Bei Tragödien geht es somit (noch) nicht um
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nämlich auf den Rechtsbegriff im Sinne der Inhaltsbestimmungen bzw. auf die Attribute des Rechts. Oder man könnte genauer sagen, dass die Nega tion sich zugleich auf beides bezieht, sowohl auf die Rechtswerte als auch auf den Rechtsbegriff, wobei aber die zweimaligen Bezüge mit einer Negation bei Luhmann nicht deutlich genug gemacht werden. Das Beziehen ist also verdoppelt und zweideutig. Doch ist es nur zu üblich und alltäglich, dass eine Rechtsbehauptung bzw. eine Normprojektion auf der Seite des Rechtswertes bestätigt und damit an andere Rechtskommunikation angeschlossen wird oder sie auf die Seite des Unrechtswertes verdrängt und als Potential (ausweichende Auffassungen) reserviert wird. Recht und Unrecht können in Bezug auf dieselbe Rechtsbestimmung austauschbar sein, ein Wert negiert den anderen Wert, aber die betroffene identifizierte Rechtsbestimmung bleibt exakt dieselbe. Man liest das Zitat soeben sorgfältig: „Negationen sind aber Operationen, die die Identität des Negierten voraussetzen und nicht verändern dürfen.“ Die negierte Identität bleibt dieselbe Identität, sie wird durch diese Negation weder mehr noch weniger. Worum geht es denn? Es geht vor allem um den Unterschied: Sein oder Nichtsein bzw. Geltung oder Nichtgeltung bzw. Aktualisierung oder Potentialisierung.80 Aufgrund dieser begrifflichen Klärung könnte man die unerträgliche Einsicht des Rechts nachvollziehen: „Recht sei, was es (nicht) sei.“81 Recht ist eben Unrecht, sie machen beide keinen Unterschied, aber nur in Bezug auf die inhaltlichen Bestimmungen, nicht in Bezug auf die Präferenz des sozia len Anschlusses, der von den sozialen Strukturen als relativ feste Sinn formen abhängt.82 Worin liegt denn das Unerträgliche? Es besteht in der die Gerechtigkeit des Rechts, sondern vor allem um die Stabilisierung der binären Codewerte. 80 Hier könnte man die begrifflichen Verwirrungen bei Luhmann wieder beobachten. Einerseits bezieht sich die nichts bedeutende Negation zweideutig auf Rechtswert und Rechtsbegriff, die letzten beiden werden ihrerseits aber ebenso nicht klar getrennt. Dasselbe gilt auch für den Begriff „Identität“, der ebenfalls zugleich auf Rechtswert und Rechtsbegriff angewandt wird. Andererseits fehlt es bei Luhmann wie üblich an der Unterscheidung zwischen der Identität als reflexive Relation und der Identifizierung (der Bestimmungen), beides wird vermengt. Wie mehrfach ausdrücklich dargelegt, wird hier die Theorie von Tautologie und Paradoxie vor dem Hintergrund der Differenz Gedanke / Existenz bei Frege, noch radikaler, der Differenz von Attribut / Existenz-Induktiva (Schmitz), interpretiert. Obwohl sich Luhmann der Sache nach in dieselbe Richtung bewegt, bleibt er bei seiner systemtheoretischen Reformulierung und verfolgt das Thema nicht weit genug. 81 Luhmann, Die Codierung des Rechts, 1986, S. 198. 82 Es ist wichtig, dass mit dem Unterschied der Präferenz des Anschlusses das Rechtssystem als Einheit durch eine Seite (Rechtswert) sozusagen repräsentiert werden kann, zu der eine Gegenseite (Unrechtswert) auf gleicher Augenhöhe parallel steht. Mit der Ordnungsvorstellung – die Einheit nur auf der einen Seite – braucht man nicht mehr immer auf der Höhe der Ganzheit stehen. Dies würde die Instabili-
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Kontingenz des Rechts: Eine rechtmäßige Handlung ist nun – gottgewollt? – zugleich eine unrechtmäßige Handlung, wobei Recht Recht und Unrecht Unrecht bleibt. Das positive Recht wird total kontingent, es erlaubt alle möglichen Inhalte und befindet sich im laufenden Selbstverändern oder gar im Selbstsabotieren.83 Das Recht hat keine Substanz. Weiterhin besteht das Unerträgliche darin, dass das Unrecht – das Negative – jetzt ins Recht(ssystem) aufgenommen wird; es ist das Unrecht, das Kontingenz, Paradoxie sowie Identitätsprobleme des Rechts herbeiführt. Hinsichtlich dieses fern abgelegenen Zusammenhangs scheint nur Röhl die ‚kleine Unstimmigkeit‘84 in vielen Aussagen Luhmanns über die Rechtsparadoxie ernst genommen und einer logischen Überprüfung unterzogen zu haben. Luhmann will „durch bloße Negation“ bzw. „mit Hilfe einer Negation“ die Tautologie erzeugen und dabei zugleich die beiden Werte austauschbar machen.85 Dem gegenüber meldet Röhl mit Recht Zweifel an: „Eine Tautologie ergibt sich erst aus einer doppelten Verneinung. Eine einfache Negation begründet dagegen eine Unterscheidung, und als solche hat sie Informationswert. Wenn aber Unrecht die Negation von Recht ist, wer käme dann auf die Idee zu fragen, ob Recht Unrecht sei? Das wäre, als fragte man, ob eine positive elektrische Ladung negativ sei? Die Frage macht nur Sinn, wenn die Begriffe ‚Recht‘ und ‚Unrecht‘ mehrdeutig verwendet werden. Und das werden sie in der Tat, jedenfalls in der Diskussion um das Problem der Rechtsgeltung.“86
Für die Tautologie verlangt Röhl ‚nicht nur einfache‘, sondern doch zweifache Negation. Mit dieser Fragestellung berührt Röhl das entscheidende Problem. Er verfehlt es aber wieder, weil die richtige Antwort darauf m. E. darin besteht, dass der elektrischen Ladung – positiver oder negativer, weltät des binären Codes bedeuten, so dass die Konflikte universalisierend – auf das Ganze hin – ausgetragen und ausgeladen werden müssen. Man könnte diese Ordnung der einseitigen Anschlüsse als ‚europäische Anomalie‘ gegenüber anderen Hochkulturen ansehen, dazu vgl. Luhmann, RdG, S. 166–7. 83 Vgl. PdG, S. 197–200. 84 Vgl. Blau, Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien, 2008, S. 10: „Es begann mit einer winzigen Störung, dem Lügner.“ Die winzige, lügnerische Störung nimmt man für das Recht in dem ‚Weil‘ wahr: „die Paradoxie des ‚Recht weil Unrecht‘ oder ‚Unrecht weil Recht‘ “ (Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 189). ‚Recht weil Unrecht‘ bedeutet: Recht weil Negation des Rechts; ‚Unrecht weil Recht‘ bedeutet: Unrecht weil Negation des Unrechts. Es verhält sich wie bei dem Lügner C. II. 2. e) bb). 85 RdG, S. 177, S. 188. Auch vgl. RdG, S. 342: die Erzeugung der einen Seite „durch die bloße Negation“ der anderen; ÖK, S. 81: „nur eine Negation erforderlich“; SS, S. 115: Mit einer Grenzziehung kann man sich „durch die einfache Dualität“ zwischen zwei gegenüberstehenden Horizonten umkehren. 86 Röhl, Ist das Recht paradox?, 1998, S. 143. Es scheint so, dass nur Röhl Luhmanns Texten eine so genaue Aufmerksamkeit geschenkt hat und es zugleich hat wagen können, nüchtern zurückzufragen. Röhl hat eben keine Resonanz gefunden.
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cher auch immer – eben nichts entspricht; und die angesprochene Mehrdeutigkeit betrifft in der Tat die Unterscheidung von Rechtswert und Rechtsbegriff, nicht (direkt) die Rechtsgeltung, wie Röhl es gemeint hat.87 Man beachte aber noch, dass die bloße Negation dabei in dem Sinne ambivalent fungiert, dass sie einerseits die Tautologie (Recht ist Recht) erzeugt und andererseits die beiden Werte austauschbar macht und damit die Paradoxie (Recht ist Unrecht) hervorbringt. Man könnte hier sehen, dass die Tautologie die Selbigkeit des Rechts und damit eine reine (und gar überflüssige) Selbstreferenz des Rechts darstellt; dies bedeutet, dass die tautologische Negation noch nicht richtig die konditionierende Funktion entfaltet.88 Nur durch weitere Hinzufügung der ebenfalls nur einen bloßen Negation kommt die Paradoxie des Rechts – die paradoxe Negation – als echter sozialer Widerspruch selbst-konditionierend zur Geltung.89 87 Röhl versucht dann, anhand der Theorie der Normenhierarchie, wie üblich, die Paradoxie aufzulösen und die Geltung zu begründen. Luhmann würde nichts dagegen haben, nur soll man sich bewusst sein, dass die Normenebenen wie bei der Theorie der Rechtsquellenlehre in der Tat die Differenz von Norm und Geltung – parallel zur Differenz von Rechtsbegriff und Codewert – verwischen. Kelsens Grundnorm könnte man für das paradigmatische Beispiel dafür halten. Aber Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 449 f., lehnt Luhmanns Systemtheorie des Rechts ab, gerade weil Luhmann als ein anderer Kelsen angesehen wird. Ein Grund dafür ist „die Vorliebe für Paradoxien“, ein anderer ist „das Konzept der Autopoiesis“; nach ihnen tritt die Paradoxie nun „an die Stelle einer Grundnorm“, sie fungiert nur als „ein rhetorisches Mittel. Es hilft in kreativer Weise über die vermisste, aber nicht mögliche Letztbegründung hinweg […] den Anschluss des Rechts an seine Umwelt herzustellen“ und die These der Autopoiesis „verbietet es, das Recht als Instrument des sozialen Wandels anzusehen“. Dann stellt die Systemtheorie eine andere reine Rechtstheorie in dem Sinne dar, dass das Recht einerseits nach außen abgeschottet wird und andererseits doch immer nach außen – ja vergeblich – Anschlüsse zu finden versucht. Angesichts dieses Verständnisses der Systemtheorie könnte man sehen, dass der Anschluss schließlich nur noch nach oben – eben hierarchisch wie bei Röhl / Röhl – ausgerichtet wird. Übrigens besteht ein Motiv der reinen Rechtslehre wohl gerade in der Einheit, nicht in der systemtheoretischen abkoppelnden Differenz von Recht und Staat. 88 Vgl. SS, S. 58 f., S. 493 f.; Luhmann, Tautologie und Paradoxie, 1996, S. 97. 89 Vgl. SS, S. 173: „Es gibt Probleme“ als Widersprüche ja in der sozialen Realität. Die tautologische und paradoxe Beziehung der beiden Werte wird in der Tat durch das laufende Hinzukommen der einen bloßen Negation gestaltet (vgl. RdG, S. 168 f.), die ‚paradoxe Negation‘ trifft dann außer Sachverhalten offenbar zugleich auf die Personen (vgl. SS, S. 214). Hier könnte man auch einen deutlichen Unterschied zwischen dem üblichen Ansatz der Normenhierarchie und Luhmanns Differenzansatz beobachten: Bei dem ersteren kann man die Negation (das Unrecht) gerade wegen der hierarchischen Anschlüsse schließlich nicht unterbringen (wie bei Kelsen) oder gar nicht kennen, bei dem letzteren setzt man die Negation als Operator der Anschlüsse ein und gebraucht die Hierarchie bestenfalls nur als ‚Abschlussformel‘. Dabei erscheint es gewissermaßen als komisch und überraschend, dass Luhmann Widerspruch als Lösung für die Paradoxie bestimmt: „Aus ‚A weil non-A‘
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4. Formale Darstellung der Paradoxie des Rechts Doch noch einmal soll man hier näher zusehen und fragen, was dies eigentlich heißt: Die negierte Identität bleibe dieselbe Identität? Ist eine Identität identisch mit ihrer Negation? Ist eine Identität mit ihrer Negation vereinbar? Bedeutet das nicht einen Selbstwiderspruch und besagt es nicht deshalb von vornherein nichts? Grenzt der rhetorische Schockeffekt der wohl nur angeblichen Paradoxie des Rechts nicht dicht an das verhohlene Scheitern der systemtheoretischen Rechtstheorie? Auch wenn man die Differenz von Rechtswert und Rechtsbegriff annimmt, stellt sich doch die Frage: Wie kann das Recht(ssystem) seine Identität aufrechterhalten und wie kann das identische Recht tautologisch bleiben, obwohl die Rechtsbestimmungen im Rahmen der Rechtswerte laufend gewechselt und geändert werden? Damit wird das logische Problem der Paradoxie des Rechts als Theodizee des Rechts wiederum aufgeworfen. Und mit ihr werden die Zeitbindung sowie die Gerechtigkeit verbunden.90 Die formale logische Möglichkeit der Rechtsparadoxie soll hier angesprochen werden. Hierbei geht die vorliegende Arbeit von der Theorie der instabilen, konkurrierenden Identität bei Schmitz aus.91 Bei der Mengen-Paradoxie, der Lügner-Paradoxie, den Zeitparadoxien und der Paradoxie des Selbstbewusstseins haben die logischen Antinomien ihre Wurzel darin, dass unterschiedliche Bestimmungen miteinander um die Identität mit einem Selben konkurrieren. Dabei bestreitet die eine der miteinander unvereinbaren Bestimmungen die Existenz bzw. Geltung der anderen. Wenn man außer den Gründen des logischen Schließens keine anderen, sachlich besseren Argumenten für sich anführen und damit für eine spezielle Bestimmung wird ‚A ist non-A‘ “ (ÖK, S. 81), er will die logische Antinomie von ‚Recht weil Unrecht, Unrecht weil Recht‘ in den Widerspruch in dem Sinne transformieren: „ ‚Recht ist nicht Unrecht‘ und ‚Unrecht ist nicht Recht‘ “ (ders., Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 189). Der (soziale) Widerspruch ‚reduziert‘ also die Paradoxie. Dieser Widerspruch als Lösung stellt eben das relativ festgelegte Gefüge des Rechtscodes dar, der die Standardform des sozialen Konflikts abgibt. Semantisch muss man auf dem Satz des Widerspruchs beharren, womit man die Fragestellung über die Paradoxie des Rechts, das heißt: Frage nach dem Code selber, stoppt; operativ lebt man umgekehrt von der Paradoxie, man soll aber präzise an ihr vorbeilaufen, darf jedenfalls nur genau fast in den Widerspruch (Recht = Unrecht) geraten; kurz: An die Stelle des Widerspruchs tritt „die Form eines Widerspruchs“, womit die Paradoxie zugleich „verschwiegen“ wird (vgl. Luhmann, Einige Problem mit „reflexivem Recht“, 1985, S. 6). 90 Es ist auch zu beachten, dass die Gerechtigkeit bei Luhmann nicht in der Festlegung auf einen bestimmten Rechtswert (in einzelnen Fällen), sondern in der strukturellen Konsistenz (Identität), und zwar auch nur im Rahmen der stabilen binären Codierung des Rechtssystems zu suchen ist. 91 Siehe oben B. I. 3. b) sowie C. II. 2. e).
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entscheiden kann, entstehen und bleiben die logischen Antinomien, indem zwischen Identität und Verschiedenheit ja logisch prinzipiell bis zum Unendlichfachen unentschieden wird. Die logischen Paradoxien sind auch nicht mit den Selbstwidersprüchen gleichbedeutend, die etwas aussagen und es gleichzeitig wieder zurücknehmen und deshalb nichts besagen können. Vielmehr stellen die logischen Paradoxien einen Sachverhalt dar, den zum Beispiel der Satz ‚Ich lüge jetzt‘ zum Ausdruck bringt und jeder kann gut verstehen und nachvollziehen, was gemeint wird. Und dieser paradoxe Sachverhalt kann mithilfe der Theorie der unendlichfachen Unentschiedenheit hinsichtlich der Identität und Verschiedenheit der einen Sache logisch einwandfrei zum Ausdruck gebracht werden. Für diese klärende Lösung der Paradoxie braucht man keine mehrwertige oder ähnliche Logik heranzuziehen, bei der die Antinomie im Effekt auf den dritten Wert bezogen wieder auftaucht. Im Gegensatz dazu könnte man die theoretische Pointe der Logik der unendlichfachen Unentschiedenheit darin sehen, dass man bei der klassischen zweiwertigen Logik bleibt, aber die Unentschiedenheit hinsichtlich der beiden Werte auf den Satz des ausgeschlossenen Dritten erweitert: Ob es zwischen beiden Werten unentschieden steht, ist selber unentschieden.92 Der sonstige Ausweg kann nur darin bestehen, dass man irgendwie doch zur Entscheidung zwischen Identität und Verschiedenheit kommt. Dies würde bedeuten, dass die logische Paradoxie verschwindet. Auf analoge Weise ist nun die Paradoxie des Rechts logisch im Sinne der Theorie der (einfachen, endlichfachen bzw. unendlichfachen) Unentschiedenheit zu verstehen, so dass man nicht in den logischen Widerspruch gerät. In der Gesellschaft treffen alle nur denkbaren Handlungsmöglichkeiten aufeinander: Verhaltenszumutungen, Wunschvorstellungen, Normprojektionen u. a., die miteinander unvereinbar konkurrieren und je für sich beanspruchen, im politisch organisierten Verfahren (Gesetzgebung, Gerichtsprozess u. a.) identifiziert und dem Recht zugeordnet zu werden. Diese Handlungsmöglichkeiten nehmen dann die Rechtsform an und stellen sich als Bestimmungen des Rechts dar. Mit Luhmann könnte man hierbei von der zweiten Codierung der Normen durch die Rechtswerte sprechen. Dadurch konkurrieren sie miteinander um die Identität mit dem Rechtsbegriff (des Rechtssystems); sie sind bestrebt, sich je aufgrund des eigenen ‚Begründens‘ der Position des Rechts aufzudrängen und alle anderen auf die Position des Unrechts zu verdrängen.93 Die Identität und die Verschiedenheit 92 Bei Schmitz bezieht sich die Unentschiedenheit zunächst auf die beiden Relationen Identität und Verschiedenheit, hier könnte sie aber auf die Codewerte wie wahr / unwahr bezogen werden. Dadurch geht man von der Ebene der Bestimmtheit (Bedeutung) auf die Ebene der Wirklichkeit (Existenz, Geltung) über. 93 Woher kommen die nicht rein logisch begründenden Kräfte dieser miteinander konkurrierenden Ansprüche auf den Rechtswert? Werden sie durch beobachtende
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werden zunächst durch die Differenz von Rechtssystem und seiner Umwelt gestiftet und finden dann übersetzt ihren Ausdruck im Selbst des selbstreferentiellen Rechtssystems. Die konkurrierenden Handlungsmöglichkeiten als Bestimmungen des Rechtsbegriffs müssen in diese Identität integriert werden, sie konkurrieren um diese Identität mit dem Selbst des Rechtssystems. Die Paradoxie des Rechts wird in der Weise als Unentscheidbarkeit hinsichtlich von Identität und Verschiedenheit verstanden, wobei die betreffenden Bestimmungen des Rechts beansprucht und zugleich bestritten werden. Es bleibt die Unentscheidbarkeit angesichts der beiden Codewerte: Recht und Unrecht. Mit der Theorie der unendlichfachen Unentschiedenheit wird dann die Paradoxie des Rechts logisch einwandfrei dargestellt. Der Sinn der Paradoxie von Recht heißt letztlich, dass das Recht bloß eine instabile, konkurrierende Identität haben kann, wenn es nicht in den logischen Widerspruch geraten will und dadurch blockiert wird.94 Vor diesem theoretischen Hintergrund könnte man den Rechtsstreit zwischen Protagoras und seinem Schüler Euathlos betrachten, der mit der Lügner-Paradoxie zusammenhängend als klassische Rechtsparadoxie gilt. Die Pointe dieser Rechtsparadoxie könnte nun darin liegen, dass sich die Rechtsansprüche der Parteien, je aufgrund ein und desselben Vertrags, (i) auf den Ausgang des Prozesses sozusagen kurzgeschlossen beziehen und dass dieser Ausgang (ii) einen ‚Code von Obsiegen / Unterliegen‘ und damit eine (variante) Einheit der Differenz unter dem Anzeichen des Codes von Recht und Unrecht ausmacht. Mit Luhmann würde man sagen, dass dadurch die Negation, und zwar die Negation der jeweiligen Ansprüche, eingeführt und verankert wird, ebenfalls aufgrund des abgeschlossenen Vertrags selber. Mit dieser Struktur wird die Paradoxie – die kommunikative Unbestimmtheit – ja vorprogrammiert. Man könnte diesen Rechtsstreit wie bei der Russell’schen Paradoxie mit der Formel der einfachen Unentschiedenheit „¬!MεM“ beschreiben und es dabei bewenden lassen (Schmitz). Sieht man aber, dass die beiden unvereinbaren Rechtsansprüche durch die perfomativen Akte der Anspruchserhebung – wegen des negierenden Codes – so innerlich miteinander verschränkt werden und sich auf die Rechtmäßigkeit beziehen, dann sieht der Kommunikationen, Sprechakte mit Geltungsansprüchen oder anderes unterstützt? Die Konkurrenzfähigkeit der Rechtsbehauptungen im Hinblick auf die Codewerte könnte von der gesellschaftlichen Struktur abhängen; sie könnte aber schließlich auf die Autorität der Rechtsgefühle zurückgeführt werden, die die letzte Quelle der Überzeugungskraft in Sachen Recht ausmachen. Der binäre Rechtscode nimmt den evolutionären Anfang immerhin auch beim Rechtserleben der zufälligen Rechtsfälle an. 94 Man beachte hierbei, dass der Identitätsbegriff im Sinne der konkurrierenden Identität des Rechts ein Relationsbegriff ist. Oft neigt man dazu, sich die Identität des Rechts(systems) als ein einzelnes Ding vorzustellen, obwohl man gegen das Substanzdenken optiert.
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Streit eher der Struktur der Lügner-Paradoxie ähnlich. Die Ansprüche sind grundlos, aber dynamisch und schließlich unentschieden.95 Die logische Paradoxie des Rechts bringt die Unsicherheit der Verhaltenserwartungen als Kontingenz des Rechts am schärfsten zum Ausdruck und zieht damit die Funktion des Rechts, nämlich Stabilisierung der Verhaltenserwartungen, grundsätzlich in Zweifel. Im konkreten Fall erscheint sie als Unentschiedenheit zwischen einander widersprechenden Rechtsbehauptungen und schließlich zwischen Zuteilungen von Recht und Unrecht. In der Tat erweist sich die logisch zugespitzte Paradoxie des Rechts als ziemlich alltäglich und normal, gar nicht etwa besonders, sie wird eventuell sogar durch die juristische Methodenlehre hervorgebracht, indem man unterschiedlichen Anforderungen zu genügen versucht, auf eine „spezifische Richtigkeit“ abzielt und dabei auf das Problem stößt, „daß beim Ermessen die Gleichwertigkeit verschiedenartiger, ja entgegengesetzter Entscheidungen anzuerkennen ist. Dies ist ja das Spezifische und das Anstößige, daß in Disjunktion stehende Entscheidungen (E 1, E 2, E 3 bzw. E und nonE) den Anspruch erheben dürfen, gleichermaßen vor dem Recht als richtig zu bestehen, 95 Zoglauer, Einführung in die formale Logik für Philosophen, 2005, 16 f., sieht zwar den Bezug zum Ausgang des Prozesses, bleibt aber bei dem Lösungsansatz mithilfe der Theorie der Sprachebenen. Vgl. auch Lyotard, Der Widerstreit, 1989 (1983), S. 21 f. Er führt diese Rechtsparadoxie als Paradebeispiel für die Postmoderne an. Über den Fall zwischen Protagoras und Euathlos siehe auch Perez, Law as a Strange Loop, 2009, S. 113 ff. Perez setzt zuerst bei der Analyse der Rechtsparadoxie mithilfe der Mengentheorie an, geht dann schnell von der logischen Analyse über zur Selbstreproduktion des Rechtssystems als ein soziales Handlungssystem – nicht nur eines Systems der Regeln – und hebt die ‚kreative Kraft‘ der Rechtsparadoxien – „creative force of paradoxes“ – hervor; praktisch bedeutet dies, dass das Gericht irgendwie zu einer Entscheidung – zu einer juristischen Lösung der Rechtsparadoxie – gelangen können muss (Peres, ebd., S. 126). Nach Röhl / Röhl, 2008, S. 94 f. ist entweder der Prozess für diesen Fall nicht als Prozess über den Honoraranspruch gemeint, oder der Vertrag ist „wegen ‚Perplexität‘ “ (Röhl / Röhl, ebd., S. 95) nichtig; nach ihnen braucht man jedenfalls keine postmoderne Rechtstheorie wie die Systemtheorie, um die (vermeintlichen) Rechtsparadoxien zu lösen; die Rechtsparadoxien verdanken ihre Entstehung nur sprachlichen Mehrdeutigkeiten, die man anhand der Theorie der Sprachbzw. der Normenstufen behandeln kann. Schilling, Epimenides als Jurist?, 1994, hält auch die möglichen Rechtsparadoxien für rechtlich irrelevant, da man einerseits die Geltung der betreffenden Normen auf eine Metaebene zurückführen kann und andererseits diese betreffenden Normen ohnehin inhaltlich leer bzw. unbefolgbar sind. Zum Beispiel: „Alle von der Stelle A erlassenen Normsätze mit Ausnahme des vorliegenden sollen ungültig sein“ und „es ist verboten, daß man diesen Befehl befolgt“ (siehe Schilling, ebd., S. 500, S. 498). Die genannten Ansätze verfehlen m. E. die Pointe des Protagoras-Falls. Denkt man daran, dass jeder Prozess mit dem Code von Obsiegen / Unterliegen operiert, könnte sich der Protagoras-Fall sogar als ‚Proto-Logik des Rechts‘ darstellen; dabei ist ein Prozess mit der bevorstehenden Seeschlacht bei Aristoteles vergleichbar und wirft das Problem von futuris contingentibus für eine ‚praktikable Logik des Rechts‘ auf (vgl. RdG, S. 502).
I. Ansatzpunkte der systemtheoretischen Rechtstheorie bei Luhmann253 also z. B. polizeiliches Einschreiten oder Nichteinschreiten bei einer nur teilweise unfriedlichen Demonstration (Entschließungsermessen), die Auswahl unter verschiedenen, gleich geeigneten Maßnahmen im Falle polizeilichen Einschreitens (Auswahlermessen), Erteilung und Nichterteilung einer Konzession, Vollzug und Nichtvollzug einer Einbürgerung. Offenbar bedeutet hier ‚Richtigkeit‘ etwas, was nicht dem Satz des Widerspruchs unterliegt, nicht so viel wie Wahrheit oder Eindeutigkeit, welche ja dort, wo Wertungen hereinspielen, vielleicht grundsätzlich gar nicht zu erreichen sind. Dem Juristen bietet sich hier zunächst der in vielen Zusammenhängen gebrauchte Begriff der ‚Vertretbarkeit‘ an […].“96
Hierin könnte man die Paradoxie von ‚Recht weil Unrecht (= Negation des Rechts) bzw. Unrecht weil Recht (= Negation des Unrechts)‘ bei Luhmann sehen, indem die Negation sowohl dem Recht als auch dem Unrecht als inhärent erscheint. Und man muss dann die ‚Form des Widerspruchs‘ im Rechtscode aufrechterhalten, um nicht im Widerspruch, Recht = Unrecht, zusammenzubrechen.97 In der Praxis wird man nämlich mit dem Entscheidungszwang konfrontiert und muss doch irgendwie zu einer Entscheidung gelangen: entweder Recht oder Unrecht. Dafür wird die Rechtsparadoxie als Problem in der Rechtsevolution durch die laufende Einführung der neuen Unterscheidungen (distinguish / overrule) bzw. der neuen Doktrinen entparadoxiert und entschieden. Dadurch erfährt das Recht auch die kontinuierliche Variation der Rechtsbestimmungen. Die logische Unschärfe kann dabei überbrückt werden. Aber wie sieht die Paradoxie des Rechts angesichts der Identität des Rechtssystems als ein Ganzes in der langen Evolution aus, wobei die Rechtsbestimmungen stets verändert werden? Die Reproduktion des Rechtssystems kann nicht allein auf der reinen Selbstreferenz beruhen, sondern sie muss noch die Fremdreferenz auf die Umwelt einschließen. Das identische Recht verändert und negiert sich stets. Wie kann es aber seine Identität und Einheit in dem Prozess der Variation errichten und beibehalten? Dies könnte nur spekulativ bleiben, wie Schmitz bei der Analyse der Paradoxie der persönlichen Identität gezeigt hat. Mit jeder entschiedenen Bestimmung wird das Recht zu individuellen Normen vereinzelt und daher sollte es logisch streng genommen ja bereits anders sein, wie bei der Person ihre Identität durch jedes neu identifizierte Attribut geändert wird. Aber in 96 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1997, S. 170. Engisch unterscheidet nicht klar zwischen Rechtswert und Rechtsbegriff und bezieht sich dabei eher auf die Ebene der Normprojektionen. Man könnte immerhin sehen, dass die juristische Richtigkeit bzw. Vertretbarkeit zutiefst des logischen Satzes des Widerspruchs ‚grundsätzlich‘ enthoben wird und in Luhmanns Sinne die rechtliche Einheit der Differenz betrifft. Es soll hier vorsichtigerweise hervorgehoben werden, dass man prinzipiell aus dem „Prinzip der Einheit und Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung“ ausgehen muss (Engisch, ebd., S. 210). 97 Dabei achte man darauf, den Widerspruch, Recht = Unrecht, nicht mit der Paradoxie der Selbigkeit von Recht und Unrecht zu verwechseln.
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dem Maße, wie die Paradoxie des Rechts sowohl praktisch als auch theoretisch nicht in den logischen Widerspruch gerät, wird mit der lebendigen Paradoxie des Rechts das unstimmige, zwiespältige Gesicht der Rechtswelt angedeutet. Die Welt kann nämlich nicht erschöpfend vereinzelt werden, die Einzelheit braucht die nichtnumerische Mannigfaltigkeit als ihre unentbehrliche Grundlage. Das Recht hat also die nichtnumerische Einheit nötig, um die Einzelheit seiner unterschiedlichen, geltenden oder nichtgeltenden Bestimmungen auf den beiden Seiten der Codewerte wieder abzustreifen und insofern in das Ganze wieder zu implizieren.98 Die logische Analyse der Rechtsparadoxie führt nämlich dazu, dass das Rechtssystem eine synthetische Einheit und eine konkurrierende Identität aufweist, wenn es aus der logischen Perspektive mit den binären Codewerten funktionieren soll. Sonst gerät es mit dem binären Code in logischen Widerspruch und droht, blockiert zu werden.99 Als Ergebnis wird allenfalls festgestellt, dass die Paradoxie des Rechts durchaus logisch möglich ist. 5. Fazit Die Paradoxie des Rechts gibt logisch präzise die Kontingenz des Rechts wieder. Sie wird evolutionär in der Verarbeitung der zufälligen Rechtserlebnisse sowie in den politischen Schwierigkeiten mit der Rechtsänderung 98 Clam sieht die „Paradoxie als Systemgenese“ und lokalisiert die Wurzel der Paradoxie in der wechselseitigen Unerreichbarkeit und Nicht-Vereinbarkeit der „zwei Bewusstseine“ (Clam, Die Grundparadoxie des Rechts und ihre Ausfaltung, 2004, S. 136). Die Rechtsparadoxie entsteht also aus der grundlegenden Situation der doppelten Kontingenz von Ego und Alter und schwankt zwischen „ ‚ist und nicht-ist‘ “ (ebd., S. 145). Diesem ‚genetischen‘ Erklären aus der Perspektive des Sozialen kann man zwar zustimmen. Aber abgesehen von dem seinerseits noch zu klärenden Problem des emergenten Sozialen, wobei nur eine eher rhetorische Folgerung von unkommunikablem Bewusstsein auf das Soziale vorgenommen wird, bleibt es verschwommen, wie dieses ‚Und‘ von Ist und Nicht-Ist angesichts der Praxis und Theorie genauer nachzuvollziehen ist. Clam meint auch, dass man sich von dem Widerspruch auf der Ebene der sachlichen Aussagen auf die Ebene der ereignishaften Operationen – auf die zeitliche Ebene – umstellen soll, um „die zugrundeliegende Ausweglosigkeit“ – den Widerspruch – zu überwinden (ebd., S. 139). Aber dann sieht man nicht ein, worin der Unterschied zwischen Widerspruch und Paradoxie besteht und welche Schwierigkeiten die Paradoxie eigentlich bereitet. Die Paradoxie muss m. E. nämlich ebenso wie der Widerspruch zunächst auf der Ebene der Aussagen erklärt, aber von ihm unterschieden werden. 99 Die konkurrierende Identität und die synthetische Einheit machen dann die logische Grundlage für die Differenz der binären Codewerte aus, wobei die an sich unbeobachtbare ‚Differenz‘ auf die synthetische Einheit implizit hinweist. Gegenüber der synthetischen Einheit in der logischen Dimension steht in der sozialen Praxis die ‚abgerissene Einheit der modernen Gesellschaft‘ (Luhmann, PdG, S. 136) mit ihren Funktionssystemen. Wie die synthetische Einheit aussehen soll, bleibt hier zunächst offen.
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beobachtet. In der modernen Gesellschaft ankommend wird mit deren Staatsordnung das Recht völlig positiviert, indem die Rechtsänderung nun als Routine und Normalität des Staatslebens angesehen wird. Um die Paradoxie des Rechts nachvollziehbar zu machen, soll man bei dem Rechtscode ansetzen und die Beziehungen – Tautologie und Paradoxie – der beiden Codewerte erklären. Die Differenz, die die beiden Werte Recht und Unrecht zugleich verbindet und trennt, ist die bloße Negation. Sie bedeutet nichts, stellt die Rechtsdifferenz überhaupt her und reguliert die recht lichen Differenzerfahrungen. Erst dadurch bilden die zwei Werte zusammen den Rechtscode. Dabei wird der Rechtsbegriff (Inhaltsbestimmungen bzw. Normprojektionen) einerseits von den Rechtswerten (Recht und Unrecht) und andererseits vom Rechtssystem (in Differenz zur Umwelt als Nichtrecht) abgegrenzt. Die Codewerte mit der dazwischen vermittelnden Negation ermöglichen die autopoietisch selbstreferentielle Reproduktion hinsichtlich der möglichen Sinnbestimmungen des Rechts, der Rechtscode mit beiden Codewerten drückt die Einheit / Identität aus und bezieht sich dadurch auf das Rechtssystem als solches. In diesem Zusammenhang ist geboten, die durch die schlichte Bezeichnung Recht verursachten Verwirrungen (auch bei Luhmann selber) zu vermeiden und zugleich auf die andere Seite des Rechtscodes – das Unrecht – aufmerksam zu machen. Das Unrecht gehört zum Recht(ssystem) und steht als ein Rechtswert im Gegensatz zum Recht, eben mit der Negation in ihm wird der Rechtsbegriff kontingent, so dass die Identität desselben Rechtssystems auch laufend geändert wird. Zudem grenzt sich das Rechtssystem ebenso anhand des hinzugefügten Unrechts von NichtRecht – von der Umwelt Gesellschaft als Nicht-Rechtsordnung – ab, indem die Herausbildung des stabilen, binären Rechtscodes die Ausdifferenzierung des Rechtssystems als ein geschlossenes Funktionssystem für die Gesamt gesellschaft zustande bringt. Die Rechtsordnung fungiert universal, ist aber zugleich nicht mehr mit der Gesellschaftsordnung deckungsgleich. Diese genaueren Differenzierungen ermöglichen erst das Verständnis der fundamentalen Paradoxie des Rechts, die nach Luhmann darin besteht, dass Recht (nicht) Unrecht sei.100 Die Paradoxie des Rechts hat ihre Wurzel in der 100 Diese Formel der Paradoxie des Rechtscodes zeugt zugleich von der hohen Formalität und Technizität der Rechtskonditionierung. Angesichts dieser Qualität bezeichnet Luhmann es als „Anomalien“ der Rechtsphilosophie, dass man immer noch danach fragt, „ob Recht überhaupt Recht und Unrecht überhaupt Unrecht ist und wie man dies, wenn man mit diesen Bezeichnungen überhaupt noch inhaltliche Erwartungen verbindet, entscheiden könne“ (Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 175). Ein Beispiel für die genannte ‚rechtsphilosophische Anomalie‘ könnte man sich an der Fragestellung ansehen: „Ist ungerechtes Recht Recht oder etwas anderes?“ (Kirste, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2010, S. 20) Dabei wird zugleich die Gerechtigkeit außerhalb des Rechtssystems in der Rechts ethik verortet. Man sieht hier, dass eine klare Unterscheidung von Rechtswert,
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Welteinheit bzw. in der unitas multiplex der Gesellschaft, die jetzt über die Differenz von Rechtssystem / Gesellschaft-Umwelt hinweg ins Rechtssystem überführt und dann im Rechtscode untergebracht wird. Der Rechtscode mit beiden Werten verarbeitet die Weltkomplexität (mithilfe der Rechtsprogramme) und bildet die Einheit / Identität des selbstreferentiellen Rechtssystems fort. In diesem theoretischen Rahmen bringt die Paradoxie des Rechts im streng logischen Sinne die Kontingenz des Rechts am schärfsten zum Vorschein: Eine Rechtsbestimmung kann zugleich mit Rechtswert und Unrechtswert belegt werden, diese negierende Differenz macht aber keinen Unterschied hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung. Auch die formal-logische Darstellung der Rechtsparadoxie wird durch Anlehnung an Schmitz möglich gemacht: Mehrere Rechtsbestimmungen (Normprojektionen) konkurrieren miteinander um die Identität mit demselben Rechtsbegriff, wobei die Identität und die Verschiedenheit mit Bezug auf die einzelnen Bestimmungen unentschieden bleiben. Diese formale Darstellung der Rechtsparadoxie weist auf die synthetische Einheit und die konkurrierende Identität des Rechtssystems hin, wofür aber Luhmanns theoretisches Instrumentarium nicht ausreicht. Festzustellen ist daher, dass die Rede von Paradoxie des Rechts berechtigt, theoretisch aber nicht befriedigend ist.
II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts Die Zeitbindung als Funktion zeichnet das Rechtssystem vor anderen Subsystemen aus. Für Luhmann hat das Recht seine Funktion – Problem und Lösung – gar nicht in der Verhaltensbindung, „das Recht hat keine bindende Gewalt“;101 es soll aber der modernen Gesellschaft die ZeitbinRechtsbegriff, Recht(ssystem) und Nicht-Recht (Moral) nicht selbstverständlich ist. Da man Schwierigkeiten mit der hintergründigen Unterscheidung von Existenz (Geltung) und Gedanke (Bedeutung) hat, könnten die meisten Rechtsphilosophien heute als „Anomalien“ gelten und „als ohne praktische Bedeutung abgetan“ werden (Luhmann, ebd.). Insofern behält die Rechtsphilosophie ihre Existenzberechtigung nur wegen der ‚unbegreiflichen‘ tückischen Existenz (vgl. Hübner, Metaphysik: Die Tücken der Existenz, 2003, S. 133–150). 101 RdG, S. 33. Das ‚Bestehen‘ des Unrechts soll die Unmöglichkeit der Verhaltensbindung durch das Recht deutlich genug machen. Luhmann folgend wäre dann jede Suche nach dem (moralischen) Grund des Gehorsams gegenüber dem Recht falsch angelegt. Die Fragestellung an sich könnte ihre Wurzel in der normativ verstandenen Natur des seinsontologischen Naturrechts haben. Als ein ‚typisches‘ Beispiel für diesen ontologischen Ansatz könnte man Ferber, Philosophische Grundbegriffe, 1995, S. 138, anführen: „Der Grundsatz ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘ bedeutet auch: ‚Die Würde des Menschen soll nicht angetastet werden können‘. Das Wort ‚ist‘ hat in normativen Kontexten trotz seiner indikativischen Form eine normative Funktion.“
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dung erbringen. In dieser Gesellschaft verselbständigen sich nun die jeweiligen Sinn- und Weltdimensionen, so dass die selektive Negation in der einen Dimension nicht von der anderen determiniert wird; und zudem ermöglicht auch die temporalisierende Orientierung auf die im Dunkeln bleibende Zukunft „nahezu beliebige Negationen von Sachverhalten in der Gegenwart“, was die Konsensfähigkeit in der sozialen Dimension sehr erschwert. Gerade in dieser Konstellation soll die Zeitbindung die Weltdimensionen wieder zusammenbringen und überbrücken.102 Das Recht steht selber aber ebenfalls in dem Zeitfluss, muss dabei trotz der Paradoxie des Rechtscodes seine Einheit bzw. Identität (Konsistenz) aufbewahren, und zwar mittels von Entscheidung und Regelbildung. 1. Rechtscode und Selbstbeschreibung des Rechtssystems Das Rechtssystem wird nicht nur durch die innere Paradoxie seines Codes, sondern auch durch den äußeren Umstand der Polykontexturalität bedroht. Um seine Grenze nach außen aufrechtzuerhalten, wird es nötig, dass das Recht sich seine Selbstbeschreibung anfertigt. a) Polykontexturale Gesellschaft und Identität des Rechtssystems Die bisherigen Analysen der logischen Möglichkeit der Identität in Form der Paradoxie des Rechts haben sich zum Ziel gesetzt, den Sinn der Rechtsparadoxie zu erklären und den logischen Widerspruch zu vermeiden. Durch die wohl eigensinnige Anlehnung an die Theorie von Schmitz wird gezeigt, dass man dabei zwischen Identität (bzw. Existenz) und Einheit (Bedeutung) als zwei verschiedene Ebenen unterscheiden soll. Dementsprechend wird in Bezug auf das Recht zwischen Rechtswert und Rechtsbegriff differenziert. Dadurch gelangt man zu dem Ergebnis, dass das Rechtssystem mit seinem binären Code der Rechtswerte eine instabile Identität und eine synthetische Einheit im Sinne der binnendiffusen, nichtnumerischen Mannigfaltigkeit aufweist. Damit erhält die Paradoxie des Rechts ihren Sinn und blockiert die Operationen des Rechts nicht. Man könnte sogar sagen, dass erst die erforderte synthetische Einheit – nichtnumerische Mannigfaltigkeit – des Rechts die Komplexität unterbringt, die bei Luhmann bedeutet, dass die Elemente des Systems nicht alle zugleich miteinander relationiert werden können.103 Nicht alle Möglichkeiten können auf einmal erschöpft werden; die eine wird aktualisiert, alle anderen 102 SS, 103 SS,
S. 133. S. 73.
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müssen potentialisiert und aufgehoben, aber doch nicht vernichtet werden. Hierin könnte man auch den untergründigen Bezug des Systems104 auf die formlose Umwelt – Umwelt als „etwas ohne Form“, auf das „Materialitätskontinuum“ oder auf die „ ‚Ursuppe‘ “ u. ä. angedeutet sehen.105 Insofern ist die (materiale) Kontinuität (trotz der Differenz) perfekt. Das Problem liegt aber nun in der negierenden Differenz des binären Rechtscodes, der sich auf eine polykontexturale Umwelt bezieht. Es ist nämlich nicht selbstverständlich und garantiert, dass der Rechtscode als evolutionäre Errungenschaft überhaupt zur Geltung kommt und man dabei von dem einen Wert zum anderen Wert und umgekehrt perfekt kontinuierlich übergehen kann.106 Auch wenn die Rechtsparadoxie logisch lösbar wird, gebraucht man nicht unbedingt den Rechtscode. Dies geschieht in der Gestalt der anderen binären Codes als Rejektionswerte für den Rechtscode. Zum Beispiel: Man will einwertig immer nur Recht oder nur Unrecht haben und erlaubt gar nicht das Übergehen vom einen zum anderen, sonst würde man den politischen, wirtschaftlichen oder anderen Code einschalten und den Rechtscode beiseiteschieben. So gesehen stellt die stabil funktionierende binäre Codierung des Rechtssystems tatsächlich eine ungewöhnliche, sogar anormale Errungenschaft dar. Die tautologische und paradoxe Identität des Rechts ist also zwar logisch möglich, aber doch unsicher. Sie zeigt eine soziologische Dimension in der 104 SS, S. 285: Jeder Code wird „über einem Untergrund“ geführt, und „jede Differenz ist eine sich-oktroyierende Differenz.“ 105 Luhmann, SS, S. 602; ders., GdG, S. 100; ders., Die Soziologie des Wissens, in: ders., GuS 4, 1999, S. 157 (mit Hinweis auf Yves Barel). Auch Luhmann, Closure And Openness, 1986, S. 7: „All systems form in a presupposed material of continuum, which Maturana calls medium. […] This material of continuum […] takes no heed of the system boundaries of the differentiating system; it is both inside and outside the system. […] The formation of rationally operating social systems already presupposes a multiplicity of such material of continua, and is correspondingly improbable.“ Das (rohe) Material befindet sich sowohl innerhalb als auch außerhalb der ausdifferenzierten Systeme, wird aber zugleich innerhalb des Systems sozusagen kopiert, will sagen: als solches überführt und geformt. 106 Brown, Law of Form, 1969, S. 1: „Distinction is perfect continence.“ Mit Kontinuität der Differenz meint Luhmann die Ausprägung des Sinnmaterials durch Sinnform (Differenz), dazu siehe B. I. 3. b). Mit der Systembildung kann man sich auf die Codewerte anhand der nichts bedeutenden Negation beziehen, entweder positiv oder negativ, um die Autopoiesis des Systems zu bewirken. Die Kontinuität ist insofern ‚perfekt‘ und das System bleibt geschlossen. Wenn man sich aber auf die Ebene der Elemente (Bestimmungen, anders als Rechtswerte) bezieht, dann sieht es anders aus. In dem Maße, als die Elemente zu sehr oder nicht genug individualisiert und differenziert werden, wird das Übergehen nicht so perfekt, da man unendlich lange Kette vor sich hat oder man in die chaotische Mannigfaltigkeit zu versinken droht. Diese Gefahren könnten dadurch verursacht werden, dass es jetzt an einer einheitlichen (früher: hierarchischen) Sinnform für alle Subsysteme fehlt, die miteinander konkurrieren.
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grundlegenden Struktur der Polykontexturalität der Funktionssysteme, nämlich in der unitas multiplex. Jedes Subsystem zieht seine Grenze zur Umwelt, beschreibt die Welt und Gesellschaft aus der eigenen System / UmweltDifferenz und behauptet anhand seines binären Codes die eigene Indifferenz zu anderen Systemen. In diesem Rahmen wird einerseits die Einheit der Gesellschaft mit ihren Subsystemen über die Rechtsprogramme ins Rechtssystem überführt, wodurch das Rechtssystem ununterbrochen irritiert wird; andererseits liefern die anderen Codes für die soziale Handlung die Alternativen zum Rechtscode. Sie stellen die Rejektionswerte des Rechtscodes dar und können ihn in Frage stellen. Beides verunsichert die Identität des Rechtssystems.107 Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund ist die Paradoxie des Rechts im Sinne der beunruhigenden Identität nur verständlich und folgerichtig. Man beachte, dass es dadurch bei der Rechtsparadoxie nicht nur um die Unentschiedenheit der Einzelfälle, sondern um die Reproduktion des Rechtssystems aufgrund des binären Rechtscodes und um die Stabilisierung der Verhaltenserwartung anhand des positiven kontingenten Rechts geht. Nicht nur die speziellen Rechtsbestimmungen in einzelnen Fällen sind kontingent, sondern der Rechtscode ist es auch. Es ist nicht notwendig, dass man sich auf das Recht (bzw. die Rechtsdifferenz) verlässt. Die Polykontexturalität bedeutet zugleich weiterhin, dass es nicht nur die Rechtsordnung, sondern auch die Nicht-Recht-Ordnung außerhalb des Rechtssystems gibt. Gerade dies besagt der binäre Rechtscode mit dem Rechtswert und dem Unrechtswert, der erst mit dem Nicht-Recht ins Auge gefasst wird. b) Selbstbeschreibung des Rechtssystems Die Kontingenz des Rechtscodes auf der strukturellen Ebene wird dann auf der semantischen Ebene durch die Selbstbeschreibung des Rechtssystems in ihrer Reflexionsform sozusagen registriert. Der Begriff „Identität“ (des Rechts) bezeichnet bei Luhmann die Einheit des Selbst des selbstreferentiellen (Rechts-)Systems. Wie auch bei anderen Subsystemen werden die Einheit und die Identität des Rechts mittels der Differenz zu anderem (polykontexturaler Umwelt) und zu sich (Selbst) hergestellt, wobei das Recht zugleich die Fähigkeit zur Selbstkonditionierung entwickelt.108 Die Identität 107 Man weiß nicht, ob der Rechtscode überhaupt Anwendung findet und wenn, ob er die Irritationen von außen durch die Zuteilung der Codewerte ‚absorbieren‘ kann. Vgl. auch Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 183: „Er [der Rejektionswert] bezeichnet die Perspektive jeweils anderer Codes, die aber im System reflektiert werden kann. Die Mitberücksichtigung eines Rejektionswertes führt also zu einem eigentümlichen Oszillieren zwischen externen und internen Perspektiven.“ 108 Vgl. SS, S. 38, S. 226 ff.
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des Rechts ist mit dem Rechtscode in den beiden Formen Tautologie und Paradoxie verschlüsselt und erscheint als problematisch, die Einheit des Rechts findet sich entsprechend in der Selbstbeschreibung des Rechts. In diesem Zusammenhang soll man zunächst zwischen der Selbstbeobachtung und der Selbtbeschreibung des Rechts unterscheiden. Die Selbstbeobachtung ist die „Sache der täglichen Kommunikation“, die am Codewert orientiert ist; dabei geht es um die „Zuordnung der Einzeloperation zu Strukturen und Operationen des Rechtssystems“ und um die „laufende Sicherung von Anschlußfähigkeit“.109 Die Identitätsbildung des Rechts bezieht sich daher eher auf die Selbstbeobachtung, wobei die Codewerte zugeteilt werden. Und die Autopoiesis läuft auf der Ebene der Operation weiter. Die Einheit des Rechts wird nach Luhmann aber eher durch die semantische Beschreibung des Rechtssystems wiedergegeben. Auch die übliche rechtsphilosophische Frage nach dem Rechtsbegriff, „was das Recht ist“, wird hierin verortet.110 Dabei geht es nicht um differenzierte Rechtsentscheidungen, sondern um die „Darstellung von Einheit, Funktion, Autonomie und auch Indifferenz des Rechtssystems“.111 Deshalb soll man bei den historisch entwickelten Beschreibungen des Rechts ihre zeitliche Bedingtheit und Verschiedenheit berücksichtigen. In der funktional differenzierten Gesellschaft kann man nun ein Sozialsystem sowohl von innen als auch von außen beschreiben. Man kann also in Bezug auf die Einheit des Rechts eine Selbstbeschreibung oder auch eine Fremdbeschreibung des Rechtssystems vornehmen. Bei der Selbstbeschreibung des Rechts, nämlich der Rechtstheorie, handelt es sich um die „Darstellung der Einheit des Systems im System“ und um die „Reflexion der Einheit in genau dem System, das sich reflektiert“.112 Sie thematisiert die Einheit des Rechtssystems und erfordert die „Bezugnahme auf die Identität des Systems“.113 Luhmann nennt diesen Zusammenhang „Autologie“, ja 109 RdG,
S. 498. S. 496. Die rechtsphilosophische Frage wird somit in die Frage der Beschreibung der Rechtseinheit übersetzt, wobei sich man auf eine Selbstbeschreibung des Rechts oder auf eine (soziologische) Fremdbeschreibung beziehen kann. Dafür kommt es auf die benutzte Differenz an. Ein ‚rechtsphilosophischer Differenzansatz‘ würde also nicht nach einer Wesensdefinition des Rechts mit all ihren Ableitungen fragen, sondern es geht darum, welche Differenz dem Gegenstand Recht als Einheit gerecht sein kann. Wissen und Norm? Oder Recht und Unrecht? Oder andere Differenzen? Auf die Frage ‚Was ist Recht?‘ könnte man mit Luhmann kurz antworten: Recht ist der Rechtscode, ist Recht und Unrecht. 111 RdG, S. 499. 112 RdG, S. 498. 113 RdG, S. 499; vgl. auch RdG, S. 75. Nach Schulte, Eine soziologische Theorie des Rechts, 2011, S. 13, resultiert aus der Zugehörigkeit der Selbstbeschreibung zum 110 RdG,
II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts261
eben Selbstreflexion.114 Man könnte hier darauf hinweisen, dass es bei dem Einheitsproblem des Rechts ebenfalls um eine reflexive Relation des Rechtssystems zu sich selber geht, genau wie es sich für das selbstreferentielle Sozialsystem im Allgemeinen verhält. Die Einheit des Rechts ist nämlich mit der Identität des Rechtssystems, die reflexiv vorkommt, verbunden.115 Hierbei könnte man weiterhin den Zusammenhang der Selbstbeschreibung des Rechts (als Rechtstheorie) mit der Tautologie und Paradoxie des Rechts beachten. Die Rechtstheorie als Selbstbeschreibung des Rechts findet im Rechtssystem statt und gehört dem Rechtssystem selber; sie kann deshalb für sich die normative Geltung und Verbindlichkeit beanspruchen, die Einheit des Rechts gilt somit als „Argumentation neben anderen“.116 Die rechtstheoretische Selbstbeschreibung des Rechtssystems befasst sich damit, wie man sich das Recht vorstellt, und sie ist nach Luhmann also keine irRechtssystem, dass diese „sich folglich mit den eigenen Normen identifizieren“ muss und rechtsdogmatisch nicht bestreiten kann, „dass es richtig ist, normkonform zu handeln“; und daher gewinnt für das Rechtssystem „die Unterscheidung von Norm und Faktum zentrale Bedeutung, und zwar in Richtung der Normativität“. Die Selbstbeschreibung des Rechts im Rechtssystem kann tatsächlich nichts dagegen haben, „zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden“ und „sich auf ‚geltende‘ Normen einzulassen“ (Luhmann, RdG, S. 498). Dass man den Rechtscode nicht bestritt, bedeutet aber nicht, sich mit Normen (hier im Gegensatz zum Faktum) zu identifizieren; und die geltende Norm ist auch nicht mit der Normkonformität gleichzusetzen. Die Normativität hat ja die Seite der Normenttäuschung. Schultes soziologische Theorie zeigt in der Tat einen normativen Ansatz – wie unter Juristen nur zu üblich – auf. Des Weiteren sieht Schulte, ebd., S. 41, „die eigentliche Theorieleistung“ aber darin liegen, „Normen als Fakten“, und zwar als „kontrafaktische Verhaltenserwartungen“ zu behandeln, um „die theoretische Anschlussfähigkeit der Norm als Faktum“ zu ermöglichen. Es gilt hier darauf aufmerksam zu machen, dass man dabei Geltung und Norm (Sollen) nicht vermengen soll. 114 RdG, S. 473, S. 343; vgl. auch „eine autologische Schrift“ (RdG, S. 316), „ein autologischer Text“ (RdG, S. 472), „autologischer Einschluß der Beschreibung in das Beschriebene“ (RdG, S. 499). Die Autologie bedeutet generell „Rückschlüsse auf das eigene Tun“ (WissendG, S. 9). 115 Wenn man es genauer fasst, könnte man sagen, dass es bei der Selbstbeobachtung um die Identifizierung der Rechtssinnbestimmungen geht, während sich die Selbstbeschreibung im Sinne der Selbstreflexion des Rechtssystems auf die Identität als solche im Sinne der reflexiven Relation bezieht. 116 RdG, S. 497. Die ‚Einheit des Rechts‘ als eine Formel der juristischen Argumentation erhält daher ihre Geltung nicht aus irgendeinem Rechtsprinzip, sondern aus der reflexiven Selbstbeschreibung des Rechts, die sich als unentbehrlich erweist, aber zugleich viele Variationen gestattet. Trotzdem könnte man zwischen guten und weniger guten Darstellungen der Einheit unterscheiden. Als Beispiel für die Diskussion über das Einheitsproblem vgl. Müller, Die Einheit der Verfassung, 2007 (1979), für ihn ist die Einheit in der Tat etwas Unbekanntes und die Rede von Einheit unehrlich (Müller, ebd., S. 9, S. 234).
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D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
relevante Spielerei für die Identitätsfortbildung des Rechts. Sie muss zwar nicht unmittelbar die Entscheidung treffen, sie erzielt ihre praktische Differenz aber dadurch, dass sie sich auf die Herausbildung der juristischen Begriffe bzw. Formeln auswirkt, wobei die letzteren nach Luhmann als Träger des Identitätskerns des Rechtssystems fungieren. Auch der Streit zwischen Vernunftrecht (Naturrecht) und Rechtspositivismus stellt sich vor diesem Hintergrund als ein Widerstreit zwischen zwei verbindlichen Selbstbeschreibungen des Rechts dar und bezieht sich schließlich auf Einheit und Identität des Rechts. Beide Ansätze als unterschiedliche Beschreibungen der Rechtseinheit gelten so gesehen gleichfalls als semantische Darstellungen der Rechtsparadoxie im Sinne der konkurrierenden Identität.117 Und die Theorie der Selbstbeschreibung des Rechtssystems selber gibt lediglich eine Fremdbeschreibung ab, umgreift aber beide Ansätze und bringt das unlösbare Problem der Identität und der Einheit auf der semantischen Ebene zum Ausdruck. 2. Geltung und Zeit Die Rechtsgeltung hat keinen Grund mehr. Sie wird grundlos und ist auf Differenz, Negation und Zeit angewiesen. Die Zeitbindung durch das Recht beruht sich auf dem identischen Sachsinn, der der Differenz in der sozialen Sinndimension gegenübersteht. a) Rechtsgeltung aufgrund Zeit Wenn der Rechtscode selber kontingent ist und man sich angesichts der Polykontexturalität nicht zwangsläufig an die Rechtskommunikation anschließt, wie kann der Rechtscode in Geltung bleiben, womit die Identität des Rechts fortgebildet und die Einheit des Rechts bewahrt wird? Damit wird das Problem der Rechtsgeltung aufgeworfen. 117 RdG, S. 529. In diesem Zusammenhang scheint Luhmann das Vernunftrecht auf die Geltung und den Rechtspositivismus auf die Normbestimmung zu beziehen, wobei die beiden Positionen jeweils an ihrer Ungewissheit leiden. Diese Zwiespältigkeit bringt aber den Zustand des modernen Rechtssystems zum Ausdruck: „[S]o ist es!“ (ebd.) Was ist es? Es ist nämlich der Streit der beiden Positionen und die darin beobachtete Trennung von Geltung und Norm. „Die ‚so ist es‘-Attitüde“ liegt aber auf der Ebene der Operation, soll durch eine Beobachtung zweiter bzw. dritter Ordnung ersetzt werden (GdG, S. 1132). Dazu könnte eine Fremdbeschreibung versuchen, die Art und Weise zu beschreiben, „in der das System seine eigene Paradoxie / Tautologie in die Geltung von Normen auflöst“ (RdG, S. 529). Luhmann scheint anzudeuten, die Negation in Geltung bzw. in Operationen zu installieren, um den Widerstreit zwischen Selbstbeschreibungen des Rechts zu ‚lösen‘.
II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts263
Das Geltungsproblem bringt nach Luhmann auf der individuellen Ebene zuerst „eine nicht eliminierbare Dispositionsgewalt über das Recht“, die als „basale Souveränität“ darüber bezeichnet wird, ob man ein Thema juridifizieren will oder nicht, „die Geltung des Rechts konstituiert […] eine Art Anschlußkontingenz des Bezugnehmens oder Nichtbezugnehmens, Juridifizierens oder Nichtjuridifizierens“.118 Es ist eine „Sache der Vorentschei dung“,119 „das Anfallen der Fälle“120 gilt als Zufall und man weiß eigentlich nicht, unter welchen Bedingungen ein Fall als Rechtsfall identifiziert würde. Das positivierte Recht gilt universell und befasst sich mit allem Möglichen, aber dies scheint nichts an der basalen Souveränität zu ändern. Dem Thema Rechtsgeltung liegt offenbar die Differenzerfahrung zugrunde, das Problem der kommunikativen Unbestimmtheit.121 Auf der Ebene des Sozialsystems kann man in Bezug auf den Rejektionswert ebenso die Maßgeblichkeit des Rechtscodes bestreiten, auch wenn man zugleich die rechtliche Bewertung für relevant hält. Die Struktur der funktionalen Differenzierung führt dazu, dass die autonomen Teilsysteme sich miteinander in dauernden Konflikten befinden und je für sich die universale Entscheidungssouveränität beanspruchen. Schon mit diesen Überlegungen entfällt der Rechtsgeltung aller ‚Grund‘ und mit ihm auch die unterstützende Hierarchie. Der einzige ‚Grund‘ der Rechtsgeltung liegt nun in dem Rechtscode selber, da man nur mit dem 118 Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., AdR, 1981, S. 38. Und Souveränität ist eine Sache der Inkommunikabilität, ders., Geheimnis, Zeit und Ewigkeit, 1989, S. 117: „Souveränität ist ‚incommunicable‘.“ Dazu vgl. auch GdG, S. 311 f. Logisch gesehen schließt die Souveränität bzw. die Inkommunikabilität eine SelbstNegation ein, kommunikationstheoretisch gesehen liegt deren Problem in der Ununterschiedenheit von Mitteilung und Information, also im Kurzschluss der unterschiedlichen Ebenen (wie bei praktischen Paradoxien); all dies spiegelt sich dann in der romantischen Ironie – wie der Paradoxie der Aufrichtigkeit – wider. In Bezug auf die Ebene des Individuums könnte man das Geltungsproblem sowie die funk tionale Differenzierung der Gesellschaft im Zusammenhang der romantischen Ironie bestimmen. 119 Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 186. 120 Luhmann, Kommunikation über Recht in Interaktionssystemen, in: ders., AdR, 1981, S. 49. Das Anfallen eines Falls ist der Rechtsregel verdankt, markiert den willkürlichen Anfang einer Rechtssache und sondert sie von der Realität zur Entscheidung ab, dies bildet „eine unerläßliche Vorbedingung für eine eindeutige Differenzierung von Recht und Unrecht“, weil ein Zurückgehen hinter den willkürlichen Anfang das Recht ins Unrecht und das Unrecht ins Recht setzen würde, also eine Paradoxie bzw. Theodizee des Rechts hervorrufen würde (vgl. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974, S. 25, auch S. 67). 121 Diese ‚basale Souveränität des Individuums‘ erscheint einerseits in doppelter Kontingenz (SS, S. 314 f.) und andererseits in der Berechtigung zur Rechtslethargie (RdG, S. 490, vgl. E. III. 3.).
264
D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
binären Code die Rechtssachen aus der chaotischen Welteinheit herausfiltern und dann über Recht und Unrecht entscheiden kann. Statt der Suche nach einem die Letztbegründung gewährleistenden Grund soll man den Rechtscode direkt ins Auge fassen und thematisieren. „Schon die Umformung des schicksalhaft ineinander geflochtenen Duals von Recht und Unrecht in einen logisch einwandfreien binären Code (mythologisch: die Einsetzung des Areopag) hatte diese Funktion.“122 Erst mit dem (stabilen) Code kann die Paradoxie des Rechts entparadoxiert werden, indem man weitere Unterscheidungen für die Entscheidungen einführt. Dadurch erhält das Recht seine Geltung. Und was noch Sorgen bereitet, ist nur die mögliche Reparadoxierung des Codes. „Aber was geschieht, um die Reparadoxierung des Code, die Anwendung des Code auf sich selbst oder andere Formen logisch garantierter Unentscheidbarkeit abzuweisen?“123 Für die Rechtsgeltung beruft man sich also nicht auf einen außerhalb des Rechts zu findenden Grund, sondern das Recht muss ‚selbsttragend‘ sein. Seine Geltung resultiert allein aus den Kommunikationsanschlüssen anhand des Rechtscodes, wobei der Code selber nicht thematisiert werden darf. Dies heißt: Verbot der Selbstanwendung des Codes. Sonst würde es implizieren, dass die Codewerte wieder ineinander fließen und dass die für die Abgrenzung der beiden Werte zuständige ‚bloße, einfache Negation‘ nicht richtig funktioniert. Man sieht also, dass es die Änderbarkeit und die Negierbarkeit sind, die den Geltungsgrund des positiven Rechts ausmachen; die Rechtsgeltung gründet auf der (nichts bedeutenden) Negation, wobei Rechtswert und Rechtsbegriff, Geltung und Norm unterschieden werden.124 Unter diesen Umständen fungiert die Rechtsgeltung als Symbol und symbolisiert die Anschlussfähigkeit der Operationen im Rechtssystem.125 Man 122 Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 189; vgl. auch RdG, S. 57. Verzichtet man prinzipiell auf die Letztbegründung mit einem Grund, bedeutet dies noch nicht, dass man schlicht auf das Verfassungsrecht u. ä. als letztes Kriterium zurückgreift. Luhmann lehnt in der Tat nicht den Grund wie Vertrag, Gewalt oder Rechtsmythologien (Areopag) ab, die Hauptsache ist, wie man mit diesen ‚Figuren des Grundes‘ vorgeht und den Rechtscode funktionsgerecht in Gang versetzt. Nur in der modernen Gesellschaft entfallen nun leider alle diese nützlichen Semantiken. 123 Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 191. 124 Vgl. Luhmann, Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: ders., AdR, 1981, S. 400. Auch die Hierarchisierung der Normen kann nur im Rechtssystem funktionieren, ihre Geltung hängt genau von dem funktionierenden Rechtscode ab. Sie kann also nicht wirklich die Paradoxie meistern. 125 RdG, S. 98. Man bemerke Luhmanns nichtnormativen Ansatz darin, dass das Sollen ein soziales Gebilde bzw. eine Erwartungsstruktur darstellt und daher nicht in der Geltung, sondern in der Norm verankert wird. Der Geltungsbegriff ist deshalb nicht so normativ zu verstehen, „daß das, was gilt, auch gelten soll“ (RdG, S. 32).
II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts265
könnte sagen, dass die Geltung exakt die Autopoiesis des Rechtssystems bedeutet.126 Dabei liegt der entscheidende Punkt wohl darin, dass man anhand des eingesetzten binären Codes mit den beiden Werten die soziale Kommunikation – soziale Handlung – regulieren kann, so dass ein soziales Handlungsprogramm gegen alle anderen Irritationen seinen Rechtssinn erhält.127 Die Kommunikation belegt die eine Rechtsbestimmung mit einem Rechtswert, womit man anhand der Negation zwischen den beiden Werten auf der positiven Seite anschließt und die anderen Möglichkeiten auf der negativen Seite reserviert. Dadurch werden die Identität und Einheit des Rechtssystems – nämlich die Selbstreferenz des Rechts – weiter reproduziert. Gerade an dieser Anschlüsse voranbringenden Negation läuft der Prozess der sozialen Kommunikation, wobei, von doppelter Kontingenz von Ego und Alter Ego ausgehend, das ‚Verstehen‘ in der Kommunikation mit der gegenwärtigen Differenz von Vorher / Nachher zusammenfällt.128 Diese zeitDass eine Norm gilt, bedeutet nicht, dass sie gelten soll, sondern dass sie mit ihrer inneren Normativität – kontrafaktische Erwartung, eben das Sollen – faktisch angeschlossen und gebraucht wird. Dadurch kann eine Norm ihren Sinn haben, aber an sich keine Bindungskraft. RdG, S. 33: „Das Recht hat keine bindende Gewalt, es besteht nur aus Kommunikation und Strukturablagerungen von Kommunikationen“. Man soll nämlich die „Normativität und Geltung“ trennen (ders., Die juristische Rechtsquellenlehre aus soziologischer Sicht, in: ders., AdR, S. 318) und die Geltung liegt nicht „in der Starrheit und Rücksichtslosigkeit des Festhaltens bestimmten Normsinnes“ (ders., ebd., S. 322). Ausgehend von der Dichotomie Sein und Sollen bezeichnet Weinberger, Neo-Institutionalismus versus Systemtheorie, 2000, Luhmanns Ansatz als „antinormativistisch“ (S. 323) und seinen Normbegriff im Sinne kontrafaktischer Erwartung als „Unding“ (S. 311). Dies ist so, weil ein Vater diesem Normbegriff nach entschlossen sein muss, „aus der Erfahrung nicht zu lernen“ und daher muss er meinen, „mein Sohn sei vor 8 Uhr nach Hause gekommen“, wenn er seinem Sohn den Befehl gibt, vor 8 Uhr zu Hause zu sein, aber erfahrungsgemäß doch weiß, dass dies oft nicht der Fall ist. Dieses Beispiel soll bereits die Absurdität des systemtheoretischen Normbegriffs illustrieren und die Norm „als Sollsatz“ begründen, womit eine Norm trotz des Widerspruchs „in Geltung bleiben“ kann (ebd., S. 311). Eine Norm soll eben gelten, dies will Weinberger so begründen. An dieser exemplarischen, bizarren Interpretation kann man sich deutlich machen, wie unwillig man ist, Verständnis für einen fremden Ansatz aufzubringen. 126 Luhmann, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, 1993, S. 23: „Die Unverzichtbarkeit der Norm – das ist die Autopoiesis des Systems.“ Auch SS, S. 395: „Notwendigkeit ist nichts anderes als die autopoietische Reproduktion selbst. Deren Notwendigkeit besteht darin, daß es für sie nur eine einzige Alternative gibt: das Aufhören, die Beendung des Systems.“ 127 SS, S. 386. Nebenbei kann man die Besonderheit der Rechtsgeltung (als Problem) wohl darin sehen, dass sie als Symbol die Rolle spielt, die bei anderen Systemen die Kommunikationsmedien (Geld, Macht usw.) spielen. Das Rechtssystem verfügt über kein eigenes Medium, stattdessen scheint es mit der Rechtsgeltung die ‚symbolische Generalisierung von Sinn‘ zustande zu bringen (vgl. SS, S. 137). 128 Vgl. B. III.
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D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
liche Differenz treibt die Autopoiesis an, mit der die Negation – Sein oder Nichtsein, im Rechtssystem: Recht oder Unrecht – verbunden ist. In diesem Sinne kann man nun sagen, dass das Rechtssystem auf der Zeit gründet und aufgrund der Regulation des Negationsgebrauchs seine eigene Zeit erhält. Somit wird die Rechtsgeltung von der Sachdimension (Grund) auf die Zeitdimension (Vorher / Nachher) verlegt.129 Dies entspricht nach Luhmann auch der grundlegenden Struktur der modernen Gesellschaft. Aber hier könnte man nochmals fragen, auf welcher Zeit die Rechtsgeltung gründet.130 Ist es die reine Lagezeit, die modale Lagezeit oder die 129 Entsprechend der Unterscheidung von Rechtswert und Rechtsbegriff soll die Unterscheidung von Geltung und Norm (Normativität) vollzogen werden. Die Theo rie der Normenstufen scheint auf der begrifflichen Bindung von Geltung und Norm gegründet zu werden. Mit (Grund-)Norm wird zugleich (der Grund der) Geltung gemeint, wodurch man schließlich zu der Grund-Norm bei Kelsen gelangt. Das Hauptproblem der Theorie der Grundnorm scheint mir nämlich darin zu liegen, dass sie Geltung und Norm, Rechtswert und Rechtsbegriff begrifflich verbinden will, wie man in Gottesbegriff die Existenz einschließen will. Vgl. dazu Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1993, S. 79: „So erscheint […] das Unrecht [Negation des Rechts] nur als ein in der Rechtsordnung als Bedingung für den staatlichen Zwangsakt gesetzter Tatbestand, […] als ein Inhalt der Rechtsnorm, des rechtlichen Sollens […]. Das Problem des Staatsunrechtes verschwindet damit als solches.“ Diese theoretische Konstruktion ist zum Scheitern bestimmt. Fögen, Das Lied vom Gesetz, 2007, S. 92, hält die Kontingenzformel (im Fall der Religion: der Gott) bei Luhmann für eine Variante der Grundnorm bei Kelsen. Die Kontingenzformel widerspricht aber m. E. diametral der Grundnorm, die zum einen keine Negation, also keine Differenz, kennt und zum anderen empirisch unbeobachtbar ist (vgl. RdG, S. 31). Auch Pawlik, Die Lehre von der Grundnorm als eine Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung, 1994, S. 464, hält „die Theorie von der Grundnorm“ für „die radikale Kontingentstellung des Rechts“. Dabei unterscheidet er die Beobachtung erster und zweiter Ordnung; in der ersten Ordnung besteht die immer „ ‚einwertig‘ “ wirksam praktizierte Geltung, die hier zwar „denkbar“ ist, aber noch nicht gedacht wird; die Grundnorm wird in der zweiten Ordnung verortet, bei der man die Geltung „denkt“ und damit die Nichtgeltung als Problem „sichtbar“ macht. Demnach ermöglicht die Grundnorm die Reflexion der Reflexion und erhöht erst die Realität konstruktiv zur Normativität, indem sie „die Grenze des geltenden Rechts als Grenze […] zu begreifen“ ermöglicht, dadurch begreift das Recht zugleich „seine jeweiligen Inhalte mithin selbst als kontingent in einem komplexen Sinn – als durch Setzung begründet, im Medium der Anwendung existierend und daher auch änderbar. Der Denkbarkeit der möglichen Nichtgeltung des aktuell geltenden Rechts entspricht insofern die – zumindest latente – Allgegenwärtigkeit des Politischen“ (Pawlik, ebd., S. 464–465). Abgesehen von der Frage, ob Kelsens Grundnorm eine Reflexionsformel darstellt, sieht man hierbei die ontologische Verbindung der Inhalte mit einer einwertigen Geltung, wobei die Nichtgeltung einmal mehr in die Umwelt (das Politische) abgeladen wird. Dem widerspricht m. E. gerade die Kontingenzformel bei Luhmann. 130 Der Vorgang der Entfaltung von einem Augenblick bzw. einem Plötzlichen zum Zeitfluss ist kompliziert und voraussetzungsreich. Vgl. C. II. 2. e) cc) und C. III. 5.
II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts267
reine Modalzeit (Schmitz)? Ist es der Augenblick, das Plötzliche oder die Ewigkeit? Nach Luhmann ist die Gesellschaft vollständig temporalisiert. Früher ist man noch in der Lage, den Punkt des Umschlagens bei einem momenthaften Ereignis als etwas Zeitloses und daher etwas Ewiges außerhalb der Zeit zu lokalisieren; heute wird der umschlagende Punkt in den fließenden Zeitfluss einbezogen. Theoretisch erscheint die Lösung der Paradoxie des Augenblicks wohl noch als problematisch, aber immerhin scheint man sich die Ewigkeit bzw. etwas Zeitloses nicht mehr leisten zu können. Demnach gibt es die irreversible und reversible Gegenwart, die punktualisierte und dauernde Gegenwart. Und in der gegenwärtigen Differenz werden die beiden Zeithorizonte, Vergangenheit und Zukunft, zentriert und verbunden, dann erhält man von der Gegenwart aus die gegenwärtige Vergangenheit und gegenwärtige Zukunft. Die Gegenwart wird dadurch sozusagen in sich selber zurückgebunden (re-entry) und selbstreferentiell (und zeit-antinomisch). Insofern wird die Zeit überbrückt und gebunden: die Zeitbindung in Richtung Vergangenheit und Zukunft.131 Im Zentrum dieser Zeittheorie der Rechtsgeltung steht das augenblick liche, irreversible Ereignis, das die (echte) Gegenwart darstellt und in sich Vergangenheit und Zukunft zusammenbindet. Dies bedeutet „das Präsentwerden einer am irreversiblen Ereignis noch sichtbaren Vergangenheit und schon sichtbaren Zukunft in einer noch dauernden Gegenwart“.132 In diesem Sinne liegt die temporalisierte Zeit als „die einzige unabdingbare Geltungsgrundlage“ des Rechts genau „in der Gleichzeitigkeit aller faktischen Operationen des Gesellschaftssystems und seiner Umwelt“.133 Dabei scheint aber paradoxerweise der ‚Grund‘, auf den man sich nicht mehr beruft, nun als Ereignis zu fungieren, das jetzt ebenfalls im Zeitfluss fließt, aber an sich gewissermaßen etwas Zeitloses zum Vorschein bringt.134 131 Es soll in der Tat die reine Modalzeit im Sinne von Schmitz sein, die die modale Lagezeit im alltäglichen Zeitfluss trotz der oftmals übersehenen Zeitantinomien ermöglicht. 132 SS, S. 117. Nur so kann das begangene Unrecht zurückbleiben und das für die Wiedergutmachung gefällte Urteil verschwindet nicht im nächsten Moment, sondern existiert ‚bereits‘ für die noch nicht einzutreffende Zukunft: „Ein Ding ist noch da, wo man es verlassen hatte; ein Unrecht kann wiedergutgemacht werden“ (SS, S. 117). 133 RdG, S. 110. Diese ‚Gleichzeitigkeit‘ soll nicht die Anwesenheit des Abwesenden meinen, sondern die gegenwärtige Gleichzeitigkeit der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Gegenwarten, also: die gegenwärtige Zeit-Differenz. 134 Günther, Vom Zeitkern des Rechts, 1995, S. 15: „Die kleinen Aprioris ereignen sich im Augenblick des gelingenden Vollzugs“ und er fragt im Hinblick auf das Problem des Historismus, „ob sie [die genannten kleinen Aprioris] sich gänzlich in der Zeit auflösen lassen oder ob es nicht ohne einen wenigstens internen Blick ins Ewige geht“. Der Punkt des Plötzlichen bzw. des Augenblicks sieht in der Tat wie ein ewiger Punkt – der fließende Punkt der Ewigkeit – aus, weil man mit Schmitz wohl sagen
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D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
b) Zeitbindung aufgrund Rechtsgeltung Die Rechtsgeltung gründet auf der Zeit, aber sie bindet zugleich die Zeit (Zeitbindung). Das Recht ist nun änderbar und es muss ebenfalls die Verhaltenserwartung stabilisieren. Bei Luhmann steht die Zeitbindung in unmittelbarer Verbindung mit der Identität, man bindet die Zeit aufgrund der Identität im Zeitfluss. Der entscheidende Punkt liegt aber darin, dass nicht nur die Zeit, sondern auch die Identität von der einwertigen Ontologie befreit werden soll. „Von einer radikal konstruktivistischen Beobachtertheorie her gesehen, ist Identität jedoch nicht eine zeitunabhängige Vorgabe, sondern nur ein Instrument der Zeitbindung, wenn es darum geht, Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig zu vermitteln.“135 Die Identität ist zeitabhängig, sie ist also änderbare Identität; die ‚konstruktivistische Identität‘ stellt eine ‚Form-Identität‘ dar; und die Identität vermittelt Vergangenheit und Zukunft, sie ist offenbar mit der gegenwärtigen Zeit-Differenz und mit der Rechtsgeltung direkt liiert. Aber immerhin ist es die Identität und die Identität soll die Zeitbindung zustande bringen. In Luhmanns nichtnormativem Ansatz bedeutet nun die Zeitbindung durch das Recht so viel, wie „man auch sagen kann, daß die Sprache Zeit bindet durch Festlegung des Sinns von Worten auch für zukünftigen Gebrauch“.136 Die Zeitbindung erfolgt nämlich dadurch, dass die Identität sich auf Sinn bezieht (Sinn-Identität) und dabei aufgrund der Wörter u. ä. fixiert. Ein Wort soll, trotz der Differenz von Ego und Alter Ego, ‚nach wie vor‘ den identischen Sinn haben. Es muss dann eine Semantik mit festgelegtem Sinn geben, der gleichermaßen für weitere Kontexte als „re-identifizierbare Invarianzen“ konfirmiert wird, womit man später auf ihn zurückgreifen kann.137 Gleichzeitig stellt sich die Zeitbindung eben auch als kann, dass in diesem Punkt alle Zeitflüsse in die sich offenbarende reine Modalzeit konvergieren und sozusagen in einem Moment aufhören zu fließen, oder mit Luhmann, dass alle Geschehnisse immer im Gleichzeitigen (und deshalb ohne kausales Verhältnis) sind. Ob man gegenüber dem plötzlichen Augenblick nichts wissen und bewirken kann, wie Luhmann sagt (RdG, S. 110), kann noch offen bleiben. 135 Luhmann, Eine Redeskription „romantischer“ Kunst, 1996, S. 343. Über die enge Verbindung von Zeit und Identität bei Luhmann, vgl. auch ders., die Gewissensfreiheit und das Gewissen, in: ders., AdR, 1981, S. 336 f., Anm. 16. 136 RdG, S. 33. In Bezug auf Recht, Norm und Sprache schildert Luhmann den Standpunkt von Parsons folgendermaßen: „Und der Normbegriff ist der Begriff. Die Handlung ist nur über Normen – mit einem sehr weiten Verständnis – möglich; und die Normativität ist eigentlich die Sprache, die Gesellschaft oder Sozialsysteme organisiert“ (Guibentif, Niklas Luhmann und die Rechtssoziologie, 2000, S. 225). Nur Luhmann bezieht sich eher auf den Formbegriff als auf den Normbegriff. 137 RdG, S. 127. Bei ‚demselben Sinn‘ bzw. bei ‚demselben Wort‘ wird in der Tat der Identitätsbegriff immer schon vorausgesetzt und benutzt. Diese implizite Zirku-
II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts269
„Verweisungsüberschüsse, die jede konkrete Sinnfixierung undefinierbar machen und alle weitere Verwendung unter Selektionszwang setzen“, dar.138 Der ‚identische‘ Sinn ist also allein nicht zu definieren, sondern nur durch Bezug auf andere Sinnmöglichkeiten unter dem Selektionszwang zu bestimmen. Zusammenfassend erweist sich die Zeitbindung als Vorgang der Identitätsfortbildung, wobei die Identität Invarianz und Varianz in sich einschließt.139 Die Identität soll in der laufenden Zeit trotz der variierenden Sinnmöglichkeiten gleich bleiben. Die Zeitbindung fungiert vor allem als eine Funktion zwischen Zeit- und Sachdimension;140 in ihr überschneiden sich offenbar die jeweiligen Paradoxien in der Zeit- und Sachdimension, und zwar immer in der Gegenwart mit Bezug auf ‚dies‘. Man bindet sich dabei durch eine Anlehnung der Zeitdimension an die Sachdimension, indem man sich mithilfe einer relativ festen Semantik – Wort, Satz, Schrift, Text usw. – in dem (negierenden) Selektionsverhältnis der horizontalen Sinnmöglichkeiten zurechtzufinden versucht. Die Semantik (bzw. der Text) verhilft zur Vermittlung von Invarianz und Varianz.141 larität ist unvermeidlich, da die Identität undefinierbar ist (Schmitz). Luhmann bestimmt sie eben nicht, sondern bezieht sie hauptsächlich phänomenologisch auf ihre funktionale Rolle. Außerdem deutet die Identität bei dem Sprachgebrauch auch eine Erwartungsstruktur bzw. eine Norm oder ein Sollen an. 138 RdG, S. 127. 139 Vgl. Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie, in: ders., GuS 1, S. 222: „Variation heißt nicht Umsturz“ und „Ordnung selbst erhält eine negatorische Identität“. 140 SS, S. 133. 141 Hier taucht das Sinnproblem wieder auf. Man soll Luhmann zufolge nämlich die Zeitkomplexität entlasten und die sachliche Komplexität vergegenwärtigen, so dass in der aktuellen Gegenwart alle anderen Möglichkeiten präsent werden; dann findet sich die Identität des Sinns in der Sachdimension in der „Andersheit“, im „Zusammenhang von sachlicher Identifikation und Negation“, wobei die Verschiedenheit aufgehoben wird [Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, 1971, S. 47–49, S. 89; vgl. B. II. 2. und C. II. 2. e)]. Der ‚identische‘ Sinn soll bei Luhmann auch die verschiedenen, aber aufgehobenen, im Moment nicht aktuellen Sinnmöglichkeiten umfassen. Die Verschiedenheit wird sozusagen potentialisiert und in der Identität mitgebracht und die Identität besteht somit in „dies[em]-und-nichtsandere[m]“ (SS, S. 101). Diesen ‚identischen Sinn‘, der eine Komplexität darstellt, könnte man als Bezeichnung für die ‚bedeutsame Situation‘ bzw. die ‚nichtnumerische Einheit‘ im Sinne von Schmitz verstehen, die innerlich logisch paradox ist; die Sinnidentität ist so gesehen – der Identität der Person ähnlich – eine innerlich negierende Identität (Identität durch Negation). Und der identische Sinn kann außer durch semantische Gegenstände auch durch andere wahrnehmbare Objekte markiert werden (GdG, S. 47 f.). Man kann wohl auch von einem „ ‚Hof‘ ungesagter Bedeutungszusammenhänge“ sprechen (Pannenberg, Die Allgemeingültigkeit der Religion, 1978, S. 357). Übrigens könnte die grammatische Auslegung bei der juristischen Methodenlehre bei diesem Zusammenhang von Wort, Sinn und Bedeutung ansetzen,
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D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
Erst in Bezug auf den identischen Sinn kann man dann danach fragen, ob man ein Wort regelgerecht gebraucht. Eine Regel bezieht sich nämlich auf den identischen Sinn, daraus resultiert weiterhin die Differenz von richtig / falsch, regelmäßig / regelwidrig und konform / abweichend. Die Zeitbindung meint daher die Identität der (Gebrauchs-)Regel, die ihrerseits dann den Streit um die Differenz von richtig / falsch ‚verursacht‘; angesichts des Streits darüber kann die Regel bekräftigt werden, daraus entsteht weiterhin die Normativität mit der Differenz von konform / abweichend; Luhmann spricht dabei von der „fundierenden Normativität“. Wenn diese normative Differenz noch einmal codiert wird, dann entsteht die binäre Codierung des Rechts und dies erklärt die Entstehung des Rechtscodes.142 Die Vergewisserung der Sinnidentität geschieht aber immer in dem Moment der gegenwärtigen Kommunikation, in dem alle drei Sinndimensionen augenblicklich zusammengeschlossen werden, um im nächsten Moment wieder je ihre eigenen Wege zu gehen. „Alle haben es im Moment mit dem gleichen Objekt zu tun, und daraus ergibt sich eine Multiplikation der Anschlußmöglichkeiten für den nächsten Moment.“143
Diese Gegenwart drängt in der Zeitdimension zur Suche nach dem Anschluss (Rechtsgeltung), in der Sachdimension zeugt sie aber von Gleichheit bzw. Identität (Zeitbindung). Sie bewirkt einerseits die (Selbst-)Festlegung der Beteiligten anhand des unbestreitbaren, für alle identischen Sinns und löst andererseits zugleich die Paradoxie durch die Zeit (aus). Die Zeitbindung aufgrund des Rechts will diese momentan markierte Identität extra codieren, fortbilden und damit die Verhaltenserwartungen konstant halten. Generell geht es nach Luhmann um die Übersetzung von Komplexität und Zeitlichkeit der Gesellschaft ins Recht, und zwar unter den nun präzisierten Bedingungen: wenn das Wort den identischen Sinn markiert und damit einen Hof der Bedeutungen ausmacht. Das Verhältnis von Invarianz und Varianz soll in der Tat die Unterscheidung von Identität und Identifizierung (Schmitz) betreffen, wobei die Semantik bzw. der Text (hermeneutisch) die Funktion des Trägers dieses Verhältnisses erfüllen kann. 142 RdG, S. 128. Auch wenn man regelwidrig handelt, verstößt man dabei gegen die ‚identische‘ Regel. Man soll also die Identität bzw. Regel nicht mit der hinzugefügten Differenz (Form) vermischen, sondern man soll die Problematik der RegelBefolgung von der Regel an sich trennen. Zum Rechtscode vgl. RdG, S. 165–168. Gemäß der Differenzlogik entsteht der Rechtscode nämlich durch die nochmalige Binarisierung der binären Differenz von konform / abweichend durch die Differenz von Recht / Unrecht. Man könnte im Rechtssystem eine Codierung zweiter Ordnung sehen, womit es eine Versicherung der Verhaltenserwartung für die gesamte Gesellschaft leistet. 143 SS, S. 231. Man könnte hierin die primitive Gegenwart wie die konkurrierende Identität (Schmitz) sehen.
II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts271 „Erwartungen binden die irreversibel laufende Zeit, und diese Leistung kann gesteigert werden, wenn man entweder die Bedingungen präzisiert, unter denen die Erwartungen im Enttäuschungsfalle durch Lernprozesse geändert werden müssen, oder wenn man das kontrafaktische Festhalten der Erwartungen trotz Enttäuschung legitimiert.“144
Dass man der Zeitbindung durch das Recht bedarf, steht – so könnte man es sehen – schließlich im Zusammenhang mit der Deontologisierung des Sozialen, indem man mit der Differenz von Konsens / Dissens nicht wie zuvor primär auf den Konsens abzielen muss. Stattdessen kann man sich mithilfe des identischen Sinns an den Möglichkeiten der offenen und ungewissen Zukunft orientieren, notfalls mit Rechtszwang (der subjektiven Rechte). Damit ermöglicht die rechtliche Zeitbindung, die Kommunikation an den identischen Sinn anzuschließen und die Vergangenheit und Zukunft zu überbrücken. 3. Entscheidungszwang und juristische Argumentation Die Zeitbindung aufgrund der Identität bringt eben die negative Möglichkeit der Abweichung hervor und zwingt zur Entscheidung. Das Zeitproblem kehrt dadurch zurück und fordert eine argumentative Regelbildung im Hinblick auf Recht und Unrecht. a) Dauernde Konflikte und Entscheidungszwang Durch die rechtlich binäre Codierung der Differenz der „fundierenden Normativität“ werden die Konflikte sozusagen vorprogrammiert, weil jetzt die negative Seite ‚besteht‘. „Die Negativbewertung einer durch die Norm überhaupt gegebenen Möglichkeit des Abweichens definiert die sozialen Kosten der Zeitbindung und zugleich den, der sie gegebenenfalls zu tragen hat.“145 Die Zeitbindung durch das Recht bringt nämlich die Abweichung hervor und wird mit Rechtskonflikten bezahlt, weil man es nun mit dem Unrecht zu tun hat. Der binäre Code deckt „alle Verhaltensweisen“ ab und das Unrecht liegt ebenso „im System“, es gehört dem Rechtssinn an; dabei erfolgt die Zurechnung der Rechtswerte zwar nicht beliebig, aber die Kosten werden im System ausgewiesen, nicht der Umwelt überlassen.146 144 Luhmann,
Konflikt und Recht, in: ders., AdR, 1981, S. 94. S. 128. 146 RdG, S. 128–129. Hier sieht man die Notwendigkeit ein, das Unrecht von dem Nicht-Recht deutlich zu trennen. Auf der Seite des Unrechts stehen die alternativen, doch auf Rechtssinn bezogenen Verhaltensweisen, die im Rechtssystem zu verarbeiten, aber nicht in die gesellschaftliche Umwelt (Nicht-Recht) abzulegen sind. Zugleich soll man sorgfältig die Differenz von konform / abweichend von der 145 RdG,
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D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
Die Rechtskonflikte werden strukturell angelegt, sie haben offenbar ihre Ursachen in der Auflösung der einwertig ontologischen, hierarchischen Ordnung und dann in der gesellschaftlichen Polykontexturalität der Funktionssysteme. Mit der Zeitbindung nimmt das Recht die Komplexität von der Dimension der Zeit in sich auf, wobei die Sachdimension ebenfalls deontologisiert wird. Man besitzt kein ordnendes Dingschema mehr. Anstelle dessen soll man mithilfe des Rechts bei Konflikten diskriminieren, wodurch die Zeitbindung die sozialen Anschlüsse präjudizieren und regulieren kann. Die Behandlung der Konflikte hat hier die Entscheidung über Recht und Unrecht zum einzigen Endziel. Das Recht wird dafür im Verfahren organisiert, schafft dadurch seine „Eigenzeit“, indem es sein eigenes Tempo gegenüber seiner Umwelt reguliert.147 Im Verfahren lässt das Recht eine Zeitlang den Ausgang und damit die Zukunft offen, dann bindet es die Zukunft wieder durch die Entscheidung. Das Rechtssystem erzeugt also unter der Leitung des binären Codes mit dessen negierendem Effekt in der autopoietischen Kommunikation eine eigene Struktur der Zeit, „um eine offene Zukunft in die Gesellschaft hineinzunehmen und zu binden“.148 Das Recht nimmt also die Konflikte der Gesellschaft ab und gibt dann die Zeitbindung an sie zurück, wobei es die offene und die gebundene Zukunft – Varianz und Invarianz – verbindet.149 Dies geschieht aber nur in der Gegenwart, hierin muss die Entscheidung gefällt werden. Die Zeitbindung erzeugt den Zwang zur Entscheidung zwischen Recht und Unrecht, was auch die „praktikable Logik“ des Rechtssystems in Bezug auf die Systemidentität erfordert.150 Damit kann man beweisen, dass Recht Recht ist und den Verdacht beseitigen, dass Recht Unrecht ist (Theodizee des Rechts). Ohne den Entscheidungszwang kann der Rechtscode nicht richtig funktionieren und die Funktion des Rechts wird nicht erfüllt, nämlich die Verhaltenserwartung zu stabilisieren. Rechtlich wird der Zwang im Verbot der Justizverweigerung angelegt, bei Luhmann scheint die entscheidende Pointe aber darin zu bestehen: Differenz von Recht / Unrecht unterscheiden, da ein abweichendes Verhalten nicht automatisch der Seite des Unrechts zugeschrieben wird. Wie man angesichts der stets bleibenden Möglichkeiten der Abweichung die Zeitbindung erreichen kann, stellt die eigentliche Frage dar. 147 RdG, S. 212. 148 RdG, S. 565. 149 Nach Günther, Vom Zeitkern des Rechts, 1995, S. 24, fungiert das Rechtssystem bei Luhmann als „Hüter der Zeit“ und wird möglicherweise der Überforderung ausgesetzt. Das Recht wird selber stark der Verzeitlichung ausgesetzt, aber es scheint keinen anderen Ausweg zu geben. Auch die ‚Idealisierung‘ der Kommunikation bei Günther erfogt nur in der Zeit. 150 RdG, S. 502.
II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts273 „Der Systemzustand [des Rechts] kann nicht so hingenommen werden, wie er sich als Weltzustand ergibt. Die Differenz System / Umwelt wird im System als offenes Problem erfahren; und am Ende einer langen Erfahrung mit dieser Zäsur und nach der Entwicklung derjenigen Rechtseinrichtungen, die es ermöglichen, damit umzugehen, setzt sich das System selbst unter Entscheidungszwang.“151
Von dem Entscheidungszwang hängen also die Abgrenzung des Rechtssystems zu seiner Umwelt und damit auch die Geschlossenheit des Rechts ab. Er stellt eine Voraussetzung für die funktionale Ausdifferenzierung des Rechts dar. Und damit wird der Weltzustand nicht mehr dem Rechtssystem gleichgesetzt. Die Welt ist bei Luhmann ein unnegierbarer Begriff, indem sie neutral ist und daher die beiden Werte Positivität und Negativität in sich aufnehmen kann. In diesem Sinne wird die ontologisch einwertige Welt deontologisiert und in eine zweiwertige Welt umgewandelt. Der Entscheidungszwang bedeutet daher, der Welt die Differenz des Rechtscodes institutionalisiert hinzuzufügen. Der Weltzustand wird dann nicht mehr ‚hingenommen‘, sondern er nimmt zwangsläufig die Rechts-Form – im Rechtssystem – an. b) Grundlose Entscheidung in der Gegenwart Die Entscheidung ist zu treffen. Mit ihr kehrt aber das Problem der Verzeitlichung in die rechtliche Zeitbindung zurück. Als orientierende Unterscheidung soll man sich zunächst darauf aufmerksam machen, dass die Entscheidung weder eine Argumentation noch eine Begründung darstellt. Nach Luhmann kann man von der Argumentation nicht zur Entscheidung gelangen. „Die letzten Gründe sind immer nur vorletzte Gründe“ und der Jurist muss damit leben, „daß seine Argumentation, und sei sie noch so durchdacht, nicht immer die letztlich entscheidende Entscheidung be stimmt“.152 Die ‚Begründung‘ dafür darf nun so lauten: „Jede Begründung findet sich, durch ihren puren Vollzug, dem Vergleich mit anderen Möglichkeiten und damit dem Selbstzweifel ausgesetzt. Sie sabotiert sich laufend selbst, indem sie den Zugang zu anderen Möglichkeiten eröffnet, wo sie ihn verschließen möchte. Wenn wir dies beobachten, führt uns das zu der Konsequenz, Begründung sei ein paradoxes Unternehmen, das sich, wie immer, mit irgendeiner Art von Unehrlichkeit auf dem Weg bringen muß.“153 151 RdG,
S. 307. S. 406. 153 Luhmann, Ethik als Reflexionstheorie der Moral, in: ders., GuS 3, 1998, S. 360. Alle Theorien der Begründung müssen also mit dem Verdacht der Unehrlichkeit konfrontiert werden. Die Begründung als solche bringt immer Unehrlichkeit mit sich, da jede Begründung zugleich eine Gegenbegründung in sich einschließt. Es verhält sich wie bei dem Problem der Aufrichtigkeit. Vgl. SS, S. 207; GdG, S. 309 ff. 152 RdG,
274
D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
Sichtbar geht es in dem Zusammenhang wiederum um die Formtheorie bzw. den zugrunde liegenden Differenzansatz bei Luhmann, wonach die Begründung prinzipiell unmöglich ist. Traditionell bringt der Entscheidungszwang die Argumentation dazu, immer wieder auf „externe Referenzen“ zurückzugreifen und somit die Entscheidung für das Recht, aber doch nicht für das Unrecht, zu ‚begründen‘; dabei beruft man sich nach Luhmann, wie oben einmal erwähnt, auf Gottes Willen, Maximierung des Wohlstands, souveräne Weisungsgewalt oder auch andere eigens eingeführte Hypothesen, aber allenfalls sucht man nach wie vor nach einem „archimedischen Punkt außerhalb des Systems“ und zielt auf „prinzipielle Antworten“ auf alle Rechtsfragen ab, um damit die Grundeinheit des Rechts zu erreichen.154 Diese variierenden Theorien haben ihren strukturellen Sitz bereits in der funktional differenzierten Gesellschaft, sie können die semantischen Schwellen aber nicht überschreiten. Wenn sich heutzutage das Rechtssystem auf eine externe Referenz bezieht und damit auf seine Umwelt verweist, dann findet es immer „mehrere Anknüpfungsmöglichkeiten“, eben die verschiedenen Funktionssysteme, aber es muss dann doch „auf der Eigenbasis“ zwischen diesen ‚Gründen‘ entscheiden. All dies bedeutet, dass die GrundTheorien das strukturelle Problem der Polykontexturalität verdecken, die es nun aber unmöglich macht, überhaupt die Einheit des Rechts auf irgendeinen Grund zurückzuführen. Und was dann als „letztlich überzeugende Lösung des Problems“ übrig bleibt, besteht nur in der „Bezugnahme auf das Gesamtsystem der Gesellschaft“.155 Die Einheit des Rechts ist in der Gesellschaft als solche zu suchen, was angesichts ihrer unitas multiplex letztlich auf die strukturelle und operative Kopplung hinweist. Die Begründung ist deshalb einwertig und unmöglich oder sie erfolgt nur durch die Anschlüsse im Rechtssystem. Aber vor diesem Hintergrund meint Luhmann, dass „das System sich selbst an diesem Punkte [der Entscheidung] zum Rätsel wird“.156 Die Entscheidung ist zwangsläufig zu treffen, und das System besteht aus Sinnmöglichkeiten, aber wo ist die Position der Entscheidung im System? „Die Entscheidung selbst ist aber keine Komponente der ihr vorliegenden Alternative“, und sie ist „das durch die Alternativität der Alternative ausgeschlossene Dritte“ sie ist „die Differenz, die diese Alternativität konstituiert; oder genauer: sie ist die Einheit dieser Differenz“.157 Schließlich ist die Entscheidung, zu der man – ja gezwungenermaßen – gelangen muss, der blinde Fleck: Sie ist „ein Paradox. Ent154 Über
III. 5.
155 RdG,
diesen Zusammenhang der Grund-Theorien, RdG, S. 504–505; vgl. C.
S. 505. S. 307. 157 RdG, S. 308. 156 RdG,
II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts275
scheidungen gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares […] vorliegt“; aber gleichzeitig bedeutet genau das Ausgeschlossensein, „entscheiden zu können“, eben weil über die Alternative noch nicht entschieden wird.158 Die Paradoxie der Entscheidung liegt also in der Struktur der Zweieinheit, in der Einheit der alternativen Differenz; sie ist diese Differenz, die signalisiert, dass noch nicht entschieden wird, noch keine der Möglichkeiten entschieden angenommen wird und daher noch entschieden werden kann. Die Entscheidung stellt, so könnte man sagen, in der Tat den Rechtscode als Form mit beiden Rechtswerten dar, sie bildet deshalb ‚das Differente‘ von Recht und Unrecht,159 das im System schwer zu verorten ist und deswegen rätselhaft wird; und ihre Paradoxie entsteht daraus, dass in einer Entscheidungslage die beiden Werte nicht völlig zu kontrollieren sind und dabei ineinander fließen können.160 Bei Luhmann fällt die nicht zu begründende, prinzipiell unentscheidbare Entscheidung weiterhin mit der Gegenwart zusammen. Das Rechtssystem existiert und operiert, wie alle anderen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt und die Entscheidung als Problem resultiert aus der „mit diesem Zeitpunkt gleichzeitigen (was immer heißt: unkontrollierbaren) Welt“.161 Der Zeitpunkt des Gleichzeitigen bildet den Punkt des gegenwärtigen Umschlagens, stellt die Grundgeltung auf die Geltung als Symbol für Anschlüsse um und verknüpft die Entscheidung hierbei mit der basalen Sinndifferenz von Aktualität / Potentialität. Die Gegenwart erzeugt nämlich die Einheit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft, sie wird „zum blinden Fleck einer sich ins Inaktuelle ausdehnenden Zeit“;162 und als der blinde Fleck der Alternative Vergangenheit und Zukunft kann die Gegenwart „die gleichzeitige Welt in die Form einer gegebenen Alternative bringen“.163 Dadurch erscheint die Gegenwart als „Zeitpunkt der Entscheidung“ und die Alternative von Vergangenheit und Zukunft gestaltet eine „Situation als Entscheidungssituation“; weil der Sinn in der Alternative, nämlich in Ver158 RdG,
S. 308. SS, S. 38; GdG, S. 595. 160 Die Entscheidung bringt die Differenz von Recht und Unrecht zur Geltung und verkörpert daher die Einheit des Rechtssystems, die nun nicht mehr mit einem (letzten) Grund zu begründen, sondern nur in Entscheidungen zu operationalisieren ist. Die zu treffende, aber doch unentscheidbare Entscheidung bei Luhmann meint, dass zwischen beiden Werten – Recht und Unrecht, Geltung und Nichtgeltung, Existenz und Nichtexistenz u. ä. – nicht völlig zu konditionieren ist. Das Leben bleibt zufällig. Zudem könnte man die Paradoxie der Entscheidung auch als Widerstreit zwischen den prinzipiell gleichberechtigten Sinnbestimmungen auffassen. 161 RdG, S. 308. 162 RdG, S. 308. 163 RdG, S. 309. 159 Vgl.
276
D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
gangenheit und Zukunft, „notwendig inaktuell“ ist, kann man sich in der Gegenwart „selektiv verhalten“.164 Es scheint so, dass in der Gegenwart an sich die Vergangenheit und die Zukunft gewissermaßen suspendiert werden, so dass man in diesem blinden Fleck selektiv die Entscheidung treffen kann und muss; in der Tat könnte man sagen, dass die Entscheidungssituation einen Zustand von futuris contingentibus darstellt.165 Die Gegenwart hält also zur Entscheidung einen Moment inne, um anschließend den zeitlichen Umschlag zustande zu bringen. „Eine Entscheidung kann nur vorkommen, wenn in dieser Weise temporalisiert wird. Ansonsten steht es frei, die Welt je gegenwärtig so zu erleben, wie sie sich zeigt.“166 c) Juristische Argumentation Wenn die Entscheidung prinzipiell nicht zu begründen, aber doch ‚grundlos‘ in der Gegenwart zu fällen ist, bezieht sie sich eher auf die Rechtsgeltung und Anschlüsse in der Zeitdimension. Im Gegensatz dazu geht es bei der juristischen Argumentation eher um Zeitbindung, Regelbildung und Identitätsfortbildung in der Sachdimension. Genauer gesehen ist die Argumentation bei Luhmann nicht mit der Begründung gleichzusetzen, sie stellen in der Tat unterschiedliche Paradigmen dar.167 164 RdG,
S. 309. GdG, S. 895 f. u. Anm. 49, S. 909; Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 174; vgl. C. II. 2. e) bb). Luhmanns Zeit- und Entscheidungstheo rie dreht sich um die Gegenwart als letzten Punkt, worin das Sein (Existenz bzw. Geltung) seinen Sitz hat. RdG, S. 308, Anm. 23 (G. J. Shackle zitierend): „the no tion of the present, the moment of which, alone, we have direct knowlegde, the moment-in-being, the moment of actuality, embracing all that is. All that is, is the present.“ Nach Schmitz hat nur die Gegenwart das Daseinsmonopol, die Wirklichkeit bzw. die Existenz kommt nur in der Gegenwart vor. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Entscheidung bei Luhmann ihre Funktion schließlich darin hat, dem Sinn Aktualität zu verleihen und somit die Vergangenheit und die Zukunft zu überbrücken. Weiterhin wird die Entscheidung als eine Kommunikation wohl auch im Punkt des Verstehens im Kommunikationsprozess und damit zusammenfallend im Punkt der Gegenwart gefällt. 166 RdG, S. 309. 167 Auch die übrigen Argumentationstheorien gehören zu dem Paradigma der Begründung, sie heben zwar die verfahrensmäßige und diskursive Suche nach Gründen hervor, unterstellen jedoch die Asymmetrie „in der Annahme, daß es letztlich eine Vernunft gäbe, die entscheide, sofern man nur bereit sei, auf sie zu hören“ (Luhmann, Einige Probleme mit „reflexivem Recht“, 1985, S. 15). Die Begründungstheorien zielen eher auf eine abgeschlossene Einheit ab, nach Luhmann besteht der Charakter der juristischen Argumentation aber gerade im Offenhalten der Ganzheit (vgl. GdG, S. 922), die Evolution „kappt gesamtgesellschaftliche Vorgaben der Rechtsentscheidung – ohne sie zu ersetzen“ (RdG, S. 328) und man soll nicht versuchen, die Begründung in die Argumentation zu verlegen (vgl. RdG, S. 22). 165 Vgl.
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Immerhin wird man gezwungen, die Entscheidung zu treffen. Und angesichts der Struktur des binären Rechtscodes nimmt die Rechtskommunika tion mit zwingender Notwendigkeit die Form der Konstroverse an, die dann durch Argumentationen ausgetragen wird und damit die Entscheidung herbeiführt. Dabei muss man davon ausgehen, „daß es für einen bestimmten Sachverhalt nur eine richtige Entscheidung gibt, die im Wiederholungsfall zu wiederholen ist“.168 Es ist nämlich der Entscheidungszwang, der die Voraussetzung für alle Argumentationen erzeugt: die Entscheidbarkeit für alle Fälle. Das Rechtssystem muss also alle Rechtsfälle bearbeiten und entscheiden können. Eben dafür muss die Argumentation „gute Gründe“ anführen und die getroffene Entscheidung als „rational, vernünftig, gerecht“ erscheinen lassen.169 Wie kritisch auch immer, das Recht muss in der Lage sein, zu einer Entscheidung zu gelangen: „Es kommt nicht unbedingt darauf an, ob es auf alle Fragen eine letztlich richtige Antwort gibt: aber man muß so kommunizieren, als ob es sie gäbe, etsi non daretur Deus.“170 Anders formuliert: „Man muß das System so beschreiben, daß die Suche nach einer richtigen Antwort sinnvoll bleibt – auch bei zunehmendem Zweifel daran, daß es die richtige Antwort gibt.“171 Und diese ‚einzig richtige‘ Entscheidung wird dann bei gleichen Fällen als erkennbare Sinnidentität wiederholt. Die Argumentation steht dabei auch im Zusammenhang mit dem Problem der Gerechtigkeit bzw. Kontingenzformel. Da „es für einen bestimmten Sachverhalt nur eine richtige Entscheidung gibt“, müssen unterschiedliche Rechtsbehauptungen bzw. Normprojektionen je „gute Gründe […] für sich in Anspruch nehmen“;172 sie müssen dann miteinander um die Identität mit dem Sachverhalt des behandelten 168 RdG, S. 502. Der Entscheidungszwang, die Identität des Rechts und der Gleichheitssatz fallen hierin zusammen. 169 RdG, S. 503. 170 RdG, S. 503. 171 RdG, S. 504. Die These der einzig richtigen Lösung bei allen Rechtsfällen bei Dworkin gilt auch für Luhmann insofern, als, da ein Fall nicht unentschieden bleiben kann und schließlich auch nur eine einzige Entscheidung getroffen wird, die letztlich getroffene Entscheidung genau die einzig richtige Entscheidung ist. Die Richtigkeit ist eher von formaler Art und besteht darin, dass unter allen alternativen Möglichkeiten eben eine Entscheidung getroffen werden muss. Dann ist die getroffene Entscheidung einzig richtig, und dies „ ‚ernst nehmend‘ “ (RdG, S. 503, Anm. 11). Materiell gesehen „kann Argumentation, selbst bei größtem Scharfsinn, nicht garantieren, daß immer eine bestimmte Problemlösung als die eindeutig beste den Test besteht und damit zu einer einzig richtigen Entscheidung führt. Gerade in der Praxis der Gerichtsberatung zeigt sich häufig, daß unterschiedliche Entscheidungen annähernd gleich gut begründbar sind“ (RdG, S. 401 f.). Anders als bei Kelsen braucht die einzig richtige Entscheidung bei Luhmann keine Grundnorm und keine letzte Instanz, vgl. D. I. 2. b). 172 RdG, S. 502 und S. 503.
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D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
Falls und daher fallbezogen mit dem ‚Rechtsbegriff‘ konkurrieren. Dies stellt die exakte logische Struktur der Paradoxie des Rechts dar, wobei die ‚richtige normierte Identifizierbarkeit‘, nämlich die Identität des Rechts, festgesetzt werden soll und eine negierende Selektion in Luhmanns Sinne vorgenommen wird.173 Dann soll dies für den Wiederholungsfall gleich gelten und gleiche Fälle können nicht ungleich entschieden werden, es sei denn, dass man die Umstände als „Ungleichheit der Fälle“ rekonstruieren kann.174 Die Argumentation geht also nicht von einer Grundentscheidung aus, sondern sie nimmt die richtige Entscheidung als „systemkonforme Entscheidung“ an,175 die der System / Umwelt-Differenz gerecht wird. Die Gerechtigkeit als Kontingenzformel für die Konsistenz der Rechtsentscheidungen wird damit mit dem Problem der Identität zusammengebracht. Die Rechtsentscheidung wird zwar irgendwie gefällt, aber eben nicht beliebig, sondern nur systemkonform und identitätsbildend, um die Allgemeinheit der Verhaltenserwartung zu erreichen.176 Die Argumentation begründet in diesem Sinne die einzig richtige Entscheidung, die zugleich die Kontingenzformel zur Geltung bringt und wiederholt werden kann. Die Zeitbindung als Funktion des Rechts hat ihre Wurzel nun in der Kontingenz, genauer ‚im Unrecht‘, worin alle möglichen anderen Verhaltensalternativen reserviert werden. In der Entscheidung der Kontroverse ist die Zeitbindung mit der Differenz von Konsens / Dissens „in einer Zone wechselseitiger Kompatibilität zu halten. Und weil die Sachdimension diese Ausgleichsfunktion wahrnimmt, gibt es keine sachliche Definition des Rechts.“177 Die Sachdimension wird ebenfalls deontologisiert und man vermag keine sachliche Wesensdefinition im Hinblick auf die Inhaltsbestimmung des Rechts anzugeben. Die Grundlage der Zeitbindung liegt 173 Luhmann spricht hier auch von „praktikable[r] Logik“ für das binär codierte Rechtssystem, allerdings „im Hinblick auf die Möglichkeit, mehrwertige Logiken zu entwickeln“ (RdG, S. 502 und Anm. 9). Ich ziehe hier die Logik der unendlichfachen Unentschiedenheit von Schmitz heran und meine, dass eine praktikable Logik für das binäre Recht möglich ist und man dabei – anders als Luhmann – keine mehrwertige Logik bemühen muss. 174 RdG, S. 502. 175 RdG, S. 503. 176 Über den Gleichheitssatz wird unten bei den Menschenrechten noch erörtert, nach Luhmann besteht sein Sinn darin, dass man nur die gleiche Behandlung der ungleichen Fälle begründen muss. Bemerkenswert ist hier, dass die Gerechtigkeit: Gleichheit oder Ungleichheit der einzelnen Fälle, jetzt aus der Perspektive der Identität des Systems bzw. Perspektive der Allgemeinheit der Verhaltenserwartung behandelt wird; mit Gerechtigkeit soll die Einzelheit der Fälle mit der Allgemeinheit des Systems überbrückt werden: eben die Einheit durch die Identität. 177 RdG, S. 131. Das Problem des Rechts-Begriffs ist nämlich nicht durch irgendeine begriffliche Bestimmung zu lösen.
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aber im gleichen bzw. identischen Sinn im Zeitfluss, worin die sachliche Variation stattfindet und sich auch die soziale Differenz auftut. Das Problem ist, wie in diesem Rahmen das Recht seine Identität aufrechterhält, wenn der Relevanzgesichtspunkt mit jeder ereignishaften Kommunikation bereits anders sein kann. Anders formuliert: Wie kann das Recht seine Redundanz trotz der Variation in der Zeit reproduzieren? Als Antwort darauf gilt genau die juristische Argumentation. Nach Luhmann ist ein Argument, wie die Norm, von der Geltung zu trennen und eine Argumentation legt eine Form mit zwei Seiten dar.178 Die üblichen Argumentationstheorien verorten, wie erwähnt, in der Argumentation die ‚Be-Gründung‘, übersehen dabei ‚die andere Seite des Grundes‘ wie Ungrund bzw. Abgrund und gipfeln schließlich in der Vernunft, die selber vernünftig ist und die Differenz von gut / schlecht bzw. besser / weniger besser anwendet, aber doch immer nur auf der Seite des vernünftigen Grundes.179 Sie stehen also im Anzeichen der einwertigen Ontologie und münden letztlich wegen der Erosion aller Prinzipien nur in die Verfahrensprinzipien des Rechts im Sinne der Handlungsanweisung. Dagegen sieht Luhmann die juristische Argumentation als ein Beobachtungsschema, eine Form mit zwei Seiten an. Sie ernährt sich gerade von den Unterschieden der vorliegenden Fälle, die dann durch die Analogie – den Kern der juristischen Argumentation – zu überbrücken sind. Dabei benutzt man für die Begründung sehr allgemeine Begriffe wie Schuld, Haftung und Vertrag. Der entscheidende Punkt ist, dass diese allgemeinen juristischen Begriffe von den zahllosen konkreten Fällen abstrahiert und dann wieder durch die notwendige juristische Erläuterung auf andere neue Fälle angewandt werden. Luhmann beschreibt den analogischen Schluss folgendermaßen: „[D]iese Begriffe leben von der Wiederverwendbarkeit in zahllosen verschiedenen Kontexten, sie ermöglichen die Einfügung konkreter Entscheidungsgründe in einen vertrauten Metakontext, aber sie sind nicht ‚ohne weiteres‘, nicht ohne konkrete Erläuterung verwendbar. Dabei bildet der Analogieschluß die Brücke zwischen der Verschiedenartigkeit der Fälle. Damit werden Fallerfahrungen und bereits festgelegte Erwartungen bewahrt, erneut bestätigt und zugleich vorsichtig auf neuartige Sachverhalte ausgedehnt bzw., wenn dies nicht überzeugt, als Grund genommen, Neuartigkeit zu erkennen und als Freiheit für die Bildung von Regeln für noch nicht geregelte Situationen in Anspruch zu nehmen.“180
Die juristischen Begriffe – insofern auch die sogenannten Prinzipien der Vernunft – können nicht ohne weiteres angewandt werden, sie bilden viel178 RdG,
S. 338. S. 343. Die Vernunft ist vernünftig und stellt damit eine reine Selbstreferenz, eine Tautlogoie bzw. Selbigkeit in Luhmanns Sinne dar. 180 RdG, S. 346. 179 RdG,
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D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
mehr einen „vertrauten Kontext“ und legt den „Grund“ für den analogischen Schluss zwischen konkreten Fälle, wobei die Bestätigung der alten Regeln und die neue Bildung der abweichenden Regeln gleichfalls möglich sind. Bei dieser Vorgehensweise erzeugt das Rechtssystem mit und trotz der Zeitlichkeit der einzelnen Operationen Redundanz und Varietät. Schließlich gewinnt das Rechtssystem mit den juristischen Begriffen als Formeln den „Identitätskern“ (Invarianz), sie werden zugleich auch „mit den Bedeutungshorizonten immer wieder anderer Situationen aufgeladen“.181 Das Rechtssystem bindet nun die Zeit mit der Identitätsbildung anhand der juristischen Begriffe, indem die Regeln daraus entstehen, die über den Augenblick – die gegenwärtige Differenz von Vorher / Nachher – hinausgehen. Nur mit hinreichender Redundanz kann die juristische Argumentation einerseits den Sinnmöglichkeitsbereich einschränken und andererseits „die Herstellung von ausreichender Konsistenz im Verhältnis einer Vielzahl von Entscheidungen zueinander“ erzielen,182 womit die Gerechtigkeit im Sinne der Konsistenz der Entscheidungen im kontingenten Raum des binären Rechtscodes erreicht werden kann. Hier muss man allerdings den Punkt beachten, dass die Gerechtigkeit bei Luhmann Redundanz bzw. Konsistenz bedeutet, dass sie aber noch eine andere Seite mit sich bringt, nämlich Varietät. Die Gerechtigkeit ist nicht einseitig, sondern sie bedeutet Redundanz und Varietät, Konsistenz und Abweichung.183 Erst vor diesem Hintergrund soll die Redundanz die „Operationsfähigkeit“ unter der Bedingung des „Chaos“ gewährleisten; zugleich soll sie „einen lokalen Bezug [haben], der Schwerpunktbildungen ermöglicht, ohne dafür auf einen Bezug zur Einheit oder Ganzheit des Systems angewiesen zu sein“; man braucht die Fortbildung der Identität nämlich „nicht auf einen sinngebenden Anfang oder Grund“ zurückzuführen, sondern „ein historisches System ohne letzten Grund“ entsteht zufällig, kann 181 RdG,
sehen.
182 RdG,
S. 353. Man könnte hierin auch eine ‚Verschmelzung der Sinnhorizonte‘
S. 556. S. 374. Dieser Punkt wird oftmals übersehen. Man hebt bei Luhmanns Gerechtigkeitstheorie nur die eine Seite der Konsistenz hervor, bemerkt das ‚Und‘ der anderen Seite nicht. Dreier, Niklas Luhmanns Rechtsbegriff, 2002, S. 317, spricht zwar von „einer immanenten Gerechtigkeit des Rechts“ bei Luhmann, vermutet eine Option „für eine nicht-positivistische Konzeption des Rechtsbegriffs“ (Dreier, ebd., S. 319), meint damit aber nur eine undeutliche Schwankung zwischen Harts Minimalnaturrecht und Fullers immanenter Moral des Rechts. Dabei übersieht Dreier das Formproblem. Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit, 2008, S. 25, bestimmt nicht Redundanz und Varietät, sondern System und Umwelt als die beiden Seiten der Gerechtigkeit, wobei die letztere ihre Aufgabe darin hat, das Recht subversiv zu transzendieren. Um die innere Konsistenz als Gerechtigkeit scheint dann nicht sehr gekümmert zu werden. 183 RdG,
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sich angesichts der aufkommenden Varietät doch in den operativen Sequenzen festlegen.184 Deutlich sieht man, dass die Zeitbindung nach Luhmann nicht durch irgendein einheitliches Prinzip, sondern nur aufgrund der Identitätsbildung des Rechtssystems zu erreichen ist. Die Rechtsidentität verharrt durch die Zeit hindurch. Dies kann nur von Fall zu Fall unter dem Vorzeichen der sachlichen Konsistenz bzw. Gerechtigkeit erfolgen. Erst dadurch kann die gegenwärtige Differenz des Augenblicks, die die Grundlage der Geltung ausmacht, überbrückt werden. Dabei fungiert die Gerechtigkeit bzw. die juristische Argumentation als ‚Form‘ mit zwei Seiten, die die Unterschiede der Einzelfälle beobachtet und sie dann in den „vertrauten Metakontext“ einfügt. Dafür fungieren die juristischen Begriffe als Träger des ‚Identitätskerns des Rechtssystems‘ und die Einheit des Rechts wird somit auch bewahrt. 4. Die ‚Lösung‘ der Paradoxie des Rechts Die Rechtsregel bringt den identischen Sinn des Rechts gerade aufgrund der verschiedenen Fälle zur Geltung und damit die Paradoxie des Rechts zum Ausdruck. Das Problem der Rechtsparadoxie wird dann im Rechtstext in einer polykontexturalen Umwelt untergebracht. a) Regelbildung und Paradoxie des Rechts Die Argumentation bildet den Identitätskern des Rechtssystems mithilfe der juristischen Begriffe und Formeln heraus und fort, womit man die Regelbildung erreicht und die unterschiedlichen einzelnen Fälle in den angeschlossenen Entscheidungen aufgrund der Analogie der Fälle überbrückt. Dies bedeutet die Kontinuität des Rechts im Zeitfluss und die Zeitbindung fängt gewissermaßen die Verzeitlichung ein. Wenn aber die juristische Argumentation nach dem Differenzschema von Redundanz und Variation – Identität und Veränderung – verfährt, dann soll die Identität der Rechtsregel ihre eigene Veränderbarkeit in sich aufnehmen. Angesichts der Unterschiedlichkeit der Fälle soll man nämlich einerseits an der identischen Regel festhalten und sie andererseits den konkreten Fällen anpassen. Die Identität des Rechts soll also eine veränderbare Identität sein. In Bezug darauf ergibt sich möglicherweise ein logischer Abgrund in der juristischen Argumentation zwischen den einzelnen Fällen. Dazu schreibt Günther: 184 RdG, S. 355. Die ‚bindende Identität‘ in dem Verständnis soll zugleich die Allgemeinheit und die lokalen Variationen ermöglichen.
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D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
„Juristische Argumentation muß Sinn-Konsistenz trotz verschiedenartiger Fälle gewährleisten. Das geht nur, wenn die paradoxe Aufgabe gelöst wird, zugleich an den überkommenen Regeln festzuhalten und sie von Fall zu Fall zu verändern: Das große Geheimnis der juristischen Argumentation, dessen Entschlüsselung bis jetzt noch niemandem wirklich gelungen ist. Luhmann schlägt vor, sich aus dem Sumpf zirkulärer Argumentationstheorien am eigenen Schopf dadurch herauszuziehen, daß man die Perspektive eines Beobachters dritter Ordnung einnimmt.“185
In dieser Charakterisierung erscheint ‚der logische Abgrund‘ als Unvereinbarkeit der Verschiedenheit der konkreten Fälle und der Gleichheit der überbrückenden Regel. Im Sinne der Beobachtungstheorie bei Luhmann bedeutet die Annahme der Perspektive eines Beobachters aber, mit einer Differenz zu operieren. Was hier die Rechtsregel angeht, operiert man nämlich mit der Differenz von Redundanz und Variation, womit die betreffende Regel eine Einheit hervorbringt. Dabei soll man zwei verschiedene Dimensionen berücksichtigen. Einerseits soll sich die Identität der Regel mit dem Negationsverhältnis in der sozialen Dimension vertragen; sei es positiv, sei es negativ, die Regel bleibt identisch. Andererseits soll die identische Regel in den Zusammenhang der sachlichen Variation konkreter Fälle gebracht werden. Die Rechtsregel erfüllt damit die ‚sachliche‘ „Ausgleichsfunktion“ der Zeitbindung.186 Genauer genommen könnte man sagen, dass die Regel nach Luhmanns Differenzansatz (i) die Identität bedeutet, aber (ii) von der Geltung zu trennen ist und (iii) die Unterschiedlichkeit der Fälle auf sich nehmen muss. Die Regelbildung trägt also die fundamentale Paradoxie des Rechts in sich und insofern könnte man von einer Theodizee der Rechtsregel durch die juristische Argumentation mit Analogieschluss sprechen, wobei das Recht anhand des Rechtscodes einerseits „Selbststrukturierung“ und andererseits „zeitliche Variation“ erreichen soll.187 Sichtlich setzt man sehr unterschiedlich an. Es ist beachtenswert, dass die sachliche Variation bei dem einen den Abgrund wie das große Geheimnis ausmacht (Günther), bei dem anderen aber den Ausgleich zwischen der zeitlichen und der sozialen Dimension hervorbringt (Luhmann). Mit der Zeitbindung wird man von der Zeitdimension an die Sachdimension zurückgebunden; und der zeitliche Abgrund (der Gegenwart) wird durch den sachlichen Grund ersetzt, so dass die in jeder Operation bestehenden Zeitantinomien durch das Problem der Antinomie der beharrenden Identität ersetzt werden. Allerdings bleibt bei Luhmanns Ansatz unklar, wie der Abgrund in der sachlichen Dimension zuzuschütten ist und genau hier begegnet 185 Günther,
Vom Zeitkern des Rechts, 1995, S. 26. S. 131. 187 RdG, S. 168. 186 RdG,
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man wieder der unverständlichen und nicht zufriedenstellenden Logik der Paradoxie bei Luhmann.188 Die logische Lösung für den möglicherweise unüberbrückbaren Abgrund beim Analogieschluss könnte m. E. durch den Rückgriff auf die Schmitz’sche Theorie der instabilen, konkurrierenden Identität und der synthetischen Einheit im Sinne der nichtnumerischen Mannigfaltigkeit erfolgen. Luhmanns These, dass die Identität des Systems dessen Einheit bezeichnet, wird dabei so umgeschrieben, dass mit der konkurrierenden Identität die synthetische Einheit korrespondiert. Da alle Einzelfälle ihre eigene Bestimmtheit und Besonderheit – ‚diesen Sachverhalt‘ des Falls – aufzeigen, sind sie mit ihrer numerischen Einheit, nämlich Einzelheit der einzelnen Fälle, unüberbrückbar. Wenn man sich von dem Singularismus distanziert und von der Trennbarkeit von Besonderheit und Bestimmtheit als zwei Ebenen – Identität und Bedeutung – ausgeht, kann man zunächst sozusagen die Einzelheit der konkreten Fälle abstreifen. Dadurch werden sie auch zeitlich und räumlich entbunden. Ihre jeweilige Fall-Identität bleibt zwar erkennbar, ihre Sachverhalte können aber anhand der juristischen Begriffe vergleichend beleuchtet und in den „vertrauten Metakontext“ der Begriffe eingefügt werden. Dieser Metakontext als Träger der Rechtsidentität bezeichnet sozusagen die (synthetische) Einheit des Rechts. Beim Analogieschluss steht man oftmals vor dem Problem des Verhältnisses von Ähnlichkeit und Gleichheit. Die konkreten Fälle sind ungleich bzw. nichtidentisch, aber aufgrund ihrer genügenden bzw. wesentlichen Ähnlichkeit wähnt man sich allem logischen Bedenken zum Trotz legitimiert, die identische Regel doch auf einen ungleichen Fall anzuwenden. Dies stellt eine praktische Lösung dar, sie bestätigt aber theoretisch gerade damit die Unüberbrückbarkeit des Abgrundes. Dass man von Ähnlichkeit zu Gleichheit übergehen will, impliziert aber, dass etwas Gleiches als ‚allgemeiner Gegenstand‘ lediglich etwas Vorgestelltes darstellt. Es betrifft also das Problem, ob außerhalb der einzelnen Dinge etwas Allgemeines – Gattungen und Arten – besteht. Man soll nämlich die Gleichheit von der Ähnlichkeit deutlich unterscheiden und sie als zwei voneinander unabhängige Kategorien der Relation auffassen.189 Als Beispiel dafür führt Schmitz den ‚Ton‘ an: 188 Allerdings gilt es zu bedenken, ob der Abgrund sachlicher Dimension „das große Geheimnis“ genau darin verbirgt, dass er seine Funktion dadurch erfüllt, die logische, insbesondere axiomatische Überbrückung zu durchkreuzen, dazu vgl. Luhmann, Systemtheoretische Beiträge zur Rechtstheorie, in: der., AdR, 1981, S. 257 f.; GdG, S. 922. 189 Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 1982, S. 18 f., versteht unter Analogie das ‚Verhältnis der Entsprechung‘. Definiert wird dementsprechend das
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„Zwei Klänge können gleich und doch mehr oder weniger unähnlich sein, und sie können sich durch Ähnlichkeit beliebig nahekommen, ohne sich der Gleichheit zu nähern, im Gegenteil: Wenn die Töne sehr ähnlich werden, entfernen sie sich von der Gleichheit; es entsteht der peinliche Kontrast sehr kleiner Intervalle, von dem man spricht, wenn man sich beschwert, daß jemand falsch singt.“190
Mit dichter Ähnlichkeit kann man die Gleichheit nicht nur nicht erreichen, sondern geradezu die Ungleichheit aufs Höchste treiben. Etwas Gleiches bzw. Identisches – wie derselbe Ton, dieselbe Melodie, dieselbe Farbe – kann in vielen ähnlichen oder unähnlichen Fällen seine einzelnen Verwirklichungen erfahren, aber „die Evidenz dieser Selbigkeit übersteht große Abweichungen, so daß es Melodien im Sinne einzelner Realisierungen derselben Art gibt, die vollkommen gleich und dabei sehr unähnlich sind.“191
Man kennt also ‚Dasselbe‘ einer Sache durch alle variierenden Fälle hindurch unmittelbar, dafür ist die Ähnlichkeit irrelevant. Eine (Rechts-)Regel stellt nun etwas Allgemeines dar, sie erscheint in allen variierenden konkreten Situationen, durchzieht diese Fälle mit ihren ähnlichen oder unähnlichen Sachverhalten, sie bleibt aber dieselbe Regel. Das Problem ist, ob man diese oder jene Regel auf einen Fall anwendet oder nicht. Der Abgrund besteht also nicht in der Unterschiedlichkeit der analogen Fälle, sondern in der Anwendbarkeit derselben Regel. Man soll nämlich fragen, ob ein Fall eine bestimmte Regel realisieren kann oder nicht, ob er gleich oder ungleich zu behandeln ist. Darüber streitet man miteinander in der Konstellation doppelter Kontingenz, was die (Nicht-) Geltung derselben Regel berührt. In diesem Zusammenhang ist es auch angebracht, im Sinne von Schmitz zwischen der Rechtsregel und dem Konditionalsatz zu unterscheiden. Eine Rechtsregel soll in allen Situationen befolgt werden, sie bleibt deshalb für alle konkreten Fälle prinzipiell offen und ist daher nur als ‚negativer ImpeRecht als „Entsprechung von Sollen und Sein“ im Sinne eines angemessenen Entsprechungsverhältnisses von Norm und Lebenssachverhalten. Hinsichtlch des logischen Bedenkens gegen den analogischen Schluss wird einerseits nach einer „Identität des Sinnverhältnisses“ im Sinne von etwas Allgemeinem als tertium comparationis verlangt, zugleich orientiert sich die Vergleichbarkeit andererseits an der Alternative Ähnlichkeit und Unähnlichkeit (ebd., S. 36). Es entsteht daraus eine Kreuzung von beiden Unterscheidungen: Sein und Sollen wie Identität und Ähnlichkeit. Dies wirkt verwirrend. Schließlich besteht „eine logische Grenze zwischen Gleichheit und Ähnlichkeit“ eben nicht (ebd., S. 40). Die Vermengung von Identität (Gleichheit) und Ähnlichkeit scheint also ziemlich üblich zu sein, wobei sie wiederum mit dem Verhältnis von Sein und Sollen verschränkt wird. 190 Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 85 f. 191 Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 88 f.
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rativ‘ logisch einwandfrei formulierbar; ein Konditionalsatz in der Form ‚wenn – dann‘ stellt aber keine Regel als solche dar, sondern eine metasprachliche Beschreibung für die betreffende Regel.192 Der Konditionalsatz als Rechtsprogramm im System stellt die Bedingungen für den Einsatz einer Regel und bewirkt dadurch die Zuteilung der beiden Werte Recht und Unrecht. Mit Interpretationen der darin formulierten Bedingungen gestaltet man dieselbe Regel in konkreten Fällen und bringt damit die Differenz von Redundanz und Varietät zur Geltung.193 Die juristischen Begriffe bzw. Formeln fungieren wie die miteinander vernetzten Anhaltspunkte der Konstellation im Sinne von Schmitz, die die binnendiffuse Situation als Grundlage hat. Auch an ihnen kennt man die Identität derselben Regel. Mithilfe der Argumentation kann dann versucht werden, aus einer ‚Situation der Bedeutsamkeiten‘ die angemessenen Gattungen auszuschöpfen, um den Fall hinsichtlich seiner Sachverhalte zu beleuchten und mit einer bestimmten Regel subsumierend zusammenzubinden. Bis zu einem gewissen Grade kann ein einzelner Fall in diesem Vorgang in einen bestimmten rechtlichen Sinnzusammenhang – die binnendiffuse nichtnumerische Mannigfaltigkeit im Sinne von Schmitz – eingearbeitet werden, der durch eine Regel aufgewiesen wird. Die identische Rechtsregel in diesem Verständnis befiehlt unter Konditionen, trägt bei sich eine synthetische Einheit, worin einzelne, variierende Fälle aufgehoben werden. 192 Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 323 f. Hier spricht Schmitz von dem „ ‚logischen Amoklauf‘ “ (ebd., S. 324), wenn man die Regel selber mit dem Konditionalsatz – wie üblich – verwechselt, da man dann einen zweiten Konditionalsatz für den Einsatz des ersten und einen dritten für den Einsatz des zweiten usw. mit der Folge braucht, dass man sich gar nicht rühren kann. Von Entscheidung ist dann gar keine Rede. Zu dem Phänomen schreibt Anderheiden, Rechtsphilosophie jenseits des Ordinary-language-Ansatzes, 2008, S. 32: Es geht „nicht um einen Schluss, sondern um dessen Anwendung […], formuliert als Erkenntnisproblem. Diesem Erkenntnisproblem lässt sich mit Gründen alleine nicht vollständig Herr werden. Es ist also keine Frage des Wissens um Logik, sondern eine Frage der Anwendung.“ Allerdings scheint Anderheiden einerseits „logische Schlüsse und rechtliche Regeln“ nicht zu differenzieren (ebd., S. 33), hebt nur die Unzulänglichkeit der Begründungstheorie für die juristische Entscheidung hervor und hält Luhmanns Theorie im Hinblick auf „eine treffende Erfassung juristischen Entscheidens“ für „philosophisch erledigt“ (ebd., S. 48, Anm. 44). Luhmanns nicht philosophische Theorie setzt jedoch gerade bei dem offen bleibenden logischen Problem an. 193 Vgl. RdG, S. 350 f. Luhmann unterscheidet auch deutlich zwischen der zu identifizierenden Regel und dem Gesetz wie dem Rechtstext. Eine Rechtsregel zielt angesichts der konkreten Fälle in offen bleibenden Situationen auf die Identität ab, sie kann aber allenfalls nicht ‚feststehend‘ sein. Es kommt darauf an, eine identische, aber offen bleibende Regel vorzustellen und fortzubilden.
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Die Identität der Regel bezeichnet also die Einheit der Regel. Die negierende Differenz – die Paradoxie – hat ihre Wurzel in der sozialen Dimension Ego und Alter Ego, die auch in das Schema gleich und ungleich transformiert wird. Ein interessantes ‚easy case‘ wird angegeben: „In der Verordnung steht zwar nur, daß der Hund an die Leine muß; aber niemand wird ernsthaft zweifeln, daß dann auch der Herr an die Leine muß.“194 Oder doch? Und für alle Fälle? Durch die ‚Beobachtung‘ der Regelung, woraus Zweifel, Argumentation, Grund, Ungrund wie Grundlosigkeit entstehen,195 stellt die Differenz von Hund / Herr mit der Hund-und-Herr-Regel bereits ein selbstreferentielles System (an der Leine) her, um die Identität mit diesem System können in Fällen unterschiedliche Auffassungen miteinander konkurrieren. Die Paradoxie des Rechts als kommunikative Unbestimmtheit sitzt immer im Grunde des Rechts.196 b) Text als Lösung der Paradoxie des Rechts Wenn das Recht grundlos und genau dadurch in einer polykontexturalen Gesellschaft zur alleinigen Entscheidung über Recht und Unrecht gezwungen wird, dann soll man erklären: „[W]as impliziert ist, wenn ein System eine Antwort auf alle Fragen in Aussicht stellt und alle Operationen des Systems zwingt, davon auszugehen, daß es eine solche Antwort gibt.“197
Darauf könnte man nun damit antworten, dass der Entscheidungszwang bedeutet, dass man trotz des Entfallens des einwertigen Grundes doch die richtige, begründende und „legitimierende Identität“198 erlangen will und muss. Es wird aber nicht mehr an dem Grund, sondern an der Differenz angesetzt: mit der Markierung der Differenz des Systems zur Umwelt. Dann erscheint die Identität sozusagen als ‚polykontexturale Identität‘, die nur 194 RdG, S. 341 f. An dem Beispiel sieht Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 450, dass Luhmanns Standpunkt „immer zu überraschend neuen Sichtweisen“ führt, aber schließlich „für die Jurisprudenz […] irrelevant“ ist. 195 Vgl. RdG, S. 343. 196 Die Überbrückung zwischen den Fällen erscheint als Problem, weil man der gesuchten Regel ungewiss ist, die trotz aller Andersheit identisch bleiben soll. Die Paradoxie der Rechtsregel bezieht sich zwar auch auf die einzelnen Sachverhalte, liegt aber als erstes in der der Regel innewohnenden Differenz. Ob das vorliegende Lösungsangebot gelingt oder nicht, kann man offen lassen. Immerhin muss man nicht auf die Lösung der logischen Paradoxie warten, um konsistente Entscheidungen treffen zu können. Die Identität ist undefinierbar, man kann sich mit ihr in der Praxis vertraut machen (Schmitz) oder sich in den „vertrauten Metakontext“ (Luhmann) einarbeiten. Umgekehrt kann man mit einer logischen Lösung noch keine überzeugende Entscheidung fällen. 197 RdG, S. 504. 198 SS, S. 111.
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schwer legitimiert bzw. zu legitimieren ist.199 Und sie soll auf das alteuropäi sche Ideal der Einheit hindeuten, das die Systemtheorie von Luhmann beibehalten will, dafür beruft man sich aber „an die Stelle der Berufung auf Einheit […] auf Geschlossenheit“ aufgrund der Differenz von System und Umwelt.200 Der Entscheidungszwang bedeutet also den Zwang zur Theodizee, und zwar im Sinne des Als-ob der einzig richtigen Entscheidung will man dem Recht bei allen Rechtsfällen die einzig richtige Bestimmung geben. In dem Maße sollen im Rahmen des Differenzansatzes Norm und Geltung (bzw. Identität und Existenz) wieder und richtig miteinander übereinstimmen, dabei soll die negative Seite in der Differenz verdunkelt werden und unsichtbar bleiben. Der Entscheidungszwang soll mit der Annahme der einzig richtigen Entscheidung die Kontingenz, also die Paradoxie, verdecken. Bemerkenswert ist, dass das Problem der Rechtsparadoxie bei Luhmann dann in die Theorie des Rechtstextes mündet. Das Rechtssystem steht nun nicht auf einem Grund, sondern es erscheint in der Gesellschaft. Als Teilsystem der Gesellschaft bezieht es sich „im Verweis auf Gesellschaft zugleich auf die gesellschaftsinterne Umwelt und auf sich selbst“.201 Man erreicht die Einheit des Rechts nämlich nur durch die Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung mit gleichzeitigem Bezug auf die gesellschaftliche Umwelt. Die Selbstbeschreibung führt einerseits zur Herstellung der Semantik bzw. Texte und wird andererseits mit der Selbstreferenz – Identität in reflexiver Form – des Systems verknüpft. Und der autopoietische Anschluss der Operationen produziert die Einheit des Rechts aufgrund der leitenden Differenz von System und Umwelt. Die Einheit stellt „ein Resultat des im Vollzug unbeobachtbaren Operierens“ dar.202 Zugleich produziert dies die Identität des Rechtssystems und bildet sie unter dem Regime des Rechtscodes fort. Man entscheidet über Recht und Unrecht.203 199 Als konträre Illustration für die polykontexturale Struktur der Gesellschaft kann man wohl die Theorie der ‚einen Stimme‘ heranziehen. Dworkin, Law’s Empire, 1986, sieht zwar in der Gemeinschaft nicht „a distinct entity“ im metaphysischen Sinne, aber „a distinct moral agent“, der sich der Idee der Selbstgesetzgebung im Sinne von Kant und Rousseau verschreibt (S. 187–189) und als „a single author“ (S. 229) das Recht im Licht der Integrität der Grundsätze (principles as fairness, justice and due procedure) auslegt. Demnach soll man für die prekäre Einheit der Gesellschaft aus der Dissonanz der Funktionssysteme je mit ihrer eigenen Rationalität irgendwie eine einstimmige Resonanz hervorbringen. 200 RdG, S. 507. Man bemerke noch einmal den Zusammenhang: Einheit – Geschlossenheit – Identität. 201 RdG, S. 505. 202 RdG, S. 506. 203 Jede Einheit wird durch eine Differenz – wie die Differenz von System / Umwelt – gestiftet. Diese Differenz wird in eine weitere Differenz – wie die Selbstre-
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Einheit und Identität fallen zusammen. Dann tritt der Text als semantische Entsprechung zur Struktur an die Stelle der Begründung durch externe Prinzipien. Die Selbstbeschreibung des Rechts erfolgt durch die Anfertigung der Texte, weil die Selbstbeschreibung als Reflexion eine Operation darstellt. Sie ist „eine Beschreibung, die zusätzlich in der Reflexion noch reflektiert, daß sie selbst dem System angehört, das sie bescheibt“; in diesem Sinne stellt die Selbstbeschreibung eine Vertextung der Einheit des Rechts dar: „Eine Selbstbeschreibung (‚Vertextung‘) ist die Thematisierung des Systems, in dem die Operation der Selbstbeschreibung stattfindet.“204 Da die rechtstheoretische Selbstbeschreibung des Rechtssystems eine „Einlagerung von Differenz in ein System, das genau auf diese Weise […] identifiziert werden soll“,205 bedeutet, kann man wohl sagen, dass die wichtigste Differenz – die Differenz von Rechtssystem und Umwelt – genau mit dem Text in das Rechtssystem selber eingeführt wird. Mit dem Text erfolgt ein re-entry des Systems, so dass das System geschlossen und sozusagen selbstbegründet wird. Man identifiziert ein Rechtssystem mit seinen Texten, die es in sich eingibt. Der Zusammenhang von Einheit und Identität des Rechtssystems – Autologie genannt – wird auf der semantischen Ebene (als sichtbare Schriften) durch die „Anfertigung von Texten“ hergestellt: „Selbstbeschreibung ist Anfertigung eines autologischen (sich selbst mit meinenden) Textes.“206 Mit den Gesetzestexten, zum Beispiel dem Verfassungstext, werden die Einheit und die Identität und damit die autologische Geschlossenheit des Rechtssystems zum Ausdruck gebracht. Man könnte sagen, dass der Rechtscode mit all seinen inneren Problemen nun mithilfe der Texte in der Wirksamkeit gehalten wird. Das Rechtssystem wird anhand der Texte reproduziert und der Text funktioniert als Träger der Einheit und Identität des Rechtssystems. Allerdings kann die Selbstbeschreibung die Geltung des beschriebenen Rechtssystems nicht bestreiten. Hier kann man sehen, dass der Rechtstext und die Selbstbeschreibung sich eher auf den Rechtsbegriff beziehen, der ferenz / Fremdreferenz im System – überführt. Die Welteinheit und die Einheit der Gesellschaft (unitas multiplex) müssen in die Selbstreferenz und in den binären Code des Rechtssystems überführt werden, damit die Einheit des Rechtssystems nur durch das Rechtssystem selber dynamisch reproduziert wird. Aber die Einheit wird doch anhand der Differenz von Recht / Gesellschaft gestiftet. Die Einheit des Rechts verdankt sich den beiden Seiten. Dazu vgl. SS, S. 38. 204 RdG, S. 498. Man soll allerdings den Text nicht mit der Schrift verwechseln, obwohl die letztere die übliche Erscheinungsform des ersteren bildet. Der Text kann materiell als Schrift begriffen werden: „Schrift als Form für Texte“ (RdG, S. 500), aber er soll hauptsächlich als historisch bewährte Semantik, als Sinnzusammenhang, verstanden werden, der in dem ‚sozialen Gedächtnis‘ aufbewahrt wird. 205 RdG, S. 500. 206 RdG, S. 498.
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von der Geltung getrennt werden soll. Der Text erhält seine Geltung nur aufgrund des Rechtscodes, er kann aber zur Orientierung der Autopoiesis des Rechts dienen. Schließlich nur aufgrund der Autopoiesis können die Einheit und Identität des Rechtssystems, die im Text bewahrt und ausgedrückt werden, fortgebildet werden. Der Text bleibt derselbe Text, er kann immer wieder benutzt werden und man kann sich auf ihn in der Kommunikation berufen. Der angefertigte und sichtbare Text bildet also die wiederholt erkennbare und verwendbare Prämisse für die weitere Kommunikation, er bringt die Identität im Sinne reflexiver Relation (a = a = a usw.) in Operationen zur Geltung. Insofern könnte man sagen, dass der Text das Selbst des selbstreferentiellen Rechtssystems darstellt. Da aber der Text mit unterschiedlichen Interpretationen identifiziert werden kann, ermöglicht er auch die „zeitliche Variation“ des Rechts.207 Damit wird auch das Problem der logischen Antinomie des Rechts – sowohl in der Zeitdimension als auch in der Sachdimension – bis zu einem gewissen Grade entkräftet. Die Paradoxie stellt dadurch eine „entfaltungsfähige Paradoxie“ dar.208 Die Voraussetzung ist nur, dass man anhand des Textes kommuniziert und die Autopoiesis des Rechtssystems so tatsächlich aufrechterhalten will.209 c) Verfassungsänderung als Beispiel der Rechtsparadoxie Das Rechtssystem muss implizit oder explizit einige Regeln für die Änderung aller Regeln enthalten. Dies bedeutet, dass die Zeitbindung durch die Rechtsregel ihrerseits durch andere Maßnahmen geregelt werden soll, die wiederum die Zeitbindung auf einer anderen Ebene bewirken. In der Sachdimension könnte man von der Bindung der Zeitbindung sprechen, in der Zeitdimension könnte das Phänomen als Antinomie der modalen Lagezeit im Recht verstanden werden. Folgerichtig taucht dann auch das Problem der Änderung der Regel für die Änderung auf.210 Mit dem Artikel V regelt die US-Verfassung ausdrücklich, wie eine Verfassungsänderung gültig zustande 207 RdG,
S. 168. S. 500. 209 Letztendlich hängt es von der basalen Souveränität der Individuen ab (Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechtssystems, in: ders., AdR, S. 38). Aber mit einem Text als Schrift wird die Identität des Systems symbolisiert und sichtbar und die Schrift gilt auch als „Aktualisierungsanlaß […] zu einem Akutwerden doppelter Kontingenz“ (SS, S. 151), daraus entsteht und bildet sich das Selbst des Sozialen fort. 210 Man könnte an die ‚rules of change‘ bei Hart denken, die mit den ‚rules of recognition‘ eng verbunden sind (vgl. Hart, The Concept of Law, 1994, S. 94–96). Wie sollten die ‚change rules for rules of change‘ aussehen? Mir scheint hier bei dem Grenzfall zweifelhaft, ob die Unterscheidung zwischen Regeln von beiden Ebenen (primary rules / secondary rules) weiterhilft, weil die Regeländerung im vorlie208 RdG,
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gebracht werden soll. Aber wenn man diese Änderungsvorschrift auf diese Vorschrift selber anwendet, um eine neue, inhaltlich anders gestaltete Regel für die Verfassungsänderung gültig einzuführen, gerät diese neue Regel logisch notwendig in Widerspruch mit der alten Regel, aufgrund deren alleine die neue Regel ihre Geltung begründet erhält. Dies ist das Problem der Selbständerung (The problem of the self-amendment). Der logische Widerspruch ist dadurch notwendig, dass die neue Regel erst dann gültig zustande kommen kann, wenn und nur wenn die Bedingungen, die in der alten Regel gesetzt werden, ihre Erfüllung finden. Die Geltung der neuen Regel muss voraussetzen, dass die alte Regel ihre Geltung behält, wie wenn man die alte Regel auf andere Vorschriften anwendet. Aber die neue Regel, soweit sie regelgerecht eingeführt wird, bestreitet die Geltung der alten Regel, obwohl sie die alte Regel eben praktisch zugleich bestätigt. Die neue und alte Regel setzen einander voraus und bestreiten einander zugleich.211 Mit Luhmann würde man sagen, dass auch bei der Selbständerung der Änderungsvorschrift das Recht nur ans Recht angeschlossen werden kann, wenn auch die aneinander anschließenden Sinnmöglichkeiten des Rechts einander widersprechen. Die Geltung als Symbol der Autopoiesis des Rechtssystems muss also intern geschlossen weitergegeben werden. In der Tat kann man die logische Paradoxie der Selbständerung der Änderungsvorschrift als die schärfste Darstellung des allgemeinen Problems der Positivität des Rechts begreifen, sie zeugt von dem „Versuch, Rechtsänderung vom zu ändernden Recht aus zu regulieren“.212 Dies ist die Paradoxie des Rechts als solche, die nach Luhmann in jeder Rechtskommunikation mitgebracht, aber heutzutage positiviert und ganz und gar normalisiert wird. Der tief einschneidende Strukturwandel der Gesellschaft macht es nicht mehr begreiflich, und das Problem der Verfassungsänderung gilt nur als ein Grenzproblem, zeigt für angeblich normale Situationen keinen relevanten Sinn auf.213 genden Fall eher die Geltung als Problem des Anschlusses überhaupt zum Ausdruck bringt, das man mit Regeln nicht wirklich in den Griff bekommt. 211 Vgl. Suber, The Pardox of Self-Amendment, 1990, S. 39 f. Man beachte, dass die alte Regel auch die neue voraussetzt, weil sich in diesem Zusammenhang die alte durch die neue bestätigt; es wird sozusagen zirkulär symmetrisch gebaut. Übrigens optiert Suber, ebd., S. xi–xii, gegen Alf Ross’ These „what is logically impossible must be legally impermissible“ und bemüht ‚soziale Praxis‘ als „the only alegal source of legal authority“, um zu erklären, warum das, was logisch unmöglich sei, rechtlich doch erlaubt ist. Die vorliegende Arbeit versucht die umgekehrte These: What is legally permissible, must be also logically possible. 212 Luhmann, Evolution des Rechts, in: ders., AdR, 1981, S. 23; vgl. ders., Die Funktion des Rechts, in: ders., AdR, 1981, S. 87, das Recht als „selbstsubstitutive Ordnung“. 213 Die ewige Klausel im Grundgesetz oder die Rede von ‚verfassungswidriger Verfassung‘ geben andere Beispiele ab. Die Rede von der verfassungswidrigen Ver-
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Mit der Selbständerung der Änderungsvorschrift ergibt sich eine Entscheidungssituation. Man scheint von der sachlichen Zeitbindung wieder an die verzeitlichte Geltung verwiesen zu werden. Eine Entscheidung wird nur in der Gegenwart getroffen, sei es seitens des Gesetzgebers, sei es seitens des Richters.214 Dabei soll man den Zeitbezug der Rechtskommunikation nicht mit dem Problem der Geltungsdauer verwechseln. Die Vorschrift über fassung könnte man – anders als die Theorie der Normenhierarchie – im Sinne der Systemtheorie folgendermaßen nachvollziehen, dass eine Bestimmung des Verfassungsrechts (eine verfassungsrechtliche Normprojektion) der negativen Seite des Verfassungscodes (Verfassungswidrigkeit als Platzhalter des Unrechts) zugeordnet wird. Luhmann spricht von der „Normativität der normwidrigen Erwartungen“ (RS, S. 130), demnach ist eine verfassungswidrige Norm eben auch eine verfassungsrechtliche Norm. Die ewige Klausel will die Geltung zum notwendigen Attribut einiger Vorschriften in der Verfassung machen, genauso wie man bei etwas (letztlich: Gott) die Existenz als sein Merkmal sehen will. Aber eine Verfassung kann nur insofern sinnvoll verfassungswidrig sein, als man die Rede von Verfassungsmäßigkeit / Verfassungswidrigkeit als Codewerte von dem Verfassungsbegriff trennt. Roellecke, Identität und Variabilität der Verfassung, 2010, S. 463, schreibt: „Bei einer Verfassung geht das [Verfassungsänderung] nur mit der Verfassung, weil es in einer positiven Rechtsordnung über ihr keine allgemein verbindliche Rechtsnorm gibt. Identität bedeutet daher auch, dass es möglich sein muss, Verfassungsänderungen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. In der Bundesrepublik liegt eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht am nächsten.“ Wo denn in aller Welt hat eine verfassungswidrige Verfassung – eine verfassungswidrige Verfassungsänderung – ihren Sitz? 214 Parallel zu dem Problem der Selbständerung der Änderungsvorschrift in der Verfassung im Rechtssystem steht das Problem des omnipotenten Souveräns des politischen Systems und man ist stets versucht, bei der Paradoxie der Selbständerung im Rechtssystem den omnipotenten Souverän als Lösung einzuführen. Dies ist der Fall auch bei Suber. Damit wird aber die Geschlossenheit des Rechtssystems nicht erreicht. In der Tat kann ein Souverän im Rechtssystem auch nur im Rechtsverfahren souverän entscheiden. Man hat, wie erwähnt, die „basale Souveränität“ zu entscheiden, ob man ins Rechtsverfahren eintritt oder nicht; aber mit souveräner Macht kann kein Recht entstehen, siehe Luhmann, RdG, S. 549: „Was nicht möglich ist, ist ein unkonditioniertes Recht zur Selbstexemption. Denn für ein solches ‚Recht‘ wäre unentscheidbar, ob es im System oder außerhalb des Systems zu verorten ist.“ Vgl. auch RdG, S. 417 f.: „Das Rechtssystem kommt, auch in der Form des ‚Rechtsstaates‘, ohne Souverän aus; ja es könnte ihn gar nicht unterbringen, und es benötigt ihn auch nicht, weil es seine Paradoxie anders auflöst.“ Soweit man das Rechtssystem und das politische System deutlich voneinander ausdifferenzieren lässt (bzw. lassen will), könnte man mit Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1994, S. 79 (auch S. 124), sagen: „Innerhalb des Verfassungsstaates gibt es keinen Souverän“. Der Souverän entscheidet wohl noch den Ausnahmezustand (Schmitt, Politische Theologie, 1993, S. 13), aber eben nur im politischen System, und zwar mit dem Problem der Paradoxie der Souveränität konfrontiert. Luhmann, RdG, S. 475 f., sieht den Nutzen der Einführung eines Souveräns ins Rechtsproblem darin, dass damit die Reflexion der Einheit des Rechts – durch einen Grund von außen? – erleichtert wird (dazu vgl. auch GdG, S. 958–968).
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die Geltungsdauer eines Gesetzes gilt auch nur in der fließenden Zeit. Das bedeutet, dass die logische Paradoxie der Selbständerung nicht durch Hinweis auf die unterschiedlichen Dauerperioden der neuen und alten Regel zu beseitigen ist. Der Punkt der Gegenwart, an dem das Irreversibelwerden einer Änderung stattfindet, liegt gerade an der verbindenden Grenze von Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart als Einheit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft übergreift beide. Nur in diesem Sinne soll Luhmann das Paradoxieproblem mit Hinweis auf die Zeit lösen wollen. Mit dem Punkt der Gegenwart geht es im Recht um die Differenz von Geltung und Nichtgeltung, die der basalen Sinn-Differenz Aktualität und Potentialität entspricht: „Geltung ist, in der Begriffssprache von George Spencer Brown, die Innenseite der Form und Nichtgeltung die Außenseite. Für das Kreuzen der einen Seite zur anderen Seite braucht das System Zeit – sei es, daß es Normen aus dem Status der Geltung in den Status der Nichtgeltung versetzt oder umgekehrt; sei es, daß es im Beobachten und Beschreiben von Normen von der Feststellung, daß sie gelten, zur Feststellung, daß sie nicht gelten, übergeht oder umgekehrt.“215
Es geht also um die Entscheidung über Geltung und Nichtgeltung, Existenz oder Nichtexistenz. Dabei beachte man, dass man nicht nur von Geltung zu Nichtgeltung, sondern ebenso von Nichtgeltung zu Geltung gelangen kann. Dies bedeutet, dass es nicht auf die Vorschrift der Geltungsdauer ankommt, sondern es geht um Zeitbindung und Verzeitlichung im Sinne der Stabilisierung der Verhaltenserwartung: welche Sinnmöglichkeit des Rechts gilt oder nicht gilt.216 215 RdG,
S. 104 (auch Anm. 126). Vgl. SS, S. 231; WissendG, S. 80. Problem der juristischen Sekunde des Vertrags mit Bedingung zeigt eine ähnliche Struktur der Paradoxie: Das ganze Rechtsgeschäft wird in zwei Teile eingeteilt, die sich angesichts der Geltung widersprechen und zugleich ungetrennt verbinden. Die juristische Sekunde ändert m. E. in der Tat nichts an dieser Struktur, sondern das Verhältnis der beiden Teile wird umgekehrt. Aber der bedingende Teil versinkt relativ schnell in die Vergangenheit und gilt in diesem Sinn nicht mehr. Man kann wohl in diesem Institut eine Form der rechtlichen Bindung des gegenwärtigen Umschlagspunktes sehen. Die juristische Sekunde bezeichnet Großfeld, Zauber des Rechts, 1999, S. 260, gar als Nicht-Zeit: „Aber das Recht dringt nicht nur bis in die kleinsten Zeiteinheiten [nämlich: Zeitpunkte der Zahlungen] und damit in den Bereich zwischen Sein und Nichtsein vor, es geht weiter bis in die Nichtzeit und hantiert damit. Das zeigt uns die juristische Sekunde […]. Es gibt sie [die juristische Sekunde] ja nicht – und dennoch behandeln wir Juristen sie als wirklich. Sind wir Herren der Zeit?“ Kirste, Die Zeitichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, 1998, S. 378 f., sieht in der juristischen Sekunde einen Schritt zur Autonomie der rechtlichen Zeit gegenüber der natürlichen Zeit; demnach hat diese ‚Sekunde‘ ihre „Sachdeckung“ nur im Recht. Interessanterweise meint Joerden, Logik im Recht, 2010, S. 384 f., dass man im Zusammenhang des Protagoras-Falls so die Paradoxie lösen kann: Zuerst weist das Gericht die Klage 216 Das
II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts293
Die Zeit wird besonders in das Geltungsproblem des Rechts verwickelt, da nur die Gegenwart Geltung verleiht. Die nichtgeltenden Normen, sei es in Vergangenheit oder in Zukunft, müssen um die Identität mit der Gegenwart – hier zugleich: um die Identität mit dem Rechtssystem – konkurrieren. Sie streiten miteinander in der Gegenwart, um andere in die Vergangenheit zu verdrängen bzw. in die Zukunft zu schicken, aber sich an die Gegenwart in Richtung Zukunft anzuschließen. Die Lösung für die logische Paradoxie des Rechts kann nur, wie Luhmann meint, „durch hinzugefügte Unterscheidungen entfaltet werden […] – allerdings nicht auf eine logisch kontrollierbare und damit zwingende Weise.“217 Im Anschluss an die Logik der Unentschiedenheit bei Schmitz soll die Paradoxie, die nicht aus der Welt zu schaffen ist und geradezu die Eigenschaft des positiven Rechts ausmacht, ihre Entschärfung in der unendlichfachen Unentschiedenheit hinsichtlich der Konkurrenz der einander widerstreitenden Normprojektionen als Bestimmungen für das Recht erfahren. Mit jeder weiteren Stufe der Unentschiedenheit wird die Spannung der Paradoxie entsprechend eine Stufe weiter entschärft; bis auf die kleinste transfinite Ordnungszahl kann schließlich der blockierende Effekt der Paradoxie des Rechts praktisch mit Null gleichgesetzt werden. Konkret bedeutet dies, dass das Irreversibelwerden der Gegenwart bei Luhmann endlich stattfindet und etwas – wie am Beispiel der alten Änderungsregel – endgültig in die Vergangenheit verabschiedet wird, obwohl logisch gesehen ein Wiederabruf aus der Vergangenheit nicht ausgeschlossen wird. In diesem Sinne gelten alle geänderten und abgeschafften Rechtsnormen weiter, nur ihre Geltung wird unendlichfach geschwächt, so dass sie nicht mehr in der Gegenwart wirken können. Dementsprechend gelten auch die zukünftigen Normen nicht. Damit können wir von dem nicht-mehr-geltenden und nochnicht-geltenden Recht sprechen, so wie wir von Pegasus sprechen können. 5. Fazit Die prinzipiell bejahte logische Paradoxie des Rechts erfordert die synthetische Einheit (binnendiffuse nichtnumerische Mannigfaltigkeit), um den von Protagoras ab, weil die Bedingung, dass Euathlos den ersten Prozess gewinnt, bei der Einreichung der Klage noch nicht eintritt; dann kann Protagoras die zweite Klage erheben und gewinnen, weil Euathlos nun doch den ersten Prozess gewonnen hat. Die juristische Sekunde wird sozusagen in die modale Lagezeit im Prozess verwandelt, was der Lösung der Paradoxie mit der Zeit im Sinne von Luhmann – zuerst links, dann rechts – entspricht. Mir scheint aber, dass die paradoxen Verhältnisse auf die juristische Sekunde zentriert sind und es in Bezug auf die Paradoxie nicht auf die (modale Lage-)Zeit ankommt. 217 RdG, S. 104, Anm. 126.
294
D. Logik der Selbstreferenz vom Rechtssystem
logischen Widerspruch zu vermeiden. Die synthetische Einheit kann aber zugleich einen logischen, die binäre Geschlossenheit bedrohenden Abgrund bedeuten, indem man in Verbindung mit dem Rechtscode nicht unbedingt die einzelnen Elemente relationieren und sich zwischen beiden Werten bewegen kann. Außerdem irritiert die Struktur von unitas multiplex der Gesellschaft ununterbrochen das Rechtssystem, sie ermöglicht den binären Rechtscode, kann ihn zugleich durch andere Codes suspendieren. Dadurch bilden die tautologische und paradoxe Identität des Rechtssystems und die Einheit des Rechtssystems einen problematischen Zusammenhang. Luhmann bezeichnet mit der Identität die Einheit, die anhand der Selbstbeschreibung des Rechts in Reflexionsform erscheint und eine Autologie – die problematische Identität als reflexive Relation – darstellt. Mit der ‚Reflexion‘ werden die Identität und die Einheit zusammengebunden (und vermengt). Im Rahmen der zusammenhängenden Identität / Einheit des Rechts hat die Rechtsgeltung keinen (einwertigen, differenzlosen) Grund mehr. Die Rechtsgeltung wird einerseits auf die basale Souveränität der Individuen und andererseits auf die soziale Kommunikation gegründet; sie erscheint in der autopoietisch selbstreferentiellen Reproduktion des Rechts, in der funktionierenden Zuteilung der Codewerte, in der Negierbarkeit und Änderbarkeit des kontingenten Rechts und schließlich in der Zeit im Sinne der gegenwärtigen Differenz von Vorher / Nachher. Im Gegensatz dazu soll aber das Recht gerade die Zeit binden, die Differenz in der Gegenwart überbrücken und damit die Verhaltenserwartung stabilisieren, worin die Funktion des Rechts nach Luhmann besteht. Parallel zu der Schwierigkeit des Rechtscodes mit der synthetischen Einheit gerät das Rechtssystem in ein dilemmatisches Verhältnis zur Zeit. Es gründet auf der Zeit und soll sie binden. Logisch gesehen erweist sich dieses Verhältnis schließlich als Zeitantinomien des Rechts. Diese Konstellation wird durch den binären Rechtscode – entweder Recht oder Unrecht – sozusagen zugespitzt und institutionalisiert, weil die Struktur des Rechtscodes einerseits die dauernden Konflikte zwischen den Rechtsansprüchen vorprogrammiert und andererseits die Entscheidungssitua tion hervorbringt und zur Entscheidung – im rätselhaften, paradoxen Punkt der Gegenwart – zwingt. Erst durch die gezwungenen Anschlüsse fließt die Rechtszeit und die Geltung des Rechts wird somit ‚gegründet‘. Für das Treffen der Entscheidung wird die juristische Argumentation ausgeführt, wobei der Problemkomplex von der Zeitdimenion auf die Sachdimension zurückgeschoben wird. Die Zeitantinomien des Rechts werden in die Figur der juristischen Analogie zwischen den Einzelfällen mit dem logischen Abgrund des Analogieschlusses transformiert, wodurch die Identität sich (fort-) bildet und die Zeit bindet. Die Gerechtigkeit besteht in der Konsistenz der Entscheidungen, in dem Identitätskern aufgrund des Metakontextes für die
II. Funktion der Zeitbindung und Paradoxie des Rechts295
Operationen des Rechts, in der Fortbildung der Sinnidentität in Anschlüssen und damit in der autologischen Fortschreibung der Einheit des Rechts. Zudem verdient es Beachtung, dass Luhmann die Stellung von juristischen Begriffen bzw. Formeln und Rechtstexten als Träger der Identität / Einheit des Rechtssystems hervorhebt. Man kann wohl sagen, dass diese juristischen Träger wie treibende Stützpunkte in dem temporalisierten Zeitfluss fungieren und damit gewissermaßen den Punkt des laufenden Umschlagens der Gegenwart einfangen. Erst damit bleiben die Zeitbindung durch das Recht und die Stabilisierung der Verhaltenserwartungen noch möglich.
E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen I. Überblick über das Verhältnis des Rechts zu seiner Umwelt Das Rechtssystem erhält aufgrund des stabil binären Codes seine operative Geschlossenheit und Autonomie. Zugleich wird das Rechtssystem mit seiner Umwelt, die die Individuen und die Gesellschaft mit allen ihren Subsystemen einschließt, verbunden. Als Ausgangspunkt wird festgestellt, „daß das Verhältnis dieses Systems zum umfassenden Gesellschaftssystem mehrdeutig ist“.1 Die Mehrdeutigkeit des Verhältnisses des Rechtssystems zur Gesellschaft resultiert aus der grundlegenden Struktur der unitas multiplex des funktional differenzierten Gesellschaftssystems, sie wird dann im Rechtssystem unter der Leitung des binären Codes ‚Recht und Unrecht‘ verarbeitet. Es geht zunächst um die operative und strukturelle Kopplung zwischen Recht und Gesellschaft;2 dabei reproduziert sich das Recht selbstreferentiell weiter und damit gleichzeitig auch die Gesellschaft. „Das Rechtssystem vollzieht Gesellschaft, indem es sich in der Gesellschaft ausdifferenziert.“3 Mit Luhmann könnte man von der Digitalisierung anhand des Rechtssinnschemas sprechen.4 Der systemtheoretische Kern des Verhältnisses von dem Recht und seiner Umwelt besteht – nach der Differenzlogik – darin, dass das Verhältnis in der Einheit der Differenz von Recht und Gesellschaft / Individuum besteht und dass diese Einheit dann in die Einheit des Rechtssystems durch die Selbstreferenz in Gestalt der Identität des Rechtssystems überführt und somit bezeichnet wird. Das Problem der Rechtsparadoxie bleibt dabei immer bestehen. 1 RdG,
S. 34. Problemzusammenhang von operativer und struktureller Kopplung vgl. B. V. 1. a). Die Theorie struktureller Kopplung thematisiert die Form der Differenzierung des Gesellschaftssystems im Hinblick darauf, „daß Trennung und Zusammenhang der Funktionssysteme ein Problem bilden und die Paradoxie der Einheit des Ganzen, das aus Teilen besteht, auf strukturelle Kopplungen abgeladen werden und dadurch Form erhalten kann“ (RdG, S. 446). 3 RdG, S. 34; auch vgl. SS, S. 38, S. 262. 4 Man könnte auch von einer Überleitung des ‚chaotischen Verhältnisses‘ (Schmitz) zum ‚konditionierten Verhältnis‘ (Engisch) sprechen. Vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1997, S. 42. 2 Zum
I. Überblick über das Verhältnis des Rechts zu seiner Umwelt297
Vor diesem Hintergrund wird das Verhältnis von Recht und Gesellschaft besonders in den strukturellen Kopplungen zwischen dem Rechtssystem und anderen Funktionssystemen gesehen: Verfassung als strukturelle Kopplung zwischen Recht und Politik, Eigentum sowie Vertrag als strukturelle Kopplung zwischen Recht und Wirtschaft, Steuer und Zentralbank als strukturelle Kopplung zwischen Politik und Wirtschaft; und zwischen den Individuen und dem Rechtssystem wird mithilfe der subjektiven Rechte und der Menschenrechte strukturell gekoppelt.5 Beachtenswert ist, dass diese strukturellen Kopplungen auch ihren Eingang in den Verfassungstext gefunden haben. Offenbar soll mit Hilfe des Verfassungstextes die Gesellschaft entpolitisiert werden, wobei die Individuen als Vermittler zwischen Funktionssystemen bestimmt werden. Dieses Verhältnis vom Recht zu seiner Umwelt stellt sich als ein Ergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung dar – ausgehend vom Durchbruch des abendländischen Normativismus im Mittelalter bis zur heutigen weltweiten Diskussion der Menschenrechte. Die alteuropäische „Kombination von Normativismus, Schematismus, Universalismus und Ausdifferenzierung eines Rechtssystems“ wird dabei durch die Umstellung von der stratifikatorischen auf die funktionale Differenzierung der Gesellschaft begleitend überlagert.6 Das Modell der Hierarchie wird allmählich abgelöst, zugleich wird die Gesellschaft (societas) nicht mehr wie zuvor im rechtlichen Sinne begriffen und nicht als erst durch den Vertrag gegründet aufgefasst (Naturrechtslehre). Da das soziale Verhältnis nicht mehr schlicht im Rechtsverhältnis definiert wird, wobei jedermann seinen festen Platz, feste Attribute und durch Geburt seine bestimmte ‚Qualität‘ erhält und da sich das Recht gerade wegen seiner Ausdifferenzierung zu einem autonomen Funktionssystem mit der Gesellschaft als solche nicht mehr deckt, braucht man die genannten strukturellen Kopplungen des Rechtssystems nach außen. Die gesellschaftliche Evolution und die funktionale Differenzierung führen zum Verfall der hierarchischen Ordnung und bringen die ‚moderne Sozialität‘ hervor. Noch vor dem Hintergrund des Normativismus mit der Hierarchie wurde die Revolution schlicht als „Rechtsbruch“7 verstanden. Wenn nun die Gesellschaft nicht mehr mit dem Recht deckungsgleich ist, dann entsteht sozusagen ein großer ‚Rechtsfreiraum‘. 5 RdG,
S. 451. Die Funktion des Rechts, in: ders., AdR, 1981, S. 78 f. Luhmann, RdG, S. 586, spricht von dem möglichen Ende der ‚europäischen Anomalie‘ angesichts der möglichen Schwächung des Funktionierens des Rechtscodes in der Weltgesellschaft. 7 RdG, S. 25. 6 Luhmann,
298
E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
Die Sozialität besteht nicht mehr bloß aus Rechtsverhältnissen, sie erscheint in Gestalt doppelter Kontingenz, bedeutet die Differenz des einen zu dem anderen und daher den Einschluss des anderen. Die Sozialität muss also trotz aller Schwierigkeit erneut als emergente Realität des Sozialen reproduziert werden, wobei die rechtliche Realität einen Bereich ausmacht. Parallel dazu entsteht die Konkurrrenz der Sozialwissenschaften mit der Jurisprudenz, so dass die Bestimmung des Sozialen nicht mehr durch die Juristen dominiert werden kann.8 Aus der Perspektive der Systemtheorie bedeutet dies, dass einerseits das Recht keine Hierarchie mehr als fundamentalen Grund der Ordnung für und über die Gesellschaft diktieren kann und dass andererseits das Recht selber in die Gesellschaft eingebettet wird. Insofern gibt es kein ‚natürliches Recht‘ mehr, sondern das Recht kann nur das gesellschaftliche Recht – „das Recht der Gesellschaft“ – sein. Das Verhältnis von Recht und Gesellschaft wird sozusagen umgekehrt und das Recht wird den gesellschaftlichen Fluktuationen ausgesetzt. Zugleich wird das Rechtssystem angesichts der ganz unwahrscheinlichen Komplexität der modernen Gesellschaft – als Reaktion auf die neuzeitliche Katastrophe? – aber immens erweitert und nimmt die Gesellschaft in sich auf. Die Revolution bedeutet nun keinen Rechtsbruch mehr, sondern die ‚Republik‘ betreibt mit laufender Gesetzgebung – Positivierung des Rechts – gerade eine anhaltende Revolution (Schlegel). Dies entwickelt sich dann zum Ende der europäischen „Anomalie“,9 zur Unzulänglichkeit von „Recht und Moral“ für die Wahrnehmung des Fehlverhaltens,10 zur „Rechtslethar gie“11 und schließlich zum Problem von In- und Exklusion der Individuen, das die Funktion des binären Codes – Recht und Unrecht – zu unterlaufen droht. Die Differenzlogik der Systemtheorie soll nämlich an die Stelle der Hierarchie treten, wodurch die Konsistenz (Einheit und Identität) des Rechts im 8 RdG, S. 20 ff. In diesem Zusammenhang kann man wohl einsehen, warum die Juristen den Sinnverlust empfinden würden. Während man von dem Prinzip ‚Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus‘ (Art. 20 GG) ausgeht und die notwendige demokratische Kontrolle des Rechts betont, läuft die systemtheoretische Diskontinuität der sozialen Realität darauf hinaus, die Demokratie (Politik) vom Recht zu trennen. Dadurch hat man nur noch das Rechtsverfahren übrig, das justiziable Probleme zerlegt und „nicht die Aufgabe [hat], herauszufinden, wie es [das Leben] wirklich gewesen ist“ (Wesel, Fast alles, was Recht ist, 1999, S. 410). Aber während demnach die Juristen das Monopol der Deutung der sozialen Verhältnisse zu verlieren drohen, entpuppt sich der „Niklas Luhmann als postmoderner Leviathan“ (Wesel, ebd., S. 411). Die gemeinte Zerrissenheit des Sinns des ‚wirklichen Lebens‘ ist jedenfalls auch in einer demokratischen Gesellschaft zu finden und systemtheoretisch einzusehen. 9 RdG, S. 586. 10 SS, S. 536. 11 RdG, S. 490.
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik299
Schema der Differenz von Invarianz und Varianz – auf Aristoteles zurückgreifend – zu produzieren ist. Dabei wird nicht nur Ja, sondern auch Nein kommuniziert und man fragt, ob man trotz aller Probleme der Theodizee schließlich „Ja zur Gesellschaft“12 sagen kann. Man könnte sagen, dass ein anderer Normativismus mit der Systemtheorie in diesem Sinne gesucht wird, wobei die Menschenrechte, insbesondere das Gleichheitsprinzip, am Anfang stehen. Die strukturellen Kopplungen von Recht und anderen Systemen werden in diesem Zusammenhang betrachtet. Die Unterscheidung von Staatsrecht und Privatrecht und ihre Entstehung werden dann in die Theorie struktureller Kopplung der Funktionssysteme eingerahmt. Die Korrelationen zwischen Rechtsgebieten und Funktionssystemen finden ihren Fluchtpunkt letztlich wohl in den Grundrechten. Mit Grundrechten will die Verfassung die Legeshierarchie in sich selbstreferentiell verankern und sich selbst damit verewigen. Der ‚Grund‘ wird somit für das Rechtssystem ‚gegründet‘. In diesem Zusammenhang wird die Selbstreferenz des Rechtssystems in paralleler Verbindung mit den strukturellen Kopplungen erreicht und zugleich soll mit Grundrechten (Menschenrechten) die Gesamtbevölkerung in die Gesellschaft eingeschlossen werden.
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik Der Verfassungsstaat stellt ein historisch neues Arrangement des Verhältnisses zwischen Recht und Politik dar. Es geht einerseits um die Souveränität des politischen Systems gegenüber dem Recht und andererseits um die Geschlossenheit des Rechtssystems aufgrund der Verfassung gegenüber der Politik. 1. Recht und Politik im Lichte der strukturellen Kopplung Im Zusammenhang von Recht und Politik bilden den historischen Ausgangspunkt zunächst der Religionskrieg und die Entstehung des souveränen Staates mit der Folge der Vereinheitlichung der seit jeher zersplitterten Rechtssysteme zu einem Rechtssystem durch den Staat. Dabei sucht man diese geschichtliche Entwicklung theoretisch immer noch mit dem Naturrecht zu fassen. Aufgrund der ‚Natur‘ oder ähnlichen Semantiken werden der Staat und das Recht nicht voneinander getrennt, sondern sie greifen ineinander. Die Formel des ‚Rechtsstaates‘ steht für diese Einheit, und zwar noch bis 12 SS,
S. 550.
300
E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
heute. Und die Semantik des Rechtssystems steht weiter in der Tradition, dass die Gesellschaftsordnung mit der Rechtsordnung gleichgesetzt ist. Mit der erzielten Vereinheitlichung des Rechtssystems bei dem souveränen Staat stößt man aber auf das Problem der Souveränität als unlösbare Paradoxie des Politiksystems. Dann wird in der historischen Evolution das Problem der Souveränitätsparadoxie mit dem verschriftlichten Verfassungstext, in den der ‚Grund‘ bzw. die ‚Grund-Norm‘ des Rechts eingeschrieben wird, auf das Rechtssystem übertragen. Dabei wird hinsichtlich der grundlegenden Struktur der gesellschaftlichen Differenzierung die entscheidende Umstellung von Oben / Unten auf Innen / Außen vollgezogen, also von Hierarchie auf funktionale Differenzierung. Die Leitdifferenz von System / Umwelt tritt dadurch auf den Plan. Man beachte aber, dass die hierarchische Struktur mit irgendeinem Grund nun in eine Struktur von Innen / Außen eingebettet und überformt wird. Das Ergebnis ist die Positivierung des Rechts und die trennende Geschlossenheit der beiden Systeme von Recht und Politik. Mit dem Verfassungstext wird nicht nur die strukturelle Kopplung des Rechts mit der Politik hergestellt, sondern auch die Differenz und die Identität des Rechtssystems werden dann vom Verfassungstext getragen. Und damit kann man die Einheit des Rechtssystems und auch die Einheit der Gesellschaft in Bezug auf das Recht erreichen. Man soll stets genauer den Komplex im Auge behalten, dass die Souveränitätsparadoxie ja nicht ein Problem des Rechts ist, sondern ein Problem der Politik; und umgekehrt ist die Rechtsparadoxie kein Problem der Politik, sondern des Rechts. Es geht nämlich um die Unbestimmtheit und Unanschließbarkeit der Sinnmöglichkeiten je in Politik und Recht, wobei die beiden Systeme digital und strikt getrennt werden. Wie nach der Logik der selbstreferentiell autopoietischen Systeme die Souveränitätsparadoxie und die Paradoxie des Rechts von dem einen System auf das andere ‚übertragen‘ und damit ‚gelöst‘ werden können, bildet das Kernproblem der strukturellen Kopplung. Daran anschließend stellt sich das Problem, wie der Verfassungstext dabei funktioniert. Die oben eingeführten Unterscheidungen von Sinnmöglichkeit / Codewert, ‚Gedanke‘ / Existenz (Wirklichkeit bzw. Existenz) und Normativität / Geltung finden auch hier Anwendung, um diese Probleme struktureller Kopplung zu erklären. a) Einheit von Recht und Politik im Hinblick auf das Widerstandsrecht Nach Luhmann wird in der alteuropäischen Tradition die Gesellschaft entweder als ein Vertrag oder als ein natürlicher Körper begriffen. Die Konstruktion der Gesellschaft als Vertrag wird in Anlehnung an die römisch-recht-
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik301
liche ‚societas‘ erfolgen und die Einheit der Gesellschaft wird daher in einer Rechtsform gegründet. Entsprechend der Struktur der gesellschaftlichen Hierarchie wird dabei das Recht ebenso als Legeshierarchie aufgefasst. Die Konstruktion der Gesellschaft als ein natürlicher politischer Körper gründet sich auf die ‚Natur‘, die ihrerseits zwei Seiten enthält: Perfektion / Korruption und rex / tyrannus im politischen Bereich. Die Einheit der Gesellschaft besteht in dem Naturrecht, das für die Perfektion und gegen die Korruption optiert. Für beide Alternativen besteht allerdings die gemeinsame Annahme „in der besonderen Betonung der rechtlichen Voraussetzungen gesellschaftlichen Zusammenlebens“:13 „Die Gesellschaft sei eine Rechtsordnung.“14 Schlicht gesagt ist die Gesellschaft das Recht, das gemeinsame Gesellschaftsleben wird in Rechtsform geführt. Auf diesem Hintergrund stoßen Recht und Politik unvermeidlich und sehr dicht aneinander. Die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht spielt eine gewichtige Rolle für die Politik. Man hegt sogar den Glauben, „politische Probleme seien als Rechtsproblem zu lösen“.15 Luhmann hält es für eine Illusion, aber mit der Formel des Rechtsstaates dauert bis heute diese „Illusion, man könne Politik als Rechtsordnung begründen“,16 weiter an und „die Hypostasierung der Sonderfunktion des Rechts“ kann als Vertrag oder Naturrecht immer noch eine konstituierende Funktion gewinnen.17 Die Differenz und die Einheit von Recht und Politik bilden also den Ausgangspunkt, daher stellt das Widerstandsrecht das Kernproblem für diese Einheit der Differenz dar. Historisch gesehen hat man vor allem mit dem Problem der Rechtsquellen zu tun: der Papst gegen den Kaiser; das lokale Gewohnheitsrecht gegen die formal schriftlich fixierten Rechtsinstitute; Zivilrecht gegen kanonisches Recht; das Nebeneinander von Feudalrecht, Stadtrecht und Königsrecht, je mit eigenen Jurisdiktionen.18 Es herrschte nicht die Einheit, sondern die Zersplitterung des Rechts; als die andere Seite derselben Medaille verschränken sich Recht und Politik miteinander und durchdringen einander.19 13 RdG,
S. 408. S. 491. 15 RdG, S. 433. 16 RdG, S. 479. 17 Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechtssystems, in: ders., AdR, 1981, S. 43. Man entwickelt die Gesellschaftstheorie als Rechtsphilosophie (wie bei Hegel); und die Juristen kommen „in eine Position mit gesamtgesellschaftlichen Verantwortungen, die ihre spezifischen Funktionen und Kompetenzen weit überzieht. Deshalb sind die Juristen zeitweise nicht konservativ, sondern progressiv orientiert“ (Luhmann, ebd.). 18 RdG, S. 408. 19 Vgl. Luhmann, Die juristische Rechtsquellenlehre aus soziologischer Sicht (1973), in: ders., AdR, 1981, S. 309 f. Gerade im Zusammenhang mit der Zersplit14 RdG,
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
Im Übergang von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung in der Frühmoderne durchläuft die politische Herrschaft die Ausdifferenzierung des politischen Systems im Gesellschaftssystem. Zuvor kennt man mit der traditionellen Unterscheidung von rex / tyrannus nur den legitimen Herrscher und die ‚legitime potestas‘, die Alternative dafür kann nur Chaos, Unglück, Strafe Gottes u. ä. heißen. Die politische Herrschaft wird nämlich noch im Rechtssinn verstanden und mit ihr kennt man auch nur die eine positive Seite, die zudem gleichzeitig über ökonomische Ressourcen verfügt. Recht, Politik und Wirtschaft werden nicht differenziert. Und dies alles wird vom hierarchisch gestalteten Recht eingerahmt, aber immerhin in dem Recht: „Der Herrscher ist Moment einer kosmologisch begründeten Ordnung, die ihn als Natur und als Moral unter Beschränkungen setzt.“20 Es gibt Herrscher nur im Recht, sonst gibt es keinen Herrscher und keine potestas im eigentlichen Sinne und der Staat stellt insofern immer bereits einen Rechtsstaat dar. In dieser kosmologisch-moralischen und ‚natürlichen‘ Rechtsordnung wird das Widerstandsrecht als Problem verankert, genau weil die Politik und das Recht ungetrennt in einem System miteinander verschränkt werden. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Differenzierung bedeutet dies, dass das politische System mit seiner Souveränität der Rechtssetzung noch nicht vom Recht losgelöst werden kann. Das Problem liegt dabei im Verhältnis des Rechts zur stratifikatorischen Struktur. Die neuzeitlichen Revolutionen werden in der Tat erst durch Inanspruchnahme des Widerstandsrechts geführt, das als Recht ebenso in der Politik liegt. Das Recht dient sozusagen dialektisch – mit der unbeobachtbaren und unbeschreibbaren Paradoxie und Entparadoxierung des Rechts – der (schleichenden) Umstellung von dieser einen auf die andere Form: „Das Recht diente in einer Weise, die es selbst nicht mehr erfassen und nicht mehr beobachten und beschreiben konnte, dem Primat der stratifikatorischen Differenzierung.“21 Durch die Berufung aufs Recht wird die alte Ordnung bekräftigt und doch unmerklich abgelöst. (Die List der Vernunft des Rechts?) Man könnte hier von einer ‚Revolution durch (Natur-)Recht‘ sprechen, wobei man mit einem Rechtsanspruch jederzeit in die politische Herrschaft eingreifen kann. Mit dieser ständigen Möglichkeit, in die Politik mit dem terung und des Bedarfs nach Einheit hebt Luhmann die Notwendigkeit der „Trennung von Normativität und Geltung“ hervor (Luhmann, ebd., S. 318). 20 GdG, S. 714. 21 GdG, S. 715, In Bezug auf die Wirtschaft des Adels zeigt sich die Paradoxie des Rechts in ähnlicher Weise: „Ihren letzten Rückhalt findet die Ständeordnung im Recht – wohl deshalb, weil das Recht für Fragen, auf die es geantwortet hatte, jeweils konkrete Ersatzlösungen finden muß“ (GdG, S. 738). Mit der Paradoxie des Rechts können sich also durch die Bestätigung der alten Ordnung „auch andere Ordnungsmöglichkeiten“ ergeben (GdG, S. 738).
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik303
Rechtanspruch einzugreifen, entsteht zugleich „das Dauerproblem der politischen Rivalität. Der Herrscher konnte jederzeit durch einen Rivalen ersetzt werden“.22 Diese politische Rivalität wird wahrgenommen und thematisiert, indem sie im Geltungsmachen des Widerstandsrechts zugleich ‚die negative bzw. nichtseiende Seite der Politik‘ zum Vorschein bringt. Die Rivalität erscheint zuerst in den Verhältnissen von Patron / Klient, durchläuft viele nuancierte unterschiedliche Zwischenphasen und mündet schließlich in die Differenz von Regierung / Opposition, die dann Demokratie genannt wird. Die Politik in Form der Staatsordnung wird schließlich ausdifferenziert und sie erlangt „eine eigene Staatsräson mit Enklaven für unmoralisches Handeln (in Notfällen)“, wobei der souveräne Staat „in der Form des Verwaltungsstaats und des Rechtsstaates“ vorkommt.23 Dies bedeutet, dass die Gewalt nun politisch strukturiert wird, die Religion und die Moral von der politischen Sphäre ausgegrenzt bzw. privatisiert werden24 und die Wirtschaft auch nicht mehr deckend politisch kontrolliert werden kann.25 Man beruft sich auf das Recht, um sich politisch durchzusetzen; oder umgekehrt setzt man politische Gewalt ein, um das Recht zu schaffen. Mit dem Naturrecht als Einheitsformel von Recht und Politik kann man alles machen. Davon ausgehend bringt erst die Bestrebung um die Einheit politischer Gewalt im Territorialstaat die Einheit des Rechts hervor. Diese Einheit von Recht und Politik unter der Souveränität des Staates soll einerseits das Widerstandsrecht ausschalten bzw. unterdrücken; sie ermöglicht andererseits die Selbstkorrektur des Rechts, zum Beispiel anhand der Unterscheidung von strengem Recht und Billigkeit. Entscheidend wichtig ist da22 GdG,
S. 715. S. 718. 24 Der absolute Staat ist ein Rechtsstaat. Dies wird nur durch die „liberale Geschichtsfälschung“ (GdG, S. 718, Anm. 233) geleugnet. Der absolute Staat und der Rechtsstaat sind nach Luhmann aber noch kein Verfassungsstaat. So gesehen ist auch der Rechtsstaat eher stratifikatorisch verankert – ein mittelalterliches Erbe. Die Privatisierung der Moral wie der Religion hat ihre Wurzel ebenfalls in der Umstellung der Differenzierungsform; und dies hat u. a. die Folge, dass heute der Krieg ein politisches Problem ausmacht und nicht um der religiösen Wahrheit willen geführt wird und dies, auch wenn es um menschenvernichtende Waffen und Massenmorde geht (vgl. GdG, S. 722). Die Privatisierung scheint eine Tendenz auszubilden, die (in der Wirtschaft) zur „Privatisierung des Gemeindelandes“ (GdG, S. 728), zur Privatisierung der Person als „privater Personalität“ (GdG, S. 738) und letztendlich zur Privatisierung (des Gebrauchs) der subjektiven Rechte und Menschenrechte (vgl. RdG, S. 489, Anm. 105) führt. Das Ganze spiegelt die Umstellung von der hierarchischen Rechtsordnung über die Staatsordnung bis zu internationalen Finanzmärkten als neuem weltgesellschaftlichem Zentralismus ohne Normen und ohne Direktive wider (vgl. GdG, S. 727) und stellt einen Vorgang der Emanzipation der Wirtschaft von allen politisch-rechtlichen Kontrollen dar. 25 Zu diesem historischen Zusammenhang vgl. D. I. 1. 23 GdG,
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
bei, dass nun die Paradoxie des Rechts – nämlich das ungelöste Problem der Unterscheidung von Recht und Unrecht – nicht mehr einfach den vorhandenen Machtverhältnissen überlassen wird, sondern man findet im souveränen Staat einen nützlichen Abstützungspunkt für „Externalisierung“ des Problems der Rechtsparadoxie.26 Recht und Politik werden insofern unter der Formel des Rechtsstaates vereinheitlicht. Das Problem des Rechtsstaates als Lösung besteht aber darin, dass auch ein Rechtsstaat ein Staat mit politischer Souveränität ist. Durch Unterbringung des Rechts unter die Souveränität verbirgt und übergeht man nach Luhmann nämlich die Unterscheidung von politischer Macht und Rechtsmacht. Die politische Macht bedeutet die generalisierte Fähigkeit, Gehorsam zu schaffen, sie nimmt mit der Rechtsmacht nur die Rechtsform an. Die Differenz von Recht und Politik wird immerhin angedeutet.27 Mit Erlangen der Souveränität des politischen Systems wird zugleich die negative Seite der Politik anerkannt. Die Politik erhält dadurch ihren eigenen Code und sagt sich vom Recht los; sie muss selber durch die Hinzufügung der negativen Seite die ganze Welteinheit in sich überführen und ihre Komplexität reduzieren.28 Die Souveränität des Staats bedeutet systemtheoretisch nämlich, dass das politische System ein autopoietisch selbstreferentielles Funktionssystem darstellt. Gegenüber der souveränen Autonomie der Politik besteht die entscheidende Schwierigkeit für den Rechtsstaat darin, dass es für die Souveränität des Staates unmöglich ist, zu akzeptieren, „daß Untertanen mit Berufung auf Recht in die Politik eingriffen, das heißt: den Frieden störten“.29 Man behält also nach wie vor die Möglichkeit in der Hand, sich auf Natur oder ähnliche Semantiken zu berufen und damit in die Politik einzugreifen, da die historische Einheit von Recht und Politik noch auf Naturrecht bzw. Sozialvertrag gegründet wird. Auf diese Weise schmuggelt die Vereinheitlichung von Recht und Politik das Widerstandsrecht sozusagen durch die Hintertür wieder hinein. Im Allgemeinen könnte man mit Luhmann sagen: Besteht man auf der Einheit von Recht und Politik, wie die Tradition bis zum Rechtsstaat es nahelegt, kann das Problem des Widerstandsrechts nicht durch Politik abgeschafft werden. Die politische Ordnung aufgrund der Souveränität des Staates beansprucht dennoch ihre eigene Geschlossenheit. Der Souveränität steht das Widerstandsrecht gegenüber, was dann in Revolutionen in Ameri26 RdG,
S. 413 f. S. 409 f. 28 SS, S. 38, S. 262. 29 RdG, S. 414. Vor diesem Hintergrund soll auch die sogenannte Paradoxie zwischen Demokratie und Rechtsstaat gesehen werden. Eine Demokratie ist ebenfalls ein souveräner Staat, für sie bedeutet die Berufung auf das Recht auch eine Störung. 27 RdG,
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik305
ka und Frankreich den historisch neuen Ausdruck findet. Und das Widerstandsrecht wird danach als ‚Verfassungsfrage‘ durch das 19. Jahrhundert hindurch thematisiert: Der Rechtsstaat kann das Problem nicht lösen und muss in den Verfassungsstaat verwandelt werden, auch wenn die Formel der Einheit von Recht und Politik weiter bis heute gebraucht wird. Stattdessen muss die Verfassung den Problemkomplex von Souveränität und Widerstandsrecht arrangieren. Luhmanns Antwort darauf heißt: Verfassung als strukturelle Kopplung und in Form des Verfassungstextes. Die Verfassung legt nämlich die Ablösung von der Einheit von Recht und Politik nahe, der Verfassungsstaat bedeutet die Ablösung vom Rechtsstaat. b) Paradoxie der Souveränität als Problem der politischen Kontingenz Außer der Einheit von Recht und Politik (Rechtsstaat) erweist sich die Souveränität als ein eigenes Problem der Einheit des politischen Systems. Die Souveränität wie die Verfassungsgerichtsbarkeit gelten nach Luhmann je für das politische System und das Rechtssystem als „logische Revolutio nierung“,30 sie sind Produkte der neuzeitlichen „ ‚Katastrophe‘ “,31 werden erst durch den Übergang von der Differenz von Oben / Unten zur Differenz von Innen / Außen ermöglicht. Konkret bedeutet dies, dass nun die Systeme mit ihrer operativen Geschlossenheit einander gegenüberstehen; es gibt nämlich keine gesamtgesellschaftliche Einheit mehr. Historisch bringt die staatliche Souveränität „die Einheit der territorial begrenzten Staatsgewalt“ zum Ausdruck32 und mit ihr wird die Einheit von Recht und Politik erreicht. Die Souveränität der Politik stößt aber auf die ungelöste Paradoxie in Bezug auf die Reflexion der Einheit des politischen Systems. Die Souveränität konzentriert also die staatliche Willkür auf einen einzigen Punkt an der Spitze. Die Souveränitätsparadoxie fragt danach, „wie man ungebundene Willkür an der Spitze gleichwohl ihres Beliebens entkleiden […] und wie man den Souverän an rationale Regeln und vor allem: an eigene Versprechen binden könne“.33 Als Einheitsformel für das Politiksystem drückt 30 RdG,
S. 475. S. 476. 32 RdG, S. 476. 33 RdG, S. 476. Die politische Souveränitätsparadoxie kann leicht auf die Rechtsparadoxie übertragen werden und entzündet in einer delikaten Weise den Streit zwischen objektiver und subjektiver Theorie bei der Rechtsmethodenlehre. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1997, S. 117, fragt (im Hinblick auf das national-sozialistische Steueranpasssungsgesetz von 1934): „Etwa von der Art, daß der Gesetzgeber vermittels einer objektiven Auslegungsmaxime erklärt, er wolle, daß sein Wille nicht maßgeblich sei?“ Der Machthaber kann nämlich, sogar ge31 RdG,
306
E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
die Souveränität angesichts des befragten Selbstgebundenseins in der Tat eine (positive und negative) reflexive Relation (a = a sowie a = non-a) aus. „Die Souveränitätsformel formuliert eine Tautologie. Ich entscheide, wie ich entscheide. Wenn man eine Negation hinzunimmt, erscheint eine Paradoxie: Ich entscheide ungebunden mit Bindungskraft für alle, also auch für mich selber, da ich zum System gehöre; ich binde und entbinde mich.“34
Die ‚Negation‘ der Ungebundenheit bedeutet – wie dargestellt – nichts. Die Souveränität ist die Tautologie (Einheit und Identität des Systems) und dann wieder die Paradoxie (nämlich unbegründbare Einheit des Systems). Mit Souveränität läuft die Politik schließlich auf „Selbstnegation“ hinaus,35 die die Kontingenz der Politik (auf die Bestimmungen politischer Handlung beziehend) bezeichnet. Da aber die Funktion der Politik bei Luhmann im Herstellen der allgemein verbindlichen Entscheidungen gesehen wird, bedeutet die Souveränitätsparadoxie genauer genommen, dass man droht, zwischen den konkurrierenden Bestimmungen für die Identität der Politik nicht mehr entscheiden zu können und damit blockiert zu werden. Die Souveränität bringt also eine instabile, konkurrierende Identität der Politik mit sich; in dieser Ordnung muss sich der Souverän an der Spitzenstellung ununterbrochen behaupten und kommunikative Anschlüsse finden. Man kann nicht mehr schlicht keine Entscheidung treffen, sondern man muss doch irgendwie eine bindende Entscheidung erlangen. „Die Staatstheorie blieb damit auf dem Paradox der Bindung der notwendigerweise ungebundenen Gewalt sitzen.“36 Man muss zugleich ungebunden und gebunden sein. Die Kontingenz bildet ‚das Wesen‘ der modernen Politik. Dies ist die Souveränität des modernen Staates vor dem Hintergrund der Revolutionen mit Berufung auf das Widerstandsrecht.37 Angesichts der eigenen Schwierigkeiten mit der Paradoxie setzlich, erklären, dass er seine Souveränität aufgibt und sich durch bestimmte objektive Maximen binden lässt. 34 Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, 1990, S. 197. 35 PdG, S. 26: „In einem strengen Sinne ist ein System nur dann perfekt autonom, wenn es die eigene Negation enthält. Es muß, anders gesagt, auch für den Fall der Selbstnegation selbst sorgen können. Das kann jedoch nur in der Form einer Paradoxie geschehen. Für das politische System ist die dafür geschaffene Semantik mit dem Stichwort der ‚Utopoie‘ verbunden.“ Und ders., Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in: ders., GuS 3, 1998, S. 127: die Paradoxie „setzt gleichsam den Schlußstein ins System; sie besagt, daß es ohne sie nicht geschlossen werden kann“. Demnach bedeutet Souveränität die Autonomie der Politik als ein Subsystem der Gesamtgesellschaft, und zwar in Gestalt der Selbstnegation, logischer Paradoxie wie (politisch-theologischer) Theodizee, eben in nowhere (U-Topie). 36 RdG, S. 476. 37 Neigt man dazu, einseitig das Gebundensein als Lösung der Souveränitätsparadoxie zu sehen und den ‚Bedarf des freien Ungebundenseins‘ zu vernachlässigen oder zu leugnen, verfehlt man die Pointe.
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik307
kann die Souveränität als (rechtsstaatliche) Lösung für das Problem des Widerstandsrechts nur schwer allein funktionieren. Daher braucht man die Verfassung, um die unlösbare Paradoxie der Souveränität der Politik (bzw. des politischen Codes) von außen zu regulieren und damit die Autopoiesis der Politik zu gewährleisten. Dabei wird das Widerstandsrecht auf das Rechtssystem beschränkt. Erst an dieser Stelle taucht die Verfassungsgerichtsbarkeit auf.38 2. Verfassung als strukturelle Kopplung von Recht und Politik Als „ ‚die fixierte Unruhe, die angehaltne Revolution, der gebundne absolute Staat‘ “39 soll die politische Souveränität als Paradoxie in die Verfassung transformiert werden: Die souveräne Unruhe hat ihre Wurzel in den wechselseitigen Irritationen von Recht und Politik, denen mithilfe der Verfassung als strukturelle Kopplung zu begegnen ist. Die Verfassung gilt insofern als Medium der Unruhe, aber auch als Ausdruck der „Errungenschaft der dynamischen Stabilität der Systeme bei steigernder Irritierbarkeit als Paradox“.40 Die Pointe des Verfassungsstaates formuliert Luhmann dann mit einer logisch grundsätzlichen Darstellung, nämlich in der These, „daß jede Höchstposition – die Gottes ebenso wie die des souveränen Staates – auf eine unformulierbare Regel angewiesen ist. Soviel bleibt.“41 Man könnte hier auch von kommunikativer Unbestimmtheit sprechen.42 Zugleich aber 38 Das Recht und die Politik scheinen relativ eng aufeinander bezogen zu sein. Die Funktionssysteme reagieren normalerweise dadurch auf die funktionale Differenzierung, dass sie mit dem Monopol des eigenen Kommunikationsmediums dazu tendieren, „in sich besser zu koordinieren“ und „auf Koordination zwischen ihnen zu verzichten“ (GdG, S. 709). Allerdings hat das Recht kein eigenes Medium, deshalb scheint das Recht geeignet zu sein, die Subsysteme zu überbrücken. 39 Schlegel, Signatur des Zeitalters, 1984, S. 713, hier zitiert nach Luhmann, RdG, S. 476. 40 RdG, S. 476. 41 RdG, S. 476 f. Die französischen Legisten bestimmen die Willkür einzig und allein bei dem König: „[W]enn schon Willkür, dann nur an einer Stelle, an der Spitze des Staates“ (GdG, S. 966). 42 Jeder höchste Punkt welcher Art auch immer – hier Souveränität als Musterbeispiel – muss nach der so formulierten ‚unformulierbaren Regel‘ in dieselbe Paradoxie geraten. Das Problem der unformulierbaren Regel könnte man auf das allgemeine kommunikationstheoretische Paradox zurückführen, das dann in das „Paradox des Epimenides“ mündet; und jeder Souverän, der verspricht, sich zu binden, begeht – bewusst oder unbewusst – den Fehler der kommunikativen Aufrichtigkeit (vgl. SS, S. 207 f.; GdG, S. 311). Vgl. auch GdG, S. 960 f.: Die historisch entwickelte Theorie der Staatsräson wird im Rahmen der Reflexionstheorien, also im Zusam-
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überführt man nun „die Interpretation der Souveränität als Willkür […] in eine Aufteilung von Positionen mit unterschiedlichen Identitäten“.43 Konkret bedeutet dies die Gewaltenteilung und die Differenzierung der beiden Systeme Politik und Recht. Das Problem der Souveränitätsparadoxie wird mit der Verfassung beiden Systemen je zugeteilt und damit gelöst, wobei das neue Paradigma der Innen / Außen-Differenz mit dem Verfassungsstaat zustandegebracht wird.44 Mit der Verfassung wird also nicht eine hierarchisch höchste unverfügbare Grundnorm gesetzt, eher wird eine heterarchisch differenzierende Marke für die Grenze zwischen Recht und Politik gelegt. „Die Verfassung kulminiert in Punkten, an denen unformulierbar wird, ob sie ihre Geltung dem System oder seiner Umwelt verdankt. Aber auch dies ist und bleibt menhang der mitlaufenden Selbstkontrolle der Kommunikation bei der Selbstbeobachtung des Systems lokalisiert (dazu vgl. SS, S. 226). 43 RdG, S. 477. 44 Auch PdG, S. 421 (eben F. Schlegel folgend): Um die Revolution als tiefgreifende Variation der Politik abzufangen, soll man in „der Form einer ‚Verfassung‘ Stabilität gewinnen […]. Es handelt sich […] um die auf Dauer gestellte Revolution. Um Instabilität als Prinzip. Um Kontingenz. […] evoluiert dann ein institutionalisierbares Muster der ‚repräsentativen Demokratie‘, das poltische Parteien, öffentliche Meinung und Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit einbezieht und in dieser komplexen Form nicht mehr darauf angewiesen ist, als unmittelbarer Ausdruck des Volkswillens zu erscheinen“. Die repräsentative Demokratie stabilisiert also die revolutionäre Instabilität als Prinzip, um dann – man beachte den logischen Zusammenhang dieser sozial-historischen Lösung – durch die Institutionalisierung der Parteidemokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit die Paradoxien von Recht und Politik (des Volkswillens) wechselseitig nach außen zu externalisieren und zugleich innerlich zu verteilen. Man vergleiche auch hier die These der unformulierbaren Regel von Luhmann mit der Theorie von dem Souverän im Ausnahmezustand bei Schmitt und mit der Theorie der Grundnorm bei Kelsen. Die beiden Ansätze gehen immer noch von der Einheit von Recht und Politik, eben dem Rechtsstaat, aus und in diesem Einheitsrahmen bezieht man das Problem der Höchstposition einseitig entweder auf die Politik oder auf das Recht und schließlich auf irgendeinen unverfügbaren Punkt außerhalb der Gesellschaft. Anders als Kelsens Grundnorm entwickeln Harts rules of recognition eine mögliche Beschreibung der Differenz von Recht und Politik, sie gehen aber nicht weit genug (vgl. Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, 1990, S. 203, S. 181, S. 187). Die Unzulänglichkeit liegt wohl darin, dass die strukturelle Kopplung als Problem zwischen beiden Systemen nicht klar herausgestellt wird. Nach Harts ‚Regelmodell‘ müssen die bestehenden Regeln für die Selbstbindung (des Souveräns) vorausgesetzt werden (Hart, The Concept of Law, 1994, S. 225). Man könnte fragen, wie denn die Selbstentbindung ist. Die Differenz zwischen „continuing omnipotence“ und „self-embracing omnipotence“ verlangt nach Hart danach, eine von den zwei Möglichkeiten als Tatsache („a question of fact“) festzustellen (S. 149–151); theoretisch wäre aber besser, beide Möglichkeiten doch in einer Darstellung – mit Luhmann: in der Paradoxie – ‚aufzuheben‘. Übrigens fungiert die ‚rule of recogni tion‘ as „a matter of fact“ (S. 110) ebenso wie die Grundnorm bei Kelsen, nur man bringt die mit Geltung festgebundene Norm nun in der Empirie unter.
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik309 eine systeminterne Ambiguität, die im Rechtssystem bzw. im politischen System einen je verschiedenen Sinn erhält je nachdem, wie die Systeme diese EinlaßStelle für Irritationen normalisieren.“45
Man sieht, dass die Verfassung die ‚unformulierbare Einheit der Differenz‘ verkörpert und zugleich diese Unformulierbarkeit als das höchste Prinzip der Verfassung übersetzend im Rechtssystem verankert. Sie bringt „höhere Kontingenzen und entsprechende Entscheidungsbedürfnisse“ zum Ausdruck.46 Die moderne Verfassung bedeutet also Kontingenz. Damit stellt sie „einen Schlußstein“ für das Gebäude der funktional differenzierten modernen Gesellschaft dar,47 worin die Funktionssysteme je mit der eigenen Selbstbeschreibung Irritationen für andere auslösen, weil jede Selbstbeschreibung der Subsysteme notwendigerweise eine eigene Beschreibung der Gesamtgesellschaft impliziert. Die unitas multiplex der Gesellschaft – die Paradoxie – erscheint in jedem Subsystem und findet dann durch die strukturellen Kopplungen ihren Weg in die Verfassung. a) Logik des Verfassungstextes Die Verfassung stellt nicht schlicht eine Norm bzw. eine Rechtsnorm dar; sie kann aber die „Rechtsform annehmen – aber nicht in ihrer Funktion struktureller Kopplung“.48 Die Verfassung besitzt nicht automatisch die rechtliche Geltung; wenn schon, dann resultiert ihre Geltung nicht aus diesem oder jenem System, sondern aus einem strukturellen Verhältnis zwischen Systemen.49 Folgerichtig besteht die Neuheit des Verfassungsstaates genau darin, „daß die Verfassung eine rechtliche Lösung des Selbstreferenzproblems des politischen Systems ermöglicht und zugleich eine politische Lösung des Selbstreferenzproblems des Rechtssystems ermöglicht“.50 45 RdG,
S. 477. Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, 1990. S. 197. 47 Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, 1990, S. 212. Somit werden die problematische und beunruhigende Identität und mit ihr die Einheit des modernen Rechtssystems – Tautologie und Paradoxie – in Verfassung als „Schlußstein“ aufgeladen; die Verfassung heißt dann Paradoxie. Vgl. auch WissendG, S. 507, S. 491 f.; auch ders., Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in: ders., GuS 3, 1998, S. 127. 48 RdG, S. 445. Man beachte nämlich, dass Verfassung nicht unmittelbar Verfassungsrecht bedeutet. 49 Vgl. RdG, S. 477. Diese Eigenschaften gelten allgemein auch für andere strukturelle Kopplungen wie Eigentum und Vertrag und die Geltung hat keinen ‚Grund‘, sie beruht auf der gesellschaftlichen Struktur. 50 Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, 1990, S. 202. Tendenziell sehen die Juristen in der Verfassung als strukturelle Kopplung sofort eine Rechtsnorm, und zwar mit rechtlicher Geltung. Roellecke, Beobachtung der Verfassungstheorie, 46 Luhmann,
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Das Problem der selbstreferentiellen Paradoxie, nämlich der unformulierbaren Regeln der Höchstposition, wird sowohl vom Rechtssystem als auch vom politischen System auf die Verfassung übertragen. Sowohl die Rechts paradoxie wie auch die Souveränitätsparadoxie werden ‚externalisiert‘, aber nicht mehr von unten nach oben, sondern jetzt von innen nach außen.51 Und 2010, S. 63: „Die neuen Rechtfertigungen konnten nur selbstreferenziell sein.“ Aber die Selbstreferenz drückt gerade das eigentliche Problem der ‚verschlüsselten Identität‘ aus, das mit der Verfassung abzufangen ist; man kann wohl sagen, dass die Selbstreferenz eine notwenige Bedingung dafür bildet, aber sie bildet nicht etwas Bestimmtes als „legitimierende Identität“ (SS, S. 111). Der Darstellung der Rechtstheorie von Luhmann bei Huber, Systemtheorie des Rechts, 2007, ist zuzustimmen, aber er bemerkt nicht das Problem der Selbstnegation auch bei der Selbstreferenz der Verfassung. Huber, ebd., S. 152 f. (Luhmann zitierend): Die Verfassung ist „ein positives Gesetz, das das positive Recht selbst begründet“ und zugleich ist das Recht durch die Verfassung in der Lage, „sich selbst für rechtswidrig zu erklären“. Das Problem ist nämlich, dass das Verfassungsrecht das Recht begründet und wieder negiert. 51 Diese ‚Externalisierung‘ der Paradoxien der höchsten Positionen wird von Luhmann auch als Gödelisierung bezeichnet. Allderdings geht es bei Luhmann nicht um die eineindeutige Zuordnung einer Gödelzahl zu jeder Formel und jedem Beweis in einem gewissermaßen genügenden arithmetischen System, sondern es kommt ihm auf die (strukturell unvermeidliche) Unvollständigkeit bzw. Unentscheidbarkeit an, die Gödel in Bezug auf die mathematische Wahrheit – oder nun: Unwahrheit? – bezeugt hat. Über Gödels Beweis vgl. Zoglauer, Einführung in die formale Logik für Philosophen, 2005, S. 114–118. Wenn Recht und Politik (und auch andere Subsysteme) nicht mehr in der Lage sind, mithilfe ihrer systeminternen Unterscheidung und Entscheidung zu entparadoxieren und somit den weiteren Anschluss zu finden, wenn sie also in die unlösbare Paradoxie zu geraten drohen, dann können sie die Paradoxien ‚gödelisieren‘, sozusagen dem anderen System mit der Problemlösung beauftragen (vgl. auch RdG, S. 505). Bei diesem Vorgang der Gödelisierung muss man „Normativität und Geltung“ – Norm und Geltung bzw. Gedanke und Existenz – aufmerksam unterscheiden (vgl. RdG, S. 104). Der Gödelsche Beweis und der Dezisionismus gehören insofern zusammen. „Systeme haben Fähigkeit zur Evolution nur, wenn sie Unentscheidbares entscheiden können“ (SS, S. 10 f., mit Hinweis auf Gödel). In diesem gödelisierenden Zusammenhang bei Luhmann versteckt sich m. E. eine theoretische Vermengung von (romantischem) Subjektivitäts- und Bedeutungsproblem und zugleich könnte man den (Ab-)Grund der Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem logischen Sitz verorten. Die betreffenden formallogischen Probleme vgl. C. II. 2. e) bb). Mit der ‚gödelisierenden Externalisierung‘ wird das Problem, wer den Kontrolleur kontrolliert, sozusagen zerstreut, indem man die in diesem Problem implizit vorausgesetzte hierarchische Einheit durch die Differenzierung von Recht und Politik ersetzt; dann ist die Verfassung wichtig, nicht weil sie das ranghöchste Recht darstellt, sondern weil sie am Rand des Rechtssystems steht und die Kopplung zwischen Recht und Politik kontrolliert, wobei die Politik – anders als in der Seinsontologie – die Kompetenz der Rechtssinnbestimmung übernimmt. Fögen, Das Lied vom Gesetz, 2007, S. 128, sieht in der Gödelisierung ein „Poetisieren“, um die zirkuläre Selbstbegründung des stummen Gesetzes zu unterbrechen und ihm zu einem Sprung nach außen (hier: Sprung zu Kunst) zu verhelfen. Im Hinblick auf das bei Fögen vorliegende Grunddenken wie bei Kelsen, das Luhmann unrichtig unterstellt wird, könnte der poetisierende Versuch kaum anders als ein verzweifeltes Springen wirken.
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik311
den entscheidenden Punkt, der diese Neuheit der modernen Verfassung ermöglicht, macht die Anfertigung des Verfassungstextes aus.52 Die Besonderheit des Verfassungstextes besteht vor allem darin, dass in den Text genau die hierarchische Struktur in Form der Legeshierarchie fest eingeschrieben wird. Der Paradigmawechsel vollzieht sich nämlich nicht so, dass die Struktur von Oben / Unten abgeschafft wird, sondern umgekehrt so, dass sie im Verfassungstext – aber eben nur im Text – fixiert wird und damit von dem Primärprinzip von Innen / Außen eingerahmt und überformt wird. Dies macht den Schlüsselpunkt aus. Der Grund bzw. das Unverfügbare wird damit nicht mehr nach oben ausgerichtet, sondern in den Text gelegt. Die Ordnung braucht nach wie vor einen Grund bzw. etwas Unverfügbares, es kann nun aber nur in der Textform bestehen. Auch die Berufung auf den Gotteswillen wie auf den Volkswillen – „jede Höchstposition – die Gottes wie die des souveränen Staates“ – wird in dem Verfassungstext verankert.53 Man kann wohl sagen: Der Text ist der Grund. Und dann wird die Legeshierarchie nicht mehr in der Natur des Naturrechts gesucht, sondern in dem Text erneut aufgestellt, in der Gestalt der Unterscheidung von Verfassung als Grundgesetz und anderen einfachen Gesetzen. Dadurch wird auch der Selbstbezug der Verfassung auf die Verfassung ebenso anhand des Textes hergestellt. Die Verfassung nennt sich ja das Grundgesetz, aber wiederum in dem Verfassungstext. Die unformulierbare Selbstreferenz sowohl des Rechtssystems als auch des politischen Systems findet ihre Formulierbarkeit doch im Verfassungstext. Schließlich wird der Verfassungstext zu einem autologischen Text, die moderne Verfassung ist autologisch. Der zweite Schritt der Logik des Verfassungstextes betrifft das Problem der Verfassungsgeltung. Der Verfassungstext wird im politischen System verfertigt und abgefertigt, er wird dann ins Rechtssystem aufgenommen. Von dem Meer des Materialitätskontinuums der Gesellschaft der unitas multiplex wird die Verfassung, nämlich der Grund, getragen, von wechselseitigen Irritationen von Politik und Recht hin und her verschoben. Der ‚Grund‘ fließt sozusagen dorthin und dann wieder hierher. Mit der Abfertigung des Textes will das politische System sein unlösbares Problem der Souveränitätsparadoxie in Richtung Rechtssystem abgeben. Dadurch hat man keine unbeschränkte souveräne Willkür mehr, muss sich aber auch nicht mehr immer mit der Paradoxie plagen, tauscht gegen die Einschrän52 Ähnlich Vorländer, Die Suprematie der Verfassung, 2000, 373 ff. Er sieht allerdings die Verschiebung der politischen Souveränität auf die Richter und scheint daher theoretisch unter dem Anzeichen der Einheit von Politik und Recht zu stehen; die Instrumentalisierung des Rechts durch die Politik und die Ausdehnung der politischen Macht werden dabei eher vernachlässigt. Allerdings wird die Teilnahme der Richter an der politischen Macht angesprochen. 53 RdG, S. 472, S. 476 f.
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kung der Souveränität sogar immense Freiheit politischer Gestaltung ein. Ebenfalls wird die Rechtsparadoxie insofern in Richtung des politischen Systems abgegeben, als man der Politik die Entscheidung über Sinnbestimmungen des Rechts einschließlich des Verfassungsrechts überlässt. Dadurch gewinnt das Rechtssystem zugleich die Möglichkeit, seine Systemgrenze zum politischen System mit dem Einsatz der seitens der Politik akzeptierten Unterscheidung von Verfassungsmäßigkeit / -widrigkeit zu ziehen. Um die Chance für beide Seiten – diese Neuheit der modernen Verfassung – zu verwirklichen, soll man hierbei m. E. von der Trennung von „Normativität und Geltung“ bzw. der Unterscheidung von Rechtsbegriff und Rechtsgeltung ausgehen. Die rechtsbegrifflichen Sinnbestimmungen der Verfassung werden explizit im Verfassungstext formuliert; aber „der Geltungsgrund ist einzig und allein die Notwendigkeit, die tautologisch / paradoxe Konstitution jeder Systemeinheit zu verdecken und durch handhabbare Unterscheidungen zu ersetzen“.54 Demnach kann die Verfassung – die Verfassungsbestimmungen – allein dadurch ihre Geltung erlangen, dass die notwendige strukturelle Kopplung von Politik und Recht tatsächlich funk tioniert und den Tautologien / Paradoxien effektiv begegnet. Nur dann kann sich die Verfassung zu dem „Schlußstein“ der funktional differenzierten Gesellschaft entfalten.55 Der Verfassungstext erfüllt diese Funktion struktureller Kopplung dadurch, dass in ihm die Legeshierarchie schriftlich verankert und diese Hierarchie in Politik und Recht jeweils von ihren Systemcodes aufgenommen wird. Das heißt, dass einerseits im politischen System der Code Regierung / Opposition den Verfassungstext im Machtkampf um die Verteilung der politischen Ämter in Anspruch nimmt und dass andererseits im Rechtssys54 Luhmann,
Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, 1990, S. 199. Verfassung hat ihren Geltungsgrund nur in der gesellschaftlichen Struktur. RdG, S. 478: „Nicht der Text allein, sondern nur der Verfassungsstaat erfüllt die Kopplungsfunktion […]. Ebensogut ist vorstellbar, daß Verfassungen fast nur als Instrument symbolischer Politik dienen, weil es noch nicht gelungen ist, das Rechtssystem operativ zu schließen und gegen unmittelbare Beeinflussung durch Politik oder andere soziale Mächte abzudichten. […] Der nur symbolische Gebrauch von Verfassungen dient der Politik dazu, zu verfahren, so als ob das Recht sie limitieren und irritieren würde, und die wahren Machtverhältnisse der Insider-Kommunikation zu überlassen.“ Man frage sich, wann ein Verfassungstext nicht mehr einen politischen, symbolischen Text, sondern einen Rechtstext darstellt und ob und wie das Verfassungsrecht von der Verfassungspolitik (politischer Verfassung, oder schlicht: Verfassung) begrifflich und theoretisch unterschieden werden kann, womit das Verfassungsrecht nicht durch Berufung auf die Verfassung ruiniert wird. Man könnte sich wohl auch eine verkehrte und ketzerische Überlegung leisten, ob nicht gerade der nur symbolische Gebrauch den gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht, ob eine wirksame Durchsetzung des Verfassungsrechts nicht in manchen Fällen gerade zur Spaltung führen könnte. 55 Eine
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik313
tem die Unterscheidung von Verfassungsmäßigkeit und -widrigkeit als Ersatz an die Stelle der Codewerte Recht und Unrecht tritt: „Der Code Recht / Unrecht generiert die Verfassung, weil die Verfassung den Code Recht / Unrecht zu generieren hat. Die radikalisierte Differenz etabliert den Text, der dann die Differenz etabliert – unter der Voraussetzung freilich, daß das ganze autologische Manöver invisibilisiert wird.“56
Der Verfassungstext als Material kann demnach durch die jeweiligen Differenzen überformt werden. Anhand der jeweiligen Codewerte wird die tautologische und paradoxe Selbstreferenz der Verfassung selber in autopoietische Reproduktion gebracht, die Verfassung tritt sozusagen in die Verfassung selber wieder ein (re-entry) und erhält je ihre politische und rechtliche Geltung. Der Grund wird so gegründet;57 die Einheit von Politik und Recht findet ihren Träger weder im Staat noch im Gericht, sondern in der Verfassung als eine strukturelle Kopplung; und das Problem der Selbstreferenz in Politik und Recht wird damit je ersetzt und gelöst.58 56 Luhmann,
Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, 1990, S. 189. Die Codierung des Rechtssystems, 1986, S. 196 (mit Hinweis auf Heidegger): „Der Satz des Grundes ist der Grund des Satzes. Aber nicht, weil das Sein in der Schwebe still hält, sondern weil die Komplementarität von Codierung und Programmierung eine autopoietische, selbstsubstitutive Ordnung erzeugt.“ Ähnlich vgl. Luhmann, Die Allgemeingültigkeit der Religion, 1978, S. 355 (ebenfalls mit Hinweis auf Heidegger): „Da aber auch dieser Satz [der Sinngegebenheit …] Sinn zu haben beansprucht, kommt man damit nicht aus dem Zirkel hinaus, sondern nur nicht auf die rechte Weise in ihn hinein“. Der Satz des Grundes ist also der Grund des Satzes, weil er ausgesprochen, in Kommunikation gebracht wird und somit die Kraft des Gründens entfaltet. Der Grund ist der Grund, gerade weil der Grund zum Grund wird, also: reflexiv und selbstreferentiell. Der Grund kann keinen weiteren Stützpunkt brauchen. Der selbstreferentielle Grund muss aber autopoietisch reproduziert werden, um seine Geltung zu erhalten. Der Grund ist nämlich nicht mehr der ‚ontologische differenzlose Grund‘ (vgl. SS, S. 108), sondern er muss gegründet in dem Sinne werden, dass die Differenz in den Grund eingeführt wird und dem Grund doch nichts hinzufügt. Der Verfassungtext verkörpert gerade diesen selbstreferentiellen Grund, der noch autopoietisch eingesetzt werden muss. Vgl. RdG, S. 404: „Die Norm wird durch ihre Anwendung überhaupt erst erzeugt, jedenfalls erst mit erkennbarem Sinn aufgeladen. Und die Auslegung vollzieht einen hermeneutischen Zirkel, indem sie erst das bestimmt, was auszulegen ist; und es dabei so zurechtrückt, daß begründbar wird, weshalb eine Auslegung erfordert ist.“ Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999, S. 38 und Anm. 12, versteht Luhmanns genannte These über Norm und deren Anwendung dahingehend, dass Luhmann damit die Defizite des Gesetzes im Zusammenhang der Steuerungsdiskussion aufweisen will und ein Modell des prozeduralisierten Rechts fordert. Gerade dieses (missverständliche) kommunikative Verständnis liefert für Luhmanns These ein weiteres Beispiel: Erst die hermeneutische Auslegung eines Textes erzeugt das, was auszulegen ist. Was eine auszulegende Norm ist, ist eben ein Problem der beunruhigenden Identität. 58 Man beachte, dass das Problem der Paradoxien von Recht und Politik, nämlich das Problem der Höchstpositionen, durch die Verfassung nicht endgültig gelöst 57 Luhmann,
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b) Funktionen des Verfassungstextes Die Funktionen, die ein installierter Verfassungstext als Lösung erbringt, beziehen sich verständlicherweise zugleich auf politische und rechtliche Probleme, nämlich den Staat und die Demokratie wie die Positivierung und Geschlossenheit des Rechts. aa) Moderne Staatsordnung Mit der Etablierung des Verfassungstextes kann man einerseits die Politik mit dem Verfassungsrecht als Grundgesetz disziplinieren und andererseits einfache Gesetze als Instrumente für die Politik einsetzen. Die strukturelle Kopplung von Politik und Recht dreht sich folglich um die Achse der Differenz von Verfassung und einfachem Gesetz bzw. um die Legeshierarchie im Verfassungstext.59 Die Politik kann zwar auch den Verfassungstext verändern, aber dann muss der Text wieder seitens des Rechts aufgenommen werden. Wenn die Politik sich dieser Art Kopplung verweigert, dann kehrt der Problemkomplex von Souveränitätsparadoxie und Widerstandsrecht wieder zurück, zudem verliert die Politik auch die Chance der Steigerung der Komplexität mithilfe der Rechtsform. Lehnt umgekehrt das Rechtssystem diese Kopplung mit Politik ab, wird ihm das Problem der und abgeschafft werden kann. Hierin zeigt sich wohl die Grenze der Verfassung. Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, 1990, S. 200 f.: „An dieser Stelle zeigt sich mit der Vergeblichkeit der Bemühungen um eine rechtliche Fixierung des Problems zugleich die Grenze der Möglichkeiten einer strukturellen Kopplung von Politik und Recht, also die Leistungsschranke dieses evolutionär hoch unwahrscheinlichen Mechanismus.“ Dies bedeutet, dass die wechselseitigen Irritationen, die je zur (Fort-)Bildung der eigenen Identität und Einheit anregen, nicht mehr ordnungsgemäß kanalisiert werden. Es handelt sich um die Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen. Und man soll nicht versucht sein, die unterschiedlichen Identitäten aufzuheben oder zu hierarchisieren wie bei der Theorie des Ausnahmezustandes bei Schmitt oder bei der Theorie der Staatsräson „als Recht zum Rechtsbruch um des höheren Nutzens willen“ und somit als „Staatsprivileg“ (Luhmann, Ausdifferenzierung der Religion, in: ders., GuS 3, 1998, S. 301, über Machiavelli). Man suche eher nach einer anderen Form struktureller Kopplung. Aber schließlich ist das Problem der Paradoxie der Selbstreferenz nicht im Sinne der endgültigen Auflösung zu bewältigen, da eben diese Paradoxie den Grund bzw. die Identität eines Systems ausmacht. Der Begriff ‚strukturelle Kopplung‘ deutet bereits die unterschiedlichen, nicht aufzuhebenden Identitäten an; die wirkliche Einschränkung der Souveränität erfolgt in der Tat nur durch die Machtkämpfe der Eliten innerhalb des politischen Systems (siehe RdG, S. 479). 59 Vgl. RdG, S. 474: Die Verfassung als geltendes Gesetz hat ihre „Innovation“ wie „Positivität“ genau in dieser eingebauten „Differenz“, worin man eine variierende Darstellung der Neuheit der Verfassung sieht.
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik315
Rechtsparadoxie zurückgegeben: Das Recht verliert dann einerseits die Abstützung durch die politische Macht und es wird andererseits bei der Behandlung der Rechtsparadoxie wieder den gegebenen Machtverhältnissen ausgeliefert. Aufgrund des funktionierenden Verfassungstextes mit der konsequenten Trennung von Recht und Politik will die Verfassung eine Staatsordnung im modernen Sinne begründen,60 so dass andere Kopplungsformen der beiden Systeme wie poltische Korruption, politischer Terror und auch private wirtschaftliche Pressionsmacht in Form der Rechtspositionen ausgeschlossen werden. Der moderne Staat ist nur damit ‚souverän‘ und nur mit den Verfassungstexten in dieser Funktion können die souveränen Staaten geschaffen werden.61
60 Die theoretische Trennung sieht aber gar nicht so einfach aus. Nach Willke, Ironie des Staates, 1992, S. 25, fehlt nach dem historischen Verlust der Natur als „Legitimationsformel“ trotz aller „wesentlichen Momente einer säkularen Begründung gesellschaftlicher Ordnung […] nach wie vor der entscheidende Schlußstein: die Rückführung aller dieser [legitimierenden] Bestandteile auf eine unverrückbare letzte Legitimationsgrundlage“; die Säkularisierung bleibt deshalb nicht abgeschlossen. Luhmann folgend dürfte man heute davon ausgehen, dass alle Rückführungen fehlschlagen müssen, weil der Schlussstein strukturell in der Paradoxie besteht; und genau mit ihr soll der Verfassungsstaat funktionieren. Willke scheint aber die Legitimität der säkularen Ordnung „durch eine negative Auszeichnung“ im Sinne der alternativen Differenzen zur realisierten Differenz zu suchen (Willke, ebd., S. 36 f.), dabei wird die Negierbarkeit als Geltungsgrund ‚innerhalb‘ einer Alternative (wie bei Luhmann) übersehen und das Recht und die Politik zeigen nicht getrennt ihre jeweilige Paradoxie auf, sondern sie werden – juristisch mit der „Formel des Rechtsstaates“ – in der „Form der Legitimität der Legalität“ zusammengeführt (Willke, ebd., S. 34). Nach ihm gilt das Recht als „das unbezweifelbarste Produkt der Politik“, aber die Staatslehre der Juristen verliert die Politik völlig außer Sicht (ebd., S. 31, S. 34). Man wendet sich zwar gegen die Staatslehre ohne politisches System bei Juristen, verlangt aber immerfort nach der Einheit von Recht und Politik. 61 RdG, S. 470 f. Vgl. auch Luhmann, Das Paradox der Menschenrechte, in: ders., SA 6, 1995, S. 231 f.: „Nicht die Individuen begründen den Sozialvertrag, sondern der Sozialvertrag begründet die Individuen. Oder genauer: Erst die Doktrin vom Sozialvertrag macht es möglich und auch nötig, zu fragen, wer denn diesen Vertrag abschließt“. Man könnte sagen: Erst der (effektiv operierende) Verfassungstext begründet das Staatsvolk, nicht umgekehrt. Dieser Prozess der Volks- und Staatsbildung aufgrund einer Verfassung fand nach Luhmann als erstes in Nordamerika statt. Der Verfassungstext scheint das geeignetste Instrument zur Etablierung der Kopplung von Recht und Politik zu sein. Fast könnte man sagen: Am Anfang steht der Text und der ‚souveräne‘ Staat ist ein paradoxer Staat. Zur Parallelität von Staatsbildung und Nationsbildung aufgrund der Verfassung in Amerika vgl. Vesting, Politische Verfassung?, 2009, S. 609 ff. Vesting hebt den Hintergrund der christlichkulturellen Tradition in den USA hervor und fragt nach der Möglichkeit der Fortsetzung dieses Modells.
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bb) Positivierung und Theodizee des Rechts Die Selbstreferenz bzw. Autologie des Verfassungstextes positiviert das ganze Recht und macht die Verfassung selber auch änderbar und kontingent, gleichgültig, ob man sich für die nötige Externalisierung auf Natur, Gott, Volk o. a. beruft. Diese Struktur der Kontingenz wird noch dadurch verewigt, dass man die Änderungsverbote mit der ‚Differenz‘ von Verfassung und einfachem Gesetz in den Text einführt. „Positives Recht kann also auch eine Selbstverewigung vollziehen“.62 Dadurch wird jedes Recht mit dem Problem der Verfassungsmäßigkeit und -widrigkeit konfrontiert. Man könnte die Konsequenz ziehen: Der Verfassungstext institutionalisiert mit der Differenz in der Tat die Theodizee des Rechts. Der Verdacht des Unrechts ist nun gemessen an der verewigten Verfassung zu disziplinieren und auszuschalten. Die Verfassungsgerichtsbarkeit bedeutet dann ein eigens organisiertes Verfahren für die Theodizee des Rechts und das Problem der Rechtsparadoxie wird damit routiniert und domestiziert. Erst im Verfassungsstaat, gerade aufgrund des Verfassungstextes, ist das Recht das Unrecht: „Das Recht besitzt jetzt also einen durch Selbstexemtion gesicherten Mechanismus, sich selbst für rechtswidrig zu erklären.“63 Damit erhält das Unrecht, die Negation im Recht, seinen festen Platz im Rechtssystem. Was übrig bleibt, ist die Änderung des Verfassungstextes selber durch das politische System.64 Mit der Theodizee weist die Verfassung zugleich die Zeitdimension auf. Weil der Grund nun in den Text eingeschrieben wird, kann und muss man sich nicht mehr auf die Vergangenheit im Sinne des unschuldigen, differenzlosen und somit rechtfertigenden Anfangs berufen. Der ‚Anfang‘, der ‚Naturzustand‘ sowie die ‚Intention‘ des Gesetzgebers erscheinen nun als semantische Gegenstände im Text, die zu interpretieren sind. Im Gegensatz dazu geht man jetzt vom Gesellschaftszustand aus, dabei bezieht sich die 62 RdG, S. 474. Es kommt nicht auf bestimmte einzelne Vorschriften des Änderungsverbotes, sondern auf diese Differenz selber an, die erst die Unänderbarkeit manifestiert. Der ‚ewige‘ Grund des Rechts wird damit im Recht gelegt und mit der jederzeitigen Veränderbarkeit des Rechts zusammengedacht. Nach Luhmann wird die Legeshierarchie von Naturrecht und positivem Recht bereits „damit aufgegeben“ (ebd.); also erreicht man ‚das ewige Recht‘ jetzt durch Differenz. 63 RdG, S. 475. 64 Die moderne Verfassung ist keineswegs ein positiviertes Naturrecht. Das Gegenteil ist der Fall: Sie stellt eine Dekonstruktion des Naturrechts als Einheitsformel von Politik und Recht dar. Der Verfassungsstaat ist daher nicht nur ein Rechtsstaat, sondern auch ein Unrechtsstaat, er ist ein Recht-und-Unrecht-Staat. Sonst beruft man sich immer nur auf das Natur-Recht, sieht aber nicht das Natur-Unrecht. Und man steht natürlich auf der Seite des Rechts.
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik317
Verfassung durch die Grundrechte – anders als einfache Rechtsnormen – unmittelbar auf die Wertvorstellungen in der Gesellschaft und vermittelt die wechselseitigen Irritationen. Daraus entsteht eine dynamische Stabilität. Von daher bedeutet der Verfassungstext zugleich die Umstellung des Rechtssystems von „Vergangenheitsoffenheit“ auf „Zukunftsoffenheit“.65 Man könnte von der Verzeitlichung des Rechts sprechen. In Bezug auf die zukunfts orientierte Zeit des Rechts soll es schließlich ebenfalls um das „auf einen Minizeitpunkt bezogene Ereignis“ wie um die „Funktion der Strukturen“ gehen.66 Das Recht befindet sich in einer laufenden Selbstveränderung. „Die Entparadoxierung des Rechts nimmt sich Zeit, sie wird ganz in die Zeitdimension verlegt und benutzt die Technik der kleinen Schritte, um überall oder nirgends stattfinden zu können.“67 cc) Verfassungsordnung und soziale Kommunikation Der Verfassungstext wirkt wie eine Marke, kennzeichnet die Grenze des Rechts zur Politik und ermöglicht erst damit die Geschlossenheit des Rechtssystems. Auf die Politik bezogen erfolgt die Selbstbeschreibung des Rechtssystems anhand des Verfassungstextes, der insoweit zum Träger von Einheit und Identität des Rechts wird. Er wird – wie das zwölfte Kamel, als „Kamelprogramm“ – von außen, hier nämlich von der Politik, ausgeliehen und nach dem Zustandebringen der operativen Schließung des Rechts ist er der Politik noch zurückzugeben.68 Der Text bildet eine fließende Marke. 65 Vgl.
RdG, S. 473 f. S. 473. Mit der Legeshierarchie im Verfassungstext sollen die ereignishafte Neuheit und die strukturelle Redundanz (Identität) kombiniert werden. 67 Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., GuS 3, 1998, S. 56. 68 Vgl. Luhmann, Die Rückgabe des zwölften Kamels, 2000, S. 3 f., zitiert eine Kamel-Geschichte: „Ein wohlhabender Beduine hatte die Erbfolge unter seinen drei Söhnen testamentarisch geregelt. Es ging um die Aufteilung seiner Kamele. Der älteste, Achmed, sollte die Hälfte des Bestandes erhalten. für den zweiten Sohn, Ali, war ein Viertel vorgesehen. Dem jüngsten, Benjamin, war nur ein Sechstel zugedacht.“ Diese ungleiche Verteilung ist nach der Sitte angemessen und bereitet kein Problem. „Nun hatten die äußeren Umstände vor dem Tode des Vaters die Zahl der Kamele beträchtlich reduziert. Als der Vater starb, waren noch elf Kamele vorhanden. Wie sollte geteilt werden?“ Achmed beanspruchte sechs Kamele, mehr als die Hälfte, und es kam zum Streit, der dann vor Gericht vorgetragen wurde. Der Richter schlug vor: „Ich stelle euch eines meiner Kamele zur Verfügung. Gebt es mir, so Allah will, so bald wie möglich zurück.“ Damit konnte die Teilung leicht erfolgen: 6, 3, 2. Und zwar wurde niemand benachteiligt. Danach wurde das zwölfte Kamel auch zurückgegeben. Luhmann, ebd., S, 10, fragt nun, ob und wozu das zwölfte Kamel nötig war und wenn es für die Teilung nötig war, ob es danach zurückgegeben werden sollte: „Das zwölfte Kamel wäre dann ein Typ für sich, es hätte auf der obersten Ebene des Systems zu weiden. Oder besser: es wird als Kamelprogramm 66 SS,
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
Mit dem Ereignis, dass der Text seitens der Politik ins Recht übergeben wird, wird die Differenz zwischen dem Rechtssystem und seiner Umwelt gesetzt und die ganze Welt auf diese Weise überformt. Und dadurch entsteht auf dem „Materialitätskontinuum“ der Welt eine Weltordnung als Verfassungsordnung.69 Das Kamel surft auf dem kontinuierlichen Materialmeer, oszilliert hin und her und durchquert die Welt mit seiner Paradoxie im Sinne streng logischer Antinomie: Einheit in Differenz, das heißt ebenfalls Kontingenz.70 Diese verfassungsrechtliche Weltordnung ist Recht und Unrecht zugleich, erscheint in der Gestalt des Kamels bzw. des Textes. „Die Identität des Systems“ mit Verschiedenheit zur Umwelt – um der Differenz willen – wird anhand des Textes gebildet.71 Der autologische Verfassungstext als Träger der Identität des Rechtssystems wird zwischen ins Systems eingesetzt. Weitere Ebenen könnten etwa in der Form einer Rechtsquellenhierarchie leicht zugeordnet werden.“ Das ausgeliehene und zurückgegebene Kamel stiftet nämlich ‚die Einheit des ganzen Systems‘ und bringt sie zum Ausdruck; sie ist unfassbar, ‚mehr‘ als die Summe (der geteilten Kamele) und kommt doch auf der Ebene der Teile programmatisch zur Geltung. Sie ist nötig für die einzelne Operation – man leiht sich das Kamel; sie wird aber nicht ‚konsumiert‘ – das Kamel wird zurückgegeben. Nach Luhmann schließt das Kamel auch eine Differenz ein, die eigens zwischen dem (unveränderbaren) Art. 79 GG und der Verfassung an sich besteht. Man könnte sehen: Die moderne Verfassung stellt ein von außen angeliehenes, strukturell koppelndes „Kamelprogramm“ dar (Luhmann, ebd., S. 10) und das Programm wird in das Recht überführt, es markiert in ‚Differenz‘ zu einzelnen Vorschriften ‚die Einheit der Verfassung‘ und auch die eingeschlossene ausgeschlossene Einheit des Rechtscodes, es bringt die Einheit des Rechts zur operativen Geltung. Fögen, Das Lied vom Gesetz, 2007, S. 113–116, sieht in dem zwölften Kamel die antike Gerechtigkeitsvorstellung, die bei Luhmann zu dem ontologischen Perfektionsbegriff ohne Negation gehört; da nun Luhmann den Perfektionsbegriff ablehnt, wie ebenfalls die Grundnorm, wird bei ihm – hier als Symbol der Gerechtigkeit – „ein zwölftes Kamel verschmäht“ (Fögen, ebd., S. 114). Aber das zwölfte Kamel ist m. E. gerade kein einwertiger Perfektionsbegriff mehr, im Gegensatz zu jeder Perfektion schließt es vielmehr die andere negative Seite in sich ein. Daher wird bei Luhmann keineswegs das zwölfte Kamel, sondern der Perfek tionsbegriff, verschmäht, verabschiedet und überflüssig. 69 Vgl. SS, S. 105, S. 38; GdG, S. 100. Von einem Differenzansatz der Verfassungsgesetzgebung könnte die Rede sein. 70 Das Kamel erbringt die Leistung, die eine „Interpenetrationsformel“ beschreibt (SS, S. 315); es hat einen ‚Leidensgefährten‘ in Buridans Esel, der „überleben [wird], auch wenn er merkt, daß er sich nicht entscheiden kann; denn dann entscheidet er sich eben deshalb!“ (SS, S. 491) Man ‚beobachtet‘ die Paradoxie und wird durch die Unentschiedenheit belastet, „aber man reagiert“ und ‚operiert‘ doch weiter (SS, S. 491). Ob Buridans Esel sich dem Schicksal des Verhungerns entzieht (vgl. Janich, Buridans Esel, 2004, S. 362 f.), scheint mir aber ungewiss, obwohl er sich bei Luhmann über den logischen Widerspruch hinwegsetzen kann. 71 RdG, S. 499. Man beachte, dass die Einheit und Identität des Rechts hier nur auf die Politik bezogen ist. Im Zusammenhang mit anderen Funktionssystemen wird sie anders erzielt.
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik319
Politik und Recht in dem Maße hin und her gelesen, als das Kamel das Sinnmaterial, nämlich die Irritationen, dorthin und wieder hierher trägt. „Die Selbstbeschreibung ist eine autologische Operation.“72 Sie setzt die „Schrift als Form für Texte“ und die „Anfertigung eines autologischen (sich selbst mit meinenden) Textes“ voraus.73 Und schließlich liefert der Text (der Verfassung) in Form einer Schrift „den Akualisierungsanlaß“ doppelter Kontingenz für die Konstitution des (verfassten) Sozialen.74 Die Schriftform des Verfassungstextes erhält also die laufende autopoietische Konstitution des Sozialen als Grundlage des Funktionierens der Verfassung aufrecht. Dies ist die grundlegende Bedingung der Verfassungskommunikation. Indem man weiter um den Text streitet, belebt man die Verfassung gleichzeitig weiter. Der Grund wird sozusagen vom Streit (so ziale Widersprüche) getragen, gegründet und unterbindet damit (vorläufig) den Streit. Auf der Grundlage der effektiv laufenden autopoietischen Kommunikation erhebt sich die Verfassung anhand der eingeschriebenen Legeshierarchie sozusagen über sich selbst und fungiert damit als „eine Selbstlegitimation des Rechtssystems“.75 Ebenfalls wird die (tautologische und paradoxe) Selbstreferenz des Rechtssystems mit dieser Selbstverewigung geschlossen, die die Verfassung gleichzeitig innerhalb und außerhalb des Rechtssystems lokalisiert. Die Selbstbeschreibung des Rechtssystems geschieht nun anhand des autologischen Verfassungstextes, so dass die Einheit des Systems erreicht und die Identität des Systems fortgebildet wird. Damit schließt der Verfassungstext das Rechtssystem ab. Und die verfassungsrechtliche Interpretation und Argumentation erfolgt nur mit dem Text, der als Träger der Identität die Konkurrenz der Sinnbestimmungen des Rechts – Konkurrenz um die Identität mit der Verfassung – erträgt. dd) Demokratisierung und Selbstsabotage des politischen Systems Mit dem Verfassungstext findet die Gesellschaft auch ohne Ständehierarchie und entsprechende religiös-moralische Kosmologie ihre semantische Darstellung; die Staatsordnung soll außerdem bestimmte korrupte Formen politischer Kommunikation ausschalten. Das Recht hat die Politik zweitcodiert und gilt als zweite Codierung politischer Macht; entsprechend versucht die Politik ihre Ziele mit der Rechtsform zu erreichen. Das positivierte Recht bietet immense Möglichkeiten politischer Gestaltung eben durch Her72 RdG,
S. 526. S. 500 und S. 498. 74 SS, S. 151. 75 RdG, S. 526 f. 73 RdG,
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stellung und Änderung des Rechts, die Politik droht aber zum bloßen ‚Rechtmachen‘ zu werden. „Wenn eine Rechtsänderung angeregt wird, ist das Politik.“76 Die Gesetzgebung erscheint der Politik nun als Selbstversuchung und die Folgen sind dauernde Selbstirritationen und Überforderungen der Politik durch sich selber.77 Das führt zu einer enormen Zunahme des vorhandenen Normmaterials, womit gerade die Konflikte durch das Recht, das als bereitgestellte Lösung der Konflikte gilt, vorprogrammiert werden. Dies führt dann durch die gesellschaftliche Kommunikation wiederum zur ständigen Aktivierung der politischen Gesetzgebung. In dieser Entwicklung wird die Gesellschaft in der Tat durch die Politik dauernd mobilisiert und dabei demokratisiert. Die Positivierung des Rechts reizt nämlich die Politik zur gesetzgebenden Änderung des Rechts und hat die politische Demokratisierung zur Folge. Die Kopplung von Recht und Politik wird dabei sehr intensiviert. Hinsichtlich der verstärkten Normierung kann man gewiss die Unterscheidung versuchen „zwischen einer Herbeiführung von Rechtsänderungen durch ‚aktive‘ Interpretation des Rechts und dem Warten auf neue politische Meinungsbildung. Alles in allem stützen also die Positivierung des Rechts und die Demokratisierung von Politik einander wechselseitig“.78 Die Kontingenz des Rechts hängt dann mit der politischen Demokratie zusammen. „Demokratie ist eine Folge der Positivierung des Rechts und der damit gegebenen Möglichkeiten, das Recht jederzeit zu ändern.“79 Dabei soll man beachten, dass die moderne Demokratie gerade den Gegensatz zur antiken Demokratie darstellt und „die prinzipielle Inklusion der Gesamtbevölkerung in alle Funktionssysteme im Sonderfalle des politischen Systems“ bedeutet.80 Demokratie ist also eine Modalität der Inklusion nach dem Prinzip funktionaler Differenzierung. Die Politik operiert außer Wahlen auch mit dem binären Code von Regierung und Opposition, im Rechtssystem erfolgt die Inklusion der Bevölkerung mithilfe der subjektiven Rechte. Luhmann sieht das Problem nun darin: Je mehr die Politik der Gesetzgebung gleichkommt, desto 76 RdG,
S. 479. könnte eine Widerspiegelung dieser politischen Selbstversuchung auch darin sehen, dass die Aufgabe der Gewaltenteilung, als Gewaltengliederung bezeichnet – wohl im Geist von Kelsen und Merkl – als „nicht die Ausübung von Macht, sondern die Erzeugung von Recht“ beschrieben wird (Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 91). Es scheint mir bedenklich zu sein, wie das Recht in der so beschriebenen Fabrik der Rechtserzeugung möglicherweise durch die politische Macht vereinnahmt oder gar ‚kolonialisiert‘ wird. 78 RdG, S. 416. 79 RdG, S. 471. 80 PdG, S. 97. Die moderne Demokratie stellt gerade das Gegenteil der antiken Demokratie dar. 77 Man
II. Verfassungsstaat als strukturelle Kopplung von Recht und Politik321
mehr braucht man individuellen Rechtsschutz, und zwar auf der Ebene der Verfassung. Genau auf diese Weise wird die Politik durch die Demokratie sehr getroffen, da sie nun nur Gesetze und Geld (Steuern) für die Regula tion zur Verfügung hat.81 In der Tat wird die Politik mit Annahme der Rechtsform andauernder Selbstsabotage ausgesetzt, weil sie nun nur rechtmäßig, nicht mehr rechtswidrig handeln kann; niemand will unrechtmäßig politisch handeln.82 Aber hier taucht als Grenze der Verfassung das Problem der Staatsräson – die politische Form – wieder auf, die doch nicht durch das Verfassungsrecht aus der Welt zu schaffen ist. 3. Fazit Das Rechtssystem wird mit seiner Umwelt (dem Nicht-Recht, der Gesellschaft, anderen Subsystemen) strukturell gekoppelt. Historisch werden Recht und Politik eng miteinander verbunden, dies hat bis jetzt zum Verfassungsstaat geführt, wobei die Verfassung die strukturelle Kopplung zwischen dem Rechtssystem und dem politischen System darstellt. Die Verfassung trennt und verbindet Recht und Politik, sie soll einerseits die operative Geschlossenheit beider Systeme ermöglichen und andererseits die Irritationen zwischen beiden effektiv transportieren. Der historische und logische Zusammenhang besteht vor allem in dem unlösbaren Problemkomplex von Widerstandsrecht und politischer Souveränität und weiterhin in der Paradoxie jeder 81 RdG, S. 467. Die Demokratie, die fast in der das Recht herstellenden Gesetzgebung aufgeht, bedeutet also Schwächung bzw. Selbstsabotage der Politik. Eine mögliche Theorie der Demokratie bei Luhmann wird die Demokratie vom Recht her positionieren, nicht umgekehrt. Der innere Zusammenhang zwischen dem Verfassungsstaat (Schutz der Grundrechte) und der Demokratie (Volkswillen) besteht dann darin, dass mit der Einlagerung des Grundes ins Rechtssystem und mit der sich verewigenden Selbstbegründung des Rechtssystems das Recht von der Politik – mit wechselseitiger Verdeckung ihrer jeweiligen Paradoxien – abgegrenzt wird, aber zugleich die ständigen, kontingenten Variationen – mit dem ‚Grund‘ – erlaubt. Die Demokratie in Form der Gesetzgebung bedeutet die Konkurrenz der unterschied lichen Normprojektionen, also stabilisierte Revolution (RdG, S. 476, Schlegel folgend). Das Recht als Gesetzesrecht scheint aber Nachteile mit sich zu bringen: Die Politik gerät in Versuchung, in der Gesetzgebung den Ersatz für die Politik zu sehen und damit die Politik zu deformieren; die ständige Veränderung des Rechts durch die Gesetzgebung schwächt auch die Konsistenz des Rechts und macht dadurch dessen Bindungskraft immer problematischer. Immerhin ist nach Luhmann die traditionelle Fallentscheidung (case methode) für die Konsistenzprüfung viel günstiger als die förmliche Gesetzgebung oder eine Semantik der Grundwerte wie Abwägungen (siehe RdG, S. 479 f.). 82 Vgl. PdG, S. 199 f. Das eigens moderne Thema der Politik seit Machiavelli bleibt (Luhmann, ebd., S. 200): Wie kann man Politik machen und dabei „eine dafür notwendige Distanz zu Recht und Moral“ halten?
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
Höchstposition, hier: Paradoxie der Souveränität. Sie bedeutet die politische Kontingenz, die mit der Sinnunbestimmtheit im politischen Kommunika tionsprozess ihren logischen Ausdruck findet. Die Verfassung bietet sich als Lösung in dem Sinne an, dass man die unlösbare Paradoxie des politischen Systems sozusagen ins Rechtssystem externalisiert. Die Paradoxie der Souveränität wird dann bis zu einem gewissen Grade durch die Annahme der den Rechtscode ersetzenden Differenz von Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit aufgenommen und somit gelöst. Durch diese Verdeckung bzw. Invisibilisierung – nicht wirkliche Auflösung – der Paradoxie der Souveränität wird die Ausdifferenzierung des politischen Systems mit seinem eigenen binären Code vollzogen, man erlaubt mit der Verfassung jetzt die politische Opposition – die negative Seite der Politik. Man könnte hierin die Deontologisierung der Politik erkennen. Das politische System funktioniert nun als ein autonomes Funktionssystem unter anderen. Es wird von der Gesellschaftsordnung als Rechtsordnung emanzipiert, zugleich wird die Gesellschaft nun entpolitisiert. Im Gegenzug wird das Rechtssystem gegenüber der Politik durch den ‚Verfassungscode‘ geschlossen, der auch die Rechtsparadoxie gewissermaßen ersetzt und löst, indem nun der Rechtsbegriff – die Bestimmungen des kontingenten und positiven Rechts – durch das politische System in Form des Rechtstextes geschrieben und ins Rechtssystem übergeben wird. Man beachte hier wieder die Trennung von Rechtsbegriff und Rechtswert, Normativität und Geltung, Gedanke und Existenz. Hinsichtlich der modernen Verfassung könnte man deren Logik nach Luhmann so zusammenfassen: An der Grenze der Subsysteme von Politik und Recht etabliert der Verfassungstext durch die eingebaute Legeshierarchie eine hierarchische Struktur als notwendige Bedingung für die soziale Ordnung. Dadurch verbindet der Text, der ein Produkt der strukturellen Kopplung von Recht und Politik darstellt, zugleich die vertikal stratifikatorische und die horizontal funktionale Differenzierung der Gesellschaft. Die Verfassung eröffnet damit das Tor im Rechtssystem für die wechselseitigen Irritationen aller Subsysteme der Gesellschaft und schließt anhand der Annahme und Reproduktion der Rechtsform ‚Recht und Unrecht‘ das Rechtssystem gegenüber der Gesellschaft wieder. Die Verfassung gründet ihre eigene Ewigkeit – die eingebaute Grund-Form für die ewige Zeitbindung – durch ihre eigene Selbstreferenz (re-entry). Die Selbstbegründung der Verfassung ersetzt deren Fremdbegründung. Sie erhält ihre Geltung aber wieder nur aufgrund des tatsächlichen Funktionierens der koppelnden Strukturen. Das bedeutet, dass man an den Verfassungstext sozusagen ‚glaubt‘ und dazu bereit ist, anhand der Verfassungsschrift in den Kommunikationsprozess einzusteigen, um damit das Soziale und auch die Verfassung selber weiter zu reproduzieren.
III. Subjektives Recht und Individuum323
Der Verfassungstext fungiert daher auch als Träger von Einheit und Identität des Rechtssystems, mit ihm wird das Problem der Theodizee des Rechts verfassungsrechtlich institutionalisiert. Die Rechtsentscheidung wird den Machtverhältnissen nicht ausgeliefert. Allerdings wird die so errichtete moderne Staatsordnung der Versuchung ausgesetzt, in der Demokratie die Politik auf das Rechtmachen – die Erzeugung der Gesetze – zu reduzieren.
III. Subjektives Recht und Individuum Die Verfassung betrifft die strukturellen Kopplungen zwischen den Funk tionssystemen, aber die moderne Gesellschaft hat eine noch grundlegendere strukturelle Kopplung zu behandeln, nämlich die Kopplung (Interpenetration) zwischen dem Gesellschaftssystem und dem Individuum, zwischen sozialer Kommunikation und psychischem Bewusstsein. Beide sind jeweils operativ geschlossene Sinnsysteme. Entsprechend dem Prinzip der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft geht man hier davon aus, dass das Individuum (als Mensch) nicht mehr der Gesellschaft angehört, sondern es die Umwelt der Gesellschaft bildet. Dies ist so, weil die Funktionssysteme mit Bezug auf je eine besondere Funktion (Problem / Lösung) für die Gesamtgesellschaft ausdifferenziert werden und damit korrespondierend das Individuum nicht mehr an einer festen Stellung in der Gesellschaft festgehalten wird. Das Individuum wird stärker als früher in die gesellschaftlichen Funktionssysteme inkludiert und es wird gerade deshalb außerhalb der Gesellschaft verortet, weil niemand allein in einem einzigen Funktionssystem lebt. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von „Exklusionsindividualität“ im Gegensatz zur „Inklusionsindividualität“ in der traditionellen Gesellschaft.83 Vor diesem Hintergrund stellt sich das Problem, ob und wie das Individuum durch das Recht erneut in die Gesellschaft eingeschlossen und ihm dabei die Teilnahme an Funktionssystemen ermöglicht wird. Nach Luhmann wird das Problem mithilfe subjektiver Rechte und Menschenrechte gelöst, daher liegt das subjektive Recht „auf einer fundamentaleren Ebene als diejenigen Einrichtungen, die die wechselseitige Irritation einzelner Funktionssysteme regeln und begrenzen“.84 Das subjektive Recht stellt demnach die zentrale Figur des Rechtssystems dar; und seine „eigentümliche Leistung“ besteht genau in der Ermöglichung der „Asymmetrisierung“.85 Das Rechtssystem wird nun auf Rechten, nicht auf Pflichten aufgebaut. 83 Vgl.
B. V. 1. b). S. 486 f. 85 Luhmann, Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, in: ders., GuS 2, 1993, S. 158. Man geht mit dem subjektiven Recht nicht mehr vom Prinzip der Reziprozität, sondern von der „Disbalancierung“ aus (Luhmann, ebd.), wobei das Sittengesetz nur als Korrektiv für die Wirkungen des subjektiven Rechts gilt. 84 RdG,
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
1. Subjektives Recht als Kopplung von Recht und Bewusstsein Das psychische System – individuelle Person bzw. Prozessor – stellt auch für die Reproduktion des Rechtssystems eine notwendige umweltliche Bedingung dar, dafür muss das Rechtssystem seine eigene direkte Kopplung mit dem Bewusstsein entwickeln. Für das Recht als geschlossenes System erfolgt dies eben nicht nach Vorgaben bestimmter anderer Instanzen bzw. der allgemeinen Gesellschaft, sondern das Rechtssystem bestimmt selber die Bedingungen für das Verhältnis zum Bewusstsein, um sich in das beteiligte Individuum einprägen und sein Erleben und Handeln motivieren zu können. Dafür genügt aber nicht mehr das traditionelle Prinzip der Reziprozität, an dessen Stelle tritt nun das subjektive Recht. Die zu leistende Funktion der subjektiven Rechte besteht also darin, das Rechtssystem mit dem individuellen Bewusstsein unmittelbar zu koppeln.86 Die Besonderheit der Einrichtung des subjektiven Rechts wird demnach genau darin gesehen, das Recht mit dem Individuum auch ohne das Reziprozitätsprinzip zu koppeln. Konkret heißt dies, dass die Geltung des subjektiven Rechts von allgemein symmetrischen gegenseitigen Verpflichtungen und von sich verschlingenden Lokalverhältnissen befreit wird, wie es in traditionellen Gesellschaften oft der Fall ist. „Sie läßt statt dessen nur noch Konditionierungen durch die Rechtsgeltungsgeschichte des Rechtssystems selbst zu.“87 Und erst mit dieser konditionierten Asymmetrisierung der subjektiven Rechte können „konkrete Gemengelagen von Rechten und Pflichten“ aufgrund des Reziprozitätsprinzips aufgelöst werden.88 Das Institut des subjektiven Rechts dient nämlich gleichzeitig dazu, das Rechtssystem autopoietisch zu schließen. Rechte und Pflichten werden ausschließlich im operativ geschlossenen Rechtssystem konditioniert und das Recht wird als „tautologische Verhältnisse von Rechten und Pflichten“ bestimmt.89 Dabei soll man im Auge behalten, dass dieses tautologische Verhältnis nur im Rechtssystem steht und andere nichtrechtliche Beziehungen (in anderen Subsystemen) nicht mehr berücksichtigt. Anders formuliert kann man das eigene subjektive Recht mit der in ihm eingebauten Asymmetrie durchsetzen, ohne andere ‚soziale‘ Verpflichtungen berücksichtigen zu müssen.90 86 RdG,
S. 482 f. S. 483. Dies ist eine eingespielte „Selektionsgeschichte“ (SS, S. 185), die die Differenz des Rechtssystems zu seiner Umwelt herstellt. 88 RdG, S. 483. 89 RdG, S. 483. 90 Im Allgemeinen könnte man die (absurde?) Einzigartigkeit des modernen Rechts darin sehen: Die Pflicht ist allein dem Recht verdankt, sie entsteht nur 87 RdG,
III. Subjektives Recht und Individuum325
Und genau dies bringt zum Ausdruck, dass nicht mehr nur die Bürger oder der Adel, sondern jedermann die Rechte erwerben und die entsprechenden Pflichten erfüllen kann. Alle werden dadurch mit dem Rechtssystem gekoppelt und in das System inkludiert: Inklusion aller in die Gesellschaft. Anders als das traditionelle ‚ius‘ erzeugt das subjektive Recht keine reziproke Bindung mehr, mit ihm werden „die Basisbeziehungen der gesellschaftlichen Ordnungszusammenhänge […] jetzt asymmetrisch“.91 Es bringt eine eigentümliche Disbalancierung hervor: „Es gibt im Recht (und speziell für das Eigentum) keine genaue Reziprozität von Rechten und Pflichten.“92 Mit dieser Asymmetrisierung kann jeder seine Rechte gegenüber allen anderen geltend machen, soweit er sie besitzt, unabhängig von allen anderen sozialen Rücksichten. Das subjektive Recht bewirkt nämlich sozial den Einschluss aller in die Gesellschaft, wobei man in ihm die Form der systemfunktional nötigen Asymmetrie findet. So gesehen stellt das subjektive Recht in der modernen Gesellschaft schließlich das funktionale Äquivalent für die stratifizierten sozialen Ränge dar.93 durch Anspruchnahme des subjektiven Rechts. Im Moralbereich stehen die Leute mit Pflichten einander gegenüber, die Rede von Rechten setzt die Pflichten voraus. Im Gegensatz dazu hat man im modernen Rechtssystem gar keine Pflichten gegenüber anderen, wenn zunächst keine Rechte geltend gemacht werden. Und nur mit dem geltend gemachten Recht bekommt man die Pflicht, beides ist ja dasselbe und tautologisch. Siehe auch Menke, Subjektive Rechte, 2008, S. 88: „[…], dass Rechte nun als generelle und an Sachen (in rem), nicht gegenüber speziellen Personen verstanden werden. Ein Recht zu haben heißt jetzt, den Anspruch auf etwas zu haben, der unbestimmt alle, ‚die ganze Welt‘, ‚the world in large‘ (Feinberg) verpflichtet. Der Begriff des Rechts […] löst sich von der doppelten Bedingtheit durch geteilte Gerechtigkeitsvorstellungen und soziale Positionierung. Die Rechte einer Person werden nicht mehr als generiert durch die Verpflichtungen verstanden, die eine andere Person ihr gegenüber hat oder eingegangen ist, sondern umgekehrt die Verpflichtungen einer Person so, dass sie auf die Rechte einer anderen antworten […], dass Rechte den Verpflichtungen vorher gehen und sie daher hervorbringen.“ Gesellschaftstheoretisch gesehen macht diese Asymmetrisierung eine Möglichkeitsbedingung der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft sowie der binären Codierung des Rechtssystems aus. Das subjektive Recht wirkt sich einschneidend auf die traditionellen hierarchischen Strukturen aus, scheint aber die Reziprozität zu gefährden. 91 Luhmann, Frühneuzeitliche Anthropologie, in: ders., GuS 1, 1998, S. 167. 92 Luhmann, Theoriesubstitution in der Erziehungswissenschaft, in: ders., GuS 2, 1993, S. 158: „Die dem ius immanente Angewiesenheit auf Reziprozität wird zur bloßen Komplementarität verdünnt. Das heißt: das soziale Gegenüber wird in den Rechtsansprüchen nur noch mit genau komplementären Erwartungen in Bezug auf die Rechtsausübung eingebaut, aber nicht mehr mit korrespondierenden eigenen Rechten und Pflichten.“ Dazu siehe auch Luhmann, Subjektive Rechte, in: ders., GuS 2, 1993, S. 72 f. 93 Man soll „funktionalbedingte Asymmetrie“ von „rangbedingten Asymmetrien stratifizierter Gesellschaften“ unterscheiden. Bei der Rangasymmetrie machen Rech-
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
Das Individuum hat keinen festen Platz und damit keine feste Seinsidentität. Das subjektive Recht gilt in diesem Sinne als „Entschädigung für den Verlust aller festen Positionen“. ‚Die Schäden ersetzend‘ gewährt es dem Individuum Distanz und Freiheit gegenüber der Gesellschaft, ermöglicht ihm alle Befriedigungen selektiv und vorübergehend und schließt dabei die Fusion der Individuen mit der Gesellschaft aus. Schließlich passt die Funktion des subjektiven Rechts zu strukturellen Kopplungen zwischen Funk tionssystemen so gut, dass dies historisch als Bürgerrechte, Eigentumsrecht sowie Prinzip der Entkopplung von Recht und Pflicht bei Besteuerung in die Verfassung aufgenommen wird.94 Man könnte sagen, dass mit seinen subjektiven Rechten das Individuum die Aufgabe der Vermittlungsfunktion zwischen Funktionssystemen erfüllt, indem es außerhalb der Gesellschaft steht und wieder in sie eintritt.95 2. Rechtsparadoxie, subjektives Recht und Rechtsverhältnis Wie dargestellt werden mit dem subjektiven Recht Rechte und Pflichten ausschließlich im operativ geschlossenen Rechtssystem konditioniert und das Recht wird als „tautologische Verhältnisse von Rechten und Pflichten“ bestimmt. Eine Tautologie entsteht nach Luhmann aber durch nur eine bloße Negation,96 die inhaltlich nichts bedeutet. Recht und Pflicht machen in diesem Sinne dieselbe Identität des Rechtssystems aus, ja dasselbe Rechtsverhältnis, das sich aber auf unterschiedliche Personen bezieht. Die Tautologie von Recht und Pflicht im Institut des subjektiven Rechts stellt ein und denselben sozialen Kommunikationsvorgang dar, der einerseits die gegensätzlichen Verhaltenserwartungen zu einem zusammenbindet und sich andererseits mit dem negierenden Effekt auf die beiden Parteien Ego und Alter Ego bezieht. Oder anders formuliert, ‚Recht und Pflicht‘, beides, stiftet eine Differenz, die ‚das Differente‘ (von Recht und Pflicht) – mit einer nichts te und Pflichten noch „konkrete Reziprozität“ aus, nur die Leistungen werden nach dem Rangunterschied verzerrt bewertet, siehe Luhmann, Frühneuzeitliche Anthro pologie, in: GuS 1, 1998, S. 167, Anm. 11. Vgl. SS, S. 186 f. 94 RdG, S. 487 f. Man beachte hier den Zusammenhang von dem subjektiven Recht und der Verfassung. Und man könnte das Prinzip der Entkopplung so nachvollziehen: Mit der Entkopplung von Recht und Pflicht bei der Besteuerung vermeidet man die Fusion der individuellen Person mit dem Staat und damit auch die Verquickung von Politik und Wirtschaft. Erst damit kann der Steuerstaat als strukturelle Kopplung von Politik und Wirtschaft funktionieren. Der Steuerstaat soll also seine Grundlage darin haben, dass man das Reziprozitätsprinzip aufgibt und sich an der Asymmetrie des subjektiven Rechts orientiert. 95 Vgl. GdG, S. 739 f. 96 Vgl. RdG, S. 177, S. 188, S. 342.
III. Subjektives Recht und Individuum327
bedeutenden Negation – trennt und verbindet: Recht ist (nicht) Pflicht. Beides macht in diesem Sinne im Unterschied zum Sinnmaterial eine Sinnform aus, ist tautologisch (und verdeckt paradox).97 Und man könnte weiterhin in der ‚reziproken Gemengelage‘ das Gegenstück für das Paradox der Kommunikation – die kommunikative Unbestimmtheit – finden, was nun durch eine asymmetrische Festlegung anhand des subjektiven Rechts durchbrochen werden soll, sonst läuft die Rechtskommunikation nicht ab.98 97 Man beachte den doppelten Bezug sowohl auf die sachliche als auch auf die soziale Dimension. Die Tautologie des Rechtsverhältnisses Recht und Pflicht erscheint als eine Variante der Differenz von Ego und Alter Ego in doppelter Kontingenz. Mit der Differenz von Recht / Pflicht – zum Beispiel bei einem Vertragsabschluss – besteht zuerst nur eine reine doppelte Kontingenz. „Die reine doppelte Kontingenz konditioniert jedoch nur kurzschlüssig […]. Für ein solches System wäre, trotz Konditionierung, alles möglich“ (SS, S. 185 f.). Dies bedeutet, dass man „alles“ für die Rechtsbegriffsbestimmung in den Vertrag aufnehmen kann. Das Verhältnis ist dabei kurzgeschlossen und unbestimmt, weil jede Bestimmung durch bloß eine Verweisung auf die andere Partei einfach negiert wird und den Informationswert einbüßt. Die Identität des Sozialsystems nimmt aber nicht die Form „A = A “ an (SS, S. 624), weil für jedes A alles eingesetzt und negiert werden kann, wobei die Negation (noch) keine regulierende Geltung entfaltet. In dieser tautologischen Form erhält man also keine gültige Information für den Strukturaufbau. Wohl auch wegen der unbestimmten, „alles“ ermöglichenden Lage ist eine Tautologie nach Luhmann eine verdeckte Paradoxie (WissendG, S. 491), weil jede eingesetzte Bestimmung eine mögliche Identität einbringt, die aber zugleich einfach negiert wird und keinen Unterschied erzeugt. Insofern funktioniert die Negation in der tautologischen „Selbigkeit“ – „etwas ist, was es ist“ – nicht richtig, sie unterscheidet alles, stellt nichts fest und verliert daher ihren Sinn (Luhmann, Tautologie und Paradoxie, 1996, S. 97). Die Tautologie von Recht und Pflicht stellt in diesem Sinne ein Gefüge für die evolutionäre Entwicklung des Rechtscodes dar (vgl. RdG, S. 168 f.) und dies im eigens modernen Sinne. Nämlich könnte man jetzt mit der entwickelten, strukturierten doppelten Kontingenz ein Rechtsverhältnis als System ansehen, das anhand der subjektiven Rechte asymmetrisierend konditioniert wird. Recht und Pflicht werden als ihre jeweiligen Handlungen den einander begegnenden Personen zugeordnet und erzeugen insofern sehr unterschiedliche Wirkungen für die Parteien. Sie bleiben aber ‚ein und derselbe‘ soziale Vorgang, ‚dieselbe‘ Sinnbestimmung des Rechtssystems mit derselben doppelten Kontingenz. Recht und Pflicht stellen nach wie vor eine Tautologie, ja die moderne Variation der Tautologie von Recht und Unrecht dar. Das Rechtsverhältnis ist tautologisch: „Im Rechtsinstitut des subjektiven Rechts steckt die Negation eines symmetrisch-gerechten Ausgleichs als einer Geltungsbedingung“ (Luhmann, Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellchaft, in: ders., AdR, 1981, S. 399). Die Negation bedeutet nichts, kontrolliert nun aber effektiv. 98 Vgl. SS, S. 207 f. Manchmal ist das Rechtsverhältnis von Recht und Pflicht mit der Reziprozität leicht zu verwechseln. Das subjektive Recht sprengt zum einen die Reziprozität und bewirkt zum anderen den kommunikativen Anschluss. Es bedeutet in der Tat den Zwang zur Annahme eines Kommunikationsangebotes und schränkt die Paradoxie der kommunikativen Unbestimmtheit ein. In diesem Sinne fungiert das subjektive Recht als Veto gegen Ablehnung und könnte als ‚Trumpf‘ (Dworkin) gelten.
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
Und mit dem einseitig asymmetrisierenden subjektiven Recht erscheint nach Luhmann „die Grundparadoxie der Selbigkeit von Recht und Unrecht“ in der Gestalt „objektiver Geltung subjektiver Rechte“, ebenfalls „eine verdeckte, entfaltete Paradoxie“.99 Damit ist gemeint, dass das subjektive und das objektive Recht ein und dasselbe Recht ausmachen. Die ‚Differenz‘ von dem Subjektiven und dem Objektiven betrifft die Geltung (bzw. die Nichtgeltung), der nichts entspricht. Weiterhin geht es darum, dass dasselbe Rechtssystem durch den Einsatz der subjektiven Rechte der Individuen kontingente, miteinander konkurrierende und gar unvereinbaren Sinnbestimmungen erhält. Die Grundparadoxie des Rechts wird demnach über das Recht-Pflicht-Verhältnis im Institut des subjektiven Rechts mit objektiver Geltung „auf eine harmlosere Paradoxie“100 sozusagen weitergeschoben und dadurch verdeckt wie entfaltet. Die Durchsetzung des subjektiven Rechts dient der (vorläufigen) Festsetzung der inhaltlichen Rechtsbestimmung und damit der Entfaltung des Problems der kommunikativen Unbestimmtheit. Auch von daher ist das subjektive Recht antihumanistisch zu begreifen, weil seine (Nicht-)Geltung nichts ist und keine ontologisch einwertigen Wesensbestimmungen braucht. Es gründet sich auf der Differenz(erfahrung) als ‚Differentem‘ von Individuum und Gesellschaft. Dies hängt seinerseits wiederum mit der zugrunde liegenden Struktur der Gesellschaft zusammen. Auf diese Entparadoxierung kann man sich zwar einlassen, aber nur insofern das subjektive Recht – mit allen konstruktiven Rechtsdogmatiken – als strukturelle Kopplung von Recht und Individuum tatsächlich funktioniert. Man sieht darauf ab, anhand des subjektiven Rechts das Individuum in die Funktionssysteme einschließen zu können, auch wenn und gerade weil das traditionelle Prinzip der Reziprozität dadurch ab- und aufgelöst wird.101 99 RdG,
S. 485. S. 485. Hierbei könnte eine mögliche Antwort auf die Frage gegeben werden, warum das subjektive Recht zugleich auch das objektive Recht ist, obwohl das Recht doch in die zwei Arten eingeteilt wird. Für das subjektive Recht kommt es demnach nicht auf irgendein ‚Wesen des Subjekts‘ an. 101 Eine mögliche Theorie des Verhältnisses zwischen dem subjektiven und dem objektiven Recht könnte man in der jeweiligen strukturellen Kopplung von Recht und Individuum oder von Recht und Gesellschaft sehen. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 1997, S, 22 f., sieht das subjektive Recht in der gewährten Berechtigung bzw. in der Rechtsmacht. Nämlich soll das Individuum damit zu einer strukturellen Kopplung mit der Gesellschaft berechtigt werden; es geht hierbei um die Differenz(erfahrung) von Individuum und Gesellschaft. Vgl. auch Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, 2001, S. 132: „Im Grunde ist das subjektive Recht daher ein Paradoxieentfaltungsprogramm. Subjektive Rechte anzuerkennen heißt nichts anderes, als subjektiven Ansprüchen objektive Gültigkeit zu verleihen und damit die Ungeselligkeit des Individuums zur Grundlage des Rechtssystems der Gesellschaft zu machen.“ Allerdings scheint Braun nicht die Paradoxie des binären Codes im Sinn zu haben. Außerdem sieht er das subjektive Recht des Rechtssubjekts 100 RdG,
III. Subjektives Recht und Individuum329
Man soll sich hierbei besonders den Zusammenhang der Entparadoxierung der Rechtsparadoxie mit der Differenz von Inklusion und Exklusion bewusst machen. Kann die Rechtsparadoxie noch entparadoxiert werden, erfolgt immer auch die Inklusion der Individuen in die Gesellschaft; ist die Inklusion schlicht nicht mehr möglich, wird ebenso wenig von der Paradoxie und ihrer Entparadoxierung geredet. Ohne Rechtsparadoxie gibt es keine individuelle Inklusion mehr als modernes Problem. Die tiefsitzende Schwierigkeit besteht stets darin, dass es der hoch differenzierten, eigentlich unkontrollierbaren Gesellschaft an einer einheitlichen Repräsentation für die geforderte Entparadoxierung fehlt. 3. Krise des Rechts: „Rechtslethargie“ Das subjektive Recht tritt an die Stelle der traditionellen Reziprozität und bewirkt die Kopplung von Individuum und Recht. Es kommt darauf an, ob das Institut als Gefüge des Rechtsverhältnisses den gesellschaftlichen Strukturen entspricht. Nach Luhmann bereitet es noch keine Schwierigkeit, solange die Gesellschaft relativ statisch ist. Hierbei kümmert sich man darum, ob die Gesellschaft den Individuen Freiheit gewährt und die Inklusion als Problem wird nicht deutlich bewusst. Dies ist die freiheitsbetonte, bürgerliche Gesellschaft. Das eigentliche Problem zeigt sich erst mit der späteren Konstruktion des subjektiven Rechts auch in öffentlichen Angelegenheiten (öffentlich-subjektive Rechte). Dann wird das Reziprozitätsprinzip im Namen der Solidarität noch oder wieder als Rechtsprinzip angesehen. Der Sozialstaat gilt als Zeichen für „das lange Festhalten an reziprozitätstheoretischen Begründungsvorstellungen“ trotz und wegen der längst eingespielten Strukturen und was mit Solidarität „gemeint ist, aber nicht gesagt werden kann“, bezieht sich in der Tat auf den Problemkomplex struktureller Kopplungen der ausdifferenzierten Systeme.102 Man könnte sagen, dass bei der Konstruktion des öffentlich-subjektiven Rechts das subjektive Recht nicht mehr auf die private Sache beschränkt wird, sondern die öffentliche bzw. politische Angelegenheit dem Individuum mit dessen Rechtsmacht ebenso zur Verfügung gestellt wird. Mit ihm wird unmittelbar in der Freiheit – „um seiner Freiheit willen“ (Braun, ebd.), aber nicht in struktureller Kopplung, die hier als Problem gilt. Man beachte übrigens: Das subjektive Recht als Rechts-Macht zum Schutz des Rechts-Gutes weist eine (reine) Selbstreferenz des Rechts in Luhmanns Sinne auf und deutet die Differenz von Politik und Recht an, aber die Fremdreferenz in umgekehrter Richtung auf die strukturelle Kopplung nach außen wird nicht gefragt. 102 RdG, S. 486.
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
symbolisiert, dass die gesamte Ordnung nicht mehr einen letzten unverrückbaren Ruhepunkt besitzt und nun restlos kontingent gemacht wird. Man schirmt sich aber mit der Semantik der Solidarität vor dem wirklichen Strukturproblem ab, denkt sich weiter das Reziprozitätsprinzip als Vorbild für die Gesellschaftsordnung und will damit die Probleme behandeln, die doch durch die funktionale Differenzierung ausgelöst werden. Und dann verfehlt die juristische Semantik nach Luhmann mit ‚Solidarität‘ u. ä. ebenfalls das gesellschaftliche Strukturproblem, indem sie sich bei der dogmatischen Konstruktion immer direkt auf die Entsprechung bezieht, die aber „außerhalb derjenigen Semantik [liegt], die im Kontext einer juristischen Dogmatik mobilisiert werden kann“.103 Dieser unmittelbare Bezug scheint aber nun unvermeidbar zu sein, und die Leistung des subjektiven Rechts wird dementsprechend fragwürdiger. Luhmann zufolge kommen außer der alten Ungerechtigkeit bei der Güterverteilung jetzt noch ökologische Probleme und andere Risiken hinzu und dies führt zu dem Problem der paradoxen, das Recht eigens verunsichernden Gefährdungshaftung: Dabei wird ein bestimmtes Handeln erlaubt und ist rechtmäßig, aber zugleich muss man „für rechtmäßig (!) verursachte Schäden“ die Haftung tragen.104 Die Gefährdungshaftung verankert in sich eine selbstwidersprüchliche Verhaltenserwartung, die diametral im Gegensatz zur Funktion des Rechts steht. An dem Phänomen findet Luhmann den „Rückzug des Rechts aus der Lebensführungsrelevanz und der Informativität für Einzelne. Das Recht sagt dann nicht mehr, was man tun oder lassen soll, sondern nur noch: wenn es gut geht, geht es gut; wenn nicht, dann nicht.“105 Von daher 103 RdG, S. 486. Luhmanns Beispiele für die Entsprechung außerhalb der juristischen Semantik sind gerade der Vertrag und der Staat: der Vertrag für das Verständnis der Wirtschaft und der modernen Ehe sowie für Bürgerbeteiligungspostulate mit Bezug auf die Regierung des Staates. Was soll einen Sitz innerhalb der juristischen Semantik haben? Überraschenderweise erwähnt der positivistische Luhmann den „Naturbegriff“ des Naturrechts und auch die Bestimmung des subjektiven Rechts „aus dem Unterschied zu objektivem Recht“ (RdG, S. 486). Luhmann folgend könnte man sagen, dass ein großer Teil der Entwicklung der Rechtswissenschaft falsch abgelaufen ist; der juristische Charakter des Sozialstaates und auch der Staatsbezug sind fragwürdig, eben „außerhalb“ des Juristischen. Und wie ist es zu verstehen, dass man sich nicht an der Reziprozität, sondern an dem zu erklärenden „Naturbegriff“ des Naturrechts orientieren soll? Für Luhmann betrifft das Juristische die Invarianz / Varianz des Rechts, also die Entparadoxierung der Paradoxie des kontingenten Rechts, die nur systemintern selbstreferentiell erfolgt; die „Reziprozität“ deutet den Bezug auf die Umwelt des Systems an, verfehlt aber das systemintern zu behandelnde Problem. Im Zusammenhang mit den Menschenrechten ist diese Beobachtung noch deutlicher. 104 RdG, S. 488. 105 RdG, S. 488. Das Recht schwankt danach zwischen Ja und Nein, stellt sich nicht fest und kann nicht mitteilen und kommunizieren (vgl. SS, S. 181). Es kann
III. Subjektives Recht und Individuum331
gilt das subjektive Recht nicht mehr als Abwehrrecht im Voraus, sondern nur für Schäden im Nachhinein; wobei das Recht sich symptomatisch für den Relevanzverlust immer stärker an der Semantik der Werte orientiert. Von dem Relevanzverlust des subjektiven Rechts und mit der parallellaufenden Aufwertung der ‚Sozialrechte‘ ist nicht nur die Freiheit der Rechtsinhaber, sondern auch aller anderen betroffen. Dies ist so, weil das subjektive Recht sozusagen ein Mittelmaß für alle schafft. Man kann sich zwar auf sein gutes Recht berufen und sich, wenn nötig, ‚asozial‘ mithilfe des Rechtszwangs durchsetzen, aber weil der Gebrauch des subjektiven Rechts aus verschiedenen Gründen beschränkt bleibt und je nur gegen bestimmte einzelne Personen eingesetzt wird, müssen alle anderen keine Eingriffe seitens des Rechtsinhabers befürchten. Damit fungiert das subjektive Recht für den Rechtsinhaber und für alle Dritten als „eine Freiheitsgarantie“.106 Doch mit dann nicht mehr die Funktion der Zeitbindung erfüllen (SS, S. 133) und versetzt den Anschluss in eine prekäre Lage (SS, S. 169). Auch RdG, S. 171: Das Phänomen Risiko weicht das Recht / Unrecht-Schema auf, so dass das Institut der Gefährdungshaftung „es erlaubte, Bedingungen, Regeln und Begründungen für die Verteilung von Schaden aus rechtmäßigem Verhalten zu entwickeln, also jemanden für erlaubtes Verhalten haftbar zu machen“. Der in dem Verschuldensprinzip versteckte Negations-Mechanismus wird damit gestört (vgl. ders., Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft, in: ders., AdR, S. 399). Die Gefährdungshaft fungiert doch auch als innovative Ergänzung zum Verschuldensprinzip (vgl. RdG, S. 367 f. und auch ders., Die juristische Rechtsquellenlehre aus soziologischer Sicht, in: ders., AdR, S. 316). Das Problem der Gefährdungshaftung soll m. E. in ihrem Bezug auf die Zukunft bestehen: Das Urteil wird nun durch die zukünftigen Folgen begründet, es wird aber nach wie vor nur in der Gegenwart gefällt, egal ob die kalkulierten Folgen eintreten oder nicht. SS, S. 528: „Die Zukunft wird zum Horizont konfligierender Handlungsfolgen.“ Daher hat das Urteil, das notwendig in der Gegenwart gefällt wird und damit seine Geltung erhält, „die letzte Indifferenz gegen richtig und falsch in Bezug auf zukünftige Bewährung von Erwartungen“ (RdG, S. 23). Die Zukunft hat keine Geltung (Existenz), bedeutet insofern nichts; sie bleibt prinzipiell im Dunkeln, enthält und ermöglicht alles. Auch wenn man mit ‚guten Gründen‘ argumentiert, ermöglicht der Zukunftsbezug alle Sinnbestimmungen der Identität des Rechts. Dadurch würde das Recht seine Orientierungsfunktion – Zeitbindung – verfehlen. Als Beispiel kann der Fall Boomer v. Atlantic Cement Co. dienen: Das Verschuldensprinzip verlangt „that a nuisance which results in substantial continuing damage to neighbors must be enjoined“. Die Mehrheit des Gerichts stellt sich aber darauf um (the rule overriding), „permanent damages are allowed where the loss recoverable would obvisously be small as compared with the cost of removal of the nuisance“ (Flechter / Sheppard, American Law in a Global Context, 2005, S. 372 f.). Die Gefährdungshaftung stellt einen Versuch dar, „die letzte Indifferenz“ doch zu differenzieren. Man könnte in ihr eine Variante der Protogoras-Paradoxie sehen, nur der ambivalente Ausgang – die kommunikative Unbestimmtheit – wird in die Zeit verlagert: Es klappt und es klappt nicht. 106 RdG, S. 488. In der Freiheitsgarantie für den Rechtsinhaber und alle Dritten durch das subjektive Recht sieht Luhmann vielleicht auch Marx’ „Verein der freien Menschen“.
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
dem allmählichen Irrelevantwerden des subjektiven Rechts für die Handlungsleitung kommt man fast zwangsläufig vom subjektiven Recht zu immer stärkeren staatlichen Regulierungen, eben weil einerseits die Verhaltenserwartung destabilisiert und andererseits der Anspruch aufgrund der Sozialrechte immer höher gesteigert wird, wobei die Verfassung ebenfalls nach und nach an diese Entwicklung anschließt.107 Dieses Phänomen der ‚Demokratisierung‘ bekommt seine Entsprechung der „Selbstirritation“ in Form der politischen Gesetzgebung: Mit der immens zunehmenden Gesetzgebung wird das Recht laufend geändert und man macht schon damit Politik.108 Diese innere Logik zeigt die Unzulänglichkeiten der Konstruktion des subjektiven Rechts für die Inklusion der Individuen in die Gesellschaft, insbesondere angesichts der sich aufdrängenden Risikoprobleme. Das Individuum wendet sich nicht mehr ans Recht, sondern es sucht andere Anhaltspunkte, so „daß das Recht für die strukturelle Kopplung von individuellem Bewußtsein und gesellschaftlicher Kommunikation überhaupt an Bedeutung verliert“.109 Stattdessen dient das Recht nur eigens dem strukturellen Koppeln zwischen den Funktionssystemen. Es kommt dann hauptsächlich auf die staatlichen Tätigkeiten wie beim Wohlfahrtsstaat und Umweltschutz an, nicht auf das individuelle Rechtsbewusstsein: Je mehr Gesetzgebung, desto geringer das Rechtsbewusstsein. Es kommt letztlich dazu, dass das Recht bei der Sinngebung für soziales Handeln keine Rolle mehr spielt. Darin kann man die ‚Steuerungsdefizite durch das Gesetz‘ sehen. Allenfalls muss man sich nun „pressewirksamer Skandale“ bedienen, um das Interesse der Individuen für den Rechtsstaat (noch) aufrechtzuhalten.110 Angesichts der sich entwickelnden Entkopplung von Recht und Individuum könnte man wörtlich vom Verlust des Rechts- und Unrechts-Bewusstseins sprechen. Das Rechtssystem, Recht oder Unrecht wie auch immer, vermag nicht mehr das Bewusstsein zu erregen und für sich das Individuum zu mobilisieren. Dadurch kommt aber die Eigenschaft des subjektiven Rechts deutlich in den Blick, nämlich dass das Wahrnehmen des subjektiven 107 RdG,
S. 488 f. S. 479. In dieser Demokratisierung könnte man den Übergang von der Repräsentation zur Partizipation (vgl. GdG, S. 921 f.) und darin einen prozessualen Verschleiß der Freiheit sehen. 109 RdG, S. 489. 110 RdG, S. 489. Auch die Verfassung koppelt daher nicht das Individuum mit der Gesellschaft, sie dient sogar wohl hauptsächlich Geld, Macht, Wissen und anderen Medien. Parallel dazu verhält es sich so, dass die Menschenrechte erst durch ihre schwere Verletzung Aufmerksamkeit erwecken können. Sonst erregen auch klare Verstöße im individuellen Bewusstsein keine Aufmerksamkeit. Das Recht ist nun in hohem Maße auf die Organisationssysteme wie die Bürokratie der Verwaltung angewiesen, die doch zum politischen System gehört. 108 RdG,
III. Subjektives Recht und Individuum333
Rechts von der Entscheidung des Individuums abhängt; das Individuum stellt für das Rechtssystem den nötigen Anstoß dar, ist aber für das System – eben als Störungen – doch zufällig und unkontrollierbar. Niemand wird gezwungen, sein eigenes Recht einzusetzen und durchzusetzen.111 Hierin könnte man sehen, dass sich die basale Souveränität des Individuums sowie die Trennung von Normativität (subjektives Recht im Rechtssystem) und Geltung (von der individuellen Entscheidung abhängig) wieder manifestieren; dem Recht liegt ja eine ‚basale Differenz‘ zugrunde. Das Recht stößt hier an seine strukturelle Grenze und wird wie die Religion zu einer Privatsache. Daraufhin trifft man auf die Legitimität als ein allgemeines Problem angesichts der Schwierigkeit mit der Motivation zum Anschluss der sozialen Kommunikation. Aus dieser dargestellten Perpektive steht Luhmann der Lösung anhand der „Legitimität des Rechts“ aufgrund des individuellen subjektiven Rechts skeptisch gegenüber.112 Vielmehr gilt das Individuum als „labile, undurchschaubare, subjektive Umwelt“ des Rechts, es ist unentbehrlich, handelt aber zufällig, weil man zur „Rechtslethargie“ berechtigt ist.113 Berücksichtigt man die oben erwähnten zunehmenden staatlichen bzw. großbetrieblichen Regulierungen, wirkt das Individuum in der Tat wie ein störender Faktor. Man sieht in der tatsächlichen Rechtskommunikation nur zu ungern den Faktor des Individuums und dies gilt wohl ebenfalls für die soziale Kommunikation im Allgemeinen.114 111 RdG,
S. 489. S. 489. 113 RdG, S. 490. Nach Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 73 ff., gründet der normative Ansatz (mit Hinweis auf Habermas, Faktizität und Geltung, 1992) auf der Legitimation durch die Selbstbestimmung, und zwar durch die Gleichrangigkeit von individueller und demokratisch kollektiver Selbstbestimmung, was letztendlich auf „eine individuelle Leistung – Personalität“ (Möllers, ebd., S. 74) zurückzuführen ist. Konkret findet dies in öffentlichen Verfahrensmechanismen statt, also durch die Prozeduralisierung. Die Prozesse aber – als ein Typ der Prozeduralisierung – wirken nach Luhmann für die Individuen gerade als schwere Störungen, die wiederum gegen die Motivation zur Wahrnehmung des eigenen Rechts wirken. Der normative Ansatz scheint das Individuum abstrakt zu überschätzen und geht davon aus, dass man sich nur gerne ans Recht wenden würde. Dabei wird aber auch ein (idealisierendes) prozeduralisiertes Recht von den konkreten, sinnlichen Individuen getragen. Nimmt man das Individuum konkret mit Namen, Wohnorten, Berufen, Kosten- und Zeitlasten usw. ernst (RdG, S. 35, Anm. 47), würde es nicht leichtfallen, mit einem normativen Ansatz die Legitimität zu erzielen. 114 Die Krise des Rechts, nämlich Rechtslethargie, wird bei den Menschenrechten im Metacode von Inklusion und Exklusion zugespitzt. Man kann wohl sagen, dass die Lethargie strukturell bedingt ist. Luhmann wird vorgeworfen, das Individuum den Funktionen der sozialen Systeme zu unterstellen. Man soll in der Tat vielmehr sagen, dass die moderne Gesellschaft und das Individuum sich strukturell 112 RdG,
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
Zusammenfassend könnte man in Bezug auf die Entwicklung des subjektiven Rechts zugleich eine historische Wandlung der Gesellschaft markieren. Luhmann folgend fängt das subjektive Recht als ein „folgenreiches Rechtsprivileg“ an.115 Seitdem kann jedermann mit diesem Privileg absichtlich Schädigungen der anderen herbeiführen, soweit sie als wirtschaftliche Konkurrenz geschehen; jeder kann seine eigene Produktion und sein eigenes Geschäft beginnen, an dem Recht eines anderen am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb vorbeigehen, ohne die Einkommenseinbußen des anderen berücksichtigen zu müssen. In der Wirtschaft wird damit die Konkurrenz als grundlegende Struktur herausgebildet und damit koppelnd werden im Recht der Vertrag und das Eigentumsrecht institutionalisiert. Man könnte sagen, dass die kapitalistische Wirtschaft auf ein unbemerktes „Rechtsprivileg“ gegründet wird.116 Dabei scheint der Sinn des Eigentumsrechts auch umgewandelt bzw. umgekehrt zu werden. Bei Locke heißt es noch, dass das Eigentumsrecht jede Rechtsordnung ungerecht macht, aber trotzdem wird nun das Eigentumsrecht in Kauf genommen, da die Wirtschaft damit besser funktioniert.117 Das Rechtssystem wird in der geschichtlichen Entwicklung zunächst mit dem Eigentumsrecht und dann mit den Rechten in der Verfassung dynamisch. Parallel dazu orientiert sich das Recht nicht mehr an der Vergangenheit, sondern zunehmend an der Zukunft: Es wird temporalisiert bzw. verzeitlicht. Und die dauernde Theodizee des Rechts stellt sich dann als strukturell zwangsläufige Konsequenz dar. „Am Anfang war [noch] kein Unrecht“; aber mit der Moderne wird dann jede gesellschaftliche Erneuerung mit einer Verletzung des Rechts – auch mit der ‚Revolution als Rechtsbruch‘ – begonnen und so diese in Kauf genommen. Die Theodizee, der Verdacht des Rechts als Unrecht, wird damit sozusagen vorprogrammiert. Das Recht wird positiviert, jederzeit änderbar und kontingent. Dann mündet die ganze Entwicklung – miteinander schwer tun. Und mit dem Hohelied der Freiheitsrechte als Werte ‚verpflichtet‘ man in der Praxis stillschweigend das Individuum, in der Gesellschaft mitzumachen, Leistungen zu erbringen und damit der Gesellschaft das Individuum unterzuordnen. Das Individuum wird also verpflichtet, die Gesellschaft zu legitimieren. 115 RdG, S. 465. 116 Man beachte genauer, dass diese (absichtliche) Beschädigung des Rechts eines anderen wegen Konkurrenz prinzipiell nicht mehr gegen den Rechtsschutz eines anderen bzw. gegen die guten Sitten verstößt (§§ 823, 826 BGB; dazu vgl. RS, S. 314). Hier könnte man die Einbruchstelle der kapitalistischen Wirtschaft finden. Daran anschließend steigt die Wirtschaft auf die Position des führenden Funktionssystems. Vgl. auch RdG, S. 468, über den Unterschied von Vertragsfreiheit und vertraglicher Bindungswirkung. 117 RdG, S. 455. Vgl. auch Luhmann, Am Anfang war kein Unrecht, in: ders., GuS 3, S. 22.
III. Subjektives Recht und Individuum335
durch die Demokratisierung – schließlich in den Wohlfahrtsstaat, der jetzt genau das Umkippen des Verständnisses der Grundrechte in die Werteprogramme und die Wertekonflikte zur Folge zu haben scheint.118 Der Wohlfahrtsstaat steht für die „Inklusion als politisches Programm“ und „ein Gerechtigkeitsprogramm“, aber anders als ‚ius‘ im Sinne der Gegenseitigkeit aufgrund des sozialen Status in der traditionellen Gesellschaft, nämlich eigens vor dem Hintergrund der modernen „Kombination von spezifischer und universalistischen Orientierung“.119 Man kann nicht mehr zu ‚ius‘ zurückkehren, aber ius und das subjektive Recht haben „die Anerkennung einer rechtlich nicht regelungsfähigen ‚Innenseite‘ der Rechte“ gemeinsam und bewirken die „Schranken der Detailregulierung […], sozusagen Grenzen des Wachstums nach innen“.120 Der Wohlfahrtsstaat höhlt das subjektive Recht nun gerade durch seinen „rücksichtslosen Rechtsgebrauch“ aus, indem viele Sozialleistungen in Rechtsansprüche transformiert werden;121 das Individuum wird nicht (nur) „ ‚von sich aus‘ “ durch das subjektive Recht geschützt, sondern ihm werden die Rechte ‚zugewiesen‘ bzw. ‚gewährt‘ und durch diese Vereinnahmung bzw. Instrumentalisierung des subjektiven Rechts und in der sich immer verstärkenden Normierung wird man von großen Organisationen abhängig und kommt entsprechend zu dem Rückgriff auf die ‚Grundwerte‘.122 Die Abwägung der Werte wird dadurch ins Recht eingebracht. Sie spiegelt wohl ebenso das Problem des Relevanzverlustes des subjektiven Rechts wider. Im Anschluss daran argumentiert man juristisch mit der Abwägung der Rechte als Werte. Für die Abwägung der Werte heißt nach Luhmann aber die Regel „die Verschiedenheit des Urteils“;123 der prima facie allgemeine Wertkonsens zerbricht an den Einzelurteilen. Luhmann zufolge soll man sich nicht um einen allgemeinen Wertkonsens bemühen, sondern darum, „den Hebel der quaestio juris konsequent anzusetzen und in der Beantwortung möglichst konsistent zu verfahren“.124 Er ist nämlich der Ansicht, dass man trotz der funktionalen Differenzierung der Subsysteme und trotz der Individualisierung konsequent bei quaestio iuris ansetzen und die Konsistenz der Entscheidungen innerhalb des Rechtssystems anstreben soll. Diese Aufgabe kann schließlich nur eine tragfähige Konstruktion der Rechtsdogmen im Zentrum des Rechtssystems erfüllen. 118 Vgl.
RdG, S. 481. Subjektive Rechte, in: ders., GuS 2, S. 87 f. 120 Luhmann, Subjektive Rechte, in: ders., GuS 2, S. 91. 121 Luhmann, Subjektive Rechte, in: ders., GuS 2, S. 88; vgl. ebd., S. 94. 122 Luhmann, Subjektive Rechte, in: ders., GuS 2, S. 91 f. Man beruft sich eher auf die Gesetzgebung als auf das Gesetz. 123 RdG, S. 493. Luhmann zitiert den Satz von Philip Heck: „Regel ist die Verschiedenheit des Urteils.“ 124 RdG, S. 493. 119 Luhmann,
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
4. Fazit Die allertiefste Kopplung des Rechtssystems mit seiner Umwelt ist die strukturelle Kopplung von Recht und Individuum, die heute in der Gestalt des subjektiven Rechts zum Ausdruck gebracht wird. Mit dieser Kopplung soll sich das Recht ins individuelle Bewusstsein einprägen und das Erleben und Handeln des Individuums motivieren können. Dabei weist das subjektive Recht eine Struktur der Rechtsparadoxie auf, indem Recht und Pflicht tautologisch, inhaltlich identisch und wertezuteilend unterschieden sind. Das Rechtsverhältnis von Recht und Pflicht stellt die moderne Variation der Ur-Differenz von Recht und Unrecht dar. Es wird von dem Reziprozitätsprinzip – Vermengung aller sozialen Rechte und Pflichten – abgelöst. Zugleich werden die außerhalb der Gesellschaft stehenden Individuen aufgrund ihrer subjektiven Rechte wieder in die – freie und gleiche – Gesellschaft und in die Funktionssysteme eingeschlossen, aber nur insofern die Individuen ihre subjektiven Rechte als Anhaltspunkte bei der Suche nach der individuellen Identität tatsächlich gebrauchen. Dies ist oft nicht der Fall. Parallel dazu dringt die Wertvorstellung immer stärker ins Rechtsverständnis ein und führt dazu, dass das Recht widersprüchliche Verhaltensanweisungen abgibt und damit verunsichert. Im Gegensatz dazu fordert Luhmann, dass das Recht innerhalb der juristischen Semantik – als Beispiel: die Semantik der ‚Natur‘ des Naturrechts – arbeitet. Dies bedeutet, dass man tragfähige Rechtsdogmatiken im zugrunde liegenden Identitätsschema von Invarianz / Varianz entwickeln soll. Die Rechtslethargie zeugt von der konstruktiven Unzulänglichkeit des subjektiven Rechts, gewissermaßen von dessen Selbstsabotage und damit auch von der Problematik der Kopplung zwischen Recht und Individiuum. Dies hat die hohe Abhängigkeit des Rechts von den großen Organisationen zur Folge; wobei die Individuen nicht nur nicht als die Grundlage der Legitimität, sondern sogar als zwar unentbehrliche, aber doch störende Faktoren erscheinen.
IV. Menschenrechte als quaestio iuris: Ein antihumanistisches Verständnis Was das Menschenrecht anbelangt, liegt es Luhmann nicht an einer Wesensbestimmung des Menschen oder dessen Stellung im Kosmos, sondern daran, ob ein Individuum (bzw. ein Kollektiv) als kommunikatives Subjekt gilt und ob es bei der gesellschaftlichen Reproduktion in den Kommunikationsprozess eingeschlossen oder davon ausgeschlossen wird. Für ihn soll das Menschenrecht geradezu antihumanistisch sein, um darin die moderne Form der In- und Exklusion im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft
IV. Menschenrechte als quaestio iuris337
zu errichten. Und das Menschenrecht stellt sich in dieser Funktion nicht als moralische Frage, sondern als quaestio iuris dar. 1. Menschenrecht als subjektives Recht: Funktionale Inklusion Nach Luhmann stehen die einzelnen Menschenrechte historisch im Zusammenhang mit der Entstehung der Staatsordnung und behalten zunächst noch einen unmittelbaren Bezug zur Verfassung und zum Eigentum. Sie befinden sich in dem Problemkomplex von Souveränität und Widerstandsrecht und betreffen daher gleichzeitig die Differenzierung von Politik und anderen Funktionssystemen, also die Trennung von Staat und Gesellschaft. Aufgrund der Semantik von Natur bzw. Mensch – ja unter dem Anzeichen der einwertigen Seinsontologie – gelten sie naturrechtlich noch als „Vorgegebenheiten“, die als Maßstab für jede Rechtsordnung formuliert wird; und daher kann man sich auf diesen Maßstab berufen und den Widerstand mit der Differenz von rex / tyrannus legitimieren, zugleich wird mit dem Naturrecht des Eigentums als Grundlage der individuellen Entfaltung auch die rationale Wirtschaftspolitik gerechtfertigt.125 Die Menschenrechte entfalten also ambivalente Wirkungen und zeugen von einer historischen Übergangsphase. Mit dem Geltungsverlust des Naturrechts entwickeln sich die Menschenrechte zu subjektiven Rechten. Dies bedeutet in Luhmanns Sinne, dass sie nicht mehr ‚seinsmäßig einwertig‘ sind. Sie werden nun zweiwertig und mit dem Problem des Verhältnisses von objektivem und subjektivem Recht konfrontiert: die objektive Geltung des subjektiven Rechts. Vor dem Hintergrund der Umstellung der Differenzierungsform der Gesellschaft geht es dabei um das Einheitsproblem des ausdifferenzierten Rechtssystems und um die Herausbildung der autopoietischen Geschlossenheit des selbstreferentiellen Rechts. Insofern haben die Menschenrechte ihre Funktion darin, sich mit der Inklusion aller Individuen in die (Welt-)Gesellschaft, nämlich der Kopplung von Gesellschaftssystem und psychischen Systemen, zu befassen. Man beachte zugleich, dass die Menschenrechte ein Produkt der modernen Gesellschaft darstellen; dabei aber steht der Mensch Luhmann zufolge trotz aller ideologischen Aufwertung und auch aller Menschenrechte nicht als Grundlage der Gesellschaft in deren Mitte,126 sondern er wird in der Umwelt der Gesellschaft verortet. Die Menschenrechte gehen nämlich gerade nicht aus dem sogenannten Humanismus hervor, sondern sie müssen 125 Vgl.
RdG, S. 484. Aufwertung des Menschen vgl. SS, S. 107–111, S. 119–122, S. 131, S. 264; GdG, S. 933 f. 126 Zur
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radikal antihumanistisch sein, weil sonst mit dem Humanismus in Bezug auf die gesellschaftliche Differenzierung die Menschen notwendigerweise in Nationen, Ethnien usw. als ihre Wesensbestimmung unterteilt werden und dadurch gerät man ‚humanistisch einwertig‘ in einen eklatanten Widerspruch mit Menschenrechten.127 Gilt das subjektive Recht als Kompensation für den Verlust des festen Platzes des Individuums in der Gesellschaft, so stellen die Menschenrechte die Kompensation für die Verbannung des Individuums aus der Weltgesellschaft dar. Mit der funktional differenzierten Gesellschaft als Vorbedingung haben die Menschenrechte ihre Funktion nämlich in der Inklusion der Individuen in die Gesellschaft, indem sie ihre Teilnahme an Funktionssystemen ermöglichen und den Erwerb ihrer individuellen Seinsidentität befördern. Und dies soll durch das Recht geschehen. Daher liegt die erste Begründung der Menschenrechte in der Inklusion der Individuen in die funktional differenzierte Gesellschaft. Dabei geht Luhmann, entgegen der ontologischen Identität von Sein und Denken, von der Differenzerfahrung bzw. von „der Scheidung von Sein und Denken“ aus, was mit der freigesetzten, zweiwertigen Negativität in doppelter Kontingenz zu der Herausbildung der spezifisch rationalisierten Subsysteme, darunter insbesondere des politischen Systems, führt; man kommt dadurch zu der (unzulänglichen) Trennung von Staat und Gesellschaft, wobei man zugleich mit dem „Anspruchsdenken“ der subjektiven Rechte auf die zerstörte ontologische Wahrheit reagiert.128 Daran anschließend besteht die basale Konzeption der funktional verstandenen Menschenrechte bzw. Grundrechte in der Unterscheidung von Normativität und Geltung. Die „Grundrechte als Institution“ bedeuten, dass sie nicht nur als „Normenkomplex“, sondern eher als „komplex faktischer 127 Zu den antihumanistischen Menschenrechten siehe GdG, S. 29 f., S. 34 f. Den theorieinternen Zusammenhang sieht man in Luhmanns Kritik an der einwertigen Ontologie und daher dem Deutschen Idealismus wie dem neuzeitlichen Humanismus im Hinblick auf das Einheitsproblem von Ganzem und Teil (vgl. SS, S. 21). Der Humanismus gilt in diesem Sinne als einwertig ontologisch. Wenn man sich bei dem Einheitsproblem auf Luhmanns Differenzansatz umstellt und es daraufhin in den Kontext von Ichheit und Individualität verschiebt [wie bei Henrich, vgl. B. I. 3. a)], dann könnte man von einem ‚negativen Humanismus ohne Grund‘ sprechen. Die Menschenrechte würden dann bedeuten, dass sich jeder selber individualisiert und dass sich jeder aber auch mit der Einheit der Gesellschaft koppeln und damit in die letztere wieder eintreten kann und muss. Dabei bildet die Ichheit wieder das Kernproblem [vgl. C. II. 2. e) dd)]. 128 Luhmann, Grundrechte als Institution, 1999, S. 27. Hier unterscheidet die vorliegende Arbeit sachgemäß nicht zwischen Menschenrecht und Grundrecht. Man beachte die negative Beziehung der Ontologie und dem modernen Rechtsdenken. Zur Differenzerfahrung vgl. B. I. 3. b).
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Verhaltenserwartungen [bezeichnet werden], die im Zusammenhang einer sozialen Rolle aktuell werden und durchweg auf sozialen Konsens rechnen können“.129 Die „nichtnormative Analyse“ der Grundrechte130 lokalisiert die letzteren somit auf der Ebene der sozialen Struktur zusammen mit der (fallbezogenen) Differenz von Aktualität und Potentialität; sie stellen nicht „ ‚ewige Menschenrechte‘ “ dar, sondern zielen – ja mit der Differenz Geltung und Nichtgeltung – als Institution auf die „Erhaltung einer differenzierten Kommunikationsordnung“ ab.131 Für deren Aufrechterhaltung, vor allem für die Vorbeugung gegen die Politisierung wie die Entdifferenzierung der Gesellschaft, artikulieren sich die Verfassungsartikel nicht so sehr als Norm, sondern sie beziehen sich eher auf Differenz und dadurch vereinigen die Artikel die soziale (Nicht-)Wirklichkeit und die Rechtsdogmen in sich: „Die Grundrechtsschlagworte ‚Eigentum‘, ‚Meinungsfreiheit‘, ‚Gleichheit‘ usw. und die entsprechenden Verfassungsartikel symbolisieren institutionalisierte Verhaltenserwartungen und vermitteln ihre Aktualisierung in konkreten Situationen. Die Institutionalisierung der Grundrechte ist […] zunächst ein faktisches Geschehen, das wir auf seine Funktion in der modernen Sozialordnung (und also nicht allein: auf seinen gemeinten normativen Sinn) hin untersuchen wollen.“132
Mit dieser Konzeption der institutionalisierten Menschenrechte werden sie in den Zusammenhang mit Kontingenz, Paradoxie bzw. Formproblem gebracht.133 Hinsichtlich der Inklusion liegt die Paradoxie der Menschenrechte nach Luhmann vor allem eben in der Differenz von Gesellschaft und Individuum, genau in der Welteinheit.134 In Anlehnung an die Logiktheorie bei Schmitz kann man die Paradoxie als Konkurrenz um die Weltidentität jeweils von der einen Seite der Differenz aus bestimmen; gesellschaftlich gesehen geht es um die Kontingenz der immer zugleich anders möglichen 129 Luhmann,
Grundrechte als Institution, 1999, S. 12 f. Grundrechte als Institution, 1999, S. 11. Zum nichtnormativen Ansatz vgl. RdG, S. 33; RS, S. 130. 131 Luhmann, Grundrechte als Institution, 1999, S. 23, S. 25. 132 Luhmann, Grundrechte als Institution, 1999, S. 13. Das Menschenrecht entwickelt sich zum subjektiven Recht, als Gegenzug werden die zivilrechtlichen Prinzipien auf die verfassungsrechtlichen Prinzipien gehoben (vgl. RdG, S. 474 f.). 133 Man könnte sagen: Unter anderem besteht eine Pointe der Grundrechte bzw. Menschenrechte als Institution darin, dass erst die ‚Institution‘ den Differenzansatz zur Geltung bringt und die Negation der harten, real neutralen Welt in Luhmanns Sinne sozusagen aufdrängt. In einer solchen Welt würde die Menschenwürde buchstäblich unantastbar da sein. Ist aber die Würde sowieso unverletzbar da, wozu braucht man diese Würde? Theoretisch soll man aber fragen, wo diese Antastbarkeit bzw. Verletzbarkeit der Würde in aller Welt doch zu verorten ist. Erst mit der Institution bzw. Negation wird die Welt sozusagen aufgeweicht und die Menschenrechte bekommen ihre Bewegtheit, mit der Folge, dass die Institution abweichende Möglichkeiten ebenfalls in sich einbegreift. Vgl. die zeitgemäße Paradoxie in E. IV. 3. 134 Luhmann, Das Paradox der Menschenrechte, in: ders., SA 6, 1995, S. 231. 130 Luhmann,
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Verhältnisbestimmung zwischen Gesellschaft und Individuum. Diese Paradoxie der Welt wird nun aufgrund der weiteren gesetzten Differenz von Rechtssystem und seiner Umwelt in das Rechtssystem überführt. Dies bedeutet, dass das Menschenrecht als subjektives Recht das Rechtsverhältnis von Recht und Pflicht fortschreibt, wobei es seine Paradoxie entfaltet und seine objektive Geltung erhält.135 Die Inklusion der Individuen in die Gesellschaft – hier anhand der Menschenrechte – bringt also die subjektiven Rechte zur objektiven Geltung im Gefüge des Rechtsverhältnisses und entparadoxiert die Paradoxie der Differenz von Gesellschaft und Individuum. Konkret bedeutet dies einerseits die Einschränkung der ursprünglichen Kontingenz und andererseits die gesellschaftliche Reproduktion durch die Autopoiesis des Rechtssystems. Die kommunikative Unbestimmtheit wird somit behandelt. Ebenso werden das Einheitsproblem und die Fortbildung der Identität des Rechtssystems berührt. Die Einheit des Rechts wird auf den binären Code Recht und Unrecht konzentriert und die Einheitsformel des Rechtssystems ist die unerträgliche Einsicht: Recht sei (nicht) Unrecht, genau „die Grundparadoxie der Selbigkeit von Recht und Unrecht“.136 Da das Menschenrecht vor allem als subjektives Recht angesehen wird, soll es weiterhin die Grundparadoxie des Rechts „auf eine harmlosere Paradoxie“ umdirigieren.137 Letztlich legt das Menschenrecht eine moderne Form der Entparadoxierung der Grundparadoxie der Selbigkeit von Recht und Unrecht dar. Das Problem der Menschenrechte erscheint Luhmann als quaestio iuris, womit sie in den binären Code Recht und Unrecht eingebracht werden. Insofern bringen die Menschenrechte innerlich auch die negative Seite unter – die Exklusion bzw. das Unrecht, indem sie die Bedingungen der anderen (unrechtmäßigen) Möglichkeiten regulieren.138 Gerade diese negative Seite als negierende andere Möglichkeit führt dann unausweichlich wiederum zum Schwanken des vorläufig festgesetzten Rechtsverhältnisses: zu dem Unrecht. Damit kehrt mit den Menschenrechten die Theodizee des Rechts wieder zurück.
135 Vgl. RdG, S. 485: „Denn die Vorstellung objektiver Geltung subjektiver Rechte ist nichts anderes als eine verdeckte, entfaltete Paradoxie“. Man kann ebenso gut von der Tautologie von objektivem und subjektivem Recht ausgehen, ihre Differenz bezieht sich nicht auf die inhaltliche Sinnbestimmung, sondern auf die verdeckte Negation – die Geltung (Existenz). 136 RdG, S. 485. 137 RdG, S. 485. 138 RdG, S. 234 f.
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2. Begründung der Menschenrechte: Freiheit und Gleichheit Wird das Menschenrecht zunächst durch die Inklusion der Individuen im Lichte der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft begründet, wird es des Weiteren an die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit geknüpft. Die funktionale individuelle Inklusion anhand der einzelnen Menschenrechte nimmt nämlich die beiden Formen von Freiheit und Gleichheit an. Die ‚Form‘ meint bei Luhmann bekanntlich eine Unterscheidung mit ihren zwei Seiten – der positiven und der negativen Seite. Die Freiheit und die Gleichheit als Prinzipien des Menschenrechts bringen demnach ein inneres Negationsverhältnis mit sich und das Menschenrecht bezieht sich dadurch als erstes nicht auf die Norm mit deren Befolgung oder Nichtbefolgung, sondern auf den Rechtscode wie auf die binär negierende Codierung der normativen Differenz Befolgung oder Nichtbefolgung. Menschenrecht, Freiheit und Gleichheit befinden sich bei Luhmann also weniger auf der Ebene der Norm, sondern eher auf der Ebene der (Nicht-)Geltung, dieses Negationsverhältnis wird dann in die Form ‚Regel und Ausnahme‘ umgeschrieben. Die Freiheit und die Gleichheit stellen bei Luhmann nämlich einerseits die strukturellen Prinzipien der Gesamtgesellschaft dar, sie betreffen andererseits auch die Rechtsform ausschließlich im Rechtssystem. Bei ihnen kommt es daher nicht auf die konkreten Lebensverhältnisse der Einzelnen an, sondern es handelt sich um die Bezüge der Individuen auf die Funk tionssysteme. „Gleichheit kann nicht in den Zuständen der Individuen, sie kann nur in ihrer Beziehung auf die Gesellschaft (und das heißt jetzt: auf den Staat) erreicht werden.“139 Und diese gefragte Beziehung auf die Gesellschaft betrifft bedingte Zugänge zu Funktionssystemen: „Mit Gleichheit der Voraussetzungen für, und mit Freiheit der Entscheidung zur, Kontaktaufnahme mit spezifischen Funktionssystemen ist nichts anderes gemeint als: daß Ungleichheiten bzw. Konditionierungen des Freiheitsgebrauchs nur gerechtfertigt werden können, wenn sie von dem jeweiligen Funktionssystem selbst ausgehen.“140
Es ist also die Rechtfertigung von Ungleichheit und Freiheitseinschränkung, die den Ausgangspunkt des Menschenrechts als Problem des Rechts bildet. Dabei wird zugleich eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung vorausgesetzt und die Gleichheit gilt als „Paradigma für Menschenrechte“.141 139 Luhmann, Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., GuS 3, 1998, S. 197; vgl. auch ders., Rechtszwang und politische Gewalt, in: ders, AdR, 1981, S. 157. 140 Luhmann, Inklusion und Exklusion, in: ders., SA 6, S. 246. 141 RdG, S. 115. Man beachte: Dasselbe Rechtsprinzip wird auf verschiedene Sozialordnungen bezogen.
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
Die Behauptung, dass die Gleichheit als Menschenrecht, sogar als Paradigma der Menschenrechte gilt, soll eigentlich überraschen, wenn man sich daran erinnert, dass das Gleichheitsprinzip nicht nur für die moderne Gesellschaft, sondern seit der Antike und für alle Gesellschaften mit all ihren verschiedenen Differenzierungsformen immer als „das letzte Kriterium für die Zuteilung von Streitfällen auf Recht und Unrecht“142 angesehen wird. Da Recht (nicht) Unrecht sei, betrifft die Zuteilung von Recht und Unrecht anhand des (ewigen) Gleichheitsprinzips schließlich „ein Paradoxieauflösungs programm“.143 Es geht also genau um den rechtssysteminternen Vorgang der Entparadoxierung der Paradoxie des Rechts überhaupt, und zwar jetzt im Zusammenhang mit Menschenrechten. Auch in diesem Sinne wird das Problem der Gerechtigkeit behandelt. Oder anders gesagt: Man fragt hiermit nach der Gerechtigkeit der Gesellschaft überhaupt. Dabei wäre es aber besser, das unnötige Pathos zu vermeiden, da Luhmann zufolge die Gerechtigkeit einzig und allein als Rechtsproblem im Rechtssystem, nicht als ethisches Prinzip für die Gesellschaft ihren Sinn hat.144 Mit dem Thema Gerechtigkeit behandelt man universal die gesellschaftliche Welt aus der Perspektive des Rechts, mehr aber nicht. Wie erwähnt besteht die Pointe von Luhmanns Gleichheitstheorie darin, dass die Gleichheit keine Norm im Sinne kontrafaktischer Erwartung im Falle der Enttäuschung ist, zunächst auch keine Regel, sondern sie ist eine Form mit zwei Seiten. Die Gleichheit ist „ein Formbegriff, der davon lebt, daß es eine andere Seite gibt: die Ungleichheit. Gleichheit ohne Ungleichheit gibt keinen Sinn – und umgekehrt“.145 Die Menschenrechte betreffen nun die Beziehung eines Individuums zur Gesellschaft in einer vorhandenden Ordnung. Das Gleichheitsprinzip wird eingesetzt, um die genannte Beziehung zu prüfen; eben daher stellt die Gleichheit keine Norm dar, sondern sie enthält zwei Seiten: Gleichheit und Ungleichheit.146 Das 142 RdG,
S. 111. S. 112. 144 Vgl. RdG, S. 218 f., S. 237 f., S. 373 f.; RS, S. 188 f. 145 RdG, S. 111. 146 Das Prinzip der Gleichheit entfaltet seine Geltung nämlich nicht in einem leeren Raum, sondern es geht immer von einer bekannten, vertrauten, in gewissem Maße selbstverständlichen (Staats-)Ordnung aus, um zwischen Gleichheit und Ungleichheit zu unterscheiden. Sieht man das Gleichheitsprinzip schlicht als eine (höchste) Norm an, was oft passiert, wird man sofort dem Problem der Normenttäuschung ausgesetzt. Dies führt letztlich dazu, „die Frage nach dem Ausmaß realistisch erwartbarer Gleichheit gar nicht mehr zu stellen und endet damit, die Gesellschaft schlechthin für defekt zu erklären“ (Luhmann, Rechtszwang und politische Gewalt, in: ders, AdR, 1981, S. 158, Anm. 8). Der Gleichheitssatz als Norm bedeutet also das schnelle Ende des Gleichheitsproblems in Status quo. 143 RdG,
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Gleichheitsprinzip hegt also die Ungleichheit als eine Seite in sich, es macht eine Einheit der Differenz aus; es ist dabei selbstreferentiell (in fallbezogenen Anschlüssen der Form an Form) und stellt als reflexive Relation die Identität des Rechtssystems dar. Nach Luhmann kann man erst durch diese nichtnormative Gleichheitstheorie an die Gerechtigkeitstheorie von Aristoteles anschließen. „Verzichtet man auf einen Normbegriff der Gleichheit, gelangt man zu der aristotelischen Regel, daß Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln sei.“147 Die ‚richtige‘ Interpretation von Aristoteles soll demnach bei der Geltung, nicht bei der Norm ansetzen. Der Gleichheitssatz soll ‚entleert‘ – „die Entleerung des Gleichheitssatzes“ – und dann als formales Schema gleich / ungleich eingesetzt werden; die Gerechtigkeit ist insofern nicht mit der Gleichheit gleichzusetzen, sondern sie bedeutet das „Maß der Besinnung gegenüber den exzenssiven Ansprüchen aller Werte“ bzw. als „Maß der Mitte“.148 Das Gleichheitsprinzip stellt damit systemtheoretisch „ein Beobachtungsschema“ dar,149 eine Differenz, die anders als Norm verortet wird und das Rechtssystem als Ganzheit formt. Dabei ist wichtig, dass das Gleichheitsprinzip nicht von selbst schon die „Präferenz für Gleichheit“ ausdrückt, sondern es dient zum Entdecken der Ungleichheiten, die doch gleiche Behandlung verdienen und damit die entscheidende Anschlussfrage aufwerfen: gleich oder ungleich zu behandeln; und offenbar soll die dem Entdecken der Ungleichheit der Fälle dienende Gleichheit als ‚entleertes Schema‘ hierbei weiterhin von „den Gründen der Rechtsentscheidungen“ unterschieden werden.150 Die Gerechtigkeit bedeutet demnach keineswegs den höchsten Wert bzw. die Abwägung aller höchsten Werte.151 147 RdG,
S. 111. Grundrechte als Institution, 1999, S. 169 f., S. 181, S. 215. 149 RdG, S. 111. 150 RdG, S. 111. 151 „Wir beleidigen die Größe“ von Aristoteles mit den Deutungen der Gerechtigkeit als höchstes Wertes (Luhmann, Grundrechte als Institution, 1999, S. 181). Mit der Formtheorie der Gleichheit widerspricht Luhmann der gesamten Tradition der ethischen Rechtsphilosophie: Wie in Art. 3 Abs. 1 GG ist die Gleichheit in ihrer klassischen Form „nicht normiert, sondern in Form einer Feststellung postuliert“; das Gleichheitsprinzip hat, wie das physische Trägheitsprinzip, eine „Kontrastfunktion“, damit wird „die Selbstverständlichkeit der Gleichheit festgestellt, um die Begründungsbedürftigkeit jeder Ungleichheit dagegen ins Relief treten zu lassen“ und daran kann das Verlangen nach der Begründung der ungleichen Behandlung angeschlossen werden. Dagegen kann aber die rechtsphilosophische Tradition „zwischen dem formalen Gleichheitssatz und den Gründen der Rechtsentscheidungen“ nicht klar definieren. Dies bedeutet: In jedem Einzelfall werden Gleiches und Ungleiches immer gemischt und dies ist gerade die Bedingung für die Spezifikation und Begründung des Rechts; 148 Luhmann,
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Erst in Verbindung mit der aristotelischen Regel ermöglicht das Gleichheitsprinzip die Ungleichbehandlung: „Wenn Gleiches gleich behandelt werden soll, muß Ungleiches ungleich behandelt werden; denn sonst könnte das, was in bestimmten Hinsichten ungleich ist, nicht seinerseits von Fall zu Fall als gleich behandelt werden.“152
Bei der Anwendung der aristotelischen Regel könnte man nämlich die fallbezogenen Anschlüsse der Form an die Form beobachten. Die Setzung der Differenz wiederholt sich, dabei werden die Einheiten, die je durch eine gesetzte Unterscheidung – Einheit der Differenz – gewonnen sind, hinter einander geschaltet. Für die gleiche Behandlung der ungleichen Fälle wird dann die Differenz von Gleichheit / Ungleichheit noch einmal in die weitere Einheit der Differenz von Regel / Ausnahme überformt, wobei die Gleichbehandlung als selbstverständliche Regel die Seite der Regel besetzt und die andere Seite der Ausnahme gerechtfertigt werden muss. Insofern soll das Gleichheitsprinzip nach Luhmanns Analyse in der Tat zwei Differenzen zum Ausdruck bringen: Gleichheit / Ungleichheit und Regel / Ausnahme. Beide werden oftmals nicht klar getrennt. Durch ihr sorgfältiges Auseinanderhalten wird nun die Änderbarkeit und Entwicklung des Rechts analytisch erklärt. Dazu schreibt Luhmann: „Dem Recht wird ein Teilbereich des Andersseinkönnens konzediert. Diese Neuerung kann aber, und das ist bezeichnend, nicht anders artikuliert und befestigt werden als durch Rückgriff auf ein neues Prinzip der Invarianz und Unverfügbarkeit: den Begriff der Natur.“153
Das Naturrecht fungiert als Hebel für die Variation des Rechts.154 Die Pointe der Positivität des Rechts nach Luhmanns Theorie liegt nun darin, man muss zuerst Gleichheit und Ungleichheit wie Tatsachen feststellen, um notwendigerweise die ungleiche Behandlung zu rechtfertigen; es ist unmöglich, gleiche und ungleiche Behandlung als solche zu rechtfertigen. Aber die Rechtsphilosophie sieht in der Gleichheit bereits eine „Zentralnorm rechtsethischer Begründung“ bzw. einen „Rechtsgrund“ und verlangt nach der Begründung der gleichen Behandlung. Damit gerät sie in ein unlösbares Problem (Luhmann, ebd., S. 171 f.). Man könnte es so formulieren: Man vergleicht die Fälle zwar immer im Hinblick auf sachliche Tatbestände, aber die Gleichheit und die Ungleichheit sitzen auf der formalen Ebene, wovon die materialen Gründe für die Entscheidung über die gleiche Behandlung ungleicher Tatbestände zu unterscheiden sind. Für das Nachvollziehen des Gedankengangs liegt es wohl daran, bei dem Vergleich der konkreten, einzelnen Tatbestände die formale Dimension doch wahrzunehmen und zu erfassen. 152 RdG, S. 111. 153 Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: AdR, S. 120. 154 Der Durchbruch der Theorie des Naturrechts bei Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134 b 18 – 1135 a 5, (über die Unterscheidung von natürlich / gesetzlich) besteht nach Luhmann „nicht in einer neuen Grundlagentheorie für alles Recht, sondern
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dass das kontingente Recht nach wie vor auf etwas Unverfügbarem gegründet werden muss, traditionell heißt es: auf dem Naturrecht. Dieses Unverfügbare wird heute aber nicht mehr außerhalb des Rechts verortet, sondern (im Verfassungstext) ins kontingente Rechtssystem eingeschrieben. Angesichts des unlösbaren Problems der unendlichen Regression bleibt die Letztbegründung des Rechts nur dann möglich, sofern sich der unverfügbare Grund in die Selbstbegründung einschreiben lässt, nämlich in die Selbstreferenz des Rechts. In anderen Worten soll die Selbstreferenz – als Ersatz für das Naturrecht – etwas Unverfügbares bzw. Selbstverständliches (re-)produzieren können, was sich aber selbstwidersprüchlich anhört. In Luhmanns Sinne scheint das Rechtssystem nun gerade mit dem Gleichheitsprinzip seine Selbstbegründung zu erreichen und dies erklärt wohl, warum das Prinzip immer und überall in der Mitte des Rechtsdenkens und aller Rechtsordnungen steht. Zusammen mit der Form Regel / Ausnahme im Recht wird die Form gleich / ungleich selbstreferentiell und universal. „Die Unterscheidung gleich / ungleich enthält alles, sogar sich selber, denn auch der Gleichheitssatz muß auf alle Fälle gleich angewandt werden.“155 Und es gibt „bei seiner Anwendung nur gleiche und keine ungleichen Fälle“.156 Man schließt eben auf der Seite der Gleichheit an. Es gilt also immer und überall die Regel: Gleiches ist gleich zu behandeln und Ungleiches ist ungleich zu behandeln. Auf der Seite der Regel in einer Differenzierung, die sich quer stellt zum überlieferten Recht, das teils aus der Natur kommt und insofern überall einheitlich ist, teils auf menschlichen Selektionsleistungen, nämlich auf Satzung oder Gewohnheit, beruht und insofern verschieden und disponibel ist, also anders sein könnte“ (Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: AdR, S. 120, Anm. 16); vgl. auch ders., ebd., S. 124, Anm. 28 sowie S. 313 und Anm. 12. Den Gedankengang könnte man so nachvollziehen: Man geht von der Differenz physis / nomos (als zufällige Volksmeinung) aus, kommt über die Differenz Naturrecht / Menschenrecht und die Differenz invariant / variant bis zur Differenz Vergangenheit / Zukunft. Schließlich orientiert sich das moderne Recht nicht mehr an der abgeschlossenen Vergangenheit, sondern an der offenen Zukunft, was wiederum nur durch den Rückgriff auf die unveränderbare Vergangenheit ermöglicht wird. Vgl. auch Gelfert, Was ist gute Literatur, 2010, S. 49: Die ‚Natur‘ bei Aristoteles stellt eine bildende Kraft dar, die der schaffende Mensch nachzuahmen versucht, insofern spricht man von Mimesis; die Natur ist also nicht eine abzubildende, unbewegliche Realität bzw. ein Grund. In diesem Sinne würde nun das Recht eine unbegrenzte Varianz als sein invariantes Wesen bekommen, also völlige Kontingenz, wenn man gerade den Menschen, der alle möglichen Werte und Unterscheidungen erlaubt, anstelle der Natur ins Zentrum des Rechtssystems setzt. 155 RdG, S. 112. 156 RdG, S. 112. Der Gleichheitssatz enthält beide Seiten: Gleichheit und Ungleichheit; auch Ungleichheit ist nicht außerhalb, sondern innerhalb des Gleichheitssatzes. Nur die Seite der Gleichheit steht für den Anschlusswert, die Seite der Ungleichheit bleibt als Reflexionswert für andere Möglichkeiten.
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besteht der Anschlusswert. Damit durchdringt das Gleichheitsprinzip alle Teile des Rechtssystems, in denen es selber enthalten ist. Es bezieht sich auf sich selbst. Das Prinzip repräsentiert dann das Rechtssystem schlechthin, braucht keine Begründung und beschreibt die Autopoiesis des Systems. Kurz gesagt: Mit dem selbstreferentiellen Gleichheitssatz wird das Recht operativ geschlossen. Aber wo ist denn die Ungleichheitsseite der Form des Gleichheitsprinzips? Man könnte annehmen, dass die Ungleichheit in der Asymmetrie der Form Regel / Ausnahme zum Vorschein kommt. Die Regel ist nicht begründungsbedürftig, die Ausnahme ist aber zu begründen, sie machen beide sozusagen eine Hierarchie – hinsichtlich des Anschlusses – in der Rechtsordnung aus. Diese Hierarchie wirkt wie die Differenz natürlich / gesetzlich und ermöglicht ebenso die Invarianz / Varianz-Differenz vom Recht. Die traditionelle Gesellschaft kann die sozialen Ränge als Regel, Natur bzw. Wesen ansehen und von daher die Ausnahme begründen. Auch für die moderne Gesellschaft bleibt diese Struktur gültig, verändert wird „nur der Bezugspunkt“.157 Es wird nämlich von Natur auf Menschen umgestellt. Anstelle der Natur wird jetzt der Mensch als Selbstverständliches bzw. als Gleiches im Rechtssystem verankert. In diesem Sinne entwickeln sich die Menschenrechte historisch vom Naturrecht über die Verfassung (bzw. das Eigentum) bis schließlich hin zu den Menschenrechten. Dabei ist der Mensch aber nicht ein empirisches Einzelwesen, sondern „der Fluchtpunkt, in dem alle Werte im Unbestimmbaren konvergieren“.158 Der Mensch erlaubt alle möglichen Differenzen, ihm fehlt jede wesenhafte Identität. Auf diese Weise wird die ‚naturrechtliche‘ Verbindung des Gleichheitssatzes mit den Menschenrechten hergestellt. Für die Gesamtgesellschaft hat dies einerseits dazu geführt, dass alle Ungleichheit nur funktional bedingt werden soll. „Ungleich ist jetzt das, was im internen Operieren der Funktionssysteme als ungleich behandelt werden muß, damit diese ihre Funktion erfüllen können.“159 Dadurch erfährt das Gleichheitsprinzip andererseits eine „Dynamisierung des Gesamtsystems durch ständige Wiederholung der Frage, ob 157 RdG,
S. 112. S. 537. Der Mensch in diesem Sinne stellt nicht mehr „das besondere Sachding“ (SS, S. 131) mit einer bindenden Natur dar, wie bei Humanismus und Moralistik (vgl. SS, S. 119–122). Mit den Menschenrechten wird das Bild des Menschen unbemerkt, aber radikal geändert. Man könnte in ihm einen weiteren ‚differenzlosen Begriff‘ finden. Gerade weil er keine Wesensidentität hat, fungiert er als Träger der Sinnidentität, die die Variation ‚erleiden‘ kann. Er ist der invariante Stützpunkt für das kontingente Recht. 159 RdG, S. 112. Die Ungleichheit kann also nur funktional – für Problem-Lösung – gerechtfertigt werden. 158 RdG,
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etwas gleich oder ungleich sei“.160 Das Problem der Gleichheit – als Problem der Zugänge zu Funktionssystemen – wird permanent thematisiert. Was das Rechtssystem angeht, bezieht man die binäre Codierung Recht / Unrecht und die Rechtsprogramme ein. Aufgrund der binären Codierung differenziert sich das Rechtssystem im Gesellschaftssystem aus und grenzt sich von anderen Subsystemen ab. Der eigenständige Rechtscode ermöglicht – wie in Europa – erst die durchgreifende Juridifizierung der Gesamtgesellschaft. Die Diskrepanz zwischen dem Rechtssystem und der Gesellschaft wird dann vermittels der Rechtsprogramme überbrückt, die die gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten trotz der operativen Geschlossenheit der Funktionssysteme wieder ins Rechtssystem überleiten (operative und strukturelle Kopplung). Das Naturrecht hat seine Funktion genau darin, als invarianter Punkt die variierenden Programme im Rechtssystem zu verankern. Die Natur symbolisiert im System das Unveränderliche bzw. das Selbstverständliche, dessen konkrete Inhalte aber durch die Programme aus der gesellschaftlichen Umwelt ins System einzuführen sind; damit ermöglicht die ‚Natur‘ zugleich die Variation des Rechts. Die Natur steht nämlich für die Differenz Invarianz / Varianz im Recht, die durch das Gleichheitsprinzip – gleich / ungleich, Regel / Ausnahme – zu überformen ist. Es gilt dann festzustellen, welches gleich und welches ungleich zu behandeln ist, dabei wird die Form von Regel und Ausnahme eingesetzt.161 In diesem theoretischen Zusammenhang betreibt man historisch mit der Theorie des Sozialvertrags aufgrund der Abwandlungsfunktion der Natur semantik „naturrechtliche Abweichungen vom Naturrecht“,162 wobei das Widerstandsrecht schließlich unterbunden bzw. ausgeschlossen und die moderne Verfassung begründet wird. Diese Funktion des Naturrechts wird nun mit Menschenrechten erfüllt. Der Mensch in der Mitte des Rechtssystems symbolisiert einerseits das Unveränderliche und verankert andererseits die Rechtsprogramme, die variierend das Recht mit der Gesellschaft wie die Gesellschaft mit den Individuen zu koppeln haben. Dabei ist der Mensch als Formel wie Natur „nur noch ein Einheitsbegriff oder ein Rahmenbegriff für unübersehbare Komplexität“,163 ja wie erwähnt, ein „Fluchtpunkt, in 160 RdG,
S. 112. RdG, S. 191 f. Man sieht, dass in der ‚Natur‘ viele Dimensionen wie Form / Inhalt, System / Umwelt, Semantik / Struktur zusammenfallen. 162 RdG, S. 515. Dies geschieht in ähnlicher Weise, wie man sich auf das (Widerstands-)Recht beruft, damit der Verteidigung der hierarchischen Gesellschaft dient und letztlich dialektisch zur Ablösung der Hierarchie durch die funktionale Differenzierung führt. All dies bildet einen langen Prozess, der sich der Selbstbeschreibung des Rechtssystems – Paradoxie des Rechts – entzieht (vgl. GdG, S. 715). 163 Luhmann, Die Soziologie und der Mensch, in: ders., SA 6, S. 269. Der Mensch als unübersehbare Komplexität bedeutet dann unerschöpfliche Möglichkei161 Vgl.
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dem alle Werte im Unbestimmbaren konvergieren“. Der Mensch im Recht ermöglicht nämlich alle Gegensätzlichkeiten, wie sie sich in der Gesellschaft und in der Welt zeigen.164 Die außerhalb der Gesellschaft zu verortenden Individuen sollen dann anhand der Menschenrechte in die Gesellschaft eingeschlossen werden, die ihrerseits das Recht im Gleichheitsprinzip variant und kontingent machen. Bereits bei dem Gleichheitsprinzip kann man die Logik der Begründung der Menschenrechte bei Luhmann zusammenfassen. Die Menschenrechte bezwecken die Inklusion der Individuen in die funktional differenzierte Gesellschaft und damit die Teilnahme der Individuen an den Funktionssystemen. Dieser Auftrag wird sozusagen dem Rechtssystem übertragen. Anstelle der traditionellen Natur symbolisiert nun der Mensch im Rechtssystem die Kopplung von Rechtssystem und Gesellschaft und steht sowohl als Grund für Invarianz als auch als Differenz für Varianz. Der invariante Mensch ist der variierende Mensch. Die Einheit der Differenz von Invarianz / Varianz wird im Rechtssystem mit dem Gleichheitsprinzip behandelt und kommt zur Geltung, das sich seinerseits weiterhin in der asymmetrischen Form Regel / Ausnahme entfaltet. In dieser Weise wird ebenso bei den Menschenrechten die Einheit des Rechtssystems mit dessen Identität – Gerechtigkeit in Redundanz bzw. Konsistenz der Entscheidungen – gekoppelt. Das Gleichheitsprinzip stellt deshalb das „Paradigma der Menschenrechte“ dar. Die Besonderheit der Menschenrechte liegt nicht in irgendeinem Wesen des Menschen, sondern in der modernen Differenzierungsform der Gesellschaft. Der Wegfall der einwertiten, also unbegrenzte Kontingenz. Der Mensch hat eben „keinen festen Satz von Attributen“ (Schmitz, Logische Untersuchungen, 2008, S. 91). 164 Der Menschenbegriff steht parallel zu der Funktion der Welt-Semantik für die Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems (vgl. SS, S. 106). In diesem Sinne könnte man die Ist-Formulierung des Art. 1 GG verstehen. Zuerst möchte man mit dem Ist noch ein Naturrecht in die Menschenrechte hineinlesen (Luhmann, Das Paradox der Menschenrechte, in: ders., SA 6, 1995, S. 233). Weiterhin fungiert das Ist unter den Titeln Moral, Wert u. ä. „als Regeln der Schließung eines anderenfalls offenen Horizontes rechtlicher Argumentation“ (RdG, S. 474, Anm. 79), eben weil man mit dem Ist „eine irritierende Erfahrung“ macht, nämlich die Differenzerfahrung, dass es zu verschiedenen Aussagen kommt, „gerade wenn man Ist-Aussagen zu formulieren hat und Gesagtes auf Seiendes bezieht“ (GdG, S. 903). Insofern wirkt es immer einigermaßen wie ein ontologisches „ ‚[I]st‘ “, das auf unterstellte Notwendigkeit der Annahme einer Kommunikation verweist (SS, S. 205). Vgl. Sloterdijk, Luhmann, Anwalt des Teufels, 2010, S. 104: „Der Mensch wird wichtig, weil überzogene und enttäuschte Ordnungserwartungen nach Erklärung verlangen.“ Mit Luhmann aber würde diese Ist-Formulierung eher nahelegen, den Artikel 1 GG zunächst als Form bzw. als Einheit der Differenz und erst dann als Norm anzusehen. Dadurch wäre der Artikel 1 GG in Richtung Freiheit der Ablehnung zu lesen. Somit wäre die Einheit des Grundgesetzes in dieser Ist-Form zu bestimmen.
IV. Menschenrechte als quaestio iuris349
gen Seinsidentität des Menschen und die funktionale Differenzierung haben das ewige Fragen nach gleich / ungleich zur Folge, nämlich die permanent beunruhigende Frage nach den Bestimmungen des Verhältnisses des Individuums zur Gesellschaft, und zwar in Gestalt der Menschenrechte. Mit den Menschenrechten erreicht das Rechtssystem zugleich seine Selbstbegründung. Der ‚Mensch‘ legt die Leitdifferenz Invarianz / Varianz im Rechtssystem an und bringt sie damit mit dem Gleichheitsprinzip in Form von gleich / ungleich bzw. Regel / Ausnahme zusammen. Dadurch schließt der Mensch die Form an die Form an und ermöglicht den ‚re-entry‘ des Rechts. Die Selbstreferenz des Rechts im Prinzip der Gleichheit und die strukturelle Kopplung von Rechtssystem und dessen Umwelt werden zusammengedacht, beide fallen zusammen. Dann durchdringt das Gleichheitsprinzip das Rechtssystem, um die Form von Invarianz / Varianz konkret und fallbezogen zu gestalten. Die Gleichheit ist insofern selbstreferentiell, universal und zugleich asymmetrisch bzw. hierarchisch, das Rechtssystem wird operativ geschlossen und die Rechtsordnung wird errichtet. Die Selbstbegründung des Rechts wird damit geleistet, soweit die Operation des Systems weiter abläuft. Es kommt hierbei auf die Entscheidung der einzelnen Fälle an, wobei man von der Regel ausgeht und nur die Ausnahme – gleiche Behandlung der ungleichen Fälle – zu begründen ist. Dieselbe Logik gilt auch für die Freiheit als Rechtsprinzip. Im Kontrast zu dem anderen Rechtsprinzip Gleichheit könnte man aber als erstes bemerken, dass genau die Freiheit die moderne Gesellschaft als freie Gesellschaft kenn- und auszeichnet. Das Prinzip der Gleichheit steht stets im Mittelpunkt des Rechtssystems und gilt trotz aller einzelnen Variationen sozusagen naturrechtlich immer und überall, aber eben dadurch erweist sich die Freiheit als eigens modernes Rechtsprinzip und zieht sogar das Gleichheitsprinzip in ihren Bann.165 So wie die Gleichheit vor allem als Form von Gleichheit / Ungleichheit erscheint, nimmt die Freiheit die Form Freiheit / Einschränkung an. Erst dadurch können die ‚angeborenen und allgemeinen‘ Menschenrechte Freiheit und Gleichheit ihre Bestimmung erhalten. Und so wie das Naturrecht in Form Invarianz / Varianz ins Recht wieder eintritt, damit im Rechtssystem einerseits der Grund gegründet und andererseits die Abweichung von ihm ermöglicht wird, werden die allgemeinen Menschenrechte Gleichheit und 165 Man könnte damit den Zusammenhang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im Sinne der prinzipiellen Inklusion aller vor dem Hintergrund der Gesellschaftstheorie und der Formtheorie bei Luhmann einsehen. Man stößt dabei auf die ewige Schwierigkeit mit freier Gleichheit bzw. gleicher Freiheit, wobei die Freiheit die Rechtsform ebenso wie bei dem Gleichheitssatz annimmt und aber zugleich das Verständnis der Gleichheit gewissermaßen umgestaltet.
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
Freiheit je in ihrer Form eingeschrieben. Sie werden beide damit im Rechtssystem selbstreferentiell. Luhmann schreibt: „Die Freiheit muß rechtlich akzeptierte Einschränkungen, die Gleichheit muß rechtlich akzeptierte Ungleichheiten akzeptieren. Die ‚andere Seite‘ von Freiheit und Gleichheit wird in das Recht einbezogen, die Differenz selbst wird Gegenstand rechtlicher Regulierung, die über beide Seiten der beiden Unterscheidungen verfügen kann.“166
Die beiden Prinzipien sollen also „rechtlich“ eingeschränkt werden, dies heißt: selbstreferentiell negierend reguliert. Gemeint ist der Gesetzesvorbehalt in der heutigen Verfassung, der die Einschränkung und die Ungleichbehandlung rechtfertigt.167 Dabei soll es hervorgehoben werden, dass der moderne Freiheitsbegriff Luhmann zufolge grundlegend anders als der traditionelle ist. Bereits die Freiheit als Form mit beiden Seiten deutet auf die negative Seite hin. Sie ist die Freiheit – anders bei Hegel – nicht nur zur Perfektion, sondern zur Perfektion und Korruption. Man hat nicht mehr Natur als „Gabe“, womit man frei „für das Erreichen oder Verfehlen der eigenen Perfektion“ ist,168 sondern die modernen Menschenrechte schließen die negative Seite ein und deontologisieren in diesem Sinne die Seins ontologie mit ihrem einwertigen Freiheitsverständnis.169 Die Menschenrechte als Form stehen also auch auf der Seite des Unrechts. Sie bilden damit eine weitere Variante der grundlegenden Rechtsparadoxie: Recht sei (nicht) Unrecht. So wie der Verdacht des Unrechts zu beseitigen ist, gilt es hier die Einschränkung bzw. Ungleichheit zu begründen. Man kann auch die Freiheit und die Gleichheit nicht als Idee bzw. Prinzip im Sinne des differenzlosen Grundes gelten und das Recht auf sie ‚gründen‘ lassen; nicht ein Grund, „sondern eine Paradoxie“ – die Form – errichtet die Rechtsordnung, die selber ihre Kontingenz noch zu begründen hat.170 Die Gerechtigkeit, die traditionell als Idee des Rechts überhaupt in der Mitte des Rechtssystems steht, erscheint in diesem Zusammenhang als Kontingenzformel. Mit dieser Begründung der Menschenrechte soll man aber immer das Problem im Auge behalten, ob die Individuen mit der rechtlichen Regulie166 RdG,
S. 234 f. S. 575, Anm. 44 und S. 580. Man könnte von der rechtlichen Codierung von Freiheit und Gleichheit sprechen, die beiden Formen von Freiheit und Gleichheit werden dem Rechtscode unterzogen. 168 GdG, S. 917. Das Soziale ist traditionell nach seiner Natur „von sich aus auf das Gute hin geordnet“ (GdG, S. 939) und „es gibt demnach keine unguten Ziele und nichts absichtlich Schlechtes, sondern allenfalls Irrtum“ (GdG, S. 929). Dagegen hat man nun die Differenz-Freiheit, Freiheit zur Differenz (SS, S. 212), die Freiheit zur Ablehnung (SS, S. 205). 169 Vgl. RdG, S. 233–236. 170 RdG, S. 235. 167 RdG,
IV. Menschenrechte als quaestio iuris351
rung effektiv in die Gesellschaft inkludiert werden, vom ‚Naturzustand‘ in den ‚Zivilzustand‘ übergehen und an den Funktionssystemen teilnehmen. Luhmanns systemtheoretische Begründung bzw. Beschreibung der Menschenrechte geht von der Leitdifferenz vom Rechtssystem und seiner Umwelt aus. Die Menschenrechte – Freiheit und Gleichheit – fungieren als bestimmende Prinzipien des modernen Gesellschaftssystems, insofern geht es insbesondere um die multiplexen strukturellen Kopplungen zwischen den Funktionssystemen wie zwischen der Gesellschaft und dem Individuum. Weiterhin kommt es darauf an, wie die Menschenrechte rechtssystemintern zu handhaben sind, wobei die Einheit des Gesellschaftssystems ohnehin aufgrund des binären Rechtscodes ins Rechtssystem überformt wird. Das Rechtssystem ist ausschließlich für Recht und Unrecht zuständig, hierbei müssen die Probleme mit Menschenrechten, insbesondere duch die Verbindung mit dem ‚natürlichen‘ Rechtsprinzip der Gleichheit, als Rechtsfrage beantwortet werden. Daraus resultiert die Aufgabe für Juristen: die Entparadoxierung der Paradoxie des Rechts, um die Sinnbestimmtheit der Menschenrechte zu erreichen. Die soziologische Beschreibung des Rechtssystems setzt nach Luhmann die rechtssysteminterne Selbstbeschreibung voraus und nimmt diese interne Perspektive als Ausgangspunkt an, obwohl die soziologische Theorie doch aus einer anderen, inkongruenten Perspektive ihre Beobachtung einübt. Vor diesem Hintergrund zielt Luhmanns Beschreibung der Menschenrechte aber vor allem auf ihren juristischen Charakter ab. Auf diese juristische Aufgabe hin werden die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit zuerst als Form mit beiden Seiten bestimmt, sie fungieren als Beobachtungsschema. Die doppelseitige Form – Gleichheit / Ungleichheit wie Freiheit / Einschränkung – wird dann mit ihrer Selbstreferenz in die Differenz Regel / Ausnahme übersetzt und dadurch mit der Differenz von Invarianz / Varianz zusammengebracht, die nun anhand des ‚Menschen als Grund‘ im Rechtssystem verankert wird. Damit werden die Menschenrechte in die binäre Rechtsform gebracht und auch bei Menschenrechten soll man mit Recht und Unrecht rechnen. Mit dem Verankerungspunkt Mensch entfalten die Menschenrechte eine hohe Dynamik im Rechtssystem und damit in der Gesellschaft. Dabei ermöglichen die Prinzipien Gleichheit und Freiheit eine Ordnung durch die regelmäßigen Anschlüsse, während man mithilfe dieser Beobachtungsschemas nur die Ausnahme zu begründen hat. Nun ist es wohl nur üblich, dass Juristen sich mit dieser Vorgehensweise schwer tun. Man begnügt sich nicht mit einer juristischen Handhabung, sondern man strebt rechtsphilosophische Begründungen an. Bei Noll werden die Menschenrechte dann zum Beispiel entgegen Luhmanns Theorie auf das ‚Sein‘ gegründet, das sowohl Materie als auch Geist enthält. Dabei wird die
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
Materie in der Tendenz der Welt zur Entropie, also Auflösung der Ordnung, gesehen und gegen die Entropie entsteht mit der Negentropie die Zeit, die eine Richtung anzeigt und deshalb Ordnung ausdrückt, insbesondere in der ‚Gerichtetheit des Denkens‘ bei jedem Individuum. Dies bringt zugleich die Geistigkeit im Gegensatz zur Materie zum Ausdruck und macht den anderen, geistigen Aspekt des Seins aus. Für diese Geistigkeit steht das menschliche Selbstbewusstsein par excellence. „Der letzte Grund ist die Geistigkeit selbst, wie sie in den Formen von Selbstbewusstsein in Erscheinung tritt.“171 Mit dem ‚Sein‘ werden die Menschenrechte also auf das geistige Selbstbewusstsein gegründet. Mit der Begründung der Geistigkeit als transzendentes Prinzip aus der physikalischen Theorie, was m. E. schließlich eine moderne metaphysische Spekulation im Gewand der Naturwissenschaft darstellen könnte, sollen Luhmanns Theorien wie strukturelle Kopplung, operative Geschlossenheit der Sozialsysteme und insbesondere die Abgrenzung von gesellschaftlicher Kommunikation und individuellem Bewusstsein unterlaufen und widergelegt werden. Damit soll auch die Paradoxie des Systems verschwinden, weil die vermeintliche Paradoxie aus der Verkennung wie Verneinung der Substanzhaftigkeit der Geistigkeit des Seins entsteht. „Die Welt wird erst durch die Negation des Geistes zum Paradoxon. […] Eine tote Welt bleibt also letztlich paradox.“172 So erscheint Luhmanns Entfaltung der Paradoxie, nämlich die Begründung des Rechts sowie der Menschenrechte, nur als Folgeproblem der Geistigkeit des Seins. Luhmanns systemtheoretische Welt, die nach Noll „eine tote Welt“ darstellt, kennt aber gar nicht diese Geistigkeit. Im Gegensatz dazu soll man aufgrund der Geistigkeit des Seins bzw. des Selbstbewusstseins nun nicht mehr „das Problem der Letztlegitimation“ haben,173 weil die dafür notwendige Entscheidung einerseits „als Äußerung eines bei seiner Formgebung naturgemäß freien Willens“ zu betrachten ist und andererseits als „eine Bewusstseinsleistung und daher als solche bereits begründet“ wird.174 Die bei Luhmann unlösbare Paradoxie des Rechts, die Noll in der Unvereinbarkeit der Vernunft von außen und der Positivität von innen lokalisiert, wird durch die nicht tote, sondern lebendige Geistigkeit als Natur des Menschen aufgelöst. Luhmann folgt demnach einem „Kollektivkult“, sieht im Individuum nur seine Funktion für die gesellschaftliche Autopoiesis; aber 171 Noll,
Die Begründung der Menschenrechte bei Luhmann, 2006, S. 301. Die Begründung der Menschenrechte bei Luhmann, 2006, S. 300. 173 Noll, Die Begründung der Menschenrechte bei Luhmann, 2006, S. 301. Obwohl Luhmann in dem ‚cogito, ergo sum‘ das erste Modell der Selbstreferenz sieht, wird ihm nun die Negation der Geistigkeit vorgeworfen. 174 Noll, Die Begründung der Menschenrechte bei Luhmann, 2006, S. 301 f. 172 Noll,
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nun mit der genannten Geistigkeit des Seins wird doch gezeigt, „dass sowohl die Freiheit als auch die Würde des einzelnen Individuums im präwie im postautopoietischen Kontext der Luhmann’schen Systemtheorie auch vor dem Hintergrund einer Nachordnung des Individuums hinter die Gesellschaft unentbehrlich bleiben.“175 Die Systemtheorie führt nämlich zur Entwürdigung des Menschen und zeigt ihre Blindheit für die nationalsozialistische Vergangenheit auf. Gegen die Geistigkeit des Menschen hat wohl niemand etwas einzuwenden. Abgesehen von theoretischen Details176 weiß man mit den wiedergegebenen rechtsphilosophischen Anstrengungen nur noch nicht, wie man aufgrund der ‚Geistigkeit des Seins‘ rechtlich mit Menschenrechten und Menschenwürde umgehen und seine juristische Aufgabe erfüllen soll. Außerdem macht man sich ebenso nicht klar, welche ‚gesellschaftlich strukturell bedingten‘ Probleme ausgewachsen sind und ihre ‚katastrophalen‘ Wirkungen üben. Und warum kann man mit der Geistigkeit des Seins bzw. dem menschlichen Selbstbewusstsein außer der Würde nicht auch ‚die Unwürde des Menschen‘ begründen? Nach Luhmann tut sich insbesondere die 175 Noll,
Die Begründung der Menschenrechte bei Luhmann, 2006, S. 303. Kritik von Noll an Luhmanns angeblichen Konzeptionsfehlern setzt bei Luhmanns für Noll unangemessener Zeittheorie an, siehe Noll, Die Begründung der Menschenrechte bei Luhmann, 2006, S. 75 ff. Nach Noll reduziert die traditionelle Zeittheorie die Gegenwart auf einen unendlich kleinen Punkt; sie gehört aber weder der Zukunft noch der Vergangenheit an, in ihr geschieht ein unbegründbares Umschlagen von der Zukunft in die Vergangenheit. Diese alte Zeittheorie ist nun falsch, weil – dies nach Prigogine sowohl mathematisch als auch physikalisch begründet – zwischen Zukunft und Vergangenheit nicht ein Punkt, sondern ein Intervall, eine Übergangsschicht, besteht. Aber mit seiner Theorie des momenthaften Ereignisses als kleinstes Element des Systems sieht Luhmanns Zeittheorie in der Gegenwart immer nur einen Punkt, bei ihm gibt es keine Dauer. Nolls Ansicht ist hier schon fragwürdig, weil Luhmann doch zwei Arten von Gegenwart unterscheidet: irreversible (Zeitpunkt) und reversible (Dauer), vgl. dazu Luhmann, SS, S. 116 f. Weiterhin will Noll mit dem Phänomen der zeitlichen Dauer die Konzeption der operativen Geschlossenheit des Systems in Frage stellen, weil diese aufgrund der momenthaften Ereignisse etwas ermöglichen will, was als auf einer erweislich falschen Zeittheorie gegründet erscheint. Dann wird die strukturelle Kopplung der Systeme problematisiert, da mit den jeweiligen Verkettungen der Ereignisse jedes System seine eigene Systemzeit erzeugt, aber die strukturelle Kopplung „einen abrupten Wechsel vom einen System zum anderen“ (Noll, ebd., S. 81) erfordert, was zeittheoretisch wieder unmöglich sein soll. Aber die Systeme werden doch faktisch irgendwie miteinander gekoppelt. Daraus kommt Noll zu dem Schluss, dass die Abgrenzung der Systeme nicht absolut sein kann und ein transzendentes Prinzip bestehen muss. Aus diesen Gründen ist die Konzeption der operativ geschlossenen, temporalisierten Systeme also grundsätzlich falsch. Hier wird m. E. die Schwierigkeit mit der Vorstellbarkeit der unitas multiplex des modernen Gesellschaftssystems berührt, offenbar bildet die Theorie der operativen und strukturellen Kopplung eine auch für Noll nicht zu nehmende Hürde. 176 Die
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
Rechtsphilosophie schwer mit dem Abbruch des Grunddenkens, aber man verfehlt damit die Frage nach der Möglichkeit der Konsistenz angesichts der Kontingenz des Rechts – die beunruhigende Identität des Rechts. 3. Menschenwürde und strukturell bedingte Benachteiligungen Mit der Entstehung der Weltgesellschaft überschreitet das Problem der Menschenrechte im Hinblick auf die individuelle Inklusion in die Gesellschaft den Rahmen des Verfassungsstaates. Dafür muss eine Rechtsordnung ohne einen korrespondierenden Staat errichtet werden, wobei sich eine Differenz von ‚Universalist und Relativist‘ herausbildet. Daraus resultiert eine Situation, dass einerseits „diese Differenz“ den nötigen und letzten Rechtsschutz gegen staatliche Willkür thematisiert, andererseits aber die politischen Prozesse wie zuvor weitgehend den einzelnen Staaten überlassen werden, so dass die im modernen Staat „zuerst erfahrene Diskrepanz von Politik und Recht“ in dem nun welteinheitlichen Rechtssystem noch stärker und eindringlicher wahrgenommen wird.177 In diesem Zusammenhang geht es zum einen um die „ ‚Kollektivrechte‘, insbesondere [das] Recht[es] auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung von Nationen, Ethnien“, dabei kommt es wiederholt zur Gewalt als ultima ratio; zum anderen werden die Menschenrechte nicht nur als Abwehrrechte, sondern vielmehr als Versorgungsrechte verstanden.178 Diese Entwicklung hat nach Luhmann die Gefahr der Ideologisierung zur Folge und verbindet dabei die Ansprüche auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung mit Sozialarbeit und Entwicklungshilfen zu einem unentwirrbaren Komplex.179 Diese Tendenz hat weiterhin zur Konsequenz, die Aufmerksamkeit für Verstöße gegen Menschenrechte auf die „Zone des unbedingten Schutzwürdigen“ wie auf „weltweite Menschenrechtsverletzungen von eindeutiger 177 RdG, S. 576 f. Im Zusammenhang mit der Differenz von universal / relativ im Hinblick auf die Menschenrechte könnte man auch die Differenz von univeral / partikular als ‚Sinnform‘ für die Weltgesellschaft in Betracht ziehen (vgl. GdG, S. 930 f.). Die Universalität bezieht sich auf die Funktionssysteme, die Partikularität auf die regionale Tradition und Identität. Trotzdem wird im Gefüge dieser Sinnform nach Luhmann die ontologische Denkform des Ganzen bereits aufgegeben. Im Gegensatz dazu will der Patriotismus die regionalen Differenzen registrieren, darüber hinausgehen und auf eine kosmopolitische Politik der Solidarität abzielen; die weltweite Differenzierung der Funktionssysteme wird dabei schlicht ignoriert (vgl. GdG, S. 949, S. 955). Der (weltbürgerliche) Patriotismus ist in Luhmanns Sinne in der Tat gegen die Moderne gewendet und mündet sogar als „Endform“ in die weltweite Missionierung und den Eurozentrismus. 178 RdG, S. 577 f. 179 Vgl. GdG, S. 626, S. 632 f.
IV. Menschenrechte als quaestio iuris355
Eklatanz“ zu konzentrieren.180 Man verliert aber oftmals gerade mit der Menschenwürde Verstöße gegen die Menschenrechte aus den Augen, weil nun nur die skandalösen Fälle den Menschenrechten im Namen der Menschenwürde zur Geltung verhelfen können, die selber damit gewissermaßen inflationiert wird; man bleibt aber genau dadurch blind für „Menschenrechtsverstöße“, indem die alltäglichen und üblichen Verstöße gegen die Menschenrechte übersehen und hingenommen werden, eben weil die Realität ohnehin immer so ist.181 Die Menschenwürde scheint der Verletzung der Menschenrechte dadurch paradoxerweise ein Alibi zu liefern. Ein Rechtstext wie ein Verfassungstext hilft in dieser weltgesellschaftlichen Dimension auch nicht weiter.182 Offenbar geht es hier um das Geltungsproblem der Menschenrechte überhaupt, das in der Menschenwürde zum Ausdruck gebracht wird. Es kommt auf die gesellschaftliche Struktur an, die einen Rechtstext (eine Schrift) erst zum Anlass der sozialen Kommunikation macht oder eben nicht.183 Diese strukturelle Schwierigkeit wird darin gesehen, „daß die strukturelle Kopplung des politischen Systems und des Rechtssystems über Verfassungen auf der Ebene der Weltgesellschaft keine Entsprechung hat“.184 In der Weltgesellschaft verfügt das politische System nämlich nicht mehr über die Höchstposition eines Souveräns. Dadurch verliert das Verfassungsrecht den Staat als seinen abstützenden Kontrapunkt, was nun sowohl in einzelnen Staaten als auch im ganzen System zur Lähmung der Logik des Verfassungsstaates (bzw. Verfassungstextes) führt. Dieser Vorgang legt es Luhmann zufolge nahe, die Menschenrechte nicht mehr nur als einzelnen Personen verfügbare, subjektive Rechte, son180 RdG,
S. 578–579. S. 579. 182 Dies ergibt sich aus mehreren Gründen. Der Staat ist immer in der Lage, das positive Recht – auch bei deutlichen Formulierungen – zur Verdeckung des Rechtsbruchs zu benutzen und man hat Probleme mit den gerichtlich umsetzbaren Formulierungen der Menschenrechte; dabei fehlt es oft gerade in den betreffenden Staaten an rechtsstaatlichen Mitteln, zumal man sich mit den Menschenrechten immer mehr um die Versorgung durch den Staat kümmert, nicht um die Abwehr gegen den Staat. In diesem Zusammenhang spielen die USA eine auffallende Rolle: Sie fungieren zugleich als Richter, Sanktionsmacht und Verweigerer der völkerrechtlichen Menschenrechte (siehe RdG, S. 578–580). Am drastischsten könnte man das Problem des gesprengten Rahmens unter anderen Fällen darin sehen, dass die Unterzeichnung des Viermächte-Statuts für einen Internationalen Militärgerichtshof zur gerechten Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher und die auslöschende Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki mit zwei Atombomben durch die USA „in der gleichen Augustwoche von 1945“ stattfinden (Klenner, Signum des 20. Jahrhunderts, 2003, S. 615). 183 Vgl. SS, S. 151. 184 RdG, S. 582. 181 RdG,
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dern auch als Pflicht des Staates zu konstruieren. Immerhin hat der Staat erheblichen Spielraum, um die Menschenrechte mit Sanktionen zu regulieren. Dabei kommt es wiederum auf die gestaltende Entfaltung der Rechtsformen Freiheit und Gleichheit an.185 Genau hierin kann man zugleich erblicken, dass es schließlich „immer um die Entfaltung einer fundamentalen Paradoxie“, also immer um die Paradoxie der Selbigkeit von Recht und Unrecht, geht, die historisch das Naturrecht wie die Vertragstheorie und dann den Verfassungsstaat bis zur heutigen Weltgesellschaft durchläuft.186 Die weltgesellschaftliche Paradoxie des Rechts als ‚Zentrum des Weltrechts‘ lässt sich nun nur mit der Menschenwürde beobachten. „Von Eklatanz der Verstöße wird man nur mit Bezug auf Menschenwürde sprechen können.“187 Und allein damit darf man über Europa hinaus „erwarten können, daß die Weltgesellschaft sich durch drastische Unerträglichkeiten hinreichend skandalisieren läßt, um ein von regionalen Traditionen und von regionalstaatlichen politischen Interessen unabhängiges Rechtsnormengerüst zu konstituieren“.188 In diesem Sinne blitzt die Paradoxie bei Menschenrechten gerade mit ihrer Verletzung auf. Luhmann nennt dies „das zeitgemäße Paradox“.189 Die Paradoxie ist „zeitgemäß“, weil mit der Menschenwürde die Verletzung der Menschenrechte auch ohne die Stützung des staatlichen Verfassungstextes die Menschenrechte gründet; die Verletzung setzt die Differenz(erfahrung) und leistet damit die Begründung.190 Hier geht es nämlich um die unsere Zeit kennzeichnende Paradoxie als Problem der kommunikativen Unbestimmtheit und um die sich daraus aufdrängende Entscheidungslage.191 Mit der Begrün185 RdG, S. 580 f. Eine andere Möglichkeit, eine staatslose Rechtsordnung aufgrund der Pflicht zu errichten, erfordert eine anders gestiftete Tradition und Einheit wie bei dem jüdischen Recht (vgl. RdG, S. 574). 186 RdG, S. 581. 187 RdG, S. 580. 188 RdG, S. 581 f. 189 RdG, S. 581. 190 Vgl. Luhmann, Das Paradox der Menschenrechte, in: ders., SA 6, 1995, S. 234 f.: „Die Geltung der Norm erweist sich an ihrer Verletzung. […] sollte man sich nicht scheuen, das Menschenrechtsparadox in seiner gegenwärtig dominierenden Gestalt als Paradox zu bezeichnen.“ 191 Somit ist auch „die Diskussion über die Tragweite des spezifischen europäischen Traditionsgutes erledigt“ (RdG, S. 581). Dieses abzulösende Traditionsgut – „eine europäische Anomalie“ (RdG, S. 586) – könnte die einwertigen seinsontologischen Begründungstheorien meinen. Aber es heißt nicht Absterben. Die griechischrömisch-christliche alteuropäische Tradition, „die moderne Gesellschaft in ihrem Entstehen begleitet“ hat, kann „nicht absterben […], weil sie ständig negiert werden und dafür zur Verfügung stehen muß“ (GdG, S. 894 f.). Dies bedeutet, dass das Tra-
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dung durch die Verletzung in der weltweiten Skandalisierung der Menschenwürde könnte man auch in Luhmanns Sinne behaupten, dass die ‚Universalität der Menschenrechte‘ nicht auf irgendeiner Sinninhaltsbestimmung, sondern exakt auf der nichts bedeutenden Negation gründet, die in der Verletzung zum Vorschein kommt.192 Die Menschenwürde hat keine Wesenheit,193 sie ist insofern ditionsgut nicht eliminiert, sondern durch Negation von Sinn in „Gegensinn“ verwandelt wird und in Kommunikation „nur latent mitgegeben, nur als abwesend anwesend“ sein kann (SS, S. 204). Das Ende des europäischen Normativismus stellt die Umstellung von der einwertigen auf die zweiwertige Ontologie dar. Und dies wird manifest in Menschenrechten, in der „Freiheit […], anzunehmen oder abzulehnen“ (SS, S. 205), in der „Freiheit gebende[n] Differenz“ (SS, S. 212), in der „Freiheit im Umgang mit Moral“ (SS, S. 216), in der Problematisierung der Anschließbarkeit und in dem Bestehen der anderen Möglichkeiten auf der anderen Seite. Gerade jetzt „steht die moderne Gesellschaft erst am Anfang“ hinsichtlich semantischer Veränderungen, so schreibt Luhmann, GdG, S. 1142, ebenso im Zusammenhang der Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft liest man in Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, 1988, S. 67 f.: „Wir stecken in den Anfängen!“ 192 Es klingt wohl unverständlich, absurd, zynisch, schließlich kaltblütig und bösartig, wenn man die Menschenrechte gerade in ihrer Verletzung selbstreferentiell begründet sehen will. Man erinnere sich aber daran, dass das Paradox als ein allgemeines kommunikationstheoretisches Problem (SS, S. 207 f.) und als eine Sperre der Kommunikation (SS, S. 211) gilt. Insofern sind die Menschenrechte und ihre Verletzung als Kommunikationsangebot ‚zeitgemäß‘; man wird nämlich mit dem Problem der Anschlussakte wie der Entscheidung angesichts der Unbestimmtheit und Offenheit konfrontiert (vgl. SS, S. 204). Man frage sich also: Was denn tun? Die Verletzung fungiert als ein Ereignis, als „Negativum“, das zu Selbstfestlegung und Strukturaufbau zwingt (SS, S. 170). Logisch gesehen ist die Selbstreferenz eine Relation, nämlich Identität, und mit Selbstreferenz beziehen sich die Menschenrechte auf sich, benennen sich und machen sich mit sich selber ‚vertraut‘. Die Relation der Identität ist zirkulär und letztendlich undefinierbar, man kennt die Identität (und die Verschiedenheit) nur durch die Vertrautheit und den Aufweis der Exemplare, nicht durch einen logischen Beweis [vgl. C. II. 2. d)]. Wenn nun auf eine externe Begründung anhand irgendeines Grundes verzichtet wird und die Letztbegründung nur in Form der Selbstbegründung möglich bleibt, dann wird sie nur als Paradoxie erbracht, da alle Begründung letztlich in der Selbstreferenz im Sinne des Vertrautmachens besteht. Erst damit kann die Identität einer Sache, hier: der Menschenrechte, wahrgenommen werden: Also existiert die genannte Sache, sie hat ihre (nichts bedeutende) Wirklichkeit. Dies kann dem Descartes’ Satz ebenso abgelesen werden. Das Problem des Rechts der Weltgesellschaft besteht nach Luhmann eher darin, dass es an Konstruktionen der Rechtsdogmatiken auf dieser Ebene durchgängig fehlt (RdG, S. 20). Deshalb kann man nur auf die ursprüngliche Form des Rechts zurückgreifen: Gewalt, Verletzung, Schmerzen, Schreien u. a., womit man kennt, dass die Identität des Rechts berührt wird. Mit Schmitz: Man ist gezwungen, in das Urbild der Identität als Eindeutig-Unbestimmtem zu regredieren. Und erst mit der Verletzung, und zwar mit skandalöser und besonders strukturell bedingter Verletzung, nimmt man die Abweichung wie die Normativität wahr, die ihren Ursprung in der Identität hat (vgl. RdG, S. 128; SS, S. 236–240, über Redundanz und Differenz). Damit kann das
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„ ‚unantastbar‘ und ist folglich so zu interpretieren, daß Verletzungen nicht als solche deklariert werden müssen. Alles ‚supertangling creates a new inviolate level‘, auf den das System sich beziehen kann, wenn es die eigene Autopiesis bezeichnen will und deren Erfordernisse zu operationalisieren hat. Aber das heißt nichts anderes als: sich als notwendig (oder natürlich) vorzustellen, was einem Beobachter als kontingent (oder artifiziell) erscheint.“194 193
Die Menschenwürde bildet danach durch den Selbstbezug eine nicht zu unterbrechende Ebene in dem System, die zugleich die kontingente Autopoiesis zur ‚natürlichen Notwendigkeit‘ macht. Sie stellt in der Tat die Selbstreferenz des Systems dar, wobei die negierende Verletzung gar nichts bedeutet und damit die Autopoiesis hervorbringt.195 Das Wesen der Menschenwürde bedeutet also nichts, ihr entspricht nichts; sie sitzt als der blinde Fleck im Zentrum des Rechtssystems und ermöglicht die (Nicht-) Geltung, die nun in der Verletzung aufblitzt. Die selbstreferentielle Menschenwürde ist zwar ebenfalls (selbst-)begründend, aber nicht als Norm; sie ist mit der inneren Negation zweiwertig, schließt erst dadurch Ego und Alter Ego weltweit ein und weist damit die Universalität der Menschenrechte auf.196 Die Begründung der Menschenrechte durch deren Verletzung weist zugleich auf die Dimension der die (Nicht-)Geltung konditionierenden gesellschaftlichen Struktur hin, die in doppelter Kontingenz ihren zweiwertigen Problem der strukturellen Kopplung von Gesellschaft und Individuum auch deut licher ins Bewusstsein aufgenommen werden. 193 Die Ist-Formulierung in Art. 1 GG soll nicht darüber hinwegtäuschen (Luhmann, Das Paradox der Menschenrechte, in: ders., SA 6, 1995, S. 233). 194 Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, 1990, S. 191. ‚Inviolate level‘ und ‚Supertangling‘ betreffen m. E. in der Tat den in der (scheinbaren) Antinomie des Selbstbewusstseins auftauchenden Zirkel der Identität von Subjekt und Objekt (a = a wie a = b). Eine seltsame Schleife (strange loop) stellt eine verwickelte Hierarchie dar; sie entsteht dadurch, dass eine einfache Hierarchie mit säuberlich getrennten Ebenen „sich zurückfaltet auf eine Art, die der Hierarchie Gewalt antut“; „hier springt etwas im System heraus und wirkt auf das System ein, als wäre es außerhalb des Systems“ (siehe Hofstadter, Gödel, Escher, Bach, 2001, S. 736). Das herausspringende und sich auswirkende Etwas ist ja die reflexive Identität (a = a = a usw.), sie ist selbstbezüglich und sozusagen vor und hinter sich laufend. Vgl. C. II. 2. e) dd). 195 Vgl. SS, S. 58 f., S. 395; mit der Menschenwürde als nicht zu unterbrechende Ebene des Rechtssystems könnte die Verfassung zugleich die „Selbstverewigung“ erreichen (RdG, S. 474). 196 Eine Norm kann an alle adressiert werden, ob sie verbindlich oder nicht verbindlich gilt, stellt eine andere Frage auf. Man soll also zwischen „Adressiertheit“ und „Perspektivität“ unterscheiden (Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand, 1995, S. 331, vgl. ebd., S. 361), die der Differenz in Luhmanns Sinne entspricht. Insofern liegt es bei der Universalität der Menschenrechte viel eher an dem Dissens als dem Konsens.
IV. Menschenrechte als quaestio iuris359
Grund hat. Die eigentliche Relevanz der Menschenrechte machen dann „strukturelle Benachteiligungen“ aus.197 Darunter könnte man verstehen, dass das mit der Struktur zu regulierende Negationsverhältnis in doppelter Kontingenz in ein einwertiges Verhältnis (zurück-)fällt, indem die normative Sinninhaltsbestimmung mit dem Wert einer Seite festgebunden wird. Die Rechtsformen Freiheit und Gleichheit fordern nämlich auf, das Festschreiben der unumkehrbaren „Rollenasymmetrien durch eine externe Referenz“ auszuschalten: Die akzeptablen Asymmetrien in Funktionssystemen dürfen nicht durch eine externe, in den Rollen nicht disponible Referenz generalisiert werden, die dürfen sich nicht auf einen externen Grund berufen und führen damit strukturell bedingte, nicht nur fallbedingte, sondern zwischen Funktionssystemen transversale Benachteiligungen herbei.198 Die Asymmetrien, die mit der Geltung hervorgebracht werden, dürfen also nur fallbezogen und kontingent bleiben, nicht strukturell und daher notwendig sein.199 197 RdG,
S. 581. S. 580. Für die strukturelle Benachteiligung steht die Rasse nur als das verfänglichste Beispiel, auch Frauen, Arbeitspersonen und „religiös besetzte Gegenstände oder Symbole“ zählen dazu; diese „strukturell eingebaute Tendenz zur Deformation“ geht nach Luhman auf die Ontologie zurück, weil man in ihr darauf besteht, dass etwas nur etwas sein kann (GdG, S. 896). Es gilt hervorzuheben, dass der strukturelle Charakter der Benachteiligung der Menschenrechte auf der humanistischen Aufwertung des Menschen beruhen könnte, weil in das ‚Wesen des Menschen‘ ja alles – auch die Rasse – hineingelesen und ontologisch verankert werden kann. Es stimmt daher nicht, wenn man Luhmann immer Vernachlässigung der Nazi-Vergangenheit vorwirft. Als Beispiel dafür siehe Mahlmann, Katastrophen der Rechtsgeschichte und die autopoietische Evolution des Rechts, 2000, S. 247–277. Eine verkehrte Variante des Humanismus könnte man sich damit vorstellen, dass man nun mit Moral spielend und eine Politik des richtigen Bewusstseins betreibend das ‚Wesen Mann‘ als ein strafrechtliches bzw. ordnungswidriges Tatbestandsmerkmal liest und es mit lebenslang schwer lastenden Folgen koppelt, wobei der prozessuale Schutz (due process) schon aufgrund des Wesens so ignoriert werden kann, dass der Beschuldigte von vornherein an das Unrecht festgenagelt wird. Man hätte den „Sinn für Angemessenheit“ (Klaus Günther) konsultieren können; im Hinblick auf den Satz von Descartes könnte man mit Luhmann sagen: Es fehlt leider an ‚falschem Bewusstsein‘ und an einem ‚Bewusstsein von Falschheit‘. 199 Die Asymmetrien bleiben notwendig, aber ihre Legitimation beruht nicht mehr auf der Ständeordnung und Schichtabhängigkeit, sondern sie sollen nur durch ‚schichtunabhängige und funktionsspezifische Generalisierung und Unterscheidung‘ errichtet werden (vgl. dazu GdG, S. 739). Dabei bestehen die Schwierigkeiten nicht in der sogenannten sozialen Klasse, sondern darin, dass die moderne Gesellschaft sich an Rationalität orientiert und darüber in zahllosen Organisationen entschieden wird, wobei man sich an der Herkunft und anderen sichtbaren Zeichen für Rationalität orientiert; da die Karriere bereits „zum wichtigsten Mechanismus der Integra tion von Individuen und Gesellschaft“ wird, entsteht aus all diesem die zwar auf Zeit, aber doch spürbare schichtspezifische Selektivität, gegen die sich die politischen Gegenmaßnahmen nur schwer tun können (GdG, S. 742). Eine weitere Schwierigkeit mit Asymmetrien ist, dass die religiös oder ideologisch inspirierten 198 RdG,
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
4. Weltliches Rechtssystem und strukturell bedingte Rechtsbrüche Das Fortkommen der Weltgesellschaft erbringt auch die interessante Einsicht in das Phänomen der strukturell bedingten, gar nahezu unentbehrlichen Rechtswidrigkeiten. Bis zu einem gewissen Maß erscheint der Rechtsbruch sowohl den Individuen und auch funktionalen Subsystemen fast als existenziell notwendig. Im Allgemeinen könnte man sagen, dass die positive Seite die negative Seite einschließt und die Perfektion die Korruption hervorruft. Dabei bildet das Rechtssystem selber keine Ausnahme. Werden die Gesetze nämlich streng durchgesetzt, zum Beispiel die Gesetze gegen Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung, politischen Stimmenkauf u. ä., können viele Bereiche der Funktionssysteme nicht mehr in Gang gehalten werden. Folgerichtig kann man ebenso mit Rechtsbefolgung – wie beim Streik – sabotieren. In Bezug auf die Individuen wird die präzise und perfekte Ausführung der Gesetze dem gesteigerten Anspruch auf individuelle Sinngebung bzw. Selbstbestimmung die Grundlage entziehen.200 Mit dem ‚perfekten Recht‘ kann die Gesellschaft nicht richtig funktionieren und das Individuum nur schwer leben, dafür braucht man sozusagen die Korruption. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Rechtswidrigkeiten als strukturell bedingt. Nach Luhmann zeigt dieses weltgesellschaftliche Phänomen des strukturell bedingten Unrechts auf, dass der traditionelle Rahmen des Liberalismus und auch die Staatsgrenze überschritten werden. Das Recht stellt zwar eine beiderseitige Differenz mit der versteckten Negation dar. Wenn man aber strukturell auf der Seite des Unrechts steht und stehen muss und der Anschluss auf der Seite des Rechts hoch unwahrscheinlich ist, dann wird das Gesetz als (liberales) „Formgebungsmittel“ fraglich.201 Dieses Phänomen Systeme nach Luhmann immer zu den genannten externen Rollenasymmetrien tendieren, man will von einer höheren Warte aus den anderen Systemen eine bestimmte Weltsicht als einzigen Maßstab aufdrängen und den Individuen eine Seinsidentität zuschreiben. Dagegen wird in der Moderne einem aufgeklärten Individuum die Rationalität zugemutet, nicht ein bestimmtes Wesen (GdG, S. 739). Als Menschenrecht soll das moderne Institut des Rechtsverhältnisses von Recht und Pflicht der funktionsbedingten Asymmetrie dienen, kann aber in eine stratifikatorische Asymmetrie transplantiert und somit zweckfremd vereinnahmt werden. 200 RdG, S. 568 f. 201 RdG, S. 568. Man beachte wiederum den Gesetzesbegriff bei Luhmann: Das Gesetz als ‚Gebungsmittel der Form‘ deutet darauf hin, dass das Gesetz als seine Komponenten sowohl Gesetzmäßigkeit als auch Gesetzwidrigkeit enthält; Gesetzmäßigkeit ist (nicht) Gesetzwidrigkeit. Dass das Gesetz eine Form abgibt, bedeutet, dass das Gesetz das Negationsverhältnis von Recht und Unrecht konditioniert. Man könnte das Problem der Steuerung(defizite) durch das Gesetz in dem Sinne thematisieren, dass die ausdifferenzierten, deontologisierenden Funktionssysteme mögli-
IV. Menschenrechte als quaestio iuris361
legt Luhmann zufolge die Umstellung von Perfektion des Rechts auf binäre Codierung des Rechtssystems nahe und insofern kann man von „einem welteinheitlichen Rechtssystem als einem Funktionssystem der Weltgesellschaft“ sprechen; und genau mit dieser einheitlichen Form von Recht und Unrecht wird mehr regionale Differenzierung des Rechtssystems ermöglicht.202 Die strukturell bedingten Rechtsbrüche, die weltweit begegnen (und zu begegnen sind), manifestieren einerseits ‚die Einheit des Weltrechts‘; und aufgrund dieser Einheit des Rechtssystems, Recht sei (nicht) Unrecht, erlaubt man andererseits mit der negativen Seite des Unrechts mehr Möglichkeiten für die regionale Variation. Man soll Luhmann zufolge gar bei dem strukturell bedingten Unrecht ansetzen, um mehr rechtsvergleichende Informationen über die Unterschiede der gesellschaftlichen Strukturen zu erzielen; dabei erwähnt Luhmann die Faktoren: die regional je andersartigen Ausgangsbedingungen, das unkontrollierbare Aufeinandereinwirken der universalen Funktionssysteme und die mögliche Entwicklung angesichts der positiven und negativen Rückkopplungen.203 5. Inklusion und Exklusion: Grenze der Selbstbegründung des Rechts Wie andere Differenzierungsformen erzeugt die sich rational an der Funktion orientierende Differenzierung notwendigerweise auch Inklusion und Exklusion. Hier befindet sich das Individuum zunächst außerhalb der Gesellschaft (Exklusionsindividualität), um dann wiederum in sie einzutreten cherweise massenhaft dazu führen, dass Einzelne fest auf der Seite der Gesetzwidrigkeit sitzen, wodurch man seinem eigenen Verhalten nicht mittels des (liberalen) Gesetzes den sozialen Sinn geben und somit als soziale Handlung bestimmen will; gerne oder ungerne wendet man sich an andere Sinncodes als den Rechtscode. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob man auf „die Subjektqualität des Menschen“ bzw. auf „den Menschen als alleiniges Subjekt der Erkenntnis“ in Art. 1 GG beharren muss (Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999, S. 53 f.). Auch die betonte Normativität hat die Seite der Gesetzwidrigkeit. 202 RdG, S. 571 f. 203 RdG, S. 573. Das Rechtssystem enthält das Unrecht in sich. Wird das Unrecht aber strukturell bedingt, scheint die Gesellschaft in dem Unrecht zu stecken. Daraus ergibt sich wohl eine ‚Unrechts-Gesellschaft‘. Bei der Suche nach den Ursachen soll sich die Rechtsvergleichung auf die Ebene der Struktur beziehen, wobei man sich an der erwähnten Differenz von Universalist und Relativist orientiert. Damit soll Luhmann eine regionale Differenzierung im Rahmen des einheitlichen Weltrechtssystems andeuten: ein theoretisches Gefüge für die Einheit und Vielheit des Weltrechtssystems. Dies ist sowohl für den Rechtsexport als auch für den Rechtsimport (‚Rezeption des Rechts‘) unter den Umständen der Weltgesellschaft anregend. Dabei soll man aber das Recht vor allem als beiderseitige Form mit Recht und Unrecht – nicht eilig als Norm und nicht einseitig auf Recht hin – bestimmen.
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
und sich an Funktionssystemen zu beteiligen. Wenn nun große Teile der Bevölkerung (aus unterschiedlichen Gründen) nicht an der Reproduktion der Funktionssysteme teilnehmen können, dann entsteht eine unüberbrückbare Differenz zwischen Inklusion und Exklusion und dies untergräbt schließlich die funktionale Differenzierung selber. Als erstes soll man sich darauf aufmerksam machen, dass Luhmann der Vorstellung der totalen Inklusion skeptisch gegenübersteht. Schon im hohen Ansehen der Menschenrechte übersieht man oftmals die negative Seite, die Exklusion. Und wenn man nur die Inklusion als Inklusion aller Menschen ohne Exklusion im Auge behält, läuft dies auf die totalitäre Logik der Inklusion hinaus: „Die totalitäre Logik verlangt, daß ihr Gegenteil ausgemerzt wird. Sie fordert Herstellung von Einheitlichkeit. Jetzt erst müssen alle Menschen zu Menschen gemacht, mit Menschenrechten versehen und mit Chancen versorgt werden. Solch eine totalitäre Logik scheint auf eine Zeitlogik hinauszulaufen.“204
Die Inklusion ohne Exklusion wegen der Menschenrechte führt – zeitlogisch – zur Hoffnung auf „dialektische Entwicklungen, eventuell mit revolutionären Nachhilfen“, zur Bemühung ums „Wachstum in der Annahme, daß ein quantitatives Mehr bessere Verteilungen ermöglichen würde“ und letztlich zur Verstärkung der „Entwicklungshilfe“ wie der „Sozialhilfe“.205 Wie soeben dargestellt, werden die Menschenrechte immer stärker als Werte, Versorgungsrechte bzw. Teilnahmerechte verstanden. Man kann wohl von ‚Inklusionsrechten‘ sprechen. Die Praxis der Menschenrechte steht sozusagen unter dem Zeichen der einwertigen Ontologie, die auf eine totalitäre Logik der Menschenrechte hinausläuft, also: Ausmerzen der Exklusion. Stehen aber alle auf der Seite der Inklusion, könnte dies eine neue Hierarchisierung der Gesellschaft (im Namen der Menschenrechte) bedeuten, weil niemand die Exklusion als Alternative will und weil eine Ordnung nötig ist, die eben Hierarchie (bzw. Asymmetrie) bedeutet. Luhmann könnte meinen, dass die totalitäre Logik der Menschenrechte – Inklusion ohne Exklusion – zur einwertig ontologischen Hierarchisierung zurückführt. Man braucht also Inklusion und Exklusion. Die Gefahr besteht aber eher in der ‚negativen Integration‘.206 Die Inklusion und die Exklusion werden 204 GdG, S. 626. Bei Parsons fehlt es gar an der Exklusion als Gegenseite für die Inklusion (GdG, S. 620). 205 GdG, S. 620. 206 Dabei soll man bemerken, dass die Exklusion und das Unrecht sich nicht automatisch abdecken. Die Menschenrechte als quaetio iuris bedeuten, dass sie auf juristische Weise – gleich und ungleich, rechtmäßig und rechtswidrig – zu behandeln sind und die Inklusion ebenso beiderseitig erfolgt (vgl. RdG, S. 343; ders., Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., GuS 3, 1998, S. 159–164).
IV. Menschenrechte als quaestio iuris363
zwar von den Funktionssystemen nach eigenen Bedingungen reguliert. Aber viel stärker als auf der Seite der Inklusion wird die Gesellschaft auf der Seite der Exklusion ‚integriert‘, indem die Exklusion aus einem Subsystem viel leichter an die weitere Exklusion aus einem anderen ‚angeschlossen‘ wird. Daraus entsteht relativ schnell eine Exklusionskette für die einzelnen Betroffenen. Aber die Kette entwickelt sich weiterhin zur Mediatisierung aller Funktionscodes durch den Metacode Inklusion / Exklusion.207 Die Differenz von Inklusion und Exklusion differenziert sich sozusagen zu einem unabhängigen Code für das Gesamtsystem aus, der gerade deshalb die extreme Bedrohung für die moderne Gesellschaft darstellt, wenn diese Differenz sich massenhaft auswirkt. Auch unter dem Regime des Metacodes können sich die Subsysteme weiter produzieren, und zwar sowohl seitens der Inklusion als auch seitens der Exklusion. Auf beiden Seiten wird wie üblich weiter rechtmäßig oder rechtswidrig gehandelt. Aber „die Differenz von Codierung und Programmierung funktioniert nicht oder nur geschwächt, weil andere Präferenzen vorgehen“.208 Die Relevanz des Rechts für die Handlung wird suspendiert. Ob und wie der Rechtscode und die Rechtsprogramme eingesetzt werden, wird von der Differenz von Inklusion und Exklusion dirigiert. Und dies hängt im extremen Fall ausschließlich davon ab, welcher Gruppe der Betroffene angehört. Die Zugehörigkeit der Person bedingt den Gebrauch des Metacodes und kontrolliert damit mittelbar die Anwendung des Rechtscodes. Aber sei es in Inklusion, sei es in Exklusion, beides führt gleichfalls zur Erosion der Rechtsordnung: Im Exklusionsbereich hat man nichts zu verlieren und kümmert sich nicht um die Werte Recht und Unrecht, im Inklu sionsbereich muss man sich darum eben auch nicht kümmern, weil die Zuteilung des Unrechts nicht in die anderen Subsysteme transportiert werden kann und keine Nachteile erzeugt. „Wenn aber die Inklusion der einen auf Exklusion der anderen beruht, untergräbt diese Differenz die Normalfunktion der Funktionssysteme.“209 Konsequent verliert das Rechtssystem an Resonanz beim Individuum und büßt seine Geltung ein. Und letztlich greift man wieder auf Gewalt zurück, 207 RdG, S. 583. Da das Geld als „das Medium schlechthin“ (GdG, S. 723) fungiert, fängt dieser Metacode leicht mit dem Geld an: Inklusion in das Geld oder Exklusion aus dem Geld. 208 RdG, S. 584. Es könnte gefragt werden nach dem möglichen Zusammenhang zwischen der totalitären Logik der Menschenrechte und der Ausdifferenzierung des Metacodes von Inklusion und Exklusion. 209 RdG, S. 584. Wer nicht auf der positiven Seite Anschluss – auf Kosten der Inklusion des anderen – finden kann, findet sich unmittelbar vor die Tür der funktionalen Subsysteme versetzt. Die negative Seite als Sitz der alternativen konkurrierenden Möglichkeiten büßt ihren Stellenwert ein.
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
landet dann an der unmittelbaren Kopplung von Recht und Gewalt. Man sieht, dass der Metacode Inklusion und Exklusion auf strukturelle Weise wie ein externer Faktor für die funktionsbedingte Rollenasymmetrien zerstörend fungiert, was aber die Entwicklung der Menschenrechte mit der ‚zeitgemäßen Paradoxie der Menschenwürde‘ provokativ hervorruft. Zu dieser besorgniserregenden Entwicklung hat nach Luhmann auch die Wertvorstellung der Menschenrechte beigetragen, da der Staat mit dem wohlfahrtsstaatlichen Versprechen überlastet wird und die Inklusion eines großen Teils der Bevölkerung trotzdem ungewiss bleibt; dem hinzukommend wird das Problem der ökologischen Belastbarkeit immer mehr verschärft. Und schließlich weiß man nicht, ob die Differenz zwischen In- und Exklusion positiv oder negativ rückgekoppelt wird.210 Diese globalen Faktoren – der Wohlfahrtsstaat, die ökologische Umwelt und der Metacode von Inklusion / Exklusion – weisen den strukturellen Rahmen für den Rechtscode auf, der in einem welt lichen Rechtssystem ohnehin geschwächt wird und seiner Entfaltung der Paradoxie ungewiss ist. Allenfalls ist diese Ungewissheit nicht mehr durch einen Rückgriff auf eine Grund-Norm abzufangen und damit befinden sich die Menschen unversehens bereits in der Phase des Nihilismus.211 In Luhmanns Sinne besteht das Ziel aber ohnehin nicht in der Inklusion aller ohne Exklusion, was schon logisch zweifelhaft ist; doch zugleich muss man sich zur Abwehr gegen die Verselbständigung der Differenz von Inklusion und Exklusion zum autonomen Metacode setzen. Beide Richtungen haben es nämlich gemeinsam, die negative Seite auszuschließen. Das Mittelmaß der Moderne, so könnte man sagen, besteht darin, die Inklusion und die Exklusion – beide zusammen – unter der Kontrolle der funktionalen Codes zu halten und durch diese Codes zu konditionieren. Jeder kann sich auf beiden Seiten befinden und dazwischen bewegen, niemand wird auf eine Seite festgelegt. So heißt es dann, frei und gleich zu sein.
210 RdG,
S. 583. Evolution des Rechts erfolgt aufgrund des Naturrechts, das sich trotz aller verschiedenen Gestalten „um einen Kern unveräußerlicher und unwandelbarer ‚Grundnorm‘ “ dreht und damit normative Bindung finden will; mit der ‚reinen Vergesellschaftung‘ durch soziale Kommunikation, woran das Naturrecht historisch immer teilgenommen hat, verlieren das (kontingente) Recht und die Gesellschaft schließlich ihren Bezug zur (bindenden) Natur, dabei entfaltet die autonome Gesellschaft – mit Menschenrechten? – eine unbegrenzte und agressive Produktionsweise gegenüber der Natur (Breuer, Sozialgeschichte des Naturrechts, 1983, S. 596–601, hier S. 600). Vgl. Luhmann, Jenseits von Barbarei, in: ders., GuS 4, S. 143–147, Gesellschaft „ohne ‚Außen‘ “, ohne andere Seite. Als Ergebnis der langen Entwicklung scheinen die Menschenrechte eine janusköpfige Beziehung zum Nihilismus zum Ausdruck zu bringen. 211 Die
IV. Menschenrechte als quaestio iuris365
6. Fazit Das Menschenrecht stellt nach Luhmann eine weitere, weltweite Entwicklung des Instituts des subjektiven Rechts dar, es bedeutet den Versuch, die Individuen in die funktional differenzierte Weltgesellschaft einzuschließen. Daher besteht die theoretische Besonderheit von Luhmann zunächst darin, dass das Menschenrecht in dem Sinne antihumanistisch sein muss, dass es die ‚angeborenen, wesenhaften‘ Identitäten bzw. Eigenschaften des Menschen ausschließt. Man sieht hier auch die Trennung von Sach- und Sozialdimension. Die Menschen brauchen Menschenrechte, nur um von außen wieder in die Gesellschaft einzutreten und ihre individuelle Identität durch die Teilnahme an den Funktionssystemen zu erwerben. Die weitere Besonderheit bei Luhmann kennt man in der Begründung des Menschenrechts. Die einzelnen Menschenrechte kommen zum Tragen anhand der beiden Prinzipien Freiheit und Gleichheit. Sie gelten als eigene Prinzipien der modernen Gesellschaft, werden weiterhin ins Rechtssystem überführt. Dadurch werden die Menschenrechte unter den Rechtscode gestellt und erscheinen nun als quaetio iuris. Die Paradoxie der Menschenrechte, die ebenfalls das subjektive Recht darstellen, liegt nun in der Einheit der Differenz von (Welt-)Gesellschaft und Individuen. Die Menschenrechte bedeuten – so könnte man sehen – die Konkurrenz von Gesellschaft und Individuum um die Bestimmung der Identität der Welt, und zwar in Gestalt des Rechtsproblems. Luhmann verknüpft die Menschenrechte als quaetio iuris dann mit dem Gleichheitssatz von Aristoteles. Der Gleichheitssatz gilt demnach als Paradigma der Menschenrechte. Dabei gilt er vor allem nicht als Norm, sondern als Form mit beiden Werten; er fungiert zugleich als Beobachtungsschema für die Entdeckung der Unterschiede zwischen den Fällen. Im Anschluss an die Differenz von Regel und Ausnahme liegt die Pointe des Gleichheitssatzes darin, immer von gewissen Selbstverständlichkeiten hinsichtlich der Differenz von gleich / ungleich ausgehend nur die Ausnahme begründen zu müssen. Man hat also nur die gleiche Behandlung der ungleichen Fälle zu begründen, um auch bei diesen Fällen den kommunikativen Anschluss herzustellen. Dieselbe Logik gilt ebenso für das Freiheitsprinzip im Schema von Freiheit und Einschränkung. Dadurch wird die soziale Kommunikation im Schema von Regel und Ausnahme, von Invarianz und Varianz und schließlich von Recht und Unrecht gehalten. Die Form schließt sich an die Form an, erzeugt den re-entry, wird selbstreferentiell und selbstbegründend. Die problematischen Aspekte der Menschenrechte sieht Luhmann in strukturell bedingten Benachteiligungen, strukturell bedingten Rechtswidrigkeiten und schließlich in dem Unterlaufen des Rechtscodes (bzw. aller
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E. Kopplung von Recht, Gesellschaft und Individuen
funktionalen Codes) durch den Metacode von Inklusion und Exklusion. In dem Exklusionsbereich wird dadurch ‚hoch integriert‘, und die Menschen werden sozusagen in beide Teile, In oder Ex, eingeteilt. Man scheint sich auf dem Weg zu einem neuen einwertigen Humanismus befinden. Die funktionale Differenzierung wird wieder hierarchisiert und droht von dem Metacode von innen aus ja kolonialisiert zu werden, wobei bemerkenswert ist, dass das Werteverständnis der Rechte und die Utopie der Inklusion ohne Exklusion dazu beitragen würden.
F. Abschließende Betrachtung I. Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit behandelt die Paradoxie des Rechts und beantwortet die Frage, ob die Paradoxie des Rechts echt ist und was mit ihr gemeint sein kann. Als erstes ist hier am Schluss der Arbeit festzustellen, dass die Paradoxie des Rechts echt im Sinne der logischen Antinomie sein kann und dass der Sinn der Rede von ihr bei Luhmann darin besteht, dass die Kontingenz des Rechts in der theoretischen Figur der Paradoxie ihren radikalsten Ausdruck findet und durch die logische Antinomie am schärfsten zum Vorschein gebracht wird. In der Kontingenz steckt aber die Differenz (erfahrung), die die innere Negierbarkeit als Grundlage der Geltung mit sich bringt. Das positive Recht ist demnach das selbstnegierende und damit paradoxe Recht. Der Begriff der Kontingenz bedeutet, dass etwas zugleich anders sein kann. Und das Anders-sein-Können ist gerade die (Sinn-)Identität, die bei Luhmann die Einheit eines selbstreferentiellen Sozialsystems bezeichnet. Wenn etwas so ist, kann es nicht nicht-so sein; sonst verstößt man gegen den Satz des ausgeschlossenen Dritten und gerät in den Selbstwiderspruch. Im Sinne der Kontingenz ist die Rede von Paradoxie bei Luhmann deshalb nur bedingt berechtigt. Sie kann aber logisch doch nachvollziehbar gemacht werden, indem man sie um einiges ergänzt. Empirisch kann man bei der änderbaren Identität der Person und der Gesellschaft den mit ihr angedeuteten Sachverhalt beobachten, der in der modernen Gesellschaft besonders drastisch zu erleben ist. Angesichts dieses Sachverhaltes ist Luhmanns Rede von Paradoxie in der Tat theoretisch doppelsinnig: Sie bezieht sich gleichzeitig einerseits auf die (Un-)Bestimmtheit und andererseits auf die Identität an sich. Zum Verständnis der Rede von Paradoxie erweist es sich nämlich als ausschlaggebend, zwei Ebenen deutlich und bewusst zu unterscheiden. Mit Schmitz könnte man sagen: Luhmanns Rede von Paradoxie meint zum einen die Unentschiedenheit zwischen den Bestimmungen und zum anderen die unbestimmte Identität. Nach Schmitz bedeutet eine logische Antinomie die Unentschiedenheit zwischen Identität und Verschiedenheit hinsichtlich einer Bestimmung (eines Dinges). Sie drückt damit einen Sachverhalt aus und verweist auf die binnendiffuse, nichtnumerische Mannigfaltigkeit, wobei die Identität als ei-
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F. Abschließende Betrachtung
ne eigene Kategorie nicht ganz verschwindet. Insofern kann ein Ding nichtidentisch im Sinne der Unentschiedenheit zwischen Identität und Verschiedenheit hinsichtlich einer Bestimmung sein. Im Gegensatz dazu steht die Identität in ihrem Urbild des unbestimmten Eindeutigen, dabei gibt es keine Unentschiedenheit. Es ist ganz eindeutig ‚dieses‘, wobei die Identität von der Bestimmtheit – von der Ebene der Bedeutung – getrennt wird. So gesehen bildet der Zustand, den die logische Antinomie ausdrückt bzw. andeutet, die normale alltägliche Lebenslage. Die Identität in ihrem Urbild (Urform) ist dagegen ein Ausnahmezustand. Luhmanns Rede von Paradoxie verbindet unentwirrbar beides, ist deshalb doppelsinnig. Am deutlichsten zeigt sich der Doppelsinn in der Zeittheorie. Die irreversible Gegenwart in der Differenz von Vorher / Nachher – der Punkt des Umschlagens – deutet die reine Modalzeit bei Schmitz an und meint die Identität in ihrer Urform: das unbestimmte Eindeutige. Die reversible Gegenwart ist dagegen eher die modale Lagezeit, nämlich die alltägliche Zeit, die als ein Zeitfluss erscheint und die Zeitantinomie mit sich bringt. Sie hat also eine Struktur der Unentschiedenheit hinsichtlich der Identität und Verschiedenheit. Und es ist gerade das unbestimmte Eindeutige der irreversiblen Gegenwart, das die Unentschiedenheit der reversiblen Gegenwart aufhebt. Normalerweise steht man zwischen beiden, so dass man zu ‚diesem Etwas‘ – Besonderheit und Bestimmtheit – gelangen kann. Die zwiespältige, paradoxe Wirklichkeit im Sinne der binnendiffusen Mannigfaltigkeit wird damit bis zu einem gewissen Grade invisibilisiert. Mit Paradoxie meint Luhmann einmal das unbestimmte Eindeutige (entschiedene Identität, den rätselhaften Punkt) und ein andermal die Unentschiedenheit. Beides zusammen wird als Kontingenz im Sinne des Zugleichanders-sein-Könnens ausgedrückt, das, wenn als entschiedener Zustand, doch selbstwidersprüchlich ist, da etwas nicht entschieden so und zugleich entschieden anders sein kann. Sachlich kann die Kontingenz dann nur die unentschiedene Identität (reversible Gegenwart) sein, die sich irgendwie (durch die irreversible Gegenwart) zur entschiedenen Identität verwandelt. Dies ist sozusagen ‚mit Zeit‘ die Paradoxie zu lösen, indem man sich in der Gegenwart festlegt und nicht bestreiten kann, was man erst kommuniziert hat; und erst danach kommen die Anschlüsse in der Zeit zustande und lösen ebenso die Paradoxie im systemtheoretischen Sinne. Aus diesen Gründen ist die ‚Paradoxie‘ bei Luhmann bedingt berechtigt und doch nachvollziehbar. Sie ist aber doppelsinnig und verwirrend, ja theo retisch ungenügend. Und im Sinne der Kontingenz als Zugleich-anderssein-Können bezeichnet Luhmann mit Tautologie und Paradoxie die beunruhigende, verschlüsselte Identität der modernen Gesellschaft samt ihrer Subsysteme. Der Begriff „Identität“ bezeichnet wiederum die Einheit des
I. Zusammenfassung369
selbstreferentiellen – selbstreflexiven, selbstbezüglichen – Sozialsystems. In der Form der Selbstreflexion, wie bei der Selbstbeschreibung des Sozialsystems oder bei dem Selbstbewusstsein des psychischen Systems, kommt die Einheit zum Vorschein, die einer instabilen Identität sozusagen angehängt wird. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der Negation (leise) eingestreut, die nichts bedeutet und das Übergehen von einer Seite zur anderen ermöglicht. Die Negation bringt nämlich die Kontingenz hervor und bewirkt, dass etwas zugleich anders sein kann. Sie wird im binären Code des Funktionssystems verankert und als bloße, ja einfache Negation ändert sie nichts an der inhaltlichen Bestimmung, sondern an der Zuteilung der Werte zu einer Bestimmung. Hierbei soll Luhmann in Freges Sinne Gedanke von Existenz getrennt haben. Die Negation verändert nicht das Sein als Sinnbestimmung, sie bedeutet nichts, aber ermöglicht das Anderssein. Damit wird der binäre Code stabilisiert, der die fundamentale Paradoxie in sich trägt und ‚pflegt‘, so dass das System zugleich anders sein kann. In dem Code sitzen gleichfalls die beunruhigende Identität des Systems (Tautologie und Paradoxie) und dessen problematische Einheit (Selbst der Selbstreferenz). Man muss dann die Tautologie enttautologisieren und die Paradoxie entparadoxieren, womit die Identität des Systems fortgebildet und die Einheit des Systems bewahrt wird. Dies bedeutet genau die autopoi etisch selbstreferentielle Reproduktion des Systems. Die Operationen werden angeschlossen und die soziale Kommunikation läuft weiter. Sachlich geht es darum, von der Unentschiedenheit zu der Entschiedenheit zu gelangen, um die Einbuße der kommunikativen Anschlussfähigkeit zu vermeiden. Dasselbe System wird immer zugleich anders und identisch sein. Hierin besteht auch die Pointe der Differenzlogik. Die Differenz verbindet die Unentschiedenheit (nämlich die Einheit, das ausgeschlossene Dritte bzw. den blinden Fleck) und die Entschiedenheit (die beiden Seiten), sie bedeutet zugleich auch die Möglichkeit des Übergehens zwischen den Seiten (Anders-sein-Können). Diesen Komplex fasst Luhmann schließlich mit Paradoxie (und Entparadoxierung) zusammen, die als Schlussstein den systemtheoretischen Turmbau der Gesellschaftstheorie beendet. Neben anderen philosophisch-logischen Implikationen bedeutet die Paradoxie soziologisch die kommunikative Unbestimmtheit, die in doppelter Kontingenz aller sozialen Situationen sitzt. Luhmanns Gebrauch der Paradoxie lässt begrifflich zwar noch viel zu wünschen übrig, aber er bringt dadurch einen sozio-logischen Link zustande, der ja nicht vorbehaltlos zu billigen, aber doch ebenso nachvollziehbar und berechtigt ist. Es geht um die ‚soziale Kontingenz‘ im Sinne des Anders-sein-Könnens, das ebenso in der logischen Antinomie am schärfsten
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F. Abschließende Betrachtung
zum Ausdruck gebracht wird. Es kommt letztendlich – abgrundtief getrennt – auf Existenz bzw. Nichtexistenz (der kontingenten Bestimmungen) an, also auf die Anschlussfähigkeit wie auf die Autopoiesis des Sozialsystems. Vor diesem immanenten Hintergrund kann man die Differenzlogik der Systemtheorie als eine Darstellung der modernen Gesellschaft angesichts des Problems der Kontingenz verstehen. Diese Differenzlogik geht von der Auflösung der hierarchischen Struktur der Gesellschaft aus und fragt nach der Möglichkeit der Einheit und Identität der Gesellschaft mit der funktionalen Differenzierung als ihre grundlegende Struktur. Die Subsysteme werden nicht als gegliederte Teile der Gesellschaft begriffen, sondern sie sind ausdifferenzierte Sinnzusammenhänge. Die funktionale Differenzierung führt dazu, dass die Funktionssysteme je autopoietisch und selbstreferentiell reproduziert werden. Dies heißt, dass sie eigene Elemente herstellen, die Geschlossenheit gegenüber der Umwelt errichten und die eigene Einheit und Identität erlangen. Die Gesellschaft nimmt dann die Form der Polykontexturalität – unitas multiplex – an. Dabei wird der theoretische Ansatzpunkt des Sozialen von der Handlung auf die Kommunikation als Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen verlegt. Dies bedeutet einerseits, dass das Sozialsystem vom psychischen System deutlicher getrennt wird und andererseits, dass die Zeit als hauptsächlicher Faktor bei der Reproduktion des Sozialen eingesetzt wird. Die ganze Gesellschaft – mit ihrer Einheit und Identität – wird damit temporalisiert. Die Ablösung der Hierarchie durch die funktionale Differenzierung setzt – so könnte man annehmen – die (individuelle) Negativität als Grund der Sozialität frei. Die Einheit der Welt wird nicht mehr kosmologisch aufgebaut, sondern sie wird ins Soziale eingespannt. Sowohl die Individualität der Personen als auch die Polykontexturalität der Gesellschaft machen die Einheit des Gesellschaftssystems problematisch. Eben in dem Vorgang zieht die Negation bereits unbemerkt in das Soziale ein, sie liegt dem Sozialen heimlich zugrunde. Das Soziale bezieht sich dann auf die Zeit und ist auf sie angewiesen. Die Gesellschaft wird temporalisiert (verzeitlicht), sie ist daher eine kontingente Gesellschaft, in der alles anders sein kann und alles aber doch immer nur in der Gegenwart besteht. Die Autopoiesis bzw. die Paradoxie – die Reproduktion von Identität und Einheit – konzentriert sich auf die gegenwärtige Differenz von Vorher / Nachher bzw. die Differenz von Vergangenheit und Zukunft. Die Paradoxie wird damit durch die Anschlüsse in der Gegenwart ‚übergangen‘ und somit (vorübergehend) gelöst. Unter den dargestellten theoretischen Voraussetzungen wird das Rechtssystem als ein Funktionssystem unter anderen in der Gesellschaft ausdifferenziert. Das Rechtssystem wird nach der Differenzlogik auf dem binären
I. Zusammenfassung371
Rechtscode aufgebaut, der die fundamentale Paradoxie des Rechts als Grund des Rechtssystems darstellt. Die Rechtsparadoxie besteht darin, dass Recht (nicht) Unrecht ist. Die Formel bedeutet einerseits, dass ein stabiler Rechtscode die beiden Codewerte Recht und Unrecht deutlich trennen und verbinden kann, womit der Rechtscode als konstantes Gefüge der Werte fungiert. Die Formel drückt aber andererseits aus, dass innerhalb des Rechtscodes immer die Möglichkeit besteht, dass die beiden Werte wieder ineinander fließen. Die Negation (nicht) zwischen den beiden Werten bedeutet nichts und ändert nichts Inhaltliches; aber sie trennt und verbindet beide Seiten, reguliert die Zuteilung der beiden Werte. In diesem Zusammenhang mit der Rechtsparadoxie soll man nämlich deutlicher den Rechtscode, die Codewerte, den Rechtsbegriff und das Rechtssystem (im Gegensatz zur Umwelt) unterscheiden, um die Rede der Paradoxie des Rechts nachvollziehen zu können. Zudem soll man noch der Differenzierung von Unrecht und Nicht-Recht Aufmerksamkeit schenken. Die fundamentale Rechtsparadoxie (im Rechtscode) weist darauf hin, dass das Recht grundlegend kontingent wird: Das Recht kann zugleich das Unrecht sein. Das Rechtssystem muss dann mit der Negation in der eigenen Identität konfrontiert werden. Aus der Kontingenz des Rechts resultiert die Theodizee des Rechts. Das Unrecht ist zu erklären und zu konstruieren. Und mit der Ablösung der hierarchischen Struktur der Gesellschaft wird die soziale Ordnung nicht mehr mit der Rechtsordnung gleichgesetzt, so dass das Unrecht und das Nicht-Recht jetzt in der funktional differenzierten Gesellschaft differenziert ins Auge gefasst werden müssen. Das Recht wird deontologisiert, es ist also eine negierende Differenz, hat zwei Seiten: Recht und Unrecht. „It’s the law […]. But there’s two sides to the law.“1 Die zweiwertige Struktur – anstatt des einwertigen Rechts – bildet sozusagen eine notwendige Bedingung für eine moderne, nicht (primär) hierarchische Rechtsordnung, womit das Recht prinzipiell änderbar wird und anders sein kann. Die Rede von der Paradoxie des Rechts ist deshalb auch berechtigt, obwohl die logische Darstellung bei Luhmann – wie erwähnt – sehr verwirrend ist. Mit dem binären Code hat das Rechtssystem seine Funktion darin, die Verhaltenserwartungen in der Gesellschaft zu stabilisieren und insbesondere ‚die Zeit zu binden‘. Die Funktion des Rechtssystems besteht nämlich in der Zeitbindung, indem die Veränderung der Relevanzperspektive in der Zeit durch die rechtliche Codierung (der betreffenden Normen) eingeschränkt wird. Dabei bildet die Zeit selber nach Luhmann die Grundlage aller Kommunikationen und stellt ihrerseits eine Paradoxie dar. Das Recht soll also die Zeit binden, in der es selber getragen und geändert wird. In dieser 1 Faulkner,
Tomorrow, 1949, S. 103.
372
F. Abschließende Betrachtung
Konstellation wird das Problem der Rechtsparadoxie am schärfsten im Entscheidungszwang zum Ausdruck gebracht. Die Rechtsgeltung hängt dann von der Entscheidung und somit von der Zeit ab, die das Recht binden soll. Die Zeitbindung durch das Recht bzw. die Theodizee des Rechts erfolgt in der modernen Gesellschaft historisch durch die Etablierung der Staatsordnung. Dies führt zur Trennung von Recht und Politik anhand des Verfassungsstaates mit dem Verfassungstext. Das Problem der Paradoxie der politischen Souveränität und das Problem der Paradoxie des Rechtscodes werden dadurch auf den Verfassungstext übertragen und bis zu einem gewissen Grade gelöst. In Bezug auf die Politik wird das Rechtssystem dadurch mit der polykontexturalen Gesellschaft strukturell gekoppelt und von ihr auch beständig irritiert. Die auszeichnende Besonderheit des Verfassungstextes besteht darin, dass der Text eine Hierarchie als Bedingung der Möglichkeit der Ordnung in sich einbaut und damit sich selber selbstreferentiell als ewiges Gesetz begründet. Er wird aber als ein Rechtstext im Rechtssystem verortet und koppelt das Recht strukturell mit anderen Funktionssystemen. Die Geltung der Verfassung gründet insofern auf der intern eingebauten hierarchischen Differenz und dann darauf, dass man sich an die soziale Kommunikation in doppelter Kontingenz anhand des Verfassungstextes anschließt und anschließen will. Außerdem wird der andere ‚störende‘ Faktor für das Recht – das Individuum – durch die subjektiven Rechte und schließlich die Menschenrechte mit dem Rechtssystem strukturell gekoppelt. Das Institut des subjektiven Rechts ersetzt das Reziprozitätsprinzip und stellt als ein tautologisches Verhältnis von Recht und Pflicht eine moderne Umschreibung der Rechtsparadoxie dar. Merkwürdig ist in diesem Zusammenhang noch, dass Luhmann die Begründung der Menschenrechte mit dem Gleichheitssatz zu untermauern versucht. Dabei verbindet er die Theorie der Gerechtigkeit von Aristoteles mit der selbstreferentiellen Selbstbegründung des Rechtssystems. Insofern bedeutet die Systemtheorie des Rechts bei Luhmann gerade eine Fortschreibung der einflussreichsten Rechtsphilosophie in der kommenden Weltgesellschaft. Dazu bildet die Freiheit einen Kontrast, die die moderne Gesellschaft kennzeichnet und die Differenz wie die Negativität zur Geltung bringt. Hinsichtlich der funktionalen Differenzierung müssen aber die Menschenrechte antihumanistisch sein, die Menschenwürde dient zur Grundlegung der Menschenrechte gerade durch die Antastbarkeit bzw. Verletzbarkeit der Würde, worin die negierende Differenz aufblitzt. Zugleich hat Luhmann die Krise des Rechts in der Rechtslethargie beobachtet, die – zusammen mit strukturell bedingten Benachteiligungen und Rechtsbrüchen, mit dem Metacode der In- und Exklusion – die Funktion des Rechtscodes unterläuft. Angesichts dieser entstehenden Phänomene
II. Systemtheoretische Umschreibung von Recht und Moral373
kommt die europäische Anomalie wohl zum Ende, aber ob und wie die Eule mit dieser Diagnose ihren Nachtflug beginnen kann, bleibt offen.2
II. Eine systemtheoretische Umschreibung des Verhältnisses von Recht und Moral In diesem Zusammenhang könnte man einen Versuch unternehmen, systemtheoretisch das rechtsphilosophische Kernproblem – das problematische Verhältnis von Recht und Moral – zu umschreiben. Dafür soll aber die rechtsphilosophische Eule überlegen, sich von der Differenz von Recht / Moral auf die Differenz von Recht / Unrecht umzustellen, wobei sie bei dem Lügner lügen zu lernen hat, wenn sie fliegen will. Als ein historisch konkreter Referenzfall zwingt zwar das „Hitler-Problem“3 dazu, dass man die Unrechtsgesetze im Lichte des Verhältnisses von Recht und Moral behandeln muss. Die Diskussion scheint aber gerade dazu zu dienen, die Position Unrecht wieder zu verdecken. Als Ausgangspunkt der Diskussion kann man die rechtspositivistische Kernthese der begrifflichen Trennung von Recht und Moral bzw. von Sein und Sollsein ansehen. Der positivistische Standpunkt behauptet und beharrt darauf, dass man zwischen dem Recht, das besteht und gilt, und dem Recht, das bestehen und gelten soll, klar unterscheidet. Das letztere wird dabei auch mit dem Namen der Moral bezeichnet.4 An diesem anfänglichen Punkt wäre es ratsam, zuerst einige Unterscheidungen einzuführen, um begrifflichen Verwirrungen vorzubeugen. Mit der Unterscheidung von Sein und Sollen kann man (i) meinen, den Sachverhalt (bzw. die Tatsache) von der Norm zu trennen. Sie stellen zwei unterschiedliche Bereiche der Realität dar und zwischen ihnen kann logisch grundsätzlich keine Brücke geschlagen werden. Mit der rechtspositivistischen Unterscheidung von Sein und Sollsein wird aber (ii) gemeint, zwischen der Norm als ein empirisch beobachtbarer Sachverhalt (Norm-Sein, Norm als Sein) und der Norm als ein ideales bzw. moralisch gewünschtes Sollen (Norm als Sollsein) klar zu unterscheiden,5 wobei das letztere das erstere potentiell inhaltlich kritisiert und damit verbunden erst geltungsbezogen bestreitet. Die rechtspositivistische Unterscheidung stellt sozusagen eine Anwendung von 2 Vgl. RdG, S. 586; SS, S. 661. Nach Luhmann steht die Moderne noch am Anfang. 3 Röhl / Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 332. 4 Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, 1971, S. 15–21. 5 Soziologisch gesehen kann auch eine Norm (ein Sollen) nicht ohne empirische Referenz sein (vgl. RdG, S. 31).
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F. Abschließende Betrachtung
der Unterscheidung zwischen Sein und Sollen auf einer beobachtenden Metaebene dar. Dabei wird zwar die erste Unterscheidung von Sein und Sollen vorausgesetzt, aber es liegt hier nicht so sehr an dem Problem des logischen Übergangs zwischen Sachverhalt und Norm, sondern es kommt für Hart bei dem begrifflichen Verhältnis von Recht und Moral eher auf die Grenze des Rechts(systems) wie auf das Geltungsproblem an. Eine andere, sehr ähnlich aussehende Unterscheidung besteht (iii) darin, dass man nicht von einem Sachverhalt seine Wahrheit, von einer Norm ihre Geltung, ableiten kann, auch wenn er wahr oder sie gültig ‚sein soll‘. Es geht nämlich nicht um den Übergang zwischen Sachverhalt und Norm, sondern um die negierende Differenz in Luhmanns Sinne: wahr oder unwahr, gültig oder nicht gültig, sein oder nicht sein. In dieser Perspektive soll es bei dem Verhältnisproblem von Recht und Moral gesellschaftstheoretisch vor allen Dingen um die Ausdifferenzierung des Rechtssystems als ein eigenständiger Sinnbereich gegenüber seiner gesellschaftlichen Umwelt mit den darin bestehenden anderen Subsystemen gehen. Von der Umwelt her kann das Recht politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich, ja von Liebe wegen usw. kritisiert werden. Es werden heterogene Normprojektionen, die gültig sein sollen, an das Recht herangetragen. Darunter wirken die moralischen Forderungen am brisantesten. Da das Soziale aufgrund doppelter Kontingenz von Ego und Alter Ego – als antreibender Katalysator – emergent (re-)produziert wird und da die Moral Luhmann zufolge die Differenz von Achtung und Verachtung zwischen Ego und Alter Ego betrifft, handelt sich es bei Moral sozusagen um die ‚basale Differenz‘ bei der Konstitution der Gesellschaft. So gesehen durchdringt das Moralproblem die Gesamtgesellschaft. Daher könnte man hier den Moralbegriff in einem umfassenderen Sinne benutzen, um gegenüber dem Rechtssystem seine Umwelt – die Gesamtgesellschaft mit allen ihren Subsystemen – zu bezeichnen. Der positivistische Standpunkt entspricht nämlich der funktional differenzierenden Struktur der modernen Gesellschaft. Dass sich die Verhältnisbestimmung von Recht und Moral als ein (semantisches) Problem überhaupt stellt, spiegelt so verstanden die Differenz des Rechtssystems und seiner Umwelt wider. Rechtssystem und Gesellschaft, Recht und Moral müssen irgendwie zugleich getrennt und verbunden werden. Sie machen „das Differente“ – Einheit der Differenz – aus.6 Sie sollen systemtheoretisch nicht entweder verbunden oder getrennt, sondern sowohl verbunden als auch getrennt werden. Im Gegensatz zu dieser positivistischen Fragestellung soll man darauf aufmerksam machen, dass nach Luhmann das traditionelle Naturrecht bedeutet, 6 SS,
S. 38; GdG, S. 959.
II. Systemtheoretische Umschreibung von Recht und Moral375
dass die Gesamtgesellschaft als solche eine Rechtsgesellschaft darstellt. In ihr kann die funktionale Differenzierung noch nicht die Stellung der Leitdifferenz einnehmen, und das Recht vermengt sich ungetrennt mit anderen Funktionsbereichen. Weiterhin führt das Recht anhand eines normativ verstandenen Naturbegriffs unter dem Anzeichen der Seinsontologie in der binären Alternative wie Sein und Nichtsein, Perfektion und Korruption u. ä. auch eine immanente Negation mit sich, die aber seinsweise prinzipiell in der Grundsemantik unsichtbar bleibt und bleiben soll. Die Negation bringt die andere Seite des Rechts hervor; konsequent bleibt diese negative Seite aber minderwertig und ausgeschlossen, sie ist insofern nicht. Mit der Unsichtbarkeit der Negation soll genau die Paradoxie des Rechts vermieden werden. Das Einheitsproblem des Rechts könnte dann im semantischen Regime des Grundes historisch immer neu umformuliert und somit weiter variierend behandelt werden. Die Rechtskommunikation läuft dann jedenfalls an der Paradoxie des Rechts vorbei und wird nicht von ihr blockiert. Mit der funktionalen Ausdifferenzierung des Rechts bleibt die binäre Alternative in dem Negationsverhältnis weiter bestehen. Aber ohne Grund bzw. Natur als Anhaltspunkt wird das Negationsverhältnis dem Rechtsbegriff auch entzogen. Mit der Unterscheidung von Recht und Moral, Sein und Sollsein, kann der Rechtspositivismus es einerseits erreichen, sich innerhalb des Rechts das latente Problem von Perfektion und Korruption zu ersparen. Dabei schleppt er aber andererseits die einwertige Ontologie mit und in sich weiter, indem er in dem ‚Sein des Rechts‘ Seiendes und Sein (Wirklichkeit), Gedanke und Existenz sowie Rechtsnorm und Geltung, wieder ungetrennt verbindet und dadurch eben das Nichtsein unsichtbar macht. Er verbietet ja die Fragestellung nach Nichtsein (Nichtgeltung) im Recht selber, indem er der politischen Macht das Negationsproblem überlässt, es sozusagen externalisiert. Das Recht in Form des Gesetzes wird jederzeit per politische Gesetzgebung änderbar und negierbar. Die immanente Negation, die in dem Naturrecht unsichtbar, aber impliziert wird, wird kurzerhand abgeschnitten, wodurch das Recht strukturell eigenständig wird, aber ebenso höchstens von der Politik abhängig gemacht wird. Man will die Politik einschränken und leiten, aber zugleich dringt die politische Macht in Form des Gesetzesrechts in alle Winkel des Lebens ein. Schließlich wird die Politik, wie Luhmann geschrieben hat, fast auf eine fabrikmäßige Erzeugung von Gesetzen reduziert. Wenn man die immanente negative Seite (im Naturrecht) ins Auge fasst, dann könnte man mit diesem Ansatz der systemtheoretischen Umschreibung annehmen, dass das Fragwürdige an dem Rechtspositivismus darin besteht, dass er wie ebenfalls bei dem Naturrecht das Negationsverhältnis vernachlässigt und verdrängt. Er bezieht die Negation, nämlich das kritisierende Sollsein, begrifflich allein auf die Rechtsinhaltsbestimmung (Gedanke im
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Sinne von Frege), aber nicht auf deren Geltung (Existenz bzw. Wirklichkeit) an sich. Dies kann man zuerst bei Kelsens zugespitzter These beobachten: Gesetz ist Gesetz. Sie kann auf die Theorie der Grundnorm zurückgeführt werden, die als der theoretische letzte Anhaltspunkt der Rechtsgeltung vorausgesetzt wird und somit das Recht als einen eigenen Sinnbereich von Politik sowie von Naturwelt abgrenzen soll. Man könnte meinen, dass „der Positivismus nur eine hypothetische oder axiomatische Rechtsgeltung begründen [will]. Insoweit ist insbesondere der Positivismus Kelsenscher Prägung nicht angreifbar. Die so rechtstechnisch begründete Geltung ist keine moralische Pflicht, bedarf also noch einer zusätzlichen moralischen Begründung.“7
Dem würden vermutlich fast alle zustimmen. Doch wahrscheinlich würde Luhmann Widerspruch dagegen erheben, und zwar eben aus einem technischen Grunde. Der Positivismus macht sich nämlich gerade an diesem technischen Punkt angreifbar, weil er den Rechtsbegriff (mit dessen Sinnbestimmung) und die Rechtsgeltung – im Namen der Grund-Norm – einwertig ontologisch untrennbar verbindet. Dabei schneidet er gleichzeitig die in dem traditionell ontologisch und normativ verstandenen Naturbegriff mit erfasste binäre Alternative Sein bzw. Nichtsein, Perfektion bzw. Korruption u. ä. ab, er verdeckt und verdrängt somit das Negationsverhältnis, genauso wie die Seinsontologie es getan hat.8 Der moderne Rechtspositivismus ist insofern der Erbe des ontologischen Naturrechts und stapft im Großen und Ganzen immer noch in dessen Spuren. Die abgeschnittene binäre Alternative bzw. die Negation existiert weiter sozusagen im Exil unter dem Namen Moral, die aber nun begrifflich aus dem Recht ausgeschieden wird und keine Geltungsgrundlage des Rechts mehr ausmacht. Die Geltungsgrundlage des Rechts ist jetzt das Recht selber in Form des Gesetzes, ohne Negationsverhältnis bzw. Moral: Gesetz ist Gesetz. Theoretisch wird – ziemlich vormodern – die Politik dann auch wieder ins Recht eingeschlossen, und zwar mit der Theorie der Selbigkeit von Recht und Staat. Gesellschaftlich strukturell und institutionell gesehen wird aber die abgeschnittene Negation, die ursprünglich im Naturrecht verdeckt ist und sich nur ab und zu aufdrängt, der Politik im Verfahren der Gesetzgebung überlassen (und manipuliert), mit der Folge der Positivierung des Rechts in Form des (jederzeit änderbaren) Gesetzes. Da die immanente Negation von dem Gesetzesrecht abgeschnitten wird, steht man nach wie vor wie bei der Naturrechtslehre im Recht, nicht im theoretisch ortlosen Unrecht, da man immerhin nur eine Seite zur Verfügung 7 Röhl / Röhl, 8 Vgl.
Allgemeine Rechtslehre, 2008, S. 333. GdG, S. 901.
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hat. Das Unrecht bleibt außer Sichtweite. Das Problem des Unrechtsregimes zwingt aber dazu, die Frage zu stellen, ob irgendwelche Gesetze, die sind, doch nicht sind; die gelten, aber doch nicht gelten. Den Unterschied zwischen Positivismus und Anti-Positivismus könnte man nämlich darin sehen, dass der Positivismus zwar nichts gegen alle inhaltliche, auch moralische Kritik an der Rechtsnorm (als Seiendem) hat, aber dessen Geltung als solche (als Sein) doch nicht negiert, während der Anti-Positivismus die Negation auf die (von der Norm zu trennende) Geltung als solche bezieht.9 Die Radbruch’sche Formel könnte man nun vor diesem Hintergrund interpretieren. Bekanntlich geht Radbruch von den drei Rechtsideen aus: Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit. Seine Formel versucht eine verbindliche Schlichtung des Widerstreites zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, „zwischen einem inhaltlich anfechtbaren, aber positiven Gesetz und zwischen einem gerechten, aber nicht in Gesetzesform gegossenen Recht“. Die Lösung des Streites geht dahin, dass (i) „das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist“. Wenn aber (ii) „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht“, hat „das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen“, wobei die Grenze „zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen“ nicht schärfer gezogen werden kann. Aber (iii) „wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“10 Den Punkt (i) könnte man so lesen, dass normalerweise Norm und Geltung ungetrennt verbunden werden, auch wenn die Norminhalte mangelhaft sind. Genau darin besteht die Rechtssicherheit. Im Kriterium der Unerträglichkeit beim Punkt (ii) wird dann die Trennbarkeit von Norm und Geltung 9 Wenn Radbruch meint, dass der Rechtspositivismus die Juristen unfähig macht, das Gesetz moralisch zu kritisieren und sie dadurch gegenüber der Diktatur anfällig, hat er wohl unrecht. Eher kommt es m. E. nicht auf die Norminhalte, sondern auf die Geltung als solche an, die der Positivismus nicht in Frage stellt. Und in diesem Sinne hat Radbruch wohl doch recht. Man soll nämlich das Problem der Form in Luhmanns Sinne genauer durchdenken. Kaufmann, Gustav Radbruch und die Radbruch’sche Formel, 2003, S. 610, meint allerdings, dass man mit der Radbruch’schen Formel „inhaltlich und nicht bloß formal“ die Rechtsphilosophie betreiben soll, weil sonst die Juristen „mit der Hitler-Diktatur und dem Phänomen ungerechter Gesetze unvorbereitet konfrontiert“ werden, mit schlimmen Folgen. 10 Alle Zitate siehe Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, 2003, S. 216.
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sichtlich, wobei die Gerechtigkeit in Gestalt des übergesetzlichen Rechts die Negationskraft entfaltet, aber hauptsächlich auf die Norminhalte bezieht. Die Negation beim Punkt (iii) gilt schließlich der Rechtsgeltung schlechthin – nicht nur dem unrichtigen Norminhalt, sondern der ‚Rechtsnatur‘, wobei immerhin unklar bleibt, ob es um das Unrecht im Sinne der Negation des Rechts oder um das Nichtrecht geht.11 Kaufmann hat hervorgehoben, dass das übergesetzliche Recht kein überpositives Recht ist; für Radbruch besteht gar kein überpositives Recht.12 Daraus könnte man folgern, dass es außer dem Gewohnheitsrecht noch ein anderes übergesetzliches bzw. nichtgesetzliches, aber doch positives Recht gibt. Und das gesetzliche Unrecht ist zwar positiv wahrnehmbar, aber soweit es nach Radbruch jeder Rechtsnatur entbehrt, scheint es dann gar kein Recht, auch kein positives Recht zu sein. Ein Gesetz gehört in diesem Fall zu dem ‚positiven Nichtrecht‘, es stellt ein rein politisches Mittel dar. Aber wie sieht das übergesetzliche, positive Recht aus und wo ist dessen Sitz in aller Welt zu lokaliseren? Und wie soll man das Verhältnis zwischen dem gesetzlichen Unrecht und dem jeder Rechtsnatur entbehrenden Nichtrecht definieren? Offenbar soll man das problematische Verhältnis von Recht und Moral in den Zusammenhang von Recht, Unrecht und Nichtrecht übersetzen. Dabei könnte man die Pointe der Radbruch’schen Formel darin sehen, dass sie die (naturrechtlich) binäre Alternative des Negationsverhältnisses – nun im Namen der Gerechtigkeit bzw. des übergesetzlichen Rechts – zurückgemeldet hat. In dem schreienden Nein zu dem Unerträglichen drängt 11 Nach Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, S. 150, betrifft der Punkt (ii) „ ‚Gesetzliches Unrecht‘ “, der Punkt (iii) „Nicht-Recht“. Allerdings geht es bei Kaufmann um eine bloße Zitierung der Radbruch’schen Formel, er gibt keine theoretische Begriffsdifferenzierung an. In welchen Fällen kann man außerdem feststellen, dass die Gerechtigkeit von Anfang an, ja eindeutig unerträglich, verleugnet wird? Jachmann, Die geltende nicht verbindliche Rechtsnorm als zentrale rechtsphilosophische Problemstellung, 2000, S. 339 f.: „Radbruch bezieht damit zwar die elementaren Gerechtigkeitsanforderungen in den Rechtsbegriff mit ein. In der Sache geht es aber um die vorliegend unter dem Aspekt der Verbindlichkeit diskutierte Problemstellung. Wenn Radbruch darüber hinaus das Erstreben der Gerechtigkeit zum Maßstab erhebt, so ist dies nur schwer praktikabel.“ Unter dem ‚Aspekt der Verbindlichkeit‘ sind dabei die einzelnen evidenten Fälle des Verstoßes gegen die Minimalforderung an Gerechtigkeit gemeint. Wegen der vielfältigen Vorstellungen der Gerechtigkeit ist die Zurückhaltung ja geboten. Aber dann bleibt das Problem der markierenden Grenze aufgrund der Gerechtigkeit unbeantwortet. In Luhmanns Sinne könnte man den Punkt (iii) erfüllt sehen, wenn man aufgrund von funktional irrelevanten Gründen – Rasse, Farbe, Frau, Mann u. a. – aus der sozialen Kommunikation ausgeschlossen wird. Dabei geht es um die In- und Exklusion angesichts der leitenden Struktur der gesellschaftlichen Differenzierung. 12 Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, S. 194, Anm. 8.
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sich die Negation unwillkürlich auf, bricht in das helle Gesetz-Sein ein und fordert zur Zurückweisung des betreffenden ‚korrupten‘ Gesetzes ins Unrecht auf. In diesen Fällen wird die normativ verstandene, angeblich abgeschnittene ‚Natur‘ (der Sache) wieder heraufbeschworen und insofern werden Moral und Recht wieder ‚seinsweise notwendig‘ verbunden. An diesem Punkt – bei einem konkreten Fall bzw. in einer historischen Lage – tut sich der Abgrund, den das naturrechtliche und binär alternative Negationsverhältnis aufspannt, wieder innerhalb des Rechts auf: Sein oder Nichtsein. Genauer gesehen sollen im Kriterium des Unerträglichen zwei Aspekte mit enthalten sein, wobei die eingangs getroffenen differenzierenden Unterscheidungen involviert werden. Einerseits wird die negierende Differenz von wahr oder unwahr, gültig oder ungültig, Sein oder Nichtsein sozusagen mobilisiert; die Geltung wird von der gesetzlichen Norm getrennt und suspendiert. Andererseits führt die dringende Unerträglichkeit einer Situation dazu, dass die beiden Bereiche Sachverhalt und Norm, Sein des Rechts und Sollsein des Rechts so ungetrennt zusammengebunden werden, dass die Grundlage für die positivistische Trennungsthese abgezogen wird.13 Es wird also wahrgenommen und als unbedingt empfunden, dass ein übergesetzliches Recht im Widerspruch zu dem gesetzlichen Unrecht auftritt, wobei das Sein einer Norm mit deren Sollsein (Geltung) zusammenfällt.14 Man kann wohl auch von ‚Digitalisierung einer Rechtslage‘ sprechen, die zu einem unwiderstehlichen Sich-Aufdrängen der negativen Seite innerhalb des Rechts führt. Insoweit hat die antipositivistische Position, die behauptet, dass Recht und Moral eine notwendige Verbindung haben, durchaus recht. Die positivistische Trennung von Recht und Moral bleibt zwar begrifflich analytisch richtig, erscheint hier aber als nominalistisch oder gar künstlerisch. Wie bei der Analyse des Sinnbegriffs gezeigt wird, kann man alles in 13 Oft symbolisiert man diesen Punkt anhand der Werte-Semantik. Der Wert stellt im Üblichen aber nur einen ontologischen Ersatz (bzw. eine Sehnsucht) für die Verbindung von dem in der Tat abgespaltenen Sein und Sollen dar. Vgl. Schmitz, Was ist Neue Phänomenologie?, 2003, S. 308 ff., S. 326. Interessanter ist wohl, nach der Möglichkeit eines objektiven Gewissens gegenüber dem subjektiven Gewissen zu fragen, vgl. Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, S. 200–202. 14 In der Radbruch’schen Formel sieht Hart „eine außerordentliche Naivität“ und „eine Art von Hysterie“. Siehe Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht und Moral, 1971, S. 42, S. 44. Ein naives Empfinden und eine unvernünftige Hysterie haben aber doch ihr ‚Sein‘ und ihnen soll auch eine kühle Theorie phänomenologisch gerecht zu werden versuchen, indem man ihr Sein begreift. Ob der positivistische Standpunkt ehrlicher ist, indem er mittels des rückwirkenden Gesetzes auf ein später verworfenes Gesetz reagieren will, stellt ein Problem der Option dar. Da er dadurch auch die Geltung eines bisher geltenden Gesetzes in Frage stellt, bringt er das unentschiedene Problem der aufrichtigen Kommunikation mit sich.
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allen Richtungen ohnehin (auch begrifflich) grenzenlos auflösen und dann wieder rekombinieren.15 Wenn man aber im schrillen Schallen des Unrechts einmal innezuhalten vermag und sich besinnt, könnte man von der antipositivistischen wieder in die positivistische Position umgeschaltet werden. Die Kraft der kritisierenden Vernunft setzt sich nämlich erneut ein, so dass das Sein und das Sollsein wieder analytisch getrennt werden und die Rechtslage ‚analog‘ wird. Begrifflich kann zwischen beiden Bereichen tatsächlich keine Brücke geschlagen werden. Insofern hat die positivistische Position doch wiederum recht. Man könnte nun zu dem Ergebnis kommen, dass die beiden Positionen an dem Punkt des Negationsproblems miteinander verbunden werden und die führende Rolle abwechselnd einnehmen. Mit ihnen bekommt das Recht zwei Gesichter. So wird das Recht mit Moral logisch sowohl notwendig als auch nicht notwendig verbunden.16 Insofern bringen die beiden Gesichter des Rechts zusammen dialektisch dessen Paradoxie in der Negation zum Vorschein und verdecken sie wieder. Die beiden Positionen bedeuten in der Tat das dem Recht innewohnende Problem der kommunikativen Unbestimmtheit, wie zum Beispiel die Unbestimmtheit wegen der ‚zeitgemäßen Paradoxie der Menschenrechte‘ bei Luhmann,17 die aber so unsichtbar wie möglich bleiben soll. Die kommunikative Unbestimmtheit – die Paradoxie des Rechts – lässt eine Entscheidungssituation entstehen, mit ihr wird dann das Gericht ausdrücklich konfrontiert. Und der Richter muss entscheiden, ob man anhand welcher Rechtsbegriffsbestimmung weiteren Anschluss finden und welche Bestimmung auf die Seite des Unrechts versetzt werden soll. Es besteht die Diskrepanz zwischen Recht und Gesetz. Mit der Interpretation der Radbruch’schen Formel kann man nun eine systemtheoretische Lokalisierung von übergesetzlich-positivem Recht, gesetzlichem Unrecht und gesetzlichem Nichtrecht versuchen. Wenn man die positivistische Unterscheidung von Recht und Moral im Sinne der Differenz von Rechtssystem und Gesellschaft versteht und die antipositivistische Position – wie bei Radbruch – im Lichte der Wiederherstellung des Negationsverhältnisses inner15 Ob die antipositivistische Position eine ‚begrifflich notwendige‘ Verbindung zwischen Recht und Moral beweisen kann, ist mir aber eher zweifelhaft. 16 Einerseits wird die Art und Weise versucht, „in der das System seine eigene Paradoxie / Tautologie in die Geltung von Normen auflöst“ (RdG, S. 529); andererseits könnte hier auch der Sitz der Gerechtigkeit verortet werden, die als Kontingenzformel, als Norm, als Programm für Programme den Punkt darstellt, an dem die naturrechtlichen und positivistischen Gesichtspunkte überwunden werden könnten (RdG, S. 217). 17 RdG, S. 581.
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halb des Rechts bestimmt, dann könnte man die beiden Positionen aufgrund des systemtheoretischen Differenzansatzes in ein Ganzes integrieren. Dabei wird die Recht / Moral-Differenz als System / Umwelt-Differenz gelesen, die prinzipiell den positivistischen Standpunkt zur Geltung bringt. Diese Differenz wird dann im Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung durch die Herausbildung des eigenständigen Rechtssystems in die Differenz von Recht und Unrecht überführt, was eine (funktional-spezifische) Umformulierung der Einheit der Differenz bedeutet. Zugleich weist man mit der Differenz des Rechtscodes die rechtspositivistische einwertige Ontologie zurück, indem man die Differenz der beiden Rechtswerte Recht und Unrecht vom Rechtsbegriff im Sinne der inhaltlichen Sinnbestimmung trennt. Die Trennung von Rechtsbegriff und Rechtswert – wie Gedanke und Existenz, Normativität und Geltung, Seiendes und Sein – geht mit dem Nega tionsverhältnis – Sein und Nichtsein, Recht und Unrecht – Hand in Hand. Es ist also unumgänglich, die Umwelt (das Nichtrecht) – ebenfalls die Moral in der Umwelt – zu berücksichtigen. Sie wird durch die die Codewerte verteilenden Programme in das System eingeführt, sie unterbricht aber die Autopoiesis des Rechts aufgrund des Rechtscodes von Recht und Unrecht nicht, kann ihn nicht ersetzen. Das ursprüngliche Negationsverhältnis von Sein und Nichtsein, Perfektion und Korruption wird also nicht schlicht abgestreift, verdrängt und der politischen Gesetzgebung überlassen wie beim Positivismus; sondern es wird innerhalb des positiven Rechts als Reflexionswert verankert, mit dem alle potentiellen, ‚nicht herrschenden‘, variierenden Rechtsbestimmungen aufbewahrt werden. Dafür braucht man aber eben auch nicht mehr einen Grund, eine Substanz bzw. eine Natur wie bei dem traditionellen ontologischen Naturrecht. Das Recht gründet nun stattdessen auf Differenz, und zwar einer sichtbaren Differenz von Recht und Unrecht. „Die technischoperativen und die rechtfertigungsmäßigen Vorteile der geschlossenen Binarität von Negation und Position stabilisieren sich wechselseitig.“18 Man könnte von einem ‚positivistisch immanenten Naturrecht‘ sprechen,19 wobei die Negation – das Unrecht im Unterschied zum Nichtrecht – nun sichtbar gemacht wird.20 18 Luhmann, Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen, in: ders., SA 3, S. 41. 19 Wenn man „für eine nicht-positivistische Konzeption“ des Rechts optiert, muss man noch nicht gegen den Positivismus und für eine rechtsimmanente Moral entscheiden, wie Dreier es zu meinen scheint (ders., Niklas Luhmanns Rechtsbegriff, 2002, S. 319). 20 Die Negation bedeutet schließlich die Negation der unnegierbaren Welt in der Welt, was hier in der Rechtsform stattfindet. Die Theorie des sogenannten dritten Weges scheint am meisten ein äußerliches Zusammenbringen der beiden Positionen
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Die Faktoren aus der Umwelt, inklusive der Moral im engeren Sinne, beeinflussen zwar das Negationsverhältnis zwischen Recht und Unrecht, sie können in manchen Fällen sogar die ausschlaggebenden Gründe für die konkrete Bestimmung des Negationsverhältnisses liefern. Dadurch wird einerseits das Unrecht – die einstmals durchaus rechtmäßigen, nun aber unrechtmäßigen Gesetze – als ein Teil des ganzen Rechtssystems, als eine historisch aktuelle bzw. potentielle Möglichkeit der Rechtsbegriffsbestimmung anerkannt. Das Unrecht befindet sich im Recht(ssystem), es wird nicht durch Aberkennung als Recht bzw. durch Absprechen des Rechts wertes aus der Welt geschafft, sondern versinkt nur in den Rechtssinnhorizont. Andererseits muss man aber die Möglichkeit gelten lassen, dass man zwischen Recht und Unrecht hin- und hergeschoben werden kann und die entsprechenden Sanktionen hinnehmen muss. Dies ist eben das Recht(ssystem). Das Leiden, das dadurch zugefügt wird, muss man akzeptieren, mit Recht oder mit Unrecht, wie auch immer. Man kann mit derselben Rechtsbestimmung zwischen beiden Rechtswerten umpositioniert werden, Anschluss nicht mehr oder doch wieder finden. Aber diese Seite ist (nicht) die andere Seite. Und dies ist genau das Recht, das die kommunikative Unbestimmtheit mit sich bringt und sie in sich selbst überwinden muss. zu sein und zeigt keine theorieinterne, zusammenhängende Einheit. Zum Beispiel geht Jachmann, Die geltende nicht verbindliche Rechtsnorm als zentrale rechtsphilosophische Problemstellung, 2000, S. 336, von der Geltung als einer ‚notwendigen‘ Eigenschaft der (Rechts-)Norm aus, und schneidet das Problem der Negation – des Unrechts – mit der begrifflichen Unterscheidung von Geltung und Verbindlichkeit an, die parallel zu der Unterscheidung von Normsetzung und Normbegründung steht. Die Geltung mit Normsetzung betrifft die Zugehörigkeit einer Norm zu einem Normensystem und garantiert die Rechtssicherheit durch Abgrenzung nach außen, die Verbindlichkeit mit Normbegründung zieht dann mögliche materiale Gerechtigkeitsanforderungen ein und bezieht sich auf die material-inhaltliche Bestimmung. Mit guten Gründen soll man sich gegen die vielfältigen Moralen außerhalb des Rechts abschirmen, man soll die Innenperspektive des Rechts einnehmen; aber auch innerhalb des Rechts kann man die moralische Pluralität nicht vermeiden, und zugleich kann man sich ebenso wenig mit bloßer Setzung und Geltung abfinden. Man scheint weder außerhalb noch innerhalb des Rechts mit Moral zurechtzukommen. Von daher wechselt man zu ‚überpositiven‘ bzw. ‚übergesetzlichen‘ Gerechtigkeitskriterien, um „durch Anwendung des sog negativen Prinzips“ – gemeint ist die Radbruch’sche Formel – die grobe Perversion des positiven Rechts zu verhindern, also die Unverbindlichkeit einer geltenden positiven Rechtsnorm zu erreichen (Jachmann, ebd., S. 339 f.). Die antipositivistische Position, wie die Radbruch’sche Formel sie zum Ausdruck bringt, fungiert offenbar als eine hinzugefügte Notbremse, wobei unklar bleibt, wo das überpositive bzw. übergesetzliche negative Prinzip – innerhalb oder außerhalb des Rechts? – zu finden ist. Die Theorie scheint nämlich keine innere Einheit zu bilden. Und dasselbe könnte im Allgemeinen für die Ansätze gelten, die gegen die formalistischen Theorien optieren und Umschau nach einem materialen, inhaltlich etwas Unverfügbares einschließenden Rechtsbegriff halten.
II. Systemtheoretische Umschreibung von Recht und Moral383
Es soll hierbei eigens hervorgehoben werden, dass die versuchte systemtheoretische Umschreibung der Radbruch’schen Formel von formaler Art ist. Wenn man diese Formel genauer betrachtet, dann könnte man feststellen, dass man mit ihr – mit der Rückmeldung des Negationsproblems – nicht zu einem liberalen Rechtssystem kommen muss. Die Negation bezeichnet nichts, sie determiniert nicht die eingesetzten Rechtsbegriffsbestimmungen. Mit einer antipositivistischen Position kann man nicht nur zu einem demokratisch-liberalen, sondern auch zu einem totalitär-diktatorischen Rechtssystem kommen. Diese systemtheoretische Umschreibung schweißt nämlich nicht nur den positivistischen und den antipositivistischen Standpunkt zusammen, sie erlaubt zugleich, auch die so vielen, gar einander widersprechenden Naturrechtslehren – liberale oder totalitäre Spielarten – theoretisch zu umfassen und zu verorten.21 Eine Theorie bzw. ein Regime, wie entsetzend unmoralisch es auch sei, stellt eben eine historische Möglichkeit dar und man hüte sich vor der ontologischen Versuchung, wieder mit Moral eine potentielle Möglichkeit aus der Welt schaffen zu wollen. Eine potentielle, negierte Möglichkeit hat ihr ‚Sein‘ und in diesem Sinne ihr ‚historisches Recht‘ (und auch ihr Unrecht) und sie kann auch wieder ak tualisiert werden. Ob es semantisch gerechtfertigt und sozial strukturell ermöglicht werden kann, ist eine andere Fragestellung. Das Recht ist und bleibt nämlich kontingent; jede inhaltliche Bestimmung des Rechtsbegriffs ist möglich, aber weder notwendig noch unmöglich. Und die Möglichkeit, andere Modelle des Rechts in der Evolution zu entwickeln, bleibt prinzipiell offen. Insofern kann die Radbruch’sche Formel auch als eine Theodizee des Rechts bei Luhmann begriffen werden, eine Theodizee der unerträglichen Einsicht: Recht sei (nicht) Unrecht. Der Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit gilt als ein Konflikt in Bezug auf die Konsistenz bzw. die Identität innerhalb des Rechtssinns. Sie kann also im Zusammenhang von der Systemselbstreferenz und der strukturellen Kopplung mit der turbulenten Umwelt (Fremdreferenz) verstanden werden. Die Theodizee des Rechts spielt sich ab, indem man von der Seite des Rechts auf die Seite des Unrechts verdrängt wird, obwohl die inhaltliche Rechtsbestimmung gar keine Änderung findet.22 21 In der Geschichte kann das Naturrecht eben revolutionär fortschrittlich oder reaktionär konservativ wirken. 22 Wenn man die heikle Frage nach der (historischen) Schuld und der Rechtsfolge stellt, dann würde es wohl noch brutaler. Von einem liberalen geht man über zu einem totalitären System und umgekehrt und zieht die unvermeidlichen Konsequenzen. Man hat Schuld, muss mit dem Unrecht leben und (gewissenhaft) die Rechtsfolge tragen. Oder hat niemand Schuld, wenn das Recht doch kontingent ist? Darauf würde Luhmann vermutlich antworten: Das Gegenteil ist der Fall. Die Schuld bleibt strukturell notwendig und ihre Erteilung ist mit allen guten oder we-
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F. Abschließende Betrachtung
Bedeutet dies Beliebigkeit des Rechts? Anything goes? Mit Luhmann würde man darauf antworten: Alles ist möglich, aber nichts ist beliebig. Die gesellschaftlichen Strukturen schränken die Möglichkeiten des Anschlusses ein, aber zugleich besteht immer die Möglichkeit des Widerspruchs, des Neins. Das Recht kann ins Unrecht versetzt werden, aber nicht beliebig. Angesichts des nun sichtbaren Negationsverhältnisses muss die ihren Nachtflug beginnende rechtsphilosophische Eule mit Protagoras einen antinomischen, aber doch geltenden Vertrag abschließen, sie muss nämlich lügen lernen, indem sie zwischen Recht und Unrecht das Selbstkonditionieren des Rechtssystems mittels von Theorien, Argumentationen sowie dem Aufbau der Dogmatiken versucht, und zwar mit Blick auf die nicht mehr hierarchische, sondern funktional differenzierte, bereits von der Struktur her konfliktreiche Welt. Die Entscheidung bringt aber unvermeidlich die Unbestimmtheit mit sich. Und das Recht hat strukturell seine andere Seite, das Unrecht, sei es mit guten oder sei es mit weniger guten Gründen. Es gibt kein richtiges bzw. gutes Recht schlechthin. Aber eine Rechtsentscheidung zwischen Recht und Unrecht muss aller Kontingenz und Unbestimmtheit zum Trotz getroffen werden, weil sonst die Welt unbeobachtbar bleibt, die so ziale Kommunikation keinen Anschluss findet und die Reproduktion des Sozialen aufhört. Die kommunikative Unbestimmtheit muss (vorübergehend) überwunden werden, ja irgendwie. Nur „eines schickt sich nicht für alle. Sehe jeder, wie er’s treibe, sehe jeder, wo er bleibe, und, wer steht, daß er nicht falle“.23 Es geht für Luhmann um die zentrale Differenz(erfahrung) von Recht und Unrecht im Recht(ssystem), um „das Heiligtum des Systems“,24 das die Paradoxie verbirgt und ihre ‚Opfer‘ einfordert. Nur mit ihr kann man dem Recht als Gegenstand gerecht werden. Die Differenz von Recht und Moral macht nicht den Kern des Rechts aus, gilt nur als sekundär, obwohl man sie niger guten Gründen letztlich kontingent, jedoch unvermeidlich. Aber man muss auch auf der Seite des Unrechts stehen und leben können. Fast könnte man sagen, dass man mit seiner Sünde leben können muss, weil ohne die Schuld, ohne das Unrecht, ohne die Sünde die Welt nicht verletzt und auch nicht beobachtbar würde. Die Weltverletzung, die Unterscheidung und Entscheidung zwischen Recht und Unrecht bildet die Voraussetzung der beobachtbaren Welt. Ohne sie kann das Recht – gut oder schlecht auch immer – auch gar nicht funktionieren. Aber wenn man in einer „nur noch Moral“ und seit Langem über einem entontologisiertem Patt zwischen gut und böse sitzt (vgl. GdG, S. 398 f.), wie kann man sich ein kontrafaktisches, normatives Dennoch zutrauen (vgl. RS, S. 54)? Und Verantwortung? Schuld? Dennoch oder nur noch? Diese Systemtheorie schleudert die Moral ohne jeden Laut wieder hinter ihren Anfang zurück. Und ecce homo. 23 Goethe, Beherzigung, in: ders., Gedichte, 1998, S. 133. 24 RdG, S. 320. Man könnte ebenfalls von dem Heiligtum der „Göttin Evolution“ sprechen (RdG, S. 328).
II. Systemtheoretische Umschreibung von Recht und Moral385
auch im Sinne der Differenz von System und Umwelt (Nichtrecht) verstehen kann, wie hier versucht wird. Aber man hat Schwierigkeiten mit der theoretischen Verortung des Unrechts im Recht gegenüber dem Nichtrecht, obwohl man es alltäglich stets bereits bei sich hat. Man sieht es (nicht) und man übersieht es. Das Unsichtbare an dem übersehenen Problem heißt Negation in der Paradoxie des Rechts, in der Selbstnegation des Rechts sowie in der Theodizee des Rechts. Zum Schluss mag Auden zitiert werden, um dieses Problem der Paradoxie (des Rechts) bei Luhmann noch einmal zu beleuchten: Musée des Beaux Arts25 About suffering they were never wrong, The Old Masters: how well they understood Its human position; how it takes place While someone else is eating or openig a window or just walking dully along; How, when the aged are reverently, passionately waiting For the miraculous birth, there always must be Children who did not specially want it to happen, skatig On a pond at the edge of the wood: They never forgot That even the dreadful martyrdom must run its course Anyhow in a corner, some untidy spot Where the dogs go on with their doggy life and the torturer’s horse Scratches its innocent behind on a tree. In Brueghel’s Icarus, for instance: how everything turns away Quite leisurely from the disaster; the ploughman may Have heard the splash, the forsaken cry, But for him it was not an important failure; the sun shone As it had to on the white legs disappearing into the green Water; and the expensive delicate ship that must have seen Something amazing, a boy falling out of the sky, Had somewhere to get to and sailed calmly on.
Das Leiden habe seinen Platz in der Welt. Darin irrt sich der Meister nicht. Da es der Zeile, wo sich sein Platz placiert, an einem Reimpartner fehlt, macht sie eine „Bruchstelle“ aus und erhält „keinen Platz in der poetischen Ordnung des Gedichts“; dadurch widerspricht sie ironisierend der Behauptung des Gedichts.26 Die Paradoxie stellt bei Luhmann genau „eine Leerstelle“ dar und die Tautologie „eine verdeckte Paradoxie“.27 Die Negation, die nichts ist und die Welt ja (nicht) 25 Auden,
Gedichte (Poems), 1976, S. 14. Was ist gute Literatur, 2010, S. 77. 27 WissendG, S. 208, S. 491. Auch Luhmann, Autopoiesis als soziologischer Begriff, 1987, S. 319: „Gesellschaft = Gesellschaft. Eine Tautologie ist aber eine Paradoxie.“ 26 Gelfert,
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F. Abschließende Betrachtung
rührt, muss in Klammern so verdeckt werden und ungesehen bleiben wie das menschliche Leiden, dass die logische Paradoxie als „die Orthodoxie unserer Zeit“28 – man denke an die alltäglichen sowie historischen Erfahrungen – unhörbar das unscheinbare Problem der Theodizee für die schöne (Rechts-)Welt aufstellt: „Vorher schien alles in Ordnung zu sein und hinterher schien alles in Ordnung zu sein, alles war anders und alles war dasselbe.“29 Dies, weder Naturrecht noch Positivismus, könnte man als Negativismus des Rechts bezeichnen.
S. 1144. Vgl. Klenner, Signum des 20. Jahrhunderts, 2003, S. 614–616. Biographie, Attitüden, Zettelkasten, 1987, S. 128. Vgl. Schwanitz, Der Antisemitismus oder die Paradoxierung der Außengrenze, 1997, S. 255. 28 GdG,
29 Luhmann,
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SS
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RdG
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Sachverzeichnis antihumanistisch 75, 166, 328, 336, 338, 365, 372 (siehe auch Humanismus) Antinomie 17, 54, 137, 146, 152, 173–185, 204., 214–217, 231, 249 f., 282, 318, 367–369 (siehe auch Paradoxie) Aufrichtigkeit 31, 33 f., 68, 263, 273, 307 Ausdifferenzierung 59, 60, 66, 98, 103, 106, 111, 115, 116, 120, 122, 145, 202, 206, 219, 220, 223, 225, 243, 255, 273, 297, 302, 322, 363, 374 (siehe auch Differenzierung) Autopoiesis 15, 63, 74, 81, 84, 89, 97, 125, 130, 166 f., 190, 217, 219, 224, 226, 244, 248, 258, 260, 265, 266, 289 f., 307, 340, 346, 352, 358, 370, 381 Code 16, 115, 118, 124, 128, 145–147, 153, 182, 208, 228, 231–259, 264 f., 271 f., 294–298, 304, 312, 328, 361–366, 369–371 (siehe auch Metacode; Politikcode; Rechtscode; Verfassungscode) Codewert 18, 161, 231, 233, 246, 248, 250 f., 254 f., 258–260, 264, 291, 294, 300, 313, 371, 381 Codierung 91, 97, 116–118, 142, 175–177, 210, 224, 226–232, 238 f., 243–245, 249 f., 258, 270 f., 313, 319, 325, 341, 347, 350, 361, 363, 371 Deontologisierung 40, 71, 73 f., 79, 127, 151, 154 f., 159, 172, 186, 191, 203 f., 214–217, 271, 322 Differentes 41, 50, 126, 149, 201, 241, 275, 326, 374
Differenz 13–24, 29–50, 60–66, 73–75, 84, 88–94, 99–117, 122–131, 135–154, 160–163, 171–173, 177, 186 f., 191, 195, 201–212, 220 f., 227 f., 234 f., 238–240, 244, 255–262, 266, 271, 274 f., 282, 286–288, 294, 298, 313–316, 326, 333, 339, 343–346, 350, 356–360, 369–374, 379–381 (siehe auch Differenz von Identität und Differenz; Einheit der Differenz) − Ego / Alter-~ 42, 56–60, 76, 126, 268, 327 (siehe auch doppelte Kontingenz) − Recht / Politik-~ 234, 301, 304, 308, 310, 329 − Recht / Unrecht-~ 16, 92, 220, 228–241, 263, 270, 272, 275, 301, 304, 336, 371, 373, 381, 384 − Sein / Nichtsein-~ 25–28, 38, 42 f., 50, 62, 79, 153, 167, 191, 205, 212, 292, 375, 379, 381 − System / Umwelt-~ 14 f., 22–24, 31, 33, 39–45, 48, 50, 54, 58 f., 74–76, 95, 97–113, 118, 123 f., 142, 147–152, 161–165, 171, 212, 234–241, 251, 255, 256, 259, 273, 278, 286–288, 300, 318, 324, 340, 347, 351, 374, 381, 385 − Verfassung / einfaches Gesetz-~ 314, 316 − Vorher / Nachher-~ (bzw. Vergangenheit / Zukunft-~) 51–60, 79, 83–89, 93, 97, 104, 107, 114, 127, 145, 150 f., 169, 187–193, 206, 214 f., 265–267, 275, 280, 292, 294, 345, 368, 370 Differenz von Identität und Differenz 20, 28, 38, 43, 48, 135, 148
404 Sachverzeichnis Differenzerfahrung 31, 33 f., 42–44, 64 f., 79, 99, 102, 142, 152, 159, 186, 195, 218, 228, 255, 263, 328, 338, 348, 356, 367, 384 Differenzierung (der Welt bzw. der Gesellschaft bzw. des Systems) 40–44, 76, 97–113, 120–126, 151, 206, 223, 226, 234, 296, 300, 302, 308, 337 f., 378, 381 (siehe auch Ausdifferenzierung) − funktionale ~ 17, 42, 61, 94, 96 f., 101, 107–121, 124–127, 136–140, 168, 202, 209, 221, 225, 234, 239, 245, 263, 273, 297, 300, 302, 307, 320–325, 330, 335, 341, 347, 349, 354, 362, 366, 370, 372, 375 − segmentäre ~ 108–112 − stratifikatorische (bzw. hierarchische) ~ 29, 109–111, 116, 124, 126, 143, 221, 297, 302, 322, 372 − Zentrum / Peripherie-~ 108, 110 f. Differenzierungsform 17, 34, 42, 109–111, 114–116, 120, 137, 209, 213, 296, 303, 337, 342, 348, 361 Differenzlogik 12, 17, 20, 44, 84, 103 f., 106, 108, 123, 130–138, 141, 146– 148, 177, 202, 270, 296, 298, 369 f. differenzlos 30 f., 38–40, 114, 126, 138 f., 141, 220, 294, 313, 316, 346, 350 Einheit 12, 17–31, 39–45, 55–58, 61, 70–77, 81 f., 86–89, 95–100, 105–111, 114–140, 145–176, 185–189, 197–208, 226–238, 243–248, 253–260, 269, 275–288, 293–296, 302–306, 310, 314–318, 338, 344, 347 f., 361 f., 367–370, 382 − der Differenz 18, 28, 31, 44 f., 55, 75, 77, 82, 94 f., 99, 105 f., 109, 118, 122, 124, 126, 128, 133, 136, 148, 155, 160, 163 f., 176, 215, 239, 251, 253, 274 f., 292, 296, 301, 309, 318, 343 f., 348, 365, 374, 381 − der Gesellschaft 44, 94, 104, 106, 109, 122, 125, 202, 259, 287 f., 300 f., 308, 338
− des Rechts 12, 241, 253, 260–262, 265, 274 f., 281, 383, 287 f., 291, 294–296, 300–303, 309, 318, 340, 348, 361 − von Recht und Politik 234, 300–305, 308, 311, 313, 315 − der Welt 17, 23 f., 27, 43–45, 55, 57, 61, 64, 74, 81 f., 88, 94, 99, 107, 116, 118, 124–127, 140, 203 f., 219, 239, 243 f., 256, 264, 288, 304, 339 f. Emergenz 17, 62, 66, 71, 73 f., 78 f., 82, 87, 102 Entscheidung 18, 32, 77, 90–94, 97, 163, 172, 175, 193, 222, 237, 243, 245, 250–253, 257, 262–264, 271–281, 285–287, 291–294, 306, 309–312, 333, 335, 341–344, 348 f., 352, 356 f., 372, 384 Entscheidungszwang 203, 271–274, 277, 286 f., 372 Form 12, 18, 27, 38–42, 46, 51, 61–66, 73, 76, 79 f., 84 f., 90, 97, 99–103, 108–111, 115–119, 123, 126, 137– 140, 145, 147, 151, 167, 171–174, 186–189, 195–198, 205–213, 224, 235, 238, 243–246, 249 f., 253, 258–260, 268, 270, 273–275, 279–281, 287 f., 292, 294, 296, 301–311, 314 f., 319, 321 f., 327, 336, 339, 341–361, 365, 368–370, 375–377, 381 (siehe auch Differenzierungsform) Fremdreferenz 14, 89, 122, 129 f., 196, 209, 253, 288, 329, 383 (siehe auch Selbstreferenz) futuris contingentibus 176, 252, 276 Geltung 12, 143, 147, 160, 169, 185, 214–218, 230–234, 240 f., 246–252, 256, 261–270, 275 f., 279–284, 287–294, 300, 302, 308–315, 318, 322, 324, 327 f., 331, 333, 337–343, 355–359, 363, 367, 372–381, 302 Gerechtigkeit 16, 29, 90, 163, 221, 242, 245 f., 249, 255, 277–281, 294,
Sachverzeichnis405 318, 325, 330, 335, 342 f., 348, 350, 372, 377–383 Gödelisierung 175, 310 Grundnorm 110, 229, 234, 248, 266, 277, 308, 318, 364, 376 Humanismus 24, 30, 55, 57–59, 134 f., 146, 157, 337 f., 346, 359, 366 (siehe auch antihumanistisch) Identität 14, 17–21, 24, 26–29, 38–51, 55, 61 f., 69, 72, 87–90, 93–97, 100–114, 117, 120–156, 160–176, 182, 185–190, 195–205, 209–213, 218 f., 230, 244–262, 268–272, 276–295, 306–310, 313 f., 319, 326 f., 336, 338, 346, 349, 354, 357–360, 365–371, 383 − der Gesellschaft 29, 106, 121, 125, 137, 370 − des Rechts 18, 178, 220, 243–247, 251, 253, 256–262, 277 f., 281, 283, 287–289, 294, 296, 298, 300, 317 f., 323, 326, 331, 340, 343, 354, 357 − der Welt 130, 185, 339, 365 Identitätslogik 17, 24, 106, 131, 195 f. Interpenetration 20, 66, 103, 107, 126, 177, 318, 323 Kommunikation 11, 13, 17, 22, 26, 28, 31–34, 42–48, 59, 62, 67–71, 74–84, 89 f., 95–97, 100, 108–110, 116–121, 126, 142, 166–169, 184, 187, 190, 193, 195, 213, 229, 236, 238, 243, 201, 260, 265, 270–272, 276, 279, 289, 294, 308, 313, 317, 319 f., 323, 327, 332 f., 348, 352, 355, 357, 364 f., 369–372, 378 f., 384 Kommunikationsmedium 78, 115 f., 177, 120, 265, 307 kommunikative Unbestimmtheit 44, 61, 78, 80, 94, 121, 140, 152, 154, 173, 175, 186, 194 f., 211, 213, 251, 263, 286, 307, 327 f., 331, 340, 356, 369, 380, 382, 384 Komplexität 22 f., 36, 41, 44 f., 48, 53, 55, 60, 62, 70–73, 82–85, 88–94,
97–102, 106, 110, 113, 122, 126, 159 f., 172, 219, 256 f., 269–272, 298, 304, 314, 347 Konstruktivismus 211–213, 216, 244 Kontingenz 44, 58, 62–66, 70, 79, 88, 93 f., 108, 114, 121, 143–147, 151 f., 168, 215–228, 233, 242–247, 252–256, 259, 263, 266, 277 f., 287, 305–309, 316–322, 339 f., 345, 348, 350, 354, 367–371, 380, 384 – doppelte ~ 32, 35, 58, 62, 64–70, 74, 76, 79 f., 88, 108, 126, 142, 186, 202, 209, 215, 218, 254, 263, 265, 284, 289, 298, 319, 327, 338, 358 f., 369, 372, 374 Kopplung 66, 100, 108, 112, 117, 194, 310, 312, 314 f., 320, 324, 329, 336 f., 348, 361, 364 – operative ~ 84, 101, 103–107, 168, 193, 238, 242 f., 274 – strukturelle ~ 18, 54, 66, 92, 100–108, 113, 117, 124, 127, 243, 296–300, 305–309, 312–314, 321–329, 332, 336, 347, 349, 351–355, 358, 383 Medium 38, 46, 79, 116–120, 258, 265, 307, 363 (siehe auch Sinn; Kommunikationsmedium) Menschenrecht 18, 108 f., 115, 221, 224, 278, 297, 299, 303, 323, 330–333, 336–342, 345–365, 372, 380 Menschenwürde 57, 339, 353–358, 364, 372 Metacode Inklusion / Exklusion 333, 363 f., 366, 372, Moral 16, 19, 28 f., 33, 57 f., 228, 232– 234, 240, 256, 280, 287, 298, 302 f., 321, 325, 348, 357, 359, 373–384 Moralcode 233 Moralistik 24, 57–59, 157, 346 Naturrecht 223 f., 235, 256, 262, 280, 297–304, 311, 316, 330, 336 f., 344–349, 356, 364, 374–376, 381, 383, 386
406 Sachverzeichnis Negation 18, 25, 32 f., 37–39, 46, 47–50, 55 f., 63 f., 72, 84, 90, 114–119, 126 f., 137–154, 161, 164, 168 f., 173–190, 205, 209–213, 217–220, 226–234, 241–258, 262–269, 282, 306, 310, 316, 318, 326 f., 331, 339–341, 352, 357–360, 369–385 Negativität 18, 38, 141–145, 154, 186 f., 209 f., 213, 216, 273, 338, 370, 372 Nichtrecht 12, 16, 228, 234–243, 255 f., 259, 271, 321, 371, 378–381, 385 (siehe auch Unrecht) Normativität 30, 109, 229, 234, 261, 265–271, 291, 300, 302, 310, 312, 322, 333, 338, 357, 361, 381 Paradoxie 11–18, 24–34, 44 f., 50, 52, 61, 63, 82, 94 f., 107, 114, 123, 127–129, 135–160, 164, 167–182, 186–196, 200–211, 214–219, 224, 230 f., 235, 237 f., 243–251, 255, 260–264, 267, 269 f., 275, 283, 286–293, 296, 300, 304–322, 327–331, 339 f., 350, 352, 356 f., 364–371., 380, 384–386 − (bzw. Antinomie) des Selbstbewusstseins 167, 187, 195–199, 249, 358 − des Lügners 11, 55, 182–188, 249–252 − der Menge 16, 178, 183–185 − des Rechts, 11–19, 148, 185, 219, 227–233, 238, 241–264, 278, 281 f., 286–296, 300–305, 308–316, 322, 328, 340, 342, 347, 350–352, 356 f., 367, 371–375, 380, 385 − der Souveränität 291, 300, 305–311, 314, 322, 372 − der Welt 13, 243, 340 − der Zeit (bzw. Zeitantinomie) 52 f., 85 f., 155, 167, 188–195, 203, 214 f., 218, 249, 267, 282, 289, 294, 368 Politikcode 304, 307, 312, 320, 322, Radbruch’sche Formel 377–383
Recht (siehe auch Recht / Unrecht-Differenz, Menschenrecht) − objektives Recht 92, 328, 330 − subjektives Recht 92, 225, 323–338, 355, 365, 372 Rechtscode 18, 228–232, 238–245, 249–264, 270–282, 287–289, 294, 296, 297, 298, 313, 318, 322, 327, 340 f., 347, 350 f., 361–365, 371 f., 381 Rechtsverhältnis 221, 297 f., 326–329, 336, 340, 360 Rechtswert 228–234, 239, 243–259, 264–266, 271, 275, 322, 381 f. Relation 27 f., 47–51, 66 f., 71–75, 79–86, 93, 98 f., 105 f., 120, 126 f., 129–133, 136, 139–143, 147–150, 154–164, 169, 172 f., 198–203, 213, 227, 230 f., 244, 246, 250 f., 257, 261, 283, 289, 294, 306, 343, 357 Selbstbeobachtung 33, 41 f., 68, 90, 96 f., 121–129, 137, 140, 150, 220, 235, 260 f., 287, 308 Selbstbeschreibung 21, 41, 90, 94–96, 110, 121–129, 137, 140, 145, 220, 239, 257–262, 287 f., 294, 309, 317, 319, 347 f., 351, 357, 369 Selbstreferenz 13–15, 24–27, 34 f., 40, 45, 49 f., 54 f., 59–66, 70–83, 87–89, 93–99, 103–107, 113, 118, 123, 126–131, 135–160, 173, 195–205, 209–213, 216–219, 227, 230, 244, 248, 253, 265, 279, 287 f., 296, 299, 309–316, 319, 322, 329, 345, 349, 351 f., 357 f., 369, 383 (siehe auch Fremdreferenz) Sinn(-dimension) 24, 33, 45–65, 75, 87 f., 114, 176, 186–188, 262, 270 Souveränität 118, 263, 289, 291, 294, 299–308, 311–314, 321, 333, 337 (siehe auch Paradoxie der Souverä nität) Tautologie 50, 123, 137–151, 157, 168. 173 f., 186, 195, 216, 229–231,
Sachverzeichnis407 244–248, 255, 262, 306, 309, 312, 326 f., 340, 368 f., 380, 385 Theodizee 13, 18, 121, 141, 145–147, 176, 205, 218, 226, 233, 249, 263, 272, 282, 287, 299, 306, 316, 323, 334, 340, 371 f., 383, 385 f. Unrecht 12 f., 15–18, 53, 63, 92, 137, 220, 223, 226–278, 285–287, 291–304, 313–318, 322, 327–336, 340, 342, 347, 350, 351, 356, 359–365, 371, 373, 376–385 (siehe auch Nichtrecht) Verfassung 15, 18, 102, 108, 175, 224, 226, 264, 288–291, 297–326, 332–339, 345–347, 350, 354–358, 372 Verfassungscode 291, 322 Welt 13–17, 20–31, 34, 38–47, 53–66, 70, 73, 75 f., 79–89, 93–99, 102, 104,
108, 111–117, 121, 123, 126–132, 136–175, 185–187, 199, 204, 207–220, 224, 230–244, 254–259, 273–276, 291, 293, 318, 321, 325, 381, 384–386 (siehe auch Einheit der Welt; Identität der Welt) Weltgesellschaft 17, 119 f., 297, 303, 337–342, 348, 352–361, 365, 372 Widerstandsrecht 300–307, 314, 321, 337, 347 Zeit 13, 18, 39–41, 47–63, 77–90, 97, 104, 107, 114, 145, 149–154, 164, 167, 169, 174, 187–198, 201–206, 213–222, 226, 233, 236, 257, 262, 266–282, 289, 292–295, 316 f., 331, 352 f., 362, 368, 370–372 (siehe auch Paradoxie der Zeit; Zeitbindung) Zeitbindung 55, 85–89, 97, 151, 188, 204, 221, 245, 249, 256 f., 262, 267–282, 289–295, 322, 331, 371 f.