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German Pages 8 [320] Year 2008
Helmut Leipold
Die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft als zentrale Aufgabe: Ordnungsökonomische und kulturvergleichende Studien
Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft
Herausgegeben von Prof. Dr. Gernot Gutmann, Köln Dr. Hannelore Hamel, Marburg Prof. Dr. Helmut Leipold, Marburg Prof. Dr. Alfred Schüller, Marburg Prof. Dr. H. Jörg Thieme, Düsseldorf Prof. Dr. Stefan Voigt, Marburg
Unter Mitwirkung von Prof. Prof. Prof. Prof.
Dr. Dr. Dr. Dr.
Dieter Cassel, Duisburg Karl-Hans Hartwig, Münster Hans-Günter Krüsselberg, Marburg Ulrich Wagner, Pforzheim
Redaktion:
Dr. Hannelore Hamel
Band 88:
Die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft: Ordnungsökonomische und kulturvergleichende Studien
Lucius & Lucius • Stuttgart • 2008
Die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft als zentrale Aufgabe Ordnungsökonomische und kulturvergleichende Studien
Von
Helmut Leipold
Lucius & Lucius • Stuttgart • 2008
Anschrift des Autors: Prof. Dr. Helmut Leipold Waldweg 15 35094 Lahntal-Goßfelden
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. (Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft; Bd. 88) ISBN 978-3-8282-0436-2
© Lucius & Lucius Verlags-GmbH • Stuttgart • 2008 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Isabelle Devaux, Stuttgart Druck und Einband: ROSCH-BUCH Druckerei GmbH, 96110 Scheßlitz Printed in Germany
ISBN 978-3-8282-0436-2 ISSN 1432-9220
Vorwort Ordnungsökonomik und Systemvergleich sind seit über 50 Jahren ein Forschungsschwerpunkt im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Philipps-Universität Marburg. Aus der von K. Paul Hensel gegründeten und nach seinem Tod 1975 von mir weitergeführten „Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme" sind zahlreiche wissenschaftliche Publikationen hervorgegangen, die zu einem erheblichen Teil aus der Feder von Helmut Leipold stammen (s. Anhang). Sein 64. Geburtstag am 17. April 2008 war zugleich der Abschied aus einer überaus aktiven und erfolgreichen Zeit der Forschung und Lehre im Dienst der Forschungsstelle und der Philipps-Universität. Aus diesem Anlaß hat der Vorstand der „Marburger Gesellschaft für Ordnungsfragen der Wirtschaft e.V. (MGOW)" beschlossen, einige der wichtigsten wissenschaftlichen Aufsätze von Helmut Leipold in diesem Sammelband zu veröffentlichen und ihm damit für alles zu danken, was er für die „Marburger Schule" der Ordnungsökonomik und des Systemvergleichs geleistet hat. Nach der erfolgreichen Promotion von Helmut Leipold (1972 bei K. Paul Hensel) erschien 1975 die 1. Auflage seines Lehrbuches „Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme im Vergleich: Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftssysteme". Darin war bereits sein späteres wissenschaftliches Leitmotiv erkennbar: die Einbeziehung von Erkenntnissen anderer Disziplinen in die Problemstellung der Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik. Mit fünf Auflagen ist daraus ein führendes Lehrbuch, ein Standardwerk und nicht selten die Pflichtlektüre im deutschen Sprachraum für das Gebiet der vergleichenden Systemforschung („comparative economic systems") geworden. In den folgenden Jahren erschienen mehrere Aufsätze, in denen er neue institutionenökonomische Theoriansätze, so die Transaktionskostenökonomik, die Verfassungsökonomik, die Theorie der Property Rights u.a., aufgenommen und für Fragen des Systemvergleichs nutzbar gemacht hat (s. Teil 1 dieses Sammelbandes). 1982 wurde ihm mit seiner Habilitationsschrift „Staatseigentum und Innovation" vom Fachbereich Wirtschafts-wissenschaften der Philipps-Universität Marburg die „venia legendi" erteilt. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre war H. Leipold von der Aufbaukommission des Wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereichs in Lüneburg und von der EuropaUniversität Viadrina in Frankfurt/Oder jeweils für eine C 3- bzw. C 4-Professur vorgesehen. In einem externen Gutachten für Frankfurt/Oder schrieb ein sehr renommierter Kollege: „Leipolds Kompetenz für einen Lehrstuhl, der insbesondere der Ordnungspolitik gewidmet ist, steht nicht nur außer Frage, sondern er ist auf diesem Gebiet unter den zur Zeit verfügbaren Hochschullehrern und Wissenschaftlern in Deutschland erste Wahl." Es war für die Forschungsstelle von großem Vorteil, daß er in Marburg geblieben ist. 1999 wurde ihm von der Philipps-Universität in nachdrücklicher Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeit in Forschung und Lehre die akademische Bezeichnung „Außerplanmäßiger Professor" verliehen. Die Einbeziehung von historisch-kulturellen und religiösen Einflußkomponenten auf die Entstehung und den Wandel von Wirtschaftssystemen ist zu einem wissenschaftli-
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chen Markenzeichen von Helmut Leipold geworden. Sein 2006 erschienenes Buch „Kulturvergleichende Institutionenökonomik" ist ein mutiger Schritt auf dem Weg, die Ordnungstheorie zu einem umfassenden sozialwissenschaftlichen Konzept weiterzuentwickeln. Hiervon zeugen auch die in Teil 2 enthaltenen Beiträge dieses Sammelbandes. Auf vielen wissenschaftlichen Konferenzen, im Rahmen von Lehraufträgen und Gastprofessuren im In- und Ausland und nicht zuletzt als regelmäßiger Teilnehmer am Radeiner Forschungsseminar hat Helmut Leipold nachdrückliche Beachtung und große Anerkennung erfahren. Wir sind sicher, daß seine Neugier und Leidenschaft für die Wissenschaft nicht erlahmen werden und er für die „Marburger Ordnungstheorie" weiterhin wirken wird.
Marburg, im April 2008
Prof. Dr. Alfred Schüller Vorsitzender der „Marburger Gesellschaft für Ordnungsfragen der Wirtschaft e.V. (MGOW)"
Inhalt
Teil 1:
Ordnungsökonomische Studien
Die große Antinomie der Nationalökonomie: Versuch einer Standortbestimmung (1998)
3
Neuere Ansätze zur Weiterentwicklung der Ordnungstheorie (1989)
31
Der Einfluß von Property Rights auf hierarchische und marktliche Transaktionen in sozialistischen Wirtschaftssystemen (1983)
47
Innovationen im Systemvergleich: Der Einfluß des Wirtschaftssystems auf die Hervorbringung von Innovationen (1991)
73
Ordnungspolitische Implikationen der Transaktionskostenökonomie (1985)
91
Vertragstheorie und Gerechtigkeit (1989)
Teil 2:
115
Kulturvergleichende Studien
Grundlegende Institutionenreformen im Spannungsverhältnis zwischen ideellen und materiellen Einflußfaktoren (2005)
139
Der Bedingungszusammenhang zwischen Islam und wirtschaftlicher Entwicklung (2007)
171
Kulturelle Determinanten der wirtschaftlichen Entwicklung (2003)
191
Kulturelle Einflußfaktoren der Integration in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung (2002)
217
Funktionen und Formen der Zivilgesellschaft (2003)
245
Die EU im Spannungsverhältnis zwischen dem Konsens- und dem Mehrheitsprinzip (2006)
269
Publikationen von Helmut Leipold
297
Teil 1. Ordnungskonomische Studien
Die große Antinomie der Nationalökonomie: Versuch einer Standortbestimmung* Inhalt 1. Wie aktuell ist die große Antinomie der Nationalökonomie?
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2. Das Werk von A. Smith als Ausgangspunkt der großen Antinomie
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3. Die Bemühungen der Historischen Schule zur Überwindung der großen Antinomie
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3.1. Das Forschungsprogramm der Historischen Schule
7
3.2. Kritische Anmerkungen
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4. Die Ordnungstheorie von W. Eucken 4.1. Das Forschungsprogramm 4.2. Kritische Anmerkungen 5. Die Theorie des institutionellen Wandels von D.C. North 5.1. Das Forschungsprogramm der Neuen Institutionenökonomik
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5.2. Die Theorie des institutionellen Wandels
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5.3. Kritische Anmerkungen
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6. Ansatzpunkte zur Überwindung der großen Antinomie
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Literatur
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Zusammenfassung
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Summary: The Great Antinomy in Economic Science: An Attempt to determine theStatus Quo
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* Erstdruck in: ORDO, Bd. 49, 1998, S. 15-42.
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1.
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Wie aktuell ist die große Antinomie der Nationalökonomie?
Der Stein des Anstoßes für die lange Diskussion unter Ökonomen über die große Antinomie der Nationalökonomie sei an einigen einfachen fiktiven Vergleichsmodellen veranschaulicht. Man stelle sich zwei etwa gleichgroße Länder mit nahezu identischer Faktorausstattung vor, von denen eines ein europäisches, das andere ein außereuropäisches Land sei. Beide Länder sollen annahmegemäß eine nahezu identische Wirtschaftsordnung, z. B. eine marktwirtschaftliche Ordnung, aufweisen. Zudem sei angenommen, daß in dem außereuropäischen Land als koloniale Erbschaft die gleiche formale Rechts- und Staatsordnung wie in dem europäischen Land gelte. Trotz nahezu identischer Wirtschafts- und Ordnungsbedingungen sei nun angenommen, daß sich der wirtschaftliche Entwicklungsstand, wie er anhand der Höhe und Verteilung des ProKopf-Einkommens indiziert wird, in beiden Ländern signifikant verschieden sei. Wie läßt sich dieser Unterschied erklären? Das Gedankenexperiment läßt sich auch umdrehen, indem man annahmegemäß zwischen zwei Ländern einen gleichen wirtschaftlichen Entwicklungsstand unterstellt, obwohl sich die Wirtschafts- und Ordnungsbedingungen deutlich unterscheiden. Auch dieser Unterschied ist erklärungsbedürftig. Das fiktive Szenario sei mit dem Beispiel abgerundet, in dem ein an wirtschaftlichen Ressourcen reiches Land im Laufe der Zeit stagniert und relativ zu einem ressourcenarmen Land gleicher Größe zurückfällt und von diesem schließlich überholt wird. Auch für diese über Zeit ablaufende divergente Entwicklung der Wirtschafts- oder Ordnungsbedingungen stellt sich die Frage nach der Leistungsfähigkeit des ökonomischen Erklärungsansatzes. Die Beispiele sind weniger irreal, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Die Wirtschaftsgeschichte liefert ein reiches Anschauungsmaterial, das die Modellfalle bestätigt (vgl. zu analogen Fragen und historischen Belegen North 1992). Einzelne Länder, z. B. viele Entwicklungsländer, stagnieren wirtschaftlich trotz reichlicher Faktorausstattung über lange Zeiträume, während andere ungeachtet der vergleichsweise spärlichen Voraussetzungen prosperieren. Als aktuellstes Beispiel sei die wirtschaftliche Entwicklung der Transformationsländer angeführt. Überraschend ist, daß ungeachtet der wirtschaftlichen Ressourcenausstattung und der nahezu identischen ordnungspolitischen Reformen die mitteleuropäischen Reformländer deutlich erfolgreicher als die ost- und südosteuropäischen Länder waren {Leipold 1997a). Gerade diese irritierende Erfahrung war der Anlaß, sich mit der großen Antinomie der Nationalökonomie zu beschäftigen. Deren harter Problemkern hat Eucken (1950, 15 ff.) in klassischer Form mit der Frage auf den Punkt gebracht, ob und inwieweit angesichts der gewaltigen Vielgestaltigkeit und geschichtlichen Vielförmigkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse der Anspruch der Nationalökonomie einlösbar ist, allgemeine wirtschaftliche Gesetze formulieren und wirtschaftliche Zusammenhänge angemessen erklären zu können. Es geht also um das Spannungsverhältnis zwischen historisch-individuellen Besonderheiten des wirtschaftlichen Geschehens einerseits und dem Erfordernis der abstrakt-theoretischen Erklärung andererseits. Der geschichtliche Charakter verlangt nach Eucken Anschauung und Verstehen der individuellen Verhältnisse, während der allgemeine Erklärungsanspruch eine abstrakt-theoretische Analyse erfordert.
Die große Antinomie der Nationalökonomie
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Die von Eucken thematisierte Antinomie hat eine längere Vorgeschichte. Außerhalb der Nationalökonomie fand sie ihr Pendant in der Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Philosophierichtungen über die angemessenen Erkenntnismethoden in den Geistes- und Naturwissenschaften. Diese Frage erschien relevant, weil sich die Welt der Kultur und Geschichte einschließlich der Wirtschaft durch einen Varianten Gesamtstil darstelle, während die physikal-chemische Natur universal gleichförmigen Bewegungen und Reaktionen, damit allgemeinen Gesetzen folge. Von daher lag die Schlußfolgerung nahe, für beide Wissenschaftsbereiche unterschiedliche Erkenntnismethoden zu fordern. So sahen etwa Rickert (1899) oder Dilthey (1910) in der Methodik des Erlebens und Verstehens die adäquate Methode zur Erfassung und Erklärung der geschichtlichen Vielfalt, die ja stets auch Individualität bedeute. Wo es an Regelmäßigkeit fehle, dort bleibe auch kein Platz für allgemeine Theorien. Die Methodik wurde von den Vertretern der Historischen Schule aufgegriffen und sowohl für die Kritik an der als abstrakt gebrandmarkten klassischen Ökonomie als auch als Fundament für die eigene Forschungsarbeit benutzt. Das Vorhaben, historische Besonderheiten mittels der Methode des Verstehens und Erlebens zu erfassen, verleitete zur theorielosen Beschreibung und Sammlung realer Fakten, von deren induktiver Verdichtung man theoretische Aussagen erhoffte. Damit war methodisch die Auseinanderentwicklung zwischen abstrakt-theoretischen und historisch-verstehenden und beschreibenden Schulrichtungen der Nationalökonomie vorbereitet, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Diese Entwicklung eskalierte in den 80er Jahren im Methodenstreit zwischen Schmoller und Menger. In der nachfolgenden Beurteilung der beiden Kontrahenten wurde Menger nach vorherrschender Meinung zum Punktsieger erklärt. Indirekt hat dieses Urteil durch den weltweiten Siegeszug der abstrakten Nationalökonomie neoklassischer Prägung eine gewisse Bestätigung erfahren. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, von denen Eucken herauszuheben ist, scheint jedenfalls seitdem für die meisten Ökonomen die Frage der großen Antinomie erledigt zu sein. Es dominiert das Vertrauen in die universale Anwendbarkeit des ökonomischen Erklärungsansatzes, der einen imperialen Rang in den Sozialwissenschaften beansprucht. Diese nachfolgenden Ausführungen sollen diesen Anspruch in Frage stellen, zumindest relativieren. Die große Antinomie der Nationalökonomie hat ungeachtet aller Erkenntnisfortschritte der ökonomischen Theorie keinen Gran an Aktualität verloren. Die Ausführungen sollen zweitens zeigen, daß die Antinomie noch immer einer überzeugenden Auflösung harrt. Beide Thesen sollen durch die vergleichende Bewertung der methodischen und analytischen Leistungsfähigkeit der Historischen Schule (3.), der Euckenschen Ordnungstheorie (4.) und der zur Neuen Institutionenökonomik gehörenden Theorie des institutionellen Wandels von D.C. North (5.) entfaltet und begründet werden. Die kritische Durchsicht der Theorieansätze soll letztlich Ansatzpunkte für die Überwindung der großen Antinomie aufzeigen (6.). Zum besseren Verständnis dieser Theorieansätze ist ein knapper Rückblick auf die klassische Nationalökonomie geboten, da sie deren gemeinsamer Ausgangs- und Bezugspunkt bildet (2.).
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2. Das Werk von A. Smith als Ausgangspunkt der großen Antinomie Wie Eucken (1960, 24 ff.) bereits feststellte, nimmt die große Antinomie ihren Ausgang in der klassischen Nationalökonomie und hier insbesondere im Werk von Smith. Als großes Verdienst der Klassiker würdigt er die theoretische Analyse ökonomischer Gesamtzusammenhänge. Gleichwohl konstatiert er ein Scheitern, weil die Theorien nicht der historischen Vielfalt des Wirtschaftens gerecht wurden. Den wesentlichen Schwachpunkt erkennt er in der einseitigen Ausrichtung der theoretischen Analyse auf die Konkurrenzordnung, die zudem als „natürliche" Ordnung überhöht wurde. In der Tat hat Smith ungewollt der nachfolgenden Auseinanderentwicklung der Nationalökonomie Vorschub geleistet. Verantwortlich dafür ist das von Eucken bereits benannte Bestreben, die Konkurrenzwirtschaft als natürliche Ordnung auszuzeichnen, die sich ab einem gewissen wirtschaftlichen Entwicklungsstand natur- und damit zwangsläufig durchsetzt. Der häufige Verweis auf natürliche Kategorien und Ergebnisse ist kein Zufall. So spricht Smith von der natürlichen Neigung zum Tausch, wobei bei Konkurrenzbedingungen der Marktpreis um den natürlichen Preis schwankt, der wiederum den Lohn, die Rente und den Kapitalgewinn in Höhe ihrer natürlichen Sätze deckt. Die unsichtbare Hand des Marktes fuhrt schließlich ein System der natürlichen Freiheit herbei. Natürlich versteht Smith dabei als Synonym für gerecht im ursprünglichen Sinne. Die Konkurrenzwirtschaft wird sowohl den menschlichen Anlagen als auch den ethischen Prinzipien des Christentums gerecht. Sie wird also als menschen- und gottesgerechte Ordnung interpretiert. Rüstow (1961) spricht deshalb von der Numinosierung der Konkurrenzordnung und deren Gesetze, die bei Smith aufgrund normativer Bestrebungen das Prädikat der universalen Gültigkeit erhalten sollen. Diese verdeckte normative Überhöhung der Marktwirtschaft, die sich aus dem Anliegen von Smith erklärt, einen liberalen Gegenentwurf zu den merkantilistischen Herrschaftspraktiken seiner Zeit zu entwickeln, hatte ambivalente Konsequenzen. Viele Epigonen übersahen oder vergaßen seine zeitgebundene Intention und identifizierten Nationalökonomie mit der abstrakten Theorie der Marktgesetze, die den gleichen Status wie Naturgesetze erhalten sollten. Diese einseitige Ausrichtung mußte wiederum Gegenreaktionen provozieren, deren Forderungen von der gebotenen Erweiterung bis hin zur Ablehnung der klassischen Nationalökonomie reichten. Die Auseinanderentwicklung der Nationalökonomie ist von Smith wahrscheinlich noch stärker dadurch befördert worden, daß er im „Wohlstand der Nationen", seinem eigentlichen Hauptwerk, die moralischen (ethischen) Voraussetzungen einer funktionierenden Marktwirtschaft nicht explizit, sondern nur implizit thematisiert hat. Hier unterstellt er bekanntlich das Eigeninteresse der Wirtschaftssubjekte als allgemeine Verhaltensprämisse. Damit ist das sog. „Adam Smith-Problem" angesprochen. Es resultiert aus der unterschiedlichen Akzentuierung der moralischen und rechtlichen Voraussetzungen eines wohlgeordneten Gemeinwesens. Während Smith in der „Theorie der ethischen Gefühle" die moralischen Bindungen für das Zustandekommen geordneter Verhältnisse vorbildlich herausgearbeitet hat, drängt sich bei der Lektüre des „Wohlstands der Nationen" der Eindruck auf, solche Bindungen seien entbehrlich. Diese Interpretation haben sich die Vertreter der abstrakt-theoretischen Nationalökonomie zu eigen gemacht und zum Menschenbild des vielbeschworenen Homo oeconomicus perfektioniert. Die Erforschung des Gesamt-
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werks von Smith hat mittlerweile überzeugend dokumentiert, daß die abstrakttheoretische Richtung der Nationalökonomie nicht als legitimes Erbe von Smith gelten kann. 1 So wird darauf verwiesen, daß die beiden erwähnten Hauptwerke als komplementäre Teile seiner Politischen Ökonomie zu begreifen und zu lesen sind, die Smith mit einer Abhandlung über Recht und Politik abrunden wollte, wobei er das unfertige Manuskript kurz vor seinem Tode verbrannte. Ferner gibt es unübersehbare Belege dafür, daß Smith im „Wohlstand der Nationen" ein Bild des Menschen seiner Zeit und seines Raumes zugrunde legt, der als Bürger in die Gesellschaft eingebunden ist. Wenn er vom wohlverstandenen Eigeninteresse spricht, meint er das Interesse von Individuen, die moralische Normen der bürgerlichen Gesellschaft befolgen und unter rechtsstaatlichen Bedingungen mit verläßlichem Schutz der Bürgerrechte leben und handeln. Es sind Individuen, die als Wirtschaftssubjekte an eigeninteressierten, wechselseitig jedoch vorteilhaften Marktgeschäften und als Bürger ebenso an solidarischen Beziehungen in der Familie und im politisch organisierten Gemeinwesen aktiv teilnehmen. Im Nachhinein mag man es bedauern, daß Smith die impliziten Verhaltensprämissen nicht deutlicher akzentuiert hat. Das verdeckte Nebeneinander von historisch eingebundenen Individuen einerseits und anonymen sowie eigeninteressierten Individuen andererseits hat Salin (1967, 73) treffend als „Doppelseitigkeit" der Smithschen Theorie bezeichnet. Sie erwies sich insofern als verhängnisvoll, als sie im Nachlauf zu Smith wenig dazu beitrug, die große Antinomie der Nationalökonomie zu entschärfen oder gar zu überwinden. Smith hat - wohlgemerkt ungewollt - die Entstehung von zwei ökonomischen Methodenrichtungen der Ökonomie begünstigt. Die abstrakt-theoretische Richtung hat maßgeblich Ricardo eingeleitet. Sie führte zur Trennung der Nationalökonomie von Raum und Zeit, die in der neoklassichen Gleichgewichtstheorie und der Wohlfahrtsökonomik ihren vorläufigen Höhepunkt fand (vgl. Krüsselberg 1969, 96). In diesen Theorien werden die Individuen bekanntlich als isolierte Akteure modelliert, die unter der Annahme j e eigener Präferenzen bei gegebenen Restriktionen räum- und zeitlos ihre Entscheidungen zu optimieren suchen. Diese Theorierichtung, der jedes Bewußtsein für die Antinomiefrage abgeht, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Der praktische Menschenverstand in Verbindung mit den unübersehbaren raum-zeitbezogenen Problemen und VielfÖrmigkeiten des wirtschaftlichen Alltags mußten früher oder später konträre Theorieansätze auf den Plan rufen. Den ersten Anlauf dazu unternehmen die Vertreter der Historischen Schule in Deutschland.
3. Die Bemühungen der Historischen Schule zur Überwindung der großen Antinomie 3.1. Das Forschungsprogramm der Historischen Schule Die Arbeiten der frühen Vertreter der Historischen Schule erwuchsen aus dem Unbehagen an der Entwicklung der Nationalökonomie hin zu einer abstrakten Theorie, die im Gefolge von Ricardo bemüht war, für Marktgesellschaften allgemeine Produktions- und Verteilungsgesetzmäßigkeiten zu formulieren, die analog zu den naturwissenschaftli1
Vgl. Lange 1983, Krüsselberg 1984, Meyer-Faje und Ulrich 1991, Bürgin 1993.
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chen Gesetzen universale Gültigkeit für sich beanspruchten. Dieser Anspruch war nur über den Preis restriktiver Prämissen einlösbar, mit deren Hilfe jegliche Besonderheiten von Raum und Zeit eliminiert wurden. Das Streben nach einer abstrakten Theorie mit einem weitestgehenden allgemeinen Erklärungsgehalt war zwar methodisch anspruchsvoll, praktisch jedoch nicht immer hilfreich. Die Vertreter der Historischen Schule forderten deshalb eine Wirtschafitstheorie, die der Vielfalt realer wirtschaftlicher Verhältnisse besser gerecht werden sollte. Roscher (1843, IV), der originäre Gründer der Historischen Schule, sah den Hauptzweck der Wirtschaftstheorie gemäß der geschichtlichen Methode darin, die Zwecke, die Völker in wirtschaftlicher Hinsicht verfolgt und die Ursachen für welche sie sie verfolgt und erreicht haben, zu beschreiben und zu erklären. Diese Erkenntnis erfordere die Verbindung der Ökonomie mit anderen Wissenschaften, insbesondere der Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaft. Roscher wollte also nur eine geschichts- und länderbezogene Ergänzung der allgemeinen Theorien. Erst Hildebrand (1848) forderte eine vollständige Erneuerung der Nationalökonomie, die eine Lehre von den ökonomischen Entwicklungsgesetzen der Völker zu sein habe. Später ging er gar so weit, die Existenz allgemeiner ökonomischer Gesetze zu bestreiten. Hildebrand postulierte damit ein Kontrastprogramm zur klassischen Nationalökonomie, das die weitere Entwicklung der Historischen Schule prägte und in eine methodische Sackgasse leitete. Diese Entwicklung kann hier nur angedeutet werden (vgl. Leipold 1998). Sie lenkte die Forschungsanstrengungen von Generationen von Gelehrten dahin, geschichts- und kulturspezifische Verhaltensweisen und - über diese vermittelt - ökonomischer Gesetze nachweisen zu wollen. Der erste methodische Zugriff dazu war die Konstruktion von Wirtschaftsstufen, wie sie von List, Hildebrand oder Bücher als den Hauptvertretern der älteren Historischen Schule präsentiert wurden. Sämtliche Stufentheorien, deren Einzelheiten hier nicht interessieren, basieren auf der Idee der Aszendenz von primitiven Zuständen mit geringer Arbeitsteilung und Spezialisierung über Zwischenstufen hin zu wirtschaftlich und zivilisatorisch höherentwickelten Zuständen, die in nationalstaatlich organisierten Volkswirtschaften ihren vorläufigen Höhepunkt fanden. Die Stufentheorien waren also das wirtschaftshistorische Spiegelbild der maßgeblich von Hegel inspirierten idealistischen Entwicklungsphilosophie, die ja auch Pate für die materialistische Geschichtstheorie von Marx stand. Die Lehre von den Wirtschaftsstufen erwies sich als Fehlschlag. Die offenkundigen Diskrepanzen zwischen den unterstellten Stufeneigenarten und deren Abfolgen einerseits und den realen Entwicklungen und Verhältnissen andererseits wurden früh von Wirtschaftshistorikern nachgewiesen. Deshalb wurde diese Lehre von den Vertretern der jüngeren Historischen Schule aufgegeben. Sie bemühten sich statt dessen darum, wirtschaftlich und soziale Gesetzmäßigkeiten für historisch-konkrete und auch nebeneinander existierende Wirtschaftsund Gesellschaftsordnungen zu formulieren, die sie mittels der Methode der Induktion, also der Beschreibung und Auswertung von konkreten Daten ermitteln wollten. Dabei bedienten sie sich der Kategorien des Wirtschaftssystems und später des Wirtschaftsstils, um die Vielfalt historischer und kultureller Realitäten ordnen und als relative Entitäten erfassen zu können.
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Der einflußreichste Konzeptualisierungsversuch stammt von Sombart (1916). Unter einem Wirtschaftssystem verstand er die als geistige Einheit erfaßte spezifische Wirtschaftsweise, in der erstens eine bestimmte Wirtschaftsgesinnung mit eigenen Wertvorstellungen herrscht, die zweitens eine bestimmte Ordnung des arbeitsteiligen Geschehens hat und die drittens eine spezielle Wirtschaftstechnik anwendet. Diese drei Grundelemente hat Sombart weiter untergliedert, indem er denkmögliche Gestaltungen dichotomisch gegenüberstellte. Als Gegensatzpaare der verschiedenen Wirtschaftsgesinnungen werden z. B. das Bedarfsdeckungs- und Erwerbsprinzip, der verschiedenen Ordnungen die Privat- und Gemeinwirtschaft und der Techniken die unreflektierten und wissenschaftlich-rationellen Fertigkeiten unterschieden. Sombart wollte also auch außerökonomische Faktoren des Wirtschaftens mittels der Kategorie des Wirtschaftssystems erfassen, woraus sich seine Auffassung erklärt, daß die Nationalökonomie die Lehre von den Wirtschaftssystemen sei. Damit verbindet sich die These, daß nur im Rahmen spezieller Wirtschaftssysteme das von den Klassikern als allgemeine Prämisse unterstellte rationale Wirtschaftsverhalten Geltung habe. Von daher bedurfte es nur noch eines kleinen Schrittes zur Kategorie des Wirtschaftsstils, sprach doch W. Sombart (1916, 19) bereits von besonderen Kulturstilen. Hier sei lediglich das von Spiethoff (1933) entwickelte Konzept des Wirtschaftsstils erwähnt, worunter er den Inbegriff der Merkmale verstand, die eine arteigene Gestalt des Wirtschaftslebens verkörpern. In Erweiterung der Wirtschaftssystemelemente von Sombart unterschied Spiethoff als stilprägende Faktoren den Wirtschaftsgeist, die natürlichen und technischen Grundlagen, die Gesellschafts- und Wirtschaftsverfassung und den jeweiligen Wirtschaftslauf. Jede dieser Faktorengruppen hat er weiter untergliedert, wobei er die von der Historischen Schule über Jahrzehnte angesammelten Fakten kategorisch verdichtete. Auch dieser Ansatz war von der Idee beherrscht, mittels des Wirtschaftsstils die kulturspezifischen Merkmale des Wirtschaftens zu erfassen und damit die Geltungsbedingungen der rein ökonomischen Gesetzeshypothesen zu relativieren. Allerdings konnten sowohl Spiethoff als auch andere Stiltheoretiker ihrem selbstgesetzten Anspruch nicht gerecht werden.
3.2. Kritische Anmerkungen Das Forschungsprogramm der Historischen Schule ist aus verschiedenen Gründen lehrreich. Es ist ein paradigmatischer Versuch, die Kluft zwischen geschichtlicher Vielfalt des Wirtschaften und der Erklärung mit Hilfe einer allgemeinen ökonomischen Theorie zu überwinden. Bekanntlich ist dieses Vorhaben mißlungen, woraus sich die Frage nach den Gründen dafür ableitet. Bereits Eucken (1950, 42 ff.) hat das Scheitern aller Stufen-, Wirtschaftssystem- und Wirtschaftsstilkonzepte festgestellt. Die wesentliche Ursache dafür sah er in dem Anspruch, für jeden der verschiedenen Ordnungstypen räum- und zeitgebundene ökonomische Theorien ableiten zu wollen. Dieses Vorhaben sei bis dato keinem Theoretiker gelungen, weil es sich um ein verfehltes und unerfüllbares Erkenntnisziel handele. Das einzige Ergebnis sei die Konstruktion wirklichkeitsfremder Begriffsgebilde gewesen, in deren Prokustesbett man die Fakten willkürlich gezwängt habe. Dieses bittere Fazit bedarf allein wegen des ambitionierten Forschungsprogramms, an dem sich mehrere Forschergenerationen beteiligt haben, noch einer wei-
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teren Erläuterung. Das Gespür der Vertreter der Historischen Schule für die Antinomie erwuchs aus der kritischen Auseinandersetzung mit der klassischen Nationalökonomie. Als zentrale Kritikpunkte erwiesen sich deren meist vereinfacht interpretierte Vorstellung, die Konkurrenzordnung sei eine natürliche, zeitlose Ordnung, die sich aufgrund ihrer überlegenen Leistungsfähigkeit universal durchsetze. Schmoller (1874, 260) bezeichnet die Idee „..einer konstanten, über Raum und Zeit erhobenen Normalform der volkswirtschaftlichen Organisation.." als absolut falsche Vorstellung, die schon List, Roscher, Hildebrand und Knies widerlegt hätten. Als zweite, ebenso absolut falsche Vorstellung bewertet er die abstrakte Analyse, die eigeninteressierte Individuen unterstelle und die einseitig auf die Ableitung natürlich-technischer Gesetze der Wirtschaftsentwicklung gerichtet sei. Eine „richtige" Auffassung der Nationalökonomie erachtet demgemäß Schmoller (1874, 253) nur als möglich, wenn die Volkswirtschaft als „ethische Lebensordnung" begriffen und das für die jeweilige Ordnung spezifische „sittlich-geistige Gemeinbewusstsein" in den Mittelpunkt der ökonomischen Analyse gestellt werde. Der so anvisierte Umbau der Volkswirtschaftstheorie zur Geistes- und Kulturwissenschaft mußte jedoch aufgrund methodisch-theoretischer Defizite mißlingen. Die Historische Schule benutzte bevorzugt die Methode des Verstehens und Erlebens, die von den damals einflußreichen Erkenntnistheoretikern als die für die Geistes- und Kulturwissenschaften angemessene Methode empfohlen wurde, um das Besondere des Objektbereichs erfassen zu können, während allgemeine Theorien für naturwissenschaftliche Erklärung reserviert wurden. Diese methodische Trennung gilt mitttlerweile als überholt (vgl. Popper 1987,102ff.). Das Erleben oder Verstehen der Realität bleiben ohne eine Theorie, die Zusammenhänge aufklärt und die Stellung und Wirkung der besonderen Elemente erklärt, zwangsläufig orientierungslos. Über eine eigenständige allgemeine Wirtschaftstheorie verfügte die Historische Schule jedoch nicht. Sie sollte ja erst auf induktivem Weg durch die Sammlung und Auswertung der für spezielle Stufen, Wirtschaftssysteme oder Wirtschaftsstile ermittelten Daten gewonnen werden. Die Abstraktionsbemühungen beschränkten sich auf die Definition und Konstruktion von Begriffen oder Typen, wobei allein die beobachtbare Vielfalt der konkurrierenden Wirtschaftsstufen- und Wirtschaftssystemkonzepte deren Beliebigkeit indiziert. Die vorhandenen allgemeinen Theoriestücke der klassischen Nationalökonomie wurden aus den erwähnten Einwänden entweder ignoriert oder nur rudimentär genutzt. Das ganze Forschungsbemühen war ja darauf gerichtet, die klassischen Theorien zu modifizieren oder gar zu widerlegen. Diese Intention in Verbindung mit dem eigenständigen Theoriedefizit der Historischen Schule erklärt deren Anfälligkeit für Ideologien. Gerade in Deutschland hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die nationale und nachfolgend die sozialistische Bewegung ihre hohe Zeit. Beiden Bewegungen gemeinsam ist die Beschwörung des Gemeinschafts-, Volks- oder Klassengeistes. Der Einfluß dieser Bewegungen und insbesondere der nationalen Zeitströmung auf das Forschungsprogramm der Historischen Schule ist unübersehbar. Er findet sich in dem freilich wissenschaftlich verklausuliertem Ziel wieder, das „sittlich-geistige Gemeinbewußtsein", den „Volks- oder Gemeingeist", die „Wirtschaftsgesinnung", den „vorherrschenden Wirtschaftsgeist", die „raum-zeitbezogene Sinneinheit" oder einfach die „epochen- oder arteigene Gestalt des Wirt-
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schafitslebens" zum zentralen Erkenntnisobjekt der Nationalökonomie zu bestimmen (vgl. dazu etwa Weippert 1967). Im Rückblick handelt es sich dabei um wolkige, ja leicht anrüchige Erkenntnisobjekte, die nur verständlich sind, wenn sie im Kontext des Zeitgeistes der Historischen Schule gelesen werden. Wichtiger ist die zugrundeliegende forschungsstrategische Intention, die darauf aus war, die klassische Verhaltensannahme eigeninteressiert und rational handelnder Menschen zu widerlegen oder wenigstens zu modifizieren. Die Versuche, den Gemein- oder Wirtschaftsgeist einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Raumes mitsamt den wirtschaftlichen Konsequenzen zu erfassen, fallen nicht überzeugend aus. Die wenigen Ausnahmen wie etwa die berühmte Studie von M. Weber über „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" bestätigen den Eindruck. Der Großteil der historischen Studien über den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsgeist und wirtschaftliche Entwicklung besteht aus Einzelstudien, die jedoch nicht zu einer schlüssigen allgemeinen Wirtschaftstheorie verdichtet werden konnten. Die Versuche, den vorherrschenden Gemein- oder Wirtschaftsgeist zu erfassen, erwiesen sich meist als zu vage, um daraus spezifische Markt- oder Wirtschaftsgesetze ableiten zu können. Der Erkenntnisgewinn beschränkte sich wie etwa bei Schmoller (1904, 104 f.) auf die Feststellung, daß die Ordnung der Güternachfrage oder des Angebots auch die jeweilige Ordnung der Lebensführung widerspiegelt. Dabei bleiben jedoch die maßgeblichen Determinanten für die Ordnung der Lebensführung unklar. Wie noch auszuführen ist, sind diese Determinanten in dem Gefüge der moralischen Bindungen des selbstinteressierten Verhaltens der Wirtschaftssubjekte zu vermuten und zu systematisieren. Diese naheliegende Einsicht blieb den Vertretern der Historischen Schule wahrscheinlich deshalb versperrt, weil sie von der ideologischen Vorstellung besessen waren, den Gemeingeist als Gegenpart zum Selbstinteresse herzustellen und historisch nachweisen zu wollen. Dieses Vorgehen ist etwa charakteristisch für das Wirtschaftssystemkonzept von Sombart (1916,14f.), bei dem er unter dem Merkmal des Wirtschaftsgeistes (Wirtschaftsgesinnung) den von der klassischen Nationalökonomie unterstellten Verhaltensprämissen des Erwerbsprinzips und des individuellen Rationalverhaltens das Bedarfsdeckungsprinzip, den Traditionalismus und den Solidarismus dichotomisch gegenüberstellt. Diese Gegensatzpaare würden dann einen Sinn machen, wenn sie als Idealtypen verstanden würden. Tatsächlich haben Sombart wie auch andere Vertreter der Historischen Schule sie als Realtypen interpretiert und auch empirisch zu belegen versucht, daß das Wirtschaftsleben in raum-zeit-bezogenen Systemen oder Stufen vom reinen Geist der Bedarfsdeckung und des solidarischen Verhaltens beseelt gewesen sei. Solche Einfalt ist wohl nur durch Ideologiebefangenheit zu erklären. Deshalb sollte es auch nicht verwundern, daß ein so gelehrter Mann wie Sombart vom anfänglichen Sympathisanten von Marx später nahtlos zu einem Befürworter des Nationalsozialismus konvertieren konnte. Insgesamt vermittelt das Forschungsprogramm der Historischen Schule lehrreiche Aufschlüsse für eine mögliche Lösung der großen Antinomie der Nationalökonomie. Das Programm stellte berechtigte Probleme und Fragen. Die mangelnde theoretische Anleitung und die ideologische Fehlleitung führten die Forschung in eine falsche Richtung, an deren Ende sich Berge von Papier anhäuften, die jedoch nicht dazu taugten, die
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große Antinomie zu lösen (vgl. zur analogen Bewertung des älteren amerikanischen Institutionalismus Coase 1984).
4. Die Ordnungstheorie von W. Euchen 4.1. Das Forschungsprogramm Eucken hat mit seiner Ordnungstheorie eine eigenständige Lösung der großen Antinomie geliefert, die hier in der gebotenen Kürze vorgestellt werden soll. Von der Historischen Schule, in der er seine akademische Ausbildung erfuhr, übernahm er als das Beste nicht nur den „Drang zur Wirklichkeit", sondern auch das Bewußtsein für das Spannungsverhältnis zwischen Geschichte und allgemeiner Theorie {Lutz 1952, VIII). Aufgrund seiner kurz skizzierten kritischen Einwände konnte er in der bloßen Modifikation sowohl der klassischen Nationalökonomie als auch der Historischen Schule keine befriedigende Lösung sehen. Er entwickelte vielmehr ein neues, originäres Forschungsprogramm, eben jenes der Ordnungstheorie. Deren methodische Eigenart ist darin zu sehen, daß Eucken die Methodik des Erlebens und Verstehens zur Erfassung des Besonderen mit der abstrakt-theoretischen Methode zur Erklärung allgemeiner ökonomischen Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten verknüpfte. Im Unterschied zur Historischen Schule erkannte Eucken, daß sich die Vielfalt des wirtschaftlichen Geschehens nicht dadurch auszeichnet und erfassen läßt, indem man raum-zeitgebunde Gemeinsamkeiten, etwa in Gestalt eines vorherrschenden Gemein- oder Wirtschaftsgeistes, vermutet und zu Realtypen stilisiert. Statt dessen war er darauf aus, mit Hilfe der pointierendhervorhebenden Abstraktion das Besondere historisch-konkreter Verhältnisse herauszuarbeiten und zu reinen Ordnungsformen des Wirtschaftens zu destillieren. Er strebte mit der isolierenden Abstraktion also verstehende Einzelbeschreibung und -erfassung der Wirklichkeit an, die von allgemein theoretischen Problemstellungen angeleitet sein sollte. Den Leitfaden dafür erkannte Eucken im Grundproblem der Nationalökonomie, nämlich im universalen Tatbestand der Güterknappheit, deren Bewältigung sich durch eine allgemeine Theorie der Wirtschaftsrechnung erschließe. Da Wirtschaften stets planvolles Handeln der Wirtschaftseinheiten sei, das eine knappheitsbezogene Rechnung und Abstimmung der Tätigkeiten erfordere, mußte sich ihm die Zahl der planenden Wirtschaftseinheiten und das Zustandekommen eines Planund Rechnungssystems als objektives Kriterium zur Erfassung und Ordnung der historischen Vielförmigkeit des Wirtschaften geradezu aufdrängen. Von daher gelangte Eukken zur Unterscheidung der beiden Wirtschaftssysteme der zentralgeleiteten Wirtschaft einerseits und der Verkehrs- oder Marktwirtschaft andererseits. Im erstgenannten System erfolgen die Planung und Lenkung der Wirtschaftsprozesse durch eine Zentralinstanz, im zweitgenannten durch viele dezentrale Wirtschaftseinheiten, also durch die Unternehmen und Haushalte. Je nach Größe und der davon abhängigen Existenz eines Verwaltungsapparates wird das erste Wirtschaftssystem in die kleine autarke Eigenwirtschaft und die große Zentral Verwaltungswirtschaft mit Varianten der Konsumgüterverteilung untergliedert. Da im zweiten Wirtschaftssystem die dezentral aufgestellten Wirtschaftspläne über Märkte und Preise zu koordinieren sind, wird die Verkehrswirtschaft nach Maßgabe der Marktformen und der Verwendung des Geldes
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als Recheneinheit und/oder als Tauschmittel sowie der Entstehung und Vernichtung des Geldes weiter unterteilt. Die Zahl der so gewonnenen reinen Ordnungsformen ist nach Eucken begrenzt. Er verglich sie mit den zwei Dutzend Buchstaben, aus denen eine gewaltige Vielfalt von Worten und Sätzen gebildet werden kann. Analog dazu erklärte er die Mannigfaltigkeiten historisch-konkreter Wirtschaftsordnungen damit, daß die Zusammensetzung der Ordnungsformen außerordentlich verschieden sei. Wo die Vertreter der Historischen Schule nach Einheit der Ordnungen suchten, fand Eucken also Verschiedenheit. Jedenfalls sah er in der Morphologie das adäquate Instrument zur Beschreibung und Erfassung der Wirtschaftsordnung einer jeden Zeit und eines jeden Landes, womit für ihn auch die erste wichtige Frage der Nationalökonomie beantwortet war Erst auf dieser Grundlage erachtete Eucken die Lösung der zweiten Hauptfrage der Nationalökonomie, nämlich die Gewinnung und Anwendung allgemeiner ökonomischer Gesetze zur Analyse der Wirtschaftsprozesse als möglich. Die analytische Verbindung von geschichtlichen Ordnungen mit allgemeiner Theorie hat Eucken an zahlreichen historischen Fallbeispielen demonstriert. Die mit dem morphologischen Apparat identifizierte Existenz bestimmter Marktformen, z. B. eines Angebotsmonopols, erlaube es, durch Anwendung der Preis- und speziell der Monopoltheorie die spezifischen Preise und Mengen, damit die Marktprozesse zu erklären. Analoge Anwendungs- und Erklärungsmöglichkeiten bieten sich bei anderen Ordnungsformen, z. B. bei konkreten Geldordnungen für die Geldtheorie oder bei Zentralverwaltungswirtschaften für die Theorie der zentralen Planung, wie sie von seinem Schüler Hensel ( 1954 ) entwickelt worden ist.
4.2. Kritische Anmerkungen Die Ordnungstheorie von Eucken ist ein originelles Theorieprogramm, das der geschichtlichen Vielfalt des Wirtschaftslebens gerecht werden will und sie durch Anwendung abstrakter ökonomischer Theorien zu erschließen sucht. Die geschichtliche Vielfalt wird in Form des variablen und stets individuellen Gefuges der wirtschaftlichen Ordnungsformen erfaßt, deren prozessualen Wirkungen durch die Anwendung der relevanten ökonomischen Theorien analysiert werden. Indem Eucken die Individualität jeglicher Wirtschaftsordnung herausstellt, vermeidet er die einseitige theoretische Ausrichtung der Nationalökonomie, die in der klassischen Schule auf der Analyse der Konkurrenzordnung, in der Historischen Schule auf die Analyse epochen- und arteigener Ordnungsgefüge fixiert war. Dadurch eröffnet er zugleich neue historische Dimensionen für die Anwendung abstrakt formulierter ökonomischer Theorien. Ist damit die Verschmelzung zwischen geschichtlicher Anschauung und theoretischem Denken gelungen? Nur bedingt, denn der morphologische Apparat weist unübersehbare Schwächen bei der geschichtlichen Anschauung auf, die auch die theoretische Erklärung der Wirkungen von Ordnungen beeinträchtigt. Es sei daran erinnert, daß Eukken die reinen Ordnungsformen im Wege der pointierend-hervorhebenden Abstraktion gewinnt. Um die Urformen aus der realen Vielfalt herausdestillieren zu können, müssen sie von allen historisch-konkreten Bezügen isoliert werden. Diese rigorose Abstraktion von jeglichem Raum-Zeit-Bezug bedingt ein rigoroses Geschichtsverständnis, das nur dann nachvollziehbar ist, wenn Geschichte als Wiederkehr gleicher Probleme und
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gleichartiger Zusammenhänge der Tatbestände verstanden wird. Es ist zu vermuten, daß dieses spezifische Geschichtsverständnis das Denken und damit das Theorieprogramm von Eucken geprägt hat (vgl. Eucken 1950, 204, Schefold 1995, 11). Der morphologische Apparat, der ja nur um den Preis der rigorosen Abstraktion gewonnen werden konnte, weist deshalb einen Geburtsmakel auf, der bei der Erfassung realer Wirtschaftsordnungen deutlich zutage tritt. Diesen Makel hat Eucken nicht verkannt. Er stellt zwar stets die Eignung der Morphologie heraus, den Aufbau und die Eigenart der Wirtschaftsordnung eines jeden Volkes und einer jeden Zeit erkennen zu können. Zugleich konzediert Eucken (1950, 169), daß eine volle geschichtliche Anschauung erst dann gelingen könne, wenn die „...Einfügung der Wirtschaftsordnung in die jeweilige natürlich-geistige-politisch-soziale Umwelt" berücksichtigt werde. Zur Erfassung der „gesamtwirtschaftlichen Umwelt" empfiehlt er die Methode der generalisierenden Abstraktion, die „das Ganze der Wirtschaft einer Zeit und eines Volkes" ins Auge zu fassen habe. Die Erläuterung dieser Methode fällt wohl nicht zufallig etwas spärlich aus. Allein die unbestimmte Forderung, das „Ganze der Wirtschaft" zu berücksichtigen, müßte selbst spezialisierte Wirtschaftshistoriker hoffnungslos überfordern, die ja stets nur aufgrund problem- und theoriegeleiteter Fragestellungen historische Besonderheiten erfassen und erforschen können. Die problemadäquate Forschungsanleitung wäre von einer Theorie der Entstehung und des Wandels von Wirtschaftsordnungen zu erwarten, die jedoch die Ordnungstheorie von Eucken aufgrund werkimmanenter Prämissen und Bedenken nicht bieten kann. Verantwortlich für die Skepsis von Eucken gegenüber einer dynamischen Ordnungstheorie sind wohl erstens sein eigenes spezielles Geschichtsverständnis, zweitens seine Kenntnis der eher stümperhaften Versuche, geschichtliche Vielfalt und Entwicklungen in Gestalt von Wirtschaftsstufen oder -Stilen einzufangen und drittens seine Bedenken, daß eine seriöse Theorie der Entwicklung von Wirtschaftsordnungen die ökonomische Theorie überfordere. Das mag erklären, weshalb er historische Entwicklungsfaktoren in den Datenkranz verweist, worunter er alle Tatsachen subsumiert, die den ökonomischen Kosmos beeinflussen, ohne selbst von ökonomischen Faktoren bestimmt zu sein. Neben den Bedürfnissen und dem räum- und zeitgegebenen Bestand an ökonomischen Faktoren werden dazu die Gesamtheit der jeweiligen politischen, rechtlichen und sozialen Ordnungen gezählt. Eucken erkennt und demonstriert an vielen historischen Fallbeispielen, daß Veränderungen der Daten den wirtschaftlichen Wandel beeinflussen. Gleichwohl erklärt er den Datenkranz zur Tabuzone, weil er mit der ökonomischen Theorie nicht erklärt werden könnte. Diese methodische Selbstbeschränkung hat jedoch entsprechende analytische Beschränkungen bei der eingeforderten vollen geschichtlichen Anschauung zur Konsequenz. Denn die Morphologie liefert kein Rüstzeug, um die historisch-konkrete Einbettung der Ordnungsformen adäquat erfassen zu können. Diese Schwäche ist vor allem von Weippert (1941) als zentraler Kritikpunkt herausgestellt worden. Die volle geschichtliche Anschauung könne nur dann gelingen, wenn die jeweiligen Ordnungsformen in ihrer Gebundenheit an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gesehen werde. Weil der morphologische Apparat aufgrund der rigorosen Abstraktion unge-
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schichtlich sei, konstatiert Weippert (1941, 55) sogar ein Scheitern von Eucken bei dem Vorhaben, die große Antinomie zu überwinden. Diese Kritik ist überzogen. Man wird Eucken wohl gerechter, wenn man ihm eine originelle, aber noch unvollständige Lösung der Antinomie attestiert. Die analytische Unfertigkeit der Ordnungstheorie deutet Eukken (1950, 268) selbst an, wenn er feststellt, daß man zu einer richtigen Erkenntnis des wirtschaftenden Menschen erst durch eine gelungene Synthese von gleichbleibender Individualität und geschichtlicher Gebundenheit gelangen wird. Diese Synthese erscheint möglich, wenn der Datenkranz entflochten und in eine Theorie der Entstehung und des Wandels von Ordnungen eingewebt wird. Gefordert ist also die Dynamisierung der Ordnungstheorie (vgl. Herman-Pillath 1991, Meyer 1989). Diese Forderung ist von der Neuen Institutionenökonomik aufgenommen und insbesondere von North in Gestalt der Theorie des institutionellen Wandels partiell eingelöst worden.
5. Die Theorie des institutionellen Wandels von D.C. North 5.1. Das Forschungsprogramm der Neuen Institutionenökonomik Die ökonomische Institutionentheorie, auch Neue Institutionenökonomik genannt, ist in den 60er und 70er Jahren entwickelt worden. Sie umfaßt so verschiedene theoretische Ansätze wie die Property Rights-Theorie, die ökonomische Analyse des Rechts, die ökonomische Theorie der Verfassung (Constitutional Economics), die Transaktionskostenökonomik, die Theorie des institutionellen Wandels sowie partiell auch Theoriestücke der Public Choice-Theorie (vgl. als Übersicht Leipold 1989, Richter 1998). Gemeinsam ist diesen Ansätzen, daß sie Institutionen als wichtige Einflußgröße des Wirtschaftens berücksichtigen und analysieren. Im Mittelpunkt stehen die Fragen nach der Entstehung und dem Wandel von Institutionen (choice of rules) sowie nach den Wirkungen von Institutionen (choice within rules). Das Prädikat „neu" bezieht sich nicht auf diese Fragen, die ja auch die Hauptfragen der älteren Ordnungs- oder Institutionentheorien waren, sondern auf die Methodik. Institutionen werden als ökonomische Güter interpretiert, deren Wahl und Wirkungen mit dem mikroökonomischen Instrumentarium, also mit dem rationalen ökonomischen Erklärungsansatz analysiert werden. Die Renaissance der Institutionentheorie erwuchs aus dem Unbehagen darüber, daß Institutionen in der herrschenden neoklassischen Lehrbuchökonomie weitgehend ausgeklammert wurden und bis heute werden. Kritisiert wurden also die Annahmen der Institutionenneutralität und der Irrelevanz von Transaktionskosten. Explizit oder implizit wird mit diesen Annahmen vorausgesetzt, daß Eigentumsrechte eindeutig spezifiziert und übertragbar sind, Verträge vollständig formuliert und deren Erfüllung notfalls von neutralen Staats- oder Richterinstanzen erzwungen werden können, Unternehmen, Märkte und andere Produktions- und Austauscheinrichtungen einschließlich der Rechtsformen gegeben sind oder wirtschaftlich-technisches Wissen bekannt und allgemein zugänglich ist. Die Kritik an dieser idealen Welt der neoklassischen Gleichgewichtstheorie weist viele Ähnlichkeiten mit jener der Historischen Schule und des älteren Institutionalismus amerikanischer Prägung an der klassischen Nationalökonomie auf. Die Vertreter der ökonomischen Institutionentheorie teilen jedoch nicht deren Skepsis an der universalen
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Erklärungskraft des rationalen ökonomischen Entscheidungsansatzes, der vielmehr durch die Einbeziehung der Institutionen erweitert werden soll. Die maßgebliche Inspiration für die ökonomische Institutionentheorie hat Coase geliefert. In seiner Arbeit über die „Natur der Firma" stellte Coase (1937) die Frage, weshalb Transaktionen von Gütern im beträchtlichen Umfang innerhalb von Unternehmen per Anweisung durch die Unternehmensleitung und nicht über Märkte und Preise abgewickelt werden. Als Ursachen erkannte er die Kosten des Preismechanismus, die er mit den Kosten der unternehmensinternen Transaktionen verglich. Damit lenkte er den Blick auf die Transaktionskosten als ursächliche Einflußgröße für die Wahl alternativer institutioneller Abwicklungsformen. Nicht minder einflußreich war die zweite Arbeit von Coase (1960), in der er die Frage nach den Bedingungen einer effizienten Zurechnung externer Effekte zwischen Schädigern und Geschädigten stellte. Die Antwort war das postum benannte Coase-Theorem. Vereinfacht formuliert besagt dieses Theorem, daß es in einer Welt mit vollkommener Information und damit ohne Transaktionskosten zu einer pareto-optimalen Allokation der Güter einschließlich der externen Effekte kommt, und zwar unabhängig von der ursprünglichen Zuordnung der Eigentums- bzw. Emissionsrechte. Die Einsicht, daß Transaktionen in der realen Welt mit Kosten verbunden sind, lenkte erneut die Aufmerksamkeit der Ökonomen auf die Institutionen. Die Theorieentwicklung sei im folgenden exemplarisch an der Theorie des institutionellen Wandels von North verdeutlicht.
5.2. Die Theorie des institutionellen Wandels Die Theorie der institutionellen und wirtschaftlichen Entwicklung von North ist relativ einfach gestrickt. Das Grundmuster bilden die erwähnten Basisaussagen von Coase, die für die Erklärung langfristiger wirtschaftlicher Entwicklungen variiert werden. Die erste Aussage, daß die Abwicklung von Marktprozessen Kosten verursacht, benutzt North (1984, 1987) zur Modifikation der wirtschaftlichen Entwicklungstheorie von Smith. Er stimmt mit Smith überein, daß die Teilung und Spezialisierang der Arbeit die Grundlage des wirtschaftlichen Wohlstandes sind. Sie erhöhen die Arbeitsproduktivität, senken die Produktionskosten und verbessern sowohl angebots- als auch nachfrageseitig die Gelegenheiten zu wechselseitigen Tauschgewinnen. Die Expansion der Tauschprozesse geht jedoch mit steigenden Transaktionskosten einher. Damit diese Kostenzunahme nicht die Ausweitung der Arbeitsteilung behindert, sind institutionelle Neuerungen erforderlich. Diese Einsicht wird zur These verallgemeinert, daß die Wahl und der Wandel von Institutionen vom Kriterium der Transaktionskostenminimierung bestimmt werden. Der Bezug zu Coase und dessen Unternehmenserklärung ist unübersehbar. Der Einfluß von Coase spiegelt sich auch in anderen Theorieansätzen der Neuen Institutionenökonomik wider, die sämtlich die These der effizienten, d.h. kostenminimalen Institutionenwahl unterstellen. Aufgrund der Einsicht, daß die Minimierung der Transaktionskosten in Marktwirtschaften kein eigenständiges Entscheidungsziel bildet, wird neuerdings die Effizienzthese dahingehend modifiziert, daß die Wahl der Institutionen von der Maximierung des Nettoertrages der Transaktionen bestimmt werde (vgl. Kreps 1990; Richter 1998). Losgelöst davon, ob die kostenminimale oder aber ertragsmaximale Erklärungsvariante gewählt wird, hält man an der Effizienzthese fest. Sie
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liegt der Transaktionskostenökonomie von Williamson (1990) zugrunde, nach der sich die Wahl alternativer Abwicklungs- und Beherrschungsformen von Transaktionen an der Kostenminimierung orientiert. Das gleiche Muster gilt auch für Wahl der Eigentumsrechte, die gemäß der These von Demsetz (1967, 347 f.) von den relativen Preisen (Kosten) und damit den relativen Güterknappheiten und deren Veränderungen bestimmt wird. Selbst die ökonomischen Erklärungen des Staates variieren nur das einfache Kosten-Ertrags-Kalkül (vgl. Buchanan 1984). Wie erwähnt, sind auch die ersten Arbeiten von North von der These beeinflußt, daß die Wahl und damit der Wandel von Institutionen tendentiell vom Bestreben der Wirtschaftssubjekte bestimmt werden, die Transaktionskosten zu minimieren. Das erklärt sein Bemühen, die eher vage Kategorie der Transaktionskosten zu präzisieren und deren reales Gewicht in der Wirtschaftsgeschichte empirisch zu belegen. Hier sei nur auf die gemeinsam mit Wallis durchgeführte Studie verwiesen, in der die Entwicklung der Transaktionskosten in den Vereinigten Staaten für den Zeitraum von 1870 bis 1970 untersucht wird. Wallis und North (1986) ermitteln im Jahr 1870 einen anteiligen Wert der Transaktionskosten am Bruttosozialprodukt von 26,1 v.H., der bis 1970 kontinuierlich auf 54,7 v.H. anstieg. Demgemäß haben sich die Transaktionskosten im Zeitraum eines Jahrhunderts verdoppelt. Dieses Ergebnis soll die Relevanz der zweiten Basisaussage von Coase erhärten, wonach in einer Welt hoher Transaktionskosten Institutionen und speziell Eigentumsrechte für die Güterallokation von Belang sind. Das Coase-Theorem ist im Rahmen der Property Rights-Theorie dahingehend spezifiziert worden, daß die Gestaltung und Zuordnung der Eigentumsrechte die Allokation und Nutzung von Gütern systematisch beeinflußt (Furubotn, Pejovich 1972, 1139). North hat diese These dazu benutzt, die wirtschaftlichen Wirkungen von Institutionen und insbesondere von verschiedenen eigentumsrechtlichen Arrangements aus wirtschaftshistorischer Sicht aufzuzeigen und zu belegen. Die Anwendung des ökonomischen Erklärungsansatzes hat ihm im Jahre 1993 die Ehre des Nobelpreises der Wirtschaftswissenschaft beschert. Paradoxerweise kamen North jedoch im Laufe seiner historisch breit angelegten Vergleichsstudien immer mehr Zweifel an der Leistungsfähigkeit des ökonomischen Erklärungsansatzes auf. Seine Rede anläßlich der Verteilung des Nobelpreises ist ein klassisches Beispiel dafür, daß North (1994) die Aktualität der großen Antinomie der Wirtschaftswissenschaft unbewußt wiederentdeckt hat. Die Ursachen und Stationen dafür sollen exemplarisch anhand seiner Theorieentwicklung rekonstruiert werden. Seine erste zusammen mit Thomas verfaßte Arbeit über die wirtschaftliche Entwicklung der westlichen Welt ist noch ganz dem ökonomischen Erklärungsmuster verhaftet, daß Änderungen der relativen Preise, d.h. der Transaktionskosten die Wahl effizienter Eigentumsrechte induzieren und wirtschaftliches Wachstum bewirken {North, Thomas 1973). In der Tat entspricht der westliche Entwicklungspfad, der ab der beginnenden Neuzeit weltweit einzigartig war und in der industriellen Revolution seinen Höhepunkt fand, cum grano salis dem ökonomischen Erklärungsmuster. Gleichwohl mußte North bereits damals die unübersehbaren raumspezifischen Unterschiede der Wirtschaftsentwicklung etwa in den Niederlanden und England einerseits sowie in Frankreich und Spanien andererseits aufgefallen sein, die einer gesonderten Erklärung bedurften. Der
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relativ einfach strukturierte ökonomische Theorienansatz konnte für die räum- und zeitspezifische Besonderheiten keine plausible Erklärung liefern. North (1988) sah sich wahrscheinlich deshalb veranlaßt, in seiner „Theorie des institutionellen Wandels" die These der effizienten Institutionenwahl erstmals zu relativieren. Als Hauptursachen für dauerhafte ineffiziente Institutionen erscheinen nun staatliche Machthaber in Verbindung mit Unvollkommenheiten des politischen Marktes. Diese Ursachen werden mit einer neoklassischen Staatstheorie begründet. Der Staat erweist sich in seiner Funktion als Rechtsschutzstaat als vorteilhaftes Komplement zur Ausweitung unpersönlicher Marktprozesse. Die ökonomischen Vorteile resultieren aus den steigenden Skalenerträgen und d.h. den sinkenden Kosten einer zentralen Instanz, die mittels des Monopols der physischen Gewaltanwendung Recht und Ordnung sichert und notfalls erzwingt. Der Staat wird also als natürliches Monopol modelliert, das als überparteiische Instanz die Eigentumsrechte der Wirtschaftssubjekte potentiell zu den kostengünstigsten Bedingungen sichern kann. Andererseits verfuhrt das staatliche Monopol die eigeninteressierten Herrscher zum Mißbrauch der Monopolmacht. North unterstellt den staatlichen Herrschern als Basismotiv die Machtsicherung und die Maximierung der damit verbundenen Einkommen und Privilegien. Daraus sollte sich eigentlich auch das Interesse an der Durchsetzung effizienter Ordnungsbedingungen ergeben, weil eine produktive Wirtschaft die ergiebigste Quelle für staatliche Macht und Einkommen ist. Gegenüber diesem Vorhaben können jedoch macht- und kostenbedingte Restriktionen die Oberhand gewinnen. Die Macht kann entweder von externen oder internen Rivalen gefährdet werden, weshalb Herrscher bestrebt sind, externe Rivalen mit militärischen Mitteln abzuschrecken oder zu besiegen und interne Rivalen durch großzügige Privilegien zufriedenzustellen. Beide Formen der Machtsicherung erfordern Zwangsabgaben der Untertanen, beeinträchtigen also deren Eigentumsrechte und mindern die Leistungsbereitschaft. Dazu kommen kostenbedingte Beschränkungen. Denn die Eintreibung der Zwangsabgaben ist mit Kosten verbunden. Die Herrscher werden die für sie ergiebigsten Eintreibungsformen bevorzugen, wobei sich die Etablierung staatlicher und die Gewährleistung privater Monopole universal als billigste und vorteilhafteste Einnahmequelle erwiesen hat und bis heute erweist. Die neoklassische Staatstheorie, die stark von der Theorie der Rentensuche inspiriert ist, nutzt North, um die angedeutete divergenten Entwicklungen in den Niederlanden und England sowie in Frankreich und Spanien zu erklären. In den Niederlanden und in England gelang es ab dem 16. Jahrhundert aufgrund eher zufälliger Umstände, effiziente Eigentumsrechte zu etablieren, die in der industriellen Revolution ausmündeten. In den Niederlanden wurden die Grundlagen dafür unter der Herrschaft der Herzöge von Burgund, also vor der spanischen Interimsherrschaft geschaffen. Nach der Befreiung von der spanischen Herrschaft konnten in der neuen Unionsverfassung fiskalische Regeln zur Begrenzung der Staatseinnahmen geschaffen werden, die der Zustimmung aller Generalstände der Provinzen bedurften, womit es gelang, produktive Eigentumsrechte für die Privatinitiative zu sichern. In England entschied bekanntlich das Parlament den Machtkampf mit dem König zu seinen Gunsten, wodurch sich eine moderate Fiskalpolitik und liberale Ordnungsregeln entwickeln konnten. Dagegen wurde die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung im absolutistischen Frankreich und Spanien vom uner-
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sättlichen Finanzhunger der Monarchen und der monopolistischen Regulierung der Wirtschaft geprägt und gehemmt (North 1988, 148ff). In den hier nur grob skizzierten historischen Vergleichsstudien wird die These vom Primat der Politik für den institutionellen Wandel deutlich. An dieser These hält North (1992, 167) fest, indem er unterstreicht, daß man effiziente Institutionen in einem Staatswesen erhält, das eingebaute Anreize zur Schaffung und Sicherung effizienter Eigentumsrechte hat. Die Frage, wie solche Anreize auszusehen haben und wie man sie erhält, bleibt jedoch offen. Verantwortlich dafür ist seine ökonomische Staatstheorie, in der North den Staat als „deus ex machina" einführt und als rationale und potentielle unparteiische Instanz modelliert. Damit sind Enttäuschungen vorprogrammiert, denn das Verhalten der staatlichen Souveräne ist so gut oder schlecht wie das in der jeweiligen Gesellschaft vorhandene Bewußtsein für Recht und Ordnung. Schlüssiger wäre es, den Staat als endogenen Teil der Entstehung und des Wandels von Institutionen zu modellieren, womit sich auch erst die Pfadabhängigkeit der Staatsentwicklung begründen ließe. Die These der pfadabhängigen Institutionenentwicklung steht im Mittelpunkt der zuletzt von North verfaßten Arbeiten und rundet die Theorie der institutionellen Entwicklung ab (vgl. North 1992, 1994, 1995). Ausgangspunkt dafür war wohl die in den historischen Vergleichsstudien gewonnene Einsicht, daß ineffiziente Institutionen über lange Zeiträume bestehen können. Aufschlußreich war die Beobachtung, daß die wirtschaftlichen Unterschiede etwa zwischen England und Spanien in deren Kolonien in Nordbzw. Südamerika ihr Pendant fanden und selbst nach der Beseitigung der Kolonialherrschaft weiterbestanden. Das war deshalb irritierend, weil einige südamerikanische Länder nach ihrer Selbständigkeit die Verfassung der Vereinigten Staaten übernommen hatten. Die Einsicht, daß analoge formale Regeln mit beträchtlichen wirtschaftlichen Wachstumsunterschieden einhergingen und bis heute gehen, mußte das analytische Augenmerk auf die informalen Regeln lenken, deren Vielfalt und Persistanz nach einer überzeugenden Erklärung verlangten. North fand sie in der Erkenntnis, daß der institutionelle Wandel pfadabhängig sei. Die Anregungen dafür lieferten die Arbeiten von Arthur (1988) und David (1985) über die Pfadabhängigkeit der Technikentwicklung. Diese Eigenart ist bei Netzwerkgütern beobachtbar, wo der Nutzen eines Anwenders auch von der Zahl vorhandener oder weiterer Anwender abhängt. Die steigenden Anwendungserträge können davon rühren, daß sich eine spezifische Technik aufgrund zufälliger Anfangsbedingungen gegnüber einer überlegenen Technik über einen längeren Zeitraum behauptet. North hat diese Grundidee für die Erklärung der Institutionenentwicklung übernommen und eigenständig modifiziert. Die Neufassung seiner Theorie des institutionellen Wandels, die eine Modifikation des ökonomischen Erklärungsansatzes einschließt, sei kurz erläutert (vgl. auch Leipold 1996b). Die wesentliche Theoriemodifikation besteht in der Aufwertung erstens der informalen Regeln, also der gewachsenen moralischen Werte und Sitten gegenüber den formalen Institutionen, zweitens der Organisationen gegenüber individuellen Akteuren und drittens der ideologie- oder kulturgeprägten Wahrnehmung der Realität und damit auch der Informationsverarbeitung gegenüber der Prämisse des Rational Verhaltens.
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Den institutionellen Wandel begreift North (1992, 1994) als das Resultat des raumund zeitbezogen divergenten Zusammenspiels von Organisationen und Institutionen. Institutionen definieren die Spielregeln des Zusammenspiels, wobei insbesondere die gewachsenen, informalen Regeln die wichtigen Restriktionen für angemessene oder unzulässige Verhaltensweisen vorgeben. Organisationen sind die für den institutionellen Wandel maßgeblichen Akteure oder Spieler. Sie bestehen aus Individuen, die gemeinsame Ziele anstreben und deshalb kooperieren. Dazu zählen Staaten, politische Parteien, wirtschaftliche Verbände, Unternehmen, Vereine und sonstige Korporationen. Deren Streben nach bestmöglicher Realisierung der je eigenen Ziele führt in einer Welt knapper Güter zum Wettbewerb, der wiederum die Lern-, Anpassungs- und Leistungsbereitschaft stimuliert. Die Intensität des Wettbewerbs hängt von der Beschaffenheit des Regelwerkes ab. Der Wettbewerb zwischen den Organisationen um politischen Machtpositionen, Marktanteile oder Gewinne bewirkt auch einen Wettbewerb der Regelsysteme. Überkommene Regeln werden durch neue formale und informale Regeln ersetzt. Die Änderungen werden neben der regelabhängigen Wettbewerbsintensität von der wissensabhängigen Wahrnehmung neuer Gelegenheiten beeinflußt. Damit ist der Einfluß der kognitiven Modelle der Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen über die Realität als neue Erklärungsvariable angesprochen (vgl. auch Denzau, North 1993). North will mit Hilfe der kognitiven (mentalen) Modelle die räum- und zeitspezifischen Beschränkungen des Rationalverhaltens erfassen. Er interpretiert diese Modelle als ein Mixtum erstens des jeweiligen kulturellen Erbes, zweitens der lokalen Probleme und des Wissens von Raum und Zeit und drittens des zugänglichen nichtlokalen allgemeinen Wissens. Das kulturelle Erbe umfaßt die gewachsenen Werte und Sitten, also die kulturellen Regeln oder Weltbilder, die generationsübergreifend durch kollektives Lernen weitergegeben werden. Den Begriff des kollektiven Lernens übernimmt North von Hayek. Diese Art des Lernens vollzieht sich durch die meist unbewußte Befolgung geltender Regeln, die Hayek (1979) als das Ergebnis eines langen Siebungsprozesses interpretiert. In den Regeln speichert sich deshalb das Wissen früherer Generationen über vor- und nachteilige Verhaltensweisen in der Vergangenheit. Das erlernte Wissen in Verbindung mit dem lokalen und dem zugänglichen allgemeinen Wissen ergeben zusammen subjektive Wissensmodelle, wobei die räum- und zeitabhängige divergente Zusammensetzung der Wissensquellen nach North (1995) sich in verschiedenen Entscheidungen und Verhaltensweisen der Individuen widerspiegelt. Er konzediert zwar, daß unzulängliche Mentalmodelle bei korrekter Rückkoppelung der Entscheidungsfolgen revidiert werden, so daß sich die Entscheidungen von Individuen mit identischer Nutzenfunktion losgelöst von der Raum- und Zeitgebundenheit annähern könnten. Eine vollständige Annäherung unterbleibt jedoch, solange die institutionellen Regeln, die ja maßgebliche Bestimmungsfaktoren der kognitiven Modelle sind, verschieden bleiben. Damit ist aufgrund der Pfadabhängigkeit des institutionellen Wandels zu rechnen. Pfadabhängigkeit bedeutet die einfache Einsicht, daß historische Bedingungen aktuelle Entscheidungen und damit auch zukünftige Entwicklungen präformieren. Diese Eigenart gilt auch und gerade für den institutionellen Wandel, bei dem die gewachsenen geltenden Regeln stets der Bezugspunkt für deren Veränderungen sind. Der gegebene Regelbestand engt also die Möglichkeiten der potentiellen Änderungen ein und verbindet diese mit der Vergangenheit. Die Verhaltenseffekte isolierter Regeländerungen bleiben
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aufgrund der Interdependenz von formalen und informalen Regeln begrenzt, die North mit Hilfe der ökonomischen Konzepte der Netzwerkexternalitäten und der Verbundeffekte erläutert. Die historische Gebundenheit der Regelgeltung und -befolgung ist der eigentliche Grund dafür, daß umfassende oder gar revolutionäre Veränderungen eines Regelsystems eher geschichtliche Annahmen geblieben sind. Die wenigen Revolutionen waren deshalb selten so revolutionär wie erhofft. North (1992, 167 f., 1994, 367) konzediert, daß das Phänomen der Pfadabhängigkeit in der Theorie des institutionellen Wandels bisher noch weitgehend ungeklärt sei. Gleichwohl sieht er darin den Schlüssel für ein angemessenes Verstehen und Erklären der unübersehbaren Vielfalt der politischen und wirtschaftlichen Ordnungen und der davon abhängigen Verschiedenheit der wirtschaftlichen Entwicklung.
5.3. Kritische Anmerkungen Die Theorie des institutionellen Wandels von North und deren Modifikationen sind vor allem aus methodischen Gründen interessant. North hat im Laufe seiner imposanten Forschungsarbeit wahrscheinlich ohne Kenntnis der einschlägigen deutschen Theoriediskussion die Existenz der großen Antinomie der Nationalökonomie aufs Neue entdeckt und bestätigt. Die von ihm präsentierten und ständig nachgebesserten Erklärungsversuche zur Überwindung der Antinomie bleiben bisher jedoch unvollständig. Die wesentlichen Stärken und Schwächen seiner Theorie sollen deshalb noch einmal kurz rekapituliert werden. Im Zuge seiner wirtschaftshistorischen Studien mußte North schon früh erkennen, daß die Wahl und der Wandel von Institutionen nicht universal dem Erklärungsmuster der Neuen Institutionenökonomik folgen. Das führte zur Einsicht, daß informale Institutionen, d.h. die gewachsenen Werte und Sitten als Faktoren des menschlichen und wirtschaftlichen Verhaltens, zu berücksichtigen sind. Informale Regeln sind jedoch im Unterschied zu formalen Institutionen nur bedingt der unmittelbaren Beobachtung zugänglich. Sie sind vielmehr theoretisch zu erschließen. Dieses Vorhaben ist deshalb schwierig, weil es sich um räum- und zeitspezifische, also um kulturspezifische Regeln handelt, die sich wiederum nur mit Hilfe einer abstrakt-theoretischen Erklärung identifizieren lassen. North erkannte, daß das ökonomische Erklärungsmuster dafür überfordert ist. Der Versuch etwa, religiöse Werte, moralische Regeln oder gewachsene Gewohnheitsrechte als Resultat transaktionskostenminimierender Kalküle interpretieren zu wollen, kann nur als naives Unterfangen bewertet werden. Die „Effizienz" dieser Regeln erwächst nicht aus der Anpassung an Änderungen der Güterknappheiten und damit der Preise, sondern im Gegenteil aus ihrer Stabilität und damit aus der Fähigkeit, verläßliche Verhaltensbindungen zu bewirken. In der Aufwertung der informalen Regeln und der Abwertung des imperialen ökonomischen Erklärungsanspruchs erfährt Eucken eine doppelte nachträgliche Bestätigung. Bestätigt wird einmal sein Einwand, daß der Wandel oder auch die Stabilität der Ordnungen mit dem ökonomischen Instrumentarium nicht angemessen erklärt werden können, weshalb er die damit verbundenen Faktoren und deren Erklärung in den Bereich des Datenkranzes verwiesen hat. Bestätigt wird zum anderen seine Einsicht, daß eine volle geschichtliche Anschauung des wirtschaftlichen Geschehens erst gelingen könne, wenn die Einfügung der Wirtschaft in die jewei-
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lige geistige-natürliche-politisch-soziale Umwelt berücksichtigt werde. Außer dem Verweis auf den Gebrauch der Methode der generalisierenden Abstraktion konnte er für Lösung dieser Aufgabe jedoch kein brauchbares Instrumentarium offerieren. North hat mit der Pfadabhängigkeit des institutionellen Wandels und mit Rolle ideologiengeprägter Modelle der Weltsicht Erklärungsvariablen beigesteuert, die für die von Eucken eingeforderte Erfassung der geamtgeschichtlichen Umwelt des Wirtschaftsgeschehens aufschlußreich sein können. Die Northsche Theorie bleibt jedoch deshalb noch unzureichend, weil dessen Gerüst nach wie vor dem Erklärungsmuster der Neuen Institutionenökonomik verhaften bleibt, das wiederum im Coase-Theorem seinen Ausgang hat. Dieses Theorem lenkt bei der Erklärung der Wahl und Wirkungen von Institutionen den Blick einseitig auf Transaktionskosten und Eigentumsrechte, was sich wiederum nur aus dem Umstand erklärt, daß diese Variablen in der neoklassischen Theorie keine gesonderte Beachtung finden (vgl. auch Leipold 1996b, 99 f.). Da sich die These der effizienten Institutionenwahl in der Wirtschaftsgeschichte nur spärlich belegen ließ, mußte North nach weiteren Erklärungsvariablen suchen. Wie dargestellt, fand er sie in den Unvollkommenheiten des politisch-staatlichen Bereich, in der Pfadabhängigkeit der Institutionenentwicklung und im Konzept ideologiegeprägter Modelle der Weltsicht, wobei der Verweis auf „falsche" Modelle die theorieimmanenten Erklärungsnotstände beheben soll. Seine Modifikationen des Theoriegerüsts sind geradezu ein Lehrstück für die Pfadabhängigkeit der Theorieentwicklung, die aufgrund des einmal eingeschlagenen Weges auf stetige Korrekturen angewiesen ist, um auf den richtigen Erkenntnispfad zu gelangen. Immerhin vermittelt die Entwicklung der Theorie des institutionellen Wandels, die der allmählichen Loslösung von den neoklassischen Wurzeln der Neuen Institutionenökonomik gleichkommt, Aufschlüsse darüber, wie die große Antinomie der Nationalökonomie methodisch erfolgversprechender angegangen werden sollte.
6. Ansatzpunkte zur Überwindung der großen Antinomie In diesem Beitrag sind einige Forschungsprogramme nachgezeichnet worden, deren zentrale Intention darauf gerichtet war oder ist, der historischen Vielfalt der wirtschaftlichen Ordnungen und Prozesse mittels einer allgemeinen theoretischen Erklärung auf die Spur zu kommen. Alle angeführten Ansätze haben je eigene Verdienste, aber auch je eigene Erklärungsdefizte. Den Vertretern der Historischen Schule kommt das Verdienst zu, das Bewußtsein für die große Antinomie geschärft und dessen Klärung durch richtige Fragestellungen angegangen zu haben. Aufgrund der methodischen und theoretischen Defizite blieb der Ertrag der Anstrengungen jedoch mager. Eucken hat mit seiner Ordnungstheorie eine eigenständige Lösung zur Erklärung der historischen Vielfalt des wirtschaftlichen Geschehens beigesteuert, der leider die gebührende Anerkennung durch die internationale Forschungsgemeinschaft versagt blieb. Verantwortlich dafür ist jedenfalls nicht das in diesem Beitrag festgestellte Defizit des morphologischen Apparates bei der vollen Anschauung und Erfassung des gesamtgeschichtlichen Umfeldes von realen Wirtschaftsordnungen. Dieses Defizit läßt sich partiell beheben, wenn die gewachsenen informalen Regeln angemessen berücksichtigt werden, deren Einfluß auf die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung North erkannt hat. So aufschlußreich
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und verdienstvoll diese Bemühungen auch einzuschätzen sind, so haben sie dennoch noch keine überzeugende Lösung der großen Antinomie der Nationalökonomie geliefert. Da alle angeführten Theorieansätze ihren eigentlichen Ausgangspunkt in der überragenden Person und Theorie von Smith haben, sind auch hier die Ansatzpunkte für eine solche Lösung zu suchen. Das wissenschaftliche Werk von Smith kann zeitüberdauernd dem Anspruch einer umfassenden Geschichts- oder Ordnungstheorie gerecht werden. Es ist von dem Bemühen geprägt, die großen wirtschaftlichen und sozialen Probleme seiner Zeit mit den Mitteln einer allgemeinen Theorie im besten Verständnis einer Sozialökonomik zu klären und erforderliche ordnungspolitische Reformen zu begründen. Dennoch hat das Smithsche Werk unbeabsichtigt die nachfolgende Auseinanderentwicklung der ökonomischen Schulrichtungen befördert. Wie erörtert, erwies sich das sog. ,¿ídam Sm/YA-Problem" als der eigentliche Stein des Anstoßes, weil es zur einseitigen Interpretation der Theorie von Smith einlud. Das Problem erweist sich aus heutiger Sicht als ein Scheinproblem, das gegenstandslos wird, wenn beide Hauptwerke von Smith als komplementäre Bausteine seiner Theorie gelesen werden. Seine Epigonen haben diesen Rat nur ausnahmsweise beherzigt. Die „Theorie der ethischen Gefühle" ist als allgemeine Ordnungstheorie konzipiert, die sich mit der Basisfrage beschäftigt, wie unter eigenineressierten Individuen ein Zustand der wechselseitig verläßlichen Regelbefolgung, damit ein Zustand der gesellschaftlichen Ordnung entstehen kann. Dieses Grundproblem ist postum als das Hobbessche Ordnungsproblem benannt worden, weil es Hobbes zuerst in radikaler Form formuliert hat (vgl. Parson 1937). Da jedes Volk zu jeder Zeit vor der elementaren Herausforderung stand und steht, das Zusammenleben friedfertig und produktiv zu ordnen, ist in den räum- und zeitspezifischen Lösungen des Hobbesschen Ordnungsproblems zugleich der Schlüssel für die Überwindung der großen Antinomie der Nationalökonomie zu vermuten. Diese Einsicht hat bereits das Forschungsprogramm von Smith bestimmt. Seine Antwort auf das Hobbessche Ordnungsproblem hat er in der „Theorie der ethischen Gefühle" gegeben, die ganz in der Tradition der Schottischen Moralphilosophie steht. Als deren geistiger Vater gilt Shaftesbury, dessen Einwände gegen Hobbes sein Schüler Hutcheson zur Theorie der moralischen Gefühle ausbaute, die wiederum die Moral- und Sozialtheorie von Hume, Ferguson und Smith prägte. Die Schottische Moralphilosophie entzündete sich vor allem an dem rigiden Menschen- und Gesellschaftsverständnis von Hobbes. Dessen These, daß der Mensch des Menschen Wolf sei, karikierte Shaftesbury als Beleidigung der Wölfe, die bekanntlich einen ausgeprägten Sozialtrieb besitzen (vgl. Röpke 1942, 115). Von daher erklärt sich die Basisprämisse der Schottischen Moralphilosophie, daß die Menschen ein natürliches Gefühl dafür hätten, was moralisch gut oder schlecht sei, das durch Erziehung und Sozialisation ausgebaut werde. Das gehe mit der spontanen Entwicklung von moralischen und rechtlichen Regeln einher, die nicht das Resultat eines bewußten Entwurfs, sondern das unbeabsichtigte Ergebnis menschlicher Handlungen seien. Smith hat diese Moraltheorie übernommen und in der „Theorie der ethischen Gefühle" ausgebaut. Als elementare moral- und ordnungsstiftende Faktoren erkennt er das natürliche Mitgefühl (fellow-feeling bzw. sympathy) für das Wohlergehen der Mitmenschen, das gewachsene System an moralischen Regeln, das er weitge-
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hend mit den Regeln der christlichen Moral identifiziert, das System der rechtlichen Regeln einschließlich der staatlichen Einrichtungen zur Durchsetzung des Rechts und schließlich die Kontrolle durch wettbewerbliche Marktprozesse, die systematisch im „Wohlstand der Nationen" begründet wird. Die „Theorie der ethischen Gefühle" ist als allgemeine Ordnungstheorie konzipiert, deren zentraler Gegenstand das Hobbessche Ordnungsproblem ist. Die Klärung dieses Problems erachtet Smith als notwendige Grundlage für die Begründung der speziellen Theorie der Marktwirtschaft, wie er sie im Wohlstand der Nationen präsentiert hat. Die intendierte Synthese zwischen allgemeiner und spezieller Ordnungstheorie ist Smith jedoch aus zwei Gründen nur unvollständig gelungen. Erstens wird seine „Theorie der ethischen Gefühle" nicht hinreichend den Anforderungen einer allgemeinen Ordnungstheorie gerecht. Zweitens gelingt die Verknüpfung zwischen seiner allgemeinen und speziellen Ordnungstheorie nur lückenhaft, weil sie meist nur in impliziter und verdeckter Form erfolgt und deshalb von den meisten Epigonen verkannt oder einseitig interpretiert wurde. Beide Einwände, insbesondere der zweite Einwand sind bereits erläutert worden, um die Gründe für die Auseinanderentwicklung der Nationalökonomie zu verdeutlichen. Nun sollen jedoch die Ansatzpunkte für die Überwindung der großen Antinomie aufgezeigt werden. Dafür kann das Werk von Smith nur Hinweise, jedoch keine hinreichende Lösung vermitteln. Verantwortlich dafür ist der durchgängige Raum-ZeitBezug vor allem seiner „Theorie der ethischen Gefühle", der sich dann auch implizit in seiner Theorie der Marktwirtschaft niederschlägt. Wie dargestellt, unterscheidet Smith mit den moralischen Gefühlen, dem System moralischer Regeln, dem Rechts- und Staatssystem sowie dem Marktwettbewerb vier originäre moral- und ordnungsstiftende Faktoren. Dabei erläutert er in allgemeiner Weise lediglich den Ursprung und die Wirkungen der moralischen Gefühle, die im Zentrum der „Theorie der ethischen Gefühle" stehen. Dagegen werden die moralischen und rechtlich-staatlichen Regeln nur beiläufig erwähnt und - was entscheidend ist - mit den geltenden Regeln seiner Zeit und seines Raumes gleichgesetzt. Die Kontrollfunktion des Wettbewerbs erläutert er in extenso im „Wohlstand der Nationen". Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine allgemeine, sondern um eine systemspezifische Kategorie. Die eigentliche Schwachstelle im Werk von Smith resultiert deshalb aus der nur beiläufigen Behandlung der moralischen Regeln und vor allem des Rechts- und Staatssystems. Sofern sich Smith darauf bezieht, unterstellt er die zu seiner Zeit geltenden Bedingungen. Das waren jedoch relativ wohlgeordnete, keineswegs universal geltende Bedingungen. Erst aufgrund der Annahme dieser Bedingungen konnte Smith die produktiven Wirkungen der unsichtbaren Hand und d.h. wettbewerblicher Marktprozesse schlüssig begründen. Smith war sich dieser Begründungsschwäche bewußt, was seine Ankündigung in der „Theorie der ethischen Gefühle" belegt, diese Lücke schließen zu wollen. Wegen der Bedeutung dieser Einsicht sei die Ankündigung in der Originalfassung zitiert: „I shall in another discourse endeavour to give an account of the general principles of law and government, and of the different revolutions they have undergone in the different ages and periods of Society, not only in what concerns justice, but in what concerns police, revenue, and arms, and whatever eise is the object of law" (Smith 1781, 436). Bemerkenswert an der Ankündigung ist die Anerkenntnis der zeit- und raumbezogenen Ver-
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schiedenheit der Rechts- und Staatsordnungen und der Erfordernis, diese Verschiedenheit in Form allgemeiner Prinzipien zu erfassen und zu erklären. Dieser Ankündigung hat Smith nur insoweit genügt, als er im Wohlstand der Nationen die normativen Voraussetzungen eines wohlgeordneten Rechts- und Staatswesens angedeutet hat. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, welche Wendung die ökonomische Theorie genommen hätte, wenn Smith sein Versprechen eingelöst hätte. Der Umstand, daß Smith seine unfertigen Manuskripte einschließlich einer längeren Abhandlung über die Entwicklung und Folgen verschiedener Rechts- und Staatssysteme kurz vor seinem Tod verbrannt hat, mag als Indiz dafür gelten, daß er sich der enormen Schwierigkeiten bewußt war, die Ursachen für die Verschiedenheit der moralischen und rechtlichen Regeln und der davon abhängigen Verschiedenheit der wirtschaftlichen Ordnungen und Prozesse adäquat, und d. h. allgemein erklären zu können. Kant (1968, 22) sei als kongenialer Kronzeuge bemüht, der in der „...Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft" das allerschwerste Problem der Menschengattung gesehen hat. Ganz im Einklang mit Smith und Kant ist also zuerst und systematisch nach den moralischen Voraussetzungen zu fragen, wie eine rechtsstaatliche bürgerliche Gesellschaft, die ja eher die geschichtliche Ausnahme verkörpert, Zustandekommen kann und welche Wirkungen sich aus der räum- und zeitbezogenen Verschiedenheit dieser Voraussetzungen für das Wirtschaften ergeben. In der analytischen Berücksichtigung der moralischen Voraussetzungen für das Zustandekommen eines friedfertigen und produktiven Zusammenlebens der Menschen ist daher der entscheidende Ansatzpunkt für die Überwindung der großen Antinomie der Ökonomie zu sehen. Dieses Problem wird in den vorherrschenden ökonomischen Erklärungsansätzen systematisch unterschätzt. Auf das Defizit hat insbesondere Röpke (1942, 81 ff.) hingewiesen, der dem Ökonomismus Moralblindheit vorwarf. Die Forderung, dieses Defizit zu beheben, erwuchs bei Röpke (1959, 344) aus der Einsicht, daß sich ein angemessenes Verständnis einzelner Wirtschaftsordnungen einschließlich des Wirtschaftsgeschehens nur unter Berücksichtigung der „...juristischen, soziologischen, anthropologischen, politischen, moralischen, ja sogar der theologischen Basis" erschließe. Die Aktualität dieser Einsicht, die zugleich den Schlüssel für die Überwindung der Antinomie liefert, wird durch die neuere Entwicklung der Institutionentheorie bestätigt. Der maßgebende Anstoß zur Wiederentdeckung der moralischen Dimension des Wirtschaftens kam dabei interessanterweise von der spieltheoretischen Analyse des Ordnungsproblems. Der besondere Vorzug der Spieltheorie ist methodischer Art. Sie offeriert ein Instrumentarium, mit dem sich soziale Interessen- und Interaktionsmuster in hochabstrakter und damit zugleich interdisziplinärer Weise modellieren lassen. Als die wichtigen ordnungsrelevanten Spiele haben sich das Koordinations- und das Gefangenendilemmaspiel herausgeschält (vgl. Ullmann-Margalit 1977, Vanberg 1988) Implizit liegen beide Spielmuster allen seriösen Ordnungstheorien zugrunde. Die Schottische Moralphilosophie und die Österreichische Schule der Institutionentheorie (Menger, von Hayek) interpretieren und begründen die Entwicklung von Regeln aufgrund des implizieten Menschenbildes im Sinne der Koordinationsspiels, während die Ordnungstheorien von Hobbes, Kant oder aktuell von Buchanan von den Prämissen des Gefangenendilemmaspiels ausgehen. Unabhängig von Details lassen sich mit der spieltheoretischen
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Analyse selbstbindende und bindungsbedürftige Institutionen als die zwei Grundtypen unterscheiden. Dem ersten Regeltyp entsprechen konfliktarme oder konfliktlose Interessen- und Interaktionskonstellationen, deren Ordnung durch Konventionen und Sitten erfolgt, die sich meist spontan entwickelt haben. Davon unterscheiden sich bindungsbedürftige Regeln, deren Entstehen und Befolgung moralische Bindungen, also die Beschränkung des Eigeninteresses und die Wahrung der Interessen und Würde anderer Individuen verlangen (vgl. Mackie 1983, 133). Damit wird wiederum die Frage nach den Ursprüngen und Arten solcher moralischer Beschränkungen oder Bindungen aktuell. An anderer Stelle habe ich natürliche (emotionale), ideologisch-religiöse und rechtlich-erzwingbare rationale Bindungen unterschieden (Leipold 1996a, Leipold 1997a). Die Beschaffenheit und das Gefüge der Bindungen zeichnen sich durch markante Raum-Zeit-Besonderheiten auf, die es systematisch zu erfassen gilt. So basieren sog. primitive, also vorstaatliche Gesellschaften auf weitverknüpften familiären und verwandtschaftlichen Regeln, in denen wirtschaftliche Tauschbeziehungen nach den Prinzipien der nach Verwandtschaftsnähe abgestuften Reziprozität erfolgen. Selbst in den nachkolonialen, ethnisch heterogenen Staaten Schwarzafrikas wird das gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenleben primär von Stammesbindungen bestimmt (Leipold 1997b). Ähnliche traditionelle Regelwerke lassen sich auch für den chinesischen Kulturraum nachweisen, in denen die patriarchalisch organisierte Familie und die breit geknüpften verwandtschaftlichen Beziehungsnetze ein tragender Stützpfeiler der Wirtschafts- und Unternehmensordnung sind. In anderen Gesellschaften kommt dagegen den religiösen und rechtlichen Regeln ein besonderes Gewicht zu, wobei die gewachsenen Beziehungen zwischen Religion und Recht außerordentlich verschieden sind. Das islamische Recht der Scharia ist religiöses Recht, das keine systematische Trennung zwischen privatem und öffentlichem Recht kennt. Die Rechtsregeln sind zudem zum Großteil in konkreter Form normiert und unterscheiden sich dadurch markant von dem abstrakten und allgemein verfaßten westeuropäischen Recht. M. Weber (1976, 349) hat das islamische Recht als religiös stereotypisiertes Recht bezeichnet und als eine der allerwichtigsten Schranken der wirtschaftlichen Entwicklung bewertet. Schließlich sei auf die unterschiedliche Rechtstradition in den mittel- sowie den ost- und südosteuropäischen Reformländern verwiesen, in der eine wichtige Ursache für die einleitend ausgeführten divergierenden Reformerfolge zu vermuten ist (vgl. Leipold 1997a, 62 ff.). Erst wenn es gelingt, die hier nur exemplarisch angeführten Raum-ZeitBesonderheiten der Regeln des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Geschehens systematisch zu erklären, bestehen auch berechtigte Aussichten, die große Antinomie der Nationalökonomie zu lindern, wenn nicht zu überwinden. Gefordert ist also eine allgemeine Theorie der Entstehung und ds Wandels von Wirtschaftsordnungen, die bisher erst in rudimentärer Form vorliegt. Deshalb sprechen gute Argumente dafür, die Dynamisierung der Ordnungstheorie aktiv voranzutreiben.
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Zusammenfassung Das latente Spannungsverhältnis zwischen der geschichtlichen VielfÖrmigkeit des wirtschaftlichen Geschehens und dessen angemessene Erklärung durch allgemein und abstrakt formulierte ökonomische Theorien hat Euckert als die große Antinomie der Nationalökonomie bezeichnet. Spannungsgeladen ist das Verhältnis deshalb, weil sich die Eigenarten und die verschiedenen Ergebnisse des wirtschaftlichen Geschehens nur dann erschließen, wenn es als Teil des gesamtgeschichtlichen Werdens und Seins der jeweiligen Gesellschaften begriffen und erklärt wird. Das eingeforderte Verstehen und Erklären komplexer wirtschaftlicher Prozesse und Zusammenhänge entziehen sich je-
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doch einer unmittelbaren Anschauung und sind nur mit Hilfe allgemeiner ökonomischer Theorien zu leisten. Hie pralles Leben mit seinen ungeheuren geschichtlich-kulturellen Individualitäten - dort methodische Abstraktionen und ökonomische Ratio. Wie läßt sich diese Antinomie überwinden? In diesem Beitrag sollen die Ursprünge und die Aktualität der Antinomie sowie die Bemühungen zu deren Überwindung nachgezeichnet werden. Im Einklang mit Eucken wird die These vertreten, daß die große Antinomie in der klassischen Ökonomie und hierbei insbesondere im Werk von A. Smith ihren Ausgang findet. Ungeachtet aller großen Forschungsbemühungen harrt es jedoch bis heute noch einer überzeugenden Lösung des Problems. Diese These soll durch die vergleichende Bewertung des analytischen Erklärungsgehalts der Historischen Schule, der Ordnungstheorie von Eucken und der zur Neuen Institutionenökonomik gehörenden Theorie des institutionellen Wandels von North begründet werden. Die kritische Durchsicht dieser Theorieansätze soll letztlich Ansatzpunkte für die Überwindung der großen Antinomie aufzeigen.
Summary: The Great Antinomy in Economic Science: An Attempt to determine the Status Quo The problematic relationship between the historical diversity of economic processes and their appropriate explanation by general and abstract economic theories was referred to by Eucken as the great antinomy in economic science. The relationship is problematic because the pecularities and different results of economic processes are only discernible if they are conceived of as part of the overall historical development and structure of particular societies. Since the complexity of economic processes is not directly perceivable an adequate understanding and explanation require the guidance of general economic theories. On the one hand, there is the diversity of reality with its tremendous historical and cultural characteristics, on the other, methodological abstraction and economic ratio. How is it possible to overcome this antinomy? This article tries to reconstruct the origins and the actuality of the antinomy and the different theoretical attempts to overcome it. In accordance with Eucken, it is assumed that the great antinomy finds its starting point in classical economic theory and especially in the work of Adam Smith. Despite all the considerable scientific efforts, there has to date been no convincing solution of the problem. This hypothesis is based on the comparative evaluation of the explanatory ability of the German Historical School, Eucken's theory of economic order (Ordnungstheorie) and North's theory of institutional change. Critical examination of these theories will suggest approaches for overcoming the great antinomy.
Neuere Ansätze zur Weiterentwicklung der Ordnungstheorie * Inhalt 1. Neue versus alte Ordnungstheorie
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2. Die individual- und entscheidungstheoretische Fundierung der ökonomischen Institutionentheorie
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3. Dynamisierung der Ordnungstheorie durch eine Theorie des institutionellen Wandels
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4. Die Erweiterung der Ordnungstheorie um zusätzliche, insbesondere politische Ordnungs- und Koordinationsformen
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5. Schlußbemerkungen
43
Zusammenfassung
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Summary
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Literatur
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Erstdruck in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd.
1989, S. 13-29.
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1.
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Neue versus alte Ordnungstheorie
Seit einigen Jahren ist in der Wirtschaftswissenschaft das Interesse an der Ordnungstheorie merklich gewachsen. Gleichzeitig läßt sich in der Politik, und zwar sowohl in den westlichen als auch in den sozialistischen Ländern eine größere Bereitschaft für ordnungspolitische Reformen beobachten. Ein Grund dafür liegt sicherlich in dem schwindenden Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, die hartnäckigen wirtschafts-, sozial- oder umweltpolitischen Probleme mit interventionistischen Maßnahmen zufriedenstellend zu lösen. Einen weiteren Grund für die Renaissance der Ordnungstheorie und -politik liefern die vielversprechenden theoretischen Entwicklungen und Beiträge, die sich unter dem Oberbegriff der „Neuen ökonomischen Institutionentheorie (New Institutional Economics)" subsummieren lassen. Dazu gehören die Property RightsTheorie, die ökonomische Theorie des Rechts, die Transaktionskostenökonomie sowie die Institutional Choice-Theorie, schließlich so komplexe Ansätze wie die Theorie des institutionellen Wandels, die ökonomische Theorie der Verfassung oder die Public Choice-Theorie. 1 Deren Etikettierung als neue Institutionentheorie deutet einmal darauf hin, daß es sich hierbei um relativ junge und noch in der Entwicklung befindliche Theorien handelt. Zum anderen sollen damit die methodischen und analytischen Unterschiede gegenüber den traditionellen Institutionentheorien signalisiert werden. In der amerikanischen Tradition steht dafür der „alte Institutionalismus", wie er durch Th. Vehlen, J. R. Commons oder W. C. Mitchell repräsentiert wird. Als wesentlicher Schwachpunkt wird die mangelnde theoretische Fundierung der Institutionenanalyse kritisiert.2 In der deutschen Tradition wird die traditionelle Ordnungstheorie untrennbar mit der neoliberalen Theorie assoziiert, als deren herausragender Repräsentant W. Eucken gilt. Dessen wissenschaftliche Leistungen und die ordnungspolitischen Verdienste der neoliberalen Theorie für den Wiederaufbau der bundesdeutschen Wirtschaft in der Nachkriegszeit brauchen hier nicht näher gewürdigt zu werden. Dennoch ist der Einfluß der neoliberalen Theorie auf das wirtschaftswissenschaftliche Denken in Deutschland und erst recht im Ausland gering geblieben. Deshalb verwundert es auch nicht, daß die aktuelle Renaissance der Ordnungstheorie durch Theorien anglo-amerikanischer Herkunft und ohne Bezug zum beachtenswerten neoliberalen Beitrag zur Institutionenanalyse ausgelöst wurde. Trotzdem erscheint es gerade aus deutscher Sicht geboten, die neoliberale Ordnungstheorie als Bezugs- und Vergleichsmaßstab für die Darstellung und Bewertung der neuen ökonomischen Institutionentheorie zu wählen. Die Unterschiede zwischen dieser alten und der neuen Ordnungstheorie sollen durch drei Thesen verdeutlicht werden. Neuartig sind: — erstens die konsequente individual- und entscheidungstheoretische Fundierung der Ordnungstheorie,
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Vgl. Furubotn/Richter (1984); North (1986); Buchanan (1987). North (1986), S.235.
Neuere Ansätze zur Weiterentwicklung der
Ordnungstheorie
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— zweitens die Dynamisierung der Ordnungstheorie durch die Theorie des institutionellen Wandels und — drittens die Erweiterung der Ordnungstheorie um zusätzliche, insbesondere politische Ordnungs- und Koordinationsformen.
2.
Die individual- und entscheidungstheoretische Fundierung der ökonomischen Institutionentheorie
Ein durchgängiges Merkmal der ökonomischen Institutionentheorie besteht darin, daß das Individuum Ausgangspunkt für die Erklärung sozialer Ordnungsprobleme ist. Gemäß dem ökonomischen Verhaltensmodell werden eigeninteressiert und rational entscheidende Individuen unterstellt. Deren Verhalten wird durch die jeweiligen Präferenzen oder Ziele, die Handlungsalternativen und die Restriktionen modelliert und bestimmt. Annahmegemäß wägt das rational entscheidende Individuum die Nutzen und Kosten der anstehenden Alternativen ab und entscheidet sich für diejenige Alternative, die seinen Präferenzen am besten entspricht. Dieser homo oeconomicus ist eine altbekannte und bewährte Figur. Ebenso alt ist die Kritik, die sich seit jeher an den unterstellten Eigenschaften des eigeninteressierten, d.h. des sozial isolierten und des rational abwägenden Handelns entzündet hat. Diese Kritik verliert an Plausibilität, wenn die institutionelle Dimension des individuellen Verhaltens berücksichtigt wird. Institutionen sind sozial anerkannte Regeln für angemessenes Verhalten in mehrpersonellen und sich wiederholenden Entscheidungssituationen. 3 Sie verdichten bewährte Erfahrungen und Verhaltensmuster und entlasten so von der stets neuen Suche nach akzeptablen Verhaltensweisen. Insofern vermitteln sie die soziale Dimension für individuelles Handeln. Die Regeln können spontan gewachsen oder bewußt gesetzt worden sein und in Form von Sitten, Gebräuchen und Werten oder in Gesetzen, Verordnungen, Organisationen oder Verfassungen ihren Ausdruck finden. Stets erlauben oder verbieten sie bestimmte Verhaltensweisen. Indem sich die Menschen an Regeln orientieren, wird das Verhalten regelmäßig, also geordnet. Ungeachtet der definitorischen Eigenarten wird sowohl in der neuen als auch in der neoliberalen Ordnungstheorie ein analoger Einflußzusammenhang zwischen Institutionen bzw. Ordnungen einerseits und den Verhaltensweisen bzw. -prozessen andererseits unterstellt. Unterschiedlich ist jedoch die methodische Analyse der Wirkungen und des Wandels von Institutionen. Bei der Frage nach den Verhaltenswirkungen werden Institutionen im entscheidungstheoretischen Ansatz als Restriktionen erfaßt, indem sie bestimmte Handlungsalternativen ausschließen oder zulassen. In ihrer restriktiven Funktion haben sie ähnliche Effekte wie die geläufigen materiellen Restriktionen in Form vorgegebener und knapper Güter oder Budgets. Soll dagegen die Entstehung oder Änderung von Institutionen erklärt werden, können sie entscheidungstheoretisch entweder als Ziel oder als Mittel erlaßt werden. In diesem Erklärungszusammenhang erscheinen sie als ökonomisches Gut, bei dessen Herstellung oder Veränderung die individuellen Nutzen und Kosten abzuwägen sind.
3
Vgl. Schotter (1981); Eisner (1987).
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Damit sind die beiden grundlegenden Erkenntnisziele der ökonomischen Institutionentheorie angedeutet: — erstens die Erklärung der Entstehung und des Wandels von Institutionen (choice of rules) und — zweitens die Erklärung der Wirkungen von Institutionen auf das Verhalten der Individuen und damit auf wirtschaftliche, politische u. a. Prozesse (choice within rules). In konkreten Untersuchungen sind beide Erklärungen häufig verwoben. Soll beispielsweise erklärt werden, warum sich eigeninteressierte Individuen auf Regeln einigen und diese befolgen, sind auch Kenntnisse über die Wirkungen alternativer institutioneller Arrangements notwendig. Jedenfalls bildet die positive Institutionentheorie die Grundlage für die normative Theorie, bei der es um die Frage geht, nach welchen Kriterien und Zielen konkrete Institutionen zu gestalten und zu bewerten sind. Bisher ist eine geschlossene Konzeption der normativen Institutionentheorie noch nicht erkennbar. Insofern existiert auch eine neue Ordnungspolitik bis jetzt nur ansatzweise. Gegenüber diesem eher entwicklungsbedingten Defizit sind jedoch die Vorzüge der individual- und entscheidungstheoretischen Fundierung der Ordnungstheorie hervorzuheben. Indem sie es ermöglicht, Institutionen mit dem gleichen ökonomischen Instrumentarium zu analysieren, das auch zur Erklärung mikro- oder makroökonomischer Phänomene angewendet wird, hat sie die Institutionenanalyse in die allgemeine ökonomische Theorie integriert. Die Einsicht, daß Institutionen in gleicher Weise wie Preise oder Güter einer ökonomischen Analyse zugänglich sind, hat die Ordnungstheorie für Ökonomen wieder interessant gemacht. Das läßt darauf hoffen, daß der gerade für die deutsche Tradition beobachtbare Graben zwischen Ordnungs- und Prozeßtheorie eingeebnet wird. Ein Grund dafür ist in der Skepsis gegenüber der methodischen Position von Eucken zu suchen. Bekanntlich leitet Eucken seine Morphologie der Wirtschaftsordnung mittels der pointierend hervorhebenden Abstraktion ab, während er für die Analyse der Wirtschaftsprozesse das geläufige Instrumentarium der allgemeinen Theorie anwendet.4 Begründet wird dieser Methodendualismus mit der Komplexität historischer Ordnungstatbestände, die nur einer verstehenden, qualitativen Erfassung zugänglich seien. Damit verbindet sich die Überzeugung, daß vorgegebene und stets wiederkehrende Ordnungsformen existierten, die es im Wege der pointierend hervorhebenden Abstraktion zu entdecken gelte. Diese Position läßt sich nur vor dem Hintergrund der damals vorherrschenden Methode der Historischen Schule angemessen würdigen, deren unergiebige Begriffs- und Stufenbildungen und theorielosen Empirismus Eucken überwinden wollte. Sein Vorschlag zur Synthese von historischer und theoretischer Analyse blieb jedoch bis heute umstritten. Kritisiert werden daran erstens die erwähnte unterschiedliche methodische Behandlung der Wirtschaftsordnung und des Wirtschaftsablaufs und hierbei speziell die idealtypische Ordnungsklassifikation in Verkehrs- und Zentralverwaltungswirtschaften, zweitens der aus der unterstellten Existenz vorgegebener und sich wiederholender Ordnungsformen resultierende statische Charakter der Ordnungstheorie und drittens die
4
Eucken ( 1950), S. 78ff.
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Vermengung von positiven und normativen Erkenntnisinteressen, die besonders für seine Analyse und Konzeption der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung charakteristisch sei.5 Es kann und soll hier nicht erörtert werden, inwieweit diese Kritik gerechtfertigt ist. Im folgenden ist vielmehr zu zeigen, daß diese Einwände für die ökonomische Institutionentheorie ohne Belang sind.
3.
Dynamisierung der Ordnungstheorie durch eine Theorie des institutionellen Wandels
Am Beispiel der Theorie des institutionellen Wandels läßt sich zugleich auch der methodische Wandel durch die ökonomische Institutionentheorie gegenüber der neoliberalen Ordnungstheorie verdeutlichen. Eucken betrachtet die rechtliche und soziale Ordnung als Datum, mithin als etwas Vorgegebenes, dessen Entstehung und Änderung sich einer ökonomischen Erklärung entzögen. 6 Diese Zurückhaltung wird von den Vertretern der ökonomischen Institutionentheorie nicht geteilt. Sie demonstrieren vielmehr, daß sich das Zustandekommen und der Wandel von Institutionen mit den Mitteln der ökonomischen Theorie erklären lassen. Die ökonomische Analyse konzentriert sich dabei auf die Anreize und Restriktionen, die eigeninteressiert handelnde Individuen dazu bringen oder aber daran hindern, sich auf verbindliche Regeln zu einigen und diese auch zu befolgen. Demgemäß werden die Entstehung und Änderung von Regeln als ökonomisches Entscheidungsproblem modelliert, dessen Lösung von den individuellen Nutzen- und Kostenkalkülen abhängt. Dabei können zwei grundlegende Erklärungsmuster unterschieden werden. Eines geht von der Vorstellung aus, daß Institutionen das Ergebnis bewußter Entscheidungen und Einigungen sind. Das andere folgt dem Prinzip der unsichtbaren Hand und erklärt Institutionen als das unbeabsichtigte Resultat vereinzelter Initiativen und spontaner Entwicklungen. Das erste Erklärungsmuster ist für Situationen relevant, in denen das Zustandekommen und die Befolgung verbindlicher Regeln auf analoge Schwierigkeiten stoßen, die für die Bereitstellung kollektiver Güter gelten. Obwohl die Befolgung der Regeln für alle betroffenen Individuen vorteilhaft wäre, bestehen für Einzelne Anreize, sich weder für deren Zustandekommen noch für deren Einhaltung zu engagieren. Solche Versuchungen sind in dem Umstand begründet, daß die individuellen Erträge und Kosten der Institutionen maßgeblich vom Verhalten der anderen Personen abhängen. Jeder kann darauf hoffen, daß andere für das Zustandekommen der Regeln und die dafür notwendigen Aufwendungen sorgen. Ferner bestehen Anreize, Regeln nicht zu befolgen, vorausgesetzt, die anderen handeln regeltreu. Es ist offensichtlich, daß Regeln dann nicht zustande kommen oder befolgt werden, wenn dieses Denken dominiert. Lösungen für diese auch als Gefangenendilemma bekannte Entscheidungssituation sind schwierig, aber nicht undenkbar. 7 Ein Weg besteht darin, ein Bewußtsein für solidarisches und kooperatives Verhalten zu schaffen. Das läßt sich um so eher erreichen, je häufiger die Individuen mit solchen Situationen konfrontiert sind und dementsprechend positive und nega-
5 6 7
Vgl. Riese (1972); Herder-Dorneich (1981); Kleinewefers (1988); Kirchgässner (1988). Eucken (1950), S.156ff. Vgl. Taylor (1976); Vanberg (1984); Voss (1985); Axelrod (1984).
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tive Erfahrungen sammeln können, je geringer die Zahl und je homogener die Interessen der beteiligten Individuen sind. Kleinere Gruppen können diesen Bedingungen am ehesten genügen. Je größer die Gruppen und je geringer die Kontinuität sozialer Beziehungen sind, desto dringlicher wird der Bedarf nach einer bewußten Entscheidung und formalen Organisation für das Zustandekommen und die Einhaltung der Institutionen. Auf diese Weise geraten Institutionen zum Betätigungsfeld für politische Unternehmer, die als Häuptling, Staatsmann, Organisator, Verbandsfunktionär oder Manager tätig werden können. Ähnlich vielfältig ist das Spektrum der Mittel, mit denen die Geltung der Regeln durchgesetzt werden kann. Neben ideellen Stimuli bietet sich der Einsatz von selektiven materiellen Anreizen, von verbindlichen Organisations- oder Verfassungsregeln bis hin zu handfesten Zwangsmaßnahmen an. Diese abstrakten Überlegungen bilden den Kern konkreter Theorien zur Entstehung von Institutionen im Wege der bewußten Einigung und Konstituierung. Beispielhaft zu nennen sind die bereits klassische „Logik des kollektiven Handelns" von Olson (1968) oder die vertragstheoretische Begründung des Rechtsschutz- und Leistungsstaates durch Buchanan (1984). Daneben existieren Entscheidungssituationen, in denen die Entstehung oder Änderung der Institution nicht den Fallstricken sozialer Dilemmasituationen unterliegen. Dies ist dann der Fall, wenn die Regelbefolgung für alle oder zumindest die große Mehrheit der beteiligten Individuen eindeutige Gewinne verspricht, womit die wichtigste Bedingung für eine spontane Institutionenentwicklung gegeben ist.8 Dieser Prozeß läßt sich analog zu den Wettbewerbsprozessen auf Märkten erklären. Am Anfang steht die zufallig oder bewußt initiierte institutionelle Neuerung, die dann allmählich von anderen Individuen aufgrund der Vorteilhaftigkeit oder des Anpassungszwanges übernommen und befolgt wird. Das sich so ergebende institutionelle Arrangement ist nicht bewußt geplant, sondern das unbeabsichtigte Ergebnis vieler Einzelentscheidungen. Nach diesem Muster lassen sich viele Institutionen, beispielsweise die Evolution der Märkte, des Geldes oder bestimmter Eigentumsrechte und Unternehmensformen erklären. Die spontane Evolution von Institutionen setzt eine gewisse Parallelität der Interessen und Zurechnung individueller Kosten und Erträge voraus. Sie ist in ihrem Ausgang offen. Gleichwohl ist sie einer ökonomischen Erklärung zugänglich. 9 Beide Erklärungsmuster des institutionellen Wandels weisen Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten auf. Im ersten Fall wird der Wandel bewußt initiiert und durchgesetzt, im zweiten Fall ist er das unbeabsichtigte Ergebnis vieler einzelner Anpassungen. In beiden Fällen basiert der Wandel auf individuellen Kalkülen, d. h. Institutionen erscheinen für die Individuen als Güter mit spezifischen Nutzen und Kosten, mithin als ein Entscheidungsproblem, dessen Lösung von den jeweiligen Umständen abhängt und insofern offen ist. Diese Offenheit ist bei der spontanen Entwicklung offensichtlich. Sie gilt aber auch für die Situationen, in denen eine bewußte Entscheidung für die Hervorbringung der Institutionen unterstellt wird, denn von Entscheidung kann nur die Rede sein, wenn Alternativen zur Wahl anstehen. Wie Vanberg (1983, S. 64) gezeigt hat, handelt es sich um zwei sich ergänzende Perspektiven zur Erklärung jeweils unter-
8
Spieltheoretisch handelt es sich um ein Koordinationsproblem. Vgl. Schotter (1981), S. 31 ff.
9
Vgl. Ullmannn-Margalit
(1978).
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schiedlicher Prozesse der Herausbildung und Veränderung sozialer Strukturen, nämlich Prozesse planvoll koordinierten Handelns einerseits und spontaner wechselseitiger Anpassungen andererseits. Im Verständnis des institutionellen Wandels als soziales und zudem offenes Entscheidungsproblem besteht die Besonderheit und Neuartigkeit des ökonomischen Erklärungsansatzes gegenüber traditionellen Institutionentheorien. Im Unterschied zur marxistischen Geschichtsinterpretation wie auch zur Historischen Schule wird kein determinierter Verlauf der Institutionenentwicklung unterstellt. Als dominanter Antrieb des Wandels werden nicht Klassengegensätze, sondern ökonomische Vor- und Nachteile und vertragliche oder kooperative Abmachungen herausgestellt. Daher eröffnen sich auch Gelegenheiten für die Gestaltung der Institutionen. Im Falle der bewußt konzipierten Institutionen ist diese Gelegenheit offensichtlich, aber auch die spontan gewachsenen Institutionen können Gegenstand bewußter Gestaltung sein. In diesem Punkt weist die ökonomische Institutionentheorie Gemeinsamkeiten mit der neoliberalen Ordnungstheorie auf (vgl. Grossekettler 1987, S. 28). Indem sie die Bestimmungsgründe des institutionellen Wandels analysiert, liefert sie jedoch erst das erforderliche theoretische Fundament für die Ordnungspolitik. Wie dargestellt ist Eucken der Auffassung, daß sich die Entstehung und Änderung der rechtlichen und sozialen Ordnung mit ökonomischen Mitteln nicht erklären ließen. Im Rahmen der Ordnungspolitik gerät die Gestaltung der Wirtschaftsordnung jedoch bei ihm zum zentralen Gegenstand der staatlichen Wirtschaftspolitik. In Marktwirtschaften hat der Staat die Aufgabe, eine Wettbewerbsordnung herzustellen und zu sichern. Allerdings werden die spezifischen Anreize und Restriktionen für die Durchsetzung der Ordnungspolitik nicht problematisiert. Dieses Problem läßt sich mit dem Instrumentarium der neoliberalen Ordnungstheorie auch nicht hinreichend lösen, weil weder eine Theorie des institutionellen Wandels noch eine ökonomische Analyse der Politik und damit auch der Ordnungspolitik als notwendig oder sinnvoll erachtet werden. Aus der Perspektive der ökonomischen Institutionentheorie besteht kein Anlaß, dieser Auffassung zu folgen. Die Durchsetzung der Ordnungspolitik in einer Demokratie erscheint hier als ein spezifischer Prozeß des institutionellen Wandels, für den analoge Bedingungen zu vermuten sind, wie sie sich in abstrakter Weise für die Entstehung von Institutionen im Rahmen sozialer Dilemmasituationen angeben lassen. Wie Kirsch (1981; vgl. auch Streit 1987) eindrucksvoll aufgezeigt hat, unterliegt die Durchsetzung der Ordnungspolitik in Demokratien ebenfalls den Versuchungen einer sozialen Dilemmasituation. Gelegentliche Appelle an die ordnungspolitische Vernunft oder die Hoffnung auf starke und dem Allgemeinwohl verpflichtete Politikerpersönlichkeiten sind verständlich, auf Dauer jedoch wenig hilfreich. Maßgebend sind vielmehr die durch die institutionellen Bedingungen vorgegebenen Anreize und Restriktionen der für die Politik und speziell die Ordnungspolitik verantwortlichen Personen. Eine Mindestbedingung für eine erfolgreiche Ordnungspolitik bildet daher die Analyse der politischen Prozesse und der sie beeinflussenden Institutionen. Damit ist ein weiterer wichtiger Beitrag der ökonomischen Institutionentheorie angesprochen.
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4.
Die Erweiterung der Ordnungstheorie um zusätzliche, insbesondere politische Ordnungs- und Koordinationsformen
Als entscheidende Bereicherung der Ordnungstheorie ist die ökonomische Analyse politischer und anderer kollektiv organisierter Institutionen und Akteure hervorzuheben. Maßgebend dafür war und ist die Einsicht, daß in industriell entwickelten Gesellschaften eine enge Interdependenz zwischen Wirtschaft und Politik besteht. Herstellung und Verwendung der Güter werden im beträchtlichen Umfang von politischen, bürokratischen und verbandspolitischen Entscheidungsträgern beeinflußt, so daß die ordnungstheoretische Analyse der außerwirtschaftlichen Ordnungs- und Koordinationsformen ein naheliegendes Gebot ist. Zum Verständnis der sich daraus ergebenden klassifikatorischen und theoretischen Konsequenzen ist wiederum ein knapper Hinweis auf die Prämissen und Erkenntnisziele der neoliberalen Ordnungstheorie angebracht. Ausgehend von der Frage, wer die Wirtschaftsprozesse plant und wie die Pläne koordiniert werden, gelangt Eucken (1950, S. 78 f.) zur Klassifikation der Wirtschaftssysteme in Marktwirtschaften und Zentralverwaltungswirtschaften. In Marktwirtschaften werden die Wirtschaftspläne dezentral über Märkte und Preise und in Zentralverwaltungswirtschaften über zentral erstellte Bilanzen koordiniert. Damit werden zweifellos systemprägende Planungs- und Koordinationsformen benannt. Nicht hinreichend berücksichtigt werden dabei jedoch jene Allokationssysterne, die nicht an Marktpreisen oder an zentralen Bilanzen orientiert sind, wie auch die Koordinationsprobleme innerhalb der Wirtschaftseinheiten. Aus der Perspektive der ökonomischen Institutionentheorie ist es daher angebracht, die Systematik der Ordnungs- und Koordinationsformen zu ergänzen und zu erweitern. Wenngleich eine systemübergreifende und geschlossene Ordnungssystematik bisher noch nicht erkennbar ist, vermitteln einzelne neue Theorieansätze doch Anregungen für die notwendige Erweiterung der Ordnungstheorie. Das gilt insbesondere für marktwirtschaftlich und demokratisch verfaßte Gesellschaftsordnungen. Mit Blick auf die rein wirtschaftlichen Ordnungs- und Koordinationsformen sind die neuen Erkenntnisse zu berücksichtigen, für die Coase (1937 und 1960) die maßgeblichen Anstöße geleistet hat. Seine postum als Coase- Theorem bezeichnete Erkenntnis, daß Eigentums- und Haftungsregeln bei nichtexistierenden Transaktionskosten ohne Einfluß auf die Güterallokation und die Zurechnung externer Effekte sind, hat paradoxerweise den Blick für die allokative Bedeutung der Institutionen und der davon abhängigen Transaktionskosten geöffnet. Denn daraus ergab sich die Einsicht, daß exklusive und transferierbare Eigentumsrechte eine wichtige institutionelle Bedingung für die Effizienz der Märkte und für unternehmerische Aktivitäten sind. Durch die Theorie der Property Rights ist dieser Zusammenhang mittlerweile ausfuhrlich untersucht worden. Die vielfaltigen Beiträge etwa zu den Theorien des Marktversagens, der Umweltökonomie, der Firma, des Systemvergleichs oder zur Theorie des institutionellen Wandels können hier nicht dargestellt werden. 10 Versucht man die Erkenntnisse der Property Rights-Theorie summarisch zu bewerten, erscheint es geboten, die Bedeutung der Eigentumsverhältnisse als systemprägende Ordnungsform aufzuwerten. 10
Vgl. Leipold (1983); Schüller (1983); North (1988).
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Als ein weiterer maßgeblich von Coase inspirierter Zweig der ökonomischen Institutionentheorie ist die Transaktionskostenökonomie hervorzuheben und für die Ordnungstheorie relevant. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den ökonomischen Bestimmungsgründen für die Wahl alternativer Transaktions- oder Koordinationsformen. In der von Williamson (1985) entwickelten Version werden neben menschlichen Faktoren - wie Opportunismus und begrenzte Rationalität - bestimmte transaktionsbezogene Merkmale - wie die Höhe der spezifischen Aufwendungen, die Unsicherheit und die Häufigkeit der Transaktionen - als maßgebende Gründe für die Abwicklung der Transaktionen entweder über Märkte oder innerhalb der Unternehmen genannt. Beispielsweise erweist sich die unternehmensinterne Transaktion gegenüber dem Markt als effizientere und d. h. kostengünstigere Form, wenn hohe transaktionsspezifische Aufwendungen anfallen und der Erfolg der Transaktion unsicher ist. Markt und Unternehmen stehen dabei für unterschiedliche vertragliche Arrangements. Jedes Arrangement verursacht spezifische Kosten und steht daher je nach der Eigenart der durchzuführenden Transaktion jederzeit zur Disposition. Die Einsicht, daß Markt und Unternehmen neben anderen Vertragsregelungen institutionelle Alternativen mit je eigenen Vor- und Nachteilen sind, zwischen denen die Wirtschaftssubjekte flexibel und frei wählen können, macht das neuartige Element dieses Ansatzes aus. Gemäß dem entscheidungstheoretischen Verständnis der Institutionenwahl ist in Analogie zu den güterwirtschaftlichen Prozessen auch auf der institutionellen Ebene der Wettbewerb jenes Verfahrens, das die effizienten Transaktionsformen entdeckt. Denn so wie neue Produkte zu erfinden und am Markt durchzusetzen sind, müssen auch neue Unternehmens-, Markt- und damit effiziente Vertragsstrukturen entdeckt, erprobt und eventuell verworfen werden. Die sich aus der Transaktionskostenökonomie ergebenden wettbewerbspolitischen Implikationen sind bisher noch nicht hinreichend ausdiskutiert. Ich habe an anderer Stelle zu begründen versucht, daß die Transaktionskostenökonomie wegen ihrer einzelwirtschaftlichen Konzipierung noch kein ausreichendes Fundament der Wettbewerbsund Ordnungspolitik darstellt (Leipold 1985). Außerdem ist zu berücksichtigen, daß der institutionelle Wettbewerb nicht nur von ökonomischen, sondern maßgeblich von politischen Faktoren beeinflußt wird. Wettbewerb kann sich nur in dem Maße entfalten, in dem Anreize und Spielräume für institutionelle Neuerungen vorhanden sind, und diese werden maßgeblich durch politische Vorgaben bestimmt. Bei Williamson fehlt die Analyse des politischen Einflusses. Der Institutional Choice-Ansatz von Schenk (1982, S. 14) ist umfassender konzipiert, indem er die Palette der Transaktionsformen gegenüber Williamson um verschiedene Regieverfahren und Steuerungsregime erweitert und neben ökonomischen auch politische Determinanten der Institutionenwahl berücksichtigt. Die These von Schenk, daß der politische Wettbewerb die wichtigste Variable für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung ist, verweist auf die Interdependenz von Politik und Wirtschaft, auf deren Analyse die Ordnungstheorie nicht verzichten kann. Aus ordnungstheoretischer Sicht geht es dabei um die Klärung folgender Fragen: — Welche institutionellen Bedingungen gelten für die politischen Prozesse, und wie wirken sie sich auf das Verhalten der politischen Akteure aus?
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— Nach welchen Regeln oder Verfahren wird das Verhalten der politischen Akteure untereinander und in Beziehung zum wirtschaftlichen Bereich koordiniert, und welche Folgen ergeben sich daraus für die Funktionsweise der Wirtschaftsordnung? Die ökonomische Theorie der Politik hat sich mit diesen Fragenkomplexen in einer Vielzahl von Untersuchungen beschäftigt. Es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, die Ergebnisse an dieser Stelle resümieren zu wollen. Ich möchte mich darauf beschränken, auf einige ordnungspolitische Konsequenzen der ökonomischen Theorie der Verfassung (Constitutional Economics) hinzuweisen. Da sie sich mit den Wirkungen der Verfassungs- oder Ordnungsbedingungen auf politische und wirtschaftliche Prozesse beschäftigt, bietet sie sich als sinnvolle Ergänzung zur Wirtschaftsordnungstheorie an." Im folgenden sollen die von der ökonomischen Theorie der Verfassung analysierten Ursachen des Politikversagens aufgezeigt werden. Die Verfassungen der westlichen Demokratien sind aus der englischen und noch mehr aus der französischen Tradition erwachsen. Der grundlegende Beitrag des englischen Parlamentarismus besteht in der Teilung der staatlichen Gewalten und insbesondere der Kontrolle der Regierung durch das unabhängige Parlament. Von Frankreich stammt die Idee der absoluten Demokratie und der Volkssouveränität, wonach eine Identität der Regierenden und der Regierten unterstellt wird. Demgemäß sollen die gewählten politischen Repräsentanten dem Wohl des ganzen Wählervolkes verpflichtet sein, so daß sich der Volkswille im Idealfall in den Entscheidungen seiner Repräsentanten widerspiegelt. Diese Vorstellung läßt keinen Raum für intermediäre politische Institutionen und erklärt den Tatbestand, daß die meisten westlichen Verfassungen weder die Parteien noch viel weniger die organisierten Interessenverbände als politische Kräfte berücksichtigen, obwohl diese in der Verfassungswirklichkeit einen überragenden Einfluß auf die politischen Prozesse ausüben. Gemäß den genannten Ideen fungiert in den Staatsverfassungen die Kontrolle der politischen Repräsentanten durch die Wähler als wichtigstes externes Kontrollverfahren, das durch das Prinzip der Gewaltenteilung als internes Kontrollverfahren ergänzt wird, wobei der Parlamentsmehrheit eine relativ unbeschränkte Machtstellung zugewiesen wird. An diesen Kontrollverfahren setzt die Kritik der Vertreter der ökonomischen Theorie der Verfassung an. Denn erstens werde den Unvollkommenheiten der Wählerkontrolle und den Problemen der demokratischen Abstimmungsverfahren und zweitens dem Einfluß der Parteien und Interessenverbände nicht genügend Rechnung getragen. Unbestritten ist, daß sich in den modernen Parteiendemokratien die klassische Gewaltenteilung zwischen Parlament, Regierung und Rechtsprechung entscheidend verändert hat. Charakteristisch ist heute der enge Verbund zwischen Parlaments- und Regierungsmehrheit, bei der das Hauptinteresse der Parlamentsmehrheit auf die Sicherung der Regierungsgewalt gerichtet ist. Ferner hat die ökonomische Theorie der Politik beträchtliche Mängel der Wählerkontrolle freigelegt. Stichwortartig genannt seien erstens die in der Kollektivgütereigenschaft der politischen Prozesse begründeten Anreize für eine Strategie der rationalen Ignoranz seitens der Wähler, zweitens die im Programmcharakter der Politik begründete Schwierigkeit der maßnahmen- und personenbezogenen Kon-
"
Vgl. Buchanan (1987); vonHayek{
1981); Leipold(\9%1
und 1988)
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trolle politischer Entscheidungen durch die Wähler, die einen Zusammenhang zwischen individueller Wahlentscheidung und politischer Reaktion nahezu ausschließt, drittens die im großen Zeitabstand der Wahltermine begründete Neigung zur gegenwartsbezogenen Politikbeurteilung und viertens die in Schwierigkeiten des demokratischen Abstimmungsverfahrens begründete Unmöglichkeit, individuelle Präferenzen zu einer widerspruchsfreien Kollektiventscheidung zusammenzufassen. Alle Unvollkommenheiten eröffnen breite und nur partiell kontrollierbare Entscheidungsspielräume für Politiker. Der für die Parteiendemokratie charakteristische Verbund von Parlaments- und Regierungsmehrheit begünstigt die Bereitschaft des Parlaments, Gesetze zu erlassen, die von den Anforderungen der laufenden Regierungstätigkeit und damit der Machtsicherung bestimmt sind. Das Ergebnis ist die jährliche Flut von Maßnahmen- und Einzelfallgesetzen, deren ökonomische Konsequenzen die zunehmende Verrechtlichung und Regulierung ehemals privatautonomer Bereiche sind. Aufgrund der Unvollkommenheiten der Wählerkontrolle entstehen für die Regierung Anreize, die Wirtschafts- und Sozialpolitik zugunsten spezifischer und häufig organisierter Wählerinteressen und zudem mit Blick auf Wahltermine einzusetzen. Diese Strategie hat den Vorteil, daß sie spürbar seitens der partikularen Wähleradressaten wahrgenommen und honoriert wird, während die Belastungen der Allgemeinheit aufgebürdet werden. Die verfassungsbedingten Anreize und Kontrollunvollkommenheiten begünstigen somit gleichsam ungewollt die Expansion des Staatssektors und die interessenbezogene Verformung und Ausrichtung der Gesetze und Maßnahmen des Staates. Die nachweisbare Tendenz vom Ordnungs- zum Wohlfahrts- und Interventionsstaat und die für die Soziale Marktwirtschaft beklagte Divergenz zwischen Ordnungsidee und Ordnungswirklichkeit sind somit verfassungsbedingt vorgezeichnet. Aus den Unvollkommenheiten des demokratischen Entscheidungs- und Kontrollverfahrens ergeben sich Folgen für die Interessenverbände und deren Verhandlungsposition sowie für die Bürokratie, die neben dem demokratischen Verfahren als geläufige Entscheidungs- und Koordinationsformen politischer Prozesse unterschieden werden und den Markt ergänzen (vgl. Frey 1981). Von den verfassungsbedingten Anreizen und Kontrollen des demokratischen Verfahrens profitieren vor allem die Interessenverbände. Für sie bieten sich Anreize, Einfluß auf den politischen Willensbildungsprozeß zu nehmen und die Staatsgewalt für die Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen. Aufgrund der relativ unbeschränkten Macht des Parlaments und der regelmäßig knappen Regierungsmehrheiten sind Parteien und Politiker bereit, die Gunst einflußreicher Gruppen durch gezielte Maßnahmen zu gewinnen. Wegen dieser Erfolgsaussichten breiten sich die organisierte Interessenvertretung und die damit angestrebte politische Rentensuche aus. Verbände etablieren sich auf diese Weise spontan und ohne hinreichende verfassungsmäßige Legitimation neben den staatlichen Organen zu einem festen Bestandteil der Politikprozesse. Deren Verlauf wird deshalb maßgeblich von den Absichten des organisierten Interessenausgleichs geprägt. Auch die Bürokratie profitiert von den ordnungsbedingten Anreizen und Kontrollen des politischen Prozesses. Die Ausfuhrung der vielen Maßnahme- und Einzelfallgesetze erhöht die Zuständigkeiten der Ämter und macht sie unentbehrlicher und zugleich unkontrollierbarer. Zudem wächst der Einfluß der Bürokratie bei der Initiierung der Geset-
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ze, da nur sie das Wissen über die Vielzahl der besonderen Gesetze und deren Konsequenzen hat. Ähnlich wie bei den Verbänden erweist sich auch der Machtzuwachs der Bürokratie vor dem Hintergrund der mangelnden verfassungsmäßigen Legitimation und der fehlenden Wettbewerbskontrolle als ein zentrales ordnungspolitisches Problem. Damit ist das Problem der inneren Verfassung der politischen Akteure und Kollektive angesprochen. Die bisherigen Ausführungen bezogen sich auf das nach außen gerichtete Verhalten der staatlichen, parteipolitischen, verbandspolitischen oder bürokratischen Akteure, dementsprechend auf die externen Entscheidungs- und Koordinationsverfahren. Da es sich bei diesen Akteuren um organisierte Kollektive von teilweise beträchtlicher Mitgliedergröße handelt, sind auch die Prozesse innerhalb der Kollektive abzustimmen und zu ordnen. Die ökonomische Analyse kann die hierbei entstehenden Probleme in abstrakter Weise aufdecken und damit zugleich Ansatzpunkte für die ordnungspolitische Gestaltung zeigen. Ein gemeinsames Merkmal kollektiv organisierter Gebilde besteht darin, daß mehrere Individuen Ressourcen einbringen und darüber gemeinsam disponieren, um bestimmte Ziele zu realisieren. Für die Individuen bedeutet das zunächst den Verzicht auf die selbstverantwortliche Verfügung über die Ressourcen, an deren Stelle die kollektive Entscheidung tritt. Ein erstes Problem bereitet dabei die Zusammenfassung der individuellen Präferenzen zu akzeptablen Kollektiventscheidungen. Als grundlegende Verfahren können erstens demokratische Abstimmungsregeln, z. B. die Mehrheitsregel, zweitens die Hierarchie, d. h. im Extrem das diktatorische Verfahren, und drittens flexible Verhandlungsformen unterschieden werden. 12 Jedes Verfahren hat ökonomische Vorund Nachteile, die durch die Theorie kollektiver Entscheidungen umfassend untersucht worden sind und hier nicht behandelt werden können. Festzuhalten bleibt, daß innerhalb der Kollektive stets das Machtproblem aktuell und dementsprechend ordnungspolitisch zu lösen ist. Ein zweites Problem resultiert aus dem Tatbestand, daß Leistung (Kosten) und Gegenleistung (Ertrag) innerhalb kollektiver Beziehungen nicht unmittelbar verknüpft sind. Im Regelfall setzt sich die Gesamleistung des Kollektivs aus vielen einzelnen Beiträgen zusammen, die sachlich, zeitlich und personell losgelöst von der Gesamtleistung bewertet und vergütet werden. Der Zusammenhang zwischen individuellem Beitrag und Ertrag wird nach Maßgabe kollektivinterner Beitrags-, Abstimmungs- und Verteilungsregelungen vermittelt. Je nach der Beschaffenheit der Regelungen eröffnen sich für einzelne Mitglieder Anreize und Gelegenheiten, möglichst geringe Beiträge beizusteuern und möglichst große Anteile an der Gesamtleistung zu erhalten. Insofern besteht innerhalb der Kollektive das Problem, daß sich individuelle Interessen zu Lasten der anderen Mitglieder bereichern und d. h. andere ausbeuten können. Das Macht- und Ausbeutungsproblem sind also nicht nur auf Märkten, sondern ebenso innerhalb der politischen Kollektive aktuell und dementsprechend auch für die Ordnungspolitik relevant. Beispielhaft verwiesen sei auf das im öffentlichen Bereich und hierbei insbesondere in den staatlich organisierten sozialen Sicherungssystemen bestehende Problem der Kostenex-
12
Vgl. Vanberg (1982), S. 8 ff.; Kleinewe/ers (1988).
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plosion, das auf mangelhafte Regelungen zur Lösung des Macht- und Ausbeutungsproblems hindeutet (vgl. Herder-Dorneich 1982). Die Mängel der internen Verfassung der Kollektive sind im Zusammenhang mit der Funktionsweise und den Unvollkommenheiten der externen Entscheidungsverfahren zu sehen. Angesichts des beträchtlichen Umfangs an wirtschaftlichen Ressourcen, die von politischen Akteuren beansprucht oder verteilt werden, sollten sowohl deren ordnungstheoretische Analyse als auch deren ordnungspolitische Gestaltung unstrittig sein. Ich erachte die Lösung der im politischen Bereich anstehenden Ordnungsprobleme für dringlicher als das im Mittelpunkt der traditionellen Ordnungstheorie stehende Problem der Marktmachtkontrolle. Die Gründe für diese Einschätzung sind nicht nur der beträchtliche Umfang der Güter, der zudem durch falsch konstruierte Anreize und durch mangelnde wettbewerbliche Kontrolle im politischen Bereich ineffizient gelenkt und damit verschwendet wird, sondern auch die unbeabsichtigten Auswirkungen der politischen Entscheidungsverfahren auf das Marktsystem. Dessen Funktionsweise wird nicht nur quantitativ durch den zwangsweisen Entzug von Ressourcen für staatliche, soziale oder gruppenspezifische Zwecke, sondern auch qualitativ durch die zunehmende interessenbezogene Verformung der allgemeinen Ordnungsregelungen beeinträchtigt. Dadurch kommt es zur allmählichen Veränderung der privatautonomen Handlungsrechte und damit der einzelwirtschaftlichen Anreiz- und Kontrollstrukturen. Die Marktdynamik verflacht, weil die Leistungsbereitschaft zu riskanten Neuerungen oder zu nachfolgenden Marktanpassungen geringer wird. Die institutionelle Flexibilität leidet, weil vertragliche Vereinbarungen sowohl auf Güter- und Faktormärkten als auch in den Unternehmen durch politische oder verbandspolitische Vorgaben eingeschränkt werden. Von den fiskalischen Belastungen und institutionellen Restriktionen profitiert vor allem die Schattenwirtschaft, deren Wachstum eine weitere unbeabsichtigte Folge des Politikversagens darstellt (Cassel 1986).
5.
Schlußbemerkungen
Die gedrängt und thesenartig gehaltenen Ausführungen über die neuen institutionentheoretischen Ansätze sollten demonstrieren, daß es sich hierbei um eine bedeutsame methodische und theoretische Erweiterung des ordnungstheoretischen Wissensstandes handelt, aus der sich nicht minder wichtige ordnungspolitische Konsequenzen ergeben. Die Beiträge belegen, daß sich das ökonomische Instrumentarium in fruchtbarer Weise auch zur Analyse politischer Institutionen und politisch-wirtschaftlicher Verflechtungen anwenden läßt. Die positive Analyse des Wandels und der Wirkungen der wirtschaftlichen und der politischen Ordnungsbedingungen zeigt zugleich neue Aufgaben und Ansatzpunkte für die Ordnungspolitik auf. Wenn erstens die Vorstellung vom Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft und anderen Teilbereichen zutrifft, dann hat auch die Gestaltung der politischen Ordnung den Primat vor der wirtschaftlichen Ordnungspolitik zu erhalten. Aufgabe der politischen Ordnungspolitik sollte es sein, die politische Macht und im besonderen die Macht der Parteien und Verbände wirksamer als bisher verfassungsmäßig zu beschränken und zugleich Anreize zu finden, die es für die politischen Akteure lohnend machen, sich gemeinwohlkonform zu verhalten. In Übereinstimmung mit von Arnim (1987, S. 26) ist darin die zentrale aktuelle Verfas-
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sungsfrage zu sehen. Die Durchsetzung von „Mehr Verfassungsstaat" ist demnach eine notwendige Bedingung für die häufig angestrebte, bisher aber wenig erfolgreiche Durchsetzung von „Mehr Markt". Wenn zweitens Konsens darüber besteht, daß in einer Gesellschaft freier Individuen die grundlegenden politischen und wirtschaftlichen Regeln und nicht die individuellen Entscheidungen und deren Ergebnisse Gegenstand der politischen Gestaltung sein sollten, dann ergibt sich daraus sowohl für die Politik als auch für die Wirtschaft der Primat der Ordnungspolitik gegenüber der Prozeßpolitik.
Zusammenfassung Die unter dem Begriff der „New Institutional Economics" subsumierbaren Theorieansätze haben weltweit zu einer Renaissance der Institutionentheorie geführt. In Deutschland wird diese Theorie untrennbar mit der neoliberalen Ordnungstheorie assoziiert, als deren herausragender Repräsentant Walter Eucken gilt. Im vorliegenden Artikel werden die methodischen und analytischen Unterschiede zwischen der Ordnungstheorie und der neuen ökonomischen Institutionentheorie untersucht. Die Unterschiede werden durch drei Thesen verdeutlicht. Neuartig sind: — Erstens die konsequente individual- und entscheidungstheoretische Fundierung der Ordnungstheorie, — zweitens die Dynamisierung der Ordnungstheorie durch die Theorie des institutionellen Wandels, — drittens die Erweiterung oder Pluralisierung der Ordnungstheorie um politische Ordnungs- und Koordinationsformen. Die Begründung dieser drei Thesen steht im Mittelpunkt des Beitrags. Abschließend werden die sich aus der neuen ökonomischen Institutionentheorie ergebenden ordnungspolitischen Konsequenzen aufgezeigt.
Summary The various theoretical approaches which can be subsumed under the term „New Institutional Economics" have led to a world-wide renascence of institutional theory.. In Germany, institutional theory is inseparably connected with the neo-liberal theory of order, of which Walter Eucken is generally acknowledged to be the leading representative. The present article examines the methodical and analytical differentes between Eucken's theory of order and „New Institutional Economics". The differences pertain to the following three recent considerations: — Firstly, the theory of order is now firmly based on individual and decision-making processes, — secondly, the theory of order is made dynamic by means of the theory of institutional change, — thirdly, the theory of order is extended and enlarged by forms of political order and coordination systems.
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Ordnungstheorie
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The article focuses on the significance and validity of these three points. In conclusion, the norms and consequences with regard to policies of order resulting from „New Institutional Economics" are examined.
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Helmut Leipold
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Der Einfluß von Property Rights auf hierarchische und marktliche Transaktionen in sozialistischen Wirtschaftssystemen * Inhalt 1. Einleitung: Eigentumsrechtliche Defizite
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2. Der Property Rights-Ansatz als theoretischer Bezugsrahmen
49
2.1. Property Rights und Erfolgsziele
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2.2. Property Rights, Transaktionskosten und institutioneller Wandel
51
3. Eigentumsrechtliche Restriktionen im zentralisierten Lenkungssystem
52
3.1. Hierarchische Verteilung der Entscheidungskompetenzen
52
3.2. Erfolgsziele der staatlichen Eigentumsträger
53
3.3. Restriktionen der horizontalen Transaktionsprozesse
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3.4. Restriktionen der vertikalen Transaktionsprozesse
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3.5. Transaktionskosten und institutioneller Wandel am Beispiel der Kombinatsreform
60
4. Eigentumsrechtliche Restriktionen in marktsozialistischen Lenkungssystemen 4.1. Entscheidungskompetenzen und Erfolgsziele
61 61
4.1.1. Staatsuntemehmung
61
4.1.2. Selbstverwaltungsunternehmung
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4.2. Zur Kompatibilität sozialistischer Property Rights mit Wettbewerb
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4.2.1. Generelle Vorbedingungen wettbewerblicher Marktprozesse
64
4.2.2. Restriktionen des Marktzutritts
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4.2.3. Restriktionen spontaner Marktprozesse und -ergebnisse Literatur
66 69
Erstdruck in: Alfred Schüller (Hg.), Property Rights und ökonomische Theorie, München 1983, S. 185-217.
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1.
Helmut Leipold
Einleitung: Eigentumsrechtliche Defizite
Die kritische Durchsicht der in den letzten Jahrzehnten vorherrschenden Ansätze der Theorie sozialistischer Wirtschaftssysteme fördert unbestreitbare eigentumsrechtliche und institutionelle Defizite zutage. Dies muß deshalb verwundern, weil die Diskussion über das Problem der Wirtschaftsrechnung im Sozialismus in der Erkenntnis eigentumsrechtlicher Besonderheiten den ursprünglichen Auslöser fand. Die wesentlichen Anregungen lieferte Ludwig von Mises. Den Hauptgrund für seine vieldiskutierte These, „daß im sozialistischen Gemeinwesen Wirtschaftsrechnung nicht möglich ist"(Mises 1922, S. 119), sah er in dem Umstand, daß unter den Ordnungsbedingungen des Gemeineigentums die Produktionsgüter nicht mehr zwischen selbständigen Wirtschaftseinheiten ausgetauscht werden können und sollen, weshalb sich auch keine marktlichen Knappheitspreise bilden könnten. Bekanntlich gab das „Unmöglichkeitstheorem" von Mises den Anstoß für die Konstruktion konkurrenzsozialistischer Modelle, von denen das Lange-Modell die größte Aufmerksamkeit erregte. Sowohl in den konkurrenzsozialistischen Modellkonzeptionen als auch in der umfangreichen Kritik dieser Modelle blieben der hervorragende Stellenwert und Einfluß der Eigentumsinstitution auf Allokation und Distribution unbestritten.1 Dagegen läßt sich in den nachfolgenden Theorieansätzen ein allmähliches Schwinden des eigentumstheoretischen Denkens beobachten. Während in der maßgeblich von Eucken begründeten Ordnungstheorie und hier speziell in der Theorie der Zentralverwaltungswirtschaft die Eigentumsinstitution noch analytische Beachtung findet, wenngleich ihr gegenüber der Lenkungsordnung nur nachrangige Bedeutung zugemessen wird, gerät sie in den auf die sozialistischen Planwirtschaften bezogenen Theorien der optimalen Planung und der optimalen Incentivesysteme mehr und mehr in Vergessenheit.2 Als exemplarischer Ansatz für die analytische Vernachlässigung der institutionellen Rahmenbedingungen sei die Theorie der optimalen Incentivesysteme genannt, die sich in Analogie zur neoklassischen Theorie der Firma - um eine exakte Formalisierung der kurz- und langfristigen Prämienmaximierungskalküle in sozialistischen Planwirtschaften bemüht (Conn 1979; Loeb/Magat 1978; Montias 1979; Vincentz 1981). Die Ableitung optimaler Incentives ist zwar anerkennenswert. Der entscheidungslogische Charakter der Modellanalysen erfordert jedoch restriktive Prämissen, mit denen sich die realen Verhaltensbedingungen nur unvollständig abbilden lassen. So wird die Planzentrale weiterhin als einheitliche und geschlossene Entscheidungsinstanz behandelt, obwohl sie in der Praxis aus verschiedenen, teilweise untereinander konkurrierenden Bürokratieinstanzen besteht. Ferner mangelt es an einer bürokratie- und verhaltenstheoretischen 1
Als Übersicht über die konkurrenzsozialistischen Modelle vgl. Brus (1971, S. 54). Zum Länge-Modell vgl. die deutsche Übersetzung in Lange (1977). Zur Kritik des Konkurrenzsozialismus vgl. von Hayek (1935), ferner die deutsche Übersetzung der Beiträge "Sozialistische Wirtschaftsrechnung I-III" in Hayek (1976).
2
Vgl. zum ordnungstheoretischen Ansatz der Theorie der Zentralverwaltungswirtschafl die klassische Arbeit von Hensel (1954; 1979, S. 112). Als Übersicht zu den Theorien der optimalen Planung vgl. Seidl (1971) und Heal (1973).
Der Einfluß von Property Rights
49
Fundierung der Ziele und Motive sowohl der zentralen als auch der betrieblichen Entscheidungsträger. Dazu müßten die in den rechtlich-institutionellen Rahmenbedingungen vorgegebenen Anreize und Beschränkungen detaillierter berücksichtigt und in repräsentative Erfolgsziele aufgelöst werden. Schließlich wären die Prozesse der Zieldurchsetzung im Zuge sozialer Abstimmungsprozesse auf zentraler und dezentraler Ebene zu analysieren. Es ist fraglich, ob dieses Programm mit Hilfe entscheidungslogischer Analysetechniken bewältigt werden kann. Zumindest erscheinen dafür organisations- und verhaltenstheoretische Vorarbeiten notwendig zu sein, deren Aussagen und Ergebnisse dann nachträglich in formale Entscheidungskalküle übersetzt werden können. Den besseren methodischen Zugang zur Fundierung einer positiven Theorie sozialistischer Wirtschaftssysteme verspricht die Property Rights-Theorie, deren erklärtes Forschungsziel in der Einbeziehung der rechtlich-institutionellen Dimension in die ökonomische Analyse besteht. Im nächsten Abschnitt sollen zunächst die methodischen Besonderheiten dieses Theorjeansatzes kurz dargestellt werden und zwar mit Bezug auf die Anwendung in den nachfolgenden Kapiteln (II). Den ersten Anwendungsfall bildet ein Wirtschaftssystem, in dem ein zentraler Volkswirtschaftsplan erstellt und den staatseigenen Betrieben zur Planerfüllung vorgegeben wird (III). Als zweiter Anwendungsfall wird ein dezentralisiertes Lenkungssystem zugrundegelegt, in dem die sozialisierten Unternehmen relativ selbständig wirtschaften und ihre Wirtschaftspläne über Märkte und Preise abstimmen (IV). Ausgehend von der hierarchisch organisierten Staatsunternehmung und der vergesellschafteten Selbstverwaltungsunternehmung als den beiden grundlegenden sozialistischen Unternehmungsverfassungen sind zwei Grundformen dezentralisierter, also vorwiegend marktkoordinierter Lenkungssysteme unterscheidbar: In der einen Konzeption befinden sich die Unternehmen im Staatseigentum. Diese Konzeption findet annäherungsweise ihre konkrete Entsprechung in der ungarischen Wirtschaftsordnung, wie sie seit 1968 mit der Einführung des „Neuen Wirtschaftsmechanismus" besteht. Die andere Konzeption des dezentralisierten Selbstverwaltungssozialismus findet ihre reale Ausprägung am besten im jugoslawischen Wirtschaftssystem (vgl. Leipold 1981b). Obwohl sich die Darstellung der Kompetenzverteilung an den konkreten institutionellen und eigentumsrechtlichen Regelungen in Ungarn und Jugoslawien orientiert, wird eine abstrakte Analyse der Funktionsweise konkurrenzsozialistischer Ordnungskonzeptionen angestrebt.
2.
Der Property Rights-Ansatz als theoretischer Bezugsrahmen
2.1. Property Rights und Erfolgsziele Das Hauptanliegen der Property Rights-Theorie besteht darin, auf der Grundlage der individualistischen Betrachtungsweise den Einfluß rechtlich-institutioneller Regelungen auf wirtschaftliches Verhalten und wirtschaftliche Entwicklung zu erfassen (Furubotn/Pejovich 1972; Leipold 1978). Die individuelle Dimension wirtschaftlicher Dispositionen und Beziehungen wird als personenbezogener Optimierungskalkül interpretiert und in Form der Nutzenfunktion erfaßt. Es wird von der Prämisse ausgegangen, daß jedes Individuum versucht, die rechtmäßig zustehenden und sozial anerkannten Kompe-
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Helmut Leipold
tenzen bezüglich der Verwendung und Nutzung materieller und immaterieller Güter soweit wie möglich zum eigenen Nutzen zu gebrauchen. Der Nutzen wirtschaftlicher Güter und Leistungen wird dabei maßgeblich vom Umfang der Verfügungs- und Nutzungsrechte bestimmt, die nach allgemein akzeptiertem Verständnis die beiden zentralen Property Rights repräsentieren. Die Verfiigungsrechte umfassen in juristischer Auslegung alle Rechtsgeschäfte, die sich auf Erwerb, Gebrauch, Belastung und Übertragung von Gütern, somit inklusive von Rechten, beziehen, während die Nutzungsrechte die Rechte beinhalten, die Früchte oder Erträge aus Gebrauch oder Veräußerung von Gütern aneignen zu können. Umfang, Zuordnung und insbesondere das Ausmaß der Identität oder Divergenz der Verfügungs- und Nutzungsrechte haben im Ansatz der Property Rights-Theorie wesentliche Konsequenzen für die Ableitung individueller Nutzenfunktionen und somit konkreter Verhaltensweisen. Eine divergente Zuordnung läge vor, wenn Personen über den Erwerb oder die Verwendung von Gütern verfugen, ohne daß sie den Ertrag nutzen können, also ohne daß ihnen Erfolg oder Mißerfolg ihrer Aktivitäten zugerechnet wird. Als Folge der Divergenz von Verfügungs- und Nutzungsrechten kommt es zu einem Auseinanderfallen von Kosten und Nutzen. Die unter solch unklaren Rechtsverhältnissen bereitgestellten und konsumierten Güter oder Leistungen weisen mit anderen Worten einen hohen „Öffentlichkeitsgrad" auf (Bonus 1980). Während die Kosten konzentriert dem Urheber zugerechnet werden, streut der Nutzen über eine Vielzahl von „dritten" Personen. Mit steigendem Öffentlichkeitsgrad der Güter geht folglich seitens der Produzenten eine abnehmende Motivation zur Produktion oder Bereitstellung, seitens der Konsumenten ein steigender Anreiz zur Nutzung, zum sorglosen Umgang oder zur Verschwendung, mithin zur Übernutzung und zur Einnahme der Trittbrettfahrerposition einher. In Umkehrung dieser Verhaltenstendenzen wird unmittelbar deutlich, daß bei weitgehender Identität von exklusiven Verfügungs- und Nutzungsrechten, also bei steigendem Exklusivitätsgrad der Güter und Rechte, wirksame Anreize bestehen, wirtschaftlich aktiv zu werden und Güter effizient zu nutzen. Zum Verständnis der allokativen und distributiven Funktionen der Property Rights ist neben den motivationalen und sich in individuellen Nutzenfunktionen niederschlagenden Effekten deren soziale Dimension zu beachten. Individuelle Ziel- oder Nutzenfunktionen werden bei arbeitsteiliger Wirtschaftsweise im Zuge sozial-ökonomischer Transaktionen realisiert. So werden Güter in der Regel innerhalb von Wirtschaftsorganisationen produziert und zwischen Organisationen (Unternehmen und Haushalte) oder Personen ausgetauscht. Die arbeitsteiligen Transaktionen sowohl in der Produktions- als auch in der Distributionssphäre der Güter sind zu organisieren. Als institutionelle Grundmuster für Transaktionen können einmal marktliche, zum anderen hierarchisch organisierte Transaktionen unterschieden werden (Williamson 1975). Marktliche Transaktionen repräsentieren dabei das Abstimmungsmuster auf horizontaler Ebene zwischen Verkäufern und Käufern von Gütern nach Maßgabe von Verträgen oder freiwilligen Vereinbarungen. Die hierarchische Transaktion erfolgt dagegen im Rahmen eines vertikal abgestuften Gefüges von Positionen gemäß dem Prinzip der An- und Unterordnung. Dabei kann die Hierarchie auf vertraglichen Abmachungen der Organisationsmitglieder
Der Einfluß von Property Rights
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abgestützt sein. Insofern können zwischen hierarchischen und markt- oder kontraktmäßigen Transaktionsmustern Überlappungen existieren.
2.2. Property Rights, Transaktionskosten und institutioneller Wandel Aus ökonomischer Sicht erscheint es rational, die Wahl der Transaktionsverfahren an deren relativer Vorteilhaftigkeit zu orientieren. Sowohl die marktlichen als auch die hierarchisch organisierten Vereinbarungen über die Produktion und Distribution von Gütern und Leistungen binden den Einsatz von Ressourcen, verursachen also Transaktionskosten. Sie setzen seitens der beteiligten Personen Wissen über Transaktionsopportunitäten, Vereinbarungen und Einigungen über Inhalte, Qualitäten, Mengen und Termine der Transaktionsobjekte und schließlich Kontrollen über die Einhaltung der Vereinbarungen voraus. Demgemäß können die Transaktionskosten in Informations- oder Suchkosten, Einigungskosten und Kontrollkosten unterteilt werden. Nach Picot (1981, S. 5) sind Transaktionskosten im wesentlichen die Kosten des Produktionsfaktors Organisation, weshalb sie sich auch als Organisations- oder Ordnungskosten bezeichnen ließen (vgl. auch Leipold 1981b, S. 22; Williamson 1979). Die allokativen und evolutionären Effekte der Transaktionskosten lassen sich thesenhaft kurz zusammenfassen: Bei gegebenen rechtlich-institutionellen, insbesondere eigentumsrechtlichen Ordnungsbedingungen beeinflußt die Höhe der Transaktionskosten erstens den Grad der Nutzen- oder Zielrealisierung der Wirtschaftssubjekte; zweitens bildet die Höhe der Transaktionskosten eine wesentliche Determinante für die Auswahl, Verbreitung und den Wandel, somit für die Evolution rechtlich-institutioneller Strukturen oder Organisationsformen wirtschaftlicher Transaktionen. Der Einfluß der Transaktionskosten auf die Realisierungsgrade individueller Nutzenoder Zielfunktionen kann wie folgt veranschaulicht werden: Hohe Such- und Einigungskosten mindern beispielsweise den Anreiz zu wirtschaftlichen Initiativen und Transaktionen. Ferner begünstigen hohe Kontrollkosten das Bestreben, Anordnungen oder vertragliche Vereinbarungen unvollständig auszufuhren oder in eigeninteressierter Weise auszunutzen. Umgekehrt wird die Durchsetzung von Rechten und Interessen bei niedrigen Such- oder Kontrollkosten erleichtert. Aus dem Zusammenhang von Zielrealisierung und Transaktionskostenhöhe wird zugleich der Einfluß dieser Kostenart auf den institutionellen Wandel deutlich. Unter den Voraussetzungen, daß sich erstens die Transaktionspartner um eine kostengünstige Abwicklung der Transaktionen bemühen, zweitens Freiheit bei der Entscheidung für alternative Organisations- oder Transaktionsformen besteht und drittens die „reinen" Produktionskosten gegenüber der Transaktionsform relativ invariant sind, wird sich diejenige Transaktionsform, mithin diejenige rechtlich-institutionelle Ordnungsstruktur durchsetzen und ausbreiten, deren Transaktionskosten minimal sind. Unter den genannten Voraussetzungen wird sich demnach die Evolution der beiden als zentral angesehenen Formen „Markt" und „Hierarchie" nach Maßgabe der relativen ökonomischen Vorteilhaftigkeit vollziehen. Bei der Anwendung dieses transaktionskostentheoretischen Erklärungsansatzes auf konkrete Wirtschaftssysteme und institutionelle Entwicklungen ist vor allem die Relevanz der Prämissen zu prüfen. Dieses Erfordernis dürfte besonders für sozialistische
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Systeme Beachtung verdienen, da sich hier der institutionelle Wandel nur partiell gemäß ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkülen, überwiegend jedoch nach außerökonomischen, also politischen oder ideologischen Kriterien vollziehen dürfte. Als zweite evolutionäre Determinante wäre daher hier wie auch in allen anderen Wirtschaftssytemen das Kriterium der „politischen Opportunität" zu berücksichtigen, das alle außerökonomischen Interessen oder Motive in gebündelter Form ausdrücken soll (Schenk 1981b). Die Erklärung des institutionellen Wandels allein mit Hilfe ökonomischer Faktoren und Kalküle wird daher in aller Regel unvollständig bleiben. Dieses Eingeständnis sollte jedoch nicht dazu verleiten, den Einfluß ökonomischer Faktoren auf organisatorische und wirtschaftliche Reformen zu vernachlässigen. Die Tatsache, daß die ökonomische Theorie dazu einen Beitrag leisten kann, wollen wir nun am Beispiel sozialistischer Wirtschaftssysteme demonstrieren.
3.
Eigentumsrechtliche Restriktionen im zentralisierten Lenkungssystem
3.1. Hierarchische Verteilung der Entscheidungskompetenzen In den sozialistischen Zentralplanwirtschaften, wie sie beispielsweise in der DDR, der Sowjetunion und anderen osteuropäischen Ländern existieren, befinden sich die Unternehmen im Industriesektor nahezu ausschließlich im Staatseigentum (Gutmann 1980; Hedtkamp 1981). Bei dieser Eigentumsform ist definitionsgemäß der Großteil der Eigentumsrechte staatlichen Organen zugeordnet. Es bedarf keiner näheren Begründung, daß die Partei die fuhrende politische und wirtschaftliche Instanz ist, die sich zur Durchsetzung ihrer Ziele und Interessen der Staatsorgane bedient. Das verfassungsrechtlich zuständige Staatsorgan für die Planung, Leitung und Kontrolle der Volkswirtschaft ist in allen sozialistischen Gesellschaftsordnungen der Ministerrat. Als kollektives Leitungsorgan setzt er sich aus dem Präsidium und der Gesamtheit der Minister zusammen. Die für wirtschaftliche Angelegenheiten zuständigen Ministerien können in zweig- oder bereichsleitende Ministerien (z.B. die Indistrieministerien oder das Ministerium für Bauwesen) und in funktionale, d.h. mit Querschnittsaufgaben beauftragte Ministerien (z.B. Ministerium für Finanzen oder für Materialwirtschaft) untergliedert werden. Zu den Funktionalorganen sind ferner die den Ministerien statusmäßig gleichgestellten wirtschaftsleitenden Organe zu rechnen, z.B. die Staatliche Plankommission oder das Amt jur Preise. Wir konzentrieren unser Augenmerk auf die Zweig- und hierbei insbesondere auf die Industrieministerien, denen die Wahrnehmung der grundlegenden staatlichen Eigentümerrechte obliegt. Das Bündel an Rechten und Pflichten der Zweigministerien kann unter eigentumsrechtlichen Aspekten auf zwei Aufgabenbereiche reduziert werden: erstens auf die Planung und Leitung der Zweigprozesse mittels direktiver Methoden und zweitens auf die Kontrolle der effizienten Unternehmensführung in den direkt unterstellten Betrieben (vgl. Rahmenstatut für die Industrieministerien, 1975). Übersetzt in eigentumsrechtliche Begriffe, beinhalten diese beiden Aufgaben im wesentlichen Verfügungsrechte bzw. pflichten. Aufgrund der Zentralisierung der Verfügungsrechte werden die Kompetenzen der Staatsunternehmen und deren Leiter eng begrenzt.
Der Einfluß von Property Rights
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Die im Rahmen der Fünjjahres- und Jahrespläne zentral festgelegten Aufgaben und Kennziffern sind für die Unternehmensleiter „die verbindlichen Zielstellungen und die Grundlage der Wirtschaftstätigkeit" und zugleich die „verbindlichen Abrechnungs- und Bewertungsgrundlagen der Erfüllung der Ziele der staatlichen Pläne" (Planungsordnung 1981 bis 1985, Teil A, S. 14 und S. 24). Die Erfüllung der Planziele ist mit materiellen Sanktionen gekoppelt. Die Zuführungen zu den verschiedenen betrieblichen Fonds, z.B. zu den Prämien-, Investitions-, Reserve-, Leistungs- oder Sozialfonds, hängen vom Grad der Überbietung der staatlichen Aufgaben im Prozeß der Planaufstellung und vom Grad der Erfüllung oder Übererfüllung der Auflagen im Prozeß der Planrealisierung ab. Maßgebend für die Höhe der Fondszuführungen ist die Erfüllung der Hauptkennziffern. Demgemäß bildet das Planerfüllungsprinzip in Verbindung mit dem Prämienprinzip das formale Erfolgsziel der Unternehmen. Dieses Erfolgsziel engt den Handlungsspielraum der Unternehmensleiter in starkem Maße ein. Die Verfügungs- und Nutzungsrechte sind zweckgebunden, d.h. im Hinblick auf die Realisierung der zentral gesetzten Ziele normiert. Die autonomen Verfügungsmöglichkeiten reduzieren sich auf Initiativrechte im Prozeß der Planaufstellung und auf Detaillierungsrechte bei der Planerfüllung, wo den Unternehmensleitern aufgrund hochaggregierter oder inkonsistenter Planauflagen Spielräume bei der Feinsteuerung der betrieblichen Prozesse verbleiben. Die Zweckbindung der Nutzungsrechte kommt einmal in den Regelungen der planerfüllungsgebundenen Fondszuführungen, zum anderen in den detaillierten Vorschriften bei der Verwendung der Fondsmittel zum Ausdruck. Damit ist in knapper Form die Verteilung der Rechte und Pflichten unter den Bedingungen des zentralisierten Staatseigentums aufgezeigt. Es ist nun zu klären, welche Erfolgsziele die zentralen und betrieblichen Entscheidungsträger unter diesen Ordnungsbedingungen verfolgen und wie die Ziele im Zuge sozialer Interaktionen realisiert werden. Zunächst sollen die Erfolgsziele der Leiter zentraler Staatsorgane bestimmt werden, und zwar am Beispiel der Leiter der Zweigministerien, die als die repräsentativen und verantwortlichen Subjekte des Staatseigentums betrachtet werden.
3.2. Erfolgsziele der staatlichen Eigentumsträger Bei der Ableitung der ministerialen Erfolgsziele ist von den Rechten und Pflichten auszugehen, die an das staatliche Amt gerichtet sind. Gemäß dem verfassungsrechtlichen Auftrag lassen sich diese in die Aufgaben der Planung und Leitung der Zweigprozesse und der Kontrolle der effizienten Unternehmensführung unterteilen. Zum Verständnis der Art und Weise, in der dieser Auftrag vom Minister praktisch wahrgenommen und vollzogen wird, ist die dem Staatseigentum eigene Normierung der Rechte und Pflichten zu beachten. Als spezifisch erachten wir die Divergenz zwischen Verfügungsund Nutzungsrechten . Während der Umfang der zentralisierten Verfügungsrechte beträchtlich ist, stehen den Leitern der Staatsorgane nur minimale Nutzungsrechte zu. Die divergente Zuordnung der Eigentümerrechte hat spezifische Kosten-NutzenErwägungen zur Folge, die sich am Beispiel der Kontrollaufgabe verdeutlichen lassen. Die Wahrnehmung des Auftrags, die bedarfsgerechte und effiziente, d.h. dem Prinzip der sozialistischen Sparsamkeit verpflichtete, Unternehmensführung zu kontrollieren, ist mit Kosten verbunden. Die Entdeckung allokativer und technischer Ineffizienzen setzt
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behördliche Bedarfsanalysen und betriebsinterne Wirtschaftlichkeitsanalysen über potentielle Kosteneinsparungen voraus. Es bedarf keines näheren Nachweises, daß die Such- und Kontrollkosten ansteigen, je exaktere Kontrollinformationen und Bewertungsmaßstäbe erarbeitet werden. Der Nutzen der Kontrollanstrengungen verkörpert sich in einzelwirtschaftlicher Sicht in Wertsteigerungen des Unternehmensvermögens und möglicherweise in höheren Vermögens- und Unternehmenserträgen. In gesamtwirtschaftlicher Sicht führt die bedarfsgerechte und sparsame Wirtschaftsweise zur Verbesserung der Güterversorgung und zur Steigerung der Produktivität des Faktoreinsatzes. Die Wahrscheinlichkeit, daß sich die Minister wie auch die Leiter anderer Staatsorgane um eine verantwortungsbewußte und effiziente Kontrolle bemühen, ist aufgrund der eigentumsrechtlichen Restriktionen gering. Weil keine anteiligen Eigentumsrechte am staatlichen Produktivvermögen zulässig sind und die persönliche Aneigung von Unternehmenserfolgen seitens der Eigentümersubjekte mit der Grundidee des Staatseigentums schwerlich vereinbar ist, partizipieren die verantwortlichen Kontrolleure nicht direkt, sondern allenfalls mittelbar an den gesamtwirtschaftlichen Kontrollerträgen. Das Dilemma ist offensichtlich: Die verantwortungsbewußte Kontrolle bindet Ressourcen, verursacht also Kosten, denen kein direkter und persönlich zurechenbarer Nutzen entspricht. Der Nutzen streut vielmehr über eine Vielzahl von Personen. Da er zwar der Öffentlichkeit in Form einer verbesserten Güterversorgung oder geringeren Steuerlast, nicht jedoch direkt dem verantwortlichen Kontrollbeauftragten zugute kommt, weist die spezielle Leistung der staatlichen Kontrolle einen hohen Öffentlichkeitsgrad auf. Gemäß den dargestellten Aussagen der Property Rights-Theorie läßt ein hoher Öffentlichkeitsgrad der Güter oder Leistungen eine geringe Bereitschaft zu deren Produktion oder Bereitstellung, also im vorliegenden Falle zur effizienzbedachten Kontrolle erwarten. Für die kontrollverantwortliche Instanz, beispielsweise den Minister, ist es angesichts der Divergenz von Kontroll- und Nutzungskompetenzen und der ihr eigenen Diffusion der Kontrollerträge vorteilhafter, die Kontrollaufgabe nachlässig zu handhaben. Bei dieser Strategie werden Ressourcen freigesetzt, die zur Verwirklichung anderer Ziele zur Verfugung stehen. Das geringe Interesse an der Kontrolle des effizienten Ressourceneinsatzes erklärt sich neben der divergenten Normierung der staatlichen Eigentümerrechte aus den bürokratischen Eigeninteressen der Leiter der Staatsorgane. Deren Erfolgsziel wird maßgeblich von den politisch-bürokratischen Ordnungsbedingungen geformt, die ihre Amtsführung bestimmen und die sich anhand folgender Annahmen erfassen lassen: Zur Erledigung der Planung und Leitung der Zweigprozesse einschließlich der Kontrolle der Untemehmensführung wird ein bürokratischer Verwaltungsapparat benötigt. Die Finanzierung der Kosten und Leistungen der staatlichen Bürokratie erfolgt durch Budgetzuweisungen von Staatshaushaltsmitteln, d.h. die Leistungen der Bürokratie werden unentgeltlich bereitgestellt. Dazu haben die Bürokratieleiter einen Haushaltsplan aufzustellen und den politischen Aufsichtsbehörden vorzulegen. Formal sind die Lejter der Zweigministerien gegenüber den staatljchen Kontrollorganen (z.B. Volkskammer bzw. Oberster Sowjet,), faktisch jedoch der Parteiführung verantwortlich und rechenschaftspflichtig. Wie bereits erwähnt, können sich die staatlichen Bürokratieleiter weder Budget-
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Überschüsse noch Erträge aus dem staatlichen Produktivvermögen persönlich aneigenen. Überträgt man die in der Bürokratietheorie verbreitete Hypothese der Budgetmaximierung auf diese Ordnungsbedingungen, liegt die Annahme nahe, daß die Leiter der Zweigministerien bestrebt sind, ein möglichst großes Budget für ihren Amtsbereich zu erhalten.3 Dieses Bestreben ergibt sich aus der spezifischen Form der bürokratischen Leistungsbewertung. Mangels einer outputorientierten Bewertung bilden hohe und zudem möglichst kontinuierlich wachsende Zuteilungen den augenfälligsten Indikator für korrespondierende Kompetenzen bzw. Kompetenzzuwächse. Im Falle der Zweigministerien in den sozialistischen Planwirtschaften ist dabei von einem weitgefaßten Budgetverständnis auszugehen. Gemäß der Aufgabe der direktiven Zweigleitung richten sich die Budgetforderungen auf die Gesamtheit der Ressourcen, die für die Planung und Leitung des Wirtschaftszweiges benötigt werden (vgl. Schokin 1978, S. 1145; Sik 1976, S. 124 ff.). Sie umfassen die Zuteilungen an Arbeitskräften, Rohstoffen, Materialien, Investitionsmitteln, Devisen für Importgüter und sonstige Finanzierungsmittel. Die Anforderung solcher Ressourcen bildet nur Mittel zum Zweck, denn die Motivation der Zweigleiter ist auf die Budgetverwendung, konkret auf die erfolgreiche Planung und Leitung der Zweigprozesse, gerichtet. Dabei bietet sich als erfolgswirksamster Indikator des Kompetenzumfangs die Entwicklung der Zweigproduktion an. Die kontinuierliche Steigerung der zweiglichen Warenproduktion wird einerseits seitens der Parteiführung präferiert, die von der Bevölkerung als verantwortliche Instanz für die Entwicklung und die Qualität der Güterversorgung betrachtet wird (Leipold 1979, S. 45 ff.). Andererseits entspricht dieses Ziel dem Eigeninteresse der Bürokratieleiter, also der Minister, an der Expansion, mindestens aber der Sicherung des Kompetenzumfangs. Es legitimiert Ressourcenforderungen und den extensiven Ressourceneinsatz. Dagegen ist kein Interesse wirksam, Ressourcen sparsam und effizient zu verwenden bzw. den sparsamen Einsatz zu kontrollieren, weil dieses Vorhaben das Ziel der Kompetenzexpansion gefährden kann und aufgrund der eigentumsrechlichen Restriktionen auch kein wirksamer Kontrollanreiz besteht. Wie dargelegt, werden bei einer nachlässigen Wahrnehmung der Kontrollaufgabe bürokratische Kapazitäten freigesetzt, die für die Verwirklichung des erfolgswirksameren Ziels der Kompetenzexpansion zur Verfugung stehen. Die Kontrolle wird instrumentalisiert und dem Ziel der Zweigleitung untergeordnet. Im Lichte der bürokratietheoretischen Analyse stellt das Ziel der Kompetenzexpansion die systemspezifische Nutzenfunktion bzw. das Erfolgsziel der staatlichen Bürokatieleiter dar. Bezogen auf die Leiter der Zweigministerien, konkretisiert sich dieses Ziel in Form der expansiven Zweigentwicklung, speziell in der Expansion der zweiglichen Warenproduktion. Damit ist das repräsentative Erfolgsziel der staatlichen Planungs- und Eigentumsträger beschrieben.
3
Zu den Annahmen und Hypothesen der von Downs und Niskanen maßgeblich begründeten ökonomischen Bürokratietheorie vgl. Roppel{ 1979, S. 83 ff.).
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Es ist nun zu fragen, wie und mit welchem Erfolg dieses Ziel durchgesetzt wird. Die Leiter der Zweigministerien haben ihre Entscheidungen mit anderen statusmäßig gleichgestellten Instanzen und mit den untergeordneten Untemehmensleitern abzustimmen. Im Zuge der horizontalen Koordination der Entscheidungen zwischen gleichgestellten Staatsorganen wird der Umfang der zuteilbaren Ressourcen, im Zuge der vertikalen Koordination zwischen Staatsorganen und Unternehmensleitern werden die Planvorgaben, mithin die konkreten Leistungsziele der Unternehmen, festgelegt.
3.3. Restriktionen der horizontalen Transaktionsprozesse Der Umfang der einem Zweigminister zugeteilten Arbeitskräfte, Rohstoffe, Vorleistungen, Investitionsmittel und sonstigen Ressourcen ergibt sich nach Maßgabe der Bilanzierungen im Zuge des Planungsprozesses. Bilanzierung und Allokation der Ressourcen sollen gemäß idealen sozialistischen Planungsprinzipien planmäßig und proportional erfolgen. Tatsächlich ist die Ressourcenallokation in der sozialistischen Planungspraxis das Ergebnis langwieriger und konfliktreicher Verhandlungen und Auseinandersetzungen. Konflikte zwischen den beteiligten staatlichen Planungsträgern sind aufgrund der Knappheit der Mittel einerseits und der bürokratischen Erfolgsziele andererseits mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Angesichts des Knappheitsphänomens und des Expansionsstrebens nimmt der Planungs- und Bilanzierungsprozeß ein typisches Verlaufsmuster an, das sich am treffendsten mit dem Begriff der „bürokratischen Rivalität" kennzeichnen läßt (Bahro 1977, S. 251). Jeder Zweigminister kämpft im Zuge der Volkswirtschaftsplanung um die vorrangige und großzügige Budgetierung der knappen Mittel. Wegen der Konkurrenz verschiedener Budgets orientieren sich die Leiter bei der Begründung und Beantragung der Zuteilungen nicht am minimalen, sondern eher am maximalen, also am extensiven Ressourcenbedarf. Zusätzliche Mittel versprechen anspruchsvollere Planziele, somit auch wachsenden Einfluß und Erfolg. Zum anderen steigt die Sicherheit einer erfolgreichen Planerfüllung. Die Leiter der Zweigministerien haben die Planerfüllung in den unterstellten Unternehmen zu kontrollieren. Indem sie die Verantwortung für die Erfüllung der Unternehmenspläne tragen, sind sie auch für die Erfüllung der zweiglichen Planziele mitverantwortlich und unterliegen insofern dem Gebot der Planerfüllung. Die Verantwortung für die Planung und Planerfüllung innerhalb des Zuständigkeitsbereichs formt das Verhalten: Die Planvorgaben und Anweisungen der staatlichen Leiter an die ausführenden Unternehmensorgane sind in rechtlich-verbindlicher Form vorzugeben und haben zudem den Anforderungen der reellen Erfüllbarkeit und der Kontrollierbarkeit zu genügen. Gerade diese Anforderungen begründen die Eigenarten der bürokratischen Formalisierung und Rivalität, die wiederum risikoscheue Verhaltensweisen begünstigen. Die erfolgreiche Planerfüllung wird neben riskanten, also neuerungsbereiten Aktivitäten besonders durch solche Entscheidungssituationen gefährdet, deren Lösung den Bereich eines einzelnen Amtsinhabers übergreift und gemeinsames Handeln verlangt. Diese hier vereinfacht mit dem Begriff der „komplex-kooperativen Entscheidungen" umschriebenen Situationen bergen für die bürokratischen Amtsinhaber aus folgenden Gründen besondere Gefahrenmomente:
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Die Lösung und Erfüllung dieser Aufgaben unterliegen nicht der selbstverantwortlichen Zuständigkeit; sie bleiben also nicht unter eigener Kontrolle, sondern sind von der Kooperation mit anderen Personen abhängig. Den sensiblen Risikofaktor bilden weniger die hierarchisch untergeordneten und per Anordnung disziplinierbaren Personen als vielmehr die statusmäßig gleichgestellten Leiter. Bei letzteren kann die Kooperation nicht durch Anweisungen sichergestellt werden, sondern bedarf spezifischer Anreize. Wegen der Besonderheiten der bürokratischen Anreizsysteme ist nur eine mäßige Bereitschaft zur Kooperation zwischen gleichgestellten Amtsinhabern anzunehmen. Leistungen der Bürokratieleiter unterliegen nicht der konkurrierenden Bewertung seitens der Abnehmer oder Betroffenen. Ihre Position wird somit nicht aufgrund mangelnder Kooperations- und Anpassungsbereitschaft, sondern allenfalls durch Verletzungen oder Übertretungen bürokratischer Regelungen und Zuständigkeiten gefährdet. Die Neigung zur Kooperation wird besonders dann gering sein, wenn die Initiative von einem Amtskollegen ausgeht. Der Initiator als potentieller Konkurrent bekommt wahrscheinlich den Erfolg zugerechnet, während die Kooperationsbereitschaft allenfalls Ressourcen bindet, die nicht für eigene Ziele zur Verfügung stehen. Das bereitwillige Eingehen auf externe Initiativen könnte zudem als Eingeständnis unausgelasteter Eigenpotentiale und kapazitäten ausgelegt werden und somit zur Kürzung oder gar zum Entzug der sorgfaltig aufgebauten Zuständigkeiten führen. Für einzelne Amtsinhaber ist es in aller Regel vorteilhafter, externe Initiativen zur Zusammenarbeit abzublocken oder zumindest mit Blick auf eigene Amtsinteressen zu modifizieren. Aufgrund der Interdependenz der Wirtschaftsprozesse sind kooperative Abstimmungen zwischen den zentralen Planungsinstanzen jedoch unumgänglich. Die Realisierung der zweigspezifischen Planziele setzt Leistungen und Lieferungen von und nach verschiedenen anderen Wirtschaftszweigen voraus, die zu bilanzieren und im Plan abzustimmen sind. Da sich die Transaktionen zwischen hierarchisch gleichgestellten Bürokratieleitern mangels wirksamer Anreize als äußerst langwierige und umständliche Prozesse gestalten, neigt jeder einzelne dazu, die Abstimmung auf ein Mindestmaß zu beschränken. Dazu bietet es sich an, erstens erprobte und eingefahrene Produkte und Verfahren beizubehalten, Neuerungen also zu meiden, und zweitens die Abhängigkeit von zweigexternen Zulieferungen und Vorleistungen zu reduzieren, was durch Ausweitung der Eigenleistungen, ferner durch den Aufbau von Materiallagern, Reservekapazitäten oder zusätzlichen Arbeitskräften innerhalb des Zuständigkeitsbereiches erreicht werden kann. Die Präferenzen für gleichförmige und möglichst zweigautarke Abläufe sind aufgrund der Eigenarten der bürokratischen Rivalität verständlich. Sie bieten die Chance, die jeweiligen zweigbezogenen Erfolgsziele unter Inkaufnahme geringer Einigungskosten zu realisieren. Die hohen Transaktionskosten der Abstimmung zwischen den Zentralinstanzen führen zur „amts- oder ressortbezogenen Segmentierung" der Leitungsstrukturen. In diesem Defizit findet die ständige Klage der geringen bzw. mangelnden leitungsmäßigen Beherrschung der Komplexität der Wirtschafts- und Neuerungsprozesse ihre eigentliche Begründung (vgl. z.B. Krinks/Oberländer/Rouscik 1980, S. 800). In der Segmentierung der Leitungsstrukturen ist der rationale Kern für die Ende der siebziger Jahre eingeleitete umfassende Neuorganisation der DDR-Wirtschaft in Form der Kombinatsbildung zu vermuten, worauf an späterer Stelle zurückzukommen sein wird.
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3.4. Restriktionen der vertikalen Transaktionsprozesse Die zentralen Planungsinstanzen haben ihre Planziele nicht nur untereinander, sondern auch mit den unterstellten Unternehmensleitern abzustimmen. Gegenüber den horizontalen Abstimmungen weisen die vertikalen Transaktionen besondere Eigenarten und Restriktionen auf. Sie erfolgen hier nach dem Prinzip der Hierarchie, also der Anweisung von Aufgaben übergeordneter Instanzen und deren Ausfuhrung durch untergeordnete Stellen. Die Beziehungen zwischen Zentralinstanzen und Unternehmen sind in der Theorie der Planwirtschaft vielfach und intensiv analysiert worden. Verbreitet ist dabei die Vorstellung eines rigiden Subordinationsverhältnisses, das vom Interessenkonflikt zwischen den zentralen und dezentralen Leitern geprägt sei. Das Spannungsverhältnis wird gewöhnlich am Problem der „weichen Pläne" veranschaulicht. Danach haben die zentralen Planungs- und Kontrollorgane, beispielsweise die Leiter der Zweigadministration, ein Interesse an angespannten Plänen, also an harten Planauflagen, während die Unternehmensleiter dagegen an weichen, d.h. relativ leicht erfüllbaren Planzielen und auflagen interessiert seien (vgl. Wagner 1968). Diese Vorstellung beschreibt und erklärt die realen Interessen und Beziehungen nur teilweise zutreffend. Die zentralen Planinstanzen sind bei der Planung der Wirtschafts- und Zweigprozesse auf die Mitarbeit und speziell die Informationen der Unternehmensleiter angewiesen. Sie können die betrieblichen Verhältnisse und Möglichkeiten nur höchst unvollkommen einsehen. Es mangelt besonders an Kenntnissen über die „besonderen Umstände von Ort und Zeit", ohne die jedoch einigermaßen fundierte Planungsentscheidungen nicht zu treffen sind (Hayek 1976, S. 107). Folglich sind sie an der Übermittlung möglichst detaillierter und verläßlicher dezentraler Informationen interessiert. Das Medium bilden die betrieblichen Planentwürfe, die im Prozeß der Planaufstellung nach Maßgabe der vorläufigen Planaufgaben und auf der Grundlage der Vorverträge, also der zwischenbetrieblichen Abstimmungen, übermittelt werden. Da die konkreten Planziele und deren spätere Erfüllung maßgeblich von der Qualität der Informationen abhängen, sind die Zentralinstanzen darauf aus, objektive bereichsspezifische Informationen zu erhalten. Die Unternehmensleiter wissen jedoch, daß die von ihnen gemeldeten Daten die Planauflagen präformieren, deren spätere Erfüllung den Maßstab der Leistungsbewertung und der daran geknüpften Fondszuführungen bildet. Für sie dürfte es daher verlockend sein, die Informationen selektiv aufzubereiten und mit Blick auf für sie bequem erfüllbare Auflagen zu übermitteln. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß das Erfolgsziel der Unternehmensleiter keineswegs dem bürokratisthen Ziel der Expansion der Zweigprozesse konträr entgegensteht, das sich auf der Unternehmensebene in Gestalt der Expansion des Unternehmensumsatzes konkretisiert. Eine Präferenz für das Umsatzziel ist anzunehmen, weil es sich mit bewährten Gütersortimenten und Faktorkombinationen auf bequeme Weise erreichen läßt. Einem Unternehmensleiter, dem es gelingt, den Umsatz kontinuierlich zu steigern, kann mit positiven Bewertungen seitens der Aufsichtsorgane (Staats- und Parteiorgane) rechnen, weil sein Verhalten mit deren Erfolgserwartungen harmoniert. Dem auf diese Weise möglichen Zuwachs an persönlichem Ansehen und materiellen Belohnungen steht jedoch die zunehmende Gefährdung der Planerfüllung entgegen, denn der Unter-
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nehmensleiter ist nicht nur für die Erfüllung der Kennziffer Warenproduktion, sondern einer Vielzahl von Kennziffern auf der Ergebnis- und Aufwandsseite verantwortlich. Die materiellen Zuführungen zu den verschiedenen Fonds (Prämien-, Investitions-, Leistungs-, Risiko- und Sozialfonds) sind neben der Erfüllung der Hauptkennziffern in der Regel von der Erfüllung einer Reihe von Nebenkennziffern (z.B. der Arbeitsproduktivität, des Material- und Energieverbrauchs) abhängig. Ferner sind an die allseitige Planerfüllung nicht nur materielle, sondern auch nicht unbeträchtliche immaterielle Konsequenzen gebunden, welche die Positionssicherung, mindestens aber dje zukünftigen Karriereaussichten der Unternehmensleiter empfindlich berühren können. Es ist deshalb wahrscheinlich, daß das Informationsverhalten der Unternehmensleiter gegenüber den zentralen Planungs- und Aufsichtsorganen vom Kompromiß zwischen dem Streben nach Leistungs- und Produktionsexpansion und dadurch ermöglichtem Kompetenzzuwachs einerseits und nach Sicherheit der Planerfüllung andererseits bestimmt wird. Dabei dürfte aus dem Sicherheitsdenken das Motiv zur Manipulierung der Informationen resultieren (vgl. auch Schenk 1970). Der Zwiespalt zwischen Kompetenzexpansion und Sicherheit ist ebenfalls für die Leiter der staatlichen Planungs- und Aufsichtsorgane typisch. Sie sind an der Expansion der Warenproduktion, aber auch an der Erfüllung der zweiglichen und damit auch der Summe der einzelbetrieblichen Planziele interessiert. Den zentralen Planungs- und Aufsichtsinstanzen ist das Streben der dezentralen Leiter bekannt, die planerfullungsrelevanten Informationen selektiv aufzubereiten und zu manipulieren. Ein Mittel, um möglichst verläßliche und gesicherte Informationen zu erhalten, bietet die Schaffung eines günstigen und vertraulichen Verhandlungs- und Kommunikationsklimas. Dieses Vorhaben kann durch persönliche Kontakte und Konzessionen gefordert werden. Anspruchsvolle, aber dennoch realistische Planansätze der Unternehmensleiter werden mit großzügigen Zuteilungen an Ressourcen und Finanzmitteln sowie mit Zugeständnissen für Sonderregelungen, etwa bei den Fondszuführungen, honoriert. Wichtig ist, daß solche Tauschgeschäfte zwischen Leistungen und Informationen gegen materielle und immaterielle Vergünstigungen vertraulich bleiben, und zwar insbesondere gegenüber konkurrierenden staatlichen Ressortleitern. Verhandlungen mit wenigen und zudem loyalen Unternehmensleitern erleichtern es, die Diskretion zu wahren. Die Strategie diskreter und einvernehmlicher Verhandlungen hat für die zentralen Zweig- wie auch für die dezentralen Unternehmensleiter Vorteile. Seitens der Zentralinstanzen bietet sie die Möglichkeit, die bei der Planung der Zweig- und Volkswirtschaftsprozesse aufzuwendenden Suchkosten zu senken. Bei der Leitung und Beaufsichtigung nur weniger und zudem loyaler Leiter von Großunternehmen läßt sich der Kontrollaufwand reduzieren und zudem die Sicherheit erhöhen, daß das Verhalten der Unternehmensleiter in Einklang mit den zentralen Erfolgszielen steht. Zweifellos bildet diese Strategie den Hauptgrund für die in allen sozialistischen Planwirtschaften beobachtbare hohe Unternehmenskonzentration. 4
4
Vgl. Angaben fiir die DDR bei Hamel (1981), für die Sowjetunion bei Bohnet und Penkaitis
(1976).
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Es bleibt festzuhalten, daß die Zusammenarbeit zwischen den zentralen und dezentralen Leitern gerade für die Zweigadministration eine bequeme Methode ist, das dominierende Erfolgsziel der Expansion der zweiglichen Warenproduktion mit geringen Transaktionskosten durchzusetzen. Solange ein extensiver Einsatz der Ressourcen, insbesondere der Rohstoffe und Arbeitskräfte, möglich ist, kann auf diese Weise zwar ein kontinuierlich steigendes Wirtschaftswachstum erzielt werden; diesem bürokratisch motivierten Expansionsdrang fehlt jedoch die Neuerungsdynamik. Er tendiert zur Entwicklung gleichförmiger Abläufe auf der Grundlage ökonomisch und technisch ineffizienter Faktoreinsätze. Die mangelnde Bereitschaft zur Durchsetzung und Ausbreitung von Produkt- und Verfahrensneuerungen und die geringe Neigung zur Anpassung der Gütersortimente und -qualität an veränderte Bedarfsstrukturen provozieren jedoch für die Parteiführung machtpolitische Gefährdungen. Versorgungsmängel werden seitens der Bevölkerung der Partei- und der von ihr kontrollierten Staatsführung angelastet. Die politische Führung, die die eigentliche Planzentrale repräsentiert, sieht sich gezwungen, ökonomisch motivierten Protesten oder Unruhen der Bevölkerung und offensichtlichen technologischen Rückständigkeiten gegenüber dem „Weltniveau" durch Initiativen und Wirtschaftsreformen entgegenzutreten. Das Machtsicherungsinteresse der Partei bildet deshalb den Motor für die in zyklischer Abfolge beobachtbaren wirtschaftlichen und organisatorischen Reformen in den sozialistischen Planwirtschaften (Bress/Hensel 1972; Hamel 1981). Die transaktionskostentheoretische Analyse kann dazu beitragen, Ursachen und Zwecke der Wirtschaftsreformen zu klären, was im folgenden am Beispiel der Kombinatsreform in der DDR aufgezeigt werden soll.
3.5. Transaktionskosten und institutioneller Wandel am Beispiel der Kombinatsreform Ende der siebziger Jahre wurde in der DDR mit der Kombinatsbildung eine umfassende Neuordnung der Leitungs- und Unternehmensorganisation eingeleitet. Nahezu sämtliche Industriebetriebe und teilweise auch Handelsbetriebe sind seitdem in ca. 150 Kombinaten zusammengefaßt, die damit die „grundlegende Wirtschaftseinheit" darstellen (Hamel/Leipold 1979; Erdmann/Melzer 1980). Die Kombinate werden durch den Generaldirektor geleitet, der seinerseits direkt dem Minister, meistens dem Industrieminister, unterstellt ist. Die Betriebsdirektoren unterstehen innerhalb des Kombinats in direkter Linie dem Generaldirektor. Der Grundgedanke dieser Neuordnung besteht darin, innerhalb der Kombinate einen relativ geschlossenen Reproduktionsprozeß zusammenzufassen, indem die für die Produktion verwandter Erzeugnisgruppen benötigten Forschungs- und Entwicklungspotentiale, Zulieferungen, Baumittel, Fertigungs- bis hin zu den Vertriebs- und Absatzkapazitäten unter einheitliche Leitung gestellt werden. Von der Unterstellung der in vertikaler Stufenfolge verbundenen Betriebe erhofft man sich eine effizientere Leitung und eine bessere Beherrschung der komplexen Wirtschaftsund insbesondere der Neuerungsprozesse. Die eigentliche Ursache für diese umfassende Neuordnung ist in den oben erörterten Mängeln der horizontalen Abstimmung zwischen hierarchisch gleichgestellten staatlichen Leitungsorganen zu vermuten.
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Wie dargestellt, führt deren geringe Kooperationsbereitschaft zur „amts- und ressortbezogenen Segmentierung" der zentralen Leitungsstrukturen. Die Kombinatsbildung soll diese Defizite mildern, indem horizontale Verhandlungen und Transaktionen weitgehend durch die hierarchische Unterstellung mit vertikal abgestuften Weisungsbefugnissen ersetzt werden. Gegenüber den langwierigen Abstimmungen zwischen den Zweigministeirien und funktionalen Staatsorganen lassen sich durch Anweisungen vom Minister an die Generaldirektoren und von diesen an die Betriebsdirektoren innerhalb der relativ geschlossenen Reproduktionsprozesse eines Industriezweiges vergleichsweise reibungslosere Abstimmungen erzielen und somit Einigungskosten einsparen. Der Reduktion der Einigungskosten dürfte jedoch mit zunehmender Kombinatsgröße eine Zunahme der Kontrollkosten entsprechen. Zudem wird bei der Kombinatskonzeption der grundlegende Sachverhalt der universellen Interdependenz ökonomischer Prozesse unterschätzt. Die leitungsmäßige Beherrschung der Interdependenz und Komplexität erfordert weiterhin, wenn auch im geringeren Umfang, interzweigliche und -ministerielle Abstimmungen. Die Bereitschaft dazu wird durch die Kombinatsorganisation nicht verbessert. Sie liefert vielmehr Anreize zur kombinatsautarken Leitung, wodurch wiederum die Nutzung arbeitsteiliger Spezialisierungs- und Kooperationsvorteile beeinträchtigt wird (Gerisch/Hofmann 1979, S. 133). Von der Kombinatsbildung sind daher keine wesentlichen Reformimpulse zu erwarten. Gerade die vielfaltigen Erfahrungen, daß sich die ökonomischen und technischen Ineffizienzen durch Reformen innerhalb . des zentralisierten Grundsystems nicht grundlegend, sondern allenfalls graduell beheben lassen, führten in einigen sozialistischen Ländern zu dem bemerkenswerten Schritt, das zentralisierte Planungssystem in ein dezentralisiertes System zu transformieren und somit von der hierarchischen zur marktlichen Koordination überzugehen. Innerhalb der markt- oder konkurrenzsozialistischen Lenkungskonzeption stehen zwei eigentumsrechtliche Unternehmenstypen zur Wahl: erstens die Staatsunternehmung und zweitens die Selbstverwaltungsunternehmung.
4.
Eigentumsrechtliche Restriktionen in marktsozialistischen Lenkungssystemen
4.1. Entscheidungskompetenzen und Erfolgsziele 4.1.1. Staatsunternehmung Charakteristisch für die Staatsunternehmung in marktsozialitischen Systemen ist die Teilung der Eigentümerrechte zwischen Staatsorganen und Unternehmen, wobei den Staatsorganen die grundlegenden Eigentümerrechte, den Unternehmen und hierbei den staatlich eingesetzten Leitern die Rechte der laufenden Unternehmensführung zugeordnet werden. Die den Staatsorganen zustehenden grundlegenden Rechte umfassen erstens die Disposition über das staatseigene Firmenvermögen (Gründung, Umorganisation, Auflösung), zweitens die Besetzung und Abberufung der Unternehmensleiter und drittens die Kontrolle der Unternehmensführung und -ergebnisse. Als Träger dieser Rechte
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dürften in der Regel die Leiter staatlicher Ministerien in Frage kommen, wie es in Ungarn der Fall ist (vgl. Leipold 1981a). Daneben sind jedoch auch andere Adressaten der staatlichen Eigentumsträgerschaft vorstellbar, beispielsweise staatliche Aufsichts- oder Rechnungshöfe. In jedem Fall sind beim Staatseigentum die grundlegenden Kontrollbefugnisse öffentlich-rechtlichen Körperschaften zuzuordnen, womit auch die inhaltliche Normierung der Verfugungs- und Nutzungsrechte vorgeformt wird. Wie bereits am Beispiel des Staatseigentums im Rahmen des zentralisierten Lenkungssystems dargestellt wurde, divergieren bei der staatlichen Eigentumsträgerschaft Verfugungs- und Nutzungsrechte, weil die verantwortlichen staatlichen Eigentümersubjekte keine persönlich zurechenbaren Anteile am staatlichen Produktivvermögen erwerben und sich auch keine Vermögenserträge exklusiv aneignen können. Als repräsentatives Erfolgsziel der staatlichen Eigentumsträger kann auch für die Verhältnisse in den dezentralisierten Lenkungssystemen das Streben nach Kompetenzexpansion abgeleitet und unterstellt werden, während das Bemühen um die Kontrolle der effizienten Unternehmensführung aufgrund der restriktiven Normierung der Nutzungsrechte in den Hintergrund tritt. Unterstellt man die Zweigministerien als verantwortliche Kontrollorgane, denen daneben noch die Aufgabe der indirekten Zweigleitung obliegt, so konkretisiert sich das Erfolgsziel zur Form der kontinuierlichen Expansion der Zweigproduktion. 5 Im Unterschied zu den Bedingungen im zentralisierten Lenkungssystem können die Leiter der staatlichen Zweigadministration ihre Erfolgsziele nicht auf dem Wege direkter Anweisungen an die unterstellten Unternehmensleiter, sondern lediglich mit Mitteln der indirekten Lenkung und Beeinflussung durchsetzen. Imperative Auflagen und Direktiven an die Unternehmensleiter sind mit der Ordnungskonzeption des Konkurrenzsozialismus unvereinbar, die weitgehende Unternehmensautonomie voraussetzt. Die selbständige Unternehmensführung obliegt den von den staatlichen Aufsichtsorganen eingesetzten und kontrollierten Direktoren. Dezentralisierte Entscheidungsautonomie schließt dabei mit Ausnahme der Dispositionen über das Firmenvermögen die Rechte ein, über Faktoreinsatz, Produktion, Finanzierung und Marktangebote entscheiden zu können. Richtschnur der Entscheidungen sollen gemäß der konkurrenzsozialistischen Ordnungskonzeption die am Markt erzielbaren Gewinne sein (vgl. Fenyövari 1979). Es ist jedoch zu bezweifeln, ob bei den Leitern der Staatsunternehmen das Gewinnziel das dominierende Erfolgsziel darstellt. Der Grund für diese Zweifel ist in den spezifischen Zielen und Interessen der staatlichen Eigentümerinstanzen zu suchen. Von dieser Seite unterliegen die Unternehmensleiter keinem wirksamen Druck, hohe Gewinne zu erzielen. Die Leiter der Aufsichtsorgane präferieren vielmehr das bürokratische Interesse an der Kompetenzexpansion, konkret an der kontinuierlichen Entwicklung der Zweigproduktion. Es ist daher anzunehmen, daß sich die staatliche Eigentümerkontrolle darauf konzentriert, die Direktoren zu einem Verhalten zu veranlassen, das im Einklang
5
Zu empirischen Belegen für Ungarn vgl. Laky (1979; 1980).
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mit diesem Erfolgsziel steht. Die Direktoren können diesen Erwartungen am besten genügen, wenn sie das Ziel des Umsatz- und des Unternehmenswachstums verfolgen. Hohe Unternehmensumsätze summieren sich zu hohen Zweigumsätzen. Das Umsatzziel hat den Vorteil, auf die unangenehme Aufgabe des sparsamen und effizienten Faktoreinsatzes wenig Rücksicht nehmen zu müssen. Zudem verspricht es auf bequeme Weise positive Sanktionen in Form materieller und immaterieller Vergünstigungen durch die Aufsichtsbehörde. 4.1.2. Selbstverwaltungsunternehmung In einer Selbstverwaltungsunternehmung jugoslawischen Typs obliegt das Recht der selbständigen Unternehmensführung der Gesamtheit der jeweiligen Beschäftigten. Das Firmenvermögen bleibt de jure Gesellschaftseigentum, kann jedoch von den Beschäftigten genutzt und verwaltet werden. Abgesehen von Kleinunternehmen bildet die mittelbare Selbstverwaltung über gewählte Selbstverwaltungsorgane, besonders über den Arbeiterrat, die übliche Selbstverwaltungsform. Die Beschäftigten bzw. deren Selbstverwaltungsorgane sollen und können über die Geschäftspolitik, den Faktoreinsatz, die Investitionen und deren Finanzierungsbedingungen sowie über die Verteilung des erwirtschafteten Nettoeinkommens auf den Fonds der persönlichen Einkommen und die Unternehmensfonds entscheiden. Das persönliche Einkommen ist ergebnisabhängig; dem Selbstverwaltungsprinzip korrespondiert also das Einkommensprinzip (Eger/Leipold 1975). In einer dezentralisierten Selbstverwaltungsordnung jugoslawischen Typs verfügen die Beschäftigten demgemäß über umfangreiche Kompetenzen. Allerdings ergeben sich aus der Institution des Gesellschaftseigentums Beschränkungen der Verfügungs- und Nutzungsrechte. Auszuschließen ist die anteilige Zuordnung des Firmenvermögens in Verbindung mit individuellen Dispositionsrechten zu einzelnen Beschäftigten. Der Erwerb von Vermögensanteilen und individuellen Vermögensrechten einerseits und Selbstverwaltung gemäß dem „Ein-Mann-eine- Stimme- Prinzip" andererseits sind nicht miteinander vereinbar. Die Selbstverwaltungsidee verlangt, daß alle Beschäftigten gleichberechtigte Entscheidungs- und Eigentumsträger sein sollen und das gemeinsam erwirtschaftete Unternehmensergebnis (Nettoeinkommen) untereinander zu verteilen haben. Aus dieser Idee in Verbindung mit den eigentumsrechtlichen Restriktionen ergeben sich Konsequenzen für das Erfolgsziel der Selbstverwaltungsunternehmen und deren Repräsentanten. Als repräsentatives Erfolgsziel ist das Streben nach einem möglichst hohen Nettoeinkommen zu unterstellen (Ward 1958; Steinherr 1978). In diesem Ziel kommt jedoch noch nicht der sich den Beschäftigten stellende „trade-off' bezüglich der Verwendung des Nettoeinkommens zum Ausdruck. Die Beschäftigten haben zu entscheiden, wie sie das Nettoeinkommen für persönliche Einkommen oder für die Reinvestition im Unternehmen aufteilen. Die Brisanz dieser Entscheidung liegt in eigentumsrechtlichen Besonderheiten begründet: Die einbehaltenen und reinvestierten Einkommensbeträge werden Teil des Gesellschaftsvermögens, an dem einzelne Beschäftigte kein Anteilseigentum erwerben können, und zwar auch dann nicht, wenn sie aus dem Unternehmen ausscheiden. Über diese Mittel kann nur kollektiv verfugt werden. Im Falle einer investiven
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Verwendung wird der Vermögensbestand (stock) kollektiviert. Die einzelnen Beschäftigten können sich lediglich potentielle Vermögenserträge (flows) exklusiv aneignen. Dagegen kann über die ausgeschütteten Beträge privat verfügt werden. Sie können also konsumiert oder als privates Vermögen angelegt werden. Sollen die einbehaltenen und reinvestierten Mittel den gleichen Einkommensbetrag erbringen, der bei deren Ausschüttung in Form persönlicher Einkommen und einer privaten Anlage plus Verzinsung erzielbar wäre, müßte die Investitionsrendite stets beträchtlich höher sein als bei einer privaten Anlage. Nimmt man beispielsweise für die private Anlage eine Verzinsung von 5% an, so läßt sich anhand einer einfachen Berechnung zeigen, daß die Rendite der vergesellschafteten Investitionen bei einem Zeithorizont von fünf Jahren 23%, bei zehn Jahren immerhin noch 13% betragen müßte (Furubotn/Pejovich 1973, S. 280). Für die Beschäftigten ist es daher attraktiv, einen möglichst großen Anteil des Nettoeinkommens für persönliche Einkommen auszuschütten und das Vermögen auf diese Weise zu privatisieren". Sofern Investitionen getätigt werden, bestehen starke Anreize, diese extern, also über Bankkredite zu finanzieren. Das Erfolgsziel der Selbstverwaltungsunternehmung, die Maximierung des Nettoeinkommens pro Kopf der Beschäftigten, wäre demnach in Form der Maximierung der persönlichen Einkommen pro Beschäftigten zu konkretisieren. Es ist nun zu fragen, wie und unter Inkaufnahme welcher Transaktionskosten die für die Staats- und die Selbstverwaltungsunternehmung abgeleiteten Erfolgsziele (Nutzenfunktionen) im Rahmen der marktmäßigen Transaktionen durchgesetzt werden können. Hierbei interessiert primär die Frage, in welchem Ausmaß wettbewerbliche Marktkontrollen wirksam werden können. 4.2. Zur Kompatibilität sozialistischer Property Rights mit Wettbewerb 4.2.1. Generelle Vorbedingungen wettbewerblicher Marktprozesse In systemübergreifender Betrachtung, also losgelöst von der konkurrenzsozialistischen Ordnungskonzeption, zeichnen sich wettbewerbliche Marktprozesse durch die Konkurrenz der Anbieter um die für die Nachfrager vorteilhafteste Leistung aus. Der Wettbewerb manifestiert sich in Vorstößen einzelner Anbieter, z.B. in Form von Produktneuerungen oder Preissenkungen, wodurch die Mitkonkurrenten zur Reaktion herausgefordert werden. Sofern es gelingt, der Herausforderung durch geeignete Problemlösungen erfolgreich zu begegnen, wird der Vorsprung der Innovatoren durch nachfolgende Imitationen abgebaut (vgl. Heuß 1965; Krüsselberg 1969; Röpke 1977). Als Mindestbedingungen dafür, daß sich wettbewerbliche Prozesse entzünden und kompetitive Herausforderungsgrade stabilisieren können, haben erstens der freie Marktzugang in Verbindung mit einem autonomen Einsatz wettbewerblicher Aktionsparameter und zweitens ein bestimmtes Maß an Ungewißheit über die Marktergebnisse zu gelten. Wo die Marktprozesse transparent und die Marktergebnisse vorhersehbar sind, kann sich keine kompetitive Motivation entfalten (Heuß 1980, S. 681; Schüller 1983). Es ist zu prüfen, wie und in welchem Maße diesen Mindestbedingungen kompetitiver Marktprozesse im Rahmen der konkurrenzsozialistischen Ordnungen genügt werden kann.
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4.2.2. Restriktionen des Marktzutritts Die erstgenannte Anforderung des freien Marktzutritts kann exemplarisch am Beispiel der Untemehmensgründung und der Untemehmensinvestitionen untersucht werden. Beide Entscheidungen sind wichtige Medien zur Durchsetzung technischer Fortschritte, und zwar sowohl für Innovationen als auch für Imitationen. Die Gründungsschranken sind beim Staatseigentum am offensichtlichsten. Aufbau und Erwerb industriellen Produktivvermögens durch Einzelpersonen sind in den sozialistischen Verfassungen zu verhindern und tatsächlich auch untersagt. Die industriellen Produktionsmittel wie auch die volkswirtschaftlich wichtigen Ressourcen werden ausschließlich dem Staat zugeordnet. Privates Eigentum wird wohlweislich lediglich im Bereich der „kleinen Warenproduktion" und hier auch nur als Übergangsphänomen toleriert.6 Die Rechte der Gründung und Erweiterung von Unternehmen sind vorrangig den Staatsorganen zuzuordnen. Diese Kompetenzen lassen sich nur im begrenzten Umfang auf die Leiter der Staatsunternehmen übertragen. Sollen die staatlichen Eigentumsrechte nicht zu stark verdünnt werden, sind auch im dezentralisierten Lenkungssystem zumindest die grundlegenden Rechte der Vermögensdisposition, wie Gründung, Erweiterung, Zusammenschluß und Auflösung der Unternehmen den verantwortlichen Trägern des Staatseigentums vorzubehalten. Bei der Frage, welche Gründungs- oder Investitionsmotive sich mit dem Erfolgsziel der nach zweiglichen, regionalen oder funktionalen Prinzipien gegliederten Staatsorgane verbinden, kann an unseren Ausfuhrungen über die bürokratischen Ziele und Interessen angeknüpft werden. Die staatlichen Aufsichtsbehörden sind nicht an der Schaffung und Kontrolle möglichst vieler und unabhängiger, sondern vielmehr an der Unterstellung weniger und zudem großer Unternehmen interessiert (vgl. Revesz 1979). Die Beaufsichtigung weniger Großunternehmen reduziert den Kontrollaufwand und verbessert die Einflußmöglichkeiten, zielkonforme Verhaltensweisen der unterstellten Unternehmensleiter mit dem Erfolgsziel der Aufsichtsorgane sicherzustellen. Daraus ergibt sich primär die Bereitschaft zur Inangriffnahme von wenigen investiven Großprojekten. Als ausschlaggebendes Motiv ist bei Gründungs- oder Erweiterungsinvestitionen nicht der erwartete Gewinn und somit eine möglichst hohe Kapitalrentabilität anzunehmen; statt dessen steht als Hauptmotiv der erwartete Beitrag der Investitionen zur Realisierung der spezifischen Erfolgsziele im Vordergrund, also im Falle sektoralorganisierter Behörden der erwartete Beitrag zur Expansion der Zweigproduktion, im Fall regional verantwortlicher Behörden die Auswirkungen auf die Realisierung der länder-, kreis- oder kommunalspezifischen Ziele. Von einer Kapitalallokation, die sich an politisch-bürokratischen Präferenzen und nicht an Gewinn und Rentabilität orientiert, kann in den meisten Fällen auch kein Beitrag zur Intensivierung des Marktwettbewerbs er-
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So ist nach § 6 Abs. 1 der ungarischen Verfassung das gesellschaftliche (staatliche) Eigentum Grundlage der Wirtschaftsordnung. Nach § 12 wird das Privateigentum (lediglich) der kleinen Warenproduzenten anerkannt, soweit es nicht die Interessen der Allgemeinheit verletzt. Vgl. Brunner/Meissner (1980, S. 481 f.). Für das Verbot privatwirtschaftlicher Unternehmen spricht vor allem die Einsicht, daß sie als überlegene Konkurrenten die Staatsunternehmen längerfristig auf breiter Front verdrängen könnten
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wartet werden. Sie begünstigt vielmehr in bewußter oder unbewußter Absicht Beschränkungen wettbewerblicher Verhaltensweisen. Obwohl der Umfang der Entscheidungsrechte und die Organisation der internen Willensbildung in den Selbstverwaltungsuntemehmen gegenüber den Staatsunternehmen abweichen, existieren sowohl für potentielle einzelne Gründerpersonen bzw. eine Gruppe von Einzelpersonen als auch für bestehende Selbstverwaltungsunternehmen nur geringe Anreize zur Gründung selbständiger Unternehmen und zu Erweiterungsinvestitionen größeren Ausmaßes. Die Prinzipien der Selbstverwaltung und des Gesellschaftseigentums verlangen, die Leitung und Verwaltung von Unternehmen der Gesamtheit der Beschäftigten zu übertragen. Würden diese Prinzipien nicht oder nur halbherzig befolgt und blieben Leitung und Verwaltung dem Gründer vorbehalten, würde dies auf die Aushöhlung der Selbstverwaltungsidee und die Transformation des Gesellschaftseigentums in Sondereigentum, also dem Gründer zustehendes Eigentum, hinauslaufen. Dieser Forderung wird beispielsweise in Jugoslawien Rechnung getragen, indem Unternehmen ab einer gewissen Zahl der Beschäftigten - in der Regel ab fünf Beschäftigten - automatisch in die Selbstverwaltung und somit in Gesellschaftseigentum zu überführen sind. Diese Regelung behindert die Gründungs- und Investitionsdynamik, denn die Aussicht, die Leitung des neuen Unternehmens und die eventuellen Markterfolge teilen oder ganz abgeben zu müssen, hemmt potentielle Initiativen. Wird ein Unternehmen gegründet, liegt die Tendenz nahe, das Unternehmen klein, also unterhalb der Grenze zu halten, ab der die Überfuhrung in die Selbstverwaltung bzw. Vergesellschaftung droht. Dadurch wird die für die Marktdynamik unverzichtbare Expansion von Kleinunternehmen und die Entfaltung des unternehmerischen Potentials in enge Grenzen verwiesen. Auch für bestehende Selbstverwaltungsunternehmen existieren vergleichbare Stimulierungsdefizienzen. Das Wissen über die Pflicht, die Leitung und Erträge risikoreicher Investitionen dem Kollektiv des neugegründeten Unternehmens ganz oder zumindest teilweise übertragen zu müssen, läßt kein großes Interesse an Neugründungen aufkommen. Hinzu kommt die im Gesellschaftseigentum begründete Schranke, an dem investierten Vermögen persönlich zurechenbare Anteile erwerben und über diese autonom verfügen zu können, worauf wir bereits hingewiesen haben. Die Bereitschaft zu Gründungs- und Erweiterungsinvestitionen verbessert sich, wenn die Prinzipien der Selbstverwaltung verletzt, Diskriminierungen der Beschäftigten „neuer" Betriebe durch die Gründer also bewußt legitimiert werden, wofür es in Jugoslawien ausreichende Belege gibt (vgl. Hof/Wagner 1974; Dobias/Eger/Iversen/Juretzka 1978, S. 38 f.). 4.2.3. Restriktionen spontaner Marktprozesse und -ergebnisse Ausgangspunkt ist die Frage nach den eigentumsrechtlichen Beschränkungen bezüglich der zweiten Anforderung, wonach sich eine kompetitive Motivation nur dann entzünden kann, wenn die Ergebnisse der wettbewerblichen Veranstaltung ungewiß sind. Im Falle des Staatseigentums bildet die Unterstellung der verstaatlichten Unternehmen unter einen relativ einheitlichen Eigentümer die kritische Ordnungsbedingung. Wie dargelegt, obliegt die staatliche Kontrolle der Unternehmensführung in der Regel den nach
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zweiglichen oder regionalen Kriterien organisierten Ministerien. Bei den staatlichen Aufsichtsbehörden, denen entweder alle Unternehmen einer Branche oder einer Regjon unterstehen, ist ein elementares Interesse an der „planmäßigen" Regulierung spontaner Marktprozesse deshalb zu erwarten, weil spontane Vorstöße eines Konkurrenten unsichere Auswirkungen sowohl auf den Realisierungsgrad des bürokratischen Erfolgsziels als auch die Unternehmensziele der beaufsichtigten Mitkonkurrenten haben. Dabei können die möglichen Mißerfolge der Mitkonkurrenten immer auch als Vernachlässigung der staatlichen Unternehmenskontrolle interpretiert und angelastet werden. Die wahrscheinliche administrative Regelung der an sich unsicheren Wirkungen dynamischer und spontaner Marktaktivitäten senkt sowohl für den potentiellen Innovator als auch für die betroffenen Mitkonkurrenten den Grad der wettbewerblichen Herausforderung, so daß unter den Ordnungsbedingungen durchgängigen Staatseigentums am Firmenvermögen keine günstigen Voraussetzungen für die Entfaltung einer wirksamen Preis- oder Qualitätskonkurrenz bestehen. 7 Im Unterschied zu den Staatsunternehmen verfügen die Selbstverwaltungsunternehmen über eine größere Selbständigkeit. Aus dem Erfolgsziel, ein möglichst hohes Nettoeinkommen bzw. persönliches Einkommen zu erwirtschaften, und aus dem Umstand, daß die Höhe der Einkommen vom Markterfolg abhängt, sind zudem vergleichsweise zur Staatsunternehmung wirksamere Anreize zu marktlichen Initiativen und Anpassungen zu ver- muten. Der erfolgsabhängigen Einkommenserzielung wohnt j e d o c h eine systemeigene Verteilungsdynamik inne, welche die wettbewerbliche Anforderung eines Mindestmaßes an Unsicherheit über die Marktergebnisse tangiert. Die Marktergebnisse schlagen sich in einem Selbstverwaltungsunternehmen für alle Beschäftigten einkommenswirksam nieder. Der persönliche Einkommensbetrag ist beim Einkommensprinzip neben den Markterlösen von den Sachkosten, von der Verteilung des Nettoeinkommens auf Ausschüttung und Reinvestitionen sowie von der Zahl der Beschäftigten abhängig, auf die der Fonds der persönlichen Einkommen aufgeteilt wird. Unter diesen Verteilungsbedingungen ist zu erwarten, daß die persönlichen Einkommen für gleiche Arbeitsqualifikationen zwischen den Unternehmen differieren, wobei die Marktergebnisse - wie dargelegt - eine maßgebliche Einkommensdeterminante sind. Für die Beschäftigten eines rentablen Unternehmens, das z.B. aufgrund einer erfolgreichen Innovation eine führende Marktsteilung hat, können die persönlichen Einkommen um ein Mehrfaches höher ausfallen als für die Berufskollegen in unrentablen Unternehmen (vgl. Hagemann/Klemencic 1974, S. 181). Aufgrund der ungleichen Verteilungsergebnisse weisen die Verteilungsprozesse eine spezifische Verlaufsdynamik auf. Die Lösung des Verteilungskonflikts bewegt sich zwischen den beiden Möglichkeiten der Angleichung der Einkommen zwischen unterschiedlich erfolgreichen Unternehmen einerseits, die jedoch für die weniger rentablen Unternehmen zur Illiquidität und gesamtwirtschaftlich zur permanenten Inflationierung führt, und der Akzeptanz erheblicher
7
Diese Schlußfolgerung läßt sich für Ungarn durch verschiedene empirische Wettbewerbsstudien bestätigen. Vgl. Tardos (1972); Nagy (1972); Hegedüs/Tardos (1974/75); Laky (1980). Der hohen Konzentration versucht man in Ungarn neuerdings durch die Förderung von Klein- und Mittelbetrieben zu begegnen.
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Unterschiede der Verteilungsergebnisse andererseits, der jedoch ein hohes Potential sozialer Unruhen und Unzufriedenheiten innewohnt. Angesichts der distributiven Dilemmasituation bieten sich einkommenspolitische Maßnahmen zur Regulierung der Verteilungsergebnisse geradezu an. Die Einkommenspolitik kann in einer Selbstverwaltungsordnung verschiedene Formen annehmen, die von der Festlegung allgemeiner Richtlinien für Mindest- und Höchsteinkommen, über branchenbezogene Vorschriften für Mindest- oder Höchstanteile der Fondszuführungen bis hin zu konkreten Vereinbarungen und Absprachen zwischen den Unternehmen einer Branche über die Verteilung der Nettoeinkommen reichen. Alle genannten Formen werden in Jugoslawien im Zuge sogenannter ,JSelbstverwaltungsvereinbarungen" und „Gesellschaftlicher Absprachen" zwischen Unternehmen, Gewerkschaften, Handelskammern und kommunalen oder bundesstaatlichen Behörden praktiziert. Auf Einzelheiten dieser Variante der Einkommenspolitik kann und soll hier nicht eingegangen werden (vgl. Höcker-Weyand 1980, S. 90 ff.). Sie läuft in einer Selbstverwaltungsordnung auf Absprachen zwischen den Unternehmen über Regelungen der Entstehung und Verteilung der Unternehmens- und der Beschäftigteneinkommen hinaus. Dabei liegt für die beteiligten Unternehmen die Neigung nahe, unter dem Deckmantel der Verteilungspolitik auch Absprachen über die Marktprozesse zu treffen. Solche Absprachen reduzieren vor allem die Unsicherheit über die Aktionen und Reaktionen der Konkurrenten, somit auch über die Marktergebnisse. Sie mindern aber zugleich die Anreize für risikoreiche Vorstöße und den Zwang zu Anpassungen, weshalb die wettbewerbliche Dynamik erlahmt. Die eigentumsrechtlich begründeten wettbewerblichen Restriktionen können zusammengefaßt werden: Die Regelungen des Staats- wie auch des Gesellschaftseigentums stehen der Forderung nach freiem Zugang und Selbständigkeit möglichst vieler und unabhängig agierender Anbieter im Wege. Im Falle des Staatseigentums sind starke Neigungen angelegt, Marktunsicherheiten im Wege administrativer Eingriffe zu reduzieren; im Falle des Gesellschaftseigentums wird dieser Effekt durch kooperative Absprachen zwischen den Selbstverwaltungsunternehmen begünstigt. Die Lähmung der Marktdynamik beeinflußt vor allem den Preiswettbewerb: Sofern die freie Marktpreisbildung zugelassen wird, ist vergleichsweise zur funktionsfähigen Preiskonkurrenz ein hohes Preisniveau mit korrespondierenden hohen Preissteigerungsraten zu erwarten. Angesichts der mangelnden Preiskonkurrenz sind administrative Preisregulierungen in Form staatlich gesetzter Fix- oder Höchstpreise unausweichlich. Die aus der Analyse der Wettbewerbsbeschränkungen abgeleiteten Konsequenzen für das Preissystem werden durch die Erfahrungen in den existierenden marktsozialistischen Lenkungssystemen vollauf bestätigt. Läßt man, wie in Jugoslawien, eine freie Marktpreisbildung in größerem Umfang zu, sind beträchtlich steigende Inflationsraten die Folge (vgl. Sirc 1979, S. 125 ff.). Wird, wie in Ungarn, die freie Preisbildung durch eine umfassende staatliche Preisregulierung ersetzt, so sind Fehllenkungen der Ressourcen und staatliche Subventionierungen großen Ausmaßes das Resultat (vgl. Leipold 1981a). Die neueste Variante zur Gestaltung des Preissystems in einer marktsozialistischen Ordnung liefert das sogenannte „kompetitive Preissystem" in Ungarn, wonach die Preisfestsetzung und die Höhe der kalkulierbaren Gewinne wegen fehlender Konkur-
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renz im Inland an den Weltmarktpreisen zu orientieren sind (vgl. Csik6s-Nagy 1979). Der Begriff der Weltmarktpreise ist dabei eine Umschreibung für jene Preise, die innerhalb und im Handel zwischen Marktwirtschaften auf der Grundlage dominierenden Privateigentums Zustandekommen. Der Rückgriff auf Weltmarktpreise läßt den Schluß zu, daß konkurrenzsozialistische Ordnungen bei der Festsetzung von Knappheitspreisen und der Bewertung der Unternehmensleistungen offensichtlich nicht ohne die Institution des Privateigentums und dessen wettbewerbsfordernde Funktion auskommen können. Die Orientierung an Weltmarktpreisen gemäß dem kompetitiven Preisbildungssystem in Ungarn kann daher als Bestätigung der von Mises (1922, S. 119; 1945, S. 74) und anderen liberalen Kritikern des Konkurrenzsozialismus (z.B. Eucken 1975, S. 136 f.) formulierten These der Inkompatibilität des Gemeineigentums mit einer Wettbewerbsordnung interpretiert werden.
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Innovationen im Systemvergleich: Der Einfluß des Wirtschaftssystems auf die Hervorbringung von Innovationen* Inhalt 1. Zur Bedeutung und zu einigen Problemen der Innovationstheorie
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2. Innovationsverhalten in sozialistischen Planwirtschaften
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2.1. Organisation und Planung der Innovationsprozesse
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2.2. Erklärung des Innovationsverhaltens
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2.3. Indikatoren der Innovationsfahigkeit
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3. Zu einigen Lehren aus dem Systemvergleich
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Literatur
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Zusammenfassung
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Summary
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Erstdruck in: Peter Oberender und Manfred E. Streit (Hg.), Marktwirtschaft und Innovation, Baden-Baden 1991, S. 163-182.
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1.
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Zur Bedeutung und zu einigen Problemen der Innovationstheorie
Im Rückblick zeichnen sich die 80er Jahre dieses Jahrhunderts durch bemerkenswerte Veränderungen aus. Für den Westen läßt sich der Wandel stichwortartig durch die Revitalisierung der Marktkräfte sowie die gleichlaufende Begrenzung des Wohlfahrtsstaates kennzeichnen. In den sozialistischen Ländern waren die Veränderungen ungleich dramatischer. Die traditionellen Säulen dieser Ordnungen in Gestalt der kommunistischen Einparteienherrschaft und der Planwirtschaft sind erschüttert worden und im Umbau begriffen. Bei der Frage nach den Ursachen dieses Wandels kann der Einfluß der Innovationen nicht übergangen werden. Innovationen waren und sind in allen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen eine Schlüsselgröße für die wirtschaftliche Entwicklung. Darüber hinaus beeinflussen sie das relative militärtechnische und politische Gewicht einzelner Staaten und indirekt einzelner Ideologien. Daher kann es auch kein Zufall sein, daß die Beschleunigung der wirtschaftlich-technischen Entwicklung das Hauptziel der sowjetischen Reformpolitik unter Gorbatschow bildet. Die Innovationstheorie wird der Bedeutung wirtschaftlich-technischer Neuerungen und dem in West und Ost gleichermaßen aktuellen Interesse an deren Bestimmungsgründen nur unvollkommen gerecht. Ein Blick auf die Entwicklung und einige Ansätze der Innovationstheorie verdeutlicht diese Einschätzung. Sieht man von dem genialen Beitrag von Schumpeter (1911) ab, so wurde die systematische Analyse der Innovationen bezeichnenderweise erst Mitte der 50er Jahre durch die makroökonomisch konzipierte Wachstumstheorie und speziell durch die eher zufallige Entdeckung des technischen Fortschritts als Restgröße eingeleitet (vgl. Solow 1970). Die durchwegs hohen Anteile, die dieser Größe für das Wirtschaftswachstum zugeschrieben wurden, waren ein Grund für den beträchtlichen Ausbau des Bildungswesens in den 60er Jahren. Ähnliche Wirkungen brachte die wohlfahrtsökonomische These, wonach private Inventionen und Innovationen zu gesamtwirtschaftlich positiven externen Effekten führen und daher vom Staat zu fördern sind (vgl. Arrow 1971). Einige Jahre später stand der relative Einfluß der Marktnachfrage und der Technologie im Mittelpunkt der theoretischen und empirischen Auseinandersetzung (vgl. Schmookler 1966). Die demand-pull-These legte eher eine Politik der staatlichen Nachfragesteuerung, die technology-push-These dagegen die staatliche Förderung der Grundlagenforschung nahe. Vergleichbare kontroverse Optionen für die Innovations- und Wettbewerbspolitik ergaben sich dann aus den verschiedenen Thesen und Befunden über den Einfluß bestimmter Marktstrukturen und Unternehmensgrößen auf die Innovationen. Das Aufkommen der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik anfangs der 80er Jahre und die nachfolgende Deregulierungs- und Standortdiskussion lenkten das Interesse auf die Rahmenbedingungen und deren innovationsfördernde Gestaltung. Diese Bedingungen umfassen alle innovationsrelevanten Faktoren; die für die Unternehmen extern vorgegeben sind (vgl. Kurz, Graf und Zarth 1989, S. 8 f.). Als letzte Spielart sei schließlich auf die These von der zunehmenden Globalisierung der Innovationsprozesse verwiesen, wonach die Mobilitäts-, Informations- und Transferbedingungen der Innovationen auf nationaler und internationaler Ebene effizient zu gestalten wären.
Innovationen im Systemvergleich
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Der kursorische Überblick macht deutlich, daß das Innovationsverhalten von einer Vielzahl von Determinanten beeinflußt wird, die in der folgenden Übersicht zusammengefaßt sind (in Anlehnung an Kurz, Graf und Zarth 1989, S. 10 ff.): Determinanten des Innovationsverhaltens" Markt
Technologie
-
Marktstruktur
-
Unternehmensgröße
— Erfindungen
-
Marktgröße -
— F & E-Aufwendungen
-
Marktentwicklung
— F & E-Personal
-
Wettbewerbspolitik
— Technologiepolitik
-
Staatsnachfrage
— Grundlagenforschung
— Militär- u. Raumfahrtsektor — Externe Effekte — Spinn-offs
Rahmenbedingungen -
Wertsystem u. -wandel
-
Technikakzeptanz,
—
Umweltbewußtsein
-
Bildungssystem, Steuerbelastung
-
Unternehmergeist
-
Führungsrolle der Politik
-
Staatsquote
-
Infrastruktur
-
Transferbedingungen
-
Sozial- und Arbeitsmarktordnung
-
Steuersystem
-
Außenwirtschaftsordnung
-
Technologie- und Industriepolitik
-
Patentschutz
-
Regulierungsdichte (etc.)
Materielle Anreize — Kosten (Lohn- und Kapitalkosten, Sozialabgaben) Steuerbelastung — Erlöse (Preise, Wechselkurse Subventionen)
Die Ausfacherung der Bestimmungsgründe spiegelt Fortschritte in der Innovationstheorie wider und ist von daher positiv zu bewerten. Dennoch lassen sich auch die theoretischen Defizite nicht übersehen. So existieren bisher keine theoretisch und empirisch ausreichend gesicherten Erkenntnisse über das relative Gewicht und die Einflußintensi" In Anlehnung an Kurz, Graf und Zarth, 1989, S. 10 ff.
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tät der Bestimmungsgründe, weshalb die praktische Innovationspolitik immer wieder auf modische Trends mit wechselnden und häufig hektisch verfolgten Interventionsstrategien reagiert. Die Unklarheiten betreffen besonders die zur Kategorie der Rahmenbedingungen zählenden Determinanten. Teilweise überschneiden diese sich mit den anderen kategorial unterschiedenen Determinanten, von denen nicht wenige ebenfalls extern gesetzte Bedingungen für die Unternehmen repräsentieren. Sowohl die Rahmenbedingungen als auch die anderen Determinanten beziehen sich zudem nur auf Gesellschaftsordnungen westlichen Typs, also auf demokratisch und marktwirtschaftlich geordnete Systeme. Die Ordnungsbedingungen von sozialistischen Planwirtschaften oder Entwicklungsländern werden nicht hinreichend berücksichtigt. Das deutet auf die systemspezifische Gebundenheit der dominierenden innovationstheoretischen Ansätze hin, die demgemäß nur wenig zur Klärung der hier anstehenden Frage nach dem Einfluß des Wirtschaftssystems auf das Innovationsverhalten beitragen können. Zur Überwindung dieser Defizite wäre es notwendig, die Rahmenbedingungen in Form von relativ dauerhaften und systemcharakteristischen institutionellen Regelungen zu spezifizieren. Die innovativen Effekte alternativer Systemregelungen ließen sich analytisch dann in Gestalt von Entscheidungsrestriktionen erfassen. Mit diesen Regelungen werden individuelle Handlungsrechte zugewiesen und damit der Bereich zulässiger Entscheidungsalternativen und sozialer Beziehungen abgegrenzt. Auf diese Weise werden Anreize und Kontrollen für das wirtschaftliche und innovative Verhalten begründet. Der abstrakt beschriebene Zusammenhang zwischen den Wirtschaftsbedingungen und dem Innovationsverhalten soll im folgenden am Beispiel sozialistischer Planwirtschaften konkretisiert werden. Dazu wird im ersten Schritt eine knappe Übersicht über die Organisation der Innovationsprozesse in der DDR und der Sowjetunion gegeben (2.1.). Im zweiten Schritt gilt es dann, die mit diesen Regelungen verbundenen Wirkungen auf das Innovationsverhalten zu bestimmen (2.2.). Anschließend sollen einige empirische Ergebnisse zur Innovationsfahigkeit der sowjetischen und der DDR-Wirtschaft zusammengefaßt werden (2.3.). Davon erwarten wir uns schließlich auch Aufschlüsse über das relative Gewicht der Innovationsdeterminanten in westlichen Marktwirtschaften (3.).
2.
Innovationsverhalten in sozialistischen Planwirtschaften
2.1. Organisation und Planung der Innovationsprozesse Wegen der dramatischen Veränderungen in sozialistischen Planwirtschaften ist man versucht, auch wissenschaftliche Untersuchungen mit dem Satz zu beginnen: „Es war einmal...". In der Tat waren in den 80er Jahren die Sowjetunion und die DDR prototypische sozialistische Planwirtschaften. Deshalb und weil für diese beiden Länder das relativ beste empirische Datenmaterial über die Innovationsfahigkeit verfügbar ist, sollen sie als Untersuchungs- und Vergleichsobjekte ausgewählt werden. Die folgenden Ausfuhrungen beziehen sich hauptsächlich auf die in der DDR in den 80er Jahren geltenden Regelungen.
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Danach erfolgte die Planung von Wissenschaft und Technik als Teil der zentralen Volkswirtschaftsplanung und umfaßte eine Hierarchie von Teilplänen. Den wichtigsten Teilplan bildete der „Staatsplan Wissenschaft und Technik", in dem die volkswirtschaftlich strategischen Neuerungen zu planen und über Auflagen oder Staatsaufträge zu realisieren waren. Die Planziele waren an den Direktiven der Partei- und Staatsfuhrung und den staatlichen Ziel- sowie den Komplexprogrammen der RGW-Mitgliedsländer zu orientieren. Aufstellung und Koordination der Pläne oblagen der Staatlichen Plankommission und dem Ministerium für Wissenschaft und Technik. Weitere Teilpläne waren die Pläne „Wissenschaft und Technik" der Ministerien und Bezirksorgane, der „Plan der Grundlagenforschung", für den die Akademie der Wissenschaften und das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen zuständig waren, und schließlich die von dezentralen Einheiten, also von den Kombinaten, Betrieben und Forschungs- und Entwicklungseinheiten aufzustellenden Pläne. Diese dezentralen Pläne umfaßten erstens die verbindlichen zentralen Staats aufgaben und zweitens die eigenverantwortlich zu planenden Neuerungsaufgaben. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Aufgaben außerhalb des Staatsplans mit diesem Kernplan in engem Zusammenhang standen und der Detaillierung und Ergänzung der zentralen Aufgaben dienten (vgl. Leipold 1983, 1989; Lauterbach 1982; Materialien 1987, S.156 ff.). Die Pläne „Wissenschaft und Technik" waren auf allen Ebenen untereinander und vor allem mit den anderen Teilplänen, also mit den Produktions-, Investitions-, Material-, Arbeitskräfte-, Außenhandels- oder Finanzplänen abzustimmen und abschließend gegenüber den übergeordneten Instanzen zu verteidigen. Die endgültige Koordination und Bilanzierung erfolgte durch die Staatliche Plankommission. Der fertige Volkswirtschaftsplan wurde schließlich als Gesetz verabschiedet, womit die in Form von Staatsaufträgen, Auflagen oder Kennziffern detaillierten Planziele auf allen Ebenen und für alle Wirtschaftseinheiten verbindlich und damit zu erfüllen waren. Die Entscheidungskompetenzen zeichneten sich also durch einen hohen Zentralisierungsgrad aus, der in der DDR neben der Planung der Wirtschafts- und Neuerungsprozesse systembedingt auch für das staatliche Außenhandels- und Devisenmonopol galt. Demgemäß war das gesamte Wirtschaftssystem hierarchisch mit von oben nach unten abgestuften Kompetenzen organisiert. Die staatseigenen Forschungs-, Entwicklungs-, Produktions- und Handelsbetriebe waren folgerichtig lediglich operative Verwaltungsorgane des einheitlichen Volks- oder Staatsvermögens, über das sie gemäß den Aufgaben des Volkswirtschaftsplanes und dem Gebot der Planerfüllung verfügen konnten. Auf den verschiedenen Leitungsebenen bestand das Prinzip der Einzelleitung und Alleinverantwortung, was eine notwendige Bedingung für die zügige Realisierung und effektive Kontrolle der zentralen Vorgaben war. Die am Beispiel der DDR dargestellten Regelungen galten und gelten mit geringen Abweichungen auch für die Sowjetunion. Die Leitidee der unter Gorbatschow eingeleiteten Perestrojka besteht darin, erstens die Kompetenzen der zentralen Partei- und Staatsorgane auf die Planung der grundlegenden wirtschaftlichen Proportionen einschließlich der wirtschaftlich- technischen Entwicklung zu konzentrieren und die strategischen Ziele über Staatsaufträge durchzusetzen, zweitens die direktive Planung der
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laufenden Wirtschaftsprozesse durch ökonomische oder indirekte Leitungsmethoden zu ersetzen, drittens die Entscheidungskompetenzen der Betriebe zu erweitern und durch das Prinzip der wirtschaftlichen Rechnungsführung zu sichern und viertens die Arbeitsmotivation der Beschäftigten durch leistungsabhängige Entgelte zu stimulieren. Die Dominanz der zentralen Planung und Leitung der wirtschaftlich-technischen Entwicklung ist also durch die Perestrojka bisher noch nicht in Frage gestellt worden (vgl. Leipold 1990).
2.2. Erklärung des Innovationsverhaltens Im folgenden sind die sich aus diesen Regelungen ergebenden Wirkungen auf das Innovationsverhalten zu erklären. Dazu werden die auf der Ebene der verschiedenen zentralen Leitungsorgane, z. B. der Parteiapparate, der Branchenministerien und der anderen Ämter sowie die auf betrieblicher Ebene geltenden Anreize und Restriktionen untersucht. Da es sich hierbei durchwegs um staatlich-bürokratische Organisationen handelt, bieten sich die ökonomische Theorie der Property Rights und der Bürokratie als adäquate Erklärungsansätze an (vgl. Leipold 1983, 1990; Berliner 1976; Poznanski 1987). In den bisherigen oder noch real existierenden Planwirtschaften zeichnet sich der eigentumsrechtliche Status der Leiter staatlicher Ministerien und Ämter dadurch aus, daß der Umfang der Verfügungsrechte beträchtlich, jener der Nutzungsrechte dagegen eng begrenzt ist. Sie können Neuerungen initiieren, koordinieren und per Auflagen oder Staatsaufträge an die Betriebe durchsetzen. Sie können jedoch legal weder Anteile am staatlichen Produktivvermögen erwerben noch sich die betrieblichen Erfolge oder Mißerfolge exklusiv aneignen. Verfugungsrechte und materielle Verantwortlichkeiten sind bei Staatseigentum sowohl auf zentraler als auch auf betrieblicher Ebene weitgehend entkoppelt. Infolge der Zentralisierung der Neuerungskompetenzen reduzieren sich die Verfügungsrechte der Betriebsleiter auf die Möglichkeit, Neuerungen in begrenztem Umfang zu initiieren, die jedoch regelmäßig der zentralen Genehmigung und Planabsicherung bedürfen, ferner auf die Detaillierung und Erfüllung der zentral vorgegebenen Aufgaben. Der Leistungserfolg wird nach Maßgabe der Planerfüllung bewertet und prämiert. Dabei erweisen sich Innovationen wegen der technischen und ökonomischen Risiken als Störfaktor. Neue Verfahren oder Produkte erfordern auch Umstellungen der laufenden Betriebsprozesse. Der Einsatz von Faktoren für risikoreiche Neuerungen gefährdet angesichts permanenter Unsicherheiten über die Zuteilung von Materialien, Energie und anderen Faktoren die Erfüllung sowohl des Plans Wissenschaft und Technik als auch der laufenden Produktionsziele. Die Leiter der staatseigenen Betriebe präferieren daher routinemäßige Abläufe und warten zumindest ab, bis Neuerungen planmäßig vorgegeben werden und materiell-technisch im Plan abgesichert sind. Als Folge des Staatseigentums und des Planerfüllungsgebots sind weder auf zentraler noch auf betrieblicher Ebene Individuen mit wirksamen markt- und rentabilitätsbezogenen Interessen auszumachen. Das Verhalten der zentralen Leitungsorgane wird von bürokratisch-politischen Motiven bestimmt. Im Falle etwa der einflußreichen Branchenministerien äußern sich diese Motive in dem Ziel, möglichst großzügige Zuteilungen an Budgetmitteln, Arbeitskräften und Material als Voraussetzung für das Wachstum der
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Branchenproduktion zu erhalten. Mit diesem Ziel verbindet sich jedoch kein Interesse am effizienten Ressourceneinsatz und dessen Kontrolle, damit an kostensparenden Verfahrensneuerungen. Bürokratieleiter präferieren daher eine Wachstumsstrategie mit bewährten Produktionsverfahren und Sortimenten. Sie unterliegen dabei selber keiner strengen Wirtschaftlichkeitskontrolle, weil sich niemand die dadurch möglichen Erträge zurechnen kann. Unter sozialistischen Eigentumsverhältnissen gerät die Kontrolle über das Vermögen und den Ressourceneinsatz zu einem öffentlichen Gut. Das ist die tiefer liegende Ursache dafür, daß staatliche Betriebe kostenintensiv und neuerungsträge wirtschaften. Natürlich versucht die Partei- und Staatsführung , dieser Neuerungsträgheit durch periodisch initiierte Vervollkommnungsstrategien, technologische Schwerpunktförderungen, Exportoffensiven, Kaderaustausch, Privilegien oder Masseninitiativen entgegenzuwirken. Die Anreizwirkungen nutzen sich ab, je häufiger solche Maßnahmen propagiert werden und fallen mager aus, weil sie auf immanente bürokratische Beharrungsinteressen und eigentumsrechtliche Restriktionen stoßen. Das Vorhaben, den wirtschaftlich-technischen Fortschritt zentral und bewußt planen und durchsetzen zu wollen, wird zudem durch die mangelnde Zentralisierbarkeit neuen Wissens behindert. Auf dieses Problem hat Hayek (1952) bereits früh hingewiesen. Es gilt einmal für das „Wissen der besonderen Umstände von Ort und Zeit", das sich statistisch nur begrenzt aggregieren und demgemäß zentralisieren läßt. Noch schwieriger gestalten sich die Planung und Koordinierung des neuen technischen Wissens, weil dies verlangen würde, Art, Zeit und Ort des Auftretens neuen Wissens zu kennen. Diese Möglichkeit besteht gerade bei Innovationen nicht, deren Auftreten und Ergebnis wesensmäßig offen sind. Das zu ihrer Planung und Abstimmung notwendige Wissen ergibt sich im Wege von Entdeckungen und Erprobungen. Bei zentraler Planung würde ein schnelles Reagieren auf das sich erst im Planvollzug ergebende neue Wissen eine flexible Korrektur der Planziele einschließlich der durch Planauflagen materiell-technisch abgesicherten Güterverflechtungen erfordern. Diesen Anforderungen kann die zentrale Planung jedoch nur begrenzt genügen. Daraus erklärt sich auch, weshalb die an sich schon moderaten Ziele im Bereich Wissenschaft und Technik häufig nicht erfüllt werden konnten, (vgl. Röpke 1976; Nick 1978; Maier 1987). Als letzte ordnungsbedingte Restriktion sei auf die mangelhafte weltwirtschaftliche Integration der sozialistischen Planwirtschaft verwiesen. Aufgrund des staatlichen Außenhandels* und Devisenmonopols zeichnen sich diese Systeme durch einen hohen Grad der Isolierung gegenüber marktwirtschaftlichen Prozessen und der davon ausgehenden Innovationsdynamik aus. Deswegen mangelt es den planwirtschaftlich geleiteten Betrieben sowohl an Möglichkeiten als auch an Anreizen, am Verlauf und an den Ergebnissen der internationalen technologischen Entwicklung effektiv partizipieren und davon lernen zu können. Die relativ unabhängig entwickelten und hergestellten Neuerungen sind häufig technisch rückständig, teuer und nur bedingt international konkurrenzfähig. Es bleibt festzuhalten, daß die angeführten und meist restriktiven Bestimmungsgrößen des Innovationsverhaltens sämtlich in den dauerhaften Ordnungs- oder Rahmenbedingungen der sozialistischen Planwirtschaften angelegt sind. Im folgenden werden ei-
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Heimut Leipold
nige empirische Ergebnisse zusammengefaßt, welche die Innovationsfähigkeit der Plan wirtschaften in der Sowjetunion, der DDR und anderen RGW-Ländern für die 70er und 80er Jahre indizieren und unsere Analyse der ordnungsbedingten Innovationsschwächen belegen sollen.
2.3. Indikatoren der Innovationsfahigkeit Bekanntlich ist die Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft eine mehrdimensionale Kategorie. Innovationen sind das Resultat vielfaltiger wissenschaftlicher, erfinderischer, technischer, unternehmerischer und wirtschaftspolitischer Fähigkeiten, deren quantitative Erfassung schwierig ist. Daher wird die Innovationsfähigkeit anhand mehrerer Indikatoren erfaßt, die sich sowohl auf den Input als auch auf den Output von Forschung und Entwicklung beziehen (vgl. Hanson and Pavitt 1987; Poznanski 1987). Die üblichen Input-Indikatoren fallen für die sozialistischen Planwirtschaften und speziell für die Sowjetunion und die: DDR günstig aus. Mitte der 80er Jahre waren in der Sowjetunion über 1,4 Mio. qualifizierte Wissenschaftler und Techniker in Forschung und Entwicklung beschäftigt, womit die sowjetische Wirtschaft über ca. ein Viertel der weltweit in diesem Bereich tätigen Personen verfügte. Die hohe Priorität kommt auch in den Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung zum Ausdruck, deren Anteil am sowjetischen Volkseinkommen auf 3,6 vH veranschlagt wird. Diese international beachtlichen Inputwerte sind vor allem auf den hohen Stellenwert des Militär- und Raumfahrtsektors zurückzufuhren. Nach seriösen Schätzungen absorbierte dieser Sektor in den 80er Jahren zwischen 50-60 vH der Aufwendungen und 60 vH aller Wissenschaftler und Techniker {Hanson and Pavitt 1987; Schröder 1988). Auch die DDR schneidet im internationalen Vergleich gut ab. Die Zahl der Beschäftigten in Forschung und Entwicklung betrug 1985 ca. 200 000. Der Anteil der Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen am Nationaleinkommen erreichte 4,1 vH. In absoluten Zahlen waren dies ca. 10 Mrd. Ostmark (vgl. Statistisches Jahrbuch DDR 1987, S. 103, 124; Maier 1987, S. 121; Materialien 1987, S. 327 ff.). Der Grundlagenforschung wird in ausgewählten Bereichen sowohl in der Sowjetunion als auch der DDR hoher internationaler Standard attestiert. Die Schwachstelle ist die Umsetzung des Wissens in neue Verfahren und Produkte und deren breite Anwendung und Verwertung. Evidenz für die Sowjetunion liefern die von der Birmingham-Gruppe durchgeführten empirischen Studien über den technologischen Standard einzelner Industriezweige (vgl. Amann and Cooper 1982, 1986). Danach soll die Technik der sowjetischen Wasser-, Kohle- und Kernkraftwerke noch internationalen Anforderungen genügen. Dagegen zeichnet sich die Eisen- und Stahlindustrie durch veraltete Techniken aus. So hat das im Westen übliche Sauerstoffblasverfahren erst einen Anteil von ca. 20 vH an der Stahlerzeugung. Die gewichtigsten Problembranchen sind die Maschinenbau-, Computer- und die Gebrauchsgüterindustrie. So erneuert sich das Sortiment im Maschinenbau in einem Zyklus von 16 Jahren, während im Westen dafür 3-4 Jahre üblich sind. Demgemäß wird geschätzt, daß die Maschinenkapazitäten im Durchschnitt 15 Jahre älter sind und die Reparaturkosten 25 vH der Investitionskosten in einzelnen Branchen beanspruchen. Ahnliche Defizite bestehen in der
Innovationen im
Systemvergleich
81
Computer- und Informationsverarbeitungstechnologie. Nach Expertenschätzungen betragen die Rückstände gegenüber amerikanischen Standards bei Mikroprozessoren und Computertypen 8 - 1 0 Jahre, während bei der Software noch größere Rückstände veranschlagt werden. Die breitenwirksame Anwendung dieser Schlüsseltechnologie etwa im betrieblichen Leitungs- und Rechnungswesen sowie in der Produktionssteuerung steht noch aus (vgl. Maier 1987; Leipold 1990). Das Mißverhältnis zwischen großzügigem Input und innovatorischer Outputschwäche wird auch durch die Studie von Slama (1981) belegt, in der die 27 entwickelten Industriestaaten in West und Ost einbezogen und die relative innovatorische Leistungsfähigkeit verglichen werden. Die Sowjetunion erreicht beim Forschungspersonal einen Anteil von 44 vH, womit sie bei diesem Inputwert weltweit führend ist. Dem hohen Input entsprechen jedoch nur mäßige relative Erfolge beim Output von Forschung und Entwicklung. Bei den Patentanmeldungen durch Inländer erreicht sie 30 vH, bei denen im Ausland nur ganze 1,28 vH. Die Rückstände werden anhand der Ex- und Importanteile in den technologieintensiven Branchen des Maschinenbaus und der Chemieindustrie deutlich. Bei den Exporten von Maschinenbauerzeugnissen erreicht sie einen relativen Anteil von 2,78 vH, bei den Exporten der chemischen Erzeugnisse lediglich 1,37 vH. Auch für die DDR und die anderen RGW-Länder belegt die Studie eine deutliche Innovationsschwäche (vgl. Tab. 5). Die Sowjetunion verfügt außer den Gütern des Militär- und Raumfahrtsektors kaum über Produkte, die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig wären. Nach wie vor resultieren mehr als zwei Drittel der Einnahmen an harten Währungen aus Roh- und Brennstoffexporten. Die Exportstruktur steht im krassen Widerspruch zur Industriestruktur, die sich westlichen Mustern angenähert hat. Die faktische Exportstruktur entspricht dagegen jener von rohstoffreichen Entwicklungsländern. Auffallend ist zudem, daß die Exportanteile bei kapital-und technologieintensiven Gütern nicht nur niedrig, sondern vor allem rückläufig sind. Die Sowjetunion teilt diese Entwicklung mit der DDR und anderen RGW-Ländern, deren Marktanteile an den Importen der EG-und OECD-Länder vor allem gegenüber den neuen Industrieländern (NIC) kontinuierlich geschrumpft sind. Evidenz dafür liefern die Vergleichsuntersuchungen von Poznanski (1987, 1988) und Kostrzewa (1988). Hier sollen nur die markanten Ergebnisse zusammengefaßt werden. Die Anteile der sozialistischen Wirtschaftssysteme Osteuropas an den Importen der EG-Länder fielen von 2 vH (1970) auf 1,5 vH (1984), was einen Rückgang von 25 vH bedeutet. Dagegen stiegen die entsprechenden Anteile der NIC von 2,5 vH (1970) auf 3,7 vH (1984), was eine Steigerung um 48 vH ausmacht (vgl. Poznanski 1988, S. 583). Auch bei den OECD-Importen verloren die RGW-Länder Marktanteile. Bei den Industriegütern gingen die Anteile der Sowjetunion von 0,69 vH (1965) auf 0,35 vH (1986), die der übrigen RGW-Länder von 1,23 vH (1965) auf 0,94 vH (1986) zurück (vgl. Tab. 1). Die Klassifikation der OECD-Importe nach Güterarten gibt Aufschluß über die relativen Verluste und Gewinne (vgl. Tab. 2 und 3). Während die Exportstruktur der RGW- Länder sich durch hohe Anteile bei rohstoffintensiven Gütern und niedrige sowie sinkende oder stagnierende Anteile bei kapital- und forschungsintensiven Gütern auszeichnet, konnten die asiatischen Schwellenländer den Anteil der rohstoffintensiven Güter beträchtlich reduzieren und den der forschungsintensiven Güter beträchtlich
82
Helmut Leipold
erhöhen. Kostrzewa (1988, S. 30 ff.) weist außerdem anhand des „revealed comparative advantage-Konzepts" nach, daß die DDR in ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit besonders bei forschungsintensiven Gütern Marktanteile preisgeben mußte. Paradoxerweise konnte sie als rohstoffarmes Land lediglich bei rohstoffintensiven Gütern (chemische Veredlungsgüter) ihre Position halten. Nach Kostrzewa (1988, S. 35) besteht für die DDR und die anderen RGW-Länder die Gefahr, daß sie auf die Stufe neuer unterentwickelter Länder (Newly Underdeveloped Countries) zurückfallen. Diese Einschätzung wird auch durch den Vergleich des Export-Einheits-Werts (Export Unit Value) erhärtet. Dieser Indikator mißt den per Einheit oder per Kilogramm exportierter Güter erzielten Preis. Hohe oder ansteigende Werte indizieren eine hohe bzw. verbesserte Innovationsfähigkeit der Volkswirtschaft. Der in Tabelle 4 ausgewiesene und für Industriegüter im Zeitraum 1978-84 kalkulierte Vergleich der Exportwerte zwischen den Ländern Westeuropas, Osteuropas einschließlich der Sowjetunion und den neuen Industrieländern belegt, daß die Exportwerte der sozialistischen Wirtschaftssysteme im Durchschnitt um rd. 60-70 vH unterhalb denen der westeuropäischen Marktwirtschaften lagen. Die sozialistischen Systeme mußten demnach nahezu die dreifache Menge an Ressourcen einsetzen, um den gleichen Exportwert wie die marktwirtschaftliche Konkurrenz erwirtschaften zu können. Ein analoges Mißverhältnis charakterisiert auch den innerdeutschen Handel, an dessen Entwicklung sich die systembedingten Unterschiede der Innovationsfahigkeit besonders drastisch belegen lassen (vgl. Maier und Maier 1989). Die Bundesrepublik konnte im Vergleich zur DDR in 1987 insgesamt einen 2.8 fach höheren, bei Investitionsgütern sogar den 5.2 fach höheren Kilopreis pro gelieferter Gütereinheit erzielen. Aufschlußreich ist auch hier ein Blick auf die Veränderung der relativen Kilopreise im Zeitraum 1970-1987. Im Maschinenbau erzielte die Bundesrepublik 1970 einen 1,8 fach höheren Kilopreis und im Jahre 1987 bereits den 6 fach höheren Kilopreis. Beim Handel mit Büromaschinen weitete sich die 6 fach höhere Wertschöpfung in 17 Jahren auf das 11.4 fache pro Kilo Lieferung aus. Bei den chemischen Erzeugnissen büßte die DDR ihren 1970 noch erzielten komparativen Vorteil ein. Im Jahre 1987 erwirtschaftete die Bundesrepublik die 3 fach höhere Wertschöpfung. Bei den Grundstoffen, Chemieerzeugnissen und Investitionsgütern erbrachte der innerdeutsche Handel für die Bundesrepublik insgesamt eine 4fach größere Summe an Verrechnungseinheiten gegenüber der DDR. Der damit verbundene ungleich höhere Ressourcenaufwand indiziert augenfällig die geringere und kontinuierlich sinkende Innovationsfahigkeit der DDR-Wirtschaft. Die Verfasser der hier angeführten Vergleichsstudie sehen eine wesentliche Ursache dafür in der rückständigen Entwicklung und Anwendung der Mikroelektronik (vgl. Maier und Maier 1989. S. 183 f.). Seit 1980 versuchte die DDR, bei dieser Schlüsseltechnologie gleichsam im Alleingang den Anschluß an die Weltmarktentwicklung zu erreichen. Dieses Vorhaben hat enorme Aufwendungen und Investitionen (14 Mrd Mark) gekostet, die dennoch nicht verhindern konnten, daß die Massenproduktion von mikroelektronischen Speicher- und Rechenelementen hoffnungslos der internationalen Konkurrenz hinterherhinkte. Die durch staatliche Vorgaben veranlaßte Konzentration des innovativen Potentials auf die Entwicklung und Herstellung einer Schlüsseltechnologie mußte
Innovationen im Systemvergleich
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wegen der Knappheit der Mittel zwangsläufig die Entwicklungsdynamik in anderen Wirtschaftszweigen beeinträchtigen. Die breitenwirksame Anwendung der Mikroelektronik in den verschiedenen Investitions-, Gebrauchs- und Konsumgütern wurde weitgehend verschlafen. Die DDR und die Sowjetunion liefern in den Bereichen der Mikroelektronik und der Militär- und Raumfahrttechnologie daher plastische Beispiele für die unbeabsichtigten Konsequenzen einer direktiven staatlichen Investitionspolitik. Diese Politik kann zwar wegen der Konzentration der Mittel einzelne und sogar wettbewerbsfähige technologische Spitzenleistungen zustande bringen. Der Chance steht jedoch das Risiko entgegen, daß neue Verfahren und Produkte entwickelt und hergestellt werden, die sich als kostspielige Nacherfindungen oder sogar als Fehlschlag erweisen. Zudem droht die Gefahr, daß die Entwicklung komplementärer technischer und organisatorischer Lösungen und die breite Anwendung von Innovationen vernachlässigt werden. Damit ist ein Problem angedeutet, das auch bei der direkten Forschungs- und Innovationspolitik in Marktwirtschaften zu berücksichtigen ist (vgl. Streit 1984; Oberender und Rüter 1987). In marktwirtschaftlichen Ordnungen unterliegen die Entwicklung, Durchsetzung und Anwendung von Neuerungen jedoch hauptsächlich der unternehmerischen, dezentralen Verantwortlichkeit, womit der wesentliche Unterschied gegenüber sozialistischen Planwirtschaften genannt ist.
3.
Zu einigen Lehren aus dem Systemvergleich
Es bleibt abschließend zu fragen, welche Erkenntnisse und Schlußfolgerungen sich für die Innovationstheorie aus der Analyse der sozialistischen Planwirtschaften ergeben. Mit Bezug zu den einleitenden Ausführungen interessiert vor allem die kontrovers diskutierte Frage nach dem relativen Gewicht der Determinanten des Innovationsverhaltens. Die empirisch nachweisbare Innovationsschwäche der sozialistischen Planwirtschaften belegt offenkundig, daß die Ordnungsbedingungen einen gewichtigen Einfluß auf die Innovationsprozesse ausüben. Im Detail wird deutlich, daß erstens relativ hohe finanzielle Aufwendungen für Forschung und Entwicklung einschließlich für Bildung und damit für die Schaffung eines qualifizierten Potentials an Wissenschaftlern und Technikern keine Garantie dafür sind, daß international wettbewerbsfähige Innovationen erreicht werden. Zweitens zeigt sich, daß der Politik der direkten staatlichen Förderung von Schlüsseltechnologien immanente Schwächen innewohnen, die z.B. in international nicht wettbewerbsfähigen Produktions- und Exportstrukturen, in technologischen Rückständigkeiten und in der ansteigenden Verschuldung gegenüber dem Westen zum Ausdruck kommen. Drittens läßt sich belegen, daß die Sicherung einer stabilen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage mit der gezielten Ausrichtung auf einzelne Schwerpunkte, wie z.B. den Militär- und Raumfahrtsektor oder die Mikroelektronik, weder die Stimulierung kontinuierlicher innovativer Anstrengungen noch die Verwertung einzelner geforderter Technologien in verschiedenen vor-, nach- oder nebengelagerten Wirtschaftszweigen gewährleisten. Viertens erweisen sich die staatliche Initiierung von periodischen Innovations- und Exportoffensiven oder die Mobilisierung von Masseninitiativen etwa in Form der Neuererbewegung
84
Helmut Leipold
und des sozialistischen Wettbewerbs als ungeeignet, um anspruchsvolle wirtschaftlichtechnische Leistungen zu stimulieren. D i e ß n f t e und wichtigste Erkenntnis besteht darin, daß das innovative Versagen der untersuchten sozialistischen Systeme in den spezifischen Ordnungsbedingungen angelegt ist. Die ordnungspolitische Alternative des auf unternehmerischen Initiativen beruhenden marktwirtschaftlichen Systems, dessen Ergebnisse ja den Vergleichsmaßstab für das innovative Versagen der Planwirtschaften liefern, bietet offensichtlich sehr viel effektivere Rahmenbedingungen für das Innovationsverhalten. Die theoretische Begründung dafür kann hier nur angedeutet werden (vgl. Röpke 1977; Leipold 1983). Innovationen entfalten sich nach Maßgabe der rechtlichinstitutionellen Bedingungen, die den Zusammenhang und die Intensität von individuellen Leistungen und externen Herausforderungen begründen. Auf der Ebene der Individuen geht es um die Entfaltung von innovativen Fähigkeiten um Motivationen. Innovatives Verhalten verlangt aktive, kreative und risikobereite, kurz gefaßt also unternehmerische Fähigkeiten. Es verlangt ferner Entscheidungsautonomie. Kontrolle über den Handlungsablauf und objektive Bestätigung der eigenen Leistung. Je besser diese Bedingungen des innovativen Verhaltens institutionell gewährleistet sind, desto effektiver wird es motiviert und desto besser kann es sich entfalten. Von den denkbaren ordnungspolitischen Alternativen versprechen private Eigentums- und Handlungsrechte in Verbindung mit Vertrags-, Organisations- und Wettbewerbsfreiheit diejenigen Bedingungen zu sein, innerhalb deren das Innovationsverhalten am wirksamsten stimuliert wird. Erst wenn diese Freiheiten verfassungsrechtlich garantiert sind, können sich wettbewerbliche Märkte und Organisationsstrukturen entfalten, die ihrerseits optimale externe Bedingungen für die Herausforderung individueller Leistungen begründen. Wettbewerbliche Märkte zeichnen sich bekanntlich durch permanente Vorstöße einzelner Unternehmer aus, die die Konkurrenten zu Reaktionen herausfordern, sofern sie ihre Markt- und Vermögenspositionen nicht gefährden wollen. Die Anbieter sehen sich so ständig mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Die dem Wettbewerb eigene Unsicherheit begründet sowohl Anreize als auch den notwendigen Druck zu Neuerungen. Der Anreiz ergibt sich für Unternehmer daraus, die eigene Tüchtigkeit im Wettstreit erproben und über den Markterfolg bestätigen zu können. Weil die erzielten Gewinne die Leistung in gebündelter Form indizieren, werden sie als objektiver Maßstab der Tüchtigkeit akzeptiert. Da Gewinne andererseits eine notwendige Bedingung für das Überleben der Unternehmen sind, kann sich niemand diesem Druck dauerhaft entziehen (vgl. Röpke 1977, S. 391). Die stimulierende Wirkung kompetitiver Marktprozesse auf das Innovationsverhalten ist durch eine Vielzahl empirischer Untersuchungen belegt (vgl. Leipold 1983, S. 108 ff.). Im Vergleich zu diesen kompetitiven Ordnungsbedingungen ist der Einfluß der anderen einleitend genannten Determinanten des Innovationsverhaltens zu relativieren und d.h. geringer einzuschätzen. Diese Bewertung gilt insbesondere für die staatliche Innovationspolitik, die in den verschiedenen Varianten der Forschungs-, Bildungs-, Technologie {park)-, Industrie-, Umwelt-, Regional-, Struktur- oder Beschäftigungspolitik Innovationen gezielt und mit mehr oder weniger dirigistischen Methoden zu fördern versucht. Das Versagen der zentralen staatlichen Innovationspolitik in den sozialistischen Planwirtschaften sollte die Einsicht bekräftigen, daß die wirksamste Innovationsförde-
Innovationen im Systemvergleich
85
rung von einer Politik zu erwarten ist, welche sich auf die Herstellung wettbewerblicher Rahmenbedingungen konzentriert.
Anhang Tabelle 1: Anteile der RGW-Staaten an OECD-Importen (in Prozent) 1965
1970
1975
1980
1985
1986
Erzeugnisse UdSSR RGW (ohne UdSSR)
1,38 1,62
1,14 1,56
1,44 1,56
1,73 1,31
1,54 1,14
1.33 1,12
Industrieerzeugnisse UdSSR RGW (ohne UdSSR)
0,69 1.23
0,48 1,24
0,50 1,44
0,51 1,35
0,32 0,96
0,35 0,94
Quelle: Kostrzewa (1988, S. 5). Tabelle 2: Exportstruktur der RGW-Staaten und der asiatischen Schwellenländer in OECD-Ländern Rohstoffintensive Güter
Arbeitsintensive Güter
Kapitalintensive Güter
Leichtimitierbare forschungsintensive Güter
Schwerimitierbare forschungsintensive Güter
1965 1986
55,1 57,8
16,6 17,2
18,3 11,9
4,7 7,0
5.3 6,2
Asiatische Schwellenländer 1 ' 1965 1986
38.8 8,8
43,3 50,4
13,6 5,8
2,1 17,5
2,3 17,5
RGW
1) Hongkong, Malaysia, Singapur, Südkorea, Taiwan Quelle: Kostrzewa (1988, S. 22).
Helmut Leipold
86
Tabelle 3: Anteile der RGW-Staaten und der asiatischen Schwellenländer an den OECD-Importen einzelner Güterarten Rohstoffintensive Güter
Arbeitsintensive Güter
Kapitalintensive Güter
Leichtimitierbare forschungsintensive Güter
Schwerimitierbare forschungsintensive Güter
1965 1986
5,5 6,9
2,1 1,8
2,6 1,3
1,6 1,1
0,9 0,7
Asiatische Schwellenländer21 1965 1986
2,3 2,8
3,3 14,5
1,2 1,8
0,5 7,5
0,2 5,7
RGW
2) Hongkong, Malaysia, Singapur, Südkorea, Taiwan Quelle: Kostrzewa (1988, S. 25). Tabelle 4: Exporteinheitswerte für Industriegüter aus EG-Ländern (EG), Osteuropa (OE) und asiatischen Schwellenländern (NIC) (in ECU pro Kilogramm) Produkt Nähmaschinen
Schreibmaschinen Datenverarbeitungs anlagen Kugellager
Personenkraftfahrzeuge
Staubsauger
Radiogeräte Quelle: Poznanski (1989, S. 594).
Länder
1978
1984
EG OE NIC EG OE NIC EG OE NIC EG OE NIC EG OE NIC EG OE NIC EG OE NIC
13,69 4,34 3,52 17,36 7,45 9,31 58,93 16,09 80,18 7,99 3,34 7,60 3,67 1,70 3,37 6,06 1,96 3,66 19,44 11,26 9,59
21,93 4,94 8,25 31,64 8,22 17,15 93,85 39,00 52,99 10,08 4,70 12,29 6,13 2,17 4,59 8,30 3,52 6,98 20,34 6,08 16,62
Innovationen im Systemvergleich
87
Tabelle 5: Innovationsleistung der RGW-Länder im Vergleich* Forschungspersonal
Patentanmeldungen
Maschinenbauerzeu znisse
Ini.
Ausi.
Ex.
Imp.
Ex.
Imp.
52,73
36,08
3,51
10,22
15,24
5,88
11,02
UdSSR
43,90
3,33
1,28
2,78
7,12
1,37
4,19
DDR
1,50
1,23
0,76
1,96
1,40
1,38
1,16
Westen
46,65
63,67
96,43
89,27
83,09
93,64
87,33
19,75
18,76
9,72
21,07
12,82
RGW
Chemische Erzeu gnisse
darunter:
darunter: BRD
3,76
6,56
USA 19,66 13,24 30,27 16,89 16,25 15,07 5,74 * In der Vergleichsstudie wurden 27 Industrieländer, darunter 7 RGW-Länder, erfaßt. Die Daten geben die prozentualen Anteile der RGW-Länder und der westlichen Länder an der Stichprobe von 27 Ländern an.
Quelle: Slama (1981, S. 148).
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Innovationen im
Systemvergleich
89
Unternehmer für die wirtschaftliche Entwicklung erkannt hat. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, daß die sozialistischen Planwirtschaften nicht imstande waren, die mit dem Strukturwandel verbundenen Herausforderungen zu bewältigen. Das Scheitern des Sozialismus ist deshalb maßgeblich im innovativen Versagen begründet. Der Vergleich der Innovationsfahigkeit von sozialistischen Planwirtschaften und westlichen Marktwirtschaften soll erstens das innovative Versagen der Planwirtschaften belegen und zweitens Aufschlüsse über das empirisch bisher nicht ausreichend gesicherte Gewicht der einzelnen Innovationsdeterminanten in Marktwirtschaften vermitteln.
Summary The 80s in retrospect have been marked with a far-reaching structural and institutional change in East and West. They are, therefore, named Schumpeter's era, who was the first to recognise the meaning of innovation for the economic development. This article should show that the centrally planned economies were incapable to overcome the challenges associated with the structural changes. The break-down of socialism is as a result decisively caused by the innovative failure. The comparison of innovative capabilities of centrally planned economies and western market economies should first prove the innovative failure of planned economies and second, clarify the importance of the single innovative determinants in market economies that until now have not been empirically secure enough.
Ordnungspolitische Implikationen der
Inhalt 1. Einleitung
92
2. Die Transaktionskostenökonomie im Überblick
93
3. Zur Problematik der transaktionsbezogerien Betrachtungsweise
99
4. Ansatzpunkte zur differenzierten Analyse der institutionellen Entwicklung
103
5. Schlußbemerkungen zur Synthese von institutionellen Entwicklungs- und Wirkungstheorien
110
Zusammenfassung
111
Summary : Transaction cost economics and the shaping of the economic order
112
Erstdruck in: ORDO, Bd. 36, 1985, S. 31-48.
92
1.
Helmut Leipold
Einleitung
Das Interesse an der Analyse von Institutionen ist in jüngster Zeit in der ökonomischen Theorie merklich gewachsen. Zurückzuführen ist dies auf verschiedene, meist im angloamerikanischen Sprachbereich entwickelte Theorieansätze, wie die PropertyRights-Theorie, die ökonomische Theorie des Rechts, die Transaktionskostenökonomie oder die Public Choice-Theorie. Diese Ansätze können unter dem Oberbegriff „Neue Institutionenökonomie" zusammengefaßt werden.1 Auch wenn aus der Perspektive der beachtlichen deutschen Tradition des historischen oder ordnungstheoretischen Institutionalismus viele der „neuen" Einsichten als Wiederentdeckungen längst bekannter Tatbestände erscheinen 2 , verdient die Institutionenökonomie aus verschiedenen Gründen dennoch Beachtung. So ist das Vorhaben neuartig, den ökonomischen Kosten-NutzenKalkül der Neoklassik systematisch auf die Institutionenebene zu übertragen. Diese Anwendung beruht auf der Einsicht, daß die Begründung, Veränderung und die laufende Funktionsweise von Institutionen den Einsatz knapper Ressourcen erfordern, also Transaktionskosten verursachen und folglich auch einer ökonomischen Analyse zugänglich sein müssen. Von daher liegt es nahe, die Wahl und den Wandel von Institutionen in einen systematischen Zusammenhang mit den Transaktionskosten zu bringen, womit das zentrale Untersuchungsziel der Transaktionskostenökonomie beschrieben ist. Eine nähere Beschäftigung mit diesem Ansatz ist angebracht, weil er die Erklärung der Evolution von Institutionen in den Vordergrund stellt. Gerade dieses Problem stand in den verschiedenen traditionellen Ansätzen der Institutionentheorie, so auch im ordnungstheoretischen Institutionalismus neoliberaler Prägung, gegenüber der Wirkungsanalyse von Institutionen eindeutig im Hintergrund. Deshalb soll nach einem knappen Überblick über die methodischen und analytischen Besonderheiten der Transaktionskostenökonomie (2.) vor allem ihr Anspruch, eine ökonomische Erklärung der Wahl und des Wandels von Institutionen zu liefern, einer kritischen Überprüfung unterzogen werden (3.). Anschließend werden einige Ansatzpunkte zur differenziertnen Analyse der Institutionenentwicklung aufgezeigt (4.). Durchgängig soll dabei die Frage geklärt werden, ob die Transaktionskostenökonomie für die ökonomische Theorie der Institutionen einen Beitrag zu der wiederholt geforderten Synthese von „developmental and impact theories" 3 leisten kann (5.).
1
Vgl. dazu die Beiträge zum Symposion „The New Institutional Economics", in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 140, 1984, Heft 1, und die Besprechung von HansQtto Lenel in: ORDO, Bd. 36, 1985, S. 243 ff.
2
Willi Meyer, Entwicklung und Bedeutung des Property Rights-Ansatzes in der Nationalökonomie, in: Alfred Schüller (Hg.), Property Rights und ökonomische Theorie, München 1983, S. 1-44.
3
Vgl. Frederic L. Pryor, Property and Industrial Organization in Communist and Capitalist Nations, Bloomington-London 1973, S. 28 f.; ähnlich auch Hans-Günter Krüssselberg, Das Systemkonzept in der Ordnungstheorie: Gedanken über einige Forschungsaufgaben, in: Dieter Cassel, Gernot Gutmann, H Jörg Thieme (Hg.), 25 Jahre Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1972, S. 26-45.
Ordnungspolitische
2.
Implikationen der
Transaktionskostenökonomie
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Die Transaktionskostenökonomie im Überblick
Die Transaktionskostenökonomie repräsentiert eine spezielle Richtung innerhalb der ökonomischen Theorie der Institutionen. Die originären Begründer sind R. Coase und O.E. Williamson. In Deutschland arbeitet vor allem K.-E. Schenk an einer Weiterentwicklung. Im Mittelpunkt der Transaktionskostenökonomie steht die Frage nach den ökonomischen Bestimmungsgründen für die Auswahl alternativer Koordinationslösungen, Transaktionsformen genannt. Die Transaktion wird folgerichtig zum Basisobjekt der Analyse erhoben. 4 Verstanden wird darunter der Prozeß der Vereinbarung und Abwicklung eines Leistungsaustauschs zwischen Wirtschaftssubjekten. Dieser Vorgang kann mittels unterschiedlicher Vereinbarungs- und Abwicklungsformen (governance structures), also mit verschiedenen rechtlichen und sozialen Regelungen (Institutionen), organisiert werden. 5 Das besondere Anliegen des Transaktionskostenansatzes kommt daher besser in der Bezeichnung „Ökonomische Theorie der Institutionen" oder noch kürzer in der Bezeichnung „lnstitutional Choice" zum Ausdruck. Wichtigstes Auswahlkriterium ist die Transaktionseffizienz, die anhand der Transaktionskosten ermittelt wird. Zum Verständnis dieser Vorgehensweise empfiehlt sich ein kurzer theoriegeschichtlicher Rückblick. Die Transaktionskostenkategorie ist eng mit zwei Arbeiten von R. Coase verbunden. Im ersten Artikel geht es um die Erklärung von Unternehmungen, deren Existenz nach Coase in den vergleichsweise zur Marktkoordination geringeren Kosten zu suchen ist.6 Im zweiten Artikel, in dem das sogenannte „Coase-Theorem" entwickelt wird, wendet sich Coase gegen das in der neoklassischen Wohlfahrtstheorie vorherrschende Verständnis der Externalitäten und des Marktversagens. 7 Als externe Effekte gelten danach jene sozialen Konsequenzen wirtschaftlicher Transaktionen, die nicht über Märkte und Preise zwischen den Transaktionspartnern unmittelbar verrechnet werden. Dabei stellt sich nach Coase die Frage, weshalb die nutzenmaximierenden Wirtschaftssubjekte nicht bereit und fähig sind, solche Effekte zu internalisieren. Seiner Meinung nach kann es nur an zu hohen Transaktionskosten der relevanten Verfugungsrechte liegen, die eine vollständige Zurechnung der Effekte von Markttransaktionen auf die unmittelbar beteiligten Wirtschaftssubjekte verhindern.
4
Vgl. Oliver E. Williamson, The Economics of Organization: The Transaction Cost Approach, in; American Journal of Sociology; Vol. 87, 1981, S. 548-577; Karl-Ernst Schenk, „lnstitutional Choice" und Transaktionsökonomik - Perspektiven der systemanalytischen und industrieökonomischen Anwendung, in: Karl-Ernst Schenk (Hg.), Studien zur Politischen Ökonomie, Stuttgart und New York 1982, S. 1-21.
5
Dieses Verständnis entspricht dem von Douglas C. North, Transaction Costs, Institutions, and Economic History, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 140, 1984, S. 8: „... institutions consist of a set of constraints on behavior in the form of rules and regulations". Demgemäß werden im folgenden die Begriffe Transaktions- oder Abwicklungsformen, Institutionen und Ordnungsformen synonym verwendet.
6
Vgl. Ronald H. Coase, The Nature of the Firm, in: Economica, N.S. Vol. 4, 1937, S. 386405.
7
Vgl. Ronald H. Coase, The Problem of Social Cost, in: Journal of Law and Economics, Vol. 3, 1960, S. 1-44.
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Die inhaltliche Erfassung der Transaktionskosten ist bisher nicht einheitlich: Dahlmann rechnet dazu alle Ressourcenaufwendungen für die Koordinierung wirtschaftlicher Handlungen, deren Einsatz in den unvollkommenen Informationen begründet ist.8 In einem weitgefaßten Verständnis gehören dazu auch die Kosten der Schaffung und Aufrechterhaltung der rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Ordnungen. Diese Ordnungen bilden eine unverzichtbare Voraussetzung fiir die Abwicklung der laufenden Transaktionen. Die für die Schaffung der Rechtsordnung aufgewendeten Kosten können als „versunkene Transaktionskosten" 9 bezeichnet und von den „laufenden oder reinen Transaktionskosten" unterschieden werden. Die Summe dieser beiden Kosten schätzt North für die entwickelten westlichen Industriegesellschahen auf etwa 50 v.H. des Bruttosozialprodukts. 10 In den folgenden Ausführungen werden - wenn nicht anders vermerkt - nur die laufenden Transaktionskosten berücksichtigt. Im betriebswirtschaftlichen Rechnungswesen werden die Transaktionskosten zum Teil als Kosten der Marktforschung, der Werbung, des Vertrags- und Rechtswesens, des Mahn- und Zahlungssicherungswesens erfaßt, so daß dem Betriebspraktiker die starke Gewichtung dieser Kostenkategorie unverständlich erscheinen mag. Die Bedeutung der Transaktionskosten erklärt sich denn auch nur vor dem Hintergrund einer spezifischen volkswirtschaftlichen Theorieentwicklung, die heute vereinfachend und nicht selten abwertend als neoklassische Theorie bezeichnet wird. In diesem Zusammenhang wird die Prämisse des kostenlosen Funktionierens der Marktkoordination kritisiert, die zudem noch als einzige Koordinationsform überhaupt berücksichtigt werde. Das Verdienst von Coase ist angesichts dieses Mangels darin zu sehen, auf die naheliegenden Tatbestände aufmerksam gemacht zu haben, daß es erstens verschiedene Formen der Koordination wirtschaftlicher Handlungen, also verschiedene Transaktionsformen gibt, und daß zweitens jede Form auch mit unterschiedlichen Kosten, eben jenen erwähnten Transaktionskosten, verbunden ist. Als die beiden grundlegenden Transaktionsformen unterscheidet Coase den Markt und die Firma. Analog zu der Allokation der Güter sei auch die Auswahl dieser beiden Formen als Gegenstand ökonomischer Überlegungen zu begreifen. Er wendet also den marginalanalytischen Kalkül auch auf die Auswahl der Institutionen an, womit er die ökonomische Theorie der Institutionen begründete. Nach Coase bestimmt die Höhe der Transaktionskosten die Entwicklung des Verhältnisses von marktlichen und unternehmensinternen Transaktionen. Der Markt steht hierbei für horizontale Beziehungen zwischen den Transaktionspartnern, denen Wahlmöglichkeiten offenstehen und die die Gegenstände oder Erfolge ihrer Vereinbarungen eigentumsmäßig zurechnen können. Die Institution der Firma oder - wie man heute allgemeiner zu sagen pflegt - der Hierarchie steht dagegen für vertikale Beziehungen
8
9
10
Carl J. Dahlmann, The Problem of Externality, in: Journal of Law and Economics, Vol. 22, 1979, S. 141-161; vgl. auch Eva Bössmann, Volkswirschafitliche Probleme der Transaktionskosten, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 138, 1982, S. 664-679; Arnold Picot, Transaktionskostenansatz in der Organisationstheorie: Stand der Diskussion und Aussagewert, in: Die Betriebswirtschaft, Bd. 42, 1982, S. 267-285. Vgl. Lothar Wegehenkel, Gleichgewicht, Transaktionskosten und Evolution: Eine Analyse der Koordinationseffizienz unterschiedlicher Wirtschaftssysteme, Tübingen 1981, S. 20. D. C. North, a.a.O., S. 7.
Ordnungspolitische
Implikationen der
Transaktionskostenökonomie
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mit eindeutigen Über- und Unterordnungsverhältnissen, bei denen die Leistungserfolge weniger exakt zurechenbar sind. Diese Zweiteilung der Transaktionsformen hat im Anschluß an Coase allgemeine Verbreitung gefunden, obwohl er diese Formen weder näher charakterisierte noch die Bestimmungsfaktoren für die damit verbundenen Transaktionskosten präzisierte. Die Überlegungen von Coase zum Markt-Firma-Kalkül blieben über lange Zeit weithin unbeachtet. Erst O. E. Williamson lenkte Anfang der 70er Jahre wieder die Aufmerksamkeit auf diese Problematik, indem er das Anliegen von Coase in Form der Markt-Hierarchie-Wahl aufgriff und unter Zuhilfenahme anderer Disziplinen, wie z.B. der verhaltenstheoretischen Organisationstheorie, der Vertragstheorie und der neoklassischen Preistheorie behandelte." Der Bezug zur Organisationstheorie der CarnegieSchule um R. Cyert, ]. March und H. A. Simon kommt in den Verhaltensannahmen, den „human factors", zum Ausdruck. So zeichne sich das wirtschaftliche Verhalten durch eine begrenzte Rationalität aus und begnüge sich mit befriedigenden Entscheidungslösungen. Außerdem sei das Verhalten vom Bestreben nach Opportunismus geprägt, indem die Wirtschaftssubjekte gegenüber den Transaktionspartnern die wahre Handlungsabsicht zu verbergen und diese zu täuschen versuchen. Die menschlichen Faktoren erhalten ihre transaktionsprägende Bedeutung, wenn sie mit spezifischen Umweltfaktoren (environmental factors) in Verbindung gebracht werden. Als solche Faktoren werden die Unsicherheit, die Komplexität und die Zahl der Transaktionspartner genannt, was den Einfluß des situativen Ansatzes in der Organisationstheorie widerspiegelt.12 Schließlich unterscheidet Williamson noch mit dem Umfang der transaktionsspezifischen Investitionen, mit der Unsicherheit und mit der Häufigkeit charakteristische Merkmale von Transaktionen (transactional factors). Diese Unterscheidung ist vor dem Hintergrund seines grundlegenden Erkenntniszieles zu sehen, das sich darauf richtet, die Wahl der Transaktionsformen in einen eindeutigen Zusammenhang mit den Merkmalen der Transaktionen und über diese mit den Transaktionskosten zu bringen.' 3 Als grundlegende Transaktionsformen sieht er die Hierarchie (interne Organisation), den Markt und
11
Vgl. Oliver E. Williamson, Markets and Hierarchies: Some Elementary Considerations, in: American Economic Review, Vol. 63, 1973, Nr. 2 (Papers and Proceedings), S. 316-325; Oliver E. Williamson, Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications, New York 1975.
12
Vgl. zu diesem Ansatz Alfred Kiesel, Herbert Kubicek, Organisation, Berlin und New York 1977, S. 35 ff.
13
Oliver E. Williamson, The Modern Corporation: Origins, Evolution, Attributes, in: Journal of Economic Literature, Vol. 19, 1981, S. 1544: „The object is to match governance structures to the attributes of transactions in a discriminating way."
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die Z w i s c h e n f o r m des bilateralen Austausches an. 14 Diese Z w i s c h e n f o r m wird im folgenden in Verbindung mit dem Markt behandelt. 1 5 U m den Einfluß der Transaktionskosten auf die Wahl der Transaktionsformen (governance structures or modes) verdeutlichen zu können, sollen zunächst die erwähnten Merkmale von Transaktionen knapp erläutert werden: —
Erstens der U m f a n g der transaktionsspezifischen Investitionen. Dieses von Williamson als „most important" 1 6 bewertete Merkmal erfaßt den Tatbestand, daß die Hervorbringung und Abwicklung spezieller Transaktionen im Einzelfall erhebliche Investitionen in das Sach- und H u m a n v e r m ö g e n erfordern können. Gemeint sind damit entweder Spezialinvestitionen, für die es keine anderen Verwendungsmöglichkeiten gibt, oder aber spezifische Produktions- und Austauschkenntnisse, die hohe Ausbildungsaufwendungen voraussetzen. Diese Besonderheiten können die Zahl der in Frage k o m m e n d e n Transaktionspartner reduzieren, im Extremfall zu bilateralen Austauschbeziehungen mit partnerspezifischen Bindungen fuhren.
— Zweitens das Merkmal der Unsicherheit über Verlauf und Erfolg der Transaktionen. Die Unsicherheit kann dabei einmal in der spezifischen Leistung, also im Transaktionsgegenstand, z u m anderen im Verhalten der Transaktionspartner begründet sein. Naheliegende Beispiele für objektspezifische Unsicherheiten bilden die Entwicklung, Produktion und Durchsetzung von Neuerungen. Die damit verbundenen technischen und ökonomischen Risiken sind u m so höher, j e mehr die Neuerungen von bekannten Lösungen abweichen. A u c h der Opportunismus sowie die in der Teamproduktion angelegte Tendenz zur Drückebergerei oder die bei der Nutzung von Kollektivgütern auftretende Trittbrettfahrerhaltung begründen spezifische Unsicherheiten über die Leistungserfolge; Bemühungen, dies zu verhindern, können mit erheblichen Such-, Vereinbarungs- und Kontrollkosten verbunden sein. —
Drittens das Merkmal der Häufigkeit von Transaktionen. Dadurch wird insbesondere der Grad der Kostenersparnis durch L e m e f f e k t e bestimmt, etwa durch Entdekkung von vereinfachten Abwicklungsverfahren oder durch Entwicklung von Vertrauensbeziehungen. Häufige und erfolgreiche Erfahrungen mit bestimmten Transaktionspartnern erhöhen den Zuverlässigkeitsgrad und reduzieren wesentlich die rechtlichen Vereinbarungs- und Kontrollkosten.
Der U m f a n g der transaktionsspezifischen Investitionen, die Unsicherheit und die Häufigkeit bilden also nach Williamson die wichtigsten Bestimmungsgründe der Transaktionskosten und damit auch indirekt der Auswahl der institutionellen Alternativen:
14
Vgl. besonders Oliver E. Williamson, Transaction Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, in: Journal of Law and Economics, Vol. 22, 1979, S. 247; Oliver E. Williamson, William G. Ouchi, The Markets and Hierarchies Programme of Research: Origins, implications, prospects, in: Arthur Francis, Jeremy Turk and Paul Willman (eds.), Power, Efficiency and Institutions: A critical appraisal of the 'markets and hierarchies' paradigm, London 1981, S. 18.
" Diese Zurechnung entspricht der Gewichtung von O.E. Williamson, Transaction Cost Economics, a.a.O., S. 235: „Markets and hierarchies are two of the main alternatives." 16 Vgl. O.E. Williamson, The Economics of Organization, a.a.O., S. 555; O.E. Williamson, Transaction Cost Economics, a.a.O.
Ordnungspolitische Implikationen der Transaktionskostenökonomie
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Markt und Hierarchie. Sofern zwischen beiden Formen frei gewählt werden kann, werden sich die transaktionskostenminimalen, also die effizientesten Abwicklungsformen durchsetzen. Bezogen auf die gerade genannten Merkmale heißt dies: Der Markt erweist sich gegenüber der Hierarchie tendenziell als die effizientere Form, wenn die Transaktionen nur einen geringen Umfang an spezifischen Investitionen erfordern, der Transaktionsgegenstand also relativ standardisiert ist, Verlauf und Erfolg der Transaktionen relativ sicher sind und die Transaktionshäufigkeit gering ist, wobei diesem dritten Merkmal nach Williamson eine geringere Bedeutung zukommt. Analog zu diesem Zusammenhang ist die Hierarchie dem Markt überlegen, wenn erstens die Abwicklung der Transaktionen beträchtliche transaktionsspezifische Investitionen erfordert, zweitens die Unsicherheit über Verlauf und Erfolg hoch ist und drittens die Transaktionen häufig zu tätigen sind. Diese Aussagen werden vor allem auf kontrakttheoretischer Grundlage mit Hilfe der Transaktionskosten begründet. 17 Wenn nämlich die Transaktion relativ standardisiert ist und wenn sich die Suche nach Tauschpartnern sowie die Einigung leicht gestalten, dadurch auch die praktische Abwicklung und Vereinbarung leicht kontrollierbar sind, liegt es nahe, sich der Institute des Kauf- oder Werkvertrags, mithin der marktlichen Transaktion zu bedienen. Wenn dagegen die Transaktion gleichsam eine „Maßanfertigung" für bestimmte Nachfrager darstellt und dementsprechend hohe partnerspezifische Aufwendungen einschließlich spezifischer Ausbildungskosten erfordert, wenn ferner die vertragsgerechte Realisierung der Vereinbarung unsicher und deshalb mit hohen Kontrollkosten verbunden ist und wenn schließlich die Transaktionen regelmäßig abzuwikkeln sind, würde eine Spezifizierung all dieser Anforderungen in Marktverträgen hohe Kosten verursachen. Die Erfüllung der vertraglichen Vereinbarungen würde zudem wegen der Detailliertheit und Unsicherheit auf erhebliche rechtstechnische Regelungsprobleme stoßen, und die Zuverlässigkeit der Transaktionspartner müßte wegen der potentiellen Vertragsrevisionen möglicherweise leiden. Statt der in marktbezogenen Verträgen geregelten Transaktionen bietet sich daher die unternehmensinterne Abwicklung an, bei der die Leistungen über Anweisung durch die Hierarchiespitze spezifiziert und durch laufende Beaufsichtigung kontrolliert werden. Die rechtliche Grundlage der organisationsinternen Kontrolle liefern Dienst- oder Arbeitsverträge, bei denen die Leistungsgegenstände im Unterschied zu den Werkverträgen nicht genau spezifiziert werden. Die unternehmensinterne Koordination reduziert bei diesen Transaktionsmerkmalen also Vertrags- und Kontrollkosten. Zusammenfassend ergibt sich daraus, daß die Transaktionsformen mit den günstigeren Transaktionskosten die weniger effizienten Formen verdrängen. Die Geltung dieser Aussage ist auf den „kompetitiven" Sektor begrenzt, wenngleich nach Williamson dem
17
O.E. Williamson, Transaction Cost Economics, a.a.O.; zur Erläuterung vgl. auch A. Picot, a.a.O.
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Kriterium der Transaktionseffizienz generelle Bedeutung für die institutionelle Entwicklung zukommt.' 8 Die Frage nach der systemübergreifenden Geltung der Transaktionseffizienz hat K.E. Schenk untersucht.19 Seiner Meinung nach ist für jede Wirtschaftsordnung die Entscheidung relevant, welche und wieviele Transaktionen entweder über Märkte oder in Hierarchien abgewickelt werden sollen. Alle realen Wirtschaftssysteme zeichneten sich durch ein typisches Mischungsverhältnis von Markt und Hierarchie aus, und folglich sieht er das methodische Hauptproblem der Ordnungstheorie darin, dieses Verhältnis zu erklären. Bei der Analyse der Bestimmungsgründe für die Institutionenwahl hat Schenk die Palette der Transaktionsformen gegenüber Williamson erweitert und neben ökonomischen auch politische Determinanten berücksichtigt. Ausgehend von der Markt-Hierarchie-Typologie hat Schenk die Hierarchie nach den Verfahren differenziert, mit denen die verantwortlichen „Regieorgane" die Prozesse auf den untergeordneten Ebenen koordinieren.20 Als solche „Regieverfahren" unterscheidet er die preisgestützte Regie, die Budgetregie und die Planregie. Die Kompetenzen der Regieorgane, also beispielsweise der Eigentümer von Privatunternehmen oder der Regierungsinstanzen im Falle öffentlicher Verwaltungen, seien bei der preisgestützten Regie schwach, bei der Budgetregie stärker und bei der Planregie am stärksten, während bei den untergeordneten Managementorganen der entgegengesetzte Zusammenhang gelte. Mit der Wahl eines dieser Regieverfahren werde zugleich der Spielraum für die Entfaltung marktlicher Koordinationsverfahren vorgezeichnet. Auf der volkswirtschaftlichen Ebene unterscheidet Schenk als mögliche institutionelle Formen das kommerzielle Regime, das regulierende Regime und das Regime der direkten staatlichen Leitung. Die Wahl dieser Formen obliegt den Politikern, weshalb deren Motive und Entscheidungskriterien als die dominanten Bestimmungsgründe der Institutionenwahl zu beachten sind. Folglich tritt bei Schenk neben das Effizienzkriterium, dessen Geltung er für den kommerziellen Sektor anerkennt, das Kriterium der politischen Opportunität. Für einzelne Politiker sei es opportun, bei den Zweigregimen und Regieverfahren solche Formen auszuwählen, die einen gewichtigen Kompetenzanteil sicherstellen. Dieses Interesse verdränge tendenziell die effizienzbedachte Institutionenwahl. Solange jedoch die Konkurrenz zwischen Politikern und Parteien wirksam sei, könne sich der politische Institutionenkalkül nicht allzu weit vom ökonomischen Effizienzkalkül entfernen, da stets die Gefahr der Verdrängung durch Konkurrenten bestehe, die effizientere Lösungen anbieten. Der Grundgedanke des von Schenk entwickelten Institutional-Choice-Ansatzes kommt in folgender Aussage zum Ausdruck: „Die strate-
18
19
20
Vgl. O.E. Williamson, The Economics of Organization, a.a.O., S. 574. Zu analogen Argumenten für den regulierten Sektor vgl. Helmut Gröner, Property Rights-Theorie und staatlich regulierte Industrien, in: Alfred Schüller (Hg.), a.a.O., S. 226 ff. Vgl. Karl-Ernst Schenk, Märkte, Hierarchien und Wettbewerb: Elemente einer Theorie der Wirtschaftsordnung, München 1981. Vgl. Karl-Ernst Schenk, „ Institutional Choice" und Ordnungstheorie, Walter EuckenInstitut, Vorträge und Aufsätze, 82, Tübingen 1982.
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Implikationen
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gisch wichtigste Variable für die Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung ist somit der politische Wettbewerb." 21 Durch die Berücksichtigung politischer Determinanten der Institutionenwahl geht Schenk über Coase und Williamson hinaus. Er bleibt jedoch den grundlegenden Annahmen und Folgerungen des Transaktionskostenansatzes verbunden, denn auch beim politischen Wettbewerb folgt die Institutionenwahl grundsätzlich dem Effizienzkriterium. Hier wie dort ergibt sich die Effizienz von Institutionen gemäß dem Ressourcenaufwand, der für die Bewältigung von Transaktionen bei unterschiedlichen Formen anfällt. Mit der Annahme, daß sich unter der Voraussetzung der institutionellen Konkurrenz und der freien Auswahl diejenige Transaktionsform mit den geringsten Kosten durchsetzt, ist die Kernhypothese der ökonomischen Theorie der Institutionen und speziell des Institutionenwandels angesprochen. Bei dieser ökonomischen Sichtweise sind deutliche Parallelen zur mikroökonomischen Markt- und Prozeßtheorie erkennbar, die dem Wettbewerb eine ähnlich effizienzfördernde Funktion bezüglich der materiellen Güterallokation zuschreibt. Es ist zu fragen, ob dieses Verständnis eine realistische Erklärung der Wahl und des Wandels von Institutionen bietet. Insbesondere ist zu überprüfen, ob der unterstellte enge Zusammenhang zwischen den Merkmalen spezifischer Transaktionen und den sich daran anpassenden institutionellen Formen schlüssig ist.
3.
Zur Problematik der transaktionsbezogerien Betrachtungsweise
Zur Beantwortung dieser Frage soll die Wahl zwischen Markt und Hierarchie nun aus der Perspektive der dynamischen Markt- und Wettbewerbstheorie betrachtet werden, wie sie E. Heuß entwickelt hat.22 In Verbindung damit reduziert sich die Frage nach der Priorität von Markt oder Hierarchie auf eine Variante des Henne-Ei-Problems. Als entwicklungsbestimmendes Element hat vielmehr der Unternehmer zu gelten, der sowohl Märkte als auch Unternehmen schafft und deren Entwicklung prägt. Dabei ist zu vermuten, daß sich der Markt-Hierarchie-Kalkül in dynamischer Sicht sehr viel komplexer gestaltet, als es die Aussagen der Transaktionskostenökonomie vorsehen. In einer relativ frühen Marktphase wird der über die Transaktionskostenhöhe vermittelte Zusammenhang zwischen Situationsmerkmalen und der Vorteilhaftigkeit von Transaktionsformen anders als in relativ späten Marktphasen aussehen und zu interpretieren sein. In der Experirmentierphase existieren häufig noch gar keine spezifischen Transaktionsmerkmale, also auch keine entsprechend vorgegebenen Bestimmungsfaktoren der Transaktionskosten. Welche Formen die geeigneten sind, kann daher erst in einem die Produkt- und Nachfragekreation begleitenden oder nachfolgenden Prozeß ausgewählt oder auch neu entdeckt werden. Diese Aufgabe, Verfahren zur Senkung der Such-, Aushandlungs- und Kontrollkosten auszuwählen, gehört ebenso zur unternehmerischen Marktschaffung wie die Hervorbringung von neuen Produkten oder Produktionsverfahren. Es könnte daher zur Vermeidung der engen situationsbezogenen Betrach-
21
K.-E. Schenk,"Institutional Choice" und Transaktionsökonomik, a.a.O., S. 14.
22
Ernst Heuss, Allgemeine Markttheorie, Tübingen und Zürich 1965.
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tungsweise von Williamson naheliegen, die Bestimmungsfaktoren für die Wahl von Transaktionsformen aus den Merkmalen der Marktentwicklung und ihren Determinanten abzuleiten. So dürfte z. B. die Expansionsphase ein weites Feld für die Einübung und Etablierung produktspezifischer Transaktionsformen bieten. Es können sich spezialisierte Unternehmen und Organisationsformen zur Transaktionskostensenkung und insgesamt zur Ökonomisierung der Transaktionen entwickeln und entfalten, wodurch gleichsam abgeleitete Märkte für Transaktionsformen entstehen. Weiterhin dürften in der Expansionsphase, ganz im Gegensatz zur Annahme von Williamson, bei hoher Unsicherheit und hohen partnerspezifischen Investitionen die marktlichen Transaktionen gegenüber den hierarchischen dominieren. Bei der für diese Phase im allgemeinen anzunehmenden hohen Wettbewerbsintensität werden die Firmen (noch) nicht auf die Vorteile hoher Anpassungsflexibilität verzichten können, die spezialisierte Zulieferer mit der Bereitschaft zur Übernahme eigener Investitions- und Absatzrisiken bieten. In diesem Fall liegt es nahe, auf eine Eingliederung entsprechender Teilfertigungen zu verzichten, also die Marktkoordination gegenüber der vertikalen Integration vorzuziehen. Auch für die Ausreifungs- und Stagnationsphase legt der Markt-Hierarchie-Kalkül eine spezifische und von Williamson s Erklärung abweichende Interpretation nahe. In diesen Phasen sind die wichtigsten Einkommensschichten als Nachfrager erschlossen, und Preissenkungen bewirken keine nennenswerten Absatz- und Gewinnsteigerungen mehr. Weniger der produkt- und nachfragebedingte Spielraum als vielmehr die konkurrenz- und kostenbedingten Möglichkeiten gewinnen jetzt für die Wettbewerbslage der Unternehmen besondere Bedeutung. Die Kosten-Erlös-Spanne wird zunehmend kleiner, vor allem dadurch, daß wegen des weitgehend abgeschlossenen produktionswirtschaftlichen Lern- und Erfahrungsprozesses in dieser Branche die Rate der einzelwirtschaftlichen und branchenspezifischen Produktivitätssteigerungen allmählich unter die Rate der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung sinkt. Bei einer vorherrschend produktivitätsorientierten Lohnpolitik ist dann eine Kostensteigerung von der Lohnseite her unvermeidlich, die sich - angesichts der nunmehr relativ geringen Preis- und Einkommenselastizität der Nachfrage - nicht mehr durch Preisanhebungen auffangen läßt. In dieser Situation kann das Interesse an einer Senkung der Transaktionskosten ganz besonderes Gewicht erhalten. Die Zurückdrängung von Markttransaktionen und die Ausweitung der unternehmensinternen Transaktionen können dabei bevorzugt im Wege der vertikalen und horizontalen Konzentration oder über vertragliche Absprachen erfolgen. Als transaktionskostensenkende Absprachen dürften vor allem Normen- und Typisierungskartelle, Kalkulations-, Spezialisierungs- und Konditionenkartelle und vielfältige andere Formen wettbewerbsbeschränkender Kooperation wie auch staatliche Regulierungsmaßnahmen in Frage kommen. Dadurch mögen einzelwirtschaftlich erhebliche Transaktionskostensenkungen erreichbar sein, allerdings um den Preis einer Einschränkung des konkurrenzbedingten Marktspielraums und damit der Leistungsfähigkeit des marktlichen Transaktionsbereichs. Soll dies verhindert werden, ist die Perspektive der einzelwirtschaftlichen Transaktionskosteneffizienz um eine gesamtwirtschaftliche Betrachtung zu erweitern. Die damit angesprochenen unterschiedlichen Interessen und
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Wirkungen von Transaktionskosteneinsparungen erschließen sich jedoch erst durch eine umfassendere markttheoretische Analyse. Die aus der Perspektive der dynamischen Markttheorie gewonnenen Erkenntnisse lassen sich auch am Beispiel der Organisation und des Einflusses von Verbänden bestätigen. Die verbandsmäßige Organisation von Interessen bezweckt in der Regel eine Korrektur marktlicher Prozesse und Ergebnisse, bedeutet also eine Ergänzung oder gar Substitution des Marktes durch hierarchische Organisationsformen. Die Bedingungen für eine erfolgreiche Interessenorganisation und die gesamtwirtschaftlichen Folgen hat M. Olson untersucht. Als Hauptzweck der Interessenorganisation unterstellt Olson das Bestreben, über kartellartige Absprachen auf dem Weg der politischen Einflußnahme einen größeren Anteil am Sozialprodukt zu erhalten, somit Einkommensvorteile durchzusetzen. 23 Durch Kartellabsprachen sollen monopolartige Preise oder Löhne abgesichert, über politische Einflußnahme sollen Subventionen, Steuervergünstigungen oder sonstige Ausnahmeregelungen erreicht werden. Die Durchsetzung solcher Vorteile verursacht Kosten und hat das Trittbrettfahrerproblem in Rechnung zu stellen. Einzelne Personen möchten zwar gerne die materiellen Vorteile der Interessenorganisation nutzen, ohne sich jedoch an den Kosten der Kollektivorganisation beteiligen zu wollen. Die verbandsmäßige Wahrnehmung von Teilinteressen weist somit die bekannten Probleme der Bereitstellung von Kollektivgütern auf, stößt also auf beträchtliche Hindernisse und verursacht Kosten. Nach Olson wachsen die Chancen einer erfolgreichen Interessenorganisation, wenn ein stabiles soziales Umfeld besteht, wenn also Erfahrungen über die relativen Vor- und Nachteile der Interessenorganisation gegenüber der Situation der nichtorganisierten Interessenvertretung vorliegen und den Betroffenen bewußt sind. Positive Erfahrungserlebnisse reduzieren sowohl die Kosten selektiver Anreize als auch materieller Sanktionen gegen zahlungsunwillige Verbandsmitglieder oder gegen Streik- und Kartellbrecher. Vor allem wegen dieser Transaktionskostenersparnisse wachsen nach Olson mit zunehmendem Alter der institutionellen Rahmenbedingungen die Macht der organisierten Interessengruppen und die Möglichkeit, nichtleistungsbedingte Einkommen durchzusetzen, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, daß organisierte, also hierarchische Koordinationen marktliche Prozesse verdrängen. Die Betrachtung der Markt-Hierarchie-Wahl aus der Perspektive der dynamischen Markttheorie und der Verbändetheorie vermittelt aufschlußreiche Erkenntnisse, welche die Aussagen der Transaktionskostenökonomie teilweise relativieren. Offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen den Merkmalen einzelner Transaktionen und den daran angepaßten Transaktionsformen nicht so eindeutig, wie ihn Williamson unterstellt. Die situative und statische Betrachtungsweise der Transaktionskostenökonomie verleitet vielmehr zu Folgerungen, die besonders im Falle einer wettbewerbspolitischen Anwendung in die Irre fuhren können. Nach der Transaktionskostenökonomie müßten etwa Transaktionsverhältnisse mit unsicherem Ausgang ein günstiges Umfeld für hierar-
23
Vgl. Mancur Olson, The Rise and Decline of Nations: Economic Growth, Stagflation and Social Rigidities, New Haven and London 1982, S. 42.
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chisch organisierte Abwicklungsformen bilden. Aus der Perspektive der dynamischen Markttheorie sowie der Verbändetheorie ergibt sich aber ein ganz und gar gegensätzliches Bild, denn hier werden stabile und sichere Umweltverhältnisse als günstiger Nährboden für die Entfaltung hierarchischer Formen erkannt, deren Hauptzweck in der Beschränkung oder Ausschaltung des Marktwettbewerbs besteht. Die Vertreter der Transaktionskostenökonomie schenken dem Machtmotiv keine große Beachtung, weil sie unterstellen, daß unter der Bedingung der freien Institutionenwahl und des freien Marktzugangs langfristig Machtpositionen gegenüber effizienteren Alternativen nicht behauptet werden können. 24 Dabei werden weder die Bedingungen noch die Prozesse und insbesondere die zeitliche Dauer der Erosion von Machtprozessen präzisiert. Der Zugang von neuen Anbietern und die spontane Veränderung verfestigter marktlicher oder unternehmensinterner Strukturen erhöhen die Unsicherheit von Transaktionsverhältnissen und gefährden wettbewerbsbeschränkende, meist hierarchisch organisierte Abmachungen. Paradoxerweise werden diese Bedingungen aus der Perspektive der Transaktionskostenökonomie als hierarchiefördernde Umweltbedingungen gedeutet. Es wäre somit verfehlt, aus der Diagnose transaktionskostenminimaler Markt- oder Unternehmensstrukturen unmittelbare Schlußfolgerungen für die Gestaltung wettbewerbsfordernder oder gesamtwirtschaftlich wünschenswerter Institutionen zu ziehen. Die Transaktionskostenökonomie kann deshalb kein ausreichendes Fundament der Wettbewerbspolitik im engeren und der Ordnungspolitik im weiteren Sinne liefern, weil sie keine Aufschlüsse über die gesamtwirtschaftlichen Wirkungen von Institutionen vermittelt. Kenntnisse über die Entwicklungsdeterminanten von Institutionen sind für eine Politik der Institutionengestaltung zwar eine notwendige, aber nicht ausreichende Bedingung. Sie sind durch Kenntnisse über Wirkungen von Institutionen zu ergänzen, und hierzu versprechen bewährte Erklärungsansätze, wie z.B. die Markt- und Wettbewerbstheorie oder die Ordnungstheorie, eine überlegene und nach wie vor unverzichtbare theoretische Fundierung. Gefragt ist deshalb die weiter oben geforderte Synthese von „developmental und impact theories", also von Entwicklungs- und Wirkungstheorien. Es bleibt zu untersuchen, ob die Transaktionskostenökonomie einen Beitrag zu dieser Synthese beisteuern kann, wobei im folgenden die Ordnungstheorie Euckenschei Prägung als Prototyp einer institutionellen Wirkungslehre zugrundegelegt wird. 25
24
Diese Sichtweise kam deutlich in der Präsentation und Diskussion des „Markt-HierarchieParadigmas" auf einer im Jahre 1980 in London veranstalteten Tagung zum Ausdruck. Vgl. dazu die einleitenden Bemerkungen in: A. Francis, J. Turk und P: Willman, a.a.O., S. 7. Kritisch zur Vernachlässigung des Machtmotivs vgl. auch William M. Dugger, The Transaction Cost Analysis of Oliver E. Williamson: A New Synthesis?, in: Journal of Economic Issues, Vol. 17, 1983, S. 95-114; Wolfgang Dorow, Klaus Weiernair, Markt versus Unternehmung: Anmerkungen zu methodischen und inhaltlichen Problemen des Transaktionskostenansatzes, in: Günther Schanz (Hg.), Betriebswirtschaftslehre und Nationalökonomie, Wiesbaden 1984, S. 191-223.
25
Vgl. Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalökonomie, 6. Aufl., Berlin, Göttingen, Heidelberg 1950; Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 2. Aufl., Tübingen und Zürich 1955.
Ordnungspolitische Implikationen der
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Ansatzpunkte zur differenzierten Analyse der institutionellen Entwicklung
Die vorhergehenden A u s f ü h r u n g e n haben gezeigt, daß sich die Transaktionskostentheorie aufgrund der situationsbezogenen Betrachtungsweise in ihrer bisherigen Fassung kaum allein zur Erklärung der institutionellen Wirkungen eignet. Auch bezüglich der Erklärung der institutionellen Entwicklung sind methodische Bedenken anzumelden. So kann der von Williamson präsentierte Beweis des entwicklungsbestimmenden Einflusses der Transaktionskosten, der an den Merkmalen der Transaktionen als den zentralen Determinanten ansetzt, noch nicht recht überzeugen. Dennoch läßt sich der enge Z u s a m m e n h a n g zwischen Transaktionskosten und Institutionenentwicklung sicherlich nicht bestreiten. Im letzten Abschnitt haben sich j e d o c h bereits einige Anregungen für eine differenziertere ökonomische Analyse der Institutionen angedeutet. So läßt sich der kritisierte Mangel der situationsbezogenen Betrachtungsweise beheben, wenn die Frage nach den Bestimmungsfaktoren der institutionellen Evolution im Z u s a m m e n h a n g mit der jeweiligen systemspezifischen Wirtschaftsrechnung gestellt und beantwortet wird. 2 6 In marktwirtschaftlichen Ordnungen sind die Preise das Medium, das einen knappheitsbezogenen Rechnungszusammenhang zwischen den vielen einzelwirtschaftlichen Plänen und Entscheidungen herzustellen vermag. Folglich ist zu vermuten, daß die ökonomischen Vor- oder Nachteile alternativer institutioneller Entscheidungen auch nur über Preise auf den Faktor- und Produktmärkten rechenbar und somit erkennbar werden können. 2 7 Eine preistheoretische Erklärung der institutionellen Evolution hat dabei der Marktdynamik Rechnung zu tragen. Das in der Transaktionskostenökonomie unterstellte Abhängigkeitsverhältnis der Institutionenwahl von den transaktionsspezifischen Merkmalen verliert dadurch an Plausibilität. Dieser Mangel läßt sich durch eine dynamische Institutionentheorie beheben, die analog zur dynamischen Markttheorie die Prozesse der Etablierung, Expansion, Anpassung und Rückbildung von Institutionen zu berücksichtigen hätte. Allerdings dürfte die preis- und markttheoretische Erklärung nur für j e n e Institutionen angebracht sein, deren Entwicklung sich durch gewisse Freiheitsgrade und durch laufende Anpassungen auszeichnet. Solche Institutionen, „die sich im Marktgeschehen 26
Vgl. Alfred Schüller; Der theoretische Institutionalismus als Methode des Systemvergleichs, in: Gernot Gutmann, Siegfried Mampel (Hg.), Probleme systemvergleichender Betrachtung, Berlin 1986, S. 131-162.
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Aus dem Umstand, daß Transaktionskosten nur in Verbindung mit Märkten rechenbar sind, kritisiet Schneider die Coasesche Alternative „Markt versus Firma". Vgl. Dieter Schneider,; Erklären Lieb-Coase-ungen mit einem „Marktversagen" die Existenz von Unternehmungen? in: Günther Schanz (Hg.), a.a.O., S. 225-246. Allerdings kann mit dem Argument der (bisher) mangelhaften Rechenbarkeit noch nicht der entwicklungsbestimmende Einfluß der Transaktionskosten negiert werden. Zur originellen kontrakttheoretischen Interpretation von R. Coase vgl. auch Steven N. S. Cheung, The Contractual Nature of the Firm, in: The Journal of Law and Economics, Vol. 26, 1983, S. 1-21; Alfred Schüller; Unternehmensgebundene Verfügungsrechte im Spannungsfeld zwischen marktwirtschaftlichen Funktionserfordernissen und sozialstaatlichen Bindungen, in: Arthur F. Utz (Hg.), Das Unternehmen als Größe der Arbeitswelt: Der Arbeiter als Gesellschafter?, Bonn 1984, S. 124-214.
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langsam herausbilden", können im Anschluß an Ludwig M. Lachmann auch als „innere Institutionen der Marktwirtschaft" bezeichnet werden: „Sie sind Geschöpfe, nicht Voraussetzungen des Marktes." Sie sind von den „äußeren Institutionen der Marktwirtschaft" abzugrenzen, „die das notwendige Rahmenwerk der marktwirtschaftlichen Ordnung darstellen" und also ihre Voraussetzung sind.28 Da die äußeren Institutionen durch staatliche Instanzen bewußt und meist auf Dauer geschaffen werden, sind bei deren Analyse die Besonderheiten des politischen Umfeldes, also in parlamentarischen Demokratien die Bedingungen des Wählerstimmenmarktes, zu berücksichtigen. Bei einer gesonderten Behandlung beider Institutionenebenen wird auch das unterschiedliche entwicklungsbestimmende Gewicht der Transaktionskosten deutlich. So ist zu vermuten, daß die äußeren Institutionen relativ losgelöst von ökonomischen Effizienz- und Kostenüberlegungen gesetzt werden. Bei den Vertretern der Transaktionskostenökonomie vermißt man sowohl eine solche Differenzierung der Institutionen wie auch eine Präzisierung jener Umweltbedingungen, die eine kostenminimale Institutionenentwicklung überhaupt erst ermöglichen oder gerade verhindern. Die angeführten Kritikpunkte an der Transaktionskostenökonomie bilden den Ansatzpunkt für die folgenden Ausführungen, in denen Anregungen zur Erklärung der Institutionenentwicklung aufgezeigt werden sollen. Bezogen auf die inneren Institutionen, ist zunächst nach den Prozessen und Verfahren, anschließend nach den ordnungspolitischen Rahmenbedingungen zu fragen, die die Entdeckung und Entwicklung transaktionskostenminimaler Institutionen zulassen. Schließlich sollen die Besonderheiten und die Rolle der Transaktionskosten bei der Implementation der äußeren Institutionen geklärt werden. Analog zu den güterwirtschaftlichen Marktprozessen wirkt auch auf der institutionellen Ebene der Wettbewerb als jenes Verfahren, das die effizienten und somit kostenminimalen Transaktionsformen entdeckt. Denn so wie neue Produkte zu erfinden und am Markt zu testen sind, so müssen auch neue Unternehmens- und Marktstrukturen entdeckt, erprobt und evtl. verworfen werden. Im vorhergehenden Kapitel wurde anhand der dynamischen Markttheorie gezeigt, daß der institutionelle Wandel unlösbar mit dem wettbewerblichen Marktprozeß verknüpft ist. Die Herausbildung effizienter Institutionen kann daher nur als ein prozessuales Geschehen begriffen werden. Die Entwicklung neuer Produkte und Techniken impliziert Anpassungen der institutionellen Strukturen, so wie umgekehrt bestimmte Organisations- oder Marktstrukturen wiederum die Innovationsbereitschaft und -aktivitäten begünstigen.29 Der institutionelle Wettbewerb kann dabei aus verschiedenen Gründen als jenes Verfahren gelten, bei dem ein Höchstmaß an
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29
Vgl. Ludwig MLachmann, Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Institutionen, in: ORDO, Bd. 14, 1963, S. 67. - Lachmann nennt als Beispiele für „innere Institutionen" das Termingeschäft, die Börse und das Versicherungswesen, als Beispiele für „äußere Institutionen" (die mit Zwangsgewalt versehen sein müssen) die Rechtsordnung, insbesondere die Regelung der Verfügungsgewalt über Güter durch die Eigentumsordnung, den Schutz einmal bestehender Rechte, den Schutz der Gläubiger gegen Betrug, Institutionen zur Beilegung von Streitigkeiten. Vgl. ebenda, S. 66 f. Vgl. Helmut Leipold, Eigentum und wirtschaftlich-technischer Fortschritt: Eine dogmenhistorische und systemvergleichende Studie, Köln 1983, S. 91 ff.
Ordnungspolitische Implikationen der Transaktionskostenökonomie
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Motivationen und Informationen aktualisiert und verarbeitet wird. 30 Verglichen damit muß die bewußte Gestaltung der inneren Institutionen durch staatliche Instanzen unterlegen sein. Sie kann weder über das Wissen der besonderen Umstände von Ort und Zeit noch über die unternehmerischen risikobereiten Fähigkeiten und Motivationen verfügen. Deshalb ist das theoretisch inspirierte Vorhaben, die effizienteste, also die transaktionskostenminimale Unternehmens-, Markt- oder sonstige Organisationsstruktur gleichsam auf dem Reißbrett exakt ableiten und vorgeben zu wollen, regelmäßig zum Scheitern verurteilt. 31 Theoretisch plausibel lassen sich lediglich die Bedingungen benennen, welche die Evolution effizienter Ordnungsstrukturen ermöglichen. Die im Zentrum der Transaktionskostenökonomie stehende These, daß die Transaktionskosten die wesentliche Determinante des institutionellen Wandels darstellen, Institutionen sich also nach Maßgabe der für ihre Entwicklung und Funktionsweise verausgabten oder benötigten Ressourcen herausbilden, läßt sich empirisch allerdings nur partiell und zudem mit großen Schwierigkeiten bestätigen. Denn einmal haben Institutionen, wie Markt- oder Organisationsstrukturen, meist keinen Preis, der Aufschlüsse über die in ihnen verausgabten relativen Güteraufwendungen geben könnte. Zum anderen ist ein nicht unbeträchtlicher Teil der für ihr Funktionieren notwendigen Güteraufwendungen im staatlich gesetzten Ordnungsrahmen inkorporiert und hier gleichsam versunken. Beide Umstände seien kurz erläutert. Der vermutlich wesentliche Unterschied zwischen der Institutionen- oder Ordnungsebene und der Transaktions- oder Prozeßebene ist darin zu sehen, daß weder die spontan gewachsenen noch die staatlich gesetzten Institutionen einen Preis aufweisen, obwohl ihre Entwicklung regelmäßig Kosten verursacht. Ihr Wert geht vielmehr in den Preis der ausgetauschten Güter ein. Institutionelle Formen mit vergleichsweise geringen Transaktionskosten ermöglichen auch relativ zu den konkurrierenden institutionellen Mustern geringere Güterpreise und räumen so potentielle Wettbewerbsvorteile ein. Bei annahmegemäß gleichen Produktionskosten für dasselbe Gut werden sich deshalb auch im institutionellen Wettbewerb diejenigen Ordnungs- oder Transaktionsformen durchsetzen, bei denen der Transfer von Gütern und Rechten mit den niedrigsten Such-, Einigungs- und Kontrollkosten verbunden ist. Die relativen Vor- oder Nachteile der Institutionen spiegeln sich also in relativen Preisunterschieden der ausgetauschten Güter wider, was nur bedeutet, daß die Effizienz der Institutionen eng mit jener der güterwirtschaftlichen Austauschprozesse verknüpft ist.32 Der Verbund ist freilich mehr oder weniger eng, weil ein Teil der Transaktionskosten nicht in die einzelwirtschaftliche Kostenkalkulation einbezogen wird, sondern vielmehr externalisiert bleibt. Gemeint sind die Aufwendungen für die Herstellung und Aufrecht-
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Vgl. generell dazu Friedrich A. v. Hayek, Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in: Friedrich A .v. Hayek., Freiburger Studien, Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1969, S. 249265. Vgl. Helmut Leipold, Die Kombinatsreform in der DDR im Lichte der Transaktionskostenökonomie, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 3, 1983, S. 252-267. Zu diesem Zusammenhang vgl. A. Schüller, Der theoretische Institutionalismus als Methode des Systemvergleichs, a.a.O.
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erhaltung des staatlich gesetzten Ordnungsrahmens. Damit ist der Bedingungszusammenhang zwischen wettbewerblich zustande kommenden und bewußt gesetzten Institutionen angesprochen. Dieser Zusammenhang wird in der Transaktionskostenökonomie nicht hinreichend bedacht. Der Mangel ist auf die extrem evolutionistische Sichtweise der Institutionenentwicklung zurückzufunren, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Hayekschen Theorie der spontanen Ordnung aufweist. Bekanntlich betont von Hayek die Vorteilhaftigkeit gewachsener, sich im Laufe der Zeit als Ergebnis von Erfolg und Mißerfolg herausschälender und wettbewerblich selektierter Regelungen, Sitten und Gebräuche gegenüber bewußt gesetzten Institutionen.33 Die These von der Durchsetzung der transaktionskostenminimalen Institutionen variiert nur die Grundvorstellung der evolutionistischen Ordnungstheorie, indem sie die evolutorischen Beweggründe in Kostenkategorien auflöst, ohne den Ressourcenverzehr allerdings genau quantifizieren zu können. Bei dem evolutionistischen Erklärungsversuch wird jedoch das Erforderais unterschätzt, daß sich die institutionellen Wettbewerbs- und Entdeckungsprozesse nur in einem ordnungspolitischen Umfeld entfalten können, das elementare wirtschaftliche Freiheitsrechte sichert. Erst dann ist gewährleistet, daß die institutionellen Alternativen ausprobiert werden können, also Unternehmen gegründet, erweitert und interne Organisationen flexibel gestaltet, ferner Märkte kreiert, also Produkte eingeführt sowie imitiert und Kapazitäten und Verfahren den Markterfordernissen angepaßt werden können. Konkret setzt dies Gewerbe-, Vertrags-, Berufs-, Koalitions- und Niederlassungsfreiheiten und somit auch private Verfügungs- und Nutzungsrechte voraus. Ein Blick auf die sozialistischen oder interventionistischen Wirtschaftssysteme zeigt, daß die Existenz dieser wirtschaftlichen Grundrechte keine Selbstverständlichkeit ist. Der Nachweis derartiger Restriktionen fällt in den sozialistischen Zentralplanwirtschaften leicht, wo den Wirtschaftssubjekten unterhalb der Hierarchiespitze aus systembedingten Gründen keine oder nur minimale Dispositions- und Wahlrechte zugestanden werden können, weil diese stets die Gefahr plan- oder zweckinkonformer Handlungen provozieren. Folglich muß auch die Institutionenwahl hierarchiekonform entschieden und zentralisiert werden. Aber auch in den sozialistischen Marktwirtschaften müssen die privaten Gründungs-, Investitions- und sonstigen Eigentumsrechte eng begrenzt werden, weil sonst stets zu befürchten ist, daß sich der private Sektor spontan entwickelt und zu Lasten des sozialistischen Sektors ausdehnt. Diese Beschränkungen behindern nicht nur den institutionellen Entdeckungs- und Selektionsprozeß, sondern beeinträchtigen die wettbewerblichen Marktprozesse insgesamt.34
33 34
Zur Evolutionstheorie vgl. Friedrich A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Band 1: Regeln und Ordnung, München 1980, S. 57 ff. Die Markt-Hierarchie-Struktur der „sozialistischen Marktwirschaften" weicht daher folgerichtig erheblich von der institutionellen Struktur privatwirtschaftlicher und wettbewerblicher Marktwirtschaften ab. Vgl. dazu den aufschlußreichen Vergleich der ungarischen Betriebsgrößenstruktur mit westlichen Marktwirtschaften von Gabor Revesz, Enterprise and Plant Size Structure of the Hungarian Industry, in: Acta Oeconomica, Vol. 22, 1979, S. 4768.
Ordnungspolitische
Implikationen der
Transaktionskostenökonomie
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Die verschiedenen Beispiele von Wettbewerbsbeschränkungen in sozialistischen Marktwirtschaften sind geeignet, die von Eucken und anderen Kritikern des Konkurrenzsozialismus vertretene These der Inkompatibilität zwischen Gemeineigentum an Produktionsmitteln und einer Wettbewerbsordnung zu belegen. Eucken leitete aus dieser Erkenntnis in Verbindung mit seiner Analyse der Wirtschaftspolitik des Laissez faire die Notwendigkeit einer staatlichen Politik der Wettbewerbsordnung ab.35 Unter Laissez faire-Bedingungen sei mit privaten Beschränkungen des Wettbewerbs zu rechnen, weshalb die Sicherung der Wettbewerbsvoraussetzungen nicht dem freien Spiel der Privatinteressen überlassen werden sollte. Die Forderung läßt sich mit den Besonderheiten der in Frage stehenden Basisinstitutionen begründen. Diese weisen Merkmale eines Kollektivgutes auf, denn die Sicherung wirtschaftlicher Freiheiten räumt den Wirtschaftssubjekten ökonomische Vorteile ein, auch wenn diese keinen Kostenbeitrag für deren Herstellung und Aufrechterhaltung leisten. Viele werden dazu nur bereit sein, wenn die allgemeinen Institutionen in Sonderregelungen modifiziert werden, die nur einem begrenzten Kreis von Begünstigten zugutekommen. 36 Aufgrund dieser spezifischen Anreize sollte die Notwendigkeit einer bewußten staatlichen Ordnungspolitik für die Entfaltung des institutionellen Wettbewerbs unbestritten sein. Die verschiedenen Ansätze der ökonomischen Theorie der Institutionen und hierbei besonders die Transaktionskostenökonomie geben jedoch keine Antwort auf die Frage, welche und wieviele Ordnungsregelungen notwendig sind, damit sich der institutionelle Wettbewerb möglichst frei und produktiv gestalten kann. Die traditionelle Ordnungstheorie ist hierzu immer noch hilfreicher, denn die von Eucken spezifizierten konstituierenden Prinzipien einer Wettbewerbsordnung entsprechen weitgehend den oben abgeleiteten Vorbedingungen für das Funktionieren des institutionellen Wettbewerbs. Die Prinzipien der Sicherung offener Märkte, des Privateigentums, der Vertragsfreiheit oder der unbeschränkten Haftung sind nur andere Bezeichnungen der hier angeführten Gewerbe-, Vertrags-, Berufs- oder Niederlassungsfreiheit sowie privater Eigentumsrechte. Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings bezüglich der Forderung nach Herstellung der Preisbildung der vollständigen Konkurrenz. Der ausschließliche Anspruch auf die Herstellung einer spezifischen Marktform läßt sich weder aus der Perspektive der modernen Markt- und Wettbewerbstheorie noch aus jener der ökonomischen Theorie der Institutionen aufrechterhalten. 37 Denn die effiziente Marktstruktur ist ja danach ebenso wie die Unternehmensstruktur zu entdecken und an Veränderungen anzupassen, wobei die Sicherung der Wettbewerbsfreiheit auch bezüglich der Institutionenwahl die wichtigste Aufgabe der Wettbewerbspolitik bilden sollte. Die Begründung der konstituierenden Prinzipien des institutionellen Wettbewerbs bleibt unvollständig, wenn nicht nach den Bedingungen und Umständen des Zustandekommens und der Durchsetzung im politischen Entscheidungsprozeß gefragt wird. Ob35 36
37
Vgl. W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, a.a.O. Vgl. näher Guy Kirsch, Ordnungspolitik als Gegenstand der politischen Auseinandersetzung, in: Otmar Issing (Hg.), Zukunftsprobleme der Sozialen Marktwirtschaft, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. Band 116, Berlin 1981, S. 225-275. Vgl. Erich Kaufer, Nochmals: Von der Preistheorie zur Wettbewerbstheorie, in: ORDO, Bd. 18, 1965, S. 95-114.
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wohl die Transaktionskostenökonomie das analytische Interesse auf das Zustandekommen von Strukturen und Institutionen gelenkt hat, kann sie zur Frage der politischen Implementierung nur wenig Aufschlüsse beisteuern. Im folgenden soll die bereits oben angeführte und kurz erläuterte Frage von Schenk wieder aufgenommen werden, ob der Wettbewerb zwischen den Parteien in demokratischen Gesellschaftsordnungen dafür sorgt, daß auch im politischen Wettbewerb die transaktionskostenminimalen Institutionen durchgesetzt werden. Aus der Perspektive der ökonomischen Theorie der Politik läßt sich diese Frage in knapper Form beantworten. Diese Theorie unterstellt ein eigennutzorientiertes Verhalten der konkurrierenden Politiker als charakteristisches Verhaltensmotiv, dessen Realisierung in parlamentarischen Demokratien an die Erlangung der Wählerstimmenmehrheit gebunden ist.38 Der unerläßliche Zwang, in den periodisch anstehenden Wahlen möglichst viele Stimmen zu gewinnen, bildet zugleich einen starken Anreiz, die Wirtschafts- und Sozialpolitik für wahlpolitische Zwcke einzusetzen. In ökonomischer Betrachtung haben die politischen Unternehmer - ähnlich wie auf den privaten Gütermärkten - öffentliche Güter anzubieten, auf dem Wählerstimmenmarkt durchzusetzen und als parteispezifisches Produkt gegenüber der konkurrierenden Opposition zu verwerten. Dabei sind jedoch Besonderheiten des Wählerstimmenmarktes und des politischen Erfolgskriteriums zu beachten. Die im politischen Bereich produzierten und bereitgestellten Güter und Leistungen besitzen in der Regel den Charakter von Kollektivgütern, deren Produktion und Nachfrage aufgrund der Nichtexklusivität und Nichtrivalität einem eigenen Nutzen-KostenKalkül unterliegen. Diese Besonderheiten gelten auch für die wirtschaftliche Ordnungspolitik, so daß für die Politiker starke Anreize bestehen, sie wählerwirksam einzusetzen. So liegt es nahe, ordnungspolitische Sonderregelungen für jene Wählergruppen einzuräumen, von denen anzunehmen ist, daß sie einen relativ geschlossenen Stimmenblock repräsentieren und Sondervergünstigungen auch in Wahlen honorieren. Die häufig notwendig werdende Koalition von Parteien und damit von Interessengruppen bildet dabei die wichtigste Triebkraft für die sozialstaatliche Expansion. 39 Da bei wechselnden Mehrheiten die neue Koalition auch Parteien oder Teilinteressen von früheren Koalitionen aufnimmt, muß nicht nur die Klientel der Wahlsieger mit rechtlichen und materiellen Vergünstigungen bedacht werden, sondern es müssen auch bisher verteilte Privilegien weitergewährt werden. Diese koalitionsspezifische Anspruchslogik erschwert eine Kompensation alter und neuer Vergünstigungen und begünstigt so die Gewährung ständiger zusätzlicher öffentlicher Wohltaten. Die Verwaltung von Ansprüchen, Zuteilungen und Regelungen führt zwangsläufig auch zur Expansion der öffentlichen Bürokratien, die interessenbedingt selber zur Vergrößerung tendieren.
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39
Vgl. den Überblick bei Bruno S. Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, München 1981. Vgl. James M. Buchanan, The Limits of Liberty: Between Anarchy and Leviathan, Chicago and London 1975; Charles Beat Blankart, Warum wächst der Sozialstaat? Eine institutionelle Erklärung, in: Peter Koslowski, Philipp Kreuzer, Reinhard Low (Hg.), Chancen und Grenzen des Sozialstaats, Tübingen 1983, S. 154-160.
Ordnungspolitische Implikationen der Transaktionskostenökonomie
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Die Ausweitung des Staatssektors geht dabei aufgrund des koalitionsbedingten und bürokratischen Sperrklinkeneffektes zu Lasten des privatwirtschaftlichen Marktsektors. Dessen Funktionsweise wird nicht nur quantitativ durch den zwangsweisen Entzug von Ressourcen für sozialstaatliche Zwecke, sondern auch qualitativ durch die zunehmende Regulierung und Verformung des Ordnungsrahmens beeinträchtigt. Die Indienstnahme der Wirtschaftsordnung für Sonderinteressen untergräbt so allmählich die wettbewerbliche Dynamik und führt zu einem immer größeren Auseinanderklaffen von Ordnungsprinzipien und Ordnungsrealität. Die Ordnungspolitik in parlamentarischen Demokratien läßt sich daher mit großer Wahrscheinlichkeit nicht prinzipiengetreu entwickeln; sie wird sich demnach nur schwerlich auf die Gestaltung ordnungs- und wettbewerbskonformer Grundprinzipien beschränken lassen. Sie bemächtigt sich vielmehr weiterer institutioneller Bereiche. Die nachweisbare Tendenz, Unternehmensverfassungen (z. B. durch Mitbestimmung) und Marktverfassungen in einzelnen Branchen (z.B. der Verkehrs- und Landwirtschaft) oder Bereichen (z.B. Arbeitsmarkt) mehr und mehr zu regulieren, sollte aufgrund der Anreizbedingungen des Wählerstimmenmarktes nicht überraschen. Damit wird jedoch der Spielraum für den institutionellen Wettbewerb zunehmend enger. Für den hier nur knapp skizzierten Übergang vom liberalen Ordnungsstaat zum sozialen Wohlfahrtsstaat lassen sich in nahezu allen westlichen Konkurrenzgesellschaften ausreichende Belege finden.40 Diese Erfahrungen sollten die skizzierten Erkenntnisse der ökonomischen Theorie der Politik erhärten, daß in parlamentarischen Demokratien starke Anreize bestehen, die Ordnungspolitik als wählerwirksames Instrument im politischen Kräftefeld einzusetzen. Der Kalkül, der die Entscheidungen im politischen Wettbewerb zwischen Parteien und Interessengruppen beherrscht, weicht dabei offensichtlich vom privatwirtschaftlichen Effizienzkalkül ab. Für die Annahme, daß sich die Gestaltung der Institutionen durch politische Entscheidungsträger tendenziell an der Minimierung der Transaktionskosten orientiert, lassen sich weder theoretisch plausible Argumente noch empirische Belege anführen. Man braucht nur einmal die Arbeitsweise öffentlicher Unternehmen und Bürokratien sowie die Wettbewerbs- und effizienzmindernden Wirkungen der vielen branchenspezifischen Sonderregelungen zu betrachten und mit den Bereichen zu vergleichen, die vom privatwirtschafclichen Gewinnkalkül geprägt sind und in denen der institutionelle Wettbewerb funktioniert. Der unterschiedliche Stellenwert des Effizienz- oder Transaktionskostenkalküls wird dabei sofort evident. Offensichdich wird das Verhalten der konkurrierenden politischen Entscheidungsträger deshalb nicht maßgeblich vom Kriterium der Transaktionskostenminimierung motiviert, weil es nicht genügend Wähler wirksam mit Sanktionen belegen. Der Hauptgrund dafür, daß die Wähler nur wenig bereit sind, eine marktkonforme Ordnungspolitik und effizienzbedachte Wirtschaftsweise der öffentlichen Verwaltungen und Instanzen stimmenwirksam zu honorieren, liegt in den bekannten Anreizdefekten öffentlicher Güter und Leistungen begründet. Die Erhöhung der Wettbewerbsintensität und die Steigerung 40
Vgl. Walter Hamm, An den Grenzen des Wohlfahrtsstaates, in: ORDO, Bd. 22, 1981, S. 117-139; Peter Bernholz, Expanding Welfare State, Democracy and Free Market Economy: Are They Compatible?, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 138, 1982, S. 583-598.
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der bürokratischen Effizienz kommen nämlich nicht nur den Initiatoren dieser Maßnahmen, sondern darüber hinaus auch anderen Wählergruppen zugute, die dafür weder Zeit noch Ressourcen und Anstrengungen beigesteuert haben. Aufgrund des hohen Streueffekts öffentlicher Güter und Leistungen können die Erträge von einzelnen Verbesserungs- und Kontrollinitiativen auch nur höchst unvollständig den Initiatoren zugerechnet werden. Der Änderungs- und Kontrollelan der Wähler bleibt daher bescheiden und entzündet sich am ehesten, wenn zurechenbare Sondervorteile winken oder entzogen werden sollen. Die Folge ist, daß die Politiker in den Wahlen auch keinem wirksamen Druck zur wettbewerbsfördernden und transaktionskostenminimalen Institutionengestaltung ausgesetzt sind. Wegen der genannten Anreiz- und Kontrolldefekte spielt der Transaktionskostenkalkül bei der staatlichen Institutionengestaltung im politischen Wettbewerb daher auch nur eine untergeordnete Rolle. Aufgrund der schwachen Kontrolleffizienz des Wählerstimmenmarktes bleibt das Wirken einzelner politischer Persönlichkeiten die wahrscheinlich wirksamste Ordnungsinstanz. Die „men of State" (A. Smith) finden jedoch meist erst in politischen und wirtschaftlichen Umbruch- und Notsituationen den ausreichenden Entfaltungsraum und die notwendige wählerwirksame Anerkennung für eine Neubesinnung der Ordnungspolitik. Das Vertrauen auf die institutionelle Gestaltungs- oder Erneuerungskraft politischer Autoritäten reicht wahrscheinlich jedoch nicht aus, um die Aktivitäten der „men of system" hin zur interessen- und wählergruppenbezogenen Verformung der Wirtschaftsordnung langfristig zu bremsen. Angesichts der negativen Erfahrungen scheint daher auf Dauer der am ehesten erfolgversprechende Weg darin zu bestehen, die ordnungspolitischen Zuständigkeiten der Politiker verfassungsmäßig zu beschränken. Dies würde bedeuten, die politischen Instanzen auf die Schaffung und Sicherung der für die Entfaltung und das Funktionieren des prozessualen und des institutionellen Wettbewerbs notwendigen Rahmenbedingungen im Sinne der weiter oben präzisierten wirtschaftlichen Grundrechte zu verpflichten. 41 Die Beschränkung der ordnungspolitischen Kompetenzen bietet angesichts der Unvollkommenheiten des politischen Wettbewerbs die beste Gewähr dafür, daß der institutionelle und tendenziell kostenminimierende Wettbewerb einen ausreichenden Entfaltungsraum erhält. Solche konstitutionellen Regelungen, deren Durchsetzbarkeit schwierig genug und eher unwahrscheinlich sein dürfte, können und sollen eine auf die Revitalisierung der Marktkräfte zielende Politik staatsmännischer Persönlichkeiten auch nur erleichtern, nicht jedoch ersetzen.
5.
Schlußbemerkungen zur Synthese von institutionellen Entwicklungs- und Wirkungstheorien
Neben der nachgeordneten Bedeutung der Transaktionskosten im Prozeß der politischen Institutionengestaltung bleibt als weiteres Ergebnis der vorangegangenen Analyse festzuhalten, daß das Wissen über das Zustandekommen der äußeren Institutionen wich41
Als mögliche Regelung sei auf Art. 31 der Schweizerischen Bundesverfassung verwiesen. Zur Erläuterung vgl. Egon Tuchtfe/dt, Die Wirtschaftsordnung der Schweiz im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland, in: Reinhold Biskup (Hg.), Schweiz-Bundesrepublik Deutschland: Wirtschaftliche, politische und militärische Aspekte im Vergleich, Bern und Stuttgart 1984, S. 15-58. Vgl. auch J. M. Buchanan, a.a.O., S. 166 ff.
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tige Aufschlüsse für die Ableitung und speziell die Begrenzung der ordnungspolitischen Gestaltungsaufgabe des Staates in Marktwirtschaften vermittelt. Gerade für die Begründung einer systemkonformen Ordnungspolitik ist dieses Wissen zumindest nicht weniger wichtig als jenes über die Auswirkungen von institutionellen Maßnahmen, womit erneut die eingangs geforderte Synthese von Entwicklungs- und Wirkungstheorien angesprochen ist. Die dabei aufgeworfene Frage, ob die Transaktionskostenökonomie dazu einen Beitrag liefern kann, ist abschließend trotz der geäußerten methodischen Bedenken zu bejahen. Denn mit den Transaktionskosten wird zweifellos eine wichtige analytische Kategorie für die ökonomische Erklärung der Entwicklung und Wahl von Institutionen bereitgestellt. Die im Laufe der Untersuchung herausgehobenen Mängel der situationsbezogenen, statischen Betrachtungsweise und der bisher ungenügenden Spezifizierung der Kostendeterminanten können behoben werden, wenn das Transaktionskostenkonzept in einen an den Funktionserfordernissen der systemspezifischen Wirtschaftsrechnung orientierten Erklärungsansatz integriert wird. Am Beispiel der dynamischen Markttheorie haben wir die mögliche Vorgehensweise für eine solche Integration angedeutet. Analoge Interdependenzen zwischen der güterwirtschaftlichen Allokations- und der Institutionenebene lassen sich auch für das planwirtschaftliche Wirtschaftssystem aufdecken.42 Der für dieses Allokationssystem charakteristische Bruch in der Wirtschaftsrechnung, der aus dem unverbundenen Nebeneinander von bilanz- und preisgesteuerter Allokation resultiert, bildet die eigentliche Ursache für den permanenten Zwang zu Reformen der Leitungs- und Unternehmensverfassungen. Auch die im letzten Abschnitt für parlamentarische Demokratien festgestellte dysfunktionale Entwicklung der äußeren Institutionen läßt sich ursächlich auf deren Einbindung in die Funktionserfordernisse des Wählerstimmenmarktes oder - anders formuliert - auf deren Abkoppelung vom marktwirtschaftlichen Rechnungszusammenhang zurückführen. Die wesentliche Gemeinsamkeit besteht in beiden Fällen offensichtlich darin, daß die Funktionsmängel im Rechnungs- oder Allokationssystem auf die Institutionenebene durchschlagen und hier zu unbeabsichtigten institutionellen Entwicklungen fuhren. Die an der Wirkungsweise der systemspezifischen Wirtschaftsrechnung ansetzende Erklärung dieser Zusammenhänge eröffnet nicht nur einen fruchtbaren Zugang zur Analyse der institutionellen Entwicklung, sondern auch der unbeabsichtigten institutionellen Rückwirkungen auf die Funktionsweise des Allokationssystems. Die bei dieser Vorgehensweise möglich erscheinende Synthese von „developmental and impact theories" dürfte daher ein zukunftsträchtiges Forschungsprogramm der ökonomischen Theorie der Institutionen bilden.
Zusammenfassung In diesem Artikel werden der Erklärungsgehalt und die ordnungspolitischen Implikationen der Transaktionskostenökonomie untersucht, wie sie insbesondere von O. E. 42
Vgl. A. Schüller; Der theoretische Institutionalismus als Methode des Systemvergleichs, a.a.O.
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Williamson entwickelt worden ist. Diese noch junge Theorierichtung strebt eine ökonomische Erklärung der Wahl und des Wandels von Institutionen an. Konkret soll die Institutionenwahl in einen eindeutigen Zusammenhang mit den Merkmalen von Transaktionen gebracht werden. Die dabei herausgehobenen Merkmale, wie der Umfang der transaktionsspezifischen Investitionen, der Unsicherheit und Häufigkeit von Transaktionen, repräsentieren zugleich die wesentlichen Determinanten der Transaktionskosten. Die kritische Überprüfung der Aussagen und Folgerungen der Transaktionskostenökonomie aus der Sicht der dynamischen Markttheorie vermag einige methodische und theoretische Mängel freizulegen, die vor allem aus der situationsbezogenen und statischen Betrachtungsweise resultieren. Es wäre deshalb verfehlt, aus der Diagnose transaktionskostenminimaler Markt- oder Unternehmensstrukturen unmittelbare Schlußfolgerungen für die Gestaltung gesamtwirtschaftlich wünschenswerter Institutionen in Marktwirtschaften ziehen zu wollen. Dazu wären neben Aussagen über die Entwicklungsbedingungen auch solche über die gesamtwirtschaftlichen Wirkungen von Institutionen notwendig. Die Erklärung des institutionellen Wandels läßt sich präzisieren, wenn das Transaktionskostenargument in den breiter gespannten Erklärungsrahmen der ökonomischen Theorie der Institutionen integriert wird. Hierzu bietet sich die Unterscheidung zwischen „inneren Institutionen der Marktwirtschaft", die in wettbewerblichen Marktprozessen zustande kommen, und bewußt gesetzten „äußeren Institutionen" an. Es wird gezeigt, daß sich nur die inneren Institutionen nach Maßgabe der relativen Transaktionskosten entwickeln, wobei der institutionelle Wettbewerb als das maßgebliche Entdeckungsverfahren wirkt. Voraussetzung für die Funktionsfahigkeit dieses Verfahrens ist jedoch die Existenz grundlegender Rechte - der äußeren Institutionen - , die als Ordnungsrahmen der Marktwirtschaft bewußt vom Staat zu setzen und zu sichern sind. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Parteienwettbewerb in parlamentarischen Demokratien keine Gewähr für eine transaktionskostenminimale und marktkonforme Gestaltung der äußeren Institutionen bietet. Vielmehr bestehen für Politiker wirksame Anreize, den Ordnungsrahmen fur wahlpolitische Zwecke einzusetzen, weshalb eine verfassungsmäßige Beschränkung der ordnungspolitischen Zuständigkeit des Staates naheliegt.
Summary: Transaction cost economics and the shaping of the economic order This article analyses transaction-cost economics, as developed by O. E. Williamson, for its explanatory content and its implications on the shaping of the economic order. The transaction cost approach aims at an economic explanation for the choice and change of institutions. Its main objective is to find a clear connection between the choice of institutional structures and the essential characteristics of transactions. These characteristics, such as the scope of transaction-specific investments and the uncertainty and frequency of transactions also represent the main determinants of transaction costs. A critical examination of the transaction cost approach (from the point of view of the dynamic market theory) reveals some methodological and theoretical deficiencies, re-
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suiting mainly from a static and situational approach. It would be incorrect to use the diagnosis of firm or market structures with minimal transaction costs as a guideline for shaping institutions desirable in market economies. In addition to information about developmental conditions, it is also necessary to gain insight into the overall economic effects of institutions. Institutional change can be better explained if the transaction cost argument is integrated into a broader and dynamic concept of the economic theory of institutions. The author distinguishes institutions developing in a competitive situation ("internal institutions" of the market economy), and institutions established by governmental action ("external institutions" of the market economy). He shows that only internal institutions develop according to relative transaction costs, institutional competition being the decisive factor. This competitive process, however, depends on the existence of basic economic rights, i. e. the external institutions - or the legal framework - to be set up and maintained by the state. Competition between parties in parliamentary democracies cannot guarantee external institutions that minimize transaction costs and do not interfere with market processes. In fact, there are strong incentives for politicians to use the institutional framework for election purposes. Therefore, constitutional restrictions on government as to Ordnungspolitik - political decisions shaping the economic order would be advisable.
Vertragstheorie und Gerechtigkeit** Inhalt 1. Einleitung
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2. Vertragstheorie versus Utilitarismus
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3. Gerechtigkeit und Konsens durch Verhandlungen bei ungleichen Ausgangsbedingungen
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4. Gerechtigkeit durch Akzeptanz natürlicher Rechte zwischen Ungleichen
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5. Gerechtigkeit durch faire Übereinkunft zwischen Gleichen
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6. Vergleichende Würdigung
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Literatur
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Erstdruck in: Gernot Gutmann und Alfred Schüller (Hg.), Ethik und Ordnungsfragen der Wirtschaft, Baden-Baden 1989, S. 357-385.
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Einleitung
Gegenwärtig läßt sich für die Sozial- und insbesondere für die Wirtschaftswissenschaften eine regelrechte „Ethik-Konjunktur" beobachten. Es ist unklar, ob es sich hierbei um ein auch der Wissenschaft nicht unbekanntes modisches Phänomen oder aber um ein tiefergreifendes Unbehagen am tradierten Wissenschaftsverständnis handelt. Zumindest ist ein verbreitetes Mißtrauen gegenüber einer sich wertfrei gebenden Wissenschaft nicht in Abrede zu stellen. Ausschlaggebend dafür dürfte auch das Bewußtsein über die begrenzte Fähigkeit der existierenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Institutionen sein, existentielle und globale Herausforderungen zufriedenstellend zu lösen. Daraus leitet sich die Forderung nach einer verstärkten normativethischen Ausrichtung der Wissenschaft ab, wobei das Verlangen nach gerechteren oder funktionsfähigeren Institutionen zweifellos einen Schwerpunkt der Ethikdiskussion bildet. Insofern verbindet sich die Renaissance der Ethik auch mit einer Renaissance der Ordnungs- oder Institutionentheorie. Dabei stellt sich sofort die Frage nach der normativ-ethischen Kompetenz der Ordnungstheorie. Soll und kann sie die Forderungen der Ethik aufnehmen und konkrete normative Ordnungskonzepte anbieten? Im folgenden soll gezeigt werden, daß die Vertragstheorie eine Methode repräsentiert, Aussagen über Werturteile und damit auch über normative Ordnungsfragen abzuleiten oder zumindest zu diskutieren. Diese Eignung hat bereits KANT hervorgehoben. Seiner Meinung nach sind der Gesellschaftsvertrag und das damit verbundene allgemeine Konsenserfordernis „keineswegs als ein Faktum vorauszusetzen nötig"; vielmehr verkörpere der Vertragsgedanke die „bloße Idee der Vernunft" und das Konsenskriterium den „Probierstein für die Rechtmäßigkeit" von Institutionen {Kant 1968, S. 153). Diese Charakterisierung umschreibt auch das-Erkenntnisinteresse der neueren Ansätze der Theorie des Gesellschaftsvertrages, die in diesem Beitrag behandelt werden. Übersetzt man den Begriff der Rechtmäßigkeit durch den der Gerechtigkeit, so ist diejenige zentrale Norm genannt, die im Zentrum der verschiedenen Theorien des Gesellschaftsvertrages steht. Die methodische Eigenart der Vertragstheorien bezüglich der Ableitung der Gerechtigkeitsgrundsätze wird deutlicher, wenn sie mit der utilitaristischen Denktradition verglichen wird, die bis heute das wirtschaftswissenschaftliche Denken dominiert. Das Modell des Gesellschaftsvertrages richtet sich nicht nur gegen diese Tradition, sondern bietet zugleich eine methodische Alternative zur Ableitung von normativen Aussagen an (2.). Dieses Vorhaben soll mit Bezug zur Idee der Gerechtigkeit und insbesondere der Verteilungsgerechtigkeit exemplarisch für die Ansätze von Buchanan (3.), Nozick (4.) und Rawls (5.) aufgezeigt werden. Abschließend sind die Vor- und Nachteile der vertragstheoretischen Methode zu würdigen (6.).
2.
Vertragstheorie versus Utilitarismus
Die neueren Theorien des Gesellschaftsvertrages sind aus der kritischen Auseinandersetzung mit der utilitaristischen Denkweise hervorgegangen. So versteht Rawls (1975, S. 40) seine Theorie der Gerechtigkeit als „Alternative zum utilitaristischen Denken im allgemeinen und damit zu allen seinen Schattierungen". Auch bei Buchanan (1959) liefert die utilitaristische Komponente der modernen Wohlfahrtsökonomie den
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kritischen Auslöser für seine Theorie. Der Hauptgedanke des Utilitarismus besteht darin, daß die Gesellschaft gerecht geordnet ist, wenn die Institutionen oder die politischen Maßnahmen den höchsten Nutzen für die Menschen hervorbringen. Folglich ist die diesem Programm verpflichtete Politik darauf ausgerichtet, die bestmögliche Befriedigung der Bedürfnisse aller Gesellschaftsmitglieder sicherzustellen. Dieses Ziel kann sich auf die Maximierung entweder des kollektiven Gesamtnutzens oder des durchschnittlichen Pro-Kopf-Nutzens beziehen. Beiden Versionen gemeinsam ist der Vorrang der kollektiven Wohlfahrt vor individuellen Interessen und Bedürfnissen. Als zentrales Problem erweist sich das Vorhaben, die verschiedenen individuellen Nutzen zu einem kollektiven Gesamtnutzen zu verrechnen. Diese Aufgabe erfüllt bei einigen Vertretern des klassischen Utilitarismus der unparteiische Beobachter, der dabei notwendigerweise Mutmaßungen über individuelle Interessen anstellen und diese vereinheitlichen muß. Das gleiche Aggregationsproblem stellt sich bei der Konstruktion der sozialen Wohlfahrtsfunktion gemäß den Vorstellungen der modernen Wohlfahrtsökonomie. Aus vertragstheoretischer Sicht handelt es sich hierbei nicht um ein empirisches, sondern um ein normatives Problem, weil für die Ermittlung des Gesamtnutzens Nachteile einiger gegenüber den Vorteilen anderer Personen aufzurechnen und Nutzenvorstellungen zu unterstellen sowie zu vereinheitlichen sind. Selbst der unparteiische Beobachter ist nicht davor gefeit, Interessen von Einzelnen oder Minderheiten zugunsten des Gesamtnutzens zu opfern. Diese Gefahr gilt erst recht für den verantwortlichen Politiker, der eine konstruierte soziale Wohlfahrtsfunktion zu maximieren trachtet. Nach Rawls (1975, S. 45) ist es daher verfehlt, das für den Einzelnen vernünftige Nutzenmaximierungsprinzip in den Rang eines kollektiven Entscheidungsprinzips zu erheben, denn der „Utilitarismus nimmt die Verschiedenheit der einzelnen Menschen nicht ernst". Insofern kann er die Maximierung des kollektiven Nutzens nicht als Kriterium der Gerechtigkeit anerkennen, und zwar weder für die Ableitung gerechter Regelungen noch für konkrete wirtschaftspolitische Handlungen. Am Beispiel der kardinalistischen Version des Utilitarismus läßt sich zeigen, welche weitgehenden und aus vertragstheoretischer Sicht verfehlten verteilungspolitischen Schlußfolgerungen daraus ableitbar sind. Unterstellt man annähernd gleiche Nutzenfunktionen der Wirtschaftssubjekte mit abnehmendem Grenznutzen, gelangt man mit Pigou (1932, S. 89) zu der Einsicht, „that any transferance of income from a relatively rieh man to a relatively poor man of similiar temperament, since it enables more intensive wants to be satisfied at the expense of less intensive wants, must increase the aggregate sum of satisfaction". Spätestens seitdem die Problematik der kardinalen Nutzenmessung und des interpersonellen Nutzenvergleichs erkannt worden ist, lassen sich solche Schlußfolgerungen nicht länger begründen. In der modernen Wohlfahrtsökonomie fungiert daher nur das Pareto-Kriterium als akzeptabler Maßstab. Nach diesem Kriterium läßt sich bekanntlich eine Erhöhung des gesellschaftlichen Wohlstands feststellen, wenn der Nutzen mindestens eines Individuums angestiegen ist, ohne daß sich der Nutzen eines anderen verringert. Die normative Kompetenz wird dadurch fast ausschließlich auf die allokative Effizienzbewertung gelenkt, während die Beurteilung von Verteilungsverhältnissen auf Sonderfälle beschränkt bleibt, bei denen die Umverteilung zugunsten einzelner nicht zu Lasten anderer
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Personen geht. Demgemäß gilt das Verteilungsproblem als normatives oder ethisches Problem, zu dem Ökonomen zu schweigen haben. Diese Einsicht bestätigt Scitovsky (1951, S. 60), der resignativ feststellt, daß den Ökonomen ein Maßstab für die Beurteilung einer gerechten Einkommensverteilung (equity) fehle. Das Vorhaben, 100 Dollar von einem Millionär auf einen Bettler zu transferieren, lasse sich nicht anhand wissenschaftlicher Kriterien, sondern nur nach Maßgabe des „common sense" rechtfertigen. Auch der Versuch, durch die Entwicklung von Kompensationskriterien Aussagen über effiziente oder gerechte Umverteilungen analytisch zu begründen, erwies sich als wenig erfolgreich. Dabei besteht nach Buchanan zudem die Gefahr, daß ethische Bewertungen außenstehender Beobachter in verdeckter Form eingeführt werden. Diese Versuchung bestehe auch bei der Anwendung des Pareio-Kriteriums, wenn es losgelöst von individuellen Handlungen zur Diagnose von Wohlfahrtsverbesserungen benutzt werde: „No social value scale can be constructed from individual preference patterns, since the latter are revealed only through behavior. Hence efficiency cannot be defined independently" (.Buchanan 1959, S. 126). Mit der einschränkenden Forderung, daß Wohlstands- oder verteilungspolitische Wertungen nur mit Bezug zu tatsächlichen Verhaltensweisen der Individuen zulässig sind, wird der Möglichkeitsbereich normativer Aussagen zugleich erweitert und die normative Grundposition der Vertragstheorie bestimmt. Als effiziente bzw. gerechte Bedingungen oder Veränderungen können nur jene gelten, die die Zustimmung aller betroffenen Subjekte oder Gruppen finden und die durch konkrete Entscheidungen oder Handlungen offenbart werden. Die Verbindung des Pareto-Kriteriums mit dem Wickse//schen Postulat der Einstimmigkeit erlaubt so nicht nur Aussagen über effiziente Allokationen, sondern auch über die Verteilungsgerechtigkeit. Das Konsens- oder Einstimmigkeitskriterium läßt nur authentische Bewertungen der Betroffenen gelten und soll somit normative Vorgaben oder ethische Räsonnements der Forscher überflüssig machen. Damit ist die normative Grundposition des vertragstheoretischen Ansatzes vorgezeichnet. Er orientiert sich im Unterschied zur utilitaristischen Positio nicht an zugeflossenen Nutzen oder Endzuständen, sondern an der Zustimmung zu gesellschaftlichen Regeln des sozialen Zusammenlebens und ist somit konsens- und regelorientiert. In der Vertragstheorie gelten das freie Individuum und dessen Interessen als höchster Maßstab (vgl. Höffe 1979; Zintl 1983; Koller 1986). In Verbindung mit dem Konsenserfordernis liegt daher der Bezug zur Vertragsfigur nahe. Indem Personen freiwillig eine vertragliche Vereinbarung treffen, signalisieren sie ihren Willen zu den Rechten und Pflichten, damit zu den Ergebnissen der Vereinbarung. Unter der Voraussetzung, daß die Vertragspartner die Vereinbarung als gleichberechtigte und freie Subjekte freiwillig schließen, wird der Vertrag zeit- und gebietsunabhängig als Prototyp der fairen Einigung anerkannt. Sollte diese für den privatrechtlichen Bereich akzeptable Einigungsform nicht auch auf den gesellschaftlichen Bereich übertragen werden? Die plausible Vorstellung, die grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit oder der sozialen Ordnung aus dem Willen und der Zustimmung aller betroffenen Gesellschaftsmitglieder abzuleiten, vermeidet jedenfalls die Notwendigkeit, dafür göttliche, staatliche, wissenschaftliche oder sonstige paternalistische Weisheiten in Anspruch zu nehmen. Vernünftige und
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freie Menschen nehmen daher in der Vertragstheorie den Rang als höchste Normierungsinstanz ein. Freilich bereitet schon die etwas konkretere Vorstellung über das Zustandekommen eines Gesellschaftsvertrages erhebliche Schwierigkeiten. Die Annahme, die Legitimation der grundlegenden Regelungen der sozialen Ordnung aus dem Konsens der Bürger herzuleiten, entbehrt nicht nur der historischen Erfahrung, sondern auch der praktischen Einlösbarkeit. Diejenigen Vertreter der Vertragstheorie, die sich wie Locke (1974) etwa um Konkretisierungen bemüßigt sahen, indem sie den Verbleib in einem Staat oder die Ausübung des Wahlrechtes als Zeichen der Zustimmung zu der bestehenden Ordnung deuteten, mußten natürlich die Kritik herausfordern. Diese gutgemeinten Versuche hat Hume (1976) bereits ironisch kommentiert und mit der Situation von Schiffspassagieren verglichen, die vor der Alternative stehen, auf dem Schiff zu bleiben oder über Bord zu springen, und deren Verbleib dann als Zustimmung zur Befehlsgewalt des Kapitäns interpretiert werde. Der Einwand der mangelnden historischen oder praktischen Relevanz des Gesellschaftsvertrages verkennt allerdings das Erkenntnisziel des vertragstheoretischen Denkens. Dessen Absicht besteht nicht darin, die Entstehung von Verfassungen oder sozialen Normen zu erklären oder zu rekonstruieren. Es richtet sich vielmehr auf die Begründung konsensfähiger und damit vernünftiger Grundsätze oder Regelungen. Daher kommt es auf die Gründe für oder gegen solche Prinzipien oder Regeln an. Demgemäß versuchen die Theorien des Gesellschaftsvertrags eine Situation zu modellieren, in der die Menschen annahmegemäß die Chance haben, über die grundlegenden Bedingungen des Zusammenlebens frei entscheiden zu können, wobei die denkmögliche Einigung das normative Kriterium abgibt. Eine derartig fiktive Situation ist modellmäßig durch entsprechende Annahmen aufzubereiten, was in der vertragstheoretischen Tradition mit Hilfe der Figur des Urzustandes geschieht. Je nach dem Ausmaß, in dem dieser Zustand bereinigt wird, lassen sich echte und unechte Vertragstheorien unterscheiden (vgl. Zintl 1983, S. 29 ff.). Echte Vertragstheorien gehen von möglichst realistischen Bedingungen aus, d. h. von Individuen mit unterschiedlichen und nur ihnen selbst bekannten Präferenzen, Fähigkeiten und Ressourcen. Die normative Vorgabe reduziert sich auf die Forderung, daß diejenigen Regelungen als effizient oder gerecht zu gelten haben, denen die Individuen freiwillig und ausnahmslos zustimmen könnten. Der Wissenschaftler soll dadurch in der Position des reinen Beobachters und Analytikers verbleiben, der keine paternalistischen Urteile einzugeben, sondern nur mögliche Urteile abzuleiten und zu begründen braucht. Als ein Repräsentant für diesen anspruchsvollen Typus der Vertragstheorie hat Buchanan (III.) zu gelten. Dagegen wird in unechten Vertragstheorien der Ausgangszustand methodisch oder moralisch bereinigt. Dies kann dadurch geschehen, daß Beschränkungen für individuelle Präferenzen oder Interessen der Individuen vorgegeben werden. Beispielsweise kann angenommen werden, daß die Menschen bereits im Urzustand grundlegende Menschenund Freiheitsrechte anerkennen. Ein typischer Repräsentant für diese Vorgehensweise ist Nozick (4.). Darüber hinaus kann der Ausgangszustand durch die Annahme beschränkter Informationen der Individuen über die eigenen Fähigkeiten und die soziale
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Position bereinigt werden. Repräsentativ für diese Vorgehensweise ist die Vertragstheorie von Rawls (5.). Die für unechte Vertragstheorien charakteristische Modellierung der Ausgangsbedingungen markiert methodisch den ersten Schritt der Normdiskussionen. In einem zweiten Schritt sind dann die Normen oder Regelungen abzuleiten, die im Rahmen der Ausgangsbedingungen die Zustimmung aller beteiligten Personen finden könnten. Es entspricht der Logik der Modellkonklusion, daß die Ergebnisse von den gemachten Annahmen abhängen. Insofern kommt der Modellierung des Ausgangs- oder Urzustandes eine entscheidende Bedeutung zu. Dadurch wird die Ableitung der Verfassungsregelungen oder der Gerechtigkeitsgrundsätze vorbestimmt. Die Analyse und Bewertung der zur Wahl stehenden Grundsätze orientieren sich an dem Kriterium der universellen Konsensfähigkeit. Dafür sind die erwartbaren Auswirkungen der alternativen Regelungen zu analysieren und zu vergleichen. Ferner ist zu begründen, welche Regelungen für die Menschen am akzeptabelsten sind. Dieses Vorhaben setzt analytische und erklärende Anstrengungen des Forschers in Form der vergleichenden Wirkungsanalyse voraus. Demgemäß vereinigt das vertragstheoretische Modelldenken normative und analytische Elemente (vgl. VanberglWippler 1986). Das normative Element zeigt sich in den Annahmen über den Ausgangszustand und in der Empfehlung und Bewertung deijenigen Regelungen oder Grundsätze, die die Zustimmung der Menschen finden könnten. Das analytische Element kommt in der Analyse der Auswirkungen alternativer Regelungen und damit in der vergleichenden Institutionentheorie zum Ausdruck. Die in abstrakter Form gekennzeichnete Modellstruktur der Vertragstheorie soll im folgenden am Beispiel einzelner moderner Versionen der Vertragstheorie konkretisiert werden. Die Reihenfolge spiegelt dabei das zunehmende Ausmaß normativer Vorgaben in den Modellannahmen wider.
3.
Gerechtigkeit und Konsens durch Verhandlungen bei ungleichen Ausgangsbedingungen
Die Theorie des Gesellschaftsvertrages von Buchanan zeichnet sich gegenüber den anderen Versionen durch die realistische Erfassung des Ausgangs- oder Urzustandes aus, weshalb sie am ehesten dem Typus einer echten Vertragstheorie entspricht. Damit verbindet sich der Anspruch, die Grundsätze der gerechten Ordnungen wertfrei, also ohne normative Vorgaben abzuleiten. Der Theoretiker soll dabei in der Rolle des bloßen Analytikers verbleiben. Absicht von Buchanan ist es, die Aussichten einer möglichen Einigung zwischen Menschen zu erklären, „die im Ausgangsstadium der Überlegungen nicht gleich sind und die nicht künstlich dazu gebracht werden können, sich so zu verhalten, als wären sie es, und zwar weder durch allgemeine Anerkennung interner ethischer Normen noch durch Unterstellung von Ungewißheit über die Position nach Vertragsabschluß" (Buchanan 1984a, S. 249). Das Szenario der Ausgangsbedingungen entspricht jenem von Hobbes: Im Urzustand ist jedes Indiviuum frei und ungebunden, seine Interessen durchzusetzen, wobei ihm als Alternativen die eigene Arbeit, der Raub und dadurch die Verteidigung zur Verfugung stehen. Da die individuellen Präferenzen und Fähigkeiten verschieden sind, wird es zu ungleichen Besitzverhältnissen kommen, die wiederum im Verein mit der herrschenden Unsicherheit und dem fehlenden Rechts-
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bewußtsein Anlaß für Konflikte und gewaltsame Auseinandersetzungen sind. Für die Menschen bedeuten diese Bedingungen nach Hobbes (1970, S. 116) „stündliche Gefahr, ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben". Läßt es sich vorstellen, daß sich dennoch Recht, gesichertes Leben, Eigentum und Gerechtigkeit entwickeln? Die Lösung, die Buchanan (1984a, S. 33 ff.) anbietet, basiert auf der Vorstellung des „natürlichen Gleichgewichts". Dieses ist erreicht, wenn jedes Individuum für sich die effizienteste Verwendung seiner Ressourcen für Produktions-, Raub- und Verteidigungszwecke herausgefunden hat und dann einsieht, daß lediglich die Produktion Wohlstand schafft, der sich im Wege von Raub und Verteidigung entweder nur verteilen oder sichern läßt. Die Erkenntnis dieser Situation legt zugleich die ökonomisch überlegene Lösung nahe: Der Wohlstand läßt sich für alle verbessern, wenn das Eigentum wechselseitig akzeptiert und damit der Raub unterlassen wird. Dadurch kann der für Raub- und Verteidigungszwecke gebundene Ressourcenaufwand verringert und für produktivere Produktionszwecke verwendet werden. Die Einigung auf ein Abrüstungsabkommen und die Anerkennung der Eigentumsrechte bieten sich an, können und werden jedoch den freiwilligen Transfer von Gütern erforderlich machen (vgl. Buchanan 1984a, S. 91). Die bisher von Übergriffen bedrohten Eigentümer werden einem solchen Transfer zustimmen, wenn sie die erreichbare Sicherheit höher bewerten als jene Situation, wo sie ständigem Raub ausgesetzt sind. Umgekehrt verlieren die auf Raub spezialisierten Personen durch die Übereinkunft und werden Kompensationen verlangen, die sie zumindest für eine Übergangszeit zufriedenstellen. Sind die Rechte gesichert, wird sich das arbeitsteilige Tauschhandeln ausbreiten und der Wohlstand gegenüber dem Ausgangszustand in der Anarchie für alle spürbar erhöhen. An dieser Stelle wird bereits das Gerechtigkeitsverständnis von Buchanan deutlich. Gerecht sind diejenigen Regelungen, die die Zustimmung aller betroffenen Personen finden. Eine Einigung auch in redistributiven Angelegenheiten wird dann möglich sein, wenn sie für alle Personen vorteilhaft ist. Der Zustand der Rechtssicherheit ist dabei insbesondere für die relativ begüterten Personen als Vorteil in Rechnung zu stellen, der als Preis die freiwillige Redistribution von Rechten oder Einkommen zugunsten anderer, d. h. der weniger begüterten Personen erforderlich machen kann. Die Einigung hängt maßgeblich von den relativen Macht- und damit Verhandlungspositionen ab. Inhalte und Ergebnisse möglicher Abmachungen bleiben hierbei offen, und genau darin liegt eine analytische Schwäche der Vertragstheorie von Buchhanan. Können beispielsweise die vermögensmäßig relativ schlechtergestellten Personen oder Gruppen glaubhaft ihre Zustimmung zu rechtlich gesicherten Verhältnissen verweigern oder aufkündigen, erscheint nach Buchanan (1976) sogar eine beiderseitige Einigung auf das Unterschiedsprinzip von Rawls denkbar, das an späterer Stelle noch behandelt wird (5.). Jedenfalls wird die freiwillige Redistribution als denkmögliche Alternative zur sozialen Instabilität und damit als Mittel zur Erreichung gesicherter Rechts- und Eigentumsverhältnisse anerkannt. Diese Notwendigkeit kann sich bereits beim Übergang von der Anarchie zur Rechtsordnung aber auch später im postkonstitutionellen Zustand im Falle einer Neuordnung stellen. Im ersten Fall erleichtert die Redistribution die Etablierung des Rechtsschutzstaates. Da die Einhaltung der privaten Übereinkunft zum Schutz des Eigentums unsi-
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eher ist und die Privatjustiz stets den Rückfall in die Anarchie provoziert, bietet es sich an, eine Institution für den Rechtsschutz einzurichten und diese mit wirksamen Sanktionsmaßnahmen auszustatten. Mit dieser Einigung wird der Rechtsschutzstaat begründet, der dem Neutralitätsgebot unterliegt. Seine Aufgabe besteht darin, dem Recht und den Verträgen Geltung zu verschaffen und damit auch die ungleichen Eigentumsverhältnisse zu schützen. Da er weder über gesetzgeberische noch redistributive Kompetenzen verfügt, hat er selber zu Fragen der Gerechtigkeit abstinent zu bleiben. Der Rechtsschutzstaat sieht noch keine Bereitstellung kollektiver Güter vor. Da hierbei die Privatinitiative versagt, liegt es nahe, die Bereitstellung solcher Güter dem Staat zu übertragen, womit der Leistungsstaat begründet wird. Dazu sind Regelungen zu vereinbaren, nach denen das Gemeinwesen über die Bereitstellung und Finanzierung der kollektiven Güter entscheidet. Wegen der hohen Kosten der Einstimmigkeitsregel erscheint eine Einigung auf weniger anspruchsvolle Regelungen, z. B. die Mehrheitsregel, angebracht. Dabei besteht jedoch die Gefahr, daß Mehrheitsentscheidungen zu Lasten von Minderheiten gehen, wodurch nicht konsensgestützte Spielräume für Umverteilungen entstehen, die in der Praxis mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschöpft werden. Insofern wird keine vertragliche Einigung auf irgendeine Form der Mehrheitsregel zustande kommen, die .Kompetenzen für Umverteilung einräumt. Zwar schließt Buchanan nicht aus, daß die relativ begüterten Personen höhere Kostenanteile zur Finanzierung der kollektiven Güter übernehmen, wodurch sich redistributive Effekte für die relativ weniger vermögenden Personen ergeben können, die wiederum deren Bereitschaft erhöhen, die Verfassung zu akzeptieren (vgl. Buchanan 1984a, S. 104). Daneben kann die Mehrheitsregel zu unbeabsichtigten redistributiven Folgen führen, die durch verfassungsmäßige Vorkehrungen so weit wie möglich zu begrenzen sind. Insgesamt ist keine vertragliche Einigung zu erwarten, die dem Staat Verteilungskorrekturen einräumt. Dagegen spricht vor allem die Tatsache, daß die staatlich organisierten Zuwendungen zugunsten einzelner Personen oder Gruppen für andere entsprechende Vermögens- oder Nutzenminderungen bedeuten, denen die belasteten Personen freiwillig nicht zustimmen würden. Ferner sind die von der Einstimmigkeitsregel abweichenden Entscheidungsregeln und hierbei insbesondere die Mehrheitsregel höchst unvollkommene Mittel, um distributive Grundsätze zu erreichen. Es ist evident, daß wechselnde Mehrheiten, die etwa durch alternierende Koalitionen zustande kommen, auch zu wechselnden Verteilungsergebnissen führen werden (vgl. Brennan/Buchanan 1985, S. 118 f f ; Usher 1983, S. 36 f f ) . Da hierbei jede Gruppe in die Minderheit geraten kann, muß sie auch damit rechnen, daß sie von der politischen Umverteilung negativ betroffen wird. Die Tatsache, daß politische Mehrheiten instabil, zyklisch und launisch sind, ist dafür verantwortlich, daß die postkonstitutionelle politische Redistribution aus vertragstheoretischer Sicht „never (can) be normatively sanetioned" (Buchanan 1985, S. 31). Das Mehrheitsprinzip ist jedenfalls ungeeignet, distributive Gerechtigkeit zu erreichen. Gleichwohl muß sich die Gemeinschaft auf die Finanzierung des Leistungsstaates einigen. Aus vertragstheoretischer Sicht verspricht die Einigung auf eine einheitliche proportionale Besteuerung des Einkommens die größte Konsensfahigkeit und zudem wirksame Vorkehrung gegen die redistributive Eigendynamik der Mehrheitsregel (vgl. Brennan/Buchanan 1985, S. 121 ff.). Daneben erscheinen auch andere Regeln der Be-
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Steuerung und Verteilung konsensfähig. Nur diejenigen Regelungen können als gerecht gelten, die den einstimmigen Konsens der Individuen finden. Das Konsens- und insofern das Gerechtigkeitsproblem erweisen sich nach dieser Auffassung als permanente Ordnungsprobleme. Jede Generation wird in eine Welt mit vorgegebenen Institutionen und sozialen Strukturen geboren, die ohne deren Zustimmung zustande gekommen sind. Dem Konsens- und damit auch dem Gerechtigkeitspostulat kann nur insoweit genügt werden, als bestehende Institutionen jederzeit zur allzeitigen Disposition gestellt werden. Daraus leitet sich das Konzept der Neu- oder Wiederverhandlungen der bestehenden Ordnungsregelungen ab (vgl. Buchanan 1984a, S. 106 ff.). Demgemäß haben die Individuen ihre jetzige Lage mit jener zu vergleichen, die sich bei einer Neuverhandlung ergeben würde, wobei auch eine Rückkehr zur Anarchie und der sich dort ergebenden natürlichen Verteilung einkalkuliert werden muß. Die Bereitschaft zu Wiederverhandlungen erhöht sich in dem Maße, in dem Individuen davon persönliche Vorteile erwarten. Da die Änderung der bestehenden Regelungen wiederum an das Einstimmigkeitspostulat gebunden ist, ergeben sich dabei auch redistributive Gelegenheiten. Die wachsende Unzufriedenheit mit den bestehenden Regelungen dürfte Regelverletzungen provozieren. Werden dadurch auch die Vermögenspositionen einiger, beispielsweise relativ wohlhabender Personen gefährdet, ist vorstellbar, daß diese auf Reformbestrebungen anderer, beispielsweise relativ benachteiligter Personen, durch den freiwilligen Transfer von Rechten oder Vermögen reagieren. Regel- oder Rechtsänderungen haben gegenüber direkten Einkommensübertragungen eine größere Einigungschance, weil hierbei die sich ergebenden Vor- oder Nachteile einzelner Personen oder Gruppen sich nur mittelbar abschätzen lassen. Auch bei hoher Unsicherheit über die Umverteilungswirkungen läßt das Einstimmingkeitspostulat jedoch nur enge Spielräume für redistributive Regeländerungen zu, weil es Benachteiligungen einzelner Personen oder Minderheiten verhindert. Auch hierbei sind nur jene Regelungen konsensfahig, die letztlich alle betroffenen Personen besserstellen. Für den einen kann sich der Vorteil in sozial stabileren Rechts- oder Eigentumsverhältnissen, für den anderen in höheren Vermögens- oder Einkommenspositionen manifestieren. Zusammengefaßt besteht die Gerechtigkeitsvorstellung von Buchanan darin, „to relate the notion of justice to the rules of social order", und: „Justice becomes relevant only when the force of voluntary agreement is taken as given" (Brennan/Buchanan 1985, S. 111). Demgemäß basiert sein Gerechtigkeitsverständnis auf dem Prinzip der freiwilligen und allseitigen Zustimmung zu den Regeln des politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Zusammenlebens. Objekte der Gerechtigkeit sind die Regeln. Subjekte der Gerechtigkeit sind freie Individuen mit unterschiedlichen Interessen, Fähigkeiten und Ressourcen, die von individuellen Nutzenkalkülen geleitet werden. Das Verfahren zur Verwirklichung der Gerechtigkeit sind Konsens und Verhandlungen zwischen Individuen oder Gruppen. Dieses Verständnis unterscheidet sich gegenüber den orthodoxen Konzepten der Verteilungsgerechtigkeit, die auf konkrete Verteilungsergebnisse, mithin auf Endzustände abstellen. Buchanan betont statt dessen die Bedingungen in Form der Regelungen und des Verfahrens, z. B. in Form von Verhandlungen, für das Zustandekommen von Verteilungsergebnissen. Indem nur das als gerecht bewertet wird, worauf
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sich die betroffenen Individuen einigen können, sollen externe Werturteile über die distributive Gerechtigkeit verhindert werden. Genau genommen wird damit nur ein mögliches Verfahren zur Erreichung gerechter Ordnungsbedingungen aufgezeigt. Die Inhalte oder Ergebnisse bleiben dagegen unbestimmt. Sie können deshalb nicht präzisiert werden, weil von ungleichen und jeweils nicht näher bestimmten Einigungs- und Verhandlungsbedingungen ausgegangen wird. Buchanan präferiert dabei offensichtlich denkmögliche kooperative Lösungen, die für ökonomisch rational handelnde Individuen vorteilhaft sind. Nicht berücksichtigt werden dagegen Lösungen, die aufgrund überlegener Machtpositionen und nichtökonomischer Interessenkalküle zustande kommen. Jedenfalls lassen sich für alle genannten Einigungsfälle, also sowohl für den Übergang von der Anarchie zum Rechtsschutz- und Leistungsstaat als auch für dessen Neuordnung Lösungen nicht ausschließen, die auf Grund von Unterdrückung, Erpressung oder Machtdiktat zustande kommen und Unfreiheit, Ausbeutung oder machtbedingte Umverteilung vorsehen. Bei Buchanan werden solche diskriminierenden Praktiken allenfalls angedeutet und durch den Verweis auf das Einstimmigkeitsgebot oder auf ökonomische Nachteile abgewiesen. Beispielsweise bildet bei ihm die den relativ unzufriedenen oder ärmeren Individuen zugestandene Möglichkeit, den Konsens zu gesicherten Rechts- und Eigentumsverhältnissen zu verweigern oder aufzukündigen, die treibende Ursache für „freiwillige" redistributive Konzessionen der relativ Wohlhabenden. Insofern wird die Erpressung als Motiv oder Mittel der Umverteilung zwar gesehen. Dem wird jedoch die Tatsache entgegengestellt, daß diejenigen Personen, die Regelungen nicht zustimmen oder verletzen, ebenfalls Verluste in Kauf nehmen müssen, so daß sich die unkooperative Strategie nicht auszahlt. Diese Rechnung kann jedoch selbst bei Annahme rein ökonomischer Verhaltensmotive auch anders ausfallen, wofür die Wettbewerbspolitik genügend Belege liefert. Die wenigen Einwände deuten darauf hin, daß eine echte, d. h. voraussetzungslose Vertragstheorie nicht imstande ist, eindeutige Aussagen zu normativ umstrittenen Ordnungsbedingungen zu machen (vgl. Zintl 1983 und 1986). Sie lädt vielmehr zu selektiven Ableitungen und damit zu verdeckten Werturteilen ein. Ihr Erkenntnisbeitrag beschränkt sich weitgehend darauf, Prozeduren für die Erreichung konsensfähiger und damit definitionsgemäß gerechter Regelungen aufzuzeigen. Vertragstheorien, die zu präziseren normativen Aussagen führen sollen, kommen deshalb offensichtlich ohne eine genauere Aufbereitung der Ausgangsbedingungen, somit ohne explizite normative Vorgaben nicht umhin. Ein Beispiel dafür bietet die vertragstheoretische Version von Nozick.
4.
Gerechtigkeit durch Akzeptanz natürlicher Rechte zwischen Ungleichen
Die Theorie von Nozick weist deutliche Bezüge zu jener von Locke auf und gehört zum Typus der unechten Vertragstheorie. Wie Locke unterstellt Nozick, daß die Menschen im Naturzustand mit natürlichen Rechten ausgestattet sind (Locke 1974, S. 4 ff.; Nozick 1976, S. 25 ff.). Gemäß dem Naturrecht gehören dazu das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das persönliche Freiheitsrecht und das Eigentumsrecht. Diese Rechte sind vorgegeben und sollten von allen Menschen respektiert werden, weshalb
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sie für jeden mit der Pflicht korrespondieren, auch das Leben, die Freiheit und das Eigentum der anderen Menschen zu akzeptieren. Allerdings wird dieses Gebot nicht von allen Menschen befolgt, so daß der Naturzustand Unzuträglichkeiten aufweist. Bereits in diesem staatsfreien Zustand werden die Menschen versuchen, sich gegen Rechtsverletzungen zu wehren. Das Naturrecht räumt das Recht auf Verteidigung und Privatjustiz ein. Diese Form des Rechtsschutzes ist jedoch mit ständigen Gefährdungen und Streitereien verbunden und droht zu eskalieren. Locke sieht darin den ausschlaggebenden Grund dafür, daß sich die Menschen einstimmig auf die Einrichtung einer Institution einigen, der die Aufgabe des Rechtsschutzes übertragen und die mit wirksamen Sanktionsmaßnahmen ausgestattet wird, womit sich der Staat etabliert {Locke 1974, S. 73 ff.). Im Unterschied dazu will Nozick nachweisen, daß sich der Staat auch ohne eine solche bewußte - wenn auch fiktive - Übereinkunft allmählich herausbildet, wobei er sich die Staatsbildung nach dem Muster der unsichtbaren Hand vorstellt. Dieser Evolutionsprozeß kann hier nur angedeutet werden: Ausangspunkt ist die Bildung privater Schutzvereinigungen, die im Naturzustand die naheliegende Form der Organisation des Rechtsschutzes darstellt. Im Wege der Konkurrenz bilden sich dominierende Schutzorganisationen heraus, die sich aus ökonomischen Erwägungen schließlich zu einer gebietssouveränen Schutzvereinigung zusammenschließen. Diese Vereinigung kann zunächst noch kein legitimes Gewaltmonopol beanspruchen, weil die Nichtmitglieder ein natürliches Recht auf Selbstschutz haben. Da deren Privatjustiz für die zahlenden Mitglieder eine nichtakzeptierbare Gefährdung darstellt, wird die Schutzvereinigung deren Verbot durchsetzen. Dieser Schritt kann und wird Kompensationszahlungen und die Zusicherung von Schutzleistungen an Nichtmitglieder notwendig machen. Erst wenn auf diese Weise eine Übereinkunft für das legitime und gebietssouveräne Gewaltmonopol erreicht wird, modifiziert sich die Schutzvereinigung zum Staat. Auf Grund der im Naturzustand vorgegebenen natürlichen Rechte und der sich daraus ergebenden Konsensbereitschaft der Individuen läßt sich nur ein Staat legitimieren, dessen Aufgabe darin besteht, das Leben, die Freiheit und das Eigentum der Bürger zu schützen. Jeder über diesen Minimalstaat hinausgehende Staat muß notwendigerweise die natürlichen und d. h. vorstaatlichen Rechte der Menschen verletzen. Mit dieser Begrenzung der staatlichen Kompetenzen wird zugleich das Gerechtigkeitsverständnis vorgezeichnet. Bezeichnenderweise leitet Nozick (1976, S. 143) das Kapitel über die Verteilungsgerechtigkeit mit der unmißverständlichen Feststellung ein: „Der Minimalstaat ist der weitestgehende Staat, der sich rechtfertigen läßt." Die dann folgende Begründung der vertragstheoretisch legitimen Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit orientiert sich wiederum in starkem Maße an Locke und dessen Anspruchstheorie. Danach sind mit Bezug zur Verteilungsgerechtigkeit drei Fragen zu klären: Die erste Frage betrifft den ursprünglichen Erwerb von Eigentum oder Besitz und hierbei insbesondere von herrenlosen Gütern. Zweitens ist die rechtmäßige Übertragung von Eigentum oder Gütern von einer Person auf eine andere zu klären. Die dritte Frage bezieht sich auf die Korrektur ungerechtfertigter Eigentums- oder Besitzverhältnisse. Die Grundsätze, die eine Klärung dieser drei Fragen geben sollen, sind einfach und leiten sich aus der Definition ab, wonach eine"Verteilung gerecht (ist), wenn sie aus einer
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anderen gerechten Verteilung aufgerechte Weise entsteht" (Nozick 1976, S. 144). Dieses Prinzip läßt sich mit Bezug zu den drei Verteilungsfragen in drei Grundsätze aufgliedern: Gerechtfertigt ist ein Vermögen oder Besitztum (holding), wenn es erstens im Einklang mit dem Prinzip der gerechten Aneignung zustande kommt und zweitens im Einklang mit dem Grundsatz der gerechten Übertragung von jemandem erworben wird, der selber einen gerechten Anspruch darauf hat. Werden die beiden ersten Grundsätze verletzt, ist drittens der Grundsatz der Korrektur ungerechter Vermögens- oder Besitzverhältnisse zu beachten. Die Grundsätze sind bewußt auf die Entstehung einer Güterverteilung und hierbei besonders die Aneignung gerichtet, weil diese die Basis für die Übertragung und die mögliche Korrektur von Besitztümern abgibt. Bei der Begründung der gerechten Aneignung bezieht sich Nozick wiederum auf Locke (1974, S. 21 ff.; ferner Koller 1986). Nach Locke hat Gott die Welt mit ihren Ressourcen allen Menschen zur Nutzung gegeben. Da alle Menschen zudem ein natürliches Recht auf Eigentum an der eigenen Person und an der eigenen Arbeit haben, ergibt sich daraus das Recht, sich diejenigen Ressourcen anzueignen, die durch eigene Arbeit erworben werden. Den möglichen Gegensatz zwischen dem ursprünglich gleichen Anspruch aller Menschen auf alle Güter und der durch Arbeit zustande gekommenen privaten Aneignung der Güter versucht Locke durch die Bedingungen zu mildern, daß sich jeder nur so viel Güter aneignen darf, erstens daß für die anderen genug und gleich Gutes im Nichteigentum übrigbleibt und zweitens wie er für den eigenen Unterhalt braucht. Damit wäre jedoch das private Aneigungsrecht enorm beschränkt, vor allem soweit es sich auf unvermehrbare Güter (Boden, natürliche Ressourcen) bezieht. Locke relativiert daher diese Bedingungen. So sei die erste Bedingung dann erfüllt, solange es irgendwo auf der Welt noch ungenutzte Güter, z. B. freies Land, gebe. Die zweite Bedingung wird durch den Hinweis auf die Einführung des Geldes aufgelockert, das die Anhäufung und Aufbewahrung von Güterwerten über das eigene Verbrauchslimit hinaus für alle Menschen ermögliche. Gerade die mit der Relativierung der ersten Bedingung aufgezeigte Aneignungsmöglichkeit ist spätestens seit der weltweiten Kolonialisierung und Rohstoffexploration nahezu erschöpft. Nozick interpretiert daher diese Bedingung dahingehend, daß sich jeder die unvermehrbaren Ressourcen nur dann aneignen könne, wenn sich dadurch auch für Andere Nutzungsmöglichkeiten ergeben. Dabei setzt er auf den Anreiz der privaten Marktkräfte, knappe Güter im Wege des Preismechanismus für die Allgemeinheit verfügbar und nutzbar zu machen. Das an Marktsignalen orientierte Privateigentum werde auf diese Weise nicht die Aneignungsmöglichkeiten für die Allgemeinheit beeinträchtigen. Vielmehr „. . . vergrößert (es) das Sozialprodukt, indem es die Produktionsmittel denen in die Hände gibt, die sie am wirkungsvollsten (gewinnträchtigsten) einsetzen können" (Nozick 1976, S. 166). Das Privateigentum ist daher nach Nozick mit dem Grundsatz der gerechten Aneignung nicht nur vereinbar, sondern sogar geboten. Diese Entsprechung ist deshalb wichtig, weil die gerechte Aneignung die Grundlage für die gerechte Übertragung von Gütern bildet. Sofern die Aneignung und Übertragung der Güter im Einklang mit den geltenden Gesetzen (z. B. dem Vertrags- oder Wettbewerbsrecht) erfolgen, wäre demnach auch die zustande gekommene Verteilung als gerecht zu bewerten. Fernerhin besteht dann auch kein Anlaß für staatliche Umverteilung. „Wenn
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die Besitzverteilung auf einwandfreie Weise zustande kommt, gibt es kein Argument für einen weitergehenden Staat um der Verteilungsgerechtigkeit willen. . . Wenn jedoch diese Grundsätze verletzt werden, kommt der Grundsatz der Korrektur ins Spiel" (Nozick 1976, S. 212). Die Umstände und Verfahren zur Korrektur ungerechter Eigentums- und Verteilungsverhältnisse werden jedoch von Nozick nicht näher präzisiert. Die Umstände ergeben sich indirekt aus der Beachtung bzw. Verletzung der Grundsätze der gerechten Aneignung und Übertragung. Bezüglich der Durchsetzung beläßt er es bei dem vagen Hinweis, daß sich die Korrektur an dem Ergebnis zu orientieren habe, das zustande gekommen wäre, falls die Ungerechtigkeit nicht geschehen wäre. Hierbei konzediert Nozick die Ausrichtung der Verteilungspolitik an einem Endzustands-Kriterium, das er ansonsten strikt ablehnt. Der Hauptzweck seiner Überlegungen besteht darin, das Gerechtigkeitsproblem von den Verteilungsergebnissen zu lösen und mit der Entstehung der Verteilung zu verknüpfen. Darin unterscheidet er sich - wie auch Buchanan - von den orthodoxen Theorien der Verteilungsgerechtigkeit. Diese orientieren sich an Verteilungsergebnissen und entwickeln demgemäß strukturelle oder Endzustands-Grundsätze. Sie gehen also davon aus, wie das Vermögen oder Einkommen verteilt ist und fragen, ob dieses am gegenwärtigen Zeitquerschnitt ausgerichtete Ergebnis gerecht oder ungerecht ist. Diese Betrachtungsweise ist sowohl für die utilitaristisch fundierte Verteilungs- und Wohlfahrtstheorie als auch für die meisten älteren Gerechtigkeitskonzepte charakteristisch. Bekannte Grundsätze wie J e d e m nach seinen Bedürfhissen, jedem nach seinem Wert, jedem nach seinem Grenzprodukt, jedem nach seiner Arbeitsleistung etc." sind sämtlich strukturelle und ergebnisbezogene Grundsätze. Die Vertreter dieser Grundsätze entwikkeln Kriterien, wer auf Grund welcher Verdienste oder Mängel wieviel Güter zugeteilt bekommen soll. Sie konzentrieren sich also auf die Empfangsgerechtigkeit und übersehen, wie Nozick (1976, S. 158) moniert, das Geben oder Produzieren völlig. Zu diesem Theorietypus zählt Nozick auch die Theorie der Gerechtigkeit von Rawls, die den eigentlichen Auslöser und Widerpart für seine Theorie bildet. Neben der Ausblendung der Entstehungsbedingungen sieht er die Gefahr bei diesen Gerechtigkeitstheorien in der praktischen Umsetzung. Da eine frei zustande gekommene Güterverteilung mit großer Wahrscheinlichkeit von den normativ postulierten Endzustands-Grundsätzen abweicht, folgt daraus ein permanenter Umverteilungsbedarf, für den üblicherweise der Staat im Wege laufender Korrekturen zu sorgen hat. Die wie auch immer normativ legitimierte Umverteilung muß jedoch natürliche Rechte bestimmter Personen oder Gruppen beeinträchtigen. Den staatlich organisierten Transfer von Vermögen oder Einkommen im Wege der progressiven Besteuerung setzt Nozick daher mit der Verordnung von Zwangsarbeit für die betroffenen Individuen gleich. Die verfassungsmäßige Verankerung von redistributiven Endzustands-Grundsätzen führe neben ständigen Korrektureingriffen zudem zu einer Anspruchshaltung, die jedem Bürger ein einklagbares Recht auf einen gewissen Teil des Sozialprodukts und damit auch auf einen gewissen Teil des Eigentums anderer Individuen suggeriere. Letztlich begründe sie ein Teileigentum von Menschen an Menschen und deren Arbeit. Dieses Gerechtigkeitsverständnis kann des-
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halb nicht vertragstheoretisch legitimiert werden, weil es unabdingbar mit den natürlichen Rechten auf Leben, Freiheit und Eigentum der Individuen kollidieren muß. Wegen dieser Gefahren lehnt Nozick eine durch Endzustands-Grundsätze der Gerechtigkeit legitimierte Umverteilungspolitik ab. Um die damit verbundenen Beeinträchtigungen persönlicher Grundrechte zu vermeiden, plädiert er für ein an historischen Grundsätzen orientiertes Gerechtigkeitsverständnis. Das Urteil darüber, ob eine Verteilung gerecht ist, hängt danach davon ab, wie sie zustande gekommen ist. Demgemäß ist eine Verteilung dann gerecht, wenn sie im Rahmen gerechter Regeln der Aneignung und Übertragung von Gütern entstanden ist. Die hier gedrängt vorgestellten Ausführungen von Nozick sind von Kritikern als genial, aber unsystematisch bezeichnet worden (vgl. Müller 1986, S. 135; Varian 1974). Allgemeine Anerkennung hat die systematische Unterscheidung zwischen historischen und Endzustands-Grundsätzen der Verteilungsgerechtigkeit gefunden. Die von Nozick in enger Anlehnung an Locke formulierten Grundsätze der Gerechtigkeit sind dagegen umstritten. Tatsächlich bleibt bei der Ableitung dieser Grundsätze der Bezug zur vertragstheoretischen Methode oberflächlich. Implizit entsprechen seine Grundsätze jedoch der vertragstheoretischen Forderung, daß nur solche Prinzipien oder Institutionen als gerecht gelten können, die individuelle Interessen oder Rechte berücksichtigen und konsensfähig sind. Bei Annahme natürlicher und gleicher Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum lassen sich nur eng begrenzte Umverteilungsansprüche ableiten. Legitim sind danach nur Umverteilungen im Wege freiwilliger Transfers oder Korrekturen ungerechtfertigter Verteilungsverhältnisse, denen eine Verletzung der Grundsätze der gerechten Aneignung und Übertragung zugrunde liegt. Wie bereits erwähnt, wird die politische Handhabung des Korrekturgrundsatzes von Nozick nicht näher behandelt. Wahrscheinlich würde aber gerade dessen praktische Durchsetzung das Einfallstor für redistributive Maßnahmen des Staates bilden. Dafür sprechen zwei Gründe: Erstens ist zu erwarten, daß bestehende und d. h. gewachsene Gesetze oder Institutionen nicht den normativen Grundsätzen der gerechten Aneignung und Übertragung entsprechen, woraus sich permanent Ansprüche zur Korrektur ungerechter Eigentums- oder Verteilungsverhältnisse konstruieren und legitimieren ließen. Zweitens müßten die mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip verbundenen redistributiven Anreize und Versuchungen für die verantwortlichen Politiker und organisierten Interessengruppen in Rechnung gestellt werden. Sie sind in der politischen Praxis dafür verantwortlich, daß keine moderne Demokratie den Idealen des Minimalstaates genügt. Vielmehr dominiert allerorten der Umverteilungsstaat. Ein normatives und zumal vertragstheoretisches Konzept der Verteilungsgerechtigkeit, das die verteilungspolitische Eigendynamik der politischen und organisierten Interessen für redistributive Korrekturen nicht berücksichtigt und dementsprechend auch keine verfassungspolitischen Vorkehrungen entwickelt, muß ein idealer und unvollständiger Entwurf bleiben.
5.
Gerechtigkeit durch faire Übereinkunft zwischen Gleichen
Die Theorie der Gerechtigkeit von Rawls hat von allen neueren vertragstheoretischen Versionen die größte Beachtung gefunden. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einmal werden relativ konkrete Grundsätze der Gerechtigkeit abgeleitet, die zudem geeignet
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sind, auf indirektem Wege eine aktive staatliche Umverteilungspolitik zu legitimieren. Rawls' Beitrag läßt sich insofern als vertragstheoretisch begründete Ethik des Sozialstaates interpretieren. Zum anderen ist die Theorie der Gerechtigkeit methodisch und intellektuell außerordentlich anregend. Sie nimmt Bezug zu älteren und neueren philosophischen, ethischen, politischen, soziologischen und nicht zuletzt ökonomischen Denkansätzen und integriert sie in origineller Weise für die vertragstheoretische Argumentation. Methodisch handelt es sich um eine unechte Vertragstheorie, weil der Urzustand stark hypothetische Züge aufweist. Im Urzustand sind die Menschen annahmegemäß vernünftig und mit gleichen Rechten ausgestattet. Vernünftig sind sie, weil sie ein widerspruchsfreies System von individuellen Präferenzen bilden und die für sie günstigste Alternative auswählen. Diese Fähigkeit bezieht sich auch auf das im Urzustand zu lösende Problem, nämlich die Entscheidung und Einigung über bzw. auf gerechte Grundsätze der sozialen Ordnung. Selbstinteressiert sind sie insofern, als sie wünschen, daß diese Grundsätze später für jeden von größtem Vorteil sind. Jeder will also für sich die bestmöglichen Lebenschancen sichern, wobei sich jeder als Gleicher unter Gleichen sieht. Niemand wird deshalb von persönlichen Macht- oder Neidmotiven gegenüber anderen Menschen geleitet, zumal jeder weiß, daß auch die anderen frei von solchen Bestrebungen sind. Diese Motivation des „gegenseitigen Desinteresses" entspricht in etwa der autonomen polypolistischen Verhaltensweise. Gleichheit bedeutet, daß jeder auch gleiche Rechte hat, beispielsweise Vorschläge in den fiktiven Einigungsprozeß einzubringen oder abzulehnen. Der Urzustand wird von Rawls (1975, S. 34 ff. und S. 140 ff.) weiterhin durch die Annahme bereinigt, daß die Menschen ihre Entscheidung hinter einem Schleier des Unwissens treffen, wodurch ihnen bestimmte Tatsachen unbekannt sind. Danach kennt niemand seinen Platz in der Gesellschaft und seinen sozialen Status, ebensowenig seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz oder Körperkraft. Femer kennt niemand Einzelheiten seines Lebensweges, ja nicht einmal seine Einstellung zum Risiko sowie seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Generation. Diese restriktiven Bedingungen sollen sicherstellen, daß die Entscheidung von allgemeinen und gleichen Überlegungen bestimmt wird. Niemand soll die Grundsätze auf die eigenen angeborenen oder sozial erworbenen Verhältnisse beziehen können. Das Szenario des Urzustandes ist also nicht frei von hypothetischen, ja irrationalen Zügen. Denn andererseits sollen die Menschen ja als vernünftige Wesen entscheiden. Dazu müssen sie die politischen, ökonomischen, sozialen und psychologischen Zusammenhänge und Gesetze kennen. Rawls konzediert daher, daß es sich beim Urzustand um eine „komplizierte theoretische Konstruktion" handelt. Es ist der Versuch, ein ideales Modell der kollektiven Entscheidung über moralische Grundfragen zu konstruieren, bei dem sich die individuellen Kalküle mit den Forderungen der allgemeinen Moral decken sollen. Nur auf diese Weise erscheint es möglich, Konsensfähigkeit über die gerechten Grundsätze zu erzielen. Letztlich soll mit dem so modellierten Urzustand eine faire Ausgangsbedingung für allgemein akzeptable, unparteiliche und damit gerechte Grundsätze der sozialen Ordnung hergestellt werden.
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Auf welche Grundsätze werden sich die Menschen unter diesen fairen Bedingungen einigen? Nach Rawls (1975, S. 32, 81 und 336) ist eine Übereinkunft auf folgende zwei Grundsätze der Gerechtigkeit zu erwarten: — Den Grundsatz gleicher Grundrechte und -pflichten, wonach jedermann gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten hat, das für alle möglich ist. — Den Grundsatz, daß soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen a) Vorteile für jedermann, insbesondere für die schwächsten oder am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft ergeben und wenn sie b) mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die jedermann offenstehen. Dabei ist der Grundsatz maximaler Grundfreiheiten dem zweiten Differenz- oder Unterschiedsprinzip vorgeordnet. Es ist unbestritten, daß die Gewährleistung gleicher und maximaler Grundrechte verfassungspolitischen Vorrang hat und dem Rechtsschutzstaat obliegt. Dagegen ist die Begründung des Unterschiedsprinzips umstritten. Es erlaubt und begrenzt zugleich distributive Ungleichheiten. Diese sind nur insoweit gerechtfertigt, als davon auch die weniger Begünstigten einen Vorteil haben. Sie sind zu begrenzen, wenn durch ungleiche Vermögens- und Einkommensverhältnisse oder von einer möglichen Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der wohlhabenden Individuen nicht zugleich auch die Lage der Ärmeren verbessert wird. Diese Bedingung ist erfüllbar, wenn man die gesellschaftliche Kooperation nicht als Nullsummenspiel erachtet. Dies wird möglich sein, wenn von den wirtschaftlichen Leistungen der tüchtigeren oder begabteren Personen nicht nur diese, sondern alle, insbesondere aber die von Geburt oder dem sozialen Umfeld am wenigsten Begünstigten ebenfalls profitieren, wenn also ungleiche Leistungen und Ergebnisse zugunsten der allgemeinen Wohlfahrt gelenkt werden. Rawls erkennt also Chancenungleicheiten an, will sie aber institutionell einebnen. Das Kriterium dafür, ob Ungleichheiten als fair oder unfair akzeptiert werden können, liefert die wirtschaftliche und soziale Lage der relativ benachteiligten Individuen oder Gruppen. Das Unterschiedsprinzip ist Ausdruck des Maximin-Kriteriums, hierbei bezogen auf die Maximierung des Minimums an gesellschaftlichen Grundgütern, die den Ärmeren in Form des Vermögens, des Einkommens, der Bildungs- und Berufschancen oder der privaten und öffentlichen Güterversorgung zur Verfügung stehen. Eine allseitige Einigung auf dieses Prinzip erscheint möglich, weil sich jedermann hinter dem Schleier des Unwissens befindet und potentiell in der relativ schlechtesten sozialen Position wiederfinden kann. Letztlich soll damit die soziale Akzeptanz einer freien Gesellschaft ungleicher Menschen seitens der potentiell benachteiligten Gruppen sichergestellt werden. Demnach wird die Gerechtigkeit in den Rang als oberstes Kriterium für die Bewertung gesellschaftlicher Ordnungen erhoben. Gerechtigkeit ist nach Rawls (1975, S. 19) „die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen". Institutionen sind nur dann gerecht: wenn sie die wirtschaftliche Lage und die sozialen Chancen der potentiell benachteiligten Individuen berücksichtigen und verbessern. Die
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ökonomische Effizienz hat gegenüber dem Gerechtigkeitsgebot eindeutig zurückzutreten, wenngleich sie nicht gänzlich ausgeblendet wird. Denn die gerechtfertigten Ungleichheiten sollen ja auch Spielräume für die tüchtigen, fähigen und unternehmerischen Menschen zulassen. Objekte der Gerechtigkeit sind die Institutionen, also die grundlegenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Regelungen. Diese legen die Rechte und Pflichten sowie die Anreize und Kontrollen für die Menschen fest und beeinflussen so maßgeblich ihre Lebenschancen. Institutionen sind demnach auch das eigentliche Feld der staatlichen Sozial- und Verteilungspolitik. Ihre bewußte Gestaltung soll annähernd gleiche Chancen- oder Startgerechtigkeit für alle verwirklichen. Demgemäß sind sie danach zu bewerten, inwieweit sie den Anforderungen der beiden Grundsätze der Gerechtigkeit entsprechen. Obwohl Rawls stets betont, daß unterschiedliche institutionelle Bedingungen den Grundsätzen genügen können, deutet er einen Entwurf gerechter Rahmeninstitutionen an. Sie haben sowohl maximale und gleiche Grundrechte zu sichern als auch die Bedingungen des Unterschiedsprinzips zu erfüllen. Für die Durchsetzung dieses Prinzips wird die Einrichtung von vier Abteilungen erwogen, deren politischer und organisatorischer Status allerdings unklar bleibt (Rawls 1975, S. 308 ff.): Die Allokationsabteilung hat für einen funktionsfähigen Wettbewerb, die Stabilisierungsabteilung für den störungsfreien Wirtschaftsablauf zu sorgen. Der Umverteilungsoder Transferabteilung obliegt die Sicherung des angemessenen Lebensstandards, notfalls des Existenzminimums der Gesellschaftsmitglieder. Die dafür notwendigen Mittel hat die Verteilungsabteilung über die Gestaltung eines gerechten Steuersystems zu erheben oder im Wege der Vermögenspolitik Bedingungen für eine faire Einkommensverteilung herzustellen. Alle Abteilungen haben bei ihrer Tätigkeit die Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit und Unparteilichkeit zu beachten. Die Aufgaben der Abteilungen werden nur angedeutet. Daneben erörtert Rawls auch die Gestaltung der Besteuerungsgrundsätze, der Außenhandelsordnung, der Löhne sowie der Grenzen der staatlichen Kompetenzen. Insgesamt ergibt sich nur ein vages und teilweise widersprüchliches Bild über die Gestaltung der gerechten politischen und wirtschaftlichen Ordnung (vgl. auch Watrin 1976). Sicherlich dürfte das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft und des demokratischen Rechtsstaates die Zustimmung von Rawls finden. Abschließend soll nicht darauf, sondern auf die vertragstheoretische Begründung der Gerechtigkeitsgrundsätze kurz eingegangen werden. Deren Ableitung basiert - wie in den anderen Versionen - auf den Annahmen über den Urzustand. Rawls' Absicht besteht darin, eine faire Entscheidungssituation zu simulieren. Wenn die Menschen als gleiche Individuen modelliert werden, die ihre Entscheidung hinter einem Schleier des Unwissens treffen, so wird auch eine größere Bereitschaft anzunehmen sein, Regeln zuzustimmen, die möglichst gleiche Lebenschancen , auch im Wege des Vermögenstransfers vorsehen. Die in den Annahmen enthaltenen normativen Vorgaben sind also dafür verantwortlich, daß die redistributive, auf sozialen Ausgleich bedachte Komponente einen hohen Stellenwert für die Gerechtigkeit erhält. Für die hypothetische oder normative Aufbereitung des Urzustandes spricht die Einsicht, daß sich moralisch konsensfähige und vertretbare Urteile dann fällen lassen, wenn man einen überparteiischen und überpersönlichen Stand:punkt einnimmt und wenn man
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sich von Bedingungen leiten läßt, die für alle gleichermaßen gelten. Von da erscheint es angemessen, einen Zustand zu konstruieren, in dem sich alle Menschen in der gleichen Lage befinden, so daß niemand ein Interesse hat, gerechte Regeln aus dem Blickwinkel seiner besonderen, durch Zufall, Geburt oder soziale Herkunft geformten Verhältnisse zu bewerten und auszuwählen. Indem auf diese Weise die Entscheidungsbedingungen für alle Menschen angeglichen werden, werden die verschiedenen Entscheidungssubjekte zugleich zu einem Subjekt uniformiert, das stellvertretend für andere über das allgemeine Interesse befindet. Dadurch verliert jedoch der Vertragsgedanke seinen Sinn. Denn wenn die Vertragspartner gleich sind, hat der Vertrag ökonomisch keine sinnvolle Interessenbasis. Verträge dienen dazu, auf der Grundlage unterschiedlicher Bedingungen zu einem gegenseitig vorteilhaften Ergebnis zu gelangen. Der Urzustand von Rawls bietet dafür jedoch keine Grundlage. Insofern ist der Rückgriff auf die Vertragsidee für die Ableitung der Gerechtigkeitsgrundsätze entbehrlich (vgl. auch Gordon 1976; Koller 1986). Für die moralische Qualität der Grundsätze mag das unerheblich sein. Allerdings ergeben sich Probleme, wenn die mit dem vertragstheoretischen Qualitätssiegel der Konsensfähigkeit versehenen Gerechtigkeitsgrundsätze der Gestaltung realer Institutionen zugrunde gelegt werden. In der Realität sind die Menschen nicht gleich, sondern unterscheiden sich in ihrer Begabung, Leistungsmotivation oder Risikobereitschaft. Dadurch wird die angenommene Akzeptanz der Gerechtigkeitsgrundsätze in Frage gestellt werden. Unterstellt man abweichend vom Urzustand, daß sich die Individuen von einer weniger risikoscheuen Zukunfitsaussicht 1 eiten lassen, so dürfte die Einigung auf das Unterschiedsprinzip weder einstimmig noch nur mit Mehrheit ausfallen. Zudem sind bei dem Vorhaben der ordnungspolitischen Durchsetzung der Grundsätze die realen Interessen- und Machtunterschiede zu berücksichtigen, die einer möglichst prinzipiengetreuen Ausgestaltung im Wege stehen. Die politischen Entscheidungsprozesse in parlamentarischen Demokratien orientieren sich nicht primär an normativen Gerechtigkeitsüberlegungen, sondern an wähl- und machtpolitischen Zielen. Unterliegen die politischen Repräsentanten dem Zwang, in periodischen Wahlen möglichst viele Wählerstimmen zu erzielen, dürfte auch der wählerwirksame Einsatz der Ordnungs- und Verteilungspolitik wahrscheinlich sein. Auf diese Weise werden die Gerechtigkeitsgrundsätze in den Dienst wähl- und damit machtpolitischer Zwecke gestellt, wodurch es zwangsläufig zur Diskrepanz zwischen den vertragstheoretisch legitimen Prinzipien und der Realität kommt. Diese Diskrepanz dürfte zudem durch die im Unterschiedsprinzip angelegten Interessenkonflikte zwischen den sozialen Gruppen verschärft werden. Nach diesem Prinzip bildet die soziale Lage der am wenigsten Begünstigten das Kriterium dafür, ob soziale Ungleichheit und damit auch bestimmte institutionelle Bedingungen als fair oder unfair akzeptiert werden können. Wird nun etwa die - wie auch immer bestimmte - am wenigsten begünstigte Gruppe durch eine institutionelle Reform oder durch eine redistributive Politik in ihrer relativen Position bessergestellt, gingen dadurch bisher zustehende Ansprüche verloren und stünden dann der bisher nächst schlechter gestellten Gruppe zu. Angesichts dieser Aussicht dürfte für die Adressaten dieser Verteilungspolitik kein Interesse an einer sozialpolitischen Besserstellung bestehen, zumal sie möglicherweise einen Teil ihrer Umverteilungsgewinne an die nunmehr anspruchsberechtigte Gruppe abtreten müßte. Bei der praktischen Durchsetzung des Unterschiedsprinzips
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sind also permanente gruppenmäßige Anspruchskonflikte programmiert. Daher ist beim Vollzug dieses Prinzips auch mit den Konsequenzen zu rechnen, die Nozick für eine an Endzustands-Grundsätzen orientierte Verteilungspolitik befürchtet (vgl. 4.). Die vielfaltigen Beeinträchtigungen privater Rechte und Ansprüche im Wege ständiger und von politischen Mehrheitsbeschlüssen bestimmten Verteilungskorrekturen sind der Preis fiir eine solche Politik. Dieser Preis mag vom moralischen Standpunkt aus gerechtfertigt sein. Seine vertragstheoretische Legitimierung und der damit erhobene Anspruch der Konsensfähigkeit durch Rawls erscheinen jedoch wegen der normativen Aufbereitung der Ausgangs- oder Vertragsbedingungen allzu konstruiert und vermögen nicht recht zu überzeugen.
6.
Vergleichende Würdigung
Die behandelten vertragstheoretischen Versionen gelangen nicht zu einheitlichen Auffassungen und Grundsätzen der Gerechtigkeit. Die Empfehlungen reichen vom Minimalstaat und freiwillig auszuhandelnden Rechts- und Vermögenskorrekturen über konstitutionelle Beschränkungen des Umverteilungsstaates bis zum ordnungspolitisch aktiven Sozialstaat. Dennoch weisen die Vertragstheorien eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf. Gemeinsam ist erstens das Bestreben, mit einem Minimum an normativen Vorgaben auszukommen. Dazu gehört die Annahme, daß sich über Gerechtigkeit nur mit Bezug zu den Interessen, Rechten, Handlungen und der Zustimmung aller betroffenen Individuen befinden läßt. Auf diese Weise sollen Wertungen oder Überzeugungen externer Personen so weit wie möglich vermieden werden. Wie gesehen, läßt sich eine Einigung über gerechte Grundsätze um so schwieriger finden, je ungleicher die Ausgangs- oder Einigungsbedingungen sind. Das Problem würde noch komplizierter, wenn die Restriktionen und Eigenarten bei der Offenbarung authentischer Präferenzen in kollektiven Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden (vgl. dazu Leipold 1987, S. 127 f f ; Homann 1984). Als Ausweg bietet es sich an, Ungleichheiten zwischen den Menschen im Urzustand annahmegemäß abzubauen. Dadurch wird eine Einigung wahrscheinlicher und unter moralischen Gesichtspunkten zugleich überzeugender. Allerdings präjudiziell diese Bereinigung des Urzustandes auch die Gerechtigkeitsauffassung. Zudem besteht die Gefahr, daß man sich von den vertragstheoretischen Prinzipien entfernt, die ja eine größtmögliche normative Enthaltsamkeit verlangen. Gemeinsam ist den Vertragstheorien zweitens die Verlagerung des Gerechtigkeitsproblems auf die Verfassungs- oder Regelebene. Darin unterscheiden sie sich von den orthodoxen Theorien oder Auffassungen über die distributive Gerechtigkeit, die sich auf Verteilungsergebnisse und Endzustands-Grundsätze beziehen. Demgegenüber erscheint der Regelbezug aus verschiedenen Gründen der geeignetere Ansatzpunkt zu sein. In einer freien Gesellschaft sind die Regeln, nicht die Prozesse und deren Ergebnisse Gegenstand kollektiver Entscheidungen, zumindest sollten sie es sein. Der Großteil der Regeln wird in der Verfassung oder durch Gesetze politisch festgesetzt. Daneben existieren spontan gewachsene Regeln, bei denen ein impliziter Konsens unterstellt werden kann. Die Regeln formen die Prozesse und die Ergebnisse. Diese kommen durch eine Vielzahl freier und unabhängiger Entscheidungen und nicht durch bewußte kollektive
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Entscheidung zustande. Das gilt gerade für die marktgesteuerte Verteilung der Güter oder Einkommen. Folglich läßt sich auf dieser Ebene auch keine personale oder kollektive Verantwortung für eine gerechte oder ungerechte Verteilung ausmachen und zurechnen. Das erscheint nur mit Bezug zu den Regeln möglich, weshalb sie auch den sinnvolleren Ansatzpunkt für Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit darstellen. Die Analogie zum Kartenspiel verdeutlicht den Unterschied zwischen Regel- und Ergebnisbezug. Niemand käme auf den Gedanken, „ungerechte" Spielergebnisse durch den Austausch verteilter Karten oder durch sonstige Spieleingriffe zu korrigieren. Vielmehr bietet sich für unzufriedene oder chronisch benachteiligte Spieler die Korrektur der Spielregeln an. Die Regelkorrektur ist nicht nur fair, sondern darüber hinaus auch konsensfähiger. Dieser Vorteil gilt besonders gegenüber nachträglichen Verteilungskorrekturen, die sich auf der Ergebnisebene meist als ein Nullsummenspiel herausstellen. Was der eine per Umverteilung bekommt, muß dem anderen weggenommen werden. Sind die Belastungen und Begünstigungen transparent, obligatorisch und zurechenbar, fallt auch die Zustimmung schwer. Zudem beeinträchtigen nachträgliche Verteilungskorrekturen die Anreize für wirtschaftliche Leistungen. Für Regeln und deren Korrekturen sind dagegen die Auswirkungen meist relativ ungewiß. Bei einer allgemeinen Regel sind verschiedene Ergebnisse möglich, folglich läßt sich auch die zukünftige soziale Position der beteiligten Individuen nicht genau identifizieren. Dadurch kann seitens der potentiell belasteten Personen eine höhere Konsensbereitschaft angenommen werden (vgl. Buchanan 1985, S. 31; Fritsch 1985). Aus der erwähnten Ungewißheit über die positioneilen und distributiven Resultate von Regeln und der Betonung der Entstehungsbedingungen von Verteilungen ergibt sich ferner eine geringere Reibungsfläche für das Neidmotiv, das bei Urteilen über gerechte oder ungerechte Verteilungsverhältnisse bekanntlich eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Schließlich eignen sich Regeln nicht nur für eine aktive Verteilungspolitik, sondern auch zur Beschränkung der redistributiven Eigendynamik, die für die demokratisch legitimierte und an Endzustands-Grundsätzen orientierte wohlfahrtsstaatliche Umverteilungspolitik charakteristisch ist. Die ökonomische Theorie der Politik kann die Anreize, Zwänge und unbeabsichtigten Wirkungen dieser Politik offenlegen, bei der niemand mehr exakt nachzuweisen vermag, wieviele Personen welche materiellen oder immateriellen Vergünstigungen davon erhalten und wer in welchem Ausmaß belastet wird (vgl. Usher 1983; Buchanan 1984a). Dieser sozialstaatliche Umverteilungsinterventionismus entspricht eindeutig nicht den vertragstheoretischen Grundsätzen der Gerechtigkeit, weil er in der exzessiv betriebenen Form nicht konsensfähig ist. Implizit lassen sich aus den Geboten der Konsensfahigkeit und der Regelgebundenheit konstitutionell verankerte Begrenzungen des Sozialstaates ableiten und legitimieren. Erwähnt sei das maßgeblich von Buchanan (1984b) entwickelte Konzept fiskalischer Begrenzungen, das die staatliche Umverteilung durch prozedurale und quantitative Regeln zu beschränken versucht. Prozedurale Begrenzungen sehen rigidere Abstimmungsregeln für bestimmte Einnahmen- und Ausgabenentscheidungen vor, indem qualifizierte Mehrheiten (z. B. die Zwei-Drittel-Mehrheit) verlangt werden. Quantitative Begrenzungen schreiben maximal zulässige Niveau- oder Zuwachswerte für fiskalische Entscheidungen vor, die nicht überschritten werden dür-
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fen. Damit sollen verfassungs- und d. h. regelbedingte Unvollkommenheiten korrigiert und die politischen Entscheidungen enger an die Interessen und Präferenzen der Bürger gebunden werden. Die aufgezeigten Besonderheiten der Vertragstheorie zeigen eine interessante und fruchtbare Methode für die analytische und normative Behandlung der Verteilungsgerechtigkeit auf. Sicherlich reicht diese Methode nicht aus, u m alle Ursachen, Formen und Verzweigungen dieses Problems auszuleuchten. So setzt die Bewertung realer Verteilungsverhältnisse auch Kenntnisse über die historischen, rechtlichen und kulturellen Bedingungen voraus, die entsprechende interdisziplinäre Beiträge erfordern. Außerdem k o m m t ein angemessenes Gerechtigkeitsverständnis nicht ohne Bezug zu Verteilungsergebnissen und ergebnisbezogenen Kriterien aus, auf die auch die dargestellten Vertragstheorien nicht verzichten können. Indem etwa Buchanan die Einigung sowohl beim Übergang von der Anarchie z u m Rechtsschutzstaat als auch bei der konstitutionellen N e u o r d n u n g v o m Vergleich der realisierten und erzielbaren Nutzen- oder Wohlstandseffekte abhängig macht, orientiert er die Entscheidungen an Verteilungsergebnissen. Wie dargestellt, verlangt die Handhabung des Korrekturgrundsatzes nach Nozick ebenfalls die Ausrichtung an Endzustands-Grundsätzen. Gleiches gilt für die praktische Durchsetzung des Unterschiedsprinzips von Rawls. Der Grundsatz, daß distributive Ungleichheiten nur insoweit gerecht sind, als davon auch die Armeren profitieren, läßt sich ohne Bezug zu relativen Verteilungsergebnissen nicht verwirklichen. Diese Konzession beeinträchtigt j e d o c h nicht den originären Beitrag der Vertragstheorie für die Klärung des Gerechtigkeitsproblems. Indem die Bedeutung der grundlegenden Regeln erkannt und betont wird, eröffnet die Vertragstheorie nicht nur ein von den orthodoxen Verteilungstheorien abweichendes Gerechtigkeitsverständnis, sondern zeigt auch einen Ansatzpunkt für eine weniger interventionistische Verteilungspolitik auf. Indem das Gebot der Konsensfahigkeit hervorgehoben wird, bietet die Vertragstheorie ferner ein Kriterium der Gerechtigkeit an, das sich nicht nur für die Bloßstellung überzogener und gutgemeinter normativer Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern auch für die Bewertung konkreter sozial- oder verteilungspolitischer M a ß n a h m e n eignet.
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Müller
Teil 2. Kulturvergleichende Studien
Grundlegende Institutionenreformen im Spannungsverhältnis zwischen ideellen und materiellen Einflussfaktoren* Inhalt 1. Einleitung
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2. Ausgewählte Erklärungsansätze des institutionellen Wandels
140
2.1. Die idealistische Geschichtsphilosophie von G.W.F. Hegel
140
2.2. Der Historische Materialismus von K. Marx
142
2.3. Das Wechselverhältnis von Ideen und Interessen bei Max Weber
144
2.4. Die Theorie des institutionellen Wandels von D. C. North
147
3. Der Erklärungsansatz einer kulturvergleichend konzipierten Institutionenökonomik
153
4. Ideelle Weichenstellungen der ersten institutionellen Revolution
157
5. Ideelle Weichenstellungen der zweiten institutionellen Revolution
160
6. Schlussbemerkungen
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Literatur:
167
Erstdruck in: Thomas Eger (Hg.), Voraussetzungen für grundlegende institutionelle Reformen, Berlin 2005, S. 15-48.
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1.
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Einleitung
Die Erforschung des wirtschaftlichen und des institutionellen Wandels bildet nach D. C. North (1999, S. 58) in der Ökonomie „... das am meisten vernachlässigte Gebiet." Verantwortlich dafür sei das nach wie vor dominierende statische Gleichgewichtsdenken, das die Ökonomen in einer Welt des dynamischen Wandels häufig zu falschen und wahrscheinlich deshalb auch oft erfolglosen Rezepten für die Politik verleite. North selbst hat weltweit anerkannte Beiträge zur Theorie des institutionellen und wirtschaftlichen Wandels beigesteuert, wobei er sich im Laufe seiner Theorieentwicklung überhaupt erst über die Existenz des hier interessierenden Spannungsverhältnisses zwischen ideellen und materiellen Einflussfaktoren bewusst wurde. Er musste im Rahmen seiner historisch breit angelegten Studien des wirtschaftlichen Wandels die Grenzen des ökonomischen Erklärungsansatzes erkennen und somit den Einfluss ideeller Faktoren anerkennen. Sein Denkwandel kulminiert in der Einsicht, dass „ideas matter" {North 1994, S. 362; Dernau /North 1994, S. 3). Für Kenner der europäischen und speziell der deutschen Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien mutet diese Einsicht als eine Neuerfindung des Rades an, denn hier haben die Auseinandersetzungen zwischen ideellen und materiellen Determinanten des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels eine lange Tradition. Deshalb scheint es geboten, diese Tradition anhand ausgewählter Theorieansätze zunächst kurz vorzustellen und zu würdigen (Kap. 2.). Die Übersicht über konkurrierende Erklärungen des institutionellen Wandels soll zugleich als Anleitung für eine eigenständige Erklärung des Wechselverhältnisses zwischen ideellen und materiellen Faktoren des Wandels dienen (Kap. 3.). In den beiden abschließenden Kapiteln soll die Relevanz der verschiedenen Erklärungen am Beispiel der beiden grundlegenden institutionellen Revolutionen der Menschheitsgeschichte überprüft werden (Kap. 4. und 5.).
2.
Ausgewählte Erklärungsansätze des institutionellen Wandels
2.1. Die idealistische Geschichtsphilosophie von G.W.F. Hegel Das neuzeitliche Spannungsverhältnis zwischen idealistischen und materialistischen Philosophien bzw. Theorien des gesellschaftlichen Wandels ist untrennbar mit den Namen Hegel und Marx verbunden. Die spekulative Geschichtsphilosophie von Hegel ist hier nur insofern von Belang, als sie das Vorbild sowohl für die nachfolgenden idealistischen als auch ungewollt für die materialistischen Entwicklungstheorien geliefert hat. Popper (1980, S. 36) erkennt daher in ihm zu Recht „... die Quelle des gesamten zeitgenössischen Historizismus." Hegels ungeheurer Einfluss gründet sich auf seinen Anspruch, alle geistigen und sozialen Wandlungen aus dem einen Prinzip der dialektischen Selbstentfaltung des Geistes erklären zu können. Der Geist, der Hegels Verständnis der Vernunft ist, verkörpere sich in Begriffen und Ideen. Begriff steht dabei für einen konkreten Gedanken und Idee für den Begriff, der sich selber verwirklicht (vgl. Hegel 1959, S. 97 f f ) . Freilich handelt es sich dabei um vage Kategorien. Verantwortlich dafür ist die Annahme, dass Vernunft, Ideen oder Geist historische, also wandelbare Kategorien seien. Von daher verstehen sich die eher spekulativen Behauptungen von Hegel (1959,
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S. 100 ff.; 1964b, S. 182 ff.), dass sich die Wirklichkeit immer in Abhängigkeit von den Ideen gestalte, dass alles Wirkliche eine Idee sei oder dass jede Idee sich erst zu dem machen müsse, was sie sei oder was sie sein will. Jedenfalls befindet sich die Wirklichkeit nach Hegel auf einem Weg zur ständigen Höherentwicklung. Sein Entwicklungsgesetz ist also das Gesetz des Fortschritts, das freilich den Regeln der Dialektik unterliege. Jede Entwicklungsstufe gehe aus geistigen und sozialen Widersprüchlichkeiten (Thesis und Antithesis) des vorhergehenden Zustandes hervor und hebe in der Synthesis sowohl die überkommenen Eigenschaften als auch die vorteilhaften Eigenschaften im doppelten Wortsinn der Beseitigung und der Bewahrung für die Gegenwart auf, womit die Gegenwart zugleich auf einen höheren, besseren Zustand hinaufgehoben werde (vgl. Hegel 1964b, S. 148 f.). Bezogen auf den institutionellen Wandel, war Hegel also ein dezidierter Fortschrittsoptimist. Überspitzt interpretiert, kann man ihn als idealistischen Vordenker der in der aktuellen Institutionenökonomik immer noch verbreiteten These bezeichnen, wonach der institutionelle Wandel von rationalen Kalkülen bestimmt werde. Bei Hegel (1964a, S. 33) liest sich die naive Effizienzthese in der philosophisch formulierten Version in seiner in der Vorrede der Rechtsphilosophie gegebenen Fassung: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig." Diese These mag als normative Legitimation bestehender Verhältnisse erscheinen. Ihre Verwandtschaft mit der naiven Effizienzthese der Institutionenökonomik ist jedoch unübersehbar. So weist Borchardt (1977, S. 154) daraufhin, dass die These, wonach der institutionelle Wandel in der Wirtschaftsgeschichte stets von rationalen Interessenkalkülen geleitet gewesen sei, auf die Unterstellung hinauslaufe, „... daß alles, was einmal bestanden hat, im ökonomischen Sinne auch .vernünftig' war, und alles was sich änderte,,unvernünftig' geworden ist." Freilich unterscheiden sich die Begründungen. Wird im ökonomischen Erklärungsansatz der institutionelle Wandel auf das Wirken des rationalen, kostenminimierenden Interessenkalküls zurückgeführt, so ist es bei Hegel die dialektische Selbstentfaltung des objektiven Geistes, der den grundlegenden Institutionen eines Volkes ihr spezifisches Gepräge verleihe. Der Geist werde objektiv, indem er sich durch die Schaffung und die gemeinsame Anerkennung von Ideen, also von Weltsichten, Wertesystemen oder Bewusstseinsformen innerhalb eines Volkes ausbreite. Bei Hegel gerät das Wirken des objektiven Geistes zur platten Apologie der preußischen Staatsmonarchie seines Brotherrn König Friedrich Wilhelm III. Er deklariert in seiner Rechtsphilosophie den Staat „... als Geist eines Volkes, zugleich als das alles seine Verhältnisse durchdringende Gesetz," als „... die Wirklichkeit der sittlichen Idee", als „... die göttliche Idee" und schließlich als „... Gang Gottes durch die Welt" (vgl. Hegel 1964a, § 257, § 274, § 331). Der bürgerlichen Gesellschaft, die Hegel (1964a, § 182) zwischen der Familie und dem Staat als eigenständiges Teilsystem anerkennt, spricht er die Fähigkeit zur Selbstorganisation ab. Ihre Entfaltung setze vielmehr „... den Staat voraus, den sie als Selbständiger vor sich haben muß, um zu bestehen." Die Aussage von Hegel (1964a, § 274), dass jedes Volk die Staatsverfassung und die Institutionen habe, die ihm angemessen seien und die zu ihrem Volksgeist gehörten, lässt sich dahingehend interpretieren, dass jede Gesellschaft auch ihre je eigene Staats- und Gesellschaftsphilosophie hat oder ver-
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dient, und zwar diejenige, die dem vorherrschenden Denken der Bürger entspricht. Nur so lässt sich der enorme und ungebrochene Einfluss der Hegeischen Philosophie auf das staatsrechtliche und ökonomische Denken nachfolgender Generationen von Theorieschulen verstehen, in denen die Ordnung von Gesellschaft und Wirtschaft als die vorrangige Aufgabe des sittlich überhöht gedachten Staates vorgestellt wird. Darauf wird noch einzugehen sein. Die im dialektischen Entwicklungsdenken von Hegel angelegte Ambivalenz musste Gegenentwürfe provozieren. Denn einerseits sollte die dialektische Selbstentfaltung des Geistes auch eine Höherentwicklung der realen Verhältnisse hervorbringen, womit sich andererseits die von Hegel vorgenommene Überhöhung des preußischen Obrigkeitsstaates als Krönung der Entwicklung nicht vereinbaren ließ. Daneben drängte sich eine Umkehrung der These vom Primat des Geistes bei der Entwicklung des Seins auf.
2.2. Der Historische Materialismus von K. Marx Die Umkehrung leitete L. Feuerbach ein, der als der eigentliche Begründer der materialistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen ist. Er setzte an die Stelle des Geistes die materielle Welt und speziell den sinnlichen und endlichen Menschen. Das Vorhaben von Hegel, die Bewegung des Seins aus dem Wirken ideeller Faktoren abzuleiten, impliziere die Annahme des Wirkens eines übernatürlichen, damit letztlich göttlichen Prinzips, weshalb die Hegeische Philosophie nichts anderes als eine verwandelte Theologie sei. Die Feuerbachsche Religions- und Hegelkritik wollte also den Menschen als geschichts- und gesellschaftsbestimmendes Wesen zurechtrücken. Diese Intention hat Marx aufgenommen und zur materialistischen Geschichtsphilosophie weiterentwickelt. Er übernimmt von Feuerbach den naturalistischen Humanismus, der es ihm ermöglicht, die idealistische Entwicklungsdeutung von Hegel zu überwinden, seine dialektische Methode aber gleichwohl beizubehalten. Er sieht seine Aufgabe darin, die Bewegungsgesetze der realen Verhältnisse zu enthüllen, unter denen die Menschen ihr Sein und ihr Leben gestalten, und dies sind für ihn vor allem die Formen der Produktion und der Arbeit. Im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals hat Marx (1972b, S. 27) seine Umkehrung der Hegeischen Methode und Philosophie klargestellt: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegeischen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen ... Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle." Den die materialistische Entwicklungstheorie prägenden Grundgedanken eines dialektischen Zusammenhangs zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den Produktionsverhältnissen hat Marx (1972a, S. 15) in klassischer Form im Vorwort zur „Kritik der Politischen Ökonomie" zusammengefasst: „Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln ... Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf
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einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen ... Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein." Die Implikationen dieser Grundannahmen für den gesellschaftlichen und institutionellen Wandel sind eindeutig. Er wird von ökonomischen Interessen und Kalkülen, konkret von den Interessen der jeweils herrschenden Klassen und von den dadurch induzierten Klassenkämpfen bestimmt, die sich je nach dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte in der revolutionären Umwälzung der Produktionsverhältnisse entladen. Gemäß dieser Basisannahme wird der Wandel der grundlegenden Gesellschaftsformationen und deren Institutionen zu erklären versucht. Beispielhaft dafür sei die von F. Engels (1972, S. 295) präsentierte Staatstheorie angeführt: „Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederschlagung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse. So war der antike Staat vor allem Staat der Sklavenbesitzer zur Niederhaltung der Sklaven, wie der Feudalstaat Organ des Adels zur Niederhaltung der leibeignen und hörigen Bauern und der moderne Repräsentationsstaat Werkzeug der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital." Die materialistisch begründete Staatstheorie von Engels zeigt zugleich - analog zum idealistischen Staatsverständnis von Hegel zu welch verhängnisvollen normativen Schlußfolgerungen angeblich wissenschaftlich fundierte Theorien des gesellschaftlichen und institutionellen Wandels verfuhren können. Weil der Staat seit seinen Anfängen als Instrument der herrschenden Klassen zur Ausbeutung der besitzlosen und produzierenden Klassen verstanden wird, muss er wieder verschwinden, wenn klassenlose Produktions- und Eigentumsverhältnisse geschaffen werden. Er wird dann nach Engels (1972, S. 296) ins „...Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt" versetzt. Zutreffender wäre es, sowohl die einseitig idealistisch begründete Hegeische Staatsapotheose als auch das einseitig materialistisch begründete Staatsverständnis von Marx und Engels ins dogmentheoretische Museum einflussreicher, wenngleich offensichtlich defizitärer Institutionentheorien zu versetzen. Auf die schon früh einsetzende Kritik der materialistischen Geschichtstheorie hat Engels selbst noch reagiert. In seinem Brief an J. Bloch im Jahre 1890 schreibt Engels (Marx/Engels 1953, S. 502): „Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens ... Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus ... bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Möglichkeiten." Das beim gereiften Engels angesprochene Wechselverhältnis von ideellen und materiell-ökonomischen Einflussfaktoren der gesellschaftlichen Entwicklung hat dann Max Weber als zentrales Objekt seines Forschungsprogramms aufgegriffen.
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2.3. Das Wechselverhältnis von Ideen und Interessen bei Max Weber Max Weber gilt als der weltweit renommierteste Antipode des Historischen Materialismus von Marx. Verantwortlich dafür ist vor allem seine Studie über „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus". Hier erkennt Weber (1972) in dem Lutherschen Verständnis des Berufs als Ruf Gottes zur tätigen Arbeit und in der mit der calvinistischen Prädestinationslehre verbundenen Erwählungs- und Heilsungewissheit der Gläubigen die maßgeblichen ideellen Antriebe für die Entfaltung des rationalen neuzeitlichen Wirtschaftsgeistes. Vor allem diese Ungewissheit sei von den Gläubigen dahingehend gedeutet worden, dass sie sich in ihrer gesamten, gottgefälligen Lebensführung zu bewähren hätten, wodurch ungewollt die kapitalistische Wirtschaftsweise und die dazugehörenden Institutionen entstanden seien. Marxistisch interpretiert, wären danach die maßgeblichen Entstehungsbedingungen des Kapitalismus im ideellen, religiösen Überbau zu verorten. Weber (1972, S. 205 f.) war sich seiner brisanten Umkehrung der kausalen Entstehungsbedingungen durchaus bewusst. In den Schlussbemerkungen seiner Studie betont er, dass es nicht seine Absicht sei, an die Stelle einer einseitig materialistischen eine ebenso einseitige spiritualistische, also ideelle Kultur- und Geschichtsdeutung zu setzen. Beide Erklärungsdeutungen seien gleichberechtigt und erhellend, sofern sie als Vorarbeiten für eine umfassendere Erklärung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung verstanden werden. Er akzeptierte also weder eine reine ideelle Überbau- noch eine reine materielle Basiserklärung. Ihm ging es vielmehr darum, dem komplexen Wechselverhältnis zwischen Ideen und Interessen im Wege geschichts- und kulturvergleichender Studien auf die Spur zu kommen. Dieses Forschungsinteresse hat er dann in seinen Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen in wahrhaft umfassender, wenn auch eher unsystematischer Form verfolgt. Das Fazit seiner Vergleichsstudien hat Weber (1991, S. 11) in seiner Einleitung zu diesen Studien auf den Punkt gebracht: "Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Weltbilder', welche durch die ,Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte." Dieses bei Weber eher beiläufig geäußerte Verständnis des Wechselverhältnisses zwischen Ideen und Interessen, also zwischen ideellen und materiellen Einflussfaktoren grundlegender Institutionenreformen, gilt es zu präzisieren. Ideen sind nach Weber kulturell gewachsene und geteilte Vorstellungen der Menschen über die wesentlichen Bedingungen ihrer Existenz. Sie erwachsen aus dem Bedürfnis der Menschen als kulturbegabte Wesen, eine Antwort auf grundlegende Sinnfragen des Woher, des Wie und des Wohin ihrer Existenz zu geben. Ideen sind also kulturell konstruierte und deshalb divergierende Weltbilder, die sowohl kognitive als auch normative Elemente enthalten. In dem Maße, in dem sie verinnerlicht und alltäglich gelebt werden, bilden sie einen festen Bestandteil des ideellen Unterbaus der Lebensführung und beeinflussen auf diese Weise auch den materiellen Unterbau, also vor allem die ökonomischen Antriebe und Interessen. Jedenfalls sollte das Bild von den Ideen als Weichenstellern für die Dynamik der Interessen nicht dahingehend gedeutet werden, dass die Bahnen und Richtungen der Inter-
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essen in der Geschichte jemals bewusst gesetzt oder anvisiert worden seien. Die Ideenentwicklung folge vielmehr einer Eigenlogik, die Weber im Wege der geschichts- und kulturvergleichenden Rekonstruktion der Rationalisierung der Ideen zu erfassen trachtete. Wie Weber (1976, S. 16) selbst konzediert, ist Rationalisierung ein vieldeutiger Begriff. Im weitesten Verständnis ist damit die Emanzipation der Vernunft von magischen und eingelebten Gewohnheiten und heiligen Glaubensvorstellungen, mithin also die Entzauberung der Weltsicht gemeint. Die eigentlichen Wegbereiter dafür waren die großen, zeitüberdauernden Religionen, die eine geistige Durcharbeitung der ewig interessierenden Sinnzusammenhänge der Welt und damit der menschlichen Existenz geleistet haben. Aufgrund der alltäglichen Erfahrungen der Menschen mit den weltlichen Irrationalitäten galt es, die Diskrepanz zwischen der unterstellten Vollkommenheit Gottes oder der Götter und der Unvollkommenheit der Welt rational zu bewältigen. Dazu mussten die tradierten Weltbilder und die damit verbundenen ganzheitlichen Glaubensvorstellungen überprüft, zerlegt und neu systematisiert und geordnet werden. Die Rationalisierung konnte sich dabei in verschiedenen Bereichen und auf mehreren Pfaden abspielen, von denen sich einige als Sackgassen erwiesen, die nicht weiterführten. Welche ideellen Pfade gewählt wurden, hing von den historischen Umständen und deren Verkettung und hierbei insbesondere von dem Wirken intellektueller Eliten und Schichten ab. Um die Eigenlogik der Rationalisierung zu verdeutlichen, bietet sich das Bild eines sich verzweigenden Stammbaums an (vgl. Tenbruck 1975, S. 687 f.). Weil diverse Gabelungen möglich waren und bis heute sind, musste es auch zu divergierenden und irreversiblen gesellschaftlichen Entwicklungen kommen. Eine wichtige Gabelung in der Religionsentwicklung sah Weber im Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus, weil hier die Sinn- und Weltzusammenhänge nach einem einheitlichen Prinzip geordnet und erklärt werden mussten. Eine entwicklungsträchtige Version des Gottes- und Weltbildes bestand darin, die Welt und damit auch die Menschen als Geschöpfe Gottes zu sehen, deren Unvollkommenheiten der menschlichen Schwäche geschuldet seien. Um Gottes Wille nach einer besseren und gerechten Ordnung zu genügen, sahen sich die Menschen verpflichtet, diesem Anspruch durch bewusstes und aktives Handeln und Gestalten gerecht zu werden. Die Idee der aktiven Weltbeherrschung entstand zuerst in der jüdischen Religion, über die sie dann durch die Übernahme des Alten Testaments als Teil der göttlichen Offenbarung auch Bestandteil des Christentums wurde und im asketischen Protestantismus den entwicklungsbestimmenden Abschluss fand. Wie Weber in seinen Studien über den Hinduismus und den Buddhismus zeigte, begünstigten dagegen andere Gottes- und Weltbilder eher eine passive, weltablehnende Interessenhaltung, die wiederum ursächlich die langfristige ideelle und wirtschaftliche Stagnation begründete. Die Begabung und das Bedürfnis nach Rationalisierung der menschlichen Lebensbedingungen erachtete Weber als universale Konstanten, weshalb er in der ideell motivierten Rationalisierung den entscheidenden Stellhebel für die Wege und Formen sah, welche die praktische Rationalisierung in Gestalt der gesellschaftlichen Ordnungen und der alltäglichen Lebensführung einschlagen konnte. Die ideelle und die materiell-praktische Rationalisierung standen und stehen also in einem komplexen, historisch kontingenten
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Bedingungsverhältnis, das sich aufgrund der „Verkettung der Umstände" auch verschieden entwickeln konnte, ja musste. Weber lieferte damit ein universalgeschichtlich begründetes Verständnis der Ideen- und Institutionenentwicklung, wie es später D. C. North ohne Kenntnisnahme von Weber als Pfadabhängigkeit des institutionellen Wandels wiederentdeckte und publik machte. Weber hat aus der Einsicht der historischen und kulturellen Bedingtheit der Rationalität eigenständige, ja eigenwillige methodische Konsequenzen gezogen, die hier nur angedeutet werden können. Das eigentliche Erkenntnisziel der Sozialwissenschaften einschließlich der Wirtschaftswissenschaften sah er im Verstehen und Erklären des Individuellen der sozialen Wirklichkeit, des geschichtlichen „So-und-nicht-andersGewordenseins" (Weber 1922a, S. 170 f.). Im Unterschied zu den Naturwissenschaften, die auf die Erkenntnis des Generellen, also der allgemein geltenden Gesetzmäßigkeiten zielen, sollen sich die Sozialwissenschaften auf die theoretische Erkenntnis der individuellen Eigenarten und Verhältnisse der Wirklichkeit in typologischer und vergleichender Perspektive konzentrieren. Von daher erklärt sich auch seine Wertschätzung des Idealtypus als besonderes Erkenntnisinstrument der Sozialwissenschaften. Er versteht Idealtypen als gedankliche Konstrukte zur Identifizierung und Vergleichung historisch und kulturell spezifischer Kausalzusammenhänge. Weil sie durch die einseitige Steigerung bestimmter Elemente der Realität und der ebenso einseitigen kausalen Verbindung von Einflussfaktoren gewonnen werden, seien sie keine Abbilder realer Verhältnisse und deren Gesetzmäßigkeiten. Sie können aber als Mittel zur Gewinnung allgemeiner Aussagen dienen, deren eigentlichen heuristischen Zweck Weber jedoch auf ihre Funktion als Hilfsmittel zur Erkenntnis individuell verschiedener historischer und sozialer Verhältnisse reduzierte. Webers Forschungsprogramm lässt sich erst vor dem Hintergrund der methodischen Positionen und Auseinandersetzungen seiner Zeit würdigen. Deren erster Schwerpunkt bildete das Spannungsverhältnis zwischen der angemessenen Berücksichtigung der historisch-individuellen Besonderheiten des wirtschaftlichen Geschehens einerseits, worauf die Vertreter der Historischen Schule insistierten, und dem Anspruch der abstrakttheoretischen Erklärung andererseits, wie er von den Vertretern der klassischen bzw. österreichischen Schulrichtung eingefordert wurde. Methodisch ging es dabei um die Besonderheiten der ideographischen, auf die Erfassung des Individuellen ausgerichteten Methode und der auf die Erfassung des Generellen zielenden nomothetischen Methode. Erst von daher ist das Webersche Verständnis der Idealtypen als heuristisches Erkenntnisinstrument nachvollziehbar, indem diese als Bindeglied zwischen den Anforderungen der ideographischen und nomothetischen Methode fungieren. Folgerichtig musste er auch die Lehrsätze der klassischen Wirtschaftstheorie als idealtypische Konstruktionen bewerten. Das zweite Problem bildete das Spannungsverhältnis zwischen den idealistischen und den materialistischen Gesellschaftstheorien. Weber versuchte dieses Spannungsverhältnis dadurch zu entkrampfen, indem er die Defizite einer rein ideellen als auch einer rein materiellen Erklärung der gesellschaftlichen und institutionellen Entwicklung thematisierte und es als komplexes und historisch kontingentes Wechselverhältnis interpretierte. Der materialistischen Gesellschaftstheorie von Marx konnte er
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deshalb ebenfalls nur den Status einer idealtypischen Konstruktion zubilligen (vgl. Schluchter 1988, S. 64 ff.). Seine in der frühen Protestantismusstudie angelegte einseitige ideelle Erklärung des okzidentalen Kapitalismus aus religiösen Wurzeln hat er aufgrund seiner breitangelegten kulturellen und religionssoziologischen Vergleichsstudien relativiert. Weber (1914, S. VII) gelangte zur Einsicht, dass die "... Entfaltung der Wirtschaft vor allem als eine besondere Teilerscheinung der allgemeinen Rationalisierung des Lebens begriffen werden müsse". Er erachtete die Entstehung des modernen Kapitalismus als folgerichtiges, wenngleich unintendiertes Beiprodukt der gleichlaufenden Rationalisierung des Handelns und der Institutionen in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen. Die maßgeblichen Entwicklungsbedingungen dafür sah er im Staat mit seinen geschriebenen Verfassungs- und Bürgerrechten und in dessen Verwaltung durch ein Fachbeamtentum, in dem von Fachjuristen geschaffenen rationalen Recht, in der systematischen Erforschung der Wirklichkeit durch die Wissenschaften und der wirtschaftlichen Anwendung der Erkenntnisse in modernen Techniken sowie in der Existenz freier und gleicher Bürger mit einem religiös geprägten Ethos der Lebensführung. Wenn nun beim späten Weber (1924, S. 270) das religiös geprägte Ethos der Lebensführung nur noch als ein Kausalfaktor neben anderen erscheint, sollte nicht vergessen werden, dass er die Entstehung der rationalen Ordnung von Staat, Recht, Wirtschaft oder Wissenschaft ursprünglich als das unintendierte Resultat der religiösen Rationalisierung erachtete. Freilich war sich Weber über die schwindende Ordnungskraft der Religion und deren Verdrängung durch außerreligiöse Ideensysteme in der jüngeren Geschichte bewusst. Eine Antwort auf die Frage, welche Weltbilder aus dem Wechselverhältnis von den zu seiner Zeit vorherrschenden Ideen und Interessen, also von Ideologien und politischen sowie wirtschaftlichen Machtinteressen sich herausbilden und durchsetzen werden oder können, gibt er nicht (vgl. dazu Tenbruck 1975, S. 695; Schluchter 1980, S. 33 f.). Es ist anzunehmen, dass er seiner aufgrund umfassender geschichtlicher und kultureller Vergleichstudien gewonnenen Einsicht treu geblieben wäre, dass - um mit Engels zu sprechen - Ideen und die dadurch geprägten Weltbilder das in , letzter Instanz bestimmende Moment' der geschichtlichen und institutionellen Entwicklung waren, sind und bleiben werden. Jedenfalls ist der ungebrochene kultur- und entwicklungsbestimmende Einfluss der Religionen auch im 21. Jahrhundert kaum zu leugnen (vgl. etwa Huntington 1996).
2.4. Die Theorie des institutionellen Wandels von D. C. North Die Theorie der institutionellen und wirtschaftlichen Entwicklung von North ist interessant, weil seine eigene Theorieentwicklung das Spannungsverhältnis zwischen ideellen und materiellen Einflussfaktoren paradigmatisch widerspiegelt. North hat weltweit Anerkennung gefunden, weil er als einer der ersten Wirtschaftshistoriker die Theorie der Eigentumsrechte zusammen mit der Kategorie der institutionenabhängigen Transaktionskosten auf die Wirtschaftsgeschichte angewendet hat. Konkret ging es ihm in seinen frühen Studien um die Anwendung der These, dass die Wahl und der Wandel von Institutionen vom Kriterium der Minimierung der Transaktionskosten bzw. der Maximierung des Nettoertrags der Gütertransaktionen bestimmt werden. Diese Effizienzthese macht auch in abgewandelter Form den Kern der Property Rights-Theorie aus,
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wonach die Wahl der Eigentumsrechte vom Bestreben der Individuen bestimmt wird, sich die Erträge ihrer Aktivitäten möglichst ungeschmälert anzueignen, womit sich die These verbindet, dass die Struktur und insbesondere der Exklusivitätsgrad der Eigentumsrechte die Allokation und die Nutzung der Güter in systematischer Weise beeinflussen. H. Demsetz (1967), einer der Begründer dieses Theorieansatzes, hat die zuletzt genannte These am Beispiel der Indianerstämme Nordamerikas zu Beginn des 18. Jahrhunderts illustriert, die sich als Folge der gestiegenen Nachfrage nach Biberpelzen auf die Biberjagd spezialisierten. Weil es dadurch zur Überjagung der Biber gekommen sei, lag die Privatisierung der Biberbestände als effiziente Lösung nahe. An dieser ökonomischen Interpretation sind allein schon deshalb Zweifel angebracht, weil das Privateigentum an Jagdbeständen im Weltbild der Indianerstämme eher als eine fremde Idee empfunden werden mußte. Wie McManus (1972) nachgewiesen hat, wurde die Privatisierung der Jagdgebiete und -bestände tatsächlich nicht von den Indianern, sondern von den Pelzhändlern betrieben. Die Kenntnis kulturspezifischer Weltbilder und Ideen kann also vor vorschnellen ökonomischen Erklärungen schützen. Diese Lektion mußte auch North erfahren. Seine erste große, zusammen mit R. Thomas verfasste Arbeit über den Aufstieg der westlichen Welt sollte sich aufgrund der nachfolgenden Kritik als einseitig ökonomistische bzw. materialistische Geschichtsdeutung erweisen. Die als „new economic history" deklarierte Analyse holt historisch weit aus. Sie beginnt mit der Erklärung der neolithischen Revolution, also mit dem Übergang der Jäger- und Sammlergesellschaften hin zu den sesshaften Ackerbaugesellschaften, der von den Autoren als erste ökonomische Revolution bezeichnet wird (vgl. North / Thomas 1973). Wie selbst der reife North (1988, S. 93) insistiert, war dieser Übergang deshalb eine Revolution, weil er „... für den Menschen eine ganz grundlegende Verschiebung der Anreizstruktur bewirkte. Die Anreizänderung ist in der Verschiedenheit der Eigentumsrechte in den beiden Systemen begründet. Wenn die Subsistenzmittel im Gemeineigentum stehen, so gibt es wenig Anreiz zum Erlemen einer besseren Technik oder zum Erwerb größeren Wissens. Im Gegenteil: Exklusive Eigentumsrechte, die dem Eigentümer etwas einbringen, bieten einen unmittelbaren Anreiz zur Erhöhung von Effizienz und Produktivität."
Auch der Aufstieg und der Niedergang der nachfolgenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen, so der antiken Welt und nachfolgend der feudalen Ordnung in Europa bis hin zum Aufstieg der kapitalistischen Ordnung, werden durchgängig als ökonomisch effiziente Anpassung der Institutionen und insbesondere der Eigentumsrechte an veränderte Knappheitsrelationen der Güter und der damit einhergehenden veränderten Preis- und Kostenrelationen interpretiert. So werden auch die vielfältigen Arbeitsleistungen und Abgaben der abhängigen Bauernschaft gegenüber den Feudalherren als rational vereinbartes „sharing arrangement", also als Tauschgeschäft der abhängigen Bauern mit den Feudalherren für die von diesen gewährleistete Sicherheit von Leben und Besitz gedeutet. Auch hier bleibt die im mittelalterlichen Weltbild angelegte Vorstellung einer ständisch abgestuften Sozialordnung mit angestammten Rechten und Pflichten der einzelnen Stände ausser Betracht. Das Unterfangen, die feudalen wie auch andere historische Verhältnisse nachträglich ökonomisch zu rationalisieren, ist daher zu Recht als modernistische bzw. rationalistische Fehldeutung kritisiert worden (vgl. Kahan 1973; Fenoaltea 1975). Daneben wurde eingewendet, dass die Annahme der ratio-
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nalen Wahl von Institutionen gemäß dem Transaktionskostenkalkül methodisch nur dann plausibel sei, wenn es um die Wahl zwischen gegebenen Institutionen mit gegebenen und berechenbaren Transaktionskosten gehe. Der rationale Wahlhandelskalkül versage jedoch bei der Erklärung der Entstehung neuer Institutionen, weil hier die Opportunitätskosten alternativer Institutionen schlicht nicht bekannt seien (vgl. dazu Herrmann-Pillath 1991). Dieser methodische Einwand markiert sicherlich auf einfache Weise die Grenzen aller rationalistischen oder ökonomistischen Erklärungen des institutionellen Wandels und verweist unmissverständlich auf den Einfluss ideeller Faktoren. Wäre der gesellschaftliche Wandel stets nach rationalen Kriterien verlaufen, hätte das auch zur allmählichen Angleichung der realen Verhältnisse und insbesondere der Institutionen fuhren müssen. Die Erklärung des Wandels wäre dann, wie Max Weber (1922b, S. 227) bereits früh erkannte, „unendlich erleichtert". Die geschichtliche Realität zeichnet sich jedoch durch eine Vielfalt der sozialen und institutionellen Verhältnisse selbst innerhalb benachbarter regionaler und historischer Räume aus. Die in den breitangelegten historischen Vergleichstudien gewonnene Einsicht in die räum- zeitspezifischen Unterschiede des institutionellen und wirtschaftlichen Wandels und insbesondere in die langfristige Persistenz ineffizienter Institutionen musste daher auch früher oder später North dazu fuhren, seine Ausgangsthese der rationalen und effizienten Institutionenwahl zu modifizieren. Die Wende vom frühen zum reifen North und die damit verbundene unterschiedliche Gewichtung materiell-ökonomischer und ideeller Einflussfaktoren des Wandels wird zuerst in dem 1981 veröffentlichten Buch „Structure and Change in Economic History" offensichtlich und in den nachfolgenden Arbeiten dann weiterentwickelt. Die modifizierte Erklärung des Wandels zeigt sich bei North (1995, S. 8) in folgender Einsicht: „Modification of the rationality assumption means that ideas, dogmas, prejudices, and ideologies matter... And specifically it means that we must incorporate into our analysis the belief systems that the actors hold that determine the choices they make. And that brings us to time and human learning." Die Modifikationen der Theorie des institutionellen Wandels können hier nur angedeutet werden (vgl. ausfuhrlicher Leipold 1998; 2000). Sie bestehen erstens in der stärkeren Gewichtung des staatlichen Einflusses auf die Institutionenentwicklung, zweitens in der Aufwertung des Einflusses von Organisationen, damit des kollektiven Handelns gegenüber dem individuellen Handeln, und drittens in einer Theorie des ideellen Wandels als maßgeblichen Einflussfaktor des pfadabhängigen Wandels der Institutionen. Die Theorie über die Funktion und den Einfluss des Staates von North (1988, S. 20 ff.) ist einfach und nach neoklassischem Muster gestrickt. Der Staat erweist sich in seiner Funktion als Rechtsschutzstaat als vorteilhafte Einrichtung zur Ausweitung unpersönlicher Tauschprozesse. Die ökonomischen Vorteile resultieren aus den steigenden Skalenerträgen und d. h. den sinkenden Kosten einer zentralen Schutzinstanz, die mittels des Monopols der physischen Gewaltanwendung Recht und Ordnung sichert und notfalls erzwingt. Der Staat wird also als natürliches Monopol modelliert, das als überparteiische Instanz die Eigentumsrechte der Wirtschaftssubjekte potentiell zu den kostengünstigsten Bedingungen sichern kann. Andererseits verführte und verführt bis heute das staatliche Gewaltmonopol die eigeninteressierten Herrscher zum Missbrauch der
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Monopolmacht. Die neoklassische Staatstheorie, die stark von der Theorie der Rentensuche inspiriert ist, nutzt North (1988, S. 148 ff.; 1992, S.122 ff.) dazu, um die divergenten Entwicklungen in der frühen Neuzeit in den Niederlanden und England sowie in Frankreich und Spanien zu erklären. In den Niederlanden und in England gelang es ab dem 16. Jahrhundert aufgrund eher zufalliger Umstände, effiziente Eigentumsrechte zu etablieren, die in die industrielle Revolution ausmündeten. Dagegen wurden die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung im absolutistischen Frankreich und Spanien vom unersättlichen Finanzhunger der Monarchen und der monopolistischen Regulierung der Wirtschaft geprägt und gehemmt. In den hier nur grob skizzierten historischen Vergleichsstudien wird die These vom Primat der Politik für den institutionellen Wandel deutlich. An dieser These hält North (1992, S. 167) fest, indem er unterstreicht, dass man effiziente Institutionen nur in einem Staatswesen erhält, das eingebaute Anreize zur Schaffung und Sicherung effizienter Eigentumsrechte hat. Die Frage, wie solche Anreize auszusehen haben und wie man sie aufgrund welcher Einflussfaktoren erhält, bleibt jedoch offen. Verantwortlich dafür ist seine ökonomische Staatstheorie, in der North den Staat als „deus ex machina" einführt und als rationale und potentiell unparteiische Instanz modelliert. Neben dem Staat erfahren auch die Organisationen eine Aufwertung als maßgebliche Einflussfaktoren. Den institutionellen Wandel begreift North (1992, S. 87 ff.) als das Resultat des räum- und zeitspezifisch divergenten Zusammenspiels von Organisationen und Institutionen. Institutionen definieren die Spielregeln des Zusammenspiels, wobei insbesondere die gewachsenen informalen Regeln wichtige und allzuoft unterschätzte Restriktionen für angemessene oder unzulässige Verhaltensweisen vorgeben. Organisationen sind die für den institutionellen Wandel maßgeblichen Akteure oder Spieler. Sie bestehen aus Individuen, die gemeinsame Ziele anstreben und deshalb kooperieren. Dazu zählen politische Parteien, wirtschaftliche Verbände, Unternehmen, Vereine, religiöse Organisationen und sonstige nichtstaatliche Interessenverbände. Deren Streben nach bestmöglicher Realisierung der je eigenen Ziele führt in einer Welt knapper Güter zum Wettbewerb, der wiederum die Lern-, Anpassungs- und Leistungsbereitschaft stimuliert. Die Intensität des Wettbewerbs hängt von der Beschaffenheit des Regelwerkes ab. Der Wettbewerb zwischen den Organisationen um politische Machtpositionen, um Gefolgschaft, Marktanteile oder Gewinne bewirkt auch einen Wettbewerb der Regelsysteme. Überkommene Regeln werden durch neue Regeln ersetzt. Die Änderungen werden neben der regelabhängigen Wettbewerbsintensität von der ideen- und wissensabhängigen Wahrnehmung neuer Gelegenheiten beeinflusst. Damit ist der Einfluss der ideellen Faktoren angesprochen, deren wirkmächtige Kraft als Weichensteller in der Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte North, wenn auch nur zögerlich anerkennen musste. Anfänglich versuchte North (1988, S. 50), den Einfluss der Ideen oder Ideologien noch rein ökonomisch zu erklären: „Ideologie ist eine Sparmaßnahme: Mit ihrer Hilfe richtet sich der einzelne in seiner Umwelt ein; sie liefert ihm eine ,Weltanschauung', so daß sein Entscheidungsprozess vereinfacht wird ... Der einzelne verändert seinen ideologischen Standpunkt, wenn seine Erfahrung mit seiner Ideologie nicht vereinbar ist."
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Dieses doch simple Verständnis der Ideologie, das North mutmaßlich A. Downs verdankt, hat er allmählich verfeinert und mittels der Kategorie der mentalen oder kognitiven Modelle der Weltsicht zu präzisieren versucht. North (1994; vgl. auch Dernau / North 1994) will mit Hilfe der kognitiven (mentalen) Modelle die räum- und zeitspezifischen Beschränkungen des Rationalverhaltens erfassen. Er interpretiert diese Modelle als ein Mixtum erstens des jeweiligen kulturellen Erbes, zweitens der lokalen Probleme und des Wissens von Raum und Zeit und drittens des zugänglichen nichtlokalen allgemeinen Wissens. Das kulturelle Erbe umfasst die gewachsenen Werte und Sitten und die davon geprägten kulturellen Regeln, die generationenübergreifend durch kollektives Lernen weitergegeben werden. Das Verständnis des kulturellen Erbes und dessen Entwicklung im Wege erfolgsgeleiteter Erfahrungs- und Lernprozesse ist eindeutig dem Hayekianischen Verständnis der kulturellen Regelevolution verpflichtet. Das kulturell erworbene und weitergegebene Wissen in Verbindung mit dem lokalen und dem zugänglichen allgemeinen Wissen ergeben zusammen subjektive Wissensmodelle, wobei die räum- und zeitabhängig divergente Zusammensetzung der Wissensquellen nach North sich in verschiedenen Entscheidungen und Verhaltensweisen der Individuen widerspiegelt. Er konzediert zwar, dass unzulängliche Mentalmodelle bei korrekter Rückkoppelung der Entscheidungsfolgen revidiert werden, so dass sich die Entscheidungen von Individuen mit identischer Nutzenfunktion, losgelöst von der Raum- und Zeitgebundenheit, annähern können. Sie können sich jedoch auch zu relativ starren Glaubenssystemen (belief systems) verfestigen, die letztlich den ideellen Wandel behindern und somit die Persistenz ineffizienter Institutionensysteme begründen. Die Grade der Offenheit für Lernprozesse oder aber der Starrheit der mentalen Modelle bestimmen daher in letzter Instanz den institutionellen und wirtschaftlichen Wandel, der deshalb stets und zuerst als pfadabhängiger Wandel zu begreifen ist. Pfadabhängigkeit bedeutet ja die einfache Einsicht, dass historische und oft zufallige Bedingungen aktuelle Entscheidungen und damit auch zukünftige Entwicklungen präformieren (vgl. Leipold 1996). Diese Eigenart gilt auch und gerade für den institutionellen Wandel, bei dem die gewachsenen und geltenden Regeln die Objekte der Veränderungen sind. Der gegebene Regelbestand engt also die Möglichkeiten der potentiellen Änderungen ein und verbindet diese mit der Vergangenheit. Die Starrheit bzw. die Offenheit der mentalen Modelle gegenüber Regeländerungen bestimmen die Zukunft des institutionellen Wandels. Die historische Gebundenheit der Regelgeltung und -befolgung ist der eigentliche Grund dafür, dass umfassende oder gar revolutionäre Veränderungen eines Regelsystems eher geschichtliche Ausnahmen geblieben sind. Die wenigen Revolutionen waren deshalb selten so revolutionär wie erhofft. North (1994, S. 365) konzediert zwar, dass das Phänomen der Pfadabhängigkeit in der Theorie des institutionellen Wandels bisher noch weitgehend ungeklärt sei. Gleichwohl sieht er in der Kultur und in deren pfadabhängiger Geltung den Schlüssel für ein angemessenes Verstehen und Erklären der Vielfalt der politischen und wirtschaftlichen Ordnungen und der davon abhängigen Verschiedenheit der wirtschaftlichen Entwicklung. Die hier nur skizzierte Modifikation des institutionenökonomischen Erklärungsansatzes durch North ist ein Lehrstück für die Pfadabhängigkeit der Theorieentwicklung und
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damit indirekt der Ideenentwicklung. Aufgrund der Einsicht, dass Ideen von Belang sind, hat North theoretische Pfade wiederentdeckt, die schon in früheren Theorien eingeschlagen und kultiviert worden sind. Das Spannungsverhältnis zwischen ideellen und materiellen Einflussfaktoren des geschichtlichen Wandels macht ja den eigentlichen Problemkern der großen Antinomie der Nationalökonomie aus, wie es Eucken (1950, S. 15 ff.) bezeichnet hat. Gemeint ist damit das Spannungsverhältnis zwischen den ideenabhängigen historischen Besonderheiten und Unterschieden des institutionellen und wirtschaftlichen Wandels und der Möglichkeit der abstrakt-theoretischen, also der rationalen Erklärung. North hat für diese Antinomie, die ja auch das Forschungsprogramm von Max Weber geprägt hat, eine eigenständige Lösung geliefert. Im Lichte der früheren Theorien und insbesondere der Theorie von Max Weber ist die Originalität des Northschen Entwurfs jedoch eher als bescheiden einzuschätzen. Seine modifizierte Erklärung bleibt immer noch stark dem einfachen ökonomischen Erklärungsansatz verhaftet. Von daher erklärt sich auch seine eher kritische und nur beiläufig geäußerte Einschätzung von Max Weber, die sich nur auf dessen frühe Protestantismusstudie bezieht. In seiner Arbeit „The Paradox of the West" konzediert North (1993, S. 7 f.) zwar den Einfluss religiöser Werte auf den wirtschaftlichen Aufstieg der westlichen Welt, kritisiert jedoch die Weberschz Erklärung als eher spekulative Erklärung. Das eigentliche Augenmerk sollte nicht darauf gerichtet werden, wie religiöse Normen das wirtschaftliche Verhalten motivieren, sondern darauf, in welchem Maße die Glaubenssysteme wirtschaftlich-technische Lern- und Wandlungsprozesse begünstigen oder aber behindern. Seine Forderung, sich auf die Transmission von religiösen oder ideologischen Ideen und Überzeugungen via Lernprozesse auf das Wirtschaftsleben zu konzentrieren, ist sicherlich akzeptabel. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass das Webersche Interesse an dem ethischen Gehalt einzelner religiöser Weltbilder und dessen Umsetzung in die persönliche Ethik und über diese in die alltägliche Lebensführung vernachlässigt wird. Von daher erklärt sich die Schwäche, dass die religiösen und ideologischen Weltbilder und deren Einfluss auf den gesellschaftlichen und institutionellen Wandel bei North bisher noch ein weitgehend „unbeschriebenes Blatt" bleiben (so Herrmann-Pillath 1992, S. 511). Gemessen an Max Weber bleibt die Theorie des institutionellen Wandels von North eher oberflächlich. Sie vermag zwar partiell den kontinuierlichen institutionellen und wirtschaftlichen Wandel in entwickelten Industriegesellschaften zu erklären. Sie genügt jedoch nicht dem eigenen Anspruch, eine allgemeine, universal gültige Theorie des institutionellen und wirtschaftlichen Wandels offerieren zu wollen. Aus der Übersicht über einige Erklärungsansätze des gesellschaftlichen und institutionellen Wandels sollte deutlich werden, dass sich das dabei stellende Spannungsverhältnis zwischen ideellen und materiellen Einflussfaktoren weder mittels einer reinen Überbauerklärung ä la Hegel noch mit einer reinen Unterbauerklärung ä la Marx auflösen lässt. Vielmehr ist das komplexe Wechselverhältnis zwischen beiden Einflussgrößen zu klären, wofür Max Weber und North richtungsweisende Erklärungsmuster geliefert haben, die im folgenden noch durch einige eigenständige Überlegungen ergänzt werden sollen.
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Der Erklärungsansatz einer kulturvergleichend konzipierten Institutionenökonomik
Aus ökonomischer Perspektive liegt es nahe, das Verhältnis zwischen ideellinstitutionellen und materiell-ökonomischen Faktoren als relatives Knappheitsproblem zu analysieren. Dazu ist zunächst zu klären, welche Merkmale Institutionen als ökonomische, also als knappe Güter auszeichnen und welcher entwicklungsbestimmende Einfluss den Ideen oder aber den materiellen Interessen bei der Entstehung und Entwicklung der Institutionen beizumessen ist. Damit verbindet sich die These, dass sich das hier interessierende Spannungsverhältnis zwischen ideellen und materiellen Einflussfaktoren des institutionellen Wandels erst dann klären lässt, wenn das ursächliche ökonomische Knappheitsproblem auf der Ebene der Institutionen verortet wird. Mit Max Weber ist davon auszugehen, dass Interessen und nicht Ideen unmittelbar das Handeln der Menschen bestimmen. Damit Interessen in friedfertige und produktive Bahnen gelenkt und wechselseitige Tausch- und Kooperationsvorteile erzielt werden können, sind sie zu koordinieren und d. h. zu aktivieren und zugleich zu beschränken. Damit ist die grundlegende Funktion der Institutionen angesprochen. Nach dem in den verschiedenen institutionenökonomischen Ansätzen vorherrschenden Verständnis verkörpert eine Institution eine Regel (bzw. Regelmenge) in zwischenmenschlichen Beziehungen, die erstens bestimmte Verhaltensweisen gebietet oder verbietet, die also den Raum des zulässigen Verhaltens beschränkt und so Beziehungen ordnet, die zweitens entweder unintendiert entstanden ist oder bewusst gesetzt bzw. vereinbart wird und die drittens entweder gewohnheits- bzw. überzeugungsbedingt verlässlich befolgt oder aber durch spezielle Autoritäten auf Grundlage von Institutionen zweiter und höherer Ordnung notfalls durch Zwang zur Geltung gebracht wird. Institutionen verleihen sozialen Interessen und Beziehungen eine Regelmäßigkeit, wodurch mehr oder weniger verlässliche Erwartungen über Verhaltensweisen der Mitmenschen gebildet und Vertrauensbeziehungen möglich werden können. Die nachfolgend vorgestellte, spieltheoretisch inspirierte Institutionentypologie unterscheidet zwischen selbstbindenden und bindungsbedürftigen Institutionen. Als Kriterium dafür liegen die Grade der Konvergenz bzw. der Rivalität von Interessen in sozialen Beziehungen zugrunde, die ja Reflex der relativen Knappheiten sozial begehrter Güter (Ämter, Sexualpartner, Privilegien, Dienste u. a. Güter) sind (vgl. Leipold 2000; 2003a). In konfliktarmen und deshalb sozial unproblematischen Interessenbeziehungen fallen die Einigung auf gemeinsame Regeln und deren wechselseitige Befolgung relativ einfach aus. Weil sie selbstinteressiert befolgt werden, seien sie als selbstbindende Institutionen bezeichnet. Klassische Beispiele sind Konventionen, also Sitten, Gebräuche, Rituale und andere kulturspezifische Gewohnheiten. Ökonomisch sind selbstbindende Institutionen als ein Netzwerkgut zu interpretieren, dessen Nutzen bekanntlich auch von der Zahl der Nutzer mitbestimmt wird. Konventionen entstehen meist spontan und zufallig und entwickeln sich pfadabhängig. Davon unterscheiden sich konfliktträchtige und deshalb sozial problematische Interessenbeziehungen, wie sie sich spieltheoretisch durch mixed-motive-games und in klas-
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sischer Form durch das Gefangenendilemmaspiel modellieren lassen. Bei diesen Beziehungen fallen die Einigung auf und die Befolgung von Regeln deshalb schwer, weil die für alle Beteiligten potentiell vorteilhafteste Regel den Verzicht auf die individuell bestmögliche Alternative verlangt. Es sind also Beschränkungen oder Bindungen des Selbstinteresses gefragt, weshalb dieser Regeltyp als bindungsbedürftige Institution bezeichnet wird. Der Verzicht auf die situativ häufig vorhandene bestmögliche Vorteilsnahme setzt moralische Bindungen voraus. Hierbei wird dem abstrakten Moralverständnis gefolgt, wie es Mackie (1981, S. 133) auf den Punkt gebracht hat. Er definiert Moral als „... ein System von Verhaltensregeln besonderer Art, nämlich von solchen, deren Hauptaufgabe die Wahrung der Interessen anderer ist und die sich für den Handelnden als Beschränkungen seiner natürlichen Neigungen oder spontanen Handlungswünsche darstellen."
Gemäß diesem formalen Moralverständnis lassen sich bindungsbedürftige Institutionen als ein Moralgut, mithin als ein ökonomisches Gut sui generis, spezifizieren. Der individuelle Nutzen bezüglich der Geltung einer Regel bzw. einer Regelmenge gestaltet sich - neben der anreizkompatiblen Qualität der Regel - nach Maßgabe folgender Variablen: — erstens des Vorteils aufgrund der wechselseitig regelgemäßen Abwicklung der Kooperation mit Partnern, wobei der individuell erzielbare Vorteil von der verläßlichen Regelbefolgung der anderen abhängt, — zweitens des möglichen Sondervorteils, der durch die isolierte individuelle Missachtung der geltenden Regel erzielt werden kann, vorausgesetzt die anderen Partner verhalten sich kooperativ, also regelgemäß, — drittens des zusätzlichen Sondervorteils, der dadurch erzielbar ist, dass die Regel eine machtbedingte ungleiche Behandlung der Kooperationspartner vorsieht, indem sie der einen Seite einen Vorteil gewährt, der zu Lasten der anderen Seite geht. Übersetzt in das Rentenkonzept, das ja ein Maß für den Zusatznutzen bzw. -ertrag einer Entscheidung gegenüber der nächstbesten Alternative liefert, sollen die drei unterschiedenen Nutzen- bzw. Vorteilskomponenten — erstens als Kooperationsrente, — zweitens als Defektionsrente und — drittens als machtbedingte Statusrente bezeichnet werden. Aus dem Verständnis der bindungsbedürftigen Institutionen als ein Moralgut und damit als ein knappes Gut besonderer Art leitet sich die elementare Frage ab, welche Antriebe die Individuen angesichts der vertrackten Anreize dazu befähigen, sich auf moralische Bindungen einzulassen und sie verläßlich einzuhalten. Ich kann nur drei Quellen moralischen Verhaltens erkennen: Erstens die genetisch, freilich schwach angelegten natürlichen Anlagen, also die sogenannten moralischen Gefühle (emotio). Zweitens der rational nicht begründbare Glaube (credo) an transzendente Wesenheiten (Geister, Ahnen, Götter, Gott) mit einer eigenmächtigen, entweder genealogisch übermittelten, meist jedoch ideell offenbarten Ordnungs- und Kontrollfunktion der individuellen
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oder sozialen Verhältnisse; der geistige Zwilling des religiösen Glaubens bilden die von säkularen Ordnungsentwürfen oder Ideologien gespeisten und rationalen Argumenten nur bedingt zugänglichen Überzeugungen, weshalb sie kategorial dem Glauben zugeordnet werden sollen. Es bleibt drittens die dem Menschen eigene Vernunft (ratio), die dazu befähigt, die individuellen und sozialen Folgen alternativer Regelarrangements abzuwägen und sich für sozial vorteilhafte Regeln zu entscheiden und sie in rechtlich verbindlicher Form zu kodifizieren und notfalls durch gesonderte Einrichtungen zu erzwingen. Die originären Ordnungsfaktoren, also die moralischen Gefühle, der religiöse Glauben bzw. die ideologischen Überzeugungen und die kritische Vernunft, liefern die Kriterien für die Unterscheidung der bindungsbedürftigen Institutionen in — emotional gebundene Institutionen, — religiös gebundene Institutionen, — ideologisch gebundene Institutionen und — vernunftrechtlich gebundene Institutionen. Es handelt sich bei dieser Typologie um reine bzw. ideale Typen, zwischen denen in der realen Welt eigenständige Verbindungen bestehen. Das historisch gewachsene Gefüge dieser bindungsbedürftigen Institutionen macht den institutionellen Kern einer jeden Kultur aus. Die produktive Regelung konfliktträchtiger Interessenbeziehungen ist deshalb zeit- und raumunabhängig ein problematisches Unterfangen, weil es Beschränkungen der Selbstinteressen und die angemessene Anerkenntnis der Interessen anderer Individuen voraussetzt. Verlangt sind moralische Bindungen, deren Geltung stets und überall prekär ist, weshalb Moral und damit auch die Regelgeltung knappe Güter sind. Die verläßliche Regelbefolgung setzt wiederum gemeinsam geteilte moralische Ideen und Werte voraus. Diese Ideen und Werte sind mit Ausnahme der moralischen Gefühle nicht vorgegeben. Sie sind vielmehr zu erfinden und zu institutionalisieren, worin die Funktion der Ideen als Weichensteller der kulturellen und institutionellen Eigenentwicklungen begründet liegt. Mit Max Weber lassen sich Ideen und speziell moralische Ideen als das Resultat der inneren Nötigung der Menschen verstehen, ihre Welt zu deuten, zu ordnen und zu bewerten. Aus dieser inneren Nötigung entstanden die Weltbilder bzw. die mentalen Modelle der Weltsicht, deren kulturspezifische Ausprägung die jeweilige Wahrnehmung und Bewertung der Welt bestimmten und bis heute bestimmen. Wahrnehmung meint ja ursprünglich etwas für wahr oder aber für falsch nehmen, so wie den Begriffen der Bedeutung oder der Weltansicht das weltbildabhängige Deuten bzw. Sehen der Welt zugrunde liegt. Nebenbei sei bemerkt, dass bei dem heute weltweit vorherrschenden kognitiven Verständnis der Kultur als selbstgesponnenes Sinn- und Bedeutungsgewebe, das die Menschen räum- und zeitspezifisch gestrickt und in das sie sich dann nicht selten ungewollt verstrickt haben, der Bezug zu Max Weber unübersehbar ist (vgl. Geertz 1991, ferner Leipold 2003a). Bei der institutionenökonomischen Erklärung des kulturellen und damit des ideellen Einflusses des institutionellen Wandels sollte das Augenmerk daher vorrangig auf die Entwicklung der moralischen Ideen innerhalb kultureller Welt-
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bilder gerichtet werden. In den moralisch-ethischen Ideen und Werten ist also der für die Instutionenökonomik relevante Ausschnitt aus der unendlichen Vielgestaltigkeit einzelner Kulturen und der sie konstituierenden kognitiven Modelle der Weltsicht zu vermuten (vgl. auch Weber 1922a, S. 180). Denn wenn bindungsbedürftige Institutionen Moralgüter sui generis verkörpern, dann sind in den kulturell verschiedenen Entwicklungen der moralischen Ideen und in deren praktischer Umsetzung die entscheidenden Weichensteller der kulturell divergenten Institutionenentwicklungen zu vermuten. Diese These soll abschließend am Beispiel der beiden grundlegenden Institutionenreformen der Menschheitsgeschichte ansatzweise illustriert werden. Die Ausführungen verstehen sich zugleich als Korrektur materialistischer und rationalistischer Fehlinterpretationen des institutionellen Wandels, wie sie etwa Engels in der angeführten Theorie der Staatsentstehung und North in seiner Erklärung der ersten wirtschaftlichen Revolution geliefert haben. Am Anfang steht erstens der revolutionäre Übergang von den kleinen, egalitär strukturierten und unspezialisiert wirtschaftenden Gemeinschaften hin zu hierarchischteilspezialiert strukturierten Gemeinschaftsformen. Er vollzog sich zuerst in den frühen Häuptlingstümern vor ca. sieben Jahrtausenden, aus denen allmählich die archaischen Staatsgebilde erwuchsen, die dann in ihren verschiedenen und zumeist willkürlichen Herrschaftsformen bis hin zur Neuzeit das Schicksal des Großteils der Menschheit bestimmen sollten (4.). Am Beginn der Neuzeit steht zweitens der ebenso revolutionäre Übergang von den hierarchisch-teilspezialisierten Gesellschaften hin zu funktional spezialisierten und rechtsstaatlich, also vernunftrechtlich verfassten Gesellschafts- und Staatformen, der in den verschiedenen amerikanischen Verfassungsdeklariationen und in den von der französischen Revolution inspirierten europäischen Verfassungen die frühen konstitutionellen Verankerungen fand (5.). Die sich hierbei aufdrängende und ja im Mittelpunkt aller seriösen Gesellschaftstheorien stehende Frage nach dem Primat ideeller oder aber materieller Faktoren des institutionellen Wandels wird hier zugunsten des Primats ideeller Faktoren beantwortet. Es gilt also, die von A. Müller-Armack (1981, S. 94) in aller Klarheit formulierte These zu bestätigen, „... daß alle politischen und wirtschaftlichen Wandlungen erst dann Tiefenund Breitenwirkung zu entfalten vermögen, wenn ihnen eine Wandlung des zentralen Weltbildes einer Zeit vorausgegangen ist." Die Veränderung der materiellen Bedingungen und der damit verbundenen Interessen haben den Menschen zwar stets neuartige Probleme beschert. Insofern ist in den veränderten materiellen Bedingungen ein maßgeblicher Auslöser aller institutionellen Wandlungen zu vermuten. Die konkreten institutionellen Problemlösungen waren und sind jedoch ideell bestimmt (vgl. auch Gellner 1990, S. 19). Friedfertige und produktive Lösungen der materiell bedingten Ordnungsprobleme konnten also nur dann und dort erfolgreich gefunden werden, wann und wo es gelang, tradierte und eingelebte Weltansichten und der davon abhängigen Institutionen und d. h. ja der alltäglichen Verhaltensmuster ideell zu modifizieren. Diese These soll zunächst am Beispiel der ersten institutionellen Revolution belegt werden, wie sie sich durch die Einführung der frühen hierarchisch-teilspezialisierten Gesellschaftsformen vollzogen hat.
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Von ihrer genetischen Ausstattung sind die Menschen offensichtlich für das Zusammenleben in kleinen, egalitären und unspezialisierten Gemeinschaftsformen angelegt, in denen sie in der längsten Zeit ihrer Geschichte tatsächlich auch lebten und kooperierten (vgl. Sahlins 1976; Service 1979). Die Kooperation in und zwischen den Gruppen stand ganz unter der Dominanz emotional-verwandtschaftlich gebundener Regelwerke, deren charakteristisches Grundmuster in den nach der verwandtschaftlichen Nähe abgestuften Prinzipien der Reziprozität bestand. Wie der Ethnologe Kohl (1993, S 35) feststellt, beruht der universal dominante Einfluss der Verwandtschaft als originärer Ordnungsfaktor auf der schlichten biologischen Tatsache, dass jeder Mensch aus der Vereinigung zweier anderer Menschen hervorgehe, womit zugleich auch elementare moralische Bindungen und Gefühle zwischen den Partnern und Generationen verbunden waren und sind. Zu den egalitären und verwandtschaftlich gebundenen Regeln gehörte die ideelle Vorstellung einer Einheit der übernatürlichen, der natürlichen und der sozialen Welt, die sämtlich von jenen Regeln beherrscht wurden, die auch das soziale Zusammenleben bestimmten. Damit verband sich die Vorstellung, dass die verschiedenen Bereiche der Natur und des sozialen Zusammenlebens von je eigenen übernatürlichen Wesen (Gottheiten, Geister) bewohnt und beeinflusst seien. Jede Gottheit walte autonom mit gleicher Autorität wie die anderen Gottheiten. Die Regeln der egalitären Sozialordnung wurden also auch auf die übernatürliche Ordnung übertragen. Die Beziehungen zu den Gottheiten wurden primär durch gemeinsame rituelle Kontakte hergestellt. Viele Studien deuten darauf hin, dass den übernatürlichen Mächten in den frühen nomadisierenden Gesellschaften keine moralstiftende Ordnungskraft zugeschrieben werden kann (vgl. Service 1979; Wesel 1985). Die Vorstellungen über das Gute und Böse waren emotional-verwandtschaftlicher Natur und entsprachen den familiären Tugenden der Liebe, Großzügigkeit, Freundschaft, der reziproken Kooperation, aber auch der Rivalität. Der Einklang zwischen den Menschen und den Gottheiten galt als gesichert, wenn die Menschen im alltäglichen Leben sich an die geltenden Regeln und Tabus hielten. Die Naturreligionen waren eng mit der Sozialordnung und deren Regeln verbunden. Es spricht also vieles für die Ansicht von Dürkheim (1981), dass sich die frühen Gesellschaften in Form der Religionen letzten Endes Altäre zur Verehrung und zur Festigung des je eigenen Gruppenzusammenhalts errichtet hätten. Das Regelwerk blieb über lange Zeiträume weitgehend gleich und den einfachen Vorstellungen der Einheit von Natur- und Sozialordnung, von Verwandtschafts-, Religions- und Gemeinschaftsordnung verhaftet. Es dominierte die holistische Weltsicht, in der die Trennung und Teilung zwischen Natur und Gesellschaft, zwischen privater und öffentlicher Sphäre, zwischen Gefühlen, Überzeugungen und Vernunft, folglich auch zwischen Moral und Recht oder zwischen informalen und formalen Regeln fremde Vorstellungen blieben. Der holistischen Weltsicht ermangelte es an der Einsicht, dass durch Spezialisierung und Teilung der Tätigkeiten und der damit entsprechenden Regeln des Zusammenlebens wechselseitige Spezialisierungs- und Kooperationsvorteile erzielt werden könnten. Das emotional gebundene Regelwerk war imstande, ein relativ friedfertiges Zusammenleben in und zwischen den Gruppen zu begründen und die Versuchungen zur Er-
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zielung von defektions- und machtbedingten Statusrenten in Schach zu halten. Die Reichweite des so begründeten wechselseitigen Vertrauens war jedoch begrenzt. Der vor ca. 12.000 Jahren vereinzelt und zufällig erfolgte Übergang zum Ackerbau und zur Viehzucht und die damit einhergehende Sesshaftigkeit und Bevölkerungszunahme stellten die Menschen vor neue Ordnungsprobleme, für deren Lösung sie eine lange Zeit benötigten. Die verwandtschaftlich gebundenen Regelwerke blieben dennoch über Jahrtausende dominant, wurden aber an die neuen Verhältnisse angepaßt. Aus den kleinen Gruppen entstanden vereinzelt segmentäre Stammesgesellschaften, die noch ganz nach dem Grundmuster der egalitär-unspezialisierten Gesellschaftsform organisiert waren. Der wohl zuerst in Mesopotamien vollzogene Übergang zum Ackerbau und das in dieser Region gegebene reichhaltige Angebot an Tieren und Pflanzen war vermutlich der ursprüngliche Anreiz für die Sesshaftigkeit, weil es die Jagd und das Sammeln im engeren Umkreis der festen Siedlungen erlaubte und als Folge das Bevölkerungswachstum begünstigte (vgl. Diamond 1998, S. 333 ff.; Service 1977). Es entstanden einzelne Siedlungen und Dörfer, die sich aufgrund der Verwandtschaftsbeziehungen mit benachbarten Ansiedelungen zum Sippen- und Stammesverband ausformten. Das emotional gebundene Regelwerk der Verwandtschaft blieb das tragende Fundament der sozialen Ordnung. Von daher ist die oben (S. 8 f.) angeführte Erklärung der ersten wirtschaftlichen Revolution von North als modernistische Fehldeutung zu bewerten. Die erste institutionelle Revolution erfolgte erst sehr viel später in den frühen Häuptlingstümern, die um 5500 v. Chr. zuerst in Vorderasien und dann Jahrtausende danach in Ostasien und in Mittel- und Südamerika entstanden. Revolutionär waren die vertikale Schichtung der zuvor egalitären Struktur der Familienlinien und Segmente und die Herausbildung vererbbarer Führungspositionen. Die Häuptlingstümer kannten jedoch keine formale zentrale Autorität, die das Gewaltmonopol beanspruchte und durch einen formalen Verwaltungsapparat durchsetzte. In der Anfangszeit der ja nur vereinzelt betriebenen Landwirtschaft und Sesshaftigkeit vor ca. 12000-13000 Jahren wird die Zahl der Weltbevölkerung auf ca. 7,5 Millionen Menschen geschätzt. Bis 1000 v. Chr. stieg diese Zahl auf 100 Millionen an (vgl. Carneiro 1978, S. 213). Dieses Wachstum war in den sesshaften Siedlungen mit einem Anstieg der autonomen Dörfer und deren durchschnittlicher Einwohnerzahl verbunden. Einzelne nach dem Muster der segmentären Stammesgesellschaft organisierten Gemeinwesen konnten tausend bis zu zehntausend Mitglieder umfassen. Mit der zunehmenden Bevölkerungsdichte und der einhergehenden Auflösung der verwandtschaftlichen Bande waren soziale Konflikte innerhalb und zwischen den Segmenten geradezu vorprogrammiert. Die Menschen waren in ihrer Geschichte erstmals mit der Herausforderung konfrontiert, mit Fremden zu kooperieren und Konflikte nicht mehr gemäß den Regeln der verwandtschaftlichen Schlichtung und Reziprozität beilegen zu können. Die dadurch bedingten komplexeren sozialen Zusammenhänge lassen sich durch einfache Rechenbeispiele veranschaulichen. Leben 10 Individuen zusammen, so sind 45 direkte Beziehungen zwischen ihnen möglich (10 multipliziert mit 9 dividiert durch 2). Bei 50 Personen erhöht sich die Zahl der möglichen Beziehungen auf 1225 und bei 2000 Personen gar auf 1999000. Einigen sich 10 Individuen auf die Einrichtung einer Zentralinstanz, der sie sich unterordnen, so reduziert sich die Zahl der möglichen direk-
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ten Beziehungen auf 9 und bei 50 Individuen auf 49 Beziehungen. Durch die Errichtung mehrstufiger Hierarchien lässt sich zwar nicht die Zahl der direkten Beziehungen, wohl aber der Zeitaufwand reduzieren, da Beziehungen nun auch zeitlich parallel abgewickelt werden können (vgl. Hallpike 1988, S. 237 ff.; Diamond 1998, S. 350 f f ) . Der offensichtliche Vorzug der Hierarchie bestand und besteht also in der Reduktion der Beziehungsvielfalt, ökonomisch formuliert, in der Einsparung von Transaktionskosten. Die aus der institutionenökonomischen Perspektive naheliegende Schlussfolgerung, Häuptlingstümer als effiziente, weil transaktionskostensparende Reaktion auf die veränderten wirtschaftlichen und demographischen Bedingungen zu erklären, ist jedoch als einseitige Erklärung zu bewerten. Denn bei dieser Erklärung bleiben die Fragen unbeantwortet, weshalb Häuptlingstümer trotz regional weitgehend gleicher wirtschaftlicher und demographischer, also materieller Bedingungen nur vereinzelt entstehen konnten und weshalb sie sich trotz gleichbleibender Bedingungen häufig genug nur kurzfristig behaupten konnten und sich meist in die tradierten Regelmuster segmentärer Gesellschaften mit informellen Anführern zu-rückentwickelten. Wie Diamond (1998, S. 344) lapidar feststellt, folgten auf 1000 Bemühungen, zentralisierte Gemeinwesen zu errichten, 999 Auflösungen (vgl. zur Kritik auch Breuer 1990, S. 51 ff.). Der Übergang von den egalitären hin zu den hierarchisch geordneten Gemeinschaftsformen vollzog sich nur dort, wo es gelang, die egalitäre und holistische Weltsicht zu modifizieren. Dieser Wandel wurde durch die kulturspezifischen Glaubenssysteme, also durch ideelle Ordnungsfaktoren bewirkt und legitimiert, indem den Häuptlingen und ihren Familienlinien über die Vermittlung ihrer Ahnen eine engere Beziehung zu den lokal verehrten Geistern und Gottheiten zugeschrieben wurde. Die Ahnen der führenden Familienlinien galten als besonders enge Verwandte der verehrten Gottheiten und konnten so in der Hierarchie der übernatürlichen Welt schneller aufsteigen (vgl. Breuer 1990, S. 52 f.). Die Heilsvermittlung wurde also als genealogisch vermittelte, abgestufte Beziehung gedacht, womit die Religion als eigenständiger Ordnungsfaktor entdeckt und zur Legitimation der sozialen Hierarchie genutzt wurde. Damit waren die ideellen Weichen für das Aufkommen der archaischen Staaten gestellt, wie sie um 3500 v. Chr. zuerst in Mesopotamien und dann 1000 Jahre später in Asien und anderen Teilen der Welt sporadisch entstanden. Die Erhöhung der Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols und dessen Ahnenreihe zu direkten Verwandten oder Abkömmlingen der verehrten Gottheiten erlaubte es, dass die Anführer der Staatsgebilde als legitime Vertreter der Götter gegenüber den Untertanen auftreten und von diesen akzeptiert werden konnten. Die frühen protostaatlichen Gebilde waren fast ausnahmslos Theokratien. Die staatlichen und religiösen Führer repräsentierten eine neue Ordnungsinstanz, die neuartige Regeln des Zusammenlebens setzen und mittels des Gewaltmonopols durchsetzen konnten (vgl. Breuer 1998, S. 38 ff.). Die revolutionäre Umwälzung der tradierten gesellschaftlichen Regelteilung begünstigte zweifellos auch die Entwicklung der wirtschaftlichen Arbeitsteilung. Es bildeten sich Spezialisten für herrschende und anordnende und für geistigreligiöse Tätigkeiten heraus, die in enger Allianz die Produzenten, also primär die Bauern und daneben die Handwerker, beherrschten. Die primäre Aufgabe der Priesterkaste bestand darin, die Herrschaftsordnung als götter- oder gottgefällige Sozialordnung reli-
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giös zu legitimieren. In dem Maße, in dem das gelang, konnte die Religion die tradierte egalitäre und unspezialisierte Weltsicht in eine hierarchische, vertikal spezialisierte und wohlgeordnete Weltsicht umwandeln, die über lange Zeit das Denken und Verhalten der Menschen und damit die Regeln des Zusammenlebens bestimmen sollte. Die erste institutionelle Revolution soll nur insoweit interessieren, weil sich hier der Einfluss ideell-religiöser Faktoren auf die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung zeigen lässt. Die Allianz von staatlicher und religiöser Herrschaft konnte ein neues gesellschaftliches Regelgefüge etablieren, das die erweiterte Kooperation ermöglichte, freilich zum hohen Preis der Unterdrückung und Ungleichbehandlung der Menschen. Der Ethnologe Harris (1990, S. 92) hat den Wandel in drastischer Form wie folgt formuliert: „Unter der Vormundschaft des Staates lernten Menschen erstmals, wie man sich verbeugt, buckelt, auf dem Bauch rutscht, kniet und Kratzfüße macht. In vieler Hinsicht war der Aufstieg des Staates der Abstieg der Menschheit aus der Freiheit in die Knechtschaft." Das Streben nach Erzielung von Defektionsrenten bei Transaktionen etwa zwischen Bauern, Handwerkern oder Händlern konnte durch autoritär gesetzte und kontrollierte Regeln begrenzt werden. Die hierarchische Schichtung der Gesellschaft schuf jedoch ungeahnte Möglichkeiten für die Erlangung machtbedingter Statusrenten zugunsten der herrschenden Krieger- und Priesterkasten und indirekt zugunsten der von ihnen privilegierten Gefolgschaft. Damit ist das institutionelle Dilemma zweiter und höherer Ordnung angesprochen, das zeit- und raumunabhängig mit der Einrichtung von staatlichen oder sonstigen Metainstitutionen verbunden war und bis heute ist, mit deren Hilfe die Geltung von Institutionen erster Ordnung kontrolliert und notfalls erzwungen werden soll. Die Kontrolle des staatlichen Gewaltmonopols und die Vermeidung machtbedingter Statusrenten waren und sind noch schwieriger als die Auflösung institutioneller Dilemmata erster Ordnung. Dazu ist ein Blick auf die Geschichte der frühen despotischen Imperien aufschlussreich (vgl. Andreski 1964; Wesson 1967; Leipold 1997). Sie sind Paradebeispiele dafür, zu welchen Ergebnissen die spontane institutionelle Entwicklung führen und sich verfestigen kann. Mit mehr oder weniger großen Abwandlungen repräsentieren die despotischen Imperien in der menschlichen Geschichte fatalerweise keine nebensächlichen Verirrungen, sondern eher das Normalmuster der institutionellen Entwicklung. Wie Jones (1991, S. 257) bemerkt, markiert Europa die bemerkenswerte Abweichung. Von daher lohnt es sich, den ideellen Weichenstellungen des europäischen Sonderwegs in der gebotenen Kürze nachzugehen.
5.
Ideelle Weichenstellungen der zweiten institutionellen Revolution
Mit etwas Phantasie lässt sich vorstellen, dass die institutionelle Entwicklung in Europa einem Muster analog dem soeben dargestellten hätte folgen können. Danach wäre es normal gewesen, wenn sich aus den segmentären Stammesgesellschaften allmählich Häuptlings- oder Herzogtümer und aus diesen archaische Staaten gebildet hätten, die im
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Wege der Unterwerfung zu einigen wenigen West- oder Ostreichen oder gar zu einem europäischen Imperium verschmolzen wären. Der oder die Herrscher in Gestalt des Kaisers oder Zaren hätten zugleich die weltliche und religiöse Autorität nach dem Muster des Cäsaropapismus vereinigt. Ebenso zwangsläufig wäre dann die Entstehung einer einheitlichen Religion, Herrschaftsideologie, Sprache, Kultur und willfahrigen Wissenschaft gewesen. Die herrschaftskonforme Wirtschaftsordnung wäre eine staatlich organisierte Zwangswirtschaft gewesen mit der Landwirtschaft als dominantem Sektor und mit einem Gewerbe, das hauptsächlich Prestige- und Militärgüter produziert hätte. Zufälligerweise hat Europa einen anderen Weg eingeschlagen. Er führte über lange Strecken und viele Irrwege schließlich zum demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat mit gleichen individuellen Grundrechten, zur industriellen Revolution und über diese zum wirtschaftlichen Wohlstand und zur systematischen wissenschaftlichen Welterkenntnis, damit zur Modifikation des hierarchisch-teilspezialisierten Weltbildes zum funktional-hochspezialisierten Weltbild. Damit sind stichwortartig die drei großen Beiträge genannt, die Europa zur Weltzivilisation beigesteuert hat und die zu Recht als das europäische Wunder gewürdigt worden sind (vgl. Jones 1991). Die Herausbildung des Rechts- und Verfassungsstaates bildet zweifellos die evolutorisch wichtigste Neuerung und Abweichung vom üblichen institutionellen Entwicklungsweg. Ohne die Zähmung des potentiell despotischen Ungeheuers Leviathan wären die rechtlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Leistungen kaum denkbar gewesen. Das provoziert mit Jones (1991, S. 166) die Frage, wie und weshalb es den Europäern gelingen konnte, „... der lähmenden Ausbeutung durch ihre eigenen Herrscher" zu entgehen. Darauf gibt es verschiedene Antworten. Gemeinsam ist der Verweis auf das Erbe des griechischen freien Denkens sowie des römischen Rechts, auf die feudale Tradition wechselseitig verläßlicher Versprechen zwischen Lehnsherren und Vasallen, auf die Trennung von weltlicher und kirchlicher Macht und auf die Tradition sich selbst regierender Städte des Mittelalters (vgl. Brunner 1956, S. 13 ff). Bei dieser Auflistung der sicherlich gewichtigen Sonderfaktoren bleiben einige Fragen offen. So war erstens das antike griechische und römische Erbe im oströmischen Reich lebendiger als in Westeuropa. Gleichwohl nahm die Entwicklung dort einen anderen Pfad hin zu einer Staats- und Rechtsordnung cäsaropapistischen Zuschnitts, der später dann auch die institutionelle Entwicklung im orthodoxen Osteuropa prägte und bis heute prägt (vgl. Leip o « 2003a, S. 35 ff.). Zweitens lassen sich feudale Sozialstrukturen mitsamt der ihnen zugrunde liegenden hierarchischen Weltansicht auch in anderen Kulturen nachweisen, wo sie sich zumeist in zentralisierte und hierarchisch abgestufte Herrschaftssysteme modifizierten und verfestigten. Die Abweichung von diesem Normalweg und das Einschlagen des europäischen Sonderweges setzten also eine Wandlung des Weltbildes voraus. Die dafür verantwortlichen Weichenstellungen sollen hier in der gebotenen Kürze aufgezeigt werden. Eine erste wichtige Weichenstellung für die Entfaltung der Zivilgesellschaft war die Trennung zwischen staatlicher und kirchlicher Macht im Gefolge des Investiturstreits zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. im 11. und 12. Jahrhundert. Der Jurist Berman (1991, S. 810) hat die Konsequenzen der päpstlichen Revolution mit dem Bild einer institutionellen Atomexplosion auf den Punkt gebracht, welche die Christen-
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heit in die Kirche als ein rechtlich autonomes Gebilde und in die weltliche Herrschaft als das andere und zunehmend rivalisierende Gebilde aufspaltete. Als zweite und wichtigste Weichenstellung für den europäischen Sonderweg ist die Reformation zu bewerten, weil sie das Denken des feudal und ständisch geordneten Spätmittelalters wie auch die überkommenen institutionellen Bindungen erschütterte. Folgende Grundideen sind hervorzuheben. Gemeinsam war allen protestantischen Bewegungen der Widerstand gegen die mächtige römische Kirchenorganisation, die sich als legitime Anstalt verstand, das Heil der Gläubigen gegenüber Gott zu vermitteln. Stattdessen wurden Glaube und Heil zur individuellen Angelegenheit deklariert. Jedes Individuum sollte zuerst sein eigener Seelsorger sein und das Heil im unmittelbaren Kontakt mit Gott sowie in einer gottgefälligen Lebensführung suchen. Im Einklang damit wurde die Gleichrangigkeit aller Gläubigen ungeachtet ihres Standes betont. Ebenso wichtig war die Forderung nach selbständiger Verwaltung der Glaubensgemeinden. Der Aufwertung der Individuen und Gemeinden entsprach eine Abwertung der kirchlichen und weltlichen Hierarchien mit ihren tradierten Statusrenten. Schließlich ist die Aufwertung der profanen, alltäglichen Berufe und Tätigkeiten hervorzuheben. Nach dem Berufsverständnis von Luther ruft Gott alle Menschen zur Arbeit und zur selbstverantwortlichen Lebensführung, weshalb sie zu gottgefälligen Pflichten erhöht wurden. Dabei sollte freilich die von diversen katholischen Mönchsorden geprägte Arbeitsethik nicht übersehen werden. Die protestantischen Postulate der selbstverantwortlichen Seelsorge, der tatkräftigen Arbeit, der moralischen Aufrichtigkeit, des aktiven Engagements in der Gemeinde und die Infragestellung überkommener Hierarchien und Sonderrechte schufen fast alle Vorbedingungen für die Entfaltung der neuzeitlichen zivilen Gesellschaft. Tatsächlich wurde das Potential dafür unterschiedlich ausgeschöpft. Paradoxerweise und unintendiert bahnte der Ca/vwismus als eher fundamentalistisch einzustufender Protestantismus den Weg für eine selbstvertrauende Bürgergesellschaft angloamerikanischen Musters, während das Luthertum ebenfalls ungewollt die Entstehung einer staatsvertrauenden Bürgergesellschaft kontinentaleuropäischen Musters begünstigte. Paradox ist diese Entwicklung, weil die Lehre von Calvin wenig originell war (vgl. zum folgenden Troeltsch 1994; Weber 1972; Müller-Armack 1981; Oberman 2003). Seine wesentliche Inspiration über den wahren Glauben bezog er dank der Anregung von Luther aus dem Römerbrief von Paulus. Calvin lehnte das Vorhaben der scholastischen Philosophie ab, Gottes Willen mit dem Verstand ergründen zu wollen. Gott habe sich aus Mitleid mit den begrenzten Verstandeskapazitäten der Menschen in der Heiligen Schrift offenbart, die alle wahren Gesetze der Welt enthalte. Weil die Menschen diese Gesetze ständig mißachteten, seien sie sündig und deshalb unwürdig für das Seelenheil geworden. Im Wissen über diese Sündhaftigkeit habe Gott schon zu Urzeiten bestimmt, wer des Seelenheils teilhaftig werde und wem es verwehrt bleibe. Auch dieser Ratschluß sei jedoch unergründlich, man könne ihn glauben und ansonsten durch ein gottgefälliges Leben bestätigen. Jedenfalls gelte die göttliche Gnade, losgelöst vom sozialen Status der Geschöpfe. Angesichts dieser Unergründbarkeit bleibe dem Menschen nur der Gehorsam gegenüber den göttlichen Gesetzen, verbunden mit dem Glauben, zum Kreis der Auserwählten zu gehören.
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Die von Calvin verkündete Glaubenslehre war rigoros, zugleich aber ambivalent. In ihrem normativen Gehalt enthält sie sowohl fatalistische als auch leistungsförderliche, sowohl fundamentalistische als auch freiheitsförderliche sowie elitäre wie auch egalitäre Züge, kurz: also sowohl irrationale als auch rationale Elemente. Aufgrund dieser Ambivalenzen war sie offen für dogmatische Auslegungen, die später in Abhängigkeit von der sozialen Stellung der Bekennerkreise und der politischen Umstände auch verschieden ausfielen und ungewollte Wirkungen zeitigten. Im nachhinein sollten die leistungsund freiheitsförderlichen Antriebe die Oberhand gewinnen und einen maßgeblichen Impuls für das Aufkommen der neuzeitlichen Welt bewirken. Die leistungsforderlichen Antriebe des Calvinismus und seiner puritanischen Sektenabkömmlinge hat Max Weber in seiner vieldiskutierten Arbeit über die protestantische Ethik und den kapitalistischen Wirtschaftsgeist herausgestellt, deren Kerngehalt bereits erläutert wurde. Die freiheitsforderlichen Antriebe des Calvinismus sind in seinen Entstehungsbedingungen und in den Umständen seiner Ausbreitung angelegt. In den meisten europäischen Ländern konnte er sich erst allmählich ausbreiten, indem er Teile des Adels, der Bürgerschaft und der Bauernschaft erfasste. Die calvinistischen Gefolgschaften und Gemeinden blieben jedoch häufig Minderheiten, so z.B. in Frankreich, in England, am Niederrhein und anfanglich in den Niederlanden, die sich in einer eher feindlich gesinnten Umwelt behaupten mussten (vgl. Troeltsch 1994, S. 709; Müller-Armack 1981, S. 109 ff.). Im Unterschied zum Luthertum, das sich in einigen Regionen Deutschlands und im Norden Europas im Wege der Unterstützung und Dekretierung durch die weltlichen Herrschaften ausbreitete, mussten sich die calvinistischen Glaubensgemeinden gegen die staatliche Herrschaft durchsetzen. Diese Gemeinden entwikkelten sich daher als neue Gegenmacht zu den Obrigkeiten und als Keimzellen für das kritische und selbstverantwortliche Engagement der Bürger. Die Obrigkeiten in den staatskirchlich verfassten Gemeinwesen konnten das kritische protestantische Potential absorbieren, indem sie die protestantische Elite in die Staatsverwaltung integrierten. Gerade die Staatslaufbahn blieb der calvinistischen Elite zumeist versperrt. Sie musste sich aus purem Überlebensinteresse außerhalb des Staates betätigen, worin wahrscheinlich die wichtigste Bedingung für die frühen wirtschaftlichen Erfolge des Calvinismus zu vermuten ist. Zusätzlich zu den von Max Weber betonten inneren Antrieben der puritanischen Leistungsethik gilt es also die äußeren Herrschaftsverhältnisse zu berücksichtigen. Sie lenkten das Leistungsstreben machtbedingt in wirtschaftliche Bahnen und gaben den Unternehmern oder Handwerkern nicht nur Überlebens- und Entfaltungsmöglichkeiten, sondern zugleich auch ein Bewusstsein für wirtschaftlichen Erfolg. Dadurch entstanden zuerst in Holland und in England neue Formen des privatwirtschaftlichen Engagements, also privat organisierte Manufakturbetriebe, Banken, Versicherungs-, Handels- und Kolonialgesellschaften. Ihrer Entfaltung standen hier die überkommenen Systeme der wirtschaftlichen Begünstigung und Beschränkung in Form staatlich abgesicherter Monopole und ständischer Privilegien entgegen. Deren Existenz mußte den Widerstand der puritanisch geprägten und wirtschaftlich aufsteigenden Schichten provozieren, die sich somit ungewollt zum Wegbereiter einer liberalen Staatsund Wirtschaftsordnung entwickelten.
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Der elementare Antrieb dafür erwuchs aus dem Postulat der Gewissens- und Glaubensfreiheit. Dessen frühe Begründung schufen jene hugenottischen Intellektuellen, die der blutigen Bartholomäusnacht und ihren Verfolgungen im Jahre 1572 entkommen und nach Genf flüchten konnten. Sie entwickelten ein neues kritisches Naturrechtsdenken, das die staats- und rechtstheoretischen Konzeptionen von Grotius, Althusius, Hobbes, Locke bis hin zu Rousseau beeinflussen sollte. Aus dem Postulat nach religiöser Freiheit entstanden schließlich die Postulate nach politischer und wirtschaftlicher Freiheit, wie sie zuerst durch den englischen Liberalismus und dann durch die französische Philosophie der Aufklärung aufgenommen und umfassender legitimiert wurden. Das kritische Naturrecht verkörperte im Unterschied zum alten Naturrecht der Scholastik einen rechtlichen Protestantismus, der alle überkommenen Sonderrechte negierte. Es deklarierte das Recht auf Gewissensfreiheit zum höchsten und heiligsten Recht, das jeglicher staatlichen oder sonstigen Bevormundung entzogen sei. Die Gewissensfreiheit wurde also als Vernunftfreiheit gedeutet, die das Wesen des Menschseins ausmache. Damit war der Weg für das Aufkommen des Liberalismus und dessen Freiheitsverständnis gebahnt (vgl. Jellinek 1919). Bevor die liberalen Postulate in einer breiteren Öffentlichkeit Gehör finden konnten, bedurfte es also einer langandauernden intellektuellen Vorarbeit. Es galt zunächst die traditionale Weltsicht einer gottgewollten hierarchischen Welt- und Sozialordnung zu erschüttern und ihr einen neuen Entwurf einer menschenwürdigen Ordnung gegenüberzustellen. Auch bei diesem Vorhaben sollte sich die calvinistische Glaubenslehre als maßgeblicher Katalysator erweisen. Indem sie kirchliche und weltliche Autoritäten und überkommene Dogmen entthronisierte, ebnete sie den Weg für das systematische und vernunftrechtliche Denken. So wie sich das Gewissen der Menschen unvermittelt vor Gott zu verantworten habe, so solle auch die Wissenschaft direkt zur Welt, also zur Natur und zur Gesellschaft, vordringen und deren Gesetze erschließen. Das Vorhaben, eine neue Sozialordnung zu begründen, setzte also zunächst eine modifizierte Weltsicht voraus, wofür das calvinistische Gottesbild die entscheidende Voraussetzung bot. Wie angedeutet, dachte Calvin Gott als fernes, seiner Schöpfungsordnung entrücktes und unerforschliches Wesen. Er habe die Welt zwar geschaffen, ihre Entwicklung aufgrund des Wissens um die Unvollkommenheit seiner Geschöpfe aber sich selbst überlassen. Damit konnte die Herstellung einer gottgefälligen Ordnung letztlich dem Glauben und dem gottgefälligen Leben der Menschen anheimgestellt werden. Die Nichterkennbarkeit Gottes schuf also einen Freiraum für die Erkennbarkeit und Gestaltbarkeit der Realität. Der maßgebliche Unterschied gegenüber der traditionalen Weltsicht ist darin zu sehen, dass die göttlich vorbestimmte und die reale Welt- und Sozialordnung nicht länger als Identität gesehen wurden. Die Einsicht in die Divergenz zwischen göttlicher und weltlicher Ordnung war zwar auch den Vertretern der scholastischen Philosophie nicht fremd, sie wurde jedoch als temporäres Übel gedeutet. Im Vordergrund stand das Bemühen, die prinzipielle Einheit von gottgewollter und weltlicher Ordnung rational zu begründen und zu legitimieren. Der Glaube an Gott sei die Voraussetzung für das wahre Verständnis der Welt. Die Philosophie verstand sich deshalb als Magd der Theologie, deren Vorrang nie bestritten wurde, weshalb auch der empirischen Überprüfung der rationalen Thesen keine Bedeutung zugeschrieben wurde. Die Vorstellung einer prinzi-
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piellen Einheit von normativer, weil gottgewollter Ordnung und realer, weil in letzter Instanz gottgelenkten Ordnung macht die Essenz aller traditionalen, die hierarchischständischen Sozialverhältnisse legitimierenden Weltbilder aus. Sie bestimmte in je eigenständiger Form das Denken der klassischen griechischen Philosophie, der scholastischen Philosophie oder der islamischen Philosophie (vgl. Burckhardt 1994; Gurjewitsch 1994; Leipold 2001). Natürlich gab es immer wieder kritische Einwendungen zur Widerlegung dieser Einheit. Sie mußten scheitern, weil sie selbst einer religiösen Legitimierung entbehrten, die erst eine denk- und verhaltensbestimmende Modifikation der Weltansicht der gläubigen Individuen und damit der Denkweisen und der Lebensführung zu bewirken vermag. Die calvinistische Idee eines weltentrückten Gottes und einer sich selbst überlassenen Welt- und Sozialordnung bot eine solche religiöse Legitimation und eröffnete damit eine Modifikation der Weltsicht. Sie schuf die geistigen Antriebe, die reale Welt- und Sozialordnung durch den Gebrauch der Vernunft zu erforschen und in Richtung einer gerechteren Ordnung zu verändern. Das primäre Erkenntnisinteresse der calvinistisch inspirierten Wissenschaftler war zunächst nicht auf die Erforschung der Natur und der wirtschaftlich-technischen Anwendung des Wissens, sondern vielmehr auf die Erforschung gesellschaftlicher Verhältnisse und deren Veränderung gerichtet. Die Schaffung einer gerechten Gesellschaftsordnung geriet also zum eigentlichen Aktionsfeld der frühen philosophischen, juristischen und später der ökonomischen Denkschulen. Von daher erklärt sich, weshalb diese Wissenschaften zuerst in Holland und dann in England im späten 16. und im 17. Jahrhundert aufblühten und die wissenschaftliche Grundlage für eine neue liberale Weltsicht liefern sollten. Die Details der wegbereitenden Denker und Denkschulen können hier nicht aufgezeigt werden. Die bahnbrechenden Ideen wurden von der englischen einschließlich der schottischen Staats-, Rechts-, Moral- und Wirtschaftsphilosophie formuliert, die dann die geistesgeschichtliche Entwicklung im kontinentalen Europa prägen und in den konstitutionell verankerten Menschen- und Freiheitsrechten der amerikanischen und französischen Revolution ihren Niederschlag und vorläufigen Abschluß finden sollten. Diese Konstitutionen sind die institutionellen Zeugnisse für die revolutionäre Wende des Denkens hin zur neuzeitlichen, funktional differenzierten und spezialisierten Weltansicht, deren Dreh- und Angelpunkt in der Emanzipation der Vernunft vom Glauben zu sehen ist. Die Entdeckung und Nutzung der Vernunft als autonomer Ordnungsfaktor waren möglich, weil zuvor die jenseitige und diesseitige Welt und dann in der diesseitigen Welt kirchliche und weltliche Herrschaft, Moral und Recht voneinander getrennt, aber gleichwohl als autonome Bereiche mit je eigenen und begrenzten Funktionen akzeptiert wurden. Damit war die Einsicht verbunden, dass die Ordnung der diesseitigen Welt nicht mehr länger an transzendenten Vorgaben oder Wahrheiten, sondern an der Freiheit und Gleichheit der Menschen zu orientieren sei. Die Hauptfunktion von Staat und Recht ist dann gemäß dem Verständnis von I. Kant darin zu sehen, die individuelle Freiheit nach Maßgabe der Zusammenstimmung und der produktiven Zusammenarbeit mit der Freiheit aller durch allgemeine, abstrakte Gesetze oder Regeln zu beschränken und zu sichern. Institutionen, die diesem Geist verpflichtet sind, verkörpern daher die Essenz rational, also vernunftrechtlich gebundener Institutionen (vgl. Bockenförde
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1976, S. 66 ff.). Diese Qualifikation können sie erst dann erhalten und verdienen, wenn zuvor Glaube und Vernunft, Moral und Recht und damit Kirche als Verwalter des Glaubens und Staat als Verwalter des Rechts als getrennte Institutionen mit je eigenen Funktionen gesehen und akzeptiert werden. Diese neue revolutionäre Weltansicht mußte jedoch erst mühselig vorgedacht und dann erkämpft werden. Sie bildet die eigentliche ideelle Grundlage der neuzeitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsformen und deren Institutionen. Maine (1997) hat den neuzeitlichen Wandel treffend mit der Formel des Übergangs vom Status zum Vertrag auf den Punkt gebracht. Darin ist der eigentliche Ursprung für die Entfaltung des Kapitalismus zu vermuten. Wie Max Weber (1924, S 174 ff.) nicht müde wurde zu betonen, findet man fast alle Motive, Organisations- und Marktformen des Kapitalismus in vielen vorkapitalistischen Epochen. Die Entfaltung der hochspezialisierten, unternehmerisch organisierten Produktions- und Tauschwirtschaft stiess jedoch auf traditionale, religiöse, ständische und nicht zuletzt ideelle Schranken, die zwischen den vertikal abgestuften Ständen und sozialen Schichten existierten. Erst deren Überwindung schuf die ideellen und institutionellen Grundlagen für die Entfaltung der neuzeitlichen Wirtschaftsweise und deren Institutionen.
6.
Schlussbemerkungen
In diesem Beitrag sollte am Beispiel ausgewählter Theorieansätze und deren historischer Anwendung daran erinnert werden, dass das hier interessierende Spannungsverhältnis zwischen ideellen und materiellen Einflussfaktoren des institutionellen und wirtschaftlichen Wandels eine lange theoretische Vorgeschichte hat, die in den neueren institutionenökonomischen Theorien entweder negiert wird oder deren Einsichten erst wieder mühsam entdeckt werden mussten. Die Theorie des institutionellen Wandels von North und deren werkimmanente Verbesserung liefert dafür ein anschauliches Beispiel. Viele seiner Erklärungsvariablen und Thesen, dass z. B. Ideen, Kultur, Geschichte und damit informale Institutionen und deren pfadabhängige Entwicklung für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel von Belang seien, sind alle schon und oft auch plausibler vorgedacht worden. Von daher scheint die Empfehlung einer intensiveren Beschäftigung mit den methodischen und empirischen Vorzügen und Defiziten der religionssoziologischen, kulturvergleichenden, wirtschaftshistorischen Theorieansätze ein erfolgsträchtiges, weil ideen- und kostensparendes Vorhaben zu sein. Jedenfalls werden diese Theorien in den aktuell verbreiteten Lehrbüchern zur Institutionenökonomie nur marginal zur Kenntnis genommen. Das vorrangige Augenmerk der dort präsentierten Theorien ist ganz auf die Analyse moderner, ausdifferenzierter Marktwirtschaften westlichen Musters und damit auf die einseitige Analyse materiell-ökonomischer Einflussfaktoren des institutionellen Wandels gerichtet. Die Fokussierung auf Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme westlichen Musters und auf die hier geltenden ökonomischen Einflussvariablen und Kalküle hat zweifellos ihre Berechtigung. In diesem Beitrag sollten nur einige Einseitigkeiten aufgezeigt werden. Denn selbst innerhalb einzelner Länder, die zum westlichen Kulturkreis gehören, sind die historisch gewachsenen ideellen Vorstellungen darüber, wie eine produktive und gerechte Gesellschaft geordnet und demgemäß auch reformiert werden sollte, sehr unterschiedlich. Beispielhaft seien
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hier nur die unterschiedlichen Muster in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Deutschland genannt. Überspitzt formuliert, wird in Amerika der Staat als gesellschaftliche Veranstaltung, in Deutschland dagegen die Gesellschaft als staatliche Veranstaltung begriffen, weshalb man Amerika als selbstvertrauende und Deutschland als staatsvertrauende Bürgergesellschaft charakterisieren kann (zu den ideellen Wurzeln vgl. Leipold 2000; 2003b). Grandlegende Reformen des überregulierten deutschen Sozialstaates setzen deshalb zuerst eine ideelle Neuorientierung bei der breiten Bevölkerungsmehrheit voraus. Wie durch alltägliche Erfahrungen jedem unvoreingenommenen Beobachter des Weltgeschehens - aktuell am deutlichsten im Verlauf der Ereignisse im Irak - vor Augen gefiihrt wird, weisen die ideellen Weltansichten über die Ordnung und Reform von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft aus einer interkulturellen Perspektive besehen noch sehr viel markantere Unterschiede auf. Auch im 21. Jahrhundert werden einzelne Kulturen und Länder sich durch unterschiedliche Denk- und Institutionenmuster auszeichnen. Denn so lange die ideellen Weltbilder interkulturell verschieden bleiben, solange werden die Bereitschaft und Durchsetzbarkeit von wirtschaftlichen und erst recht von grundlegenden Institutionenreformen in Staat und Gesellschaft verschieden zu veranschlagen sein. Für die Institutionenökonomik verbindet sich damit die Forderung nach einer systematischeren Erforschung des Wechselverhältnisses zwischen ideellen und ökonomisch-materiellen Einflussfaktoren des institutionellen und wirtschaftlichen Wandels. Diese Forderung läuft auf einen Ausbau der Institutionenökonomie hin zu einer kulturvergleichend konzipierten Institutionenökonomik hinaus.
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Der Bedingungszusammenhang zwischen Islam und wirtschaftlicher Entwicklung* Inhalt
1. Einige methodische Vorbemerkungen
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2. Der Erklärungsansatz der kulturvergleichenden Institutionen- Ökonomik
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3. Befunde gemäß der quellenexegetischen Methode
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4. Befunde gemäß der ideenexegetischen Methode
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5. Schlussbemerkungen
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1. Einige methodische Vorbemerkungen Die Frage nach einem kausalen Bedingungszusammenhang zwischen Religion und wirtschaftlicher Entwicklung wurde und wird spätestens seit der berühmten Studie von Max Weber über „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" quer durch alle Sozialwissenschaften kontrovers diskutiert (vgl. zum Stand der Debatte Maurer 2007). Deshalb sollte es auch nicht verwundern, dass diese Frage mit Bezug zur islamischen Religion unterschiedlich beantwortet wird. Die Antworten lassen sich auf zwei Positionen reduzieren. In der einen Position wird die These vertreten, der Islam sei sowohl historisch als auch aktuell irrelevant für die relative institutionelle und wirtschaftliche Stagnation, die für den Großteil der islamischen Länder empirisch nicht in Frage gestellt wird (Irrelevanzthese). Als der hauptsächliche Grund dafür werden jedoch nicht religiöse Faktoren, sondern vielmehr autoritäre Herrschaftssysteme, also historisch-politische Faktoren, verantwortlich gemacht (vgl. z.B. als Vertreter der Irrelevanzthese Rodinson 1986, S. \51\ Nienhaus 1997, S. 367). Die andere Seite betont dagegen die Relevanz des Islam für die nach der glorreichen Frühzeit ab dem 12. Jahrhundert einsetzende und danach anhaltende ideelle, institutionelle und wirtschaftliche Stagnation, wobei die Tatsache nicht übersehen wird, dass der Koran und die Sünna in den expliziten wirtschaftsethischen und -rechtlichen Bezügen keine entwicklungshemmenden Postulate enthalten. Die Begründung der Relevanzthese fokussiert vor allem auf die in der Frühgeschichte des Islam erfolgte Auslegung der wichtigen religiösen Quellen und deren Dogmatisierung zu einem geschlossenen religiös geprägten Denk- und Regelsystem (vgl. z.B. Weber 1976, S. 643; Lipson 1993, S. 258 f.; Lewis 2002; Diner 2005). Eine einvernehmliche Klärung dieser Relevanz- bzw. Irrelevanzdebatte ist aus verschiedenen Gründen ein schwieriges Unterfangen. Denn erstens gibt es weder den Islam noch die einheitliche islamische Welt. Als Einheit existiert sie allenfalls im Ideal der umma, also der angestrebten globalen Gemeinschaft der Gläubigen. Tatsächlich unterscheiden sich die der islamischen Welt zurechenbaren Länder durch eine Vielfalt der Gesellschafts- und Staatsordnungen und deren Vermischung mit arabischen, afrikanischen, iranischen, zentral- und südostasiatischen Kultureigenarten sowie durch die Kluft zwischen islamischer Lehre und politischer und alltäglicher Praxis. Diese Verschiedenheit erschwert das Vorhaben, religionsspezifische Prägungen des Institutionengefüges und der Wirtschaft bestimmen zu wollen. Mögliche Prägungen lassen sich nur unter der Prämisse eines gemeinsam von der großen Mehrheit der Gläubigen geteilten Ideen- und Glaubenssystems identifizieren. Ein solches System existiert aufgrund der im Koran offenbarten Glaubensbotschaft und der in der Sünna verbrieften gottgeleiteten Worte und Taten des Propheten. Mit Krämer (2005a, S. 474) lässt sich daher sagen: „Islam ist, was in Koran und Sünna steht. Keine Idee, Handlung, Tugend oder Institution kann als islamisch (und daher als legitim und authentisch) gelten, wenn sie sich nicht auf den Koran, gegebenenfalls ergänzt durch die Sünna, zurückführen läßt."
In diesen beiden Quellen und in deren nachfolgender Auslegung und Sammlung in Form der Scharia ist die hier interessierende religiöse Prägekraft der institutionellen und
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wirtschaftlichen Entwicklung in der islamischen Welt und vor allen in den arabischen Kernländern des Islam verwurzelt. Deshalb sollen diese Länder auch als empirische Untersuchungsobjekte für die Klärung der Frage nach dem entwicklungsfördernden oder aber -hemmenden Einfluss der islamischen Religion dienen (Kap. 2). Die kontroversen Erklärungen reflektieren zweitens methodische Unterschiede, die in einem konfliktträchtigen Verhältnis stehen. Die Vertreter der Irrelevanzthese konzentrieren sich auf die religiös verbindlichen Quellen und durchforsten sie auf ihre wirtschaftliche Relevanz. Diese Methode sei deshalb als quellenexegetische Methode bezeichnet (Kap. 3) Die andere Methode analysiert die durch die nachfolgende Auslegung der primären religiösen Quellen entstandenen Ideen- und Institutionensysteme und deren meist unintendierte wirtschaftliche Folgen. Diese Methode sei als ideenexegetische oder auch als ideengenetische Methode bezeichnet (Kap. 4). Eine Synthese zwischen beiden Vorgehensweisen erscheint am ehesten möglich, wenn die historischen Umstände sowohl der Entstehung der islamischen Religion als auch der späteren Auslegung und Dogmatisierung der Quellen einer kritischen Analyse unterzogen werden, wenn die Exegese also den Prinzipien der historisch-kritischen Methode verpflichtet ist. Dieses methodische Postulat stößt jedoch auf einen geradezu dogmatischen Widerstand. Verantwortlich dafür ist erstens der Anspruch der islamischen Religion, dass der Koran das authentische Wort Gottes, damit die letzte und exklusive göttliche Wahrheit sei und dass die Handlungen und Anweisungen des Propheten Ausdruck des gottgeleiteten Willens seien. Der göttliche Ursprung und Wille verbieten es für die islamische Theologie, nach den historischen und biographischen Umständen der göttlichen Offenbarung zu suchen oder auch nur zu fragen (vgl. dazu den informativen Bericht über eine islamische Theologentagung in Medina von Wild 2006, S.13). Es wird später noch zu zeigen sein, dass die islamische Theologie in ihrer Frühzeit durchaus offen für methodenkritische Exegesen und Diskussionen war. Die historisch-kritische Methode gilt jedoch zweitens selbst innerhalb der Islamwissenschaft westlicher Prägung als verdächtig. Bekanntlich eskalierte hier der Methodenstreit in dem von Said (1978) erhobenen Vorwurf des „Orientalismus", der primär an die Vertreter der Relevanzthese adressiert war und ist. Sie würden sowohl die geschichtliche als auch die aktuelle Entwicklung in der islamischen (orientalischen) Welt aus westlicher Perspektive untersuchen und anhand westlicher Maßstäbe bewerten. Kritisiert wird also die Vorgehensweise, die Unwandelbarkeit des Islam zu unterstellen und die institutionelle und wirtschaftliche Stagnation mittels einer binären Argumentationskette als Gegenbild zum Westen zu begründen, dessen Entwicklung per se als fortschrittlich ausgegeben werde. Der „Orientalismus-Vorwurf' von Said ist nicht sonderlich originell, denn er findet sich in subtileren Versionen in der Kulturanthropologie, in der vergleichenden Religionssoziologie und in anderen komparativen Disziplinen wieder (vgl. ausführlicher Leipold 2006b, S. 8 ff.). Jeder komparativ vorgehende Wissenschaftler sollte sich bewusst sein, dass eine möglichst allgemeine, kulturübergreifende theoretische Fundierung für
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die Auswahl und für die kategoriale und explikative Erfassung der Forschungsobjekte unentbehrlich ist, weil ansonsten nur ein Berg von zusammenhanglosen Einzelinformationen angehäuft wird (vgl. Landes 1999, S. 421 f f ) . Deshalb sei die den folgenden Ausfuhrungen zugrunde liegende Erklärung des Bedingungszusammenhangs zwischen kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Faktoren in der gebotenen Kürze vorgestellt.
2. Der Erklärungsansatz der kulturvergleichenden Institutionenökonomik Aus der Perspektive der kulturvergleichenden Institutionenökonomik interessiert primär die Erklärung des unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsstandes einzelner Länder, die einem gemeinsamen Kulturkreis zugeordnet werden. Als grobe Indikatoren der Unterschiede dienen üblicherweise die Höhe des Pro-Kopf-Einkommens, das langfristige wirtschaftliche Wachstum sowie die relativen Anteile am Weltsozialprodukt. Mit Bezug zum islamischen Kulturraum seien hierzu schlaglichtartig nur einige Indikatoren angeführt. Die zum islamischen Kulturkreis gehörenden Länder steuern mit einem Anteil an der Weltbevölkerung von ca. 22 % ganze 6 % des Weltsozialprodukts bei (vgl. Kuran 2004, 124; ferner Weltbank 2005). Die wirtschaftliche Stagnation ist besonders in den arabischen Kernländern des Islam evident. Hier betrug das reale Wirtschaftswachstum im Zeitraum 1981-90 real im Jahresdurchschnitt 0,1 % und 1991-2000 1,3 %. Zugleich weisen diese Staaten im Jahre 2005 weltweit mit 13,2 % die höchste regionale Arbeitslosenquote auf, von der in einigen Ländern bis zu 40 % der Jugendlichen besonders betroffen sind. Die wirtschaftliche Situation und vor allem die Stagnation der 22 Staaten der Arabischen Liga werden in einer vom UNO-Entwicklungsprogramm veröffentlichten und von einer Gruppe unabhängiger arabischer Experten verfassten Studie dokumentiert (UNDP 2002; vgl. mit analogen Ergebnissen auch den Vergleichsreport von Lopez-Claros und Schwab 2005). Die 22 Mitgliedsstaaten mit ihren 280 Mio. Einwohnern erwirtschafteten 1999 ein gemeinsames Sozialprodukt (BIP) in Höhe von 531,2 Mrd. $, was unterhalb des Sozialprodukts von Spanien, einem mittelgroßen europäischen Land mit 40 Mio. Einwohnern, lag (595,5 Mrd. $). Wie angeführt erzielte die arabische Welt während der letzten 20 Jahre mit ca. 0,6 % ein geringes jährliches Wachstum des Pro-KopfEinkommens. Nur die afrikanischen Länder südlich der Sahara schnitten noch schlechter ab. Die Studie stellt fest, dass die arabischen Länder angesichts des hohen Bevölkerungswachstums bei gleichbleibender Wirtschaftsentwicklung ca. 140 Jahre benötigen werden, um das Pro-Kopf-Einkommen zu verdoppeln. Asien hat diese Verdopplung in 10 Jahren geschafft. Diese relative wirtschaftliche Rückständigkeit ist erklärungsbedürftig. Unter Ökonomen besteht erstens seit A. Smith weitgehend Konsens, in den unterschiedlichen Graden der wirtschaftlichen Arbeitsteilung, der Spezialisierung und des Tauschhandelns die tiefer liegenden Ursachen für wirtschaftliche Entwicklungsunterschiede zu sehen. Denn davon hängt die Arbeitsproduktivität und d.h. ja die Menge an
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Gütern ab, die mit den gegebenen Faktorbedingungen produziert werden und zum Austausch, zur Verteilung und damit zur Investition und zum Verbrauch anstehen {North 1992; Locay 1990). Unter Institutionenökonomen besteht zweitens wiederum seit A. Smith Konsens darüber, in der Beschaffenheit und Akzeptanz der Regeln oder Institutionen der wirtschaftlichen und sozialen Zusammenarbeit die maßgebliche Ursache für die Entwicklungsunterschiede zu vermuten. Denn arbeitsteiliges Tauschhandeln basiert ja stets auf wechselseitigen Absprachen über Leistungen und Gegenleistungen, die alleine aufgrund der Vorleistungen einzelner Produktions- und Tauschpartner Abhängigkeiten und Möglichkeiten der opportunistischen Ausbeutung implizieren. Deshalb ist ein Mindestmaß an wechselseitigem Vertrauen in die Verlässlichkeit der vertraglichen Absprachen Grundvoraussetzung aller Produktions- und Tauschtransaktionen, wobei die jeweiligen Vertrauensgrade ja nur das Spiegelbild für die Verlässlichkeit in die Befolgung gemeinsamer Regeln des Zusammenlebens sind. So einsichtig dieser Bedingungszusammenhang auch sein mag, so schwierig fallt es den Menschen, ihm zu genügen. Denn zur Urerfahrung der menschlichen Existenz gehört die Tatsache, dass gemeinsam geteilte und befolgte Regeln des friedfertigen und produktiven Zusammenlebens entweder fehlen oder geltende Regeln missachtet werden. Deshalb ist aus der Perspektive der kulturvergleichenden Institutionenökonomik im Ordnungsproblem und d.h. ja in der Existenz und Geltung wechselseitig geteilter und verlässlich befolgter Regeln des Zusammenlebens das eigentliche Knappheitsproblem zu verorten. Diese Einsicht ist keineswegs originell. Es sei an Kant (1968, S. 22 f.) erinnert, der in der Erreichung einer rechtlich und wirtschaftlich wohlgeordneten Gesellschaft das „schwerste" und „größte" Problem der Menschengattung erachtete, weil jedes Individuum zwar Gesetze und Regeln zur Einschränkung der individuellen Freiheit wünsche, jeder sich aber von der individuellen Befolgung ausnehmen wolle. Dieses Bestreben gelte auch und gerade für die staatlichen Souveräne, die für Recht und Ordnung zu sorgen haben, weshalb eine vollkommene Auflösung des Ordnungsproblems unmöglich sei. Von daher wird verständlich, weshalb Kant dem moralischen Gewissen, das dem kategorischen Imperativ verpflichtet ist, eine unverzichtbare Ordnungsfunktion eingeräumt hat. Denn gerade in sozial problematischen Interessenbeziehungen, bei denen gemeinsame aber auch konfligierende Interessen existieren, fallen die Einigung und Befolgung von Regeln deshalb schwer, weil sie für alle Beteiligten den Verzicht auf die situativ bestmögliche Verhaltensweise verlangt. Es sind also Beschränkungen des Selbstinteresses, mithin moralische Bindungen gefragt. Nach Mackie (1981, S. 133) bedeutet Moral nichts anderes als ein System von Verhaltensregeln, „...deren Hauptaufgabe die Wahrung der Interessen anderer ist und die sich für den Handelnden als Beschränkungen seiner natürlichen Neigungen oder spontanen Handlungswünsche darstellen". Gemäß diesem Moralverständnis sind Regeln und speziell bindungsbedürftige Institutionen als ein knappes Moralgut, mithin als ein Gut sui generis zu verstehen (Leipold 2006b, S. 63 ff). Das provoziert für Ökonomen die Frage, was potentiell eigeninteressierte Individuen dazu bewegen kann, sich auf moralische Bindungen und damit auf den Verzicht auf die
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situativ potentiell bestmögliche Verhaltensweise einzulassen? Das in der Institutionenökonomik vorherrschende Argument von der rationalen Selbstbindung, die von der Einsicht in die 'Nützlichkeit der Uneigennützigkeit' motiviert sei und das damit verbundene Motiv der Minimierung der Transaktionskosten vermögen nicht gerade zu überzeugen und sind als ökonomistische bzw. rationalistische Verkürzungen zu bewerten. Das Ordnungsproblem ist mehr als ein reines Kostenproblem. Es ist im Kern ein Moralproblem. Denn die Bereitschaft zu moralischen Beschränkungen und Bindungen erwächst gerade größtenteils nicht aus rein ökonomischen, sondern aus außerökonomischen Motiven oder Einsichten. Gefragt waren und sind Motive wie Mitgefühl, Nächstenliebe, Gemeinschaftsgeist, Mitverantwortung, Pflichterfüllung, Regeltreue und andere ethischmoralische Grundwerte. Da diese Werte außerökonomischer Natur und Herkunft sind, kommen Kultur und Religion als Einflussfaktoren ins Spiel. Damit stellt sich die Frage, wie diese Faktoren methodisch-analytisch erfassbar und handhabbar gemacht werden können. Die Schwierigkeiten beginnen bereits bei dem begrifflichen Verständnis der Kultur. Kultur wird je nach dem Erkenntnisinteresse mal als normative Kategorie im Sinne verfeinerter Lebensformen, mal als wertneutrale Kategorie zur Charakterisierung ethnischer oder länderspezifischerSitten, Gewohnheiten und künstlerischer sowie technischer Fähigkeiten verstanden (zu den Kulturverständnissen Leipold 2006b, S. 3 ff.; Reckwitz 2000, S. 64 ff.). Aktuell vorherrschend ist das kognitive Kulturverständnis (Strauss und Quirn 1997; Geertz 1991). Danach wird Kultur als selbstgesponnenes Wahrnehmungs-, Bedeutungsund Sinngewebe verstanden, das Menschen räum- und zeitspezifisch gestrickt, also konstruiert haben. Gemäß diesem Verständnis wird Kultur als das von Mitgliedern einer Gemeinschaft oder Gesellschaft geteilte System von Deutungen, Bedeutungen und Bewertungen ihrer Welt verstanden, das den Bereich des gemeinsamen Denkens und alltäglichen Handelns bestimme. Dieses Verständnis deckt sich weitgehend mit jenem von Max Weber (1922). Er begriff Kultur als das Resultat der inneren Nötigung der Menschen als vernunftbegabte Wesen, ihre Welt zu deuten, zu bewerten und zu ordnen. Kultur erwuchs universal aus dem Bedürfnis, Antworten auf die grundlegenden Existenz- und Sinnfragen des Woher, des Wie und des Wohin der menschlichen Existenz zu geben. Daraus entstanden Wissens-, zeit- und umweltabhängig konstruierte und deshalb divergierende Weltbilder. In dem Maße, in dem sie von Mitgliedern einer Gemeinschaft geteilt, verinnerlicht und akzeptiert wurden, beeinflussten sie deren alltägliche Lebensführung und damit die Regeln des sozialen Zusammenlebens. Die Annahme, dass Weltbilder ideelle Konstruktionen seien, impliziert auch die Möglichkeit ihrer Wandelbarkeit. Den Wandel hat Max Weber als Prozess der Rationalisierung in kulturvergleichender Absicht analysiert, wobei er Rationalisierung als die Emanzipation der Vernunft von tradierten Gewohnheiten und heiligen Glaubensvorstellungen begriff. Die Wegbereiter dafür waren die religiösen und geistigen Eliten, die Antworten für die ewig existierenden Sinn- und Existenzfragen formulierten. Allein aufgrund der stets präsenten Diskrepanzen zwischen der mehr oder wenig vollkommen vorgestellten transzendenten Welt und der unvollkommen erlebten realen Welt mussten
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tradierte Welt- und Glaubensvorstellung überprüft, revidiert und neu konzipiert werden. In der langristigen Rückschau lässt sich der Rationalisierungsprozess als allmählicher Wandel vom holistisch-teilspezialisierten und hierarchisch geordneten Weltbild hin zum funktional-ausdifferenzierten und hochspezialisierten Weltbild interpretieren. Dieser Wandel verlief freilich aufgrund der Verkettung der ideellen und materiellen Umstände historisch und interkulturell sehr verschieden ab. Im Erfolgsfall führte er zum Wandel der hierarchisch-teilspezialisierten Ordnungen zu funktional-hochspeziali-sierten Gesellschafts-und Wirtschaftsordnungen, in denen es zur Trennung von Glauben und Wissen, von Kirche und Staat, von Moral und Recht sowie von Staat, Wirtschaft und anderen sozialen Teilsystemen kam. Die von der intensivierten Arbeitsteilung, Spezialisierung und Tauschtransaktionen angetriebene Wirtschaftsentwicklung setzte also eine komplementäre gesellschaftliche Arbeits- und Regelteilung voraus, die wiederum einer ideellen Rationalisierung bedurfte (vgl. Weber 1924; Szücs 1994; Leipold 2006b). Dieser hier nur grob skizzierte Bedingungszusammenhang zwischen ideellen, institutionellen und wirtschaftlichen Entwicklungsfaktoren behält auch aktuell in der zunehmend global vernetzten und zusammenwachsenden Welt seine Relevanz. Die erfolgreiche Teilnahme an der weltwirtschaftlichen Entwicklung war und ist an die Existenz verlässlicher institutioneller Rahmenbedingungen gebunden, die wiederum offene und anpassungsbereite kulturelle Weltbild- oder Ideensysteme voraussetzen. So plausibel das weberianische bzw. das kognitive Kulturverständnis erscheint, wonach alles menschliche Zusammenleben von gemeinsam geteilten Wahrnehmungen, Deutungen und Bewertungen der Welt geprägt war und ist, so stellt sich doch die Frage, welche davon kulturspezifisch und welche weshalb sozial und wirtschaftlich verhaltensbestimmend sind? Diese Frage hat Max Weber (1922, S. 180) mit dem Verweis auf die sich aus dem Erkenntnisinteresse des Forschers ergebende „Wertbeziehung", also seiner jeweiligen forschungsleitenden Problemstellung, beantwortet. Insofern sei Kultur stets vom Standpunkt sowohl der Mitglieder eines Kulturraumes als auch des externen Forschers aus ein „...mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens". Weil Kultur eine doppelt konstruierte Kategorie repräsentiert, deren Verständnis je nach den verschiedenen Fragestellungen differenziert ausfällt, wird man auch mit verschiedenen Kulturverständnissen leben müssen. Für die kulturvergleichende Institutionenökonomik sollten deshalb nur solche Erklärungsansätze als seriös bewertet werden, denen theoriegeleitete Kriterien für die Identifizierung und Erklärung von kulturellen Eigenarten und deren wirtschaftliche Relevanz zugrunde liegen. Mit Bezug zur hier interessierenden Frage nach der wirtschaftlichen Relevanz des Islam gilt es also zu klären, ob und inwieweit sich für den islamischen Kulturraum ein eigenständiges, religiös geprägtes Weltbild identifizieren lässt und -wenn ja- welche Relevanz es für die Lösung des ewig aktuellen institutionellen Ordnungsproblems und des davon abhängigen wirtschaftlichen Knappheitsproblems hat. Dazu sollen zunächst die Vorgehensweise und die Argumente der Vertreter der quellenexegetischen Methode vorgestellt werden, die sich auf die verbindlichen Vorschriften des Koran, der Sünna und des darauf gegründeten islamischen Rechts beziehen.
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3. Befunde gemäß der quellenexegetischen Methode Das islamische Recht ist in der frühen und expansiven Phase nach dem Tod des Propheten Mohammed entwickelt worden. Das sich seitdem herausgebildete und dogmatisierte Rechtssystem macht den Korpus der Scharia, also des islamischen Rechts aus (vgl. zum folgenden Leipold 2001; 2006b und 2007). Als primäre Quellen des Rechts gelten der Koran, die Sünna und der Konsens der islamischen Rechtsexperten. Der Koran besitzt als Quelle des göttlichen Rechts die höchste Autorität. Die hierin enthaltenen Rechtsnormen und Pflichten beanspruchen als das authentische Wort Gottes das Siegel ewig gültiger Regeln. Der Koran (45, 19) stellt dazu fest, daß Gott seinen Gesandten Mohammed für das göttliche Gesetz auserwählt habe, das deshalb zu befolgen sei. Von den koranischen Suren enthält ein knappes Drittel rechtlich relevante Postulate und Normen, die zumeist in Form von Geboten, daneben auch in Verbotsform formuliert sind. Charakteristisch ist die Anweisungsform, wie z. B. „Haltet die Verträge!", „Wenn ihr meßt, so gebt volles Maß und wiegt mit richtigem Gewicht!", „Seid gut zu Witwen und Waisen!", wobei die Nichtbefolgung der Anweisungen nur fallweise mit Sanktionen verbunden ist. Es sind primär Appelle an ein moralisch gottgefälliges Verhalten, dessen Bilanz vom Jüngsten Gericht erstellt und bewertet wird. Einen vergleichbaren Status wie der Koran genießt die Sünna als Gesamtheit der verbürgten Aussagen und Handlungen des Propheten, die als gottgeleitete Anweisungen gelten. Die beiden wichtigsten Quellen werden durch den Konsens der Rechtsgelehrten um eine weitere primäre Rechtsquelle ergänzt, deren Hauptfunktion in der Klärung strittiger Vorgaben des Korans und der Sünna besteht. Als sekundäre Rechtsquelle gilt das Prinzip des Analogieschlusses, nach dem die Regelung neuer Rechtsprobleme sich zuerst an ähnlich gelagerten Präzedenzfällen in den originären Quellen zu orientieren hat und analog auszulegen ist. Für diejenigen Rechtsprobleme, für deren Lösung sich keine analogen Präzedenzfälle finden lassen, wird als ergänzende Rechtsquelle das Prinzip der eigenständigen Rechts- und Urteilsfindung (Idjtihad) durch gläubige Rechtsgelehrte in Erwägung gezogen, das jedoch in den einzelnen Rechtsschulen der Sunniten und Schiiten kontrovers bewertet wird. Während die orthodoxe sunnitische Rechtsmeinung der Zulässigkeit einer eigenständigen Urteilsfindung eher ablehnend gegenübersteht, wird sie in der schiitischen Rechtsmeinung prinzipiell, wenn auch mit Einschränkungen bejaht. Die schiitischen Schulen betonen darüber hinaus die Urteilsfindungen ihrer geistlichen Führer. Abgesehen von diesen strittigen, für die rechtliche und zivilisatorische Entwicklung jedoch hochbrisanten Positionen, besteht zwischen den sunnitischen und schiitischen Rechtslehren Konsens über die Gültigkeit der originären bzw. sekundären Rechtsquellen und deren Relevanz für die Rechtspraxis, wobei die Ge- und Verbote in den originären Quellen faktisch als veränderungsresistent gelten. Die diffizilen Unterschiede zwischen den klassischen Rechtsschulen können hier nicht ausgebreitet werden (vgl. Ghaussy 1986, S. 40 ff.; Endreß 1997, S. 81 ff.). Abgesehen von den unterschiedlichen methodischen und verfahrensmäßigen Auffassungen und Prinzipien, überwogen bis heute der gegenseitige Respekt und Konsens der
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Rechtsgelehrten, die sich sämtlich als rechtgläubige Anhänger der Tradition verstanden. Auch in den später präsentierten Weiterentwicklungen der klassischen Rechtsschulen stand die Überschreitung des sakralen Rechts nie wirklich zur Diskussion und zur Disposition. Die vereinzelten Versuche, das islamische Recht als Vernunftrecht im Sinne des Gesellschaftsvertrags zwischen gleichberechtigten und rationalen Individuen zu konzipieren, wurden stets als religiöses Sektierertum oder sogar als Apostasie gebrandmarkt. Als gefahrliches Einfallstor wurde instinktiv das in verschiedenen Rechtsschulen vorsichtig andiskutierte Prinzip der selbständigen Rechts- und Urteilsfindung erkannt, weil davon die Modifizierung oder gar die Verdrängung des heiligen Rechts durch das vernunftgeleitete Recht befurchtet wurde. Darauf wird noch einzugehen sein. Zuvor sollen nur einige konkrete Rechtsnormen der Scharia vorgestellt werden, die sich auf die Ordnung der islamischen Wirtschaft beziehen (vgl. Ghaussy 1986; Nienhaus 2004). Das Wirtschaftsrecht ist nur rudimentär und unsystematisch geregelt. Die Wirtschaft gilt als organischer Bestandteil des islamischen Gemeinwesens und ist demgemäß nach den göttlichen Geboten zu ordnen. Das maßgebende Ordnungsprinzip ist das Prinzip der Einheit in Form der Einheit von Glaube und wirtschaftlichem Handeln, der Einheit von Religion, Staat und Wirtschaft, damit letztlich auch der Einheit von Diesseits und Jenseits. Aus dieser theonomen Einheitsidee lassen sich einige Grundsätze einer islamischen Wirtschaftsethik ableiten, die sich sowohl auf das Wirtschaftsverhalten als auch auf die Ordnung einzelner Teilbereiche wie der Eigentums-, Vertrags-, Steuer-, Sozial-, der Geld- und der Kreditordnung beziehen. Der letzte Eigentümer aller Güter dieser Welt ist Allah, der den Menschen ein eingeschränktes Verfügungs- und Nutzungsrecht verliehen hat. Dieses Basisprinzip schließt die Anerkennung des kollektiven und des privaten Eigentums ein. Das Primat des Kollektiveigentums gilt für wichtige Naturressourcen, z. B. für Bodenschätze, Wasser oder Wälder. Gegenüber diesen Gemeinschaftsgütern genießt bei normalen Gütern das Privateigentum Priorität. Es ist für alle Güter legitim, die durch individuelle Leistungen produziert sowie auf legitime Weise erworben oder auch vererbt worden sind. Die privaten Verfugungs- und Nutzungsrechte sollen jedoch den Prinzipien des Gemeinwohls und der Solidarität verpflichtet sein, deren Gehalt sich aus der Befolgung religiöser Normen und Pflichten ergibt. So soll das Vermögen nicht für die Befriedigung überzogener luxuriöser Bedürfnisse verwendet werden. Der Konsum von Alkohol oder Drogen ist verboten, wie der Koran generell zum mäßigen Konsum mahnt. Die Unternehmer sollen gerechte Löhne zahlen, angemessene ortsübliche Preise verlangen und normale Gewinne anstreben. Ungerechtfertigte Gewinne auf Kosten anderer Geschäftspartner sind unzulässig. Dazu zählen Betrug, Diebstahl, Spekulation, Preistreiberei in Notsituationen und andere gewinnträchtige Irreführungen. Die einzelnen Verbote von Geschäfts- und Handelspraktiken reflektieren die Erfahrungen des Propheten in seiner Rolle als Karawanenhändler und als Gemeindeführer in Medina, wo er für die Existenzsicherung vor allem seiner nach Medina ausgewanderten Gefolgschaft verantwortlich war. Zwei häufig und kontrovers diskutierte Besonderheiten seien noch kurz erwähnt (vgl. auch Pryor 1985; Ghaussy 1986; Nienhaus 2004). Die erste ist die Zahlung von Zakat als Teil der fünf Grundpflichten (neben Glaubensbezeugnis, Gebet, Fasten und Pilger-
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fahrt). Es handelt sich um eine Abgabe, die sich am Vermögensbestand bzw. -ertrag bemisst und an die im Koran konkret benannten unterstützungsbedürftigen Personen abzuführen ist. Dazu zählen Arme und Bedürftige, Schuldner, die ohne Fehlverhalten in Not geraten sind, mittellose Reisende und Pilger, freizukaufende Sklaven, Konvertiten, Kämpfer für den Islam und schließlich die Verwalter der Abgaben. Neben dem allgemeinen Postulat der Solidarität erklärt sich die Abgabe durch die wirtschaftliche Notlage einiger und insbesondere der aus Mekka ausgewanderten Gemeindemitglieder, die auf Unterstützungen durch wohlhabende Personen angewiesen waren. Die Abgabenhöhe ist im Koran selbst nicht genau festgesetzt. Ursprünglich waren 2,5 % des Vermögens sowie abgestufte Abgabensätze der jährlichen Ernteerträge (z.B. bei Weizen 10 %) abzuführen. Die Verwendung der Abgaben war und ist zweckgebunden. Sie dürfen also nicht zur Finanzierung beliebiger Staatsaufgaben verwendet werden. Heute ist Zakat an den Staat abzuführen und repräsentiert daher eine Art Sozialsteuer. Die zweite Besonderheit des islamischen Wirtschaftsrechts stellt das Zinsverbot dar, das mehrfach im Koran ausgesprochen wird. Ursprünglich betraf das Verbot die Praxis der Notkredite, die etwa im Falle von Missernten aufgenommen werden mussten und deren Schuldsumme gemäß den Geschäftsusancen sich verdoppelte, wenn die Kredite am Fälligkeitstermin nicht zurückgezahlt werden konnten. Diese als Wucher empfundene Belastung trieb viele Schuldner in Not, häufig sogar in die Sklaverei. Der altarabische Begriff riba meint wohl diesen Wucherzins, der im Koran eindeutig verboten ist. Der lange Disput über die Auslegung des Begriffs hat insoweit zum Konsens gefuhrt, als Kreditverträge nicht erlaubt sein sollen, die vorher festgesetzte Kapitalzuwächse oder vorher festgesetzte Zinsen beinhalten. Da Kapital auch in einer islamischen Wirtschaft ein knappes Gut ist, besteht das ökonomische Problem weniger im Zinsverbot als vielmehr im Finden eines Zinsersatzes und damit eines Preises für Kapital. Als wichtigstes Substitut haben sich Vereinbarungen über prozentuale Erfolgsbeteiligungen entwickelt. So ist es erlaubt, dass ein Kreditgeber, z. B. eine Bank, ein spezifisches Projekt finanziert und nach dessen Fertigstellung prozentual am Gewinn oder Verlust beteiligt wird (mudaraba genannt). Im Falle mehrerer Kapitalgeber, also neben Banken auch Privatpersonen, gilt es als legitim, wenn die Gewinnbeteiligungen variabel vereinbart und die Verluste anteilig aufgeteilt werden (musharaba genannt). Eine zulässige und übliche Praxis bilden auch zinslose Handelsgeschäfte, bei denen der Kreditgeber für den Kreditnehmer Waren kauft und an diesen mit einem Preisaufschlag dann verkauft. Diese Form des Preisaufschlags wird als murabaha bezeichnet. Ähnlich gelagert ist der Kauf eines Wechsels, also eines Zahlungsversprechens zu einem niedrigeren Preis durch eine Bank, den sie dann zum Nominalpreis verkauft. Damit wird der Zins zwar formaljuristisch, nicht jedoch faktisch vermieden. Juristisch bedeuten diese Aufschläge keinen Zins, da ihnen kein Darlehensvertrag, sondern eine Preisstundung zugrunde liegt. Derzeit sollen weltweit nahezu 300 islamische Banken und Finanzinstitutionen tätig sein, die ein Finanzvolumen von ca. 400 Mrd. $ verwalten, wobei konventionelle, halblegale Finanzierungsformen mit islamischen Finanzierungstechniken innovativ verbunden werden (vgl. El Qorchi 2005). Der kreativen Substitution fest vereinbarter Zinszahlungen standen und stehen bis heute also viele Wege offen. Deshalb ist im Zinsverbot
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wie auch in anderen Vorgaben der Scharia für die Ordnung der Wirtschaft kein gravierendes Hindernis für die Wirtschaftsentwicklung zu vermuten. Insgesamt ist der wirtschaftsordnungsrelevante Gehalt der originären Quellen und der Scharia als unspezifisch zu bezeichnen. Von den ca. 500 Gesetzesversen im Koran sind nur etwa 10 unmittelbar wirtschaftsrechtlicher Natur. Es dominieren ethische Appelle für ein gottgefälliges Verhalten der Wirtschaftssubjekte in ihrer Rolle als Produzenten, Händler, Makler, Konsumenten oder als Verwalter der Gemeindeangelegenheiten. Die wirtschaftsethischen Gebote und Verbote lassen sich mit Ghaussy (1986, S. 274) dahingehend zusammenfassen, „... daß die aus den Inhalten der klassischen Lehre abzuleitende Wirtschaftsordnung des Islams weitgehend einer Marktwirtschaft mit dem Imperativ des sozialen Ausgleichs also der .sozialen Marktwirtschaft' - am nächsten kommt."
4. Befunde gemäß der ideenexegetischen Methode Die Schlussfolgerung, dass die islamische Glaubensbotschaft und das daraus abgeleitete islamische Recht die Entfaltung einer unternehmerischen und marktorientierten Wirtschaftsordnung begünstige, erscheint fragwürdig, wenn die Entwicklung des religiös geprägten Ideen- und Institutionensystems in den islamischen Ländern als Maßstab für die wirtschaftliche Entwicklung herangezogen wird. Damit ist die von Max Weber (1976, S. 643) formulierte These angesprochen, wonach nicht der Islam als Religion der Gläubigen, sondern das religiös geprägte Staats- und Institutionengebilde die frühe Industrialisierung behindert habe. Im folgenden soll diese These dahingehend erweitert und begründet werden, dass in dem spezifisch islamischen Ideen- und insbesondere Institutionensystem bis heute der maßgebliche Hemmschuh für die wirtschaftliche Modernisierung zu vermuten ist. Die islamische Religion lässt wenig Freiraum für die Entfaltung einer pluralen zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit und für die vernunftgeleitete Gestaltung des Rechts in Staat, Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Teilordnungen. Zivilgesellschaft und Recht bleiben Schattengewächse des nach wie vor dominant religiös geprägten Institutionengefüges. Die islamische Religion bildet also ein Hindernis für die Entwicklung der gesellschaftlichen Regelteilung in Richtung eines funktional differenzierten Regelwerkes und der damit korrespondierenden gesellschaftlichen Teilordnungen, die wiederum die Voraussetzung für die Entfaltung einer arbeitsteiligen und entwickelten Marktwirtschaft ausmachen (vgl. ausführlicher dazu Leipold 2002 und 2006b, S. 176 ff.). Dabei ist daran zu erinnern, dass es sich bei den religiös gebundenen Institutionen nicht nur um formaljuristische Regeln, sondern ebenso um verinnerlichte, informelle Werte und Normen handelt, durch die die Weltbilder der gläubigen Muslime maßgeblich vorstrukturiert wurden und bis heute werden. In dieser religiös geprägten Weltsicht weisen Religion, Staat, Recht und andere gesellschaftliche Bereiche eine enge Einheit auf, die sich erst aufgrund der Entstehungs- und der nachfolgenden Entwicklungsbedingungen des Islams näherungsweise erschließen lässt. Der Islam war von Anfang an mehr als die Botschaft von der Existenz des einzigen Gottes. Er war auch eine religiöse Anleitung für eine neue, die tribalen Gegensätze
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überwindende Gesellschaftsform. Dies kommt in dem Satz zum Ausdruck, wonach der Islam zugleich Religion und Politik sei (Al-Islam din wa-daula). Der Prophet Mohammed war nicht nur ein virtuoser Religionsstifter. Er musste sich notgedrungen zugleich als politischer und militärischer Führer bewähren, um das Überleben der religiösen Gemeinde in Medina zu sichern. Für dieses politische Ziel nutzte er die Religion, wie er umgekehrt die Politik für die Durchsetzung seiner religiösen Botschaft einsetzte. Im Zuge der nach seinem Tode erfolgten raschen Expansion des Islams wurde die wechselseitige Indienstnahme von Religion und Politik noch dringlicher. Denn nun galt es ja, nicht nur die Stämme der arabischen Halbinsel, sondern Völker mit ganz unterschiedlichen Kulturen von der Westküste Nordafrikas über Vorder- bis hin nach Zentralasien zu einem Reich und zu einer religiösen Gemeinde zu integrieren. Dieses gigantische Projekt ließ sich nicht nur mittels des Korans und des Schwertes realisieren. Gefragt war die Mithilfe der intellektuellen Eliten, also vor allem der Theologen und Rechtsgelehrten sowie der Dichter und Künstler. Gemessen an dem damals in anderen Herrschaftssystemen üblichen Dogmatismus, zeichnete sich die Herrschaft der frühen islamischen Kalifen durch eine bemerkenswerte Toleranz für intellektuelle und theologische Auseinandersetzungen aus. Der Rückblick auf die frühen theologischen und rechtswissenschaftlichen Debatten ist deshalb aufschlussreich, weil in dieser Phase die bis heute unverrückbaren religiösen Grundlagen der islamischen Gesellschafts- und Rechtsordnung geschaffen wurden. Denn die Nutzung der Religion für politische Zwecke führte ungewollt zu der für die islamische Weltsicht charakteristischen Einheit von Glaube und Vernunft, die wiederum die Verfestigung des Denkens und der gesellschaftlichen Entwicklung in den nachfolgenden Jahrhunderten begünstigt hat. Die Verquickung von Religion und Politik lässt sich am Beispiel der frühen theologischen Kontroversen aufzeigen. Deren Auslöser war das im Koran angelegte Spannungsverhältnis zwischen der göttlichen Vorherbestimmung allen Lebens und der individuellen Willensfreiheit und Verantwortung. Wenn alles irdische Geschehen und menschliche Handeln vorbestimmt, also durch den allmächtigen Gott prädestiniert sei, wie sollte dann Gott noch gerecht und vorurteilsfrei über das menschliche Handeln urteilen? Diese Frage stand bekanntlich auch im Christentum und dessen Reformbewegungen im Zentrum der theologischen Debatten, die freilich im Vergleich zum Islam verschieden verliefen und ganz unterschiedliche soziale Wirkungen nach sich zogen (vgl. dazu Leipold 2006b, S. 126 f f ) . Die erste theologische Debatte wurde in der islamischen Gemeinde zu Beginn des 8. Jahrhunderts durch die Schule der Qadariten ausgelöst (vgl. Nagel 1994, S. 95 f f ; Halm 2000; Krämer 2005b, S. 89 ff.). Sie postulierten die Rolle der Willensfreiheit und der Verantwortlichkeit, wobei dieses Postulat primär gegen die Dynastie der Omaijaden gerichtet war, die ihre Herrschaft als Kalifen mit der Anmaßung als „Stellvertreter Gottes" legitimierten. Dieser Anspruch wurde von den Qadariten bestritten, indem sie die für alle Gläubigen geltende Verantwortlichkeit des Handelns vor Gott auch für die Herrscher einforderten. Die Ablösung der Herrschaft der Omaijaden durch die Dynastie der Abbasiden (750 n. Chr.) beendete die erste theologische Debatte, die zugleich auch eine Debatte über die legitime politische Herrschaft war.
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Das offen gebliebene Spannungsverhältnis zwischen Willensfreiheit und Vorherbestimmung wurde von der Schulrichtung der rationalen Theologie aufgegriffen, deren Vertreter schon früh als „Mutaziliten" bezeichnet wurden, was als „die sich Absondernden" verstanden werden kann. Ihr Antrieb war primär theologischer Natur (vgl. Nagel 1994 und 2001). Eine vernunftgemäße Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen göttlicher Allwirksamkeit und menschlicher Selbstverantwortlichkeit erachteten sie nur als möglich, wenn göttliches Sein vom irdischen Sein getrennt werde. Gott als Schöpfer, Lenker und Richter müsse also wesensmäßig anders als das irdische Sein und seine Geschöpfe verstanden werden. Gott schaffe und bestimme nur die Seinsbedingungen, die für die Menschen dann vorteilhaft seien, wenn sie ihr irdisches Dasein gottgefällig und gesetzeskonform gestalten. Darüber hinaus lasse sich die wahre Beschaffenheit Gottes mit der begrenzten menschlichen Erkenntnismöglichkeit nicht erfassen. So sei der Koran zwar das authentische Wort Gottes. Er habe jedoch den Status des für den begrenzten menschlichen Verstand offenbarten und geschaffenen Werks. Letztlich wollten also die Mutaziliten die menschliche Selbstverantwortung mit der Allmacht Gottes vereinbaren. Das war zugleich ein Plädoyer dafür, strittige Interpretationen und Auslegungen religiöser Fragen mit Hilfe des Verstandes zu klären. Vor dem Hintergrund der Bürgerkriege und religiösen Spaltungen wurde ein Einheitsislam angestrebt, weil doch alle Menschen unabhängig von der Zugehörigkeit zu Stämmen oder Völkern mit dem gleichen Verstand ausgestattet seien. Das Streben nach einem Einheitsislam erklärt, weshalb die Lehre der Mutaziliten Anfang des 9. Jahrhunderts zum Staatsdogma erklärt wurde. Als heikles Problem erwies sich jedoch bald ihr Gottesbild, das partiell im Widerspruch zu den Offenbarungen des Korans stand, wonach Gott ja als allmächtiger Schöpfer, Lenker und Richter des Weltgeschehens fungiert. Deshalb erwies sich die Überzeugung als wirkmächtiger, wonach der Mensch als Teil der göttlichen Schöpfung nicht selbst als eigenverantwortlicher Schöpfer seines Handelns und erst recht nicht seiner Regeln des sozialen Zusammenlebens vorstellbar sei. Vielmehr sei von der göttlichen Vorbestimmung für jedes Tun oder Lassen der Menschen auszugehen, womit den Menschen indirekt eine Gestaltungsohnmacht unterstellt wurde. Die Ideen der Transzendenz und der Immanenz Gottes ließen sich nicht vereinbaren, denn Gottes Gericht und Urteil über das Heil der Individuen bezogen und beziehen sich ja auf das irdische Dasein und Verhalten der Menschen. Damit war das Scheitern der rationalen Theologie vorgezeichnet. Thesenhaft formuliert, ist darin im nachhinein die eigentliche Ursache für die ideelle und institutionelle Erstarrung der islamischen Welt zu vermuten. Denn mit Nagel (2001, S. 47) ist davon auszugehen, dass der Islam eine ganz andere Religion geworden wäre, hätte das mutazilitische Denken in den frühen theologischen Kontroversen triumphiert. Diese Einsicht aus der innerislamischen Theologieund Ideengeschichte in die potentielle Offenheit des Islam dürfte für die aktuelle Diskussion über dessen Reformfahigkeit von Belang sein (vgl. zur aktuellen Reformdiskussion Heller und Moshabi 2001; Armipur und Amman 2006). Die theologische Gegenrichtung, die zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert zum Sunnitentum zusammengefasst und dogmatisiert wurde, interpretierte die Willensfreiheit im Sinne der Unterwerfung des Willens und Verstandes der Gläubigen unter das allmächtige Walten Gottes. Der Verstand sollte dafür genutzt werden, die Offenbarungen Gottes,
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wie sie im Koran und in den überlieferten Aussprüchen und Handlungen des Propheten zugänglich seien, zu interpretieren und zu befolgen. Die Offenbarung sei Ausdruck der göttlichen Rationalität, die der menschlichen Vernunft und Philosophie überlegen sei. Vernunft wurde also für den Glauben instrumentalisiert, so dass Vernunft und Glauben verschmolzen. Mit dem Dogma, dass Vernunft sich im Glauben vollendet, war ein Argument geschmiedet, mit dem sich die unbedingte Geltung der göttlichen Regelwerke absichern und die vernunftgeleitete Gestaltung der Regeln durch die Menschen blockieren ließen. Die Lehre der Mutaziliten konnte nur in der frühen Herrschaftszeit der Abbasiden zum Staatsdogma aufsteigen. Ab Mitte des 9. Jahrhunderts setzte sich das Sunnitentum durch. Es versprach eine überzeugendere theologische Grundlage, um die Einheit innerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaft zu sichern. In dem sunnitisch geprägten Gottes- und damit auch Weltbild fand die große Mehrheit der Muslime bis heute ihre Orientierung. Aber auch die Schiiten und andere Glaubensgemeinschaften waren und blieben Gegner der rationalen Theologie. Wie Nagel (1988, S. 16) feststellt, konnte das Sunnitentum zwar ein kohärentes Gottesverständnis formulieren und die im Koran angelegten Widersprüche zwischen Selbstverantwortung und Vorherbestimmung intellektuell vereinbaren, allerdings nur um den Preis der beklemmenden Beschneidung der Möglichkeiten der freien und vernunftgeleiteten Deutung und Gestaltung menschlichen Handelns. Koran und Sünna wurden folgerichtig als göttliche Offenbarungen und damit als veränderungsresistente Wahrheiten dogmatisiert. Die wichtigsten Vorschriften des islamischen Rechts sind in Kap. 3 dargestellt worden. Hier kommt es darauf an, die Ursachen für die Erstarrung des Rechts und darüber hinaus des kritischen Denkens aufzuzeigen. Der kurze Exkurs in die Geschichte der islamischen Theologie sollte darauf aufmerksam machen, dass der Islam im Laufe der Zeit ein spezifisches Gottesbild und damit auch ein religiös geprägtes Weltbild herausgebildet hat. Plakativ formuliert, lässt es sich als theonom-kommunitär, zugespitzt als theonom-totalitär bezeichnen. Es ist dem Glauben verpflichtet, dass es perfekte göttlich vorgegebene und damit unveränderbare Regeln des menschlichen Zusammenlebens gebe, denen sich die Gemeinschaft der Gläubigen zu unterwerfen habe. Dieser Glaube wird im Koran (3, 111) mit der Aussage bekräftigt, dass die muslimische Gemeinde die beste sei, die je unter Menschen entstand. Diese Überzeugung, die durch die sunnitischen und die schiitischen Theologen und Rechtsgelehrten untermauert wurde, musste die Erstarrung und Versiegelung der Denkens und damit der Institutionen begünstigen (vgl. auch Diner 2005, S. 25 ff.; ferner die autobiographisch geprägte Kritik von Hirsi Ali 2006). Die Entwicklung des islamischen Rechts bietet dafür das beste Beispiel. Die Erstarrung kommt in der Vorstellung zum Ausdruck, deren Ursprung auf das 10. Jahrhundert zurückdatiert wird, für die islamische Rechtswissenschaft sei das Tor der selbständigen Rechtsauslegung und Urteilsfindung geschlossen (vgl. Nagel 1988, S. 9). Die große Mehrheit der Rechtsgelehrten, die sich ja zuerst als Religionsgelehrte verstanden, war schon früh der Überzeugung, alle wichtigen Rechtsfragen seien geklärt, weshalb aktuelle Fragen stets im Geiste der bereits systematisierten religiösen Vorgaben zu lösen seien. Die eigenständige Veränderung der göttlichen Regeln musste daher als häretische
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Verfehlung angesehen werden. Auch andere Religionen waren und sind anfällig für den absoluten Wahrheitsanspruch. Im Islam war und ist dieser deshalb charakteristisch, weil er einen von der Glaubenslehre nicht trennbaren Entwurf einer neuen, universalen Gesellschaftsordnung enthält. Mit Klingmüller (1980, S. 406) ist daher der eigentliche „Geburtsfehler" des islamischen Rechts darin zu sehen, dass es im Unterschied zum europäischen Recht nicht aus der Staatsräson, sondern aus der Religion entstanden ist. Das islamische Recht ist das Produkt von Rechtstheologen, die text- und traditionsbezogen und nicht primär praktisch-problembezogen gedacht haben. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass die Rechtssicherheit sich am besten aus der Befolgung der göttlich offenbarten Regeln durch die Gemeinde der Gläubigen einstelle. Daraus ergibt sich ein islamspezifisches Staatsverständnis. Ungeachtet der in den verschiedenen islamischen Ländern meist als koloniales Erbe übernommenen Idee eines säkularen Rechtsstaats, ist doch die Vorstellung vom Gottesstaat nach dem Muster der Urgemeinde in Medina als Idealbild im islamischen Weltbild tief verwurzelt. Die Urgemeinde wird deshalb als Vorbild angesehen, weil sie den göttlich offenbarten Regeln entsprach und weil der Prophet sie unter göttlicher Anleitung geführt habe. Die prophetische Führung galt und gilt als Inbegriff der legitimen Herrschaft, weil sie mit dem göttlichen Willen vollständig übereinstimmte. Die staatliche Herrschaft kann daher nur in dem Maße als legitim und gottgefällig gelten, in dem sie dem Vorbild der prophetischen Führung zu entsprechen vermag. Auch hier wird wieder die religiös geprägte Vorstellung evident, dass sich die Einheit zwischen den staatlichen Herrschern und den Beherrschten in der Befolgung der religiösen Regeln quasi von selbst einstelle. Dabei erscheint die konkrete Gestalt der Staats- oder Herrschaftsverfassung als nachrangige Frage. Die Einheit kann sowohl innerhalb autoritärer, oligarchischer, monarchischer oder demokratischer Herrschaftsformen zustande kommen, vorausgesetzt, die Souveräne und das Volk befolgen die im Koran und in der Sünna offenbarten und in der Scharia dogmatisierten göttlichen Regeln. Nagel (1981, S. 259) bringt dieses dem islamischen Weltbild eigene Staatsverständnis auf den Punkt: „Im Islam dagegen ist nur die Aufrechterhaltung der gottgewollten Ordnung von Belang, und man hat keine Form des Staates, die dies apriori am besten leisten könnte." In der hier exemplarisch für das islamische Rechts- und Staatsverständnis aufgezeigten religiösen Gebundenheit des Denkens ist das eigentliche Hindernis für die gesellschaftliche Regelteilung und für die davon abhängige marktwirtschaftliche Entwicklung und Arbeitsteilung zu sehen. Gemäß diesem Verständnis besteht der rechte Gebrauch der menschlichen Vernunft darin, sich den göttlichen Regeln des Zusammenlebens zu unterwerfen. Falls Änderungen des Regelwerkes erforderlich sind, haben sie im Einklang mit den göttlichen Vorgaben zu erfolgen, wobei der vernunftgeleitete Beitrag sich darin erschöpft, den Weg für den Einklang zu weisen. Die gelegentlich vertretene These, wonach dem Islam wegen des Glaubens an die göttliche Vorherbestimmung allen Weltgeschehens eine leichte Neigung zur fatalistischen Lebensführung innewohne, macht nur Sinn in Bezug auf die Regelebene, also in Bezug auf die vernunftgeleitete Gestaltung des Rechts und der Staatsverfassung. Die Verfassungs- und Rechtspolitik soll und kann deshalb im Islam nicht aus dem Schatten der göttlichen Vorgaben treten.
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Indirekt kommt diese religiöse Gebundenheit in den für viele islamische Länder charakteristischen verfassungsmäßigen Beschränkungen zum Ausdruck, wonach Recht und Gesetz nicht im Gegensatz zur Scharia stehen dürfen und wo die Kontrolle darüber speziellen Gremien und d. h. stets rechtstheologischen Autoritäten obliegt (vgl. Röhrich 1999, S. 90 ff ). Die mehr oder weniger offene oder verdeckte Aufsicht der rechtstheologischen Autoritäten über Politik und Gesellschaft ist also eine ungebrochene und fast durchgängige Eigenart islamischer Länder. Das Verhältnis zwischen Scharia und dem geltenden Recht lässt sich daher als Koexistenz zwischen religiösem und säkularem Recht kennzeichnen. Da die Scharia einem holistischen, theonom-kommunitären Staats, Rechts- und Gesellschaftsverständnis verpflichtet ist, das zudem von der Mehrheit der intellektuellen Eliten wie auch der großen Bevölkerungsmehrheit geteilt wird, stößt die institutionelle Entwicklung in Richtung einer pluralen und säkularen Teilung der Regelwerke auf inhärente dogmatische Hindernisse (vgl. zu empirischen Belegen Voigt 2005). Aufgrund des theonom-kommunitären Ordnungsideals kann die unübersehbare Dominanz autoritärer Herrschaftsstrukturen in der islamischen Welt nicht als historischer Zufall gewertet werden. Im Verständnis der Ökonomen sind autoritäre Herrschaftsstrukturen der fruchtbare Nährboden für rentensuchende Gesellschaften, zu denen die islamischen Länder durchweg zu zählen sind (vgl. Nienhaus 1997). Die Kategorie der Rentensuche steht für das Bestreben, mittels staatlicher Macht partikulare Vorteile in Gestalt von leistungslosen Renten, also Geld- und Vermögenstransfers zu Lasten anderer Gruppen zu erzielen. Das Ausmaß der Rentensuche dürfte überall dort intensiv sein, wo Religion, staatliche Herrschaft, Recht und Wirtschaft in enger Allianz stehen. Da diese Einheit in der Geschichte der islamischen Welt häufig der Fall war und bis heute ist, sollte es auch nicht überraschen, dass die systematische Rentensuche hier eine lange Tradition hat. Die Wurzeln lassen sich in die frühe Phase der islamischen Geschichte zurückverfolgen, in der die Produktion der Güter die Sache der unterworfenen ungläubigen Völker und Regionen war, deren Erträge die herrschenden Muslime als die wahren gläubigen Herrscher und Verwalter legitimerweise abschöpfen zu können glaubten. Dieses frühe Anspruchs- und Rentendenken hat sich im rückwärtsgewandten islamischen Weltbild verfestigt. Wie Simson (1998, S. 163) feststellt, kreist bis heute in der islamischen Welt das Denken um die Frage, wie man Mitglied der herrschenden Schichten wird, die sich Teile des Sozialprodukts ohne eigene Leistungen aneignen können. Allein die Erfahrung der Bevölkerungsmehrheiten, dass der Zugang zu rententrächtigen Positionen im staatlichen Bereich limitiert ist, schürt das Misstrauen gegenüber den wenigen und privilegierten Amtsinhabern, von denen eine willkürliche Amtsführung als Normalverhalten erwartet und befürchtet wird. Damit schließt sich der Wirkungszusammenhang zwischen dem islamischen Ideenund Institutionensystem und der wirtschaftlichen Entwicklung. Weil das Vertrauen der großen Mehrheit der Bevölkerung in Staat und Recht gering ist und weil die staatlichen Amtsinhaber mangels einer klaren Gewaltenteilung und mangels einer freien zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit nur unzulänglich kontrolliert werden, ist der Grad des Vertrauens in die Verlässlichkeit von Staat und Recht und - dadurch mitverursacht auch in die Verlässlichkeit anonymer Geschäfts- und Tauschpartner gering, wodurch
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der Grad der Arbeitsteilung begrenzt und damit letztlich die wirtschaftliche Entwicklung behindert wird.
5. Schlussbemerkungen Die in Kap. 4 ausgebreitete These, dass die islamische Religion aufgrund ihrer holistisch-theonomen Gesellschaftskonzeption die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigt, entspricht nicht der in der Islamwissenschaft vorherrschenden Auffassung von der entwicklungsfördernden, zumindest aber neutralen Wirkung der islamischen Religion. Als ein Vertreter dieser Auffassung sei der anerkannte Islamexperte Rodinson (1986, S. 157) angeführt, der die wirtschaftliche Stagnation in der islamischen Welt historisch auf die politisch vorgegebenen hohen Abgabelasten der Bauern und sonstigen Produzenten zurückfuhrt: „Noch einmal, nichts von all dem hängt mit der mohammedanischen Religion zusammen." Die etwas abgeschwächte Version in Gestalt der Neutralitätsthese vertritt der deutsche Islamkenner Nienhaus (1997, S. 367), für den die wirtschaftliche Misere in vielen islamischen Ländern mit dem Islam „nichts zu tun" hat. Ähnlich argumentiert Weede (2000, S. 171), für den es „... nicht der Inhalt der Religion (ist), sondern die politische Ordnung, die für die Rechtsunsicherheit im Islam verantwortlich ist." In diesen exemplarisch angeführten Erklärungen werden also politische Einflussfaktoren bemüht, ohne jedoch die dafür mitverantwortlichen religiösen und ideellen Faktoren angemessen zu berücksichtigen. Die Erklärungen beruhen weitgehend auf der oben knapp erläuterten engen quellen-exegetischen Methode. Die verbindlichen religiösen Texte und rechtlichen Gebote werden auf ihren wirtschaftlichen Gehalt hinterfragt und als faktisch verhaltensbestimmende Maßstäbe unterstellt. Dabei bleiben die Genese und Struktur des Ideen- und Institutionensystems einschließlich der wirtschaftlichen Einbettung der Wirtschaft in dieses System unterbelichtet. Deshalb ist die quellenexegetische Methode durch einen ideen- und institutionenexegetischen bzw.-genetischen Erklärungsansatz zu ergänzen. Wählt man diesen methodischen Zugang für die Analyse des Zusammenhangs zwischen islamischer Religion und wirtschaftlicher Entwicklung, so gelangt man zu der eher kritischen Schlussfolgerung, dass die ideelle Erstarrung und die dadurch bedingte institutionelle und wirtschaftliche Stagnation zwar nicht ausschließlich, aber doch ursächlich in religiösen Faktoren zu verorten sind. Der im Zuge der frühen theologischen, rechtlichen und politischen Debatten erfolgte Ausbau des Glaubens zur Festung der islamischen Gemeinde hat zur Verfestigung und Versiegelung des Denkens beigetragen und die flexible und vernunftgeleitete Ausgestaltung der institutionellen und wirtschaftlichen Teilordnungen behindert. Die normative Schlussfolgerung aus diesem ideengeschichtlich gewonnenen Befund ist evident: Das Tor der eigenständigen Auslegung der religiösen Quellen, das vor gut tausend Jahren aufgrund der Verkettung der historischen Umstände geschlossen wurde, ist wieder zu öffnen. Wie in Kap. 4 gezeigt, stand dieses Tor in der glorreichen Frühzeit des Islam über Jahrhunderte offen. Die erneute Öffnung erscheint am ehesten möglich, wenn die religiösen Quellen in ihrem historischen Kontext angemessen reflektiert und zeitgemäß interpretiert werden. Dazu gibt es ja eine Reihe von Reformansätzen (vgl. dazu Amipur und Ammann 2006). Warum sollte also in einer wissenschaftlich aufge-
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klärten u n d z u n e h m e n d z u s a m m e n w a c h s e n d e n Welt nicht das m ö g l i c h sein, w a s vor m e h r als tausend Jahren möglich w a r ?
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Kulturelle Determinanten der wirtschaftlichen Entwicklung' Inhalt 1.
Kultur als explikativer Notnagel
192
2.
Zur Vielfalt der Kulturverständnisse
193
3.
Das klassische Kulturverständnis
193
4.
Das kognitiv-heuristische Kulturverständnis
194
5.
Kultur aus institutionenökonomischer Perspektive
196
6.
Begriff und Typen der Institutionen
197
7.
Institutionen als Güter sui generis
199
8.
Die institutionelle Entwicklung aus evolutorischer Perspektive
203
9.
Einige Weichenstellungen der europäischen Entwicklung
206
10. Das Webersche Verständnis der europäischen Entwicklung
208
11. Einige Eigenarten des russischen Institutionengefuges
210
Erstdruck in: Hans-Hermann Höhmann und Heiko Pleines (Hg.), Wirtschaftspolitik in Osteuropa zwischen ökonomischer Kultur, Institutionenbildung und Akteursverhalten: Rußland, Polen und Tschechische Repbulik im Vergleich, Bremen 2003, S. 14-41.
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1.
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Kultur als explikativer Notnagel
Die Beschäftigung der Ökonomen mit der Kultur hat in der Vergangenheit bis hin zur Gegenwart stets dann eine Konjunktur erlebt, wenn wirtschaftliche Entwicklungen mit den bewährten Theorien nicht hinreichend erklärt werden konnten. Vor zwei Jahrzehnten waren es die Wachstumserfolge der ostasiatischen Länder, die das Interesse auf die asiatischen Werte und Kultureigenarten lenkten.1 Deren positive Einschätzung hat sich im Laufe der Zeit merklich abgekühlt. Ein Jahrzehnt später waren es dann die unübersehbaren Unterschiede bei der Umgestaltung der Wirtschaft und des Staates zwischen den ostmitteleuropäischen und den ost- und südosteuropäischen Ländern, die eine Rückbesinnung auf deren Kultur und Geschichte auslösten. Die Versuche, die Kultur als explikativen oder heuristischen Notnagel aus dem Werkzeugkasten hervorzukramen und als zusätzliche Erklärungsvariable einzuschlagen, lassen sich in der Geschichte der Ökonomie weiter zurückverfolgen. Erinnert sei an die diversen Ansätze der Historischen Schule, den unterschiedlichen Industrialisierungsgraden innerhalb und außerhalb Europas mithilfe der Kategorien des Volks- und Wirtschaftsgeistes sowie der Kulturund Wirtschaftsstile auf die Spur zu kommen. Der vereinzelt anvisierte Umbau der Nationalökonomie zur Kulturwissenschaft scheiterte, weil es dafür eines adäquaten theoretischen Unterbaus entbehrte. Die angeführten Kategorien zur Erfassung der historischkulturellen Vielfalt des Wirtschaftens blieben leere Begriffsgebilde, in deren Prokustesbett die Vielfalt der empirischen Faktoren gezwängt wurde.2 Ein ähnliches Schicksal droht dem Großteil der aktuellen Ansätze zur Erfassung der kulturellen Determinanten des Wirtschaftens. Exemplarisch genannt seien Kategorien wie das Sozialkapital, die Zivilgesellschaft, die informellen Institutionen oder die mentalen bzw. kognitiven Modelle und Schemata der Weltsicht. Diese Kategorien bleiben so lange unbestimmt und leer, solange sie nicht durch eine klare Problemstellung und theoretische Problemerklärung fundiert sind. Die vor allem von Soziologen in die Kulturdiskussion eingebrachte Kategorie des Sozialkapitals mag dafür als Beispiel dienen. Die vielfältigen Definitionen des Sozialkapitals sind alleine deshalb verwirrend, weil sie mal auf Bestandsgrößen wie Normen, Werte und Netzwerke, mal auf Stromgrößen wie vertrauliche Beziehungen, Erträge und reziproke Vorteile abstellen. Gleiches gilt für die Kategorie der Zivilgesellschaft. Sie bleibt nach Kocka unbestimmt, weil bisher eine „... ausformulierte sozialwissenschaftliche Theorie der Zivilgesellschaft fehlt". 3 Wie im folgenden Abschnitt zu zeigen ist, gilt dieses Verdikt noch mehr für die verschiedenen Kategorien und Verständnisse zur Erfassung der Kultur.
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3
Vgl. Carsten Herrmann-Pillath, Wirtschaftsordnung und Kultur aus evolutorischer Sicht, in: Helmut Leipold und Ingo Pies (Hg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik: Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven, Stuttgart 2000, S. 371-400. Vgl. Helmut Leipold, Die große Antinomie der Nationalökonomie: Versuch einer Standortbestimmung, in: ORDO, Bd. 49, 1998, S. 15-42. Jürgen Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: Manfred Hildermeier, Jürgen Kocka und Christoph Conrad (Hg.): Europäische Zivilgesellschaft in Ost
und West, Frankfurt a. M. und New York 2000, S. 13-41, hier: S. 21.
Kulturelle Determinanten der wirtschaftlichen
2.
Entwicklung
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Zur Vielfalt der Kulturverständnisse
Kaum ein Begriff hat im Laufe der Zeit so viele Umdeutungen erfahren wie jener der Kultur. Von Kulturanthropologen sind mehr als 150 Kulturbegriffe registriert worden.4 Die Mehrdeutigkeit ist schon im lateinischen Wortstamm „colere" angelegt, was ursprünglich hegen und pflegen der Natur bedeutete. Daraus entstanden die Begriffe „cultus" und „cult", womit Gewohnheiten und Techniken der Pflege gemeint waren, die später zur Kultur erhöht wurden.5 Da die Pflege auf die Kultivierung der Natur gerichtet war und ist, vereinigt der Kulturbegriff vom Ursprung her sowohl das Moment der Bewahrung als auch der Veränderung der Gewohnheiten und Techniken, womit das Janusgesicht der späteren Kulturverständnisse vorgezeichnet war. Die Vieldeutigkeit erfuhr durch die normative Verklärung einzelner kultureller Gewohnheiten und Lebensformen sowie der geistig-künstlerischen Welt gegenüber der technisch-zivilisatorischen Welt noch eine weitere Steigerung.
3.
Das klassische Kulturverständnis
Im klassischen und maßgeblich von J. G. Herder inspirierten Verständnis steht der Begriff der Kultur für spezifische Werte, Lebensformen und Artifakte einzelner Völker und Gruppen. Eine häufig zitierte Version dafür stammt von dem englischen Anthropologen E.B. Tylor aus dem Jahre 1871. Er definierte Kultur als das komplexe Ganze, das Wissen, Glaube, Sitte, Recht, Brauch und alle anderen Fähigkeiten und Gewohnheiten einschließt, die Menschen als Mitglieder einer Gesellschaft oder Gruppe erworben haben.6 Die Mängel dieses denkbar weitgefaßten Kulturverständnisses sind offensichtlich. Zunächst vermißt man ein Kriterium, auf das hin die Eigenarten und Unterschiede zu beziehen und zu identifizieren sind. Der Einschluß der angeführten Bestandteile der Kultur, insbesondere aller Fähigkeiten und Gewohnheiten, führt zur Gleichsetzung von Kultur und Gesellschaft, was wenig sinnhaft ist. Das Verständnis der Kultur als komplexes Ganzes verleitet ferner dazu, die intrakulturellen Eigenarten etwa zwischen sozialen Schichten, zwischen ethnischen Gruppen und Generationen oder zwischen Regionen aus dem Blick zu verlieren. Zudem bleibt bei der implizit unterstellten These der kulturellen Prägung aller sozialen Regel-, Lebens- und Gewohnheitsformen die Frage offen, woraus sich der kulturelle Wandel speisen kann oder soll. Im klassischen Kulturverständnis kann dieser Wandel eigentlich nur durch interkulturelle Kontakte und durch Übernahme kulturexterner Eigenarten bewirkt werden. Die offensichtlichen Mängel des klassischen Kulturverständnisses mußten von daher modifizierte Konzepte provozieren.
4 5 6
Vgl. Karl-Heinz Kohl, Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden, München 1993, S. 130. Vgl. Terry Eagleton, Was ist Kultur? Eine Einführung, München 2001, S. 8. Edward B. Tylor, Primitive Culture, Bd. 1, London 1871, S. 1.
194
4.
Helmut Leipold
Das kognitiv-heuristische Kulturverständnis
Als das aktuell nach wie vor vorherrschende Konzept sei hier das kognitivheuristische Kulturverständnis erwähnt und kommentiert. 7 Danach wird Kultur als das von Mitgliedern einer Gesellschaft oder Gruppe geteilte System von Bedeutungen und Bewertungen der übernatürlichen, der natürlichen und der sozialen Welt verstanden, das den Bereich des gemeinsamen Denkens und Handelns bestimme. Es werden also kognitive Modelle oder Schemata des Realitätsbezugs, damit der Wahrnehmung und Bewertung der Welt, unterstellt, mit deren Hilfe die reale Vielfalt in handhabbare und gemeinsam verläßliche Bedeutungen und Bewertungen reduziert wird. Kulturelle Eigenarten werden auf mehr oder weniger bewußte oder unbewußte Prozesse der Verständigung und des Aushandelns von Bedeutungen und Bewertungen der realen Mannigfaltigkeiten zurückgeführt, womit der temporäre, gruppenspezifische und daher wandelbare Charakter der Kultur betont werden soll. Für die vergleichende Kulturforschung verbindet sich damit der Auftrag, einzelne Bereichskulturen als zwar temporär geschlossene, jedoch wandelbare Bewertungs- und Bedeutungssysteme zu analysieren und verstehend auszudeuten. In der zusammenfassenden Charakterisierung des kognitiven Kulturverständnisses von Wimmer wäre „... Kultur als ein offener und instabiler Prozeß des Aushandelns von Bedeutungen zu definieren, der kognitiv kompetente Akteure in unterschiedliche Interessenlagen zueinander in Beziehung setzt und bei einer Kompromißbildung zur sozialen Abschliessung und entsprechenden kulturellen Grenzmarkierung führt."8 Kultur als geteilte Systeme von Bedeutungen und Bewertungen der realen Vielfalt wurzelt gemäß diesem Verständnis zwar in der Geschichte, unterliegt aber permanenten Wandlungen, wobei nunmehr das Moment der Veränderbarkeit gegenüber der Bewahrung die Oberhand gewinnt. Auf diese Weise lassen sich zwar der kulturelle Wandel und die intrakulturelle Vielfalt erklären. Dennoch weist auch dieses modifizierte Verständnis methodische und explikative Mängel auf. Es ermangelt - analog zum klassischen Verständnis - an einem theoretisch begründeten Maßstab, auf den sich die unterschiedlichen Bedeutungen und Bewertungen beziehen und demgemäß unterscheiden lassen. Alles menschliche Zusammenleben war und ist stets durchtränkt von gemeinsam geteilten Bedeutungen und Bewertungen der Welt. Welche davon sind wichtig, welche sind kulturspezifisch und welche sind weshalb verhaltensbestimmend? Wenn die Essenz der Kultur in temporär und partiell geteilten Bedeutungen und Bewertungen gesehen wird, die aushandelbar und wandelbar sein sollen, stellt sich die simple Frage, weshalb offensichtlich unproduktive Formen und Regeln des Zusammenlebens über lange Zeiträume beibehalten werden und nicht durch erfolgsträchtigere Bedeutungs-, Bewertungs- und Verhaltensmuster ersetzt werden, wofür es ja im Zeitalter der weltweiten Kommunikation genü7
8
Vgl. Claudia Strauss and Naomi Quirin, A Cognitive Theory of Cultural Meaning, Cambridge 1997; Paul DiMaggio, Culture and Cognition, in: Annual Review of Sociology, Vol. 23, 1997, S. 263-287. Andreas Wimmer, Kultur: Zur Reformulierung eines sozialanthropologischen Grundbegriffs, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Nr. 3, 1996, S. 401-425, hier: S. 413.
Kulturelle Determinanten der wirtschaftlichen
Entwicklung
195
gend Vorbilder gäbe. Der Verdacht drängt sich auf, dass es sich bei den exemplarisch angeführten Kategorien um ähnlich leere Begriffsgebilde wie bei denen der Historischen Schule handelt. Das methodische Kernproblem aller Begriffe und Verständnisse der Kultur hat bereits Max Weber in aller Klarheit offengelegt. Seiner Überzeugung gemäß ist Kultur „... ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens."9 Kultur ist nach Max Weber also als Kategorie zu verstehen, die selber durch die ihr zubedachten Sinn- und Bedeutungsgehalte seitens der sie erforschenden Menschen erst konstruiert und konstituiert wird. Den als konstitutiv erachteten Sinn- und Bedeutungsgehalt interpretiert er als „Wertidee" oder als „Wertbeziehung", mithin als eine vom jeweiligen Erkenntnisinteresse angeleitete Wertung. Solche Wertungen liegen freilich der Auswahl und kategorialen Erfassung aller Forschungsobjekte zugrunde. Insofern bildet die Kulturforschung hier keine Ausnahme. Ein methodisches Sonderproblem kann allenfalls darin gesehen werden, dass die extern vorgenommene Wertung bezüglich Sinn und Bedeutung von Kulturen selber aus einer kulturgebundenen Sicht erfolgt. Von daher scheint es geboten, deskriptive und explikative Aussagen über kulturelle Eigenarten soweit wie möglich im Wege des transkulturellen Diskurses und des kulturellen Vergleichs zu klären.10 Auf die bis heute lehrreichen kulturellen Vergleichsstudien von Max Weber wird an späterer Stelle noch einzugehen sein. Die kursorische Übersicht sollte die Mehrdeutigkeit und den Wandel des Kulturverständnisses verdeutlichen. Das klassische, primär von Ethnologen geprägte Verständnis ist zu umfassend, zu einheitlich und zu statisch, während die angeführten jüngeren Konzeptionalisierungsversuche die Offenheit, Veränderbarkeit und Auslegbarkeit der Kultur überbetonen. Das angemessene Kulturverständnis scheint in der Mitte zu liegen. Kultur war und bleibt stets eine konstruierte und konsensual geltende Kategorie, deren Verständnis je nach den Fragestellungen und methodischen Zugängen verschieden ausfällt. In dem gelegentlich geäußerten Vorschlag, den Kulturbegriff aus dem wissenschaftlichen Vokabular zu streichen, kann deshalb keine Lösung gesehen werden, weil die ausgeführten alternativen Konzepte zur Erfassung der räum- und zeitbezogenen Eigenarten der Regeln des menschlichen Zusammenlebens analogen Verständnisproblemen und Mehrdeutigkeiten unterliegen." Man wird wohl mit verschiedenen und konkurrierenden Kulturverständnissen alleine schon deshalb leben müssen, weil Kultur ein wichtiger Bestandteil der Alltagssprache war, ist und bleiben wird. Im Wissenschaftsbereich sollten jedoch nur solche kulturellen Theorieansätze als seriös gelten, denen operationale und theoriebegründete Kriterien für die Identifizierung und Erklärung von raum-
9
10
Max Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 146-214, hier: S. 180. Vgl. Carsten Herrmann-Pillath, Wirtschaftsordnung und Kultur aus evolutorischer Sicht, in: Helmut Leipold und Ingo Pies, (Hg.): Ordnungstheorie und Ordnungspolitik: Konzeptionen
11
und Entwicklungsperspektiven, Stuttgart 2000, S. 371-400. Ebenda, S. 376.
196
Helmut
Leipold
und zeitspezifischen Eigenarten sozialer Beziehungen zugrunde liegen. Wie läßt sich dieses Postulat für die hier interessierende Frage nach dem Beziehungszusammenhang zwischen Kultur und wirtschaftlicher Entwicklung einlösen? Welche methodischen und theoretischen Möglichkeiten stehen den Ökonomen dafür zur Verfügung? In den folgenden Ausfuhrungen soll zur Beantwortung dieser Frage ein eigenständiges institutionenökonomisch begründetes Kulturverständnis vorgestellt werden.
5.
Kultur aus institutionenökonomischer Perspektive
Auch wenn man als Ökonom die Vorteile einer interdisziplinär konzipierten Analyse des Bedingungszusammenhangs zwischen Kultur und Wirtschaft anerkennt, sollten Ökonomen bei diesem Unterfangen nicht dilettieren. Deshalb scheint es geboten, den Zusammenhang mit Hilfe der bewährten Methoden und Instrumente der Ordnungs- oder Institutionenökonomik zu erfassen und zu erklären. Stichwortartig sei der methodologische Individualismus genannt, den es durch eine adäquate Erfassung kulturspezifischer Beschränkungen des Rationalverhaltens zu verfeinern gilt. Da es eine einhellig anerkannte Institutionentheorie weder gibt noch geben wird, stellt sich bei diesem Postulat das zuvor für die Kultur erörterte Problem nach dem Maßstab, auf den sich kulturell verhaltensbestimmende Beschränkungen beziehen und unterscheiden lassen. Das Problem läßt sich exemplarisch anhand der Kategorie der informalen Institutionen verdeutlichen, die zunehmend als Substitut für die Erfassung kultureller Eigenarten bemüht werden. Offensichtlich handelt es sich bei dieser Kategorie ebenso wie bei jener der Kultur um eine konstruierte, mit Sinn und Bedeutung bedachten Kategorie. Nach welchem Maßstab jedoch sind Sinn und Bedeutung der informalen wie auch der formalen Institutionen zu bemessen und zu unterscheiden? Für den Ökonomen drängt sich das Knappheitsproblem auf, hier jedoch bezogen auf die Ebene der Institutionen. Üblicherweise beschäftigen sich Ökonomen mit der Knappheit materieller Güter und Dienste und mit deren bestmöglicher Minderung im Wege arbeitsteiliger Spezialisierungs-, Tausch- und Kooperationsprozesse. Diese Prozesse entwickeln sich nach Maßgabe der wechselseitig verläßlich geltenden und geteilten Regelwerke. Folglich sind unterschiedliche Grade der wirtschaftlichen Spezialisierung, des arbeitsteiligen Tausches und der Kooperation ursächlich auf unterschiedliche Grade der Spezialisierung und Teilung der Regeln der gesellschaftlichen Kooperation zurückzuführen. Aufgrund dieser elementaren Bedingungszusammenhänge, die in den folgenden Ausführungen noch näher zu begründen sind, ist in der gesellschaftlichen Teilung und wechselseitigen Akzeptanz der Institutionen bzw. Regeln der sozialen Kooperation das originäre und ewig aktuelle Knappheitsproblem der Institutionen- und damit auch der Kulturtheorie zu verorten. Es gilt also die Frage zu beantworten, weshalb Institutionen knappe Güter sind, weshalb die Entwicklung und Teilung der Institutionen in der Geschichte und in einzelnen Kulturen so zählebig verlaufen sind und weshalb einzelne Kulturen unterschiedliche Lösungen des institutionellen Knappheitsproblems gefunden haben und sich demgemäß unterscheiden. Es versteht sich von selbst, dass diese Basisfragen der vergleichenden Kultur- oder Institutionentheorie im folgenden nur ansatzweise geklärt werden können. Die Ausfuhrungen sollen dazu anregen, den Zusammenhang zwischen kulturspezifi-
Kulturelle Determinanten der wirtschaftlichen
Entwicklung
197
sehen Institutionengefiigen und Wirtschaft systematisch als komplementäres Knappheitsproblem zu erfassen und zu erklären.
6.
Begriff und Typen der Institutionen
Nach dem in den verschiedenen institutionenökonomischen Ansätzen vorherrschenden Verständnis verkörpert eine Institution eine Regel (bzw. Regelmenge) in zwischenmenschlichen Beziehungen, die erstens bestimmte Verhaltensweisen gebietet oder verbietet, die also den Raum des zulässigen Verhaltens beschränkt und so Beziehungen ordnet, die zweitens entweder unintendiert entstanden ist oder bewußt gesetzt bzw. vereinbart wird und die drittens entweder gewohnheits- oder überzeugungsbedingt verläßlich befolgt oder aber durch spezielle Autoritäten notfalls durch Zwang zur Geltung gebracht wird. Institutionen verleihen sozialen Beziehungen eine Regelmäßigkeit, wodurch mehr oder weniger verläßliche Erwartungen über Verhaltensweisen der Mitmenschen gebildet und Vertrauensbeziehungen möglich werden können. Je nach dem Grad der Befolgung geltender Regeln und den hieraus resultierenden Anreizen werden Verlauf und Ergebnisse sozialer Beziehungen einschließlich der arbeitsteiligen wirtschaftlichen Austauschbeziehungen systematisch beeinflußt. 12 Die nachfolgend vorgestellte, spieltheoretisch inspirierte Institutionentypologie unterscheidet zwischen selbstbindenden und bindungsbedürftigen Institutionen. Als Kriterium dafür liegen die Grade der Konvergenz bzw. der Rivalität von Interessen in sozialen Beziehungen zugrunde, die ja Reflex der relativen Knappheiten sozial begehrter Güter (Ämter, Sexualpartner, Privilegien, Dienste u.a. Güter) sind.' 3 In konfliktarmen und deshalb sozial unproblematischen Interessenbeziehungen fallen die Einigung und wechselseitige Befolgung von Regeln relativ einfach aus. Weil sie selbstinteressiert befolgt werden, seien sie als selbstbindende Institutionen bezeichnet. Klassische Beispiele sind Konventionen, also Sitten, Gebräuche, Rituale und andere kulturspezifische Gewohnheiten. Davon unterscheiden sich konfliktträchtige und deshalb sozial problematische Interessenbeziehungen, wie sie sich spieltheoretisch durch mixed-motive-games und hierbei in klassischer Form durch das Gefangenendilemmaspiel modellieren lassen. Hierbei fallen die Einigung auf und die Befolgung von Regeln deshalb schwer, weil die für alle Beteiligten potentiell vorteilhafteste Regel den Verzicht auf die individuell bestmögliche Alternative verlangt. Es sind also Beschränkungen oder Bindungen des Selbstinter12
Vgl. Douglass C. North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, S. 3-4.
13
Vgl. Helmut Leipold, Informale und formale Institutionen: Typologische und kulturspezifische Relationen, in: Helmut Leipold und Ingo Pies, (Hg.): Ordnungstheorie und Ordnungspolitik: Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven, Stuttgart 2000, S. 401-428; Helmut Leipold, Kulturspezifische Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Regelteilung und wirtschaftlicher Arbeitsteilung, in: Thomas Eger (Hg.), Kulturelle Prägungen wirtschaftlicher Institutionen und wirtschaftspolitischer Reformen, Berlin 2002, S. 17-46; Helmut Leipold, Funktionen und Formen der Zivilgesellschaft, in: Chr. Meier, H. Pleines und H.-H. Schröder (Hg.), Ökonomie - Kultur - Politik: Transformationsprozesse in Osteuropa, Bremen 2003, S. 82-107.
198
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esses gefragt, weshalb dieser Regeltyp als bindungsbedürftige Institution bezeichnet wird. Der Verzicht auf die situativ häufig vorhandene bestmögliche Vorteilsnahme setzt moralische Bindungen voraus. Daraus leitet sich die elementare Frage ab, welche Antriebe die Individuen dazu befähigen, sich auf moralische Bindungen einzulassen und sie verläßlich einzuhalten. Ich kann nur drei Quellen moralischen Verhaltens erkennen: Erstens die genetisch freilich schwach angelegten natürlichen Anlagen, also die sogenannten moralischen Gefühle (emotio). Zweitens der rational nicht begründbare Glaube (credo) an die Existenz transzendenter Wesenheiten (Geister, Ahnen, Götter, Gott) mit einer eigenmächtigen, meist offenbarten Ordnungs- und Kontrollfunktion der individuellen oder sozialen Verhältnisse. Der geistige Zwilling des religiösen Glaubens bilden die von säkularen Ordnungsentwürfen oder Ideologien gespeisten und rationalen Argumenten nur bedingt zugänglichen Überzeugungen, weshalb sie kategorial dem Glauben zugeordnet werden sollen. Es bleibt drittens die dem Menschen eigene Vernunft (ratio), die dazu befähigt, die individuellen und sozialen Folgen alternativer Regelarrangements abzuwägen und sich für sozial vorteilhafte Regeln zu entscheiden und sie in rechtlich verbindlicher Form zu kodifizieren. Gemessen an formalen Kriterien rationalen Handelns ist Vernunft eine universale Kategorie. Als substantielle Kategorie ist Vernunft dagegen als kulturspezifische, weil von der räum- und zeitbezogenen vorherrschenden Weltsicht geprägte Kategorie einzuschätzen. Von daher erklärt sich, weshalb die im Namen der Vernunft begründeten Vorstellungen eines Piatons oder Konfuzius über die ideale oder rationale Ordnung des menschlichen Zusammenlebens sich von denen eines J. Locke oder I. Kant unterscheiden. Die originären Ordnungsfaktoren, also die moralischen Gefühle, der religiöse Glauben bzw. die ideologischen Überzeugungen und die kritische Vernunft, liefern das Kriterium für die Unterscheidung der bindungsbedürftigen Institutionen in — emotional gebundene Institutionen — religiös gebundene Institutionen — ideologisch gebundene Institutionen und — rechtlich erzwingbare Institutionen. Es handelt sich bei dieser Typologie um reine Typen, zwischen denen in der realen Welt eigenständige Verbindungen bestehen. Das historisch gewachsene Gefüge dieser bindungsbedürftigen Institutionen macht den eigentlichen Kern einer jeden Kultur aus. Die produktive Regelung konfliktträchtiger Interessenbeziehungen ist deshalb zeit- und raumunabhängig ein problematisches Unterfangen, weil es Beschränkungen der Selbstinteressen und die angemessene Anerkenntnis der Interessen anderer Individuen voraussetzt. Verlangt sind moralische Bindungen, deren Geltung stets und überall prekär ist, weshalb Moral und damit auch die Regelgeltung knappe Güter sind.
Kulturelle Determinanten der wirtschaftlichen
7.
Entwicklung
199
Institutionen als Güter sui generis
Sind Institutionen öffentliche Güter? Die Dimension der Institutionen als knappe Güter kommt wohl am augenfälligsten in der Tatsache zum Ausdruck, dass die Menschheit in ihrer Geschichte für die Sicherung der inneren und äußeren Ordnung mehr Anstrengungen und materielle Ressourcen aufwenden mußte als für die Sicherung des genuin wirtschaftlichen Lebensunterhalts.14 Sieht man einmal von genetisch angelegten Beschränkungen des Verhaltens ab, so waren und sind Regeln nicht vorgegeben, sondern zu erfinden, zu befolgen, generationenübergreifend per Erziehung und Bildung weiterzugeben und weiterzuentwickeln. Regeln sind dabei ein Gut sui generis, über dessen Merkmale unter Ökonomen allerdings kein Konsens besteht. In der Institutionenökonomik ist es üblich, Regeln oder Institutionen als öffentliches Gut und speziell als öffentliches Kapitalgut (Sozialkapital) zu interpretieren.15 Öffentliche Güter unterliegen bekanntlich dem Nichtrivalitäts- und dem Nichtausschlußprinzip, wofür technische Unteilbarkeiten und hohe Ausschlußkosten bei der Nutzung verantwortlich sind. Mit diesen Prinzipien lassen sich jedoch die besonderen Merkmale der Ordnungsregeln nicht adäquat erfassen. Das Nichtrivalitätsprinzip bei der Nutzung bzw. Befolgung von geltenden Regeln greift insofern zu kurz, als jedes zusätzliche Individuum, das eine Regel verläßlich befolgt, für die anderen beteiligten Individuen den Nutzen erhöht, also positive externe Effekte stiftet. Analoge Erklärungsdefizite gelten für das Ausschlußprinzip. Bezogen auf die klassischen öffentlichen Güter, besteht hierbei für selbstinteressierte Individuen bekanntlich ein Anreiz, sich von deren Erstellung und Finanzierung, nicht jedoch von deren Nutzung ausschließen zu wollen, weshalb die spontane, marktmäßige Bereitstellung dieser Güter meist scheitert und von daher staatlich zu erzwingen ist. Für das Zustandekommen und die Befolgung von Regeln gelten aber andere Anreize. Selbstbindende Institutionen entstehen meist spontan und werden von eigeninteressierten Individuen in aller Regel auch freiwillig befolgt. Dagegen bestehen beim Zustandekommen und noch mehr bei der Befolgung bindungsbedürftiger Institutionen Anreize, nicht nur keinen Beitrag für das Zustandekommen beizusteuern, sondern sich darüber hinaus bei der Befolgung (Nutzung) bestehender Regeln isoliert auszuschließen. Von daher ergibt die übliche Klassifizierung der Institutionen als öffentliche Güter wenig Sinn. Es ist also ein Umdenken geboten. Im folgenden soll daher eine eigenständige Güterinterpretation vorgestellt werden. Die Besonderheiten und Anreize für das Zustandekommen und die Befolgung von Regeln erscheinen in einem anderen Licht, wenn selbstbindende Institutionen als Netzwerkgut und bindungsbedürftige Institutionen als Moralgut konzipiert werden.
14
So auch die Einschätzung von Ernest Gellner, Bedingungen der Freiheit: Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, Stuttgart 1995, S. 155 und S. 178.
15
Vgl. James M. Buchanam, Die Grenzen der Freiheit: Zwischen Anarchie und Leviathan, Tübingen 1984, S. 183.
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Selbstbindende Institutionen als Netzwerkgut Netzwerkgüter sind eine relative neuartige Güterkategorie, die durch das Aufkommen moderner Kommunikationsgüter entstand. Dabei fiel auf, dass deren Nutzen nicht nur von der Qualität und Quantität des individuellen Konsums, sondern auch von der Zahl der Nutzer abhängt. Augenfällige Beispiele sind Telefonapparate oder Faxgeräte, deren isolierte Nutzung keinen Nutzen stiftet. Der Nutzen entsteht und steigt dagegen mit der Zahl der anwählbaren Personen. Die Kommunikation ist darüber hinaus an die gemeinsame Akzeptanz von Standards gebunden. Weil der Nutzen (Ertrag) der Güter mit zunehmender Zahl der Anwender ansteigt, kann die Marktentwicklung eigenen Bedingungen unterliegen. Wichtig sind die oft zufalligen Umstände für die ersten Anwendungen sowie die sich selbstverstärkenden Effekte im Zuge der zunehmenden Anwendungen. Beide Bedingungen können einen pfadabhängigen Verlauf der Technologieund damit auch der Marktentwicklung begründen. Auf Einzelheiten der nachfolgenden Kontroversen über die Frage, ob die pfadabhängige Technologieentwicklung eine neue Form des Marktversagens begründe, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden.16 In der Institutionenökonomie war es North, der das Phänomen der Pfadabhängigkeit als einer der ersten für die Erklärung der Regelentwicklung übernommen hat.17 Für ihn ist die Pfadabhängigkeit der Schlüssel zum Verständnis der institutionellen und damit auch der wirtschaftlichen Entwicklung, wenngleich er konzediert, dass die Entwicklung der Institutionen sehr viel komplizierter als die der Technik sei. Bindungsbedürftige
Institutionen
als
Moralgut
Diese Einschätzung ist zutreffend, wenn man die Gütermerkmale und die Entwicklung bindungsbedürftiger Institutionen zu bestimmen versucht. Das Zustandekommen und die Befolgung bindungsbedürftiger Institutionen sind sehr viel vertrackter, als es bei den selbstbindenden Institutionen der Fall ist. Die besonderen Anreize und Schwierigkeiten beim Zustandekommen und der Befolgung lassen sich erst dann entschlüsseln, wenn die moralische Dimension dieses Institutionentyps berücksichtigt wird. Bindungsbedürftige Institutionen sind der Prototyp eines Moralgutes.'8 Der Anspruch, die besonderen Merkmale von Institutionen im Sinne eines Moralgutes zu bestimmen, ist bescheidener Natur. Hier interessieren nur die formalen Kriterien des moralischen oder amoralischen Verhaltens. Das Moralverständnis orientiert sich erstens an der moralphilosophischen Tradition, wie sie beispielsweise durch D. Hume oder I. Kant begründet wurde, und zweitens an
16
Vgl. Charles B. Blankart und Günter Knieps, Kommunikationsgüter ökonomisch betrachtet,
in: Homo Oeconomicus, XI (3), 1994, S. 449-463. Vgl. Douglass C. North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, S. 123. 18 Statt Moralgut bieten sich auch die Begriffe des Vertrauensgutes bzw. des Kooperationsgutes an. Diese Begriffe haben jedoch in der Konsumtheorie bzw. der Spieltheorie ein spezifisches Eigenverständnis. 17
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201
der jüngeren spieltheoretischen Analyse des Moralproblems. 19 Das klassische wie auch das spieltheoretische Verständnis konvergieren in der Definition von Mackie. Er definiert Moral als „... ein System von Verhaltensregeln besonderer Art, nämlich von solchen, deren Hauptaufgabe die Wahrung der Interessen anderer ist und die sich für den Handelnden als Beschränkungen seiner natürlichen Neigungen oder spontanen Handlungswünsche darstellen".20 Diesem abstrakten Moralverständnis entspricht aus der Perspektive der Spieltheorie und hier des Gefangenendilemmaspiels die Bereitschaft zur wechselseitig vorteilhaften Kooperation und der Verzicht auf die Defektionsstrategie, die ja die bestmögliche individuelle Vorteilsnahme zu Lasten der Mitspieler verspricht. Bekanntlich fuhrt in diesem Spiel die Präferenz eines jeden Spielers für die Defektion, also für die isolierte Mißachtung von Regeln gegenüber der wechselseitigen Regelbefolgung, ungewollt zur kollektiven und amoralischen Dilemmasituation. Gemäß diesem formalen Moralverständnis lassen sich bindungsbedürftige Institutionen als ein Moralgut, mithin als ein ökonomisches Gut sui generis, spezifizieren. Der individuelle Nutzen bezüglich der Geltung einer Regel bzw. einer Regelmenge gestaltet sich - neben der anreizkompatiblen Qualität der Regel - nach Maßgabe folgender Variablen: — erstens des Vorteils aufgrund der wechselseitig regelgemäßen Abwicklung der Kooperation mit Partnern, wobei der individuell erzielbare Vorteil von der verläßlichen Regelbefolgung der Anderen abhängt, — zweitens des möglichen Sondervorteils, der durch die isolierte Mißachtung der geltenden Regel erzielt werden kann, vorausgesetzt die anderen Partner verhalten sich kooperativ, also regelgemäß, — drittens des zusätzlichen Sondervorteils, der dadurch erzielbar ist, dass die Regel eine machtbedingte ungleiche Behandlung der Kooperationspartner vorsieht, indem sie der einen Seite einen Vorteil gewährt, der zu Lasen der anderen Seite geht. Die ökonomischen Gütermerkmale einer bindungsbedürftigen Regel als Moralgut lassen sich vergleichsweise zum Nutzenkonzept aufschlußreicher anhand des Rentenkonzepts verdeutlichen. Der Nutzen dient bekanntlich als Maß der Bedürfnisbefriedigung von Individuen beim Ge- oder Verbrauch von Gütern. Der Begriff der Rente stellt auf die Nutzen- oder Ertragsunterschiede zwischen den möglichen Entscheidungsalternativen beim Ge- oder Verbrauch der Güter ab. Bezogen auf die Regeln, geht es um deren Befolgung oder Mißachtung und um die ungleiche Behandlung in sozialen Beziehungen. Die Rente dient hierbei als Maß für den Zusatznutzen bzw. -ertrag beim Geoder Verbrauch eines Gutes gegenüber der nächstbesten Verwendung. Die individuell erzielbare Rente bezüglich der Geltung einer Regel gestaltet sich nach Maßgabe
19
20
Vgl. Viktor Vanberg, Morality and Economics: De Moribus Est Disputandum, New Brunswick 1988. John Leslie Mackie, Ethik: Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen, Stuttgart 1981, S. 133.
202
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— erstens des Vorteils, der durch die regelgemäße und verläßliche Abwicklung der Kooperation entsteht, wobei die Höhe der Kooperationsrente sich am Nutzen (Ertrag) bemißt, der im Falle der nächstbesten Alternative, hier also der wechselseitigen Mißachtung der Regel (Defektion), entsteht, — zweitens des Sondervorteils, der durch die isolierte Mißachtung der geltenden Regel erzielbar ist, vorausgesetzt der oder die anderen Kooperationspartner verhalten sich kooperativ, wobei sich die Höhe der Defektionsrente am Nutzen oder Ertrag der wechselseitig regelgemäßen Kooperation bemißt, — drittens des Sondervorteils, der durch die Existenz und Geltung einer Regel erzielbar ist, die eine ungleiche Behandlung zwischen den Kooperationspartnern vorsieht, wobei sich die Höhe der machtbedingten Statusrente am Nutzen oder Ertrag bemißt, der bei der Geltung einer allgemeinen Regel entsteht, die eine Gleichbehandlung der Beteiligten garantiert. Mit der Kooperations-, der Defektions- und der machtbedingten Statusrente werden hier also drei Nutzen- bzw. Rentenkomponenten eines Moralgutes unterschieden. Anhand dieser Kategorien läßt sich die vertrackte Anreizstruktur für das Zustandekommen und die Geltung bindungsbedürftiger Institutionen verdeutlichen. Die Aussicht, wechselseitig vorteilhafte Kooperationsrenten zu erzielen, sollte die regelgemäße Kooperationsbereitschaft stimulieren. Aus der Spieltheorie sind die Bedingungen für das Zustandekommen der Kooperation bekannt. So sind Solidaritätskerne erforderlich, bei denen die Mitglieder untereinander verläßlich vertrauen. In dem Maße, in dem sich das Vertrauen ausbreitet und stabilisiert, breiten sich auch Kooperation und damit Spezialisierung, Arbeitsteilung und Tausch aus.21 Vertrauen ist die prekäre Bedingung, weil es den Verzicht auf die Erzielung von Defektionsrenten verlangt. Das setzt die verläßliche Geltung bindungsbedürftiger Institutionen voraus, die informaler und formaler Art sein können. In dem Maße, in dem die Geltung unsicher ist, besteht die Gefahr, dass sich die Individuen in den Fallstricken des institutionellen Dilemmas erster Ordnung verfangen und sich defektive Verhaltensformen und wechselseitiges Mißtrauen ausbreiten und stabilisieren. Weil die Menschen dieses Schicksal schon früh erfahren mußten, lag die Einrichtung von Institutionen zweiter Ordnung nahe, deren Zweck in der Durchsetzung und Kontrolle der Institutionen erster Ordnung bestand und besteht. Damit ist die Rolle des Staates angesprochen, der zweifellos die wichtigste und folgenreichste institutionelle Erfindung der Menschheitsgeschichte repräsentiert. Seine Entstehung und noch mehr seine (erst nach Jahrtausenden erfolgte) rechtsstaatliche Zähmung erwiesen sich deshalb als allerschwerstes Problem, weil diese Errungenschaften einen Wandel der tradierten Weltbilder voraussetzten. Das provoziert die grundlegende Frage, wodurch ein solcher Wandel bewirkt werden kann. Es gilt also die auf den
21
Vgl. als Übersicht Margit Osterloh und Albert Lohr, Ökonomik oder Ethik als Grundlage der sozialen Ordnung?, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt), Heft 8, 1994, S. 401406.
Kulturelle Determinanten der wirtschaftlichen
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203
institutionellen und wirtschaftlichen Wandel bezogene These von Vehlen zu belegen, dass „... change is always in the last resort a change in habits of thought." 22 Dazu ist ein kursorischer Exkurs in die Regelevolution geboten. Der Exkurs dient dazu, das institutionelle Knappheitsproblem und die Schwierigkeiten für dessen Lösung zu veranschaulichen. Dabei soll exemplarisch gezeigt werden, dass in der Lösung des institutionellen Knappheitsproblems der Schlüssel zum Verständnis verschiedener kultureller Institutionengefüge zu vermuten ist, deren Eigenarten mit Hilfe der angeführten Institutionentypologie erfasst werden.
8.
Die institutionelle Entwicklung aus evolutorischer Perspektive
Die für die Menschen als vernunftbegabte Wesen schon früh erfahrbare Einsicht, dass sich die verstärkte Arbeitsteilung und Spezialisierung für alle positiv auszahlt, sollte eigentlich ein wirksamer Anreiz für die gesellschaftlichen Regelteilung und Kooperation gewesen sein. Tatsächlich haben sich die Teilung und Befolgung der Regeln und die davon abhängige wirtschaftliche Arbeitsteilung als langwierige und zählebige Vorgänge erwiesen. Ursächlich verantwortlich dafür scheint die geringe Begabung der Menschen für moralische Bindungen und deren verläßliche Befolgung im alltäglichen Zusammenleben zu sein. Von ihrer genetischen Ausstattung sind die Menschen offensichtlich für das Zusammenleben in kleinen, egalitären und unspezialisierten Gemeinschaftsformen angelegt, in denen sie in der längsten Zeit ihrer Geschichte tatsächlich auch lebten und kooperierten. Die Kooperation in und zwischen den Gruppen stand ganz unter der Dominanz emotional-verwandtschaftlich gebundener Regelwerke, deren charakteristisches Grundmuster in den nach der verwandtschaftlichen Nähe abgestuften Prinzipien der Reziprozität bestand. Wie der Ethnologe Kohl feststellt, beruht der universal dominante Einfluß der Verwandtschaft als originärer Ordnungsfaktor auf der schlichten biologischen Tatsache, dass jeder Mensch aus der Vereinigung zweier anderer Menschen hervorgehe, womit zugleich auch elementare moralische Bindungen und Gefühle zwischen den Partnern und Generationen verbunden waren und sind.23 Zu den egalitären und verwandtschaftlich gebundenen Regeln des Zusammenleben gehörte die Vorstellung einer Einheit der übernatürlichen, der natürlichen und der sozialen Welt, die sämtlich von jenen Regeln beherrscht werden, die auch das soziale Zusammenleben bestimmen. Das emotional gebundene Regelwerk war imstande, ein relativ friedfertiges Zusammenleben in und zwischen den Gruppen zu begründen und die Versuchungen zur Er-
22
Thorstein Vehlen, Why is Economics not an Evolutionary Science?, in: Thorstein Vehlen (ed.), The Place of Science in Modern Civilization, New Brunswick 1898, S. 56-81, hier S. 75. Vgl. auch die nahezu identische These vom Bedingungszusammenhang zwischen „change of institutions" und „change of patterns of reasoning" bei Karl Pribram, A History of Economic Reasoning, Baltimore and London 1983, S. 40.
23
Karl-Heinz Kohl, Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturell Fremden, München 1993, S. 35. Vgl. zum folgenden femer Marshall D. Sahlins, Stone Age Economics, London 1976; Marshall, D. Sahlins and Elman Service (eds.), Evolution and Culture, Ann Arbor 1960.
204
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zielung von Defektions- und machtbedingten Statusrenten in Schach zu halten. Die Reichweite des so begründeten Vertrauens war jedoch begrenzt. Der vor ca. 12.000 Jahren vereinzelt und zufallig erfolgte Übergang zum Ackerbau und zur Viehzucht und die damit einhergehende Seßhaftigkeit und Bevölkerungszunahme stellten die Menschen vor neue Ordnungsprobleme, für deren Lösung sie eine lange Zeit benötigten. Die verwandtschaftlich gebundenen Regelwerke blieben über Jahrtausende dominant, wurden aber an die neuen Verhältnisse angepaßt. Aus den kleinen Gruppen entstanden vereinzelt segmentäre Stammesgesellschaften, die noch ganz nach dem Grundmuster der egalitär-unspezialisierten Gesellschaftsform organisiert waren. Die erste institutionelle Revolution erfolgte in den frühen Häuptlingstümern, die um 5500 v. Chr. zuerst in Vorderasien und dann um 1000 v. Chr. in Mittel- und Südamerika entstanden. Revolutionär war die vertikale Schichtung der zuvor egalitären Struktur der Familienlinien und Segmente und die Herausbildung vererbbarer Führungspositionen. 24 Der Übergang von den egalitären hin zu den hierarchisch geordneten Gemeinschaftsformen vollzog sich nur dort, wo es gelang, die egalitäre und holistische Weltsicht zu modifizieren. Dieser Wandel wurde durch die Religion bewirkt und legitimiert, indem den Häuptlingen und ihren Familienlinien über die Vermittlung ihrer Ahnen eine engere Beziehung zu den lokal verehrten Geistern und Gottheiten zugeschrieben und geglaubt wurde. Die Ahnen der führenden Familienlinien galten als besonders enge Verwandte der verehrten Gottheiten und konnten so in der Hierarchie der übernatürlichen Welt schneller aufsteigen.25 Die Heilsvermittlung wurde also als genealogisch abgestufte Beziehung gedacht, womit die Religion als eigenständiger Ordnungsfaktor entdeckt und zur Legitimation der sozialen Hierarchie genutzt wurde. Damit waren die ideellen Weichen für das Aufkommen der archaischen Staaten gestellt, wie sie um 3500 v. Chr. zuerst in Mesopotamien und dann 1000 Jahre später in Asien und anderen Teilen der Welt sporadisch entstanden. Die Erhöhung der Inhaber des staatlichen Gewaltmonopols und dessen Ahnenreihe zu direkten Verwandten und damit Abkömmlingen der verehrten Gottheiten erlaubte es, dass die Anführer der Staatsgebilde als legitime Vertreter der Götter gegenüber den Untertanen auftreten und von diesen akzeptiert werden konnten. Die frühen protostaatlichen Gebilde waren fast ausnahmslos Theokratien. Die staatlichen und religiösen Führer repräsentierten eine neue Ordnungsinstanz, die neuartige Regeln des Zusammenlebens setzen und mittels des Gewaltmonopols durchsetzen konnten.26 Die revolutionäre Umwälzung der tradierten gesellschaftlichen Regelteilung begünstigte zweifellos auch die Entwicklung der wirtschaftlichen Arbeitsteilung.
24
Vgl. Elman Service, Ursprünge des Staates und der Zivilisation: Der Prozeß der kulturellen Evolution, Frankfurt a. M. 1977.
25
Vgl. Stefan Breuer, Der archaische Staat: Zur Soziologie charismatischer Herrschaft, Berlin 1990, hierS. 52.
26
Vgl. Stefan Breuer, Der Staat: Entstehung, Typen, Organisationsstadien, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 41-51.
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205
Es bildeten sich Spezialisten für herrschende und anordnende und für geistigreligiöse Tätigkeiten heraus, die in enger Allianz die Produzenten, also primär die Bauern und daneben die Handwerker, beherrschten. Die primäre Aufgabe der Priesterkaste bestand darin, die Herrschaftsordnung als götter- oder gottgefällige Sozialordnung religiös zu legitimieren. In dem Maße, in dem das gelang, konnte die Religion die tradierte egalitäre und unspezalisierte Weltsicht in eine hierarchisch, vertikal spezialisierte und wohlgeordnete Weltsicht umwandeln, die über lange Zeit das Denken und Verhalten der Menschen und damit die Regeln des Zusammenlebens bestimmen sollte. Die erste institutionelle Revolution soll nur insoweit interessieren, weil sich hier Rolle des religiösen Glauben als wichtiger kulturspezifischer Ordnungsfaktor für institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung zeigen läßt. Als Gewährsmann Dürkheim angeführt, nach dem alle großen Institutionen der Menschheitsgeschichte der Religion geboren wurden.27
die die sei aus
Die Allianz von staatlicher und religiöser Herrschaft konnte ein neues gesellschaftliches Regelgefüge etablieren, das die erweiterte Kooperation ermöglichte, freilich zum hohen Preis der Unterdrückung und Ungleichbehandlung der Menschen. Der Ethnologe Harris hat den Wandel in drastischer Form wie folgt formuliert: „Unter der Vormundschaft des Staates lernten Menschen erstmals, wie man sich verbeugt, buckelt, auf dem Bauch rutscht, kniet und Kratzfüße macht. In vieler Hinsicht war der Aufstieg des Staates der Abstieg der Menschheit aus der Freiheit in die Knechtschaft".28 Das Streben nach Erzielung von Defektionsrenten im Rahmen der Transaktionen etwa zwischen Bauern, Handwerkern oder Händlern konnte durch autoritär gesetzte und kontrollierte Regeln begrenzt werden. Die hierarchische Schichtung der Gesellschaft schuf jedoch ungeahnte Möglichkeiten für die Erlangung machtbedingter Statusrenten zugunsten der herrschenden Krieger- und Priesterkasten und indirekt zugunsten der von ihnen privilegierten Gefolgschaft. Der islamische Denker Ibn Khaldun hat bereits im 14. Jahrhundert den Staat als diejenige Institution bezeichnet, die bestenfalls nur jene Ungerechtigkeiten verhindern könne, die sie nicht selbst begehe.29 Er variiert damit nur die noch ältere bange Frage, wer über die Wächter der Ordnung wachen soll. Damit ist das institutionelle Dilemma zweiter und höherer Ordnung angesprochen, das zeit- und raumunabhängig mit der Einrichtung von staatlichen oder sonstigen Metainstitutionen verbunden war und bis heute ist, mit deren Hilfe die Geltung von Institutionen erster Ordnung kontrolliert und notfalls erzwungen werden soll. Die Kontrolle des staatlichen Gewaltmonopols und die Vermeidung machtbedingter Satusrenten waren und sind noch schwieriger als die Auflösung institutioneller Dilemmata erster Ordnung.
27
28
29
Emile Dürkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1981, S. 560. Marvin Harris, Kannibalen und Könige: Die Wachstumsgrenzen der Hochkulturen, Stuttgart 1990, S. 92. Zitiert bei Ernest Gellner, Bedingungen der Freiheit: Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, Stuttgart 1995, S. 37.
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Die Schwere der Aufgabe hat Kant in aller Klarheit erkannt. In der „Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft" sieht er das „größte" und „schwerste" Problem der Menschheitsgeschichte. 30 Obwohl der Mensch Recht und Gesetz wünsche, wolle sich doch jeder als selbstinteressiertes Wesen davon ausnehmen. Ökonomisch formuliert, geht es also um die Erzielung von situativ möglichen Defektionsrenten. Deshalb benötigten die Menschen einen Herrn oder Souverän, der Gesetze setzt und überwacht. Da dieser jedoch ebenfalls ein selbstinteressierter Mensch sei, bedürfe es wiederum eines Herrn, der ihn kontrolliere etc. Da jeder derselben danach trachte, sein Amt und seine Freiheit zu mißbrauchen und machtbedingte Statusrenten zu erzielen, sei die Lösung des Ordnungsproblems die schwerste unter allen Aufgaben, deren vollkommene Auflösung unmöglich sei. Eine Auflösung scheint insbesondere dort unwahrscheinlich, wo eine Herrschaftsallianz von Staat und Kirche existiert. Die Lösung von Kant setzt auf die Karte der Vernunft, von deren Gebrauch er sich das Entkommen der Menschen aus der selbstverantworteten Unmündigkeit erhofft. Die Lösung ist also vom Geist der Aufklärung geprägt, der ganz von der Idee der vernunftgeleiteten Neugestaltung der gesellschaftlichen Ordnung beseelt war.
9.
Einige Weichenstellungen der europäischen Entwicklung
Im Rückblick ist den vielfältigen Bewegungen der Aufklärung der entscheidende Beitrag für den Übergang der hierarchisch-ständisch geordneten Gesellschaft hin zum Rechtsstaat, zur Demokratie, zur Bürgergesellschaft, zur freien Wissenschaft und nicht zuletzt zur industriell entwickelten Marktwirtschaft zu verdanken. Dabei sollten jedoch die religiösen und ideologischen Wurzeln der Aufklärung und den daraus erwachsenen institutionellen Veränderungen nicht übersehen werden. Stichwortartig sei hier nur auf die entscheidenden Weichenstellungen für den europäischen Sonderweg verwiesen. Eine erste wichtige Weichenstellung erfolgte durch die Trennung zwischen weltlicher und kirchlicher Macht im Gefolge des Investiturstreits zwischen Kaiser und Papst im 11. Jahrhundert. Der Jurist Berman hat dessen revolutionäre Konsequenzen zu Recht mit dem Bild einer institutionellen Atomexplosion auf den Punkt gebracht, welche Staat und Kirche in zwei autonome und rivalisierende Gebilde aufspaltete.31 Als zweite und ähnlich folgenreichende Weichenstellung erwies sich die Reformation, die das mittelalterliche Sozialgefuge und die es legitimierende Weltsicht in ihren Grundfesten erschütterte. Das protestantische Postulat, wonach jedes Individuum sich als eigener Seelsorger verstehen und sein Heil in einer gottgefälligen und selbstverantwortlichen Lebensführung realisieren sollte, bedeutete die Entthronisierung kirchlicher und weltlicher Hierarchien mit ihren überkommenen Sonderrechten und Statusrenten. Damit wurde der Weg für die Emanzipation der Vernunft von tradierten Bindungen und für die Entfaltung autonomer Wissenschaften gebahnt. So wie sich das Gewissen der Menschen direkt vor Gott zu verantworten habe, so soll auch die Wissenschaft direkt 30
31
Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kants Werke (Akademie Textausgabe), Bd. VIII, Berlin 1968, S. 15-32, hier: S. 22-23. Harold J. Berman, Recht und Revolution: Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a. M. 1991, (2. Auflage), S. 810.
Kulturelle Determinanten der wirtschaftlichen
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zur realen Welt, als zur Natur und zur Gesellschaft, vordringen und deren Gesetze ergründen. Die Entzauberung der tradierten Weltsicht und der religiösen Dogmen durch die Wissenschaften erwies sich von daher als der entscheidende Stellhebel für den Übergang von der hierarchisch vorgestellten und geordneten Welt- und Sozialordnung hin zur funktional differenzierten und rechtsstaatlich geordneten Welt- und Sozialordnung. Damit verband sich die Überzeugung, dass die vernünftige Ordnung des sozialen Zusammenlebens nicht vorzufinden oder aus religiösen Vorgaben abzuleiten sei, sondern per Gebrauch der Vernunft zu erfinden und zu gestalten sei. Der revolutionäre Denkwandel, wie er etwa von Descartes begründet wurde, erschließt sich erst im Vergleich zur tradierten Weltsicht, wie sie das Denken der klassischen Sozialphilosophien beherrscht hatte. Piaton sei als Gegenpart zu Descartes gewählt. Piaton wollte schon früh die Vernunft als Quelle zur Erkenntnis der richtigen Prinzipien der Moral und der Ordnung des menschlichen Zusammenlebens nutzen. Er blieb jedoch noch der Vorstellung einer hierarchisch geordneten Gesellschaft als ideale Ordnung verhaftet.32 In Europa gelang es aufgrund der angedeuteten zufalligen Verkettung der historischen Umstände, die hierarchisch abgestufte Gesellschaftsordnung und die sie tragenden Weltbilder in einem jahrhundertelangen Prozeß in Richtung einer funktional spezialisierten, rechtsstaatlich und später demokratisch verfaßten Gesellschaftsordnung zu modifizieren, worin die entscheidende Grundlage für die Entfaltung der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsweise zu vermuten ist. Der knappe Exkurs in einige revolutionäre Umbrüche der Regelevolution sollte den Blick für deren Zählebigkeit und Zufälligkeit schärfen. Regeln und insbesondere bindungsbedürftige Regeln sind Güter sui generis, deren Bereitstellung und Nutzung (Befolgung) den Menschen anreizbedingt stets schwerfallen. Von daher drängt es sich auf, in den historisch gewachsenen Lösungen des institutionellen Knappheitsproblems das maßgebliche Kriterium zur Identifizierung kultureller Eigenarten und damit zur Abgrenzung von Kulturen zu vermuten und zu begründen. Der Wandel kultureller Eigenarten läßt sich nur begrenzt politisch dekretieren oder beliebig imitieren. Er erwächst vielmehr aus dem Zusammenwirken und der Spezialisierung der elementaren Ordnungsfaktoren und den sie tragenden Individuen, Gruppen und Interessen. Die vorherrschende institutionentheoretische Überzeugung, Regeln des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens ließen sich bewußt durch staatliche Autoritäten setzen, verändern und auch durchsetzen, bleibt blauäugig, solange nicht die Eigeninteressen der staatlichen Autoritäten und die Akzeptanz- und Wandlungsbereitschaft der Individuen in Wirtschaft und Gesellschaft angemessen reflektiert werden. Staatliche Autoritäten waren und sind stets auch an der Sicherung machtbedingter Statusrenten interessiert. Die großen staatsmännischen Reformen bildeten jedenfalls in der Geschichte meist die Ausnahme.
32
Zum unterschiedlichen, kulturgebundenen Vernunftverständnis der europäischen Aufklärung gegenüber der klassischen griechischen Philosophie vgl. Charles Taylor, Humanismus und moderne Identität, in: Charles Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie, Frankfurt a. M. 2001, S. 218-270.
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Es sei an die angeführte Einsicht von Vehlen erinnert, dass jeder institutioneller und wirtschaftlicher Wandel einen Wandel eingelebter Denk- und Verhaltensweisen, damit auch tradierter Weltsichten, voraussetze. Ein erfolgversprechender Wandel ist auf das komplementäre Zusammenwirken von Denk- und Verhaltensweisen in allen gesellschaftlichen Teilbereichen, also in Politik, Religion, Wissenschaft und Wirtschaft, angewiesen, wobei im religiösen Glauben und in ideologischen Überzeugungen die eigentlichen Stellhebel für einen den Wandel der Denk- und Lebensgewohnheiten zu vermuten sind. Anders formuliert, geht es um die Komplementarität des Wandels von informalen und formalen Regelwerken.
10. Das Webersche Verständnis der europäischen Entwicklung Der hier thematisierte komplementäre Bedingungszusammenhang zwischen gesellschaftlicher Regelteilung und wirtschaftlicher Arbeitsteilung versteht sich nur als leichte Modifikation der von Max Weber in aller Klarheit erkannten Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung. Aufgrund seiner kulturellen Vergleichsstudien gelangte Weber zu der Einsicht, dass die „... Entfaltung der Wirtschaft vor allem als eine besondere Teilerscheinung der allgemeinen Rationalisierung des Lebens begriffen werden müsse." 33 Rationalisierung ist bekanntlich ein komplexer Begriff. Weber selbst konzediert dessen „Vieldeutigkeit". 34 Im weitesten Verständnis ist damit die Befreiung der Vernunft von Magie, Gefühlen, heiligen Glaubensvorstellungen und eingelebten Gewohnheiten, mithin also die „Entzauberung" der Weltsicht, gemeint. Mit Bezug zu den Weberschen Typen des sozialen Handelns geht es darum, dem zweckrationalen Handeln gegenüber dem wertrationalen, dem affektuellen und dem tradierten Handeln zum Durchbruch zu verhelfen. Das zweckrationale Handeln ist auf die rationale Abwägung von Zwecken, Mitteln und Wirkungen, also auf die erfolgreiche Realisierung individueller Zwecke, gerichtet. Im Unterschied dazu sind das wertrationale Handeln durch den Glauben an den ethischen Eigenwert bestimmter Verhaltensweisen, das affektuelle Handeln durch Gefühlsmotive und das tradierte Handeln durch die Orientierung an eingelebten Gewohnheiten charakterisiert. Weber hat zwar den Beitrag religiöser Faktoren in Gestalt der protestantischen Ethik und Wertrationalität für die Entstehung des kapitalistischen Wirtschaftsgeistes betont. Wichtig war jedoch die Einsicht, dass der Calvinismus ungewollt die Entfaltung des zweckrationalen Handelns in der Wirtschaft und in anderen gesellschaftlichen Bereichen begünstigt habe. Er erachtete also die Entstehung der unternehmerisch organisierten Marktbeziehungen als folgerichtiges, wenngleich unintendiertes Beiprodukt der komplementären Rationalisierung der Beziehungen in den außerwirtschaftlichen Bereichen. Als die wichtigsten kulturellen Besonderheiten der westlichen Gesellschaften erkannte er den modernen Staat mit geschriebenen Verfassungs- und Bürgerrechten und
33
34
Max Weber, Vorwort, in: Max Weber, Grundriss der Sozialökonomik, 1. Abt. Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft, (Bearbeitet von K. Bücher, J. Schumpeter, Fr. Freiherr von Wieser), Tübingen 1914, S. VII - IX, hier S. VII. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1976, (5. Rev. Auflage), S. 16.
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deren Verwaltung durch ein Fachbeamtentum, das von Fachjuristen konzipierte und angewendete rationale Rechtssystem, die systematische Erforschung der Realität durch die Wissenschaften und die Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in moderne Techniken sowie die Existenz freier Bürger mit einem gemeinwohlorientierten zivilen Engagement und einem zwar religiös geprägten, aber rationalen Ethos der Lebensführung.35 Das Webersche Rationalisierungsverständnis ist nur eine andere begriffliche Fassung deijenigen Prozesse, die in der Soziologie als funktionale Differenzierung der Gesellschaft, bei Eucken als Interdependenz der sozialen Teilordnungen und hier als gesellschaftlich komplementäre Regelteilung verstanden werden. Die von Weber herausgestellten Bedingungszusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen und der wirtschaftlichen Entwicklung sollten unmittelbar einsichtig und nachvollziehbar sein. Wirtschaftliche Entwicklung setzt die Nutzung wechselseitig vorteilhafter Spezialisierungs-, Kooperations- und Tauschvorteile, mithin zweckrationales Handeln der jeweiligen Akteure voraus. Rationale Akteure orientieren ihr Verhalten gemäß den subjektiven Interessen sowie gemäß den Erwartungen über das Verhalten der Kooperations- und Tauschpartner. Die Erwartungen werden maßgeblich vom Vertrauen in die wechselseitige Geltung und Befolgung der Regeln bestimmt, die informaler und formaler Art sein können. Die Qualität informaler Regeln ist in genereller Betrachtung nach Maßgabe der Reichweite des Vertrauensradius und der Vereinbarkeit mit den formalen und allgemein formulierten Regeln des Rechts zu bewerten. Jedenfalls gestaltet sich das Verhältnis zwischen informalen und formalen Regeln in einzelnen Kulturen unterschiedlich. Deshalb gilt es stets das Zusammenspiel zwischen beiden Regeltypen zu beachten. Gerade im Spätwerk von Max Weber wird die Bedeutung des rationalen Rechts für die wirtschaftliche Entwicklung etwas einseitig gesehen. So stellt Weede bei seinem methodisch von Weber inspirierten Vergleich der wirtschaftlichen Entwicklung Asiens mit dem Westen fest, dass man angesichts der Rechtsdefizite für China und andere ostasiatischen Länder eigentlich weniger wirtschaftliche Dynamik erwarten sollte, als man beobachten konnte.36 Von daher schlußfolgert er, dass Weber die Rolle des Rechts für die wirtschaftliche Entwicklung vielleicht überbetont habe. Diese Einseitigkeit, die noch stärker auf die Mehrzahl der neueren institutionenökonomischen Ansätze zutrifft, läßt sich korrigieren, wenn neben den Regeln des Rechts auch die informalen Regelwerke angemessen berücksichtigt werden. Es gilt also die kulturspezifischen Regeigefuge als Ganzes ins Auge zu fassen. Für dieses Vorhaben sind die kulturellen Vergleichsstudien von Weber immer noch lehrreich, weil sie die Angewiesenheit der Wirtschaft auf komplementäre Spezialisierungs- und Rationalisierungsprozesse in anderen gesellschaftlichen Bereichen beispielhaft thematisieren. Als Kriterien der Kulturvergleiche wählt Weber die Bedingungen, die er als die kausalen Faktoren für die kapitalistische Entwicklung des Westens erkannt hatte. Seine Methode zur Analyse des Zusammenhangs zwischen Kultur und Wirtschaft läßt sich als 35
Vgl. Max Weber, Wirtschaftsgeschichte, München und Leipzig 1924 (2. Auflage), S. 270.
36
Erich Weede, Asien und der Westen: Politische und kulturelle Determinanten der wirtschaftlichen Entwicklung, Baden-Baden 2000, S. 129. Zu den Eigenarten des chinesischen Institutionengefüges vgl. Helmut Leipold, Der chinesische Kultur- und Wirtschaftsraum als Herausforderung für die Institutionenökonomik, in: Asien, Nr. 76/2000, S. 29-46.
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heuristischer Eurozentrismus37 bezeichnen, der insoweit legitim ist, als er nicht in einen normativen Eurozentrismus umschlägt, der im europäischen Weg den Königsweg der wirtschaftlichen Entwicklung sieht. Auch ohne Bezug zu Europa ist die Webersdat These, dass die Entfaltung der Wirtschaft an komplementäre mentale und institutionelle Spezialisierungs- und Rationalisierungsprozesse in anderen sozialen Bereichen gebunden ist, als ein kulturunabhängiger, also universalgültiger Bedingungszusammenhang zu bewerten. Freilich gestaltet sich dieser Zusammenhang in einzelnen Kulturen verschieden. Verantwortlich dafür ist das institutionelle Knappheitsproblem, dessen Lösung den Menschen aufgrund der in diesem Beitrag spezifizierten Anreize und Schwierigkeiten kulturell unterschiedlich und unvollkommen gelang und bis heute gelingt. Die Besonderheiten und Schwierigkeiten der Lösung sollen abschließend am Beispiel Rußlands und einiger Eigenarten seines Institutionengefüges aufgezeigt werden.
11. Einige Eigenarten des russischen Institutionengefüges Die Eigenarten im Überblick Vergleichsweise zu den west- und ostmitteleuropäischen Ländern nahm die institutionelle Entwicklung in den zum russisch-orthodoxen Kulturkreis gehörenden Ländern einen anderen Verlauf. Von daher sind auch gewachsene institutionelle Besonderheiten zu vermuten, wobei im folgenden nur Rußland interessiert. Von Kennern der russischen Geschichte und Verhältnisse werden folgende Eigenarten des russischen Institutionengefüges herausgestellt: — Erstens die in einigen intellektuellen, kirchlichen und sozialen Kreisen verbreitete ideelle Präferenz für ein ganzheitlich geordnetes Institutionen- und Gesellschaftsgefüge als Gegenbild zur differenzierten und spezialisierten Ordnung westlichen Musters. Institutionell schlägt sich das in einer stärkeren Einheit von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft nieder. — Zweitens das verbreitete Vertrauen in die Verläßlichkeit und Geltung emotional, als verwandtschaftlich, nachbarschaftlich und personal gebundener Regeln und Beziehungen. — Drittens das verbreitete Mißtrauen in die Geltung und Verwaltung der formalen Regeln des privaten und noch mehr des öffentlichen Rechts. Diese Eigenarten seien kurz erläutert. Das Ideal eines ganzheitlich geordneten Institutionen- und Gesellschaftssystems ist primär das Erbe der russisch-orthodoxen Kirche.38 Bereits das byzantische Reich war
37
Vgl. Wolfgang Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. 2, Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftsideologie, Frankfurt a. M. 1988, S. 283.
38
Vgl. zum Einfluß der Ostkirche auf die „unifizierte" Verfassung von Gesellschaft und Staat und die fehlende interne Machtaufgliederung Alfred Müller-Armack, Zur Religionssoziologie des europäischen Ostens, in: Alfred Müller-Armack, Religion und Wirtschaft: Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959,
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ein theokratischer Staat. In Fortführung dieser Tradition hat die russisch-orthodoxe Kirche seit ihren Anfangen die Einheit (Harmonie) von kirchlicher und weltlicher Herrschaft postuliert und praktiziert. Sie hat sich im Unterschied zur katholischen Kirche nie als autonome Gegenmacht zur weltlichen Herrschaft verstanden. Sie legitimierte vielmehr die patrimoniale Herrschaft der Zaren einschließlich der hierarchisch geordneten Gesellschaft mit dem untergeordneten Status der Bauern und der Dorfgemeinden als gottgefällige Ordnung. Im Unterschied zum Protestantismus wurden die Gläubigen nicht zur selbstverantwortlichen Seelsorge und Lebensführung ermuntert. Von daher konnte sich auch kein zum Calvinismus vergleichbares Arbeitsethos und ziviles Engagement entwickeln.39 Die Heilsvermittlung zwischen Gläubigen und Gott blieb die eigentliche Angelegenheit der kirchlichen Autoritäten. Dazu gehörte das Ideal einer Einheit von Glaube und Vernunft, das wiederum die Entfaltung des unabhängigen und freien Denkens in Wissenschaft und in Gesellschaft behinderte. Es sollte nicht verwundern, dass die ganzheitliche Ordnungskonzeption im 19. Jahrhundert von führenden Vertretern der russischen Philosophie übernommen und als Gegenideal zu den säkularen und liberalen Bewegungen der Aufklärung propagiert wurde.40 Rußland hat also den Zug der Aufklärung weitgehend verpaßt. Die neuen Ideen erreichten nur eine dünne Schicht der wissenschaftlichen Intelligenz und der städtischen Oberschichten. Die sozialistische Herrschaft hat sich zwar für die Hebung des Bildungsstandes verdient gemacht. Bei aller Technik- und Wissenschaftsgläubigkeit sollte jedoch nicht übersehen werden, dass der Marxismus insofern einem vormodernen Gesellschaftsideal frönt, als er der Einheit von Individuum und Kollektiv, damit von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat verpflichtet ist, wobei Staat und Recht als temporäre und vergängliche Institutionen gesehen werden. Das holistisch-hierarchisch geprägte Weltbild der russisch-orthodoxen Kirche wird also in der marxistischen Ideologie nur durch die Betonung des egalitären Ideals korrigiert und in eine holistisch-egalitäre Weltsicht modifiziert. Aus einer evolutorischen Perspektive sind beide Vorstellungen als vormoderne Vorstellungen zu bewerten.
S. 328-370, hier: S. 360-361. Max Weber sieht die Wurzel für die russische „Einheitskultur" in der Verbindung von Kirche und Staat, die er zum „cäsaropapistischen Patrimonialstaat" typisiert. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1976, (5. Rev. Auflage), hier S. 713. Vgl. auch Joachim Zweynert, Die „ganzheitliche Gesellschaft" und die Transformation Rußlands, in: Hans-Hermann Höhmann (Hg.), Wirtschaft und Kultur im Transformationsprozeß, Bremen 2002, S. 10-35. 39
Vgl. zu Unterschieden zwischen der protestantischen und der orthodoxen Wirtschaftsethik Andreas Buss, Die Wirtschaftsethik des russisch-orthodoxen Christentums, Heidelberg 1989, S. 46-51 \ Alfred Müller-Armack, Zur Religionssoziologie des europäischen Ostens, in: Alfred Müller-Armack, Religion und Wirtschaft: Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959, S. 328-370, hier: S. 362-367; Sergej Saizew, Über die russische Wirtschaftskultur, in: Osteuropa - Wirtschaft, 1/1998, S. 36-70, hier: S. 56-57.
40
Vgl. dazu Joachim Zweynert, Die „ganzheitliche Gesellschaft" und die Transformation Rußlands, in: Hans-Hermann Höhmann (Hg.), Wirtschaft und Kultur im Transformationsprozeß, Bremen 2002, S. 10-35.
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Das als zweites Charakteristikum angeführte ungebrochene und verbreitete Vertrauen in die Geltung emotionaler und speziell verwandtschaftlicher und personaler Regelbindungen wurzelt wahrscheinlich in der eher leidvollen Geschichte der russischen Dorfgemeinden. Sie bildeten über Jahrhunderte die grundlegenden Sozial- und Wirtschaftseinheiten und damit den eigentlichen Anker der russischen Kultur. Gegenüber den von den Grundherren und der zaristischen Verwaltung willkürlich ausgeübten Herrschaftsverhältnissen und auferlegten wirtschaftlichen Abgaben bewahrten die Dorfgemeinden die elementaren Regeln der verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Solidarität und Reziprozität.41 Wie angeführt, basierten emotional gebundene Institutionengefüge ursprünglich auf einer holistisch-egalitären Weltsicht. Demgemäß wurden Beziehungen zwischen vertrauten und verwandten Personen präferiert, während Transaktionen mit anonymen Partnern möglichst gemieden wurden. Wegen des engen Vertrauensradius blieben die gesellschaftliche und wirtschaftliche Arbeitsteilung eng begrenzt. Historisch hatten die autoritär verordneten Regelände-rungen und Spezialisierungsprozesse in emotional gebundenen Gemeinschaften nur dann eine Erfolgschance, wenn sie durch Religion oder durch Ideologien abgesegnet und geglaubt wurden. Im zaristischen Rußland lieferte die russisch-orthodoxe Kirche, im kommunistischen Rußland die marxistische Ideologie die erforderliche Legitimation. Die vielfältigen sozialistischen Arbeits- und Betriebskollektive, die vom Geist der solidarischen Aktivität und Unterstützung beseelt sein sollten, reihten sich nahtlos in die Tradition der Dorfgemeinden ein und bildeten kulturkonforme Formen der Vergemeinschaftung. Dem seit jeher verbreiteten Vertrauen in informale, also emotional gebundene Regeln und Beziehungssysteme entspricht als Kehrseite das Mißtrauen in die formalen Regeln des Rechts und deren verläßliche Verwaltung, womit die dritte Eigenart des russischen Institutionengefuges angesprochen ist. Die Defizite des Rechtssystems und der Staats- und Justizverwaltung sind sowohl für die zaristische und die kommu-nistische als auch für die kurze postsozialistische Geschichte gut dokumentiert und seien daher hier nur knapp kommentiert. 42 Der zaristische Staat war ein patrimonialer Staat, in dem die Souveräne sich als unbeschränkte Herrscher und als natürliche Eigentümer des Landes und seiner Güter verstanden. Das Macht- und das Eigentumsmonopol waren vereint, weshalb auch Staat und Wirtschaft eng verschmolzen waren. Nimmt man noch die Einheit von Staat (imperium) und Kirche (sacerdotium) hinzu, war die Dominanz des Machtprinzips gegenüber dem Rechtsprinzip die logische Folge. Das nur in rudimentärer Form entwickelte und kodifizierte Recht wurde willkürlich verwaltet und beachtet.
41
Vgl. Sergej Saizew, Über die russische Wirtschaftskultur, in: Osteuropa - Wirtschaft, 1/1998, S. 36-70, hier: S. 48-50.
42
Vgl. Michael Newcity, Russian Legal Tradition and the Rule of Law, in: Jeffrey D. Sachs and Katharina Pistor (Hg.), The Rille of Law and Economic Reform in Russia, Boulder 1997, S. 41-53; Georg Brunner, Rechtskultur in Osteuropa: Das Problem der Kulturgrenzen, in: Georg Brunner (Hg.), Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa, Berlin 1996, S. 91-112., Richard Pipes, Rußland vor der Revolution: Staat und Gesellschaft im Zarenreich, München 1977.
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Eine alte russische Volksweisheit bringt die Rechtsunsicherheit auf den Punkt: „Das Gesetz ist wie eine Deichsel, man wendet, wohin man will."43 Die willkürliche Anwendung des Rechts wurde von der Bevölkerung nicht nur bezüglich der Rechtsverwaltung, sondern bezüglich der Staatsverwaltung im Ganzen als alltägliche Erfahrung empfunden. Da die zaristischen Beamten ihren Lebensunterhalt größtenteils mittels ihrer Amtseinkünfte zu bestreiten hatten, gehörten Bestechungsgelder und willkürlich verordnete Abgaben zur normalen Praxis. Der Mißbrauch der Ämter galt nur insoweit als illegitim, als er die Interessen des Staates und damit der Krone beeinträchtigte. Es bedarf keiner näheren Begründung, dass die kommunistische Herrschaft mit ihrem kollektivistischen Einheitsideal nicht imstande war, das Vertrauen in eine verläßliche Verwaltung von Staat und Recht zu stärken und eine Rechtskultur zu etablieren. An die Stelle des zaristischen Machtprinzips trat das leninistische Prinzip der parteilichen Staats-, Rechts- und Wirtschaftsverwaltung.44 Aufgrund der Verkettung der historischen Umstände konnten sich in Rußland elementare Rechtsprinzipien wie die Gewaltenteilung, die Rechtsstaatlichkeit, die Unabhängigkeit der Justiz oder die Trennung von Recht und Verwaltung weder in der Staatsorganisation noch im Bewußtsein der Bevölkerung entwickeln. Die sporadischen Reformanläufe wie die Justizreform von Zar Alexander II. im Jahre 1864 blieben deshalb weitgehend wirkungslos. Jedenfalls bietet die russische Geschichte nur einen kargen Nährboden für die Kultivierung des Rechts und vor allem der Rechtsstaatlichkeit. Rechtsbewußtsein und Rechtsstaatlichkeit müssen von unten durch das zivile Engagement der Bürger wachsen. Sie lassen sich nicht von oben oktroyieren. Die Vorstellung der zentralen Anordnung und Durchsetzung des Rechts ist im traditionellen wie auch im aktuellen Denken in Rußland jedoch noch stark verwurzelt. Solange diese Denkvorstellung dominant bleibt, wird nach Fincke die Akzeptanz des Rechts und der Rechtsstaatlichkeit weder gesichert noch auch wirtschaftlich brauchbar sein.45 Einige wirtschaftlichen
Konsequenzen
Aufgrund der skizzierten Eigenarten des Institutionengefüges Rußlands erklären sich einige markante und aktuelle Eigenarten seines Wirtschaftssystems. Das verbreitete Vertäuen in informale Institutionen, das mit einem ebenso verbreiteten Mißtrauen in formale Regeln einhergeht, sind als die eigentlichen Ursachen für den großen Umfang der Schattenwirtschaft und der diversen informal organisierten Netzwerke zu veranschlagen. Unter Verwendung der Daten zur Geldnachfrage und des DYMIMICAnsatzes (dynamic multiple-indicators multiple-causes) schätzt Schneider den Umfang
43
Zitiert bei Christian Schmidt-Häuer, Rußland in Aufruhr: Innenansichten aus einem rechtlosen Reich, München und Zürich 1993.
44
Hans-Jürgen Wagener, Warum hat Russland den Zug verpasst?, in: Leviathan, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, H. 1, 2001, S. 110-140.
45
Martin Fincke, Recht und Transformation in Rußland, in: Hans-Herrmann Höhmann (Hg.): Spontaner oder gestalteter Prozeß? Die Rolle des Staates in der Wirtschaftstransformation osteuropäischer Länder, Baden-Baden 1999, S. 152-174, hier: S. 171.
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der Schattenwirtschaft für die Jahre 2000/2001 in Rußland auf 45,1 v.H., in der Ukraine gar auf 51,2 v.H. des offiziellen Bruttoinlandsprodukts. 4 6 N i m m t man die meist halblegalen Netzwerke hinzu, dann ist der U m f a n g der informalen Wirtschaft noch größer zu veranschlagen. In Rußland fallen neben den clanmäßig organisierten Netzwerken vor allem das verbreitete A u s m a ß der vertikalen Netzwerke zwischen der Privatwirtschaft und den staatlichen Amtsinhabern auf. Die privaten Akteure streben steuerliche Privilegien, Subventionszahlungen und die staatliche Patronage f ü r illegale Transaktionen und Wettbewerbsbeschränkungen an, für die sie kompensatorische Zahlungen an Politiker und Bürokraten leisten, mit denen sich diese ihre Posten in Politik und Verwaltung sichern oder sich persönlich bereichern. 4 7 Die Netzwerke basieren auf dem Vertrauen in die Geltung informaler und meist illegaler oder halblegaler Regeln und persönlicher Vertrauensbeziehungen. Der ideale Nährboden f ü r das Streben nach machtbedingten Renten bildet stets die ideell oder religiös verankerte Einheit von Staat und Wirtschaft und das damit einhergehende Mißtrauen in die Geltung formaler Regeln des Rechts. Über die negativen Wirkungen auf die wirtschaftliche Wohlfahrt besteht unter Ö k o n o m e n weitgehend Konsens. Bereits A. Smith hat darauf verwiesen, dass Handel und Gewerbe dort nur selten aufblühen können, w o „...nicht ein gewisses M a ß an Vertrauen in die von der Regierung zu gewährleistende Rechtssicherheit besteht." 4 8 Gemessen an gesellschaftlichen Verhältnissen, die rechtsstaatlichen Kriterien genügen und hohe Vertrauensgrade in die Rechtssicherheit ermöglichen, fallen bei dominant informal geregelten Transaktionen die Grade der wirtschaftlichen Spezialisierung, Kooperation und des Tauschhandelns geringer aus. Weil die damit verbundenen Erträge nur begrenzt ausgeschöpft werden, k o m m t es zu Wohlfahrtseinbußen, die zu Lasten der Konsumenten und damit der Bevölkerung gehen. Die durch staatliche oder private Macht bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen und Sonderregelungen führen z u d e m unweigerlich zur Erzielung machtbedingter Statusrenten und damit z u m Transfer von E i n k o m m e n seitens der Bevölkerungsmehrheit zugunsten politisch einflußreicher Partialinteressen. Diese ökonomischen Folgewirkungen, die sich interkulturell belegen lassen, gelten auch in Rußland. 4 9 Sie sollten jedenfalls von den Befürwortern eines russischen Sonderwegs in Gestalt einer möglichst ganzheitlichen Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung, den sie mit Verweis auf slawophile oder or-
46
Friedrich Schneider, The Size and Development of the Shadow Economies of 22 Transition and 21 OECD Countries, IZA Discussion Paper, No. 514, Bonn 2002.
47
Vgl. Heiko Pleines, Korruptionsnetzwerke in der russischen Wirtschaft, in: Hans-Herrmann Höhmann (Hg.), Kultur als Bestimmungsfaktor der Transformation im Osten Europas, Bremen 2001, S. 141-156. Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen: Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, München 1974, S. 785.
48
49
Vgl. zu Ursachen und Ausmaß der Rentensuche in anderen Kulturkreisen Helmut Leipold, Islam, institutioneller Wandel und wirtschaftliche Entwicklung, Studien zur Ordnungsökonomik, Nr. 27, Stuttgart 2001; Helmut Leipold, Institutionelle Ursachen der wirtschaftlichen Unterentwicklung in Schwarzafrika, in: Spiridon Paraskewopoulos (Hg.), Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung, Stuttgart 1997, S. 415-443.
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thodoxe Eigenarten legitimieren, realistisch gesehen und als komplementäre Nebenfolgen berücksichtigt werden. 50 Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeptionen, die einer holistisch-hierarchischen Weltsicht verhaftet sind, können nur als institutionelle Auslaufmodelle bewertet werden, weil sie keine zeitgemäße Lösung für das ewig aktuelle Ordnungsproblem offerieren. Zeitgemäße Lösungen für dieses - nach Kant - „schwerste" Problem der Menschengattung lassen sich erst auf der Grundlage einer theoretisch fundierten Erklärung der Entwicklung verschiedener kulturspezifischer Institutionengefüge und deren unterschiedlichen wirtschaftlichen Konsequenzen begründen. Bezogen auf Rußland, wäre es deshalb eine illusionäre Erwartung, die Gestaltung einer funktionsfähigen und international konkurrenzfähigen Wirtschaftsordnung allein von der Politik zu erhoffen. Denn Politiker und andere staatliche Amtsinhaber haben stets auch ein elementares Interesse an der Erzielung und Sicherung machtbedingter Statusrenten, und dieses Interesse läßt sich problemloser realisieren, je ganzheitlicher Staat, Wirtschaft und Gesellschaft ideologisch und institutionell verschmolzen und geordnet sind. Diese Einheitsidee gilt es also aufzubrechen und in Richtung einer funktional spezialisierten und plural verfaßten Ordnung zu verändern. Selbst eine reformbereite Politik braucht dafür die Unterstützung durch das zivile Engagement der Bürger, das sich aus säkularen und pluralen Überzeugungen über eine produktive und gerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung speist. Bezüglich der Akzeptanz und Geltung ideologisch und rechtlich gebundener Regeln besitzen Rußland wie auch die anderen orthodoxen Länder geschichtsbedingt über ein bisher nur partiell ausgeschöpftes Reformpotential, das freilich durch die Wissenschaften, die Intelligenz und die öffentlichen Medien zu unterstützen und durch das gemeinwohlorientierte zivile Engagement politisch um- und durchzusetzen ist.
50
Vgl. zu solchen Vorstellungen Joachim Zweynert, Die „ganzheitliche Gesellschaft" und die Transformation Rußlands, in: Hans-Herrmann Höhmann (Hg.), Wirtschaft und Kultur im Transformationsprozeß, Bremen 2002, S. 10-35.
Kulturelle Einflußfaktoren der Integration in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung* Inhalt 1. Zum Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Ökonomie
218
2. Regeltypen und Regelentwicklung
221
3. Kulturelle Einflußfaktoren einer marginalen weltwirtschaftlichen Integration: Der afrikanische Kulturraum
225
4. Kulturelle Einflußfaktoren einer erfolgreichen weltwirtschaftlichen Integration: Der chinesische Kulturraum
231
5. Einige normative Konsequenzen
239
Literatur
241
Erstdruck in: A. Schüller und H. J. Thieme (Hg.), Ordnungsprobleme der Weltwirtschaft, Stuttgart 2002, S. 45-71.
218
1.
Helmut Leipold
Zum Spannungsverhältnis zwischen Kultur und Ökonomie
Die aktuelle Diskussion über die Vor- und Nachteile der wirtschaftlichen Globalisierung und über die angemessene Ordnung der Weltwirtschaft erscheint den Ökonomen als Fortsetzung der alten Debatte zwischen Vertretern der klassischen liberalen Theorie einerseits und der Historischen Schule andererseits. Am Anfang der Wirtschaftswissenschaft stand die Einsicht von A. Smith (1776/1974), daß Arbeitsteilung, Spezialisierung und Tauschhandeln die Grundlage des wirtschaftlichen Wohlstandes seien. Ricardo hat mit seiner Theorie der komparativen Kostenvorteile diese Einsicht insofern universalisiert, als er damit die Vorteilhaftigkeit des internationalen, globalen Freihandels begründete. Versteht man Globalisierung als Enträumlichung und weltweite Ausdehnung der Marktbeziehungen, so war die klassische Ökonomie von Anfang an global und universal konzipiert. Damit verband sich die Erwartung, daß sich die marktwirtschaftliche Arbeitsteilung als natürliche Ordnung aufgrund ihrer Vorteilhaftigkeit mehr oder weniger zwangsläufig universal ausbreite und durchsetze. Gegenüber dem liberalen Entwicklungsoptimismus und Freihandelspostulat betonten die Vertreter der Historischen Schule räum- und zeitbezogene Entwicklungsunterschiede und postulierten die Notwendigkeit einer angepaßten nationalen Wirtschafts- und Handelspolitik mit stark protektionistischen Einschlägen. Die Debatte fand auf der Methodenebene ihre Entsprechung im Streit zwischen der abstrakt-theoretischen und der historisch-verstehenden Methode. Den Methodenstreit hat Eucken (1950, S. 15 ff.) als das Antinomieproblem bezeichnet, dessen Kern darin bestehe, ob und inwieweit angesichts der historischen und kulturellen Vielfalt des wirtschaftlichen Geschehens der Anspruch der Ökonomie einlösbar sei, allgemeine wirtschaftliche Gesetze zur Erklärung realer Verhältnisse und Entwicklungen zu formulieren. Eucken variiert damit nur das Spannungsverhältnis zwischen der Existenz kulturell verschiedener Ordnungsbedingungen auf der einen Seite und der allgemeinen ökonomischen Begründung der wechselseitigen Vorteile durch interkulturelles Tauschhandeln auf der anderen Seite (vgl. Leipold 1998). Die aktuelle Debatte über die wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen der verstärkten weltwirtschaftlichen Integration hat also eine lange Vorgeschichte. Im Mittelpunkt stehen die Fragen, ob sich im Zuge der Globalisierung die kulturell verschiedenen Institutionensysteme zunehmend angleichen und sich dadurch im Laufe der Zeit auch zunehmend einheitliche Verhaltensweisen und wirtschaftliche Ergebnisse herausbilden, die mit Hilfe allgemeiner ökonomischer Theorien plausibel erklärbar sind. Die empirische Datenlage ist je nach theoretischer und politischer Interessenposition unterschiedlich interpretierbar. Beispielhaft dafür sei die Studie der Weltbank (2002) über „Globalisierung, Wachstum und Armut" angeführt. Hier werden für die letzten 150 Jahre drei Globalisierungswellen unterschieden. Die erste Welle wird auf den Zeitraum von 1870 bis 1914, die zweite von 1950 bis 1980 datiert. Die erste Welle wurde durch sinkende Transportkosten und Zollsätze ausgelöst und durch den Handel der relativ industrialisierten westlichen Länder untereinander getragen, der die Entwicklungsländer insofern einschloß, als es sich um Kolonien des Westens handelte. Getauscht wurden
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gewerbliche und industrielle Güter (manufactured goods) sowie landintensive Primärgüter, wobei der Welthandel im Jahre 1914 fast die Zehnprozentmarke des Welteinkommens streifte. Noch wichtiger als die Handels- und Kapitalströme war die weltweite Migration, die 10 v.H. der Weltbevölkerung betraf. Auch in der zweiten Globalisierungswelle von 1950-1980 blieben die westlichen Industrieländer neben dem aufkommenden Japan die Hauptakteure des Handels, während die Teilhabe der Entwicklungsländer sich auf Exporte von primären Gütern konzentrierte. Die dritte Welle wird ab 1980 angesetzt und dauert mit zunehmender Intensität bis heute an. Die Weltbank unterscheidet drei Ländergruppen: erstens die Gruppe der reichen Industrieländer, die im Zeitraum 1990-2000 im Durchschnitt jährliche Wachstumsraten des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 2,2 v.H. erreichten; zweitens die Gruppe der gut zwei Dutzend Entwicklungsländer mit einer Gesamtzahl von 3 Mrd. Menschen, die sich ab 1980 verstärkt für den Welthandel öffneten. Diese Länder konnten durch Verdopplung des Handelsanteils am Sozialprodukt jährliche Einkommenszuwächse von 5 v.H. erzielen, wobei unterstellt wird, daß eine anteilige Zunahme des Außenhandels am BIP um 20 v.H. ein Wachstum des Sozialprodukts von 0,5-1 v.H. bewirkt hat (vgl. Dollar und Kraay 2001, S. 17). Der Erfolg dieser Länder, unter denen China und Indien mit mehr als 2 Mrd. Menschen die größten sind, ging mit einer Erhöhung der Lebenserwartung sowie mit einer Armutsverminderung breiter Bevölkerungskreise einher. Als wesentlicher Erfolg wird der Umstand gewertet, daß sich diese Gruppe im verstärkten Maße in die Weltmärkte für Industriegüter und Dienstleistungen integrieren konnte. Dieser Entwicklung wird die dritte Gruppe jener Entwicklungsländer mit ca. 2 Mrd. Einwohnern entgegengestellt, denen die Integration in die Weltwirtschaft mißlang. Die jährliche Einkommensentwicklung stagnierte oder belief sich in den 90er Jahren in vielen Ländern im Durchschnitt rückläufig, die Armut breiter Bevölkerungskreise verschärfte sich, und die Anteile am Welthandel fielen sogar hinter jene von 1980 zurück. Wie im Bericht der Weltbank (2002, S. 1) lapidar festgestellt wird, produzierte die Globalisierung also Gewinner und Verlierer, und zwar sowohl zwischen den Ländern als auch innerhalb der Länder. In diesem Beitrag sollen nur die unterschiedlichen Erfolge bzw. Mißerfolge zwischen Ländern interessieren. Betrachtet man die aufgelisteten Globalisierungsgewinner und gewichtet sie nach der anteiligen globalen Bevölkerungszahl und der Wertschöpfung, so dominieren eindeutig die asiatischen Länder, angeführt von China und Indien, gefolgt von Malaysia, Thailand, den Philippinen und Bangladesh. Die aus westlicher Sicht geläufige Zuordnung der Länder zu Asien übersieht natürlich nicht deren kulturelle Verschiedenheit. In der Gruppe der Verlierer dominieren dagegen fast ausnahmslos die afrikanischen Länder südlich der Sahara, die ehemaligen sowjetischen Staaten und die islamischen Länder Nordafrikas und des Mittleren Ostens. Letztere werden in der Studie der Weltbank nur marginal berücksichtigt. Ihre marginale Rolle im globalen Handel von Industriegütern und Dienstleistungen wird jedoch in anderen Studien belegt (vgl. Grömling 2001, S. 119). Auf die Erfolge bzw. Mißerfolge der mittel- und südamerikanischen Länder, die eine Mittelstellung einnehmen, kann in diesem Beitrag nicht eingegangen werden.
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Die Studie der Weltbank ist aus verschiedenen Gründen ein Spiegelbild für die kontroverse Einschätzung der Globalisierung. Sie liefert triftige Argumente für die Befürworter, deren Hauptargumente nach wie vor der klassischen bzw. neoklassischen Theoreme über die zeit- und raumunabhängig erzielbaren Vorteile des globalen Freihandels verpflichtet sind. Aber auch die Kritiker der liberalen oder neoliberalen Befürworter der Globalisierung werden fündig, indem die Studie Belege dafür gibt, daß der Globalisierungszug an der Mehrzahl der armen Entwicklungsländer dieser Welt vorbeigefahren sei. Eine Annäherung der kontroversen Standpunkte erscheint erst dann möglich, wenn das Verhältnis zwischen der unübersehbaren Vielfalt der wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen und der wechselseitigen Vorteilhaftigkeit des globalen Tauschhandels plausibel erklärt wird. Eine überzeugende und konsensfähige Auflösung der großen Antinomie der Nationalökonomie steht wohl noch aus. Das vorherrschende ökonomische Erklärungsmuster sieht in der Politik den Sündenbock für die wirtschaftliche Stagnation und für die mangelnde Integration in den Welthandel. Implizit macht sich auch die Weltbank (2002, S. 39 ff.) dieses Erklärungsmuster zu eigen, wenngleich sie als internationale Organisation auf politische Korrektheit und Überparteilichkeit bedacht sein muß. Die These vom Politikversagen als Hauptursache für das Integrationsversagen ist sicherlich für die meisten Entwicklungsländer plausibel. Sie bleibt jedoch einseitig, wenn die Einbettung der Politik in die Gesellschaft nicht thematisiert wird, wenn also - wie es häufig der Fall ist - implizit ein an westlichen Gesellschaften gemessenes Politik-, Staats- und Rechtsverständnis unterstellt wird. Ein solches Verständnis verleitet zudem zu der vorschnellen Annahme, im Wechsel der Regierungen oder einzelner Persönlichkeiten und dem damit erhofften Wechsel der Wirtschafts- und Außenhandelspolitik das Allheilmittel für Integrationserfolge zu sehen. Zur Relativierung der einseitigen Sichtweise sollen in diesem Beitrag einige tieferliegende, jenseits der Politik angesiedelte Faktoren für die Integration in globale Marktprozesse herausgestellt werden. Ich vermute sie in den kulturellen Eigenarten der langfristig gewachsenen und gelebten Institutionen- oder Regelsysteme einzelner Länder. Für diese Vermutung spricht die unübersehbare geographische Nähe der Länder innerhalb der Gruppe der Globalisierungsgewinner und noch mehr innerhalb der Verlierergruppe. Folgende Thesen sollen vertreten und begründet werden: Der Grad der Offenheit bzw. Geschlossenheit der gesellschaftlichen Regelsysteme bestimmt maßgeblich den Grad der Offenheit bzw. Geschlossenheit der Volkswirtschaften. Anders formuliert, bestimmt der Grad der gesellschaftlichen Regelteilung maßgeblich den länderspezifischen Grad der wirtschaftlichen Arbeitsteilung und damit den Grad der Integrationsfähigkeit in globale Markt- und Tauschprozesse. Die gesellschaftlichen Regelsysteme umfassen die Summe der informalen und formalen Regeln. Da die Entwicklung der informalen Regeln nur bedingt veränderbar ist, läßt sich der Prozeß der gesellschaftlichen Regelteilung und - über diesen vermittelt - der Prozeß der wirtschaftlichen Arbeitsteilung nur bedingt gestalten. Die kulturelle Vielfalt der Regelsysteme wird daher auch im Zeitalter der zunehmenden Integration der Weltwirtschaft auf absehbare Zeit ein Fakt bleiben. Zum Verständnis und zur Begründung der Thesen soll im folgenden
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Kapitel eine kulturvergleichend konzipierte Institutionentypologie vorgestellt werden, wobei auf Vorarbeiten Bezug genommen wird (vgl. Leipold 2000a und 2001a).
2.
Regeltypen und Regelentwicklung
Kultur ist bekanntlich ein schillernder Begriff, dessen Bedeutungsgehalt sich in den letzten Jahrhunderten mehrfach gewandelt hat und zudem bis heute zwischen Sprachräumen verschieden ist. Mal diente der Begriff zur Kritik einer materialistischtechnischen Entwicklung und zur Verklärung einer künstlerischen Welt, mal zur Charakterisierung verschiedener Regel- oder ganzer Lebensformen (vgl. Eagleton 2001). Der Minimalkonsens besteht in der Einsicht, daß die Kulturen ihren Anfang in dem Bestreben der Menschen finden, als vernunftbegabte Wesen die genetisch plastisch angelegten Regeln des sozialen Zusammenlebens bewußt oder meist unbewußt zu verändern, zu befolgen und an nächste Generationen weiterzugeben. Die Essenz der Kultur ist also in den tradierten Institutionen- oder Regelwerken zu suchen. Die Begriffe Institution und Regeln werden hier als synonyme Begriffe verstanden. Eine Institution verkörpert eine Regel bzw. Regelmenge, die erstens bestimmte Verhaltensweisen gebietet, verbietet oder erlaubt, die also den Raum des sozial zulässigen Verhaltens ordnet, die zweitens entweder unintendiert oder durch bewußte staatliche oder private Setzungen entstanden ist und die drittens entweder aufgrund Erziehung, Gewohnheit oder Überzeugung verläßlich befolgt oder durch externe Autoritäten und Kontrolleinrichtungen notfalls durch Zwang zur Geltung gebracht wird. Je nach der Beschaffenheit der Regeln und dem Grad ihrer Geltung, damit auch dem Grad des Vertrauens in Regeln werden Verlauf und Ergebnisse sozialer Beziehungen systematisch beeinflußt (vgl. North 1992, S. 3 f.). Jenseits dieser in institutionenökonomischen Ansätzen weitgehend geteilten Grundeinsicht gibt es verschiedene Typologien von Institutionen und auch konkurrierende Erklärungen des institutionellen Wandels. Die nachfolgend vorgestellte Institutionentypologie unterscheidet zwischen selbstbindenden und bindungsbedürftigen Institutionen. Kriterium der Unterscheidung ist der spieltheoretisch inspirierte Grad der Konvergenz bzw. Konkurrenz der Interessen in sozialen Beziehungen (vgl. Leipold 2000a). In konfliktfreien und deshalb sozial unproblematischen Interessenbeziehungen fällt die Einigung auf Regeln, die eine verläßliche Abstimmung der Verhaltensweisen gewährleisten, relativ leicht. Weil sie selbstinteressiert befolgt werden, seien sie als selbstbindende Institutionen oder Regeln bezeichnet. Klassische Beispiele sind Konventionen, also Sitten, Gebräuche, Rituale und andere kulturspezifische Gewohnheiten. Davon unterscheiden sich konfliktträchtige und deshalb sozial problematische Interessenbeziehungen, wie sie in klassischer Form durch das Gefangenendilemmaspiel abgebildet werden. Hier fallt die Einigung auf gemeinsame Regeln zur Abstimmung der Interessen und Verhaltensweisen deshalb schwer, weil die für alle beteiligten Akteure vorteilhafteste Regel einen Verzicht auf die individuell bestmögliche Vorteilsnahme verlangt. Gefragt sind also Beschränkungen oder Bindungen des Selbstinteresses, die den Kern der bindungsbedürftigen Institutionen ausmachen. Da der Verzicht auf die situativ beste Vorteilsnahme und die verläßliche Bindung an wechselseitig vorteilhaften
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Regeln selbstinteressierten Individuen stets und überall schwerfallt, ist in der Entstehung, noch mehr jedoch in der verläßlichen Geltung der bindungsbedürftigen Institutionen das originäre Knappheitsproblem der Institutionenökonomik zu sehen. Selbstbindende Institutionen entstehen meist spontan. Ihre Weitergabe im Wege der Erziehung und Bildung ist mit Aufwendungen verbunden, so daß es sich nicht um freie Güter handelt. Das prekäre institutionelle Knappheitsproblem stellt sich jedoch bei den bindungsbedürftigen Institutionen, weil sie Beschränkungen der Selbstinteressen und die angemessene Berücksichtigung der Interessen oder der Freiheiten anderer Individuen verlangen, worin das räum- und zeitlose Kernproblem aller Moral zu sehen ist (vgl. z. B. Kant 1968, S. 289 f.; Mackie 1981, S. 133). Daraus leitet sich die elementare Frage ab, welche Faktoren oder Quellen genuin selbstinteressierte Individuen dazu befähigen, sich auf moralische Bindungen einzulassen und sie ungeachtet situativ möglicher Vorteilsnahmen verläßlich durchzuhalten. Ich kann nur drei Quellen moralischen Verhaltens erkennen: erstens die genetisch, freilich schwach angelegten natürlichen Anlagen, also die sogenannten moralischen Gefühle; zweitens der rational nicht begründbare Glaube an die Existenz transzendenter Wesenheiten (Geister, Ahnen, Götter, Gott) mit einer eigenmächtigen Ordnungs- und Kontrollfunktion der individuellen oder sozialen Verhältnisse. Der geistige Zwilling des religiösen Glaubens bilden die von säkularen Ordnungsentwürfen oder Ideologien gespeisten und rationalen Argumenten nur bedingt zugänglichen Überzeugungen, weshalb sie kategorial dem Glauben zugeordnet werden sollen. Es bleibt drittens die dem Menschen eigene Vernunft, die dazu befähigt, die individuellen und sozialen Folgen alternativer Regelarrangements abzuwägen und sich für sozial vorteilhafte und konsensfähige Regeln zu entscheiden. Vernunft kommt also zum Zuge, wenn die Regelgeltung losgelöst von traditionalen, religiösen oder ideologischen Bindungen unter Nutzung des vorhandenen Wissens erfolgt. Idealerweise sollte das Recht vernunftgeleitet gestaltet werden. Nach Popper (1979, S. 164) zeichnet sich die Vernunft in der „Offenheit für Kritik" und damit in der Offenheit für die Reform unvollkommener Regelwerke aus, worin er die Essenz offener Gesellschaften sieht. Darauf wird noch einzugehen sein. Die originären Ordnungsfaktoren, also die moralischen Gefühle, der religiöse Glauben bzw. die ideologischen Überzeugungen und die kritische Vernunft (emotio, credo und ratio), liefern das Kriterium für die Unterscheidung der bindungsbedürftigen Institutionen in — emotional gebundene Institutionen — religiös gebundene Institutionen — ideologisch gebundene Institutionen und — rechtlich erzwingbare Institutionen. Das historisch gewachsene Gefüge dieser bindungsbedürftigen Institutionen macht den eigentlichen Kern einer jeden Kultur aus. Die produktive Regelung konfliktträchtiger Interessenbeziehungen ist deshalb zeit- und raumunabhängig ein problematisches Unterfangen, weil das Gelingen Beschränkungen der Selbstinteressen und die angemessene Anerkenntnis der Interessen anderer Individuen voraussetzt. Verlangt sind moralische Bindungen, deren Geltung stets und überall prekär ist, weshalb Moral und damit
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auch die Regelgeltung knappe Güter sind. Um das institutionelle Knappheitsproblem lösen zu können, mußten die Menschen ein tragfähiges Gerüst an Regeln schaffen und danach möglichst bewahren. Wie die Geschichte mit ihren vielfältigen kulturellen Regeln zeigt, ist dieses Bemühen unterschiedlich und häufig nur unvollkommen gelungen. Die produktive Lösung des institutionellen Knappheitsproblems hat die Menschheit seit den Anfängen ihrer Existenz beschäftigt, weil davon das pure soziale und wirtschaftliche Überleben abhing. Es galt also zu regeln, wer innerhalb der jeweiligen Gemeinschaften was zu tun und zu unterlassen hat, wer sich also auf welche Tätigkeiten zu spezialisieren hat, wie die Fähigkeiten aufeinander abgestimmt und die Ergebnisse bewertet, verteilt, getauscht und damit auch die Beziehungen zwischen Gemeinschaften geregelt werden sollen. Am Anfang der Kulturen steht also die Regelung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und Spezialisierung. Dieser Prozeß läßt sich als Regelteilung im ursprünglichen Doppelverständnis dieses Begriffs bezeichnen. Die Regelteilung setzt erstens voraus, die potentiell knappen Ordnungsfaktoren für moralische Verhaltensbeschränkungen zu erkennen und für die Produktion von verläßlichen Regeln einzusetzen. Die Regelgeltung muß zweitens akzeptiert und von der Mehrheit der Gemeinschaftsmitglieder geteilt, also gelebt werden, worin die eigentliche Schwierigkeit der Regelteilung bestand und besteht. Denn der moralisch eingeforderte Verzicht auf die situativ stets mögliche individuelle Vorteilsnahme setzt Vorleistungen voraus, deren Gegenleistungen unsicher sind und wechselseitiges Vertrauen verlangen. Die folgende grobe Skizze der institutionellen Evolution soll lediglich dazu dienen, das Gespür für die Schwierigkeit, Zufälligkeit und damit auch Verschiedenheit der gesellschaftlichen Regelteilung zu schärfen, wobei zum besseren Verständnis der nachfolgenden Ausführungen in Kapitel 3 und 4 besonders einige Weichenstellungen für die Entwicklung des westlichen Regelwerks gegenüber der Regelevolution in Afrika und China betont werden. Die emotional gebundenen Regeln markieren den Anfang aller Formen der menschlichen Vergemeinschaftung, weshalb moralische Gefühle als originärer Ordnungsfaktor zu gelten haben. In einigen Kulturen haben sie bis heute noch eine dominante ordnungsprägende Funktion. Ihr Defizit ist darin zu sehen, daß sich der Vertrauensradius lediglich auf die Ordnung von gefühlsmäßig verbundenen Gemeinschaftsformen erstreckt. Die ersten Durchbrechungen der engen Gemeinschafts- oder Sippenbande erfolgten zuerst meist durch die Religion und deren Botschaft von der Existenz gemeinschaftsverbindender Werte und Regeln. Nach Dürkheim (1981, S. 560) sind fast alle großen Institutionen der Menschheitsgeschichte aus der Religion entstanden. Selbst in modernen Gesellschaften dürfte die Ordnungsfunktion der Religion unverzichtbar sein. Freilich weisen Religionen eine janusköpfige Natur auf. Die ordnende Potenz der Religion hängt davon ab, daß die göttliche Botschaft für wahr gehalten und deshalb geglaubt und befolgt wird. Der Wahrheitsanspruch tendiert daher zu Intoleranz gegenüber konkurrierenden Religionen oder säkularen Überzeugungen, womit die Gefahr verbunden ist, daß die Entfaltung des freien Denkens behindert wird (vgl. dazu für den Islam Leipold 2001b). Eine wichtige Brückenfunktion zwischen Religion und Vernunft kommt den säkularen Ideologien zu, die für die Entstehung und Existenz offener und rechtsstaatlich ver-
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faßter Gesellschaften von maßgeblicher Bedeutung waren und sind, was sich am Beispiel der westlichen Regelentwicklung verdeutlichen läßt. Neben dem christlichen Unterbau beruhen die westlichen Gesellschaften auf den liberalen freiheitlichen Lehren der Aufklärung, die ja primär eine Kritik bestehender Institutionen waren, und dem davon inspirierten zivilgesellschaftlichen Engagement. Eine lebendige offene Zivilgesellschaft zeichnet sich durch aktive Bürger aus, die ihre gemeinsamen Probleme möglichst selbstverantwortlich zu lösen trachten, die die Pluralität des Glaubens und der ideologischen Überzeugungen tolerieren und die sich nicht als Mitglieder unterschiedlicher Ethnien oder Klassen, sondern als gleichberechtigte Mitglieder des Gemeinwesens verstehen. Sie sind bereit, sich aktiv in der Politik zu engagieren und die staatlichen und juristischen Instanzen zu kontrollieren, wodurch die Politiker und Bürokraten als Teil der Zivilgesellschaft selber stärker den Belangen des Gemeinwesens verpflichtet sind. Die wichtigste Voraussetzung für das zivilgesellschaftliche Engagement ist die Existenz einer autonomen Öffentlichkeit, in der die konkurrierenden Überzeugungen frei diskutiert und demokratisch festgelegte Regeln toleriert werden. Historisch gesehen, setzte das eine Mindesttrennung von Religion, Staat und Recht sowie die davon abhängige Existenz einer autonomen Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft voraus (vgl. Gellner 1995). Die Weichenstellung für diese Teilung der Regelwerke und damit der Gesellschaft in autonome Teilsysteme erfolgte in der europäischen Geschichte eher zufällig. Entscheidende Wegmarken waren der Investiturstreit im 11. Jahrhundert, in dessen Gefolge es zur Trennung zwischen kirchlicher und weltlicher Macht kam, sowie die Reformation und das daraus erwachsende Bestreben nach Religions- und Gewissensfreiheit, das wiederum die Entstehung des säkularen Staates, des rationalen Rechts, des freien Denkens und des freien Wirtschaftens, kurzgefaßt also die Entstehung einer freien und offenen Gesellschaft beflügelte. Erst auf der Grundlage der gesellschaftlichen Regelteilung konnte sich die unternehmerisch organisierte und marktwirtschaftlich koordinierte Arbeitsteilung entfalten. Als Resultat seiner kultur- und religionsvergleichenden Studien sah Max Weber (1924, S. 270 und S. 302) in seinem Spätwerk die entscheidenden Voraussetzungen für die westliche Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung der Neuzeit in der Existenz eines Rechtsstaates und Fachbeamtentums mit einem rationalen, von Juristen geschaffenen und angewendeten Recht, einer rationalen Wissenschaft und Technik sowie einer aktiven Bürgerschaft mit einem religiös geprägten Ethos der sozialen und wirtschaftlichen Lebensführung. Er erkannte also die kapitalistisch organisierte Marktwirtschaft als komplementäres Beiprodukt der Rationalisierungsprozesse in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, wobei Rationalisierung nur ein anderes begriffliches Verständnis jener Prozesse ist, die in moderner Terminologie als funktionale Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme mit je eigenen Regelwerken, die bei Eucken als Interdependenz der Teilordnungen und die in diesem Beitrag als komplementäre gesellschaftliche Regelteilung bezeichnet werden (vgl. Schwinn 1995, S. 27). Die westliche Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung markiert jedoch eher die historische Ausnahme, die von Historikern auch als europäisches „Wunder" oder als weltweiter „Sonderweg" gewürdigt wird, der nur aufgrund der eher zufälligen „Verkettung historischer Umstände" möglich war (vgl. Jones 1991).
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Die prekäre Existenz offener Gesellschaften wird durch das Aufkommen totalitärer Ideologien in Gestalt des Marxismus/Leninismus und des Nationalsozialismus im aufgeklärten 20. Jahrhundert belegt, die ja dem Ideal des essentialistischen Dogmatismus und damit einer geschlossenen Gesellschaft verpflichtet waren. Auch im 21. Jahrhundert mit seiner vorerst globalen Orientierung sind solche Rückfalle in archaische Denkmuster nicht auszuschließen. Noch ist die Welt durch die Vielfalt von kulturellen Regelwerken, Überzeugungen und Weltsichten geprägt, die es zuallererst wahrzunehmen und ernst zu nehmen gilt. Damit ist der Bezug zu den einleitend vorgetragenen Thesen wieder hergestellt. Kulturen unterscheiden sich nach dem Grad der Offenheit bzw. Geschlossenheit der Regelsysteme. Die Unterschiede lassen sich am Grad der kulturspezifischen Regelteilung erfassen. Regelteilung ist - wie bereits erwähnt - im Doppelsinn zu verstehen und meint einerseits den Grad der Teilung zwischen emotional, religiös, ideologisch gebundenen Regeln, die den Kern der informalen Regeln stellen, und den rechtlich erzwingbaren Regeln als Kern der formalen Regeln. Regelteilung meint andererseits den Grad der gesellschaftlich akzeptierten Geltung und damit der wirklichen Teilung der informalen und vor allem der formalen Regeln. Der Grad der real gelebten Regelteilung beeinflußt maßgeblich den Grad der wirtschaftlichen Arbeitsteilung und über diesen den Grad der Integrationsfähigkeit in globale Markt- und Tauschprozesse. Der kausale Wirkungszusammenhang zwischen der Verfaßtheit und der Geltung von Regeln und der davon abhängigen Entfaltung wirtschaftlicher Produktions- und Tauschprozesse wird in diesem Beitrag nicht thematisiert, sondern als bekannt vorausgesetzt (s. Leipold 2000a). Es geht lediglich darum, die bewährten Institutionen-, ordnungs- und markttheoretischen Erklärungsansätze um kulturelle Einflußfaktoren zu erweitern und zu ergänzen. Dieses Vorhaben soll durch die vergleichende Analyse der zum afrikanischen Kulturraum gehörenden Länder südlich der Sahara und der dem chinesischen Kulturraum zurechenbaren Länder demonstriert werden. Die afrikanischen Länder sind nach wie vor nur marginal in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung integriert. Sie gehören also zu den „Verlierern" der Globalisierung. Vergleichsweise dazu gehören China und die von der chinesischen Kultur geprägten Länder zu den „globalized countries", also zu der Gruppe von Ländern, die sich in den letzten Jahrzehnten erfolgreich in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung integrieren konnten.
3.
Kulturelle Einflußfaktoren einer marginalen weltwirtschaftlichen Integration: Der afrikanische Kulturraum
Die afrikanischen Länder südlich der Sahara sind mit der relativen Ausnahme von Südafrika durchweg wirtschaftlich arme Länder mit einem geringen Grad der Arbeitsteilung sowohl im Innern als auch bezüglich der Integration in die internationale Arbeitsteilung (vgl. Weltbank 2000, S. 274 ff.). Die Hauptursache dafür ist in dem geringen Grad der Regelteilung zu vermuten. Im Verständnis der im 2. Kapitel präsentierten Institutionentypologie bilden die emotional gebundenen Institutionen in Gestalt tribaler Regeln den tragenden Stützpfeiler der gesellschaftlichen Ordnung. Die Regelwerke weisen also noch viele Merkmale segmentär differenzierter Gesellschaften auf (vgl. Luhmann 1984). Die Hauptsegmente sind Stämme und ähnliche verwandtschaftlich und
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regional verbundene Gemeinschaften, deren Regeln und Beziehungen auf subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit beruhen (vgl. Weber 1976, S. 21). Die Gemeinschaften sind intern nur gering und primär vertikal differenziert und nach außen relativ geschlossen. Vergleichsweise zu den tribalen Regeln haben religiös und ideologisch gebundene sowie rechtliche Regeln nur eine marginale Geltung. Die wichtigsten Ursachen für die Persistenz archaischer Stammesbindungen liegen in der vorkolonialen sowie in der kolonialen Vergangenheit. Vor der Kolonialisierung wies Afrika eine ungeheure Vielfalt gesellschaftlicher Ordnungs- und Regelformen auf. Es gab nomadisierende Jäger- und Sammlerhorden, seßhafte Häuptlings- und Stammestümer bis hin zu feudalen Königstümern und einigen zentral regierten Staatsgebilden. Innerhalb der wenigen staatlichen oder parastaatlichen Herrschaftsformen konnte sich eine Urbane Tradition mit einem gewissen, wenn auch geringen Grad der wirtschaftlichen Arbeitsteilung entfalten (vgl. Connah 2001). Die Herausbildung gemeinschaftsüberschreitender Identitäten und Werte scheiterte allein an der mangelnden Schriftkenntnis, die eine zentrale Vorbedingung für die Entwicklung des formalen Rechts bildet. Durch die Kolonialisierung, die in der Bildung unabhängiger Staaten endete, wurde dieses vielgestaltige Ordnungsgeflecht drastisch verändert. Bei fast allen neuen Staatsgebilden fiel die territoriale Abgrenzung mehr oder weniger willkürlich aus. Sie erfolgte nach den zufälligen Besitzständen der Kolonialmächte und nur ausnahmsweise nach gewachsenen politischen, ethnischen und kulturellen Gemeinschaftsformen. Die neuen Staaten waren und sind also Kunstgebilde. Indem die Kolonialmächte mehrere tausend ethnische Gemeinschaften mit je eigenen Identitäten, Regelwerken und Sprachen zu rund 40 Staaten zusammenfügten, schufen sie multikulturelle Gebilde einmaligen Ausmaßes. Das allmähliche Zusammenwachsen dieser heterogenen Gemeinschaften zu einem produktiven und friedfertigen Staatswesen erhoffte man sich von der Übertragung der Staats-, Rechts- und Wirtschaftsordnungen der jeweiligen Kolonialmächte. So wurden in den französischen Kolonien der Code Civil und in den englischen Kolonien das Common Law als verbindliche formale Zivilrechte übernommen. Vom Staat und seinen im Westen ausgebildeten Repräsentanten wurde erwartet, daß sie Recht und Ordnung allgemeine Geltung verschaffen. Der Staat sollte sich als Schule und die Staatseliten sollten sich als Lehrer der Nation erweisen und den Nationalinteressen gegenüber den heterogenen ethnischen Interessen zum Durchbruch verhelfen. Diese Erwartung erwies sich als große Illusion. Gemessen an den Verhältnissen moderner Gesellschaften mit rechtsstaatlichen Demokratien und industriell entwickelten, arbeitsteiligen Marktwirtschaften, sind die realen Verhältnisse in den afrikanischen Gesellschaften als desolat zu bewerten (vgl. Chabal und Daloz 1999; Bayart, ElIis und Hibou 1999). Sie werden rechtlich eher willkürlich regiert, Staat und Recht werden für einen patrimonial und tribal geprägten Klientelismus instrumentalisiert, die Korruption ist auf allen Ebenen verbreitet, die Gesellschaft ist ethnisch fragmentiert, und wirtschaftlich handelt es sich folgerichtig um arme und rückständige Länder. Die Details und vor allem die Ursachen der Mißstände können hier nur exemplarisch beleuchtet werden. Die realen Verhältnisse sind ein Reflex
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der unterentwickelten gesellschaftlichen Regelteilung. Die tribal gebundenen Regeln dominieren, weil sie offensichtlich die verläßlichste Grundlage für eine vertrauensvolle und auf Spezialisierung angelegte Kooperation bieten. Die ordnungsstiftende Kraft der Religion konnte sich aus verschiedenen historischen Gründen in Afrika nicht entfalten. Im vorkolonialen Afrika dominierten verschiedene polytheistische Religionsformen. Charakteristisch für die Jäger- und Sammlergemeinschaften war der Glaube an Geister und Naturgötter, für die eher seßhaften Stammesund Feudalordnungen dagegen der Ahnenkult. Diese Glaubensformen waren imstande, eine relativ friedfertige Binnenmoral zu schaffen und archaische Herrschaftsformen zu legitimieren. Für die stammesübergreifende Kooperation waren und sind sie jedoch überfordert. Eine ähnliche Überforderung trifft auch auf die monotheistischen Religionen zu, die sich meist auf dem Wege einer erzwungenen und fremdbestimmten Missionierung ausbreiteten. Das gilt für den Islam in Nordafrika und noch mehr für die christliche Missionierung im Zuge der Kolonialisierung. Zudem erweist sich das Nebeneinander verschiedener monotheistischer Religionen in den einzelnen afrikanischen Staaten eher als spaltendes, denn als integrierendes Element. Monotheistische Religionen sind zudem untrennbar mit animistischen Glaubensvorstellungen vermischt. Aus ähnlichen Gründen konnten auch westliche säkulare Ideologien in Afrika keinen ordnungsprägenden Niederschlag finden. Dem vorkolonialen Afrika fehlten dafür die mentalen und kommunikationstechnischen Möglichkeiten. Auch im nachkolonialen Afrika mangelt es an Voraussetzungen für einen freien öffentlichen Diskurs über konkurrierende säkulare Ideologien. Der nationalstaatlichen Idee steht die Vielfalt der ethnischen Identitäten im Wege. Den sozialistisch-marxistischen Ideen fehlt es an einer theorieadäquaten ökonomischen Basis, und liberal-rechtsstaatlichen Ideen mangelt es an Vertrauen in die Chance, daß Staats-, Verwaltungs- und Justizorgane als überparteiliche Instanzen handeln. Aufgrund der „Verkettung der historischen Umstände" im Weberschen Verständnis waren Glaube und Überzeugungen und das daraus erwachsende religiöse und zivilgesellschaftliche Ethos der Lebensführung nicht imstande, die Dominanz traditionaler Regelwerke und Weltbilder zu durchbrechen und Brücken für die Gestaltung und Akzeptanz vernunftgeleiteter rechtlicher Regeln zu bauen. Erst wenn diese spezifischen historischen Umstände berücksichtigt werden, läßt sich der Einfluß des Staates und des Rechts auf die wirtschaftliche Entwicklung realistisch erfassen. Die postkolonialen Staaten Afrikas sind keine souveränen Staaten im westlichen Verständnis. Chabal und Daloz (1999, S. 55 ff.) bezeichnen die afrikanischen Staaten in Anlehnung an die Webersche Herrschaftstypologie als patrimoniale Staaten, andere sprechen gar von der Kriminalisierung des Staates und des Rechts (Bayard, Ellis und Hibou 1999). Im postkolonialen Afrika ist es nicht gelungen, den Staat und die Verwaltung als überparteiliche, über den heterogenen Gemeinschaften stehende Instanz zu etablieren. Staatliche Ämter und Kompetenzen werden vielmehr zugunsten der Gemeinschaften instrumentalisiert, so daß man von einer Vergemeinschaftung des Staates, bevorzugt in Form der Tribalisierung, sprechen kann. Politiker, Beamte oder Militärs fühlen sich nicht zuerst dem Staat als übergeordnete Einrichtung, sondern den auf Familie, Stamm oder Region gegründeten Gemeinschaften verpflichtet. Die klientelistischen
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Netzwerke sind durchweg vertikal organisiert und funktionieren über persönliche Beziehungen und Unterstützungen. Es gibt also keine strikte Trennung zwischen Amt und Person. Die Ämter sind als Orte der Macht zugleich die Orte der Bittsteller, der Unterstützung und der Verteilung von Ressourcen (Pfründe, Renten, Posten). Teilhabe an der staatlichen Macht bedeutet Zugang zu und Verteilung von staatlichen Ressourcen. Diese Vorstellung dominiert unabhängig davon, ob es sich um autoritär oder demokratisch verfaßte Ordnungen handelt. In den eher wenigen demokratischen Staaten unterscheiden sich die Parteiprogramme nicht gemäß den üblichen ideologischen Politikrichtungen, sondern primär gemäß ethnisch-tribalen Gliederungen. Die Kontrollfunktion der Oppositionsparteien bleibt relativ wirkungslos, weil sie ebenfalls auf die Teilhabe an der staatlichen Macht bedacht sind und weil ihre Führer den Gemeinschaften verbunden sind, die sie unterstützen. Die Wähler erwarten, daß ihr Repräsentant seinen politischen Einfluß zugunsten der Gemeinschaft nutzt. Das macht verständlich, daß der durch politischen Einfluß erworbene Reichtum und Luxuskonsum der Eliten selbst innerhalb armer Gemeinschaften nicht auf Neid oder gar Widerstand stoßen, denn Anteile daran fallen ja auf die Gemeinschaft zurück. Die Oppositionsparteien und -bewegungen kämpfen in Afrika nicht gegen das System, sondern gegen den Ausschluß aus dem staatlich organisierten Privilegiensystem. Freilich sind diese Verhaltensmuster auch in anderen Kulturkreisen verbreitet. In Afrika fallen jedoch das Defizit an gemeinschaftsübergreifend geteilten Regeln und damit die ungebrochene Dominanz tribaler Bindungen auf, die auf die angeführten historisch bedingten Defizite bei den religiös und ideologisch gebundenen Institutionen zurückzufuhren sind. Unsere Vermutung wird durch die Diagnose von Chabal und Daloz (1999, S. 20) bestätigt, „... that African societies are essentially plural, fragmented and, above all, organized along vertical lines ... In general, then, vertical division remain more significant than horizontal functional bonds or ties of solidarity between those who are similarily employed or professionally linked." Die vertikal und d. h. tribal fragmentierten Strukturen in Politik und Gesellschaft finden ihre Fortsetzung in der Wirtschaft und hier in dem geringen Grad der marktwirtschaftlichen Arbeitsteilung und Spezialisierung. Die desolate wirtschaftliche Bilanz der afrikanischen Länder kann nur schlaglichtartig angedeutet werden. Das reale Pro KopfEinkommen sank im Zeitraum 1981-1990 jährlich um 1,2 v.H. und zwischen 1991 und 1999 um 0,6 v.H. (vgl. Grömling 2001, S. 26; Weltbank 2000, S. 274 ff.). Betrugen die Exporte dieser Länder Mitte der fünfziger Jahre, also zu Beginn der Unabhängigkeit, noch 3,1 v.H. des Welthandels, so sank dieser Anteil in den neunziger Jahren auf ca. 1 v.H., was jährliche Handelsverluste in Höhe von 60-70 Mrd. $ bedeutete (vgl. Sharer 2001; Collier und Gunning 1999). Diese Schrumpfung ist teils auf die weltweit sinkende Nachfrage nach den Hauptexportprodukten (Rohstoffe und Agrargüter), noch mehr aber auf den kontinuierlichen Rückgang der Marktanteile auf den entsprechenden Weltmärkten zurückzuführen. Die sinkenden Marktanteile und die fehlende Präsenz auf den globalen Märkten für Industriegüter und Dienstleistungen haben hausgemachte Ursachen. Jedenfalls spielen die Handelsschranken nur eine geringe Rolle, da die meisten Handelsabkommen mit den Industrieländern die afrikanischen Länder vergleichsweise
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zu anderen Ländern relativ begünstigen. Damit sollen die nachteiligen Wirkungen der Handelsschranken in den Bereichen Agrargüter, Leder oder Bekleidung seitens der Industrieländer für Afrika nicht in Abrede gestellt werden. Unabhängig davon stellen die hausgemachten Fehler der Wirtschafts- und Handelspolitik in den afrikanischen Staaten jedoch „... ein beträchtliches Exporthemmnis dar, das ihre Fähigkeit verringert, auf den internationalen Märkten wettbewerbsfähig zu sein" (Yeats, Amadi, Reincke und Ng 1996, S. 36). Für diese Diagnose spricht, daß sich der innerafrikanische Handel in den neunziger Jahren auf ganze 6 v.H. des Handelsvolumens belief, obwohl es verschiedene Anläufe zur Errichtung multilateraler Handels- und Wirtschaftsabkommen gab und gibt. Es handelt sich meist um halbherzige Vereinbarungen über Handelspräferenzen, in denen jedoch Ausnahmen und vor allem hohe Zölle für die Produkte festgeschrieben werden, von denen die Konkurrenzfähigkeit der inländischen Produzenten betroffen ist. Nirgendwo in der Welt dürfte zudem der Anteil der Zölle und anderer Handelssteuern an den Staatseinnahmen höher als in den afrikanischen Ländern sein, die im Durchschnitt ein Drittel der Staatseinnahmen beitragen. Dabei sind die Anteile der illegalen Zahlungen für grenzüberschreitende Geschäfte an den Einkommen der Beamten in den diversen Staatsämtern sicherlich höher zu veranschlagen (vgl. Haefliger 2001; Sharer 2001). Von daher liegt es nahe, die Hauptverantwortung für den geringen Grad der nationalen wie auch der internationalen Arbeitsteilung dem rechtsstaatlich willkürlichen und rentensuchenden Verhalten der Staats- und Justizorgane auf allen Ebenen anzulasten. Die vielfaltigen und raffinierten Formen, mit denen die Staatsklasse die Wirtschaft ausbeutet, habe ich an anderer Stelle dargestellt (vgl. Leipold 1997; ferner Chabal und Daloz 1999, S. 77 ff. und S. 95 ff.). Weil auf das Recht und dessen Verwaltung kein Verlaß ist, suchen die privaten Wirtschaftssubjekte der staatlichen Willkür auszuweichen und informelle Beziehungen und Geschäfte aufzubauen. Diese Beziehungen basieren hauptsächlich auf informalen Regeln. Da deren Vertrauensradius begrenzt ist, bleibt auch das Ausmaß der Arbeitsteilung und Spezialisierung gering. Weil insbesondere risikoreiche Kapitalinvestitionen mit einem hohen Grad der Faktorspezifität gemieden werden, dominieren arbeitsintensiv wirtschaftende kleine Familienbetriebe mit begrenzten Austauschbeziehungen zwischen vertrauenswürdigen Tauschpartnern. Die Volkswirtschaft in einen offiziellen (formellen) und einen inoffiziellen (informellen) Sektor einzuteilen und den großen Umfang des inoffiziellen Sektors mit dem Argument des Politikversagens zu erklären ist jedoch für Afrika wenig sinnvoll. Dabei wird die durchgängige Dominanz informaler Regelwerke übersehen. Damit ist erneut der hier interessierende kulturspezifische Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Regelteilung und der wirtschaftlichen Arbeitsteilung angesprochen. Er gestaltet sich in den afrikanischen Gesellschaften, in denen emotional-tribal gebundene Institutionen dominant sind, anders als in westlichen Gesellschaften. Für Menschen, die in gefühlsmäßig verbundenen Gemeinschaftsformen aufwachsen und leben, ist die Vorstellung einer ausdifferenzierten Gesellschaft mit je spezifischen Regelwerken eine eher befremdliche Weltsicht. Statt dessen liegt die Vorstellung nahe, daß die vertrauten und nach verwandtschaftlicher Nähe abgestuften Regeln der Reziprozität auch die angemessenen Regeln für die Abwicklung möglichst aller Transaktionen
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in der Großgesellschaft sein sollten, was die Geltung der negativen Reziprozität, also der Vorteilnahme zu Lasten fremder Personen oder Gruppen, einschließt. Die Regeln der Reziprozität zeichnen sich dadurch aus, daß die Beteiligten für ihre dargebotenen Güter, Gaben, Gefälligkeiten oder Unterstützungen angemessene und ungefähr ausgeglichene Gegenleistungen erwarten. Das wechselseitige Geben und Nehmen sind an dauerhafte soziale Beziehungen gebunden und werden durch informelle Absprachen und Regeln abgewickelt (zum Verhältnis von Reziprozität und Markttausch vgl. Polanyi 1979, S. 219 ff.). Die Übergänge zwischen den Regeln der Reziprozität und den aus westlicher Sicht illegalen Regeln der Vetternwirtschaft oder der Korruption sind in Afrika fließend. Gleiches gilt für die Abgrenzung zwischen informellen und formellen Markttransaktionen. Bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen, der Einstellung von Personen im öffentlichen Dienst oder auch in privaten Unternehmen, bei der Wahl der Zulieferer und Abnehmer von Gütern oder der Differenzierung der Preise gegenüber bekannten oder fremden Tauschpartnern werden von den Politikern, Beamten oder Unternehmern familien- und stammesbegünstigende Entscheidungen als normale und somit als rationale Entscheidungen erwartet. Wer die geltenden Regeln mißachtet, gefährdet seinen sozialen Status innerhalb der Gemeinschaften und die damit verbundenen Unterstützungen. Die Regeln werden beibehalten, auch wenn vielleicht bei der großen Mehrheit der Beteiligten die Einsicht dämmert, daß sie die Steigerung der Arbeitsteilung, der Spezialisierung und der damit verbundenen Wohlfahrtsgewinne behindern. Dem Übergang von der emotionalen Vergemeinschaftung zur anonymen unpersönlichen Vergesellschaftung stehen also ziemlich festverwurzelte Bindungen im Wege. Die traditionellen Bindungen haben sich in den afrikanischen Staaten als einzig tragfahiger Stützpfeiler der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung erwiesen. Das Vorhaben, sie durch die Übernahme modernen (westlichen) Rechts aufzulösen und ersetzen zu wollen, muß als weitgehend gescheitertes Projekt bezeichnet werden. Statt der erhofften Modernisierung läßt sich der Entwicklungsweg des postkolonialen Afrikas eher als „Retraditionalisierung" bezeichnen (vgl. Chabol und Daloz 1999, S. 45 ff.) In der ungebrochenen Geltung traditionaler Regelwerke ist die tiefere, weil kulturspezifische Ursache für die marginale Integration in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung zu sehen. Die wichtigste Voraussetzung für eine verstärkte Integration ist von daher in der Herausbildung gemeinschaftsübergreifender, also gesellschaftlich geteilter Regeln und Bindungen zu sehen. Die Chancen dafür sind vorerst gering zu veranschlagen, weil in den ethnisch und religiös fragmentierten afrikanischen Ländern keine Ordnungskräfte erkennbar sind, die diese Herausforderung meistern können. Dennoch ist die gesellschaftliche Regelteilung auf endogene Ordnungskräfte angewiesen, ohne deren integrative Funktion die Politik überfordert ist. Die positiven Wirkungen gesellschaftlich geteilter moralischer Regeln und Bindungen lassen sich am Beispiel des chinesischen Kulturraumes studieren. Dieser Raum ist deshalb interessant, weil in ihm emotional-familiär gebundenen Regeln nach wie vor eine überragende Ordnungsfunktion zukommt. Im Unterschied zu Afrika sind die emotionalen Regeln jedoch in ein gewachsenes und gesellschaftlich geteiltes System moralisch-ideologischer Regeln eingebunden (vgl. zum folgenden Leipold 2000b).
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Kulturelle Einflußfaktoren einer erfolgreichen weltwirtschaftlichen Integration: Der chinesische Kulturraum
Aus der Perspektive des im 2. Kapitel präsentierten institutionenökonomischen Ansatzes ist die hervorstechende kulturelle Eigenart Chinas darin zu sehen, daß es emotional gebundene Institutionen in Gestalt familiärer Bindungen und Regeln zum tragenden Stützpfeiler der Gesellschaftsordnung ausgebaut und bis in die moderne Zeit bewahrt hat. Dieses tragende Regelsystem wird durch ein System religiös-ideologisch gebundener Institutionen abgestützt, die ihrerseits auf einer eigenständigen kosmologischen Moral- und Soziallehre beruhen. Das institutionelle Gerüst hat im Laufe seiner jahrtausendelangen Ausbildung eine außerordentliche Belastbarkeit bewiesen, die es bis heute dazu befähigt, mit einem Minimum an formalen, also an rechtlich-erzwingbaren Institutionen auszukommen. Da China dasjenige Land ist, das die längste und relativ kontinuierlichste eigene Geschichte aufweist, hat auch die Erklärung der kulturellen Eigenarten historisch weit auszuholen. Die überragende Rolle der Familie als gesellschaftliche Grundeinheit und als Wiege der Kultur läßt sich in China bis in seine frühen Anfange nachweisen (vgl. Goody 1990, 5. 52 ff.). Ungeachtet der nach Region und sozialem Status bestehenden Unterschiede der Familienorganisation dominierte schon früh die vaterrechtlich, also die patrilineare und patriarchalisch geordnete Familie. Aus dem emotionalen Verbund verwandter Familien bildeten sich Familienverbände oder Klans, die ihren Zusammenhalt auf einen gemeinsamen Ahnen zurückführten. Die Zugehörigkeit wurde meist durch den Familiennamen bzw. durch den Namen des Ortes, in dem sich der Familientempel befand, definiert, wobei sich im Extrem Angehörige desselben Familiennamens, von denen in China seit jeher nur wenige hundert Namen üblich waren, als Klangemeinschaft betrachteten. Der Zusammenhalt wurde dabei durch den Ahnenkult mit regelmäßigen Ahnenopfern und durch gegenseitige Hilfen für in Not geratene Angehörige gefestigt. Patrilinear geordnete Familienverbände mitsamt dem Ahnenkult lassen sich in vielen frühen Kulturen als primäre Ordnungseinheiten nachweisen (vgl. Kohl 1993, S. 32 ff). Wie die afrikanischen Gesellschaften zeigen, waren und sind sie imstande, innerhalb der einzelnen Verwandtschaftsgemeinschaften kooperative und friedfertige Beziehungen zustande zu bringen. Ihre Schwäche bestand und besteht in der begrenzten Reichweite der verwandtschaftlichen Bindungen und dem damit verbundenen latenten Dualismus zwischen Binnen- und Außenmoral. Das friedfertige Zusammenleben von mehreren und größeren Familienverbänden erforderte daher regelmäßig eine übergreifende Integrationsideologie, die üblicherweise durch die Religion bereitgestellt wurde. Max Weber (1991, S. 200) hat daher in der Durchbrechung der Sippenbande die große Leistung insbesondere der monotheistischen Religionen gesehen. China hat schon früh eine davon abweichende, eigenständige Lösung des Ordnungsproblems gefunden, wobei hier nur die Unterschiede gegenüber der afrikanischen und okzidentalen Entwicklung interessieren sollen. Die Einzigartigkeit der chinesischen Kultur ist darauf zurückzuführen, daß China in seiner frühen Geschichte ein Weltverständnis auf- und später ausgebaut hat, dessen Essenz in der Annahme zu sehen ist, daß die Welt- und Sozialordnung nach analogen Prinzipien funktionieren, die letztlich den elementaren Prinzipien einer Familienordnung entsprechen. Diese Einsicht ist von Ken-
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nern der chinesischen Kultur als Organizismus, als Entsprechung von Makro- und Mikrokosmos oder als Einheit von Himmel, Erde und Sozialordnung beschrieben worden (vgl. Needham 1956, S. 281; Elictde 1979, S. 27; Bodde 1981, S. 264). Einigkeit besteht auch darüber, daß die Ursprünge des chinesischen Weltbildes weit zurückreichen. So lassen sich die Anfänge für die Systematisierung und damit für die Erklärung der Welt für die Shang-Periode (16. - 11. Jh. v. Chr.) belegen. Hier taucht bereits die Unterscheidung zwischen den beiden Grundprinzipien Yang und Yin auf, wobei Yang ursprünglich die Sonnenseite eines Hügels meinte und später mit den Eigenschaften männlich, hart, hell oder himmlisch im Unterschied zu den YinEigenschaften weiblich, weich, dunkel oder irdisch identifiziert wurde. Auf diese Weise ließ sich aus der harmonischen Verbindung der beiden gegensätzlichen Grundprinzipien sowohl die Entstehung der Welt und der sozialen Ordnung als auch der Menschen erklären. Damit war der Gedanke der prinzipiellen Harmonie zwischen potentiell konfligierenden Prinzipien oder Elementen in die Welt gesetzt, womit zugleich die Lösung des Ordnungsproblems vorgezeichnet war. Für das religiöse Bedürfnis nach einer Erklärung der Welt erübrigte sich die Annahme eines göttlichen Schöpfers und Gesetzgebers, wie sie für die monotheistischen Religionen charakteristisch war. In der SÄa/ig-Periode existierte zwar die Vorstellung einer obersten Gottheit (di), mit der die Herrscher über ihre Ahnen verbunden waren und kommunizieren konnten. Diese Gottheit wurde jedoch bereits als unpersönliches Wesen vorgestellt, das dem Ahnenkult und insbesondere der herrschenden Verwandtschaftslinie eine höhere Weihe verleihen sollte. Der Ahnenkult verblieb dabei die ureigene Angelegenheit der einzelnen Familienverbände. In der Periode der Z/zow-Dynastie, die ab ca. 1025 v. Chr. die Shang-Dynastie ablöste, wurde dann die oberste Gottheit zum abstrakten Himmel umgedeutet. Das erschien geboten, weil die oberste Gottheit traditionell der Ahnenreihe der SÄawg-Dynastie zugeordnet wurde, wodurch die Legitimation der Zhou-Linie in Frage gestellt war. Durch die Trennung von Himmel und verwandtschaftseigenen Ahnengöttern ließ sich dieses Defizit beheben. Es entwickelte sich nun die abstraktere Idee vom Mandat des Himmels, die später zum offiziellen Staatskult und damit zur Herrschaftsideologie ausgebaut wurde. Gemäß dieser Lehre bedeutete staatliche Herrschaft die Ausübung eines vom Himmel vorgegebenen Auftrags, der legitim war, solange er dem Wohl des Volkes, also der Beherrschten diente. Damit war die Idee verbunden, daß der Herrscher im Falle eines Macht- und damit Mandatsmißbrauches seine himmlische Legitimation verliere. Die frühe Rechtfertigung der zentralen Herrschaft als Mandat des Himmels wurde später verfeinert, blieb aber das Grundprinzip des chinesischen Staates. Ihre offizielle Version erfuhr sie während der frühen Herrschaft der /fa«-Dynastie (206 v. Chr. 220 n. Chr.), wobei konfuzianische und legalistische Gedanken synthetisiert wurden. Gemäß der Dong Zhongshu zugeschriebenen Version bilden Himmel, Erde und Menschen eine hierarchische Einheit. Der Herrscher als der Sohn des Himmels vermittelt dem Volk die Ideen des Himmels. Zugleich hat er dem Himmel als dem Vater und der Erde als der Mutter zu opfern, also Staatskulte durchzuführen. Das Privileg des Himmelskults verlieh eine gewisse religiöse Erhöhung des Kaisers und damit des Staates und seiner Verwaltung, weshalb die staatlichen Herrscher und die in ihrem Dienst tätigen Verwalter auch den Hauch eines religiösen Charismas genießen konnten (Weber
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1991, S. 51 f.). Das bedeutete zugleich auch eine Abstufung des Volkes, da es von einer der wichtigsten Staatsfunktionen ausgeschlossen blieb. Die Herrschaftsfunktion war jedoch begrenzt, da sie als Mandat galt und im Falle des Machtmißbrauchs entzogen werden konnte. Auch bei dieser Version der Herrschaftsideologie hat die Familienordnung Pate gestanden. Bezeichnenderweise bürgerte sich für das Herrscherhaus der Begriff der „Landesfamilie" ein, der auch als synonymer Begriff für den Staat galt. Mit Ausnahme der Legalisten wurde die Familienordnung in allen klassischen Philosophie- und Morallehren ideologisch erhöht. Erwähnt sei hier nur der Konfuzianismus, in dessen Zentrum die fünf wesentlichen menschlichen Beziehungen stehen. Gemeint sind die Beziehungen zwischen Vater und Sohn, Herrscher und Untertanen, Mann und Frau, älterem und jüngerem Bruder und die zwischen Freunden, denen jeweils Pflichten zugeschrieben werden. Deren Essenz hat der Philosoph Hart Feizi im dritten Jahrhundert v. Chr. in der Forderung zusammengefaßt, daß der Untertan dem Herrscher, das Kind dem Vater und die Frau dem Mann dienen soll. Wo diesen Pflichten genügt werde, sei das Zusammenleben wohlgeordnet (vgl. Malek 1993, S. 96). Der Konfuzianismus, der in China, später aber auch in Japan oder Korea die Staats-, Bildungs- und Gesellschaftsordnung maßgeblich geformt hat, weist von Anfang an mit dem Bezug zur Familie einen desintegrativen Effekt, mit seinen Moral- und Erziehungsidealen zugleich aber auch einen integrativen Effekt auf. Die Spuren dieser Ambivalenz sind bis heute erkennbar. Denn die Vorbildfiinktion der Familie als Ordnungsmodell und die moralische Rechtfertigung der familiären Solidarität mußten den latenten Dualismus zwischen Binnen- und Außenmoral verschärfen und die gesellschaftliche Integration erschweren. Das erklärt das frühe Aufkommen der legalistischen Schule, deren Vertreter die Vorzüge einer Herrschaft mittels verbindlicher Gesetze postulierten, was sich programmatisch als „rule by law", nicht jedoch schon als „rule of law" interpretieren läßt. Die legalistische Ideologie wird am prägnantesten von einem Zeitzeugen (2. Jh. v. Chr.) kommentiert: „Sie unterscheiden nicht zwischen Nahestehenden und Fremden, sie machen keinen Unterschied zwischen Adligen und dem gemeinen Volk und richten alle zusammen nach dem Gesetz, so daß die auf Zuneigung und Respekt gegründeten Beziehungen hinfällig werden" (zit. bei Gernet 1979, S. 88). Präziser läßt sich das Spannungsverhältnis zwischen informalen und formalen Institutionen, zwischen Ii und fa, das die Geschichte der chinesischen Kultur durchzieht, nicht auf den Punkt bringen. Wenngleich der Einfluß der Legalisten auf das chinesische Staats- und Rechtsverständnis nicht zu unterschätzen ist, dominierte doch der Konfuzianismus und mit ihm die Bedeutung informaler, d. h. familiär und moralisch-ideologisch gebundener Institutionen. Der Konfuzianismus avancierte unter den Kaisern der frühen //an-Dynastie zur offiziellen Ideologie mit den dazugehörenden Regeln und Riten. Die Eigenart dieser Ideologie läßt sich wohl am treffendsten mit dem Begriff der chinesischen Zivilreligion bezeichnen. Der Konfuzianismus erwies sich als eine offene Morallehre, die imstande war, individualistische und egalitäre Werte des Daoismus und Buddhismus wie auch Elemente der Volksreligion in Gestalt des Ahnenkults und der Verehrung lokaler und regionaler Geister zu integrieren. Es gab und gibt daher nicht den Konfuzianismus, sondern zeitlich, regional und sozial differenzierte Richtungen. Dabei gilt es vor allem, zwischen dem
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Konfuzianismus der Elite und dem volkstümlichen Konfuzianismus der Bauern, Handwerker oder Händler zu unterscheiden. Bei aller Vielfalt der Richtungen sollte jedoch nicht der einigende Grundgedanke vergessen werden, der die Menschen dazu verpflichtet, den moralisch richtigen Weg (dao) zu befolgen, womit die Regeln einer natürlichen und harmonischen Ordnung des Zusammenlebens, gleichsam die ewig gültigen Naturrechte, gemeint sind. Diese Regeln verkörpern die spezifisch chinesische Version der Naturrechte im europäischen Verständnis. Im Unterschied zu diesen abstrakt normierten Naturrechten sind die konfuzianischen Moralregeln meist konkret in Form von Pflichten oder Geboten im Kontext spezifischer Beziehungsverhältnisse formuliert. Sie fordern also Werte wie Gehorsam, Loyalität, Pietät, Selbstkontrolle, Ehrlichkeit, Korrektheit, Bildung oder Fleiß und Sparsamkeit. Es sind Appelle an ein korrektes Sozialverhalten als Grundvoraussetzung für ein geordnetes Zusammenleben. So soll der Herrscher zum Wohle des Volkes regieren, seine Beamten sollen weise und rechtens handeln, die Künstler und Handwerker sollen ihr Fach perfekt beherrschen, die Bauern sollen die größtmögliche Ernte erwirtschaften und die Händler sollen geschäftig und ehrlich sein. Jeder sollte also in seiner Position um Perfektion, Wissen, Fleiß und Erfolg bemüht sein. Insofern fordert die konfuzianische Ethik eine eigenverantwortliche und leistungsbezogene Lebensführung, der jedoch auch Beschränkungen auferlegt werden, die aus der Sorge für das Wohlergehen aller und damit den Erfordernissen einer harmonischen Gesamtordnung begründet werden. Bei den eingeforderten konkreten Beschränkungen, die moralische Beschränkungen oder Bindungen sind, handelt es sich im konfuzianischen Verständnis um natürliche Regeln, weil sie den Gesetzmäßigkeiten entsprechen, denen die Naturvorgänge und die gesellschaftlichen Prozesse unterliegen. Dabei werden die diesen Prozessen immanenten Gegensätze und die Unterschiede zwischen Begabungen oder Statuspositionen nicht geleugnet. Die Gegensätze können jedoch versöhnt werden, wenn alle Elemente oder Menschen sich ihrer Einbindung in das Ganze bewußt sind und sich gemäß den natürlichen und bewährten Regeln verhalten. Der chinesischen Kultur wohnt also ein ganzheitliches, organisches Denken inne, wobei das Ganze stets als ein wohlgeordnetes und interdependentes System partieller Einheiten vorgestellt wird. Damit verbindet sich ein starkes Vertrauen in die Selbstorganisation einzelner Einheiten, sofern sie sowohl den je eigenen Regeln als auch den gesamtheitlichen Erfordernissen gerecht werden. Dieses in einer kosmologischen Ideologie begründete Vertrauen erklärt die Abneigung gegen von oben und damit von außen bewußt gesetzte und vorgegebene Rechtsregeln, die allenfalls als notwendiges Übel für die Lösung deijenigen Probleme akzeptiert werden, bei denen die autonome Ordnung versagt. Von daher wird verständlich, weshalb China mit seiner jahrtausendelangen Kultur ohne die Annahme eines göttlichen Gesetzgebers und Weltschöpfers wie auch mit einem vergleichsweise zu anderen Kulturen geringen Kodex an formalen Rechtsregeln auskommen und funktionieren konnte. Schwerpunkte des kodifizierten Rechts waren seit jeher das öffentliche Recht und das Strafrecht, während das Privatrecht einschließlich des Wirtschaftsrechts durchgehend nur rudimentär ausgebildet wurden (vgl. Bünger 1983). Diese kulturelle Eigenart hat Bodde (1981, S. 290) auf den Punkt gebracht:
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„Chinese ideals involved neither God nor Law... The notion of Order excluded the notion of Law." Bildhaft formuliert, ist das chinesische Regelwerk aus archaischem Holz gezimmert und weist eine eigenständige Architektur der Regelteilung auf. Die tragenden Stützpfeiler des Regelwerks waren und sind bis heute emotional, also familiär gebundene und moralisch-ideologisch gebundene Institutionen. Deren konkrete Ausformung weist über die Zeit und die Regionen hinweg natürlich Unterschiede und Veränderungen auf. Gerade die gut fünf Jahrzehnte lange kommunistische Herrschaft hat viele Veränderungen gebracht. Sie konnte jedoch die Grundfesten der tradierten Regeln nicht erschüttern. Der Marxismus ist bekanntlich ein geistiger Abkömmling der europäischen Aufklärung, also vor allem der rationalen französischen Philosophie und der staatsorientierten hegelianischen Philosophie. Das Vorhaben, eine neue Gesellschaftsordnung mit neuen Regeln und Verhaltensweisen von oben zu dekretieren, mußte sich als ein aufgesetzter, der chinesischen Kultur eher fremder Gedanke erweisen. Dem Kommunismus wird deshalb wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal wie dem Legalismus beschieden sein, der unter dem ersten Kaiser der 2/«-Dynastie (221-206 v. Chr.) als Staatsideologie benutzt wurde, um den geeinten Zentralstaat rechtlich zu ordnen und zu regieren. Dieses Unterfangen führte nach dem Tod des ersten Kaisers zum Volksaufstand und zum Sturz der Dynastie. Dadurch kam es zum Sieg der Konfuzianer, deren moralische Werte später auch Bestandteil des Rechts wurden. Man kann daher mit Ludwig (2000, S. 53) von einer „Konfuzianisierung des chinesischen Rechts" sprechen. Schwerpunkte des chinesischen Rechts waren das Verwaltungs- und das Strafrecht, während sich ein Zivilrecht im westlichen Verständnis nur rudimentär entwickelte. Zudem war und ist dem chinesischen Rechtsdenken die Trennung zwischen Moral und Gesetz, damit zwischen Gerechtigkeit und Recht fremd. Ungeachtet seiner eigenständigen Architektur hat sich das konfuzianisch geprägte Regelwerk im Laufe der Geschichte als erweiterungs- und lernbereit gezeigt. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß es freiheitliche Ideen des Daoismus, harmoniebedachte Ideen des Buddhismus und Mohismus und rechtsegalitäre Ideen des Legalismus integriert hat. Gemeinsam ist den regional und temporär verschiedenen Richtungen des Konfuzianismus die Überzeugung, daß Tüchtigkeit, Sparsamkeit, Bildungsstreben und Verläßlichkeit wichtiger sind als religiöser Glaube und Gehorsam (vgl. Inglehart 1997, S. 220). Da die chinesische Kultur entstehungsbedingt nur einen schwachen religiösen Unterbau hat und auf der gewachsenen Einheit emotionaler Bindungen mit säkularen Morallehren beruht, war und ist sie wenig anfällig für einen religiösen oder ideologischen Dogmatismus, worin die eigentliche Wurzel für ihre relative Offenheit zu vermuten ist. Diese Eigenart markiert einen wichtigen Unterschied gegenüber dem islamischen Kulturraum (vgl. dazu Leipold 2001b). Vor dem Hintergrund der kulturellen Eigenarten wird vielleicht besser verständlich, weshalb die bereits seit 1978 eingeleiteten Wirtschaftsreformen erfolgreich und vor allem politisch möglich waren. Die Art und Weise, wie sich die Kommunistische Partei in der Deng-Äia von den marxistisch-maoistischen Dogmen befreite und den Übergang von der Planwirtschaft zur halb sozialistischen, halb kapitalistischen Marktwirtschaft wagte und sich schrittweise in die Weltwirtschaft integrierte, ist ungeachtet aller Defizi-
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te bemerkenswert. Die Einzelheiten der Reformpolitik können hier nicht dargestellt werden (vgl. Schüller 1998; Schinke und Hong 1996). Es soll lediglich auf einige kulturell bedingte Eigenarten und Grenzen der aktuellen und zukünftigen weltwirtschaftlichen Integration aufmerksam gemacht werden. Im Zuge des seit Anfang der 90er Jahre schrittweise erfolgten Abbaus des staatlichen Außenhandelsmonopols, der Zölle und der nichttarifären Handelshemmnisse gelang es China, einen beträchtlichen Anteil der globalen Direktinvestitionen in die Entwicklungsländer anzuziehen. Die ausländischen Direktinvestitionen betrugen im Jahr 2000 bereits die Hälfte aller Investitionen im Land. Die Unternehmen mit ausländischem Kapital waren wiederum nahezu zur Hälfte an der Exportsteigerung in den 90er Jahren beteiligt, die China auf den zehnten Platz der größten Exporteure in der Welt brachte. Die Exporte bestehen mittlerweile zu 90 v.H. aus industriell gefertigten Gütern und nur noch zu 10 v.H. aus Primärgütern. Die Strategie der bisherigen chinesischen Außenhandelspolitik läßt sich als Verbindung einer Politik der Exportorientierung mit Elementen der Importsubstitution bezeichnen, wobei bis zur Aufnahme in die WTO trotz aller Liberalisierungsbemühungen noch erhebliche Handelsschranken bestanden (vgl. Fischer 2000). Der überwiegende Teile der ausländischen Direktinvestitionen stammt von Auslandschinesen. Deren Motive waren die emotionale Verbundenheit mit der Heimat, das rationale Geschäftsinteresse und die Vertrautheit mit den kulturellen Regeln und Traditionen Chinas, deren Geltung unter den Auslandschinesen weiterbestand und ihre wirtschaftlichen Erfolge erklärt. Die gemeinsame Kultur verband und verbindet die Chinesen über die Zeit und über staatliche Grenzen hinweg. Die kulturelle Prägung läßt sich exemplarisch anhand der Organisation der Unternehmen und der Kooperationsformen zwischen den Unternehmen aufzeigen. Auffallend für den chinesischen Wirtschaftsraum sind die Dominanz und das unternehmerische Engagement kleiner bis mittelgroßer Familienbetriebe, die sich durch eigenständige Muster der Führung, der Finanzierung, der Entwicklung und der Kooperation auszeichnen (vgl. Redding 1990; Chen 1995; Weidenbaum und Hughes 1996). Als Gründer fungiert meist ein Patriarch, der das Unternehmen mit Hilfe von Familienangehörigen und verwandten Personen aufbaut und autoritär leitet. Die übliche Führungsform entspricht einem Nabe-Speichen-System, bei dem alle Mitarbeiter und alle Unternehmensbereiche direkt dem Unternehmensleiter unterstehen. Expandiert das Unternehmen, kommt es zur Einstellung externer Arbeitnehmer. Die Leitungspositionen werden jedoch bevorzugt mit nahen oder fernen Verwandten besetzt. Die unternehmensinternen Beziehungen strukturieren sich nach Maßgabe der Vertrauensbeziehungen zum Eigentümer. Die Leitung ist also hochzentralisiert und gering formalisiert. Auch die Weitergabe der Informationen folgt der informalen Gruppenstruktur, wobei die Monopolisierung von Informationen als Machtinstrument benutzt wird. Die oft beklagte Undurchschaubarkeit der Geschäftslage für externe Personen wurzelt also in dem informalen Beziehungsgeflecht. Eine eigenständige kulturelle Prägung weisen auch die im chinesischen Wirtschaftsraum existierenden Netzwerke zwischen Unternehmen auf, die sich gegenüber den in
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Japan und Südkorea verbreiteten Organisationsformen unterscheiden (vgl. HerrmannPillath 1994; Fukuyama 1995, S. 92 ff.). Die chinesischen ,guanxi-Netzwerke" werden bevorzugt als Familiennetzwerke organisiert, wobei für die Kooperation weit definierte Abstammungsgemeinschaften genutzt werden. Bei der Kooperation mit nichtverwandten Personen werden emotionale Bindungen präferiert, indem etwa die Freundschaft mit dem Freund eines Verwandten, die regionale Herkunft oder die gemeinsamen Geburtsdaten im gleichen Mond-Jahr als Vertrauenskriterien bemüht werden. Solche emotionalen Rückbindungen sind charakteristische Relikte vormoderner Gesellschaften, wo sie als Substitut für rechtliche Defizite zum Aufbau informaler Vertrauensbeziehungen üblich waren und sind. Im chinesischen Kulturraum verbindet sich damit die Vorstellung, daß erfolgreiche und verläßliche Beziehungen auch auf Schicksalsfügungen und nur bedingt auf individuelle Fähigkeiten zurückgehen. Dem entspricht die Eigenart, daß das Entscheidungs- und Kooperationsverhalten von einer holistischen Zuordnung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen geprägt wird. Als Garanten des Erfolgs gelten nicht nur eigene Qualitäten, sondern auch Umfeldbedingungen, die sich einer direkten Kontrolle entziehen. Die besten Chancen für erfolgreiche Beziehungen werden dann gesehen, wenn man sich an die für den jeweiligen Kontext geltenden und damit meist informalen Regeln hält. Der Erfolg auf chinesischen Märkten ist gerade deshalb für westliche Unternehmen kein einfaches Geschäft. Am wichtigsten sind persönliche und vertrauliche Beziehungen nicht nur zu den Geschäftspartnern, sondern auch zu politischen Entscheidungsträgern in den diversen Regierungs-, Partei- und Justizämtern, die freilich angemessene Schmiergelder und Gefälligkeiten voraussetzen. Bei einer mangelnden Kenntnisnahme der geltenden Geschäftssitten können sich diese leicht als informale Marktzutrittsschranken erweisen. Familiär gebundene Regelwerke sind also nicht frei von Schwächen. Sie neigen zur Verschleierung der Informationen über untemehmensinterne Verhältnisse, die wiederum die risikoreiche Kreditvergabe und übermäßige Verschuldung begünstigen und die Mobilität von Kapital oder Arbeitskräften behindern. Schließlich werden die Vetternwirtschaft und Korruption als legitime Mittel eingesetzt. Viele dieser Defizite sind im Zuge der Asienkrise Ende des letzten Jahrzehnts manifest geworden, wobei allerdings die zum chinesischen Kulturraum gehörenden Länder sich als relativ robuste Wirtschaftssysteme erwiesen haben. Die im familiären Zusammenhalt begründete geringe Unternehmensgröße ist aus volkswirtschaftlicher Sicht differenziert zu beurteilen. Als Nachteil ist die ungenügende Nutzung kostensparender Größenvorteile zu verbuchen. Der geringe Grad der vertikalen Integration innerhalb der Familienbetriebe wird durch die Kooperation mit externen Partnern substituiert, die wiederum primär auf persönlichen Vertrauensbeziehungen basiert und offen für die Zusammenarbeit mit westlichen Investoren ist. Die pure Unternehmensgröße ist kein Garant für die Kompensation dieses Nachteils, wofür die chinesische Staatsindustrie mit ihren Großbetrieben einen aufschlußreichen Beleg liefert. Chinas staatseigene Konzerne wirtschaften ähnlich ineffizient und defizitär wie die früheren staatssozialistischen Kombinate in Mittel- und Osteuropa (vgl. Leipold 1996). Die Umstrukturierung des Staatssektors einschließlich des staatlichen Bankensystems steht
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noch aus und wird zweifellos eine der schwierigsten Aufgaben auf dem Weg zur funktionsfähigen Marktwirtschaft und zur erfolgreichen Integration in die Weltwirtschaft sein. Die im letzten Jahrzehnt erzielten hohen Wachstumsraten des Sozialprodukts sind der Dynamik des Privatsektors zuzuschreiben. Dabei sind dessen Anteile an der Erwirtschaftung des Sozialprodukts höher als die offiziellen statistischen Daten zu veranschlagen. Die als kommunale oder kollektive Unternehmen bezeichneten Unternehmensformen sind nicht selten ideologische Umschreibungen, die den faktischen Einfluß des privaten und d. h. stets auch des familiär getragenen Engagements kaschieren sollen (vgl. Schüller 1998, S. 283). Die diesem Engagement innewohnende Dynamik und Flexibilität sorgen vor allem für wettbewerbliche Marktstrukturen und die damit verbundenen gesamtwirtschaftlichen Produktivitäts- und Wohlfahrtseffekte. Die Bereitschaft zur unternehmerischen Selbständigkeit, das Streben nach materiellem Vermögen und die große Flexibilität und Anpassungsbereitschaft an Marktbedingungen sind sämtlich als volkswirtschaftliche Aktivposten zu verbuchen. Vor dem Hintergrund des schnellen Aufkommens neuer Kommunikations- und Informationstechnologien werden tradierte Größenvorteile an Gewicht verlieren. Sofern flexible und innovative Kooperationsformen zwischen kleinen oder mittelgroßen Unternehmenseinheiten sich als vorteilhaft erweisen, sollten die chinesischen Familienbetriebe gute Karten besitzen. Ihre Marktund Kapitalismuskompatibilität haben sie jedenfalls bisher hinreichend unter Beweis gestellt (vgl. Kotkin 1993). Bei dieser Einschätzung gilt es, die an früherer Stelle genannten kulturellen Traditionen Chinas zu berücksichtigen. Der Familismus ist hier in eine hochentwickelte und bewährte Moralordnung eingebettet, wodurch seine amoralischen Anfechtungen begrenzt werden. Im chinesischen Verständnis einer wohlgeordneten Gesellschaft haben staatliche Instanzen und Zuständigkeiten ihren angestammten Platz. Das Verhältnis der Individuen zum Staat ist zwar nicht frei von Mißtrauen, weil die Bürger häufig dessen fiskalische und bürokratische Willkür und Korruptionsanfalligkeit erfahren mußten und bis heute müssen. Von daher sind die Bemühungen verständlich, staatliche Maßnahmen entweder zu unterlaufen oder mit halb- oder illegalen Mitteln zu beeinflussen. Die Einschätzung der chinesischen Regelwerke als markt- und integrationstauglich verkennt nicht die rechtlichen und insbesondere die rechtsstaatlichen Defizite in China. Hier stand das Anliegen im Vordergrund, einige Besonderheiten des chinesischen Regelsystems gegenüber den westlichen oder auch den afrikanischen Systemen herauszustellen. China weist ein eigenständiges und jahrtausendelang gewachsenes Geflecht von informalen und formalen Regeln auf, wobei die informalen Regeln in Gestalt der familiär und der moralisch-ideologisch gebundenen Regeln gegenüber den rechtlichen Regeln nach wie vor dominant sind. Ausländische Partner, die sich ihrer Rolle als Geschäftspartner, als Politiker oder als Vertreter internationaler Organisationen mit ihren jeweiligen chinesischen Partnern auf Geschäfte, vertragliche Vereinbarungen und Abkommen einlassen, sind gut beraten, wenn sie die hohe Wertschätzung informaler Regeln in der chinesischen Gesellschaft angemessen berücksichtigen. Insbesondere der Westen sollte sich nicht als zivilisatorischer Lehrmeister im Geiste des westlichen Staats- und Rechtsverständnisses aufspielen, weil dann Enttäuschungen programmiert
Kulturelle Einflußfaktoren der Integration in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung
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sind. Diese Empfehlung gilt über China hinaus für alle interkulturellen Formen der Kooperation.
5.
Einige normative Konsequenzen
Die vorangegangenen Ausführungen verstehen sich als Versuch, die Forderung von Röpke (1959, S. 344) ernst zu nehmen, wonach sich ein angemessenes Verständnis der verschiedenen Wirtschaftsordnungen nur unter Berücksichtigung der „... juristischen, soziologischen, anthropologischen, politischen, moralischen, ja sogar theologischen Grundlagen" der Gesellschaft erschließen läßt. Diese Einsicht kann nahtlos auf die Weltwirtschaftsordnung übertragen werden. Hier gilt es, die kulturelle Vielfalt der beteiligten Länder angemessen zu berücksichtigen. Dazu wurde im 2. Kapitel eine kulturvergleichend konzipierte Institutionentypologie vorgestellt und bei der Analyse der kulturellen Einflußfaktoren der weltwirtschaftlichen Integration der dem afrikanischen und dem chinesischen Kulturraum zugehörenden Länder angewendet. Die afrikanischen Staaten gehören fast ausnahmslos zu den marginal integrierten Ländern, während China und andere ostasiatische Länder von der zunehmenden weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung profitieren. Jeder Kulturraum zeichnet sich durch eine eigenständige, historisch gewachsene Kombination der Ordnungsfaktoren und damit durch eine eigenständige Struktur der gesellschaftlichen Regelteilung aus. Der Grad der Regelteilung bestimmt maßgeblich den Grad der wirtschaftlichen Arbeitsteilung. Über den kausalen Bedingungszusammenhang zwischen Regel- und Handelnsordnung bzw. zwischen Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsprozessen besteht in allen wichtigen ordnungs- oder institutionenökonomischen Theorieansätzen weitgehend Konsens. Dabei bleibt jedoch meist die von Röpke eingeforderte Analyse der kulturellen Einbettung einzelner Wirtschaftsordnungen unterbelichtet, wodurch der Einfluß informaler Regelwerke endemisch unterschätzt wird. Darin ist der eigentliche Grund dafür zu sehen, daß das einleitend angeführte Spannungsverhältnis zwischen kultureller Vielfalt und dem Anspruch der Ökonomen auf eine abstrakten Erklärung der Voraussetzungen, Chancen und Wirkungen der weltwirtschaftlichen Integration kontrovers diskutiert und bewertet wird. Dieser Beitrag versteht sich als Versuch, das Spannungsverhältnis zu entkrampfen, indem einige kulturelle Faktoren der unterschiedlichen Integrationserfolge reflektiert wurden. Die arbeitsteilige und marktwirtschaftlich organisierte Entwicklung gestaltet sich in dem Maße erfolgreich, in dem in Staat, Recht, Verwaltung, Bildung, Wissenschaft, Technik und in anderen Teilbereichen komplementäre Spezialisierungsprozesse erfolgen und durch funktional und sozial geteilte Regelwerke geordnet werden. Die gesellschaftliche Regelteilung hat sich aufgrund der im 2. Kapitel genannten Schwierigkeiten interkulturell sehr verschieden entwickelt, worin eine maßgebliche Ursache für die unterschiedlichen wirtschaftlichen Integrationserfolge zu sehen ist. Damit soll der Blick auf einen möglichen handelspolitischen Ansatzpunkt gelenkt werden, der in der aktuellen Globalisierungsdebatte wenig Beachtung findet. Wie bei der nationalen Wirtschaftspolitik hängt auch die Qualität der global orientierten Handelspolitik von der realistischen Diagnose des Status quo ab. Es gilt also neben den nach
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wie vor primär nationalstaatlich gesetzten formalen Regeln zur Öffnung oder Abschottung der Märkte, die zweifellos von entscheidender Bedeutung für die Erzielung von Tausch- und Spezialisierungsgewinnen oder aber von Protektionsrenten sind, auch die informalen Regeln und deren Wirkungen auf offene oder geschlossene Geschäfts- und Markttransaktionen ins Auge zu fassen. Das Plädoyer für eine kulturspezifische Diagnose des weltwirtschaftlichen Status quo stellt den Vorzug der generellen Regeln und Prinzipien des Freihandels gemäß dem Regelwerk der WTO (z. B. Nichtdiskriminierung und Meistbegünstigung, Reziprozität, Inländerbehandlung, Beseitigung nichttarifärer Handelshemmnisse etc.) nicht infrage. Das Plädoyer unterscheidet sich auch von der populären Forderung vieler nicht staatlich organisierten Gruppen (NGO) nach einem „fairen" oder „gerechten" Welthandel, die sich meist mit einem verdeckten Protektionismus zugunsten der Entwicklungsländer verbindet. Einer solchen Forderung entspräche das Vorhaben, bei internationalen sportlichen Wettkämpfen Sonderregelungen für Sportler aus verschiedenen Welt- oder Kulturregionen verlangen zu wollen. Die „faire" Lösung kann nur darin gesehen werden, die Trainings- und Wettkampfchancen in den benachteiligten Ländern oder Regionen zu verbessern. Bezogen auf den Welthandel, geht es also darum, die in den informalen Regeln angelegten Handelsbeschränkungen zu erkennen und soweit wie möglich abzubauen. Angesichts der unübersehbaren Dominanz informaler Regeln in außerwestlichen Kulturkreisen besteht die große Kunst der globalen Ordnungspolitik in dem differenzierten Umgang mit der Akzeptanz oder Veränderung informaler Regeln. Theoretisch gilt es zu entschlüsseln, welche informalen Regeln markt- und weltoffene Geschäfts- und Markttransaktionen begünstigen und welche Regeln solche Transaktionen beschränken. Diese hochbrisante Frage läßt sich nur durch eine differenzierte Analyse der Eigenarten der gesellschaftlichen Regelteilung und deren Wirkung auf die wirtschaftliche Arbeitsteilung beantworten. In diesem Beitrag ging es darum, die ungebrochene Geltung informaler Regeln am Beispiel des afrikanischen und chinesischen Kulturraumes zu belegen und deren Wirkungen auf die Integration in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung aufzuzeigen (zum islamischen Kulturraum vgl. Leipold 2001b). Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Gestaltung der Weltwirtschaftsordnung können hier nur angedeutet werden. Bezogen auf die afrikanischen Länder, verdienen die keimhaft angelegten Bemühungen, die Fragmentierung der tribalen Regelwerke in Richtung einer Vergesellschaftung zu überwinden, eine aktive Unterstützung durch die Weltgemeinschaft. Ein konkretes Mittel dafür wäre es, die breite Nutzung elektronischer Kommunikationsmöglichkeiten einschließlich der dafür benötigten humanen und technischen Infrastrukturen großzügig zu unterstützen. So lange 999 von 1000 Personen in Afrika keinen Zugang zum Internet und 998 von 1000 Personen keine Telefonverbindung haben, bleibt auch die Fähigkeit zur Integration in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung beschränkt (vgl. Ulfkotte 2001). Bezogen auf China, aber auch auf andere Kulturräume, verdienen alle Bemühungen zur Durchsetzung rechtsstaatlicher Verhältnisse und der verläßlichen Rechtsgeltung eine großzügige Unterstützung. Damit sind nur stichwortartig mögliche Felder genannt, auf denen die weltwirtschaftliche Ordnungspolitik zugunsten des Freihandels und der damit verbundenen Tausch-
Kulturelle Einflußfaktoren
der Integration in die weltwirtschaftliche
Arbeitsteilung
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und Produktivitätsgewinne durch eine kulturspezifische und auf eine globale Irenik ausgerichtete Gesellschaftspolitik im Verständnis von Müller-Armack (1966) flankiert werden könnte und sollte. Jedenfalls ist in der analytischen Begründung einer interkulturell konsensfahigen Weltordnung und speziell einer freien Weltwirtschaftsordnung ein noch weitgehend unkultiviertes Feld der Ordnungstheorie zu sehen.
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Funktionen und Formen der Zivilgesellschaft* Inhalt 1. Die Zivilgesellschaft als Objekt des Systemvergleichs
246
2. Institutionentheoretische Grundlagen einer Theorie der Zivilgesellschaft
248
2.1. Begriff und Typen der Institutionen
248
2.2. Institutionen als Güter sui generis
249
3. Kant und das Dilemma der bürgerlichen Gesellschaft
253
4. Begriff und Funktionen der Zivilgesellschaft aus institutionentheoretischer Perspektive
255
5. Institutionelle Entstehungsbedingungen der Zivilgesellschaft
257
5.1. Einige Besonderheiten der westeuropäischen Entwicklung
257
5.2. Einige institutionelle Besonderheiten in außerwestlichen Kulturräumen
260
6. Die selbstvertrauende Zivilgesellschaft
262
7. Die staatsvertrauende Zivilgesellschaft
263
8. Aktuelle Herausforderungen der Zivilgesellschaft
266
Erstdruck in: Chr. Meier, H. Pleines und H.-H. Schröder (Hg.), Ökonomie - Kultur - Politik: Transformationsprozesse in Osteuropa, Bremen 2003, S. 82-107.
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1.
Die Zivilgesellschaft als Objekt des Systemvergleichs
Der alte lateinische Begriff der „societas civilis", der später in der Zeit der Aufklärung als „civil society", als „société civile" oder im deutschen Sprachraum bevorzugt als „Bürgergesellschaft" bzw. als „bürgerliche Gesellschaft" übersetzt wurde, hat im letzten Jahrzehnt eine erstaunliche Wiedergeburt erlebt. Die eigentlichen Geburtshelfer dafür waren die oppositionellen Gruppen in den sozialistischen Ländern, die bereits in den 80er Jahren die totalitären Herrschaftsverhältnisse mutig kritisierten und mehr Freiheiten für Individuen im Namen der Zivilgesellschaft einforderten. Der Begriff der Zivilgesellschaft wurde dann im Westen zuerst von kommunitaristischen und liberalen, später aber auch von sozialdemokratischen Bewegungen adoptiert und als Gegenentwurf zum ausufernden Sozial- und Interventionsstaat präsentiert. Der Verlauf der zivilgesellschaftlichen Renaissance ist gut dokumentiert und bedarf an dieser Stelle keiner Zusammenfassung. 1 Hier soll vielmehr die prima facie erstaunliche Bereitschaft der Ökonomen interessieren, das Konzept der Zivilgesellschaft als Erklärungsvariable der Wirtschaftsentwicklung zu nutzen. Die maßgebliche Anregung kam wohl aus der Erforschung der postsozialistischen Transformationsprozesse. Als irritierende Fakten erwiesen sich die unübersehbaren Unterschiede bei der Umgestaltung der Politik, des Rechts und vor allem der Wirtschaft zwischen ost- und südosteuropäischen Ländern einerseits und den ostmitteleuropäischen Ländern andererseits. Besonders erklärungsbedürftig war die Tatsache, daß die Unterschiede nur bedingt auf die konzeptionelle Stringenz und das Tempo der Reformpolitik in und zwischen diesen beiden Ländergruppierungen zurückgeführt werden konnten. Von daher dämmerte die Einsicht, daß kulturelle Einflüsse für die Wirtschaftsentwicklung von Belang sind. Beispielhafte Projekte dafür stammen von Hans-Hermann Höhmann.2 Als ein erfolgversprechendes Analysekonzept zur Erfassung der kulturellen und historischen Einflußfaktoren des Wirtschaftens bot sich das Konzept der Zivilgesellschaft an. Die frühen Diskussionen legten die Vermutung nahe, die unterschiedlichen Transformationsergebnisse in Wirtschaft und Staat mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Traditionen in Osteuropa bzw. Ostmitteleuropa kausal zu verbinden. Die kausale Verkettung zwischen Zivilgesellschaft und Wirtschaftsentwicklung erfolgte seitens der Ökonomen über die vertrauensabhängige Bereitschaft zur wirtschaftlichen Spezialisierung, zur Kooperation und zum Tauschhandeln insbesondere mit anonymen Transaktionspartnern, wobei die Höhe der Transaktionskosten als zusätzliche Erklärungsvariable fungierte. Ein Ergebnis des Vergleichs zwischen den ostmitteleuropäischen (lateinischen) und den osteuropäischen (orthodoxen) Ländern faßt Panther dahingehend zusammen, daß in Volkswirt-
Vgl. J. Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: M. Hildermeier, J. Kocka, und Chr. Conrad (Hg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West, Frankfurt und New York 2000, S. 13-41; J. Kean, Civil Society: Old Images, New Visions, Cambridge 1998. 2
H.-H. Höhmann (Hg.), Eine unterschätzte Dimension? Zur Rolle wirtschaftskultureller Faktoren in der osteuropäischen Transformation, Bremen 1999; H.-H. Höhmann (Hg.), Kultur als Bestimmungsfaktor der Transformation im Osten Europas, Bremen 2001.
Funktionen und Formen der
Zivilgesellschaft
247
Schäften mit einer entwickelten Zivilgesellschaft mehr Möglichkeiten zu gegenseitig vorteilhaften Tauschtransaktionen wahrgenommen werden, wodurch die wirtschaftliche Entwicklung angekurbelt wird.3 Kurzgefaßt wird also folgende Verkettung unterstellt: Eine entwickelte Zivilgesellschaft begünstigt eine verläßliche Kultur des wechselseitigen Vertrauens und damit der wechselseitig vorteilhaften wirtschaftlichen Kooperation und Entwicklung. Die nur grob skizzierte Entwicklung der wirtschaftlichen Transformationsforschung sollte das programmatische Vorhaben verdeutlichen, im Konzept der Zivilgesellschaft eine wichtige Variable für die Erklärung und den Vergleich des divergenten Verlaufs der Transformation von Wirtschaft, Recht und Staat zu erachten. Dieses Vorhaben soll im folgenden einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Die dargestellte kausale Verkettung greift insofern zu kurz, als die Ursachen der länderund kulturspezifisch unterschiedlichen Entwicklung der Zivilgesellschaft ungeklärt bleiben. Die Kenntnis der Ursachen hat jedoch wichtige Konsequenzen für normative Überlegungen, ob und wie sich zivilgesellschaftliche Defizite im Wege konkreter ordnungspolitischer Reformmaßnahmen beheben lassen. Damit verbindet sich die allgemeinere Frage, weshalb sich die Herausbildung einer Zivilgesellschaft so schwierig gestaltet und weshalb sie möglicherweise ein unintendiertes Resultat des westlichen Sonderwegs der Geschichte ist, der seinerseits vielfaltige pfadabhängige Richtungen eingeschlagen hat. Erst dann ließe sich der verschiedentlich geäußerte Einwand entkräften, die Erklärungsvariable der Zivilgesellschaft sei eine typisch west- oder eurozentrische und zudem normative Kategorie. Daraus ergibt sich nach Hann das Problem, daß die osteuropäischen oder auch außereuropäischen Länder nach einem Maßstab gemessen und bewertet werden, „... der angeblich im Westen bereits Realtität ist, obwohl er tatsächlich vor allem als Ideal und Mahnung, wenn nicht gar als bloße Fiktion existiert".4 Für diesen Einwand spricht die beobachtbare Vielfalt der zivilgesellschaftlichen Formen allein innerhalb der westlichen und noch mehr in der außerwestlichen Welt. Kocka bringt die Defizite auf den Punkt, wenn er feststellt: „Eine ausformulierte sozialwissenschaftliche Theorie der Zivilgesellschaft fehlt."5 In diesem Beitrag sollen einige Anregungen für eine Theorie der Zivilgesellschaft vorgestellt werden. Der gemeinsame Bezugspunkt aller Überlegungen ist die These, daß sich Begriff, Funktionen und Formen der Zivilgesellschaft nur im Rahmen einer umfassend konzipierten Theorie des Wandels und der Wirkungen von Institutionen erschließen lassen. Im ersten Schritt werden daher einige institutionentheoretische Grundlagen vorgestellt, die sich auf eigene Vorarbeiten beziehen. Die Vorarbeiten werden durch das 3
St. Panther, Zivilgesellschaft - ein integrierendes Kulturkonzept? In: H.-H. Höhmann (Hg.), Kultur als Bestimmungsfaktor der Transformation im Osten Europas, Bremen 2001, S. 90102, hier: S. 101.
4
C. Hann, Zivilgesellschaft oder Citizenship? Skeptische Überlegungen eines Ethnologen, in: M. Hildermeier, J. Kocka, und Chr. Conrad (Hg.):Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West, Frankfurt und New York 2000, S. 85-109, hier: S. 107.
5
J. Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Problem und Versprechen, in: M. Hildermeier, J. Kocka und Chr. Conrad (Hg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West, Frankfurt und New York 2000, S. 13-41, hier: S. 21.
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248
Vorhaben weitergeführt, die Eigenarten der Institutionen als ökonomische Güter sui generis zu bestimmen. Dieses Unterfangen dient zur Klärung der Frage, weshalb die instiutionelle Entwicklung sich räum- und zeitlos als ein außerordentlich schwieriger Vorgang gestaltet und sich häufig in institutionellen Dilemmastrukturen verfangen hat. A u f diesem institutionentheoretischen Hintergrund werden dann in den nächsten Schritten die Funktionen, die Entstehungsbedingungen und die Formen der Zivilgesellschaft bestimmt. Insgesamt geht es darum, die bisher eher diffuse Kategorie der Zivilgesellschaft als Objekt des institutionellen und wirtschaftlichen Systemvergleichs zu präzisieren.
2.
Institutionentheoretische Grundlagen einer Theorie der Zivilgesellschaft
2.1. Begriff und Typen der Institutionen N a c h d e m in den verschiedenen institutionenökonomischen Ansätzen vorherrschenden Verständnis verkörpert eine Institution eine Regel (bzw. Regelmenge) in zwischenmenschlichen Beziehungen, die erstens bestimmte Verhaltensweisen gebietet oder verbietet, die also den R a u m des zulässigen Verhaltens beschränkt und so Beziehungen ordnet, die zweitens entweder unintendiert entstanden ist oder bewußt gesetzt bzw. vereinbart wird und die drittens entweder gewohnheits- oder überzeugungsbedingt verläßlich befolgt oder aber durch spezielle Autoritäten notfalls durch Z w a n g zur Geltung gebracht wird. Institutionen verleihen sozialen Beziehungen eine Regelmäßigkeit, wodurch mehr oder weniger verläßliche Erwartungen über Verhaltensweisen der Mitmenschen gebildet und Vertrauensbeziehungen möglich werden können. Je nach d e m Grad der Befolgung von geltenden Regeln und den hieraus resultierenden Anreizen werden Verlauf und Ergebnisse sozialer Beziehungen einschließlich der arbeitsteiligen wirtschaftlichen Austauschbeziehungen systematisch beeinflußt. 6 Die nachfolgend vorgestellte, spieltheoretisch inspirierte Institutionentypologie unterscheidet zwischen selbstbindenden und bindungsbedürftigen Institutionen. Als Kriterium d a f ü r liegt der Grad der Konvergenz bzw. der Rivalität von Interessen in sozialen Beziehungen zugrunde. 7 In konfliktarmen und deshalb sozial unproblematischen Interessenbeziehungen fallen die Einigung und wechselseitige Befolgung von Regeln relativ einfach aus. Weil sie selbstinteressiert befolgt werden, seien sie als selbstbindende Institutionen bezeichnet. Klassische Beispiele sind Konventionen, also Sitten, Gebräuche, Rituale und andere kulturspezifische Gewohnheiten.
6
7
Vgl. D. C. North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, S. 3-4. Vgl. H. Leipold, Informale und formale Institutionen: Typologische und kulturspezifische Relationen, in: H. Leipold und I. Pies (Hg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik: Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven, Stuttgart 2000, S. 401-428.
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Zivilgesellschaft
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Davon unterscheiden sich konfliktträchtige und deshalb sozial problematische Interessenbeziehungen, wie sie sich spieltheoretisch durch mixed-motive-games und hierbei in klassischer Form durch das Gefangenendilemmaspiel modellieren lassen. Hierbei fallen die Einigung auf und die Befolgung von Regeln deshalb schwer, weil die für alle Beteiligten potentiell vorteilhafteste Regel den Verzicht auf die individuell bestmögliche Alternative verlangt. Es sind also Beschränkungen oder Bindungen des Selbstinteresses gefragt, weshalb dieser Regeltyp als bindungsbedürftige Institution bezeichnet wird. Der Verzicht auf die situativ häufig vorhandene bestmögliche Vorteilsnahme setzt moralische Bindungen voraus. Daraus leitet sich die elementare Frage ab, welche Antriebe die Individuen dazu befähigen, sich auf moralische Bindungen einzulassen und sie verläßlich einzuhalten. Ich kann nur drei Quellen moralischen Verhaltens erkennen: Erstens die genetisch freilich schwach angelegten natürlichen Anlagen, also die sogenannten moralischen Gefühle. Zweitens der rational nicht begründbare Glaube an die Existenz transzendenter Wesenheiten (Geister, Ahnen, Götter, Gott) mit einer eigenmächtigen Ordnungs- und Kontrollfunktion der individuellen oder sozialen Verhältnisse. Der geistige Zwilling des religiösen Glaubens bilden die von säkularen Ordnungsentwürfen oder Ideologien gespeisten und rationalen Argumenten nur bedingt zugänglichen Überzeugungen, weshalb sie kategorial dem Glauben zugeordnet werden sollen. Es bleibt drittens die dem Menschen eigene Vernunft, die dazu befähigt, die individuellen und sozialen Folgen alternativer Regelarrangements abzuwägen und sich für sozial vorteilhafte und möglichst konsensfähige Regeln zu entscheiden. Die originären Ordnungsfaktoren, also die moralischen Gefühle, der religiöse Glauben bzw. die ideologischen Überzeugungen und die kritische Vernunft, liefern das Kriterium für die Unterscheidung der bindungsbedürftigen Institutionen in — emotional gebundene Institutionen — religiös gebundene Institutionen — ideologisch gebundene Institutionen und — rechtlich erzwingbare Institutionen. Das historisch gewachsene Gefüge dieser bindungsbedürftigen Institutionen macht den eigentlichen Kern einer jeden Kultur aus. Die produktive Regelung konfliktträchtiger Interessenbeziehungen ist deshalb zeit- und raumunabhängig ein problematisches Unterfangen, weil es Beschränkungen der Selbstinteressen und die angemessene Anerkenntnis der Interessen anderer Individuen voraussetzt. Verlangt sind moralische Bindungen, deren Geltung stets und überall prekär ist, weshalb Moral und damit auch die Regelgeltung knappe Güter sind.
2.2. Institutionen als Güter sui generis Sind Institutionen öffentliche Güter? Die Dimension der Ordnungsregeln als knappe Güter kommt wohl am augenfälligsten in der Tatsache zum Ausdruck, daß die Menschheit in ihrer Geschichte für die Sicherung der inneren und äußeren Ordnung mehr Anstrengungen und materielle Res-
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sourcen aufwenden mußten als für die Sicherung des genuin wirtschaftlichen Lebensunterhalts.8 Sieht man einmal von genetisch angelegten Beschränkungen des Verhaltens ab, so waren und sind Regeln nicht vorgegeben, sondern zu erfinden, zu befolgen, generationenübergreifend per Erziehung und Bildung weiterzugeben und weiterzuentwickeln. Regeln sind dabei ein Gut sui generis, über dessen Merkmale unter Ökonomen allerdings kein Konsens besteht. In der Institutionenökonomik ist es üblich, Regeln oder Institutionen als öffentliches Gut und speziell als öffentliches Kapitalgut (Sozialkapital) zu interpretieren.9 Öffentliche Güter unterliegen bekanntlich dem Nichtrivalitäts- und dem Nichtausschlußprinzip, wofür technische Unteilbarkeiten und hohe Ausschlußkosten bei der Nutzung verantwortlich sind. Mit diesen Prinzipien lassen sich jedoch die besonderen Merkmale der Ordnungsregeln nicht adäquat erfassen. Das Nichtrivalitätsprinzip bei der Nutzung bzw. Befolgung von geltenden Regeln greift insofern zu kurz, als jedes zusätzliche Individuum, das eine Regel verläßlich befolgt, für die anderen beteiligten Individuen den Nutzen erhöht, also positive externe Effekte stiftet. Analoge Erklärungsdefizite gelten für das Ausschlußprinzip. Bezogen auf die klassischen öffentlichen Güter, besteht hierbei für selbstinteressierte Individuen bekanntlich ein Anreiz, sich von deren Erstellung und Finanzierung, nicht jedoch von deren Nutzung ausschließen zu wollen, weshalb die spontane, marktmäßige Bereitstellung dieser Güter meist scheitert und von daher staatlich zu erzwingen ist. Für das Zustandekommen und die Befolgung von Regeln gelten aber andere Anreize. Selbstbindende Institutionen entstehen meist spontan und werden von eigeninteressierten Individuen meist auch freiwillig befolgt. Dagegen bestehen beim Zustandekommen und noch mehr bei der Befolgung bindungsbedürftiger Institutionen Anreize, nicht nur keinen Beitrag für das Zustandekommen beizusteuern, sondern sich darüber hinaus bei der Befolgung (Nutzung) bestehender Regeln isoliert auszuschließen. Von daher ergibt die übliche Klassifizierung der Institutionen als öffentliche Güter wenig Sinn. Es ist also ein Umdenken geboten. Im folgenden soll daher eine eigenständige Güterinterpretation vorgestellt werden. Die Besonderheiten und Anreize für das Zustandekommen und die Befolgung von Regeln erscheinen in einem anderen Licht, wenn selbstbindende Institutionen als Netzwerkgut und bindungsbedürftige Institutionen als Moralgut konzipiert werden.
Selbstbindende Institutionen als Netzwerkgut Netzwerkgüter sind eine relative neuartige Güterkategorie, die durch das Aufkommen moderner Kommunikationsgüter entstand. Dabei fiel auf, daß deren Nutzen nicht nur von der Qualität und Quantität, sondern auch von der Zahl der Nutzer abhängt. Augenfällige Beispiele sind Telefonapparate oder Faxgeräte, deren isolierte Nutzung keinen Nutzen stiftet. Der Nutzen entsteht und steigt dagegen mit der Zahl der anwählbaren
So die Einschätzung von E. Gellner, Bedingungen der Freiheit: Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, Stuttgart 1995, S. 155 und S. 178. 9
Vgl. J. M. Buchanam, Die Grenzen der Freiheit: Zwischen Anarchie und Leviathan, Tübingen 1984, S. 183.
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251
Personen. Die Kommunikation ist darüber hinaus an die gemeinsame Akzeptanz von Standards gebunden. Weil der Nutzen (Ertrag) der Güter mit zunehmender Zahl der Anwender ansteigt, kann die Marktentwicklung eigenen Bedingungen unterliegen. Wichtig sind die oft zufalligen Umstände für die ersten Anwendungen sowie die sich selbstverstärkenden Effekte im Zuge der zunehmenden Anwendungen. Beide Bedingungen können einen pfadabhängigen Verlauf der Technologie - und damit auch der Marktentwicklung begründen. Auf Einzelheiten der nachfolgenden Kontroversen über die Frage, ob die pfadabhängige Technologieentwicklung eine neue Form des Marktversagens begründe, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 10 In der Institutionenökonomie war es North, der das Phänomen der Pfadabhängigkeit als einer der ersten für die Erklärung der Regelentwicklung übernommen hat." Für ihn ist die Pfadabhängigkeit der Schlüssel zum Verständnis der institutionellen und damit auch der wirtschaftlichen Entwicklung, wenngleich er konzediert, daß die Entwicklung der Institutionen sehr viel komplizierter als die der Technik sei.
Bindungsbedürftige Institutionen als Moralgut Diese Einschätzung ist zutreffend, wenn man die Gütermerkmale und die Entwicklung bindungsbedürftiger Institutionen zu bestimmen versucht. Das Zustandekommen und die Befolgung bindungsbedürftiger Institutionen sind sehr viel vertrackter, als es bei den selbstbindenden Institutionen der Fall ist. Die besonderen Anreize und Schwierigkeiten beim Zustandekommen und der Befolgung lassen sich erst dann entschlüsseln, wenn die moralische Dimension dieses Institutionentyps berücksichtigt wird. Bindungsbedürftige Institutionen sind der Prototyp eines Moralgutes. 12 Der Anspruch, die besonderen Merkmale von Institutionen im Sinne eines Moralgutes zu bestimmen, ist bescheidener Natur. Hier interessieren nur die formalen Kriterien des moralischen oder amoralischen Verhaltens. Das Moralverständnis orientiert sich erstens an der moralphilosophischen Tradition, wie sie beispielsweise durch D. Hume oder I. Kant begründet wurde, und zweitens an der jüngeren spieltheoretischen Analyse des Moralproblems. 13 Das klassische wie auch das spieltheoretische Verständnis konvergieren in der Definition von Mackie. Er definiert Moral als „... ein System von Verhaltensregeln besonderer Art, nämlich von solchen, deren Hauptaufgabe die Wahrung der Interessen anderer ist und die sich für den Handelnden als Beschränkungen seiner natürlichen Neigungen oder spontanen Handlungswünsche darstellen". 14 Diesem abstrakten Moralverständnis entspricht aus der Per10
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Vgl. Ch. B. Blankart und G. Knieps, Kommunikationsgüter ökonomisch betrachtet, in: Homo Oeconomicus, XI (3), 1994, S. 449-463. Vgl. D. C. North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, S. 123. Statt Moralgut bieten sich auch die Begriffe des Vertrauensgutes bzw. des Kooperationsgutes an. Diese Begriffe haben jedoch in der Konsumtheorie bzw. der Spieltheorie ein spezifisches Eigenverständnis. Vgl. V. Vanberg, Morality and Economics: De Moribus Est Disputandum, New Brunswick 1988. J. L. Mackie, Ethik. Auf der Suche nach dem Richtigen und Falschen, Stuttgart 1981, S. 133.
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spektive der Spieltheorie und hier des Gefangenendilemmaspiels die Bereitschaft zur wechselseitig vorteilhaften Kooperation und der Verzicht auf die Defektionsstrategie, die ja die bestmögliche individuelle Vorteilsnahme zu Lasten der Mitspieler verspricht. Gemäß diesem formalen Moralverständnis lassen sich bindungsbedürftige Institutionen als ein Moralgut, mithin als ein ökonomisches Gut sui generis, spezifizieren. Der individuelle Nutzen bezüglich der Geltung einer Regel bzw. einer Regelmenge gestaltet sich - neben der anreizkompatiblen Qualität der Regel - nach Maßgabe folgender Variablen: — erstens des Vorteils aufgrund der wechselseitig regelgemäßen Abwicklung der Kooperation mit Partnern, wobei der individuell erzielbare Vorteil von der verläßlichen Regelbefolgung der Anderen abhängt, — zweitens des möglichen Sondervorteils, der durch die isolierte Mißachtung der geltenden Regel erzielt werden kann, vorausgesetzt die anderen Partner verhalten sich kooperativ, also regelgemäß und — drittens des zusätzlichen Sondervorteils, der dadurch erzielbar ist, daß die Regel eine machtbedingt ungleiche Behandlung der Kooperationspartner vorsieht, indem sie der einen Seite einen Vorteil gewährt, der zu Lasten der anderen Seite geht. Die ökonomischen Gütermerkmale einer bindungsbedürftigen Regel als Moralgut lassen sich vergleichsweise zum Nutzenkonzept aufschlußreicher anhand des Rentenkonzepts verdeutlichen. Der Nutzen dient bekanntlich als Maß der Bedürfnisbefriedigung von Individuen beim Ge- oder Verbrauch von Gütern. Der Begriff der Rente stellt auf die Nutzen- oder Ertragsunterschiede zwischen den möglichen Entscheidungsalternativen beim Ge- oder Verbrauch der Güter ab. Bezogen auf die Regeln, geht es um deren Befolgung oder Mißachtung und um die ungleiche Behandlung in sozialen Beziehungen. Die Rente dient hierbei als Maß für den Zusatznutzen bzw. -ertrag beim Geoder Verbrauch eines Gutes gegenüber der nächstbesten Verwendung. Die individuell erzielbare Rente bezüglich der Geltung einer Regel gestaltet sich nach Maßgabe — erstens des Vorteils, der durch die regelgemäße und verläßliche Abwicklung der Kooperation entsteht, wobei die Höhe der Kooperationsrente sich am Nutzen (Ertrag) bemißt, der im Falle der nächstbesten Alternative, hier also der wechselseitigen Mißachtung der Regel (Defektion), entsteht, — zweitens des Sondervorteils, der durch die isolierte Mißachtung der geltenden Regel erzielbar ist, vorausgesetzt der oder die anderen Kooperationspartner verhalten sich kooperativ, wobei sich die Höhe der Defektionsrente am Nutzen oder Ertrag der wechselseitig regelgemäßen Kooperation bemißt, — drittens des Sondervorteils, der durch die Existenz und Geltung einer Regel erzielbar ist, die eine ungleiche Behandlung zwischen den Kooperationspartnern vorsieht, wobei sich die Höhe der machtbedingten Statusrente am Nutzen oder Ertrag bemißt, der bei der Geltung einer allgemeinen Regel entsteht, die eine Gleichbehandlung der Beteiligten garantiert. Mit der Kooperations-, der Defektions- und der machtbedingten Statusrente werden hier also drei Nutzen- bzw. Rentenkomponenten eines Moralgutes unterschieden. Anhand dieser Kategorien läßt sich die vertrackte Anreizstruktur für das Zustandekommen
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253
und die Geltung bindungsbedürftiger Institutionen verdeutlichen. Die Aussicht, wechselseitig vorteilhafte Kooperationsrenten zu erzielen, sollte die regelgemäße Kooperationsbereitschaft stimulieren. Aus der Spieltheorie sind die Bedingungen für das Zustand e k o m m e n der Kooperation bekannt. So sind Solidaritätskerne erforderlich, bei denen die Mitglieder untereinander verläßlich vertrauen. In dem Maße, in d e m sich das Vertrauen ausbreitet und stabilisiert, breiten sich auch Kooperation und damit Spezialisierung, Arbeitsteilung und Tausch aus. 15 Vertrauen ist die prekäre Bedingung, weil es den Verzicht auf die Erzielung von Defektionsrenten verlangt. Das setzt die verläßliche Geltung bindungsbedürftiger Institutionen voraus, die informaler und formaler Art sein können. In d e m Maße, in d e m die Geltung prekär ist, besteht die Gefahr, daß sich die Individuen in den Fallstricken des institutionellen D i l e m m a s erster Ordnung verfangen und sich defektive Verhaltensform e n und wechselseitiges Mißtrauen ausbreiten und stabilisieren. Weil die Menschen dieses Schicksal schon früh erfahren mußten, lag die Einrichtung von Institutionen zweiter Ordnung nahe, deren Z w e c k in der Durchsetzung und Kontrolle der Institutionen erster Ordnung bestand und besteht. In den vorstaatlichen Gemeinschaften waren beide institutionellen Ebenen noch nicht getrennt. Die ersten Ansätze einer vertikalen Spezialisierung im Sinne einer sozialen Über- und Unterordnung erfolgten in den Häuptlingstümern, aus denen sich dann allmählich archaische staatliche Herrschaftsformen entwickelten. Der Staat markiert sicherlich die folgenreichste institutionelle Erfindung der Menschheitsgeschichte. Er konnte häufig für Recht und Ordnung sorgen, nicht weniger häufig j e d o c h z u m hohen Preis der Unterdrückung und Ungleichbehandlung. Ibn Khaldun hat bereits im 14. Jahrhundert den Staat als diejenige Institution bezeichnet, die nur j e n e Ungerechtigkeiten verhindere, die sie nicht selbst begehe.' 6 Er variiert damit die alte und bange Frage, wer über die Wächter der Regeln wachen soll. Weil die Lösung dieses Problems meist nicht oder nur unvollkommen gelang, erwuchs aus dem Vorhaben, das Dilemma erster Ordnung zu regeln, ein institutionelles Dilemma zweiter und höherer Ordnung. Aus ökonomischer Sicht ist der maßgebliche Anreiz für dessen Entstehung und Verfestigung in der Erzielung machtbedingter Statusrenten zu sehen. Die Z ä h m u n g des staatlichen Gewaltmonopols und die Vermeidung machtbedingter Statusrenten waren und sind noch komplizierter als jenes Unterfangen, dem institutionellen Dilemma erster Ordnung zu entkommen.
3.
Kant und das Dilemma der bürgerlichen Gesellschaft
Diese Schwierigkeiten hat Kant bereits in aller Klarheit diagnostiziert. In der „Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft" sieht er das „größte" und „schwerste" Problem fur die Menschengattung.' 7 Als Ursache d a f ü r analy-
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Vgl. als Übersicht M. Osterloh und A. Lohr, Ökonomik oder Ethik als Grundlage der sozialen Ordnung?, in: Wirtschaftswissenschaftliches Stadium (WiSt), Heft 8, 1994, S. 401-406. Zitiert bei E. Gellner, Bedingungen der Freiheit: Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen, Stuttgart 1995, S. 37. /. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Kants Werke (Akademie Textausgabe), Bd. VIII, Berlin 1968, S. 15-32.
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siert Kant in geradezu mustergültiger Form die mit Moral und Recht verbundenen Interessen und Dilemmastrukturen. Obwohl der Mensch als Vernunftwesen Gesetze wünsche, die Recht und Ordnung schaffen, wolle sich doch jeder als selbstinteressiertes Wesen davon ausnehmen. Deshalb benötigen die Menschen einen Herrn oder Souverän, der die Geltung der Gesetze überwacht. Da dieser Herr jedoch ebenfalls ein Mensch mit eigenen Interessen sei, bedürfe er wiederum eines Herrn, der ihn kontrolliere etc. Das daraus resultierende Dilemma bringt Kant wie folgt auf den Punkt: „Denn jeder derselben wird immer seine Freiheit mißbrauchen, wenn er keinen über sich hat, der nach den Gesetzen über ihn Gewalt ausübt. Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst und doch ein Mensch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich."18 Kant war sich also der Vertracktheit des sozialen Ordnungs- oder Dilemmaproblems bewußt. Seine Diagnose hebt sich deshalb von den meisten rationalen Ordnungs- oder Institutionentheorien ab, deren Begründungen sich in einem argumentativen Dilemma zweiter Ordnung verfangen, weil sie die Lösung für das Ordnungsproblem erster Ordnung von höheren und meist staatlichen Instanzen erwarten, ohne eine Lösung für das damit verbundene Problem zweiter Ordnung anzubieten. Obwohl Kant sich dieses Problems bewußt war, sucht man bei ihm vergeblich nach einer Auflösung. Verantwortlich dafür war sein überzogenes Vertrauen in die Vernunft, von deren Gebrauch er sich alleine das Entkommen der Menschen aus der selbstverantworteten Unmündigkeit vorstellen konnte. Die naheliegende Auflösung des Problems ist in der Existenz einer aktiven Zivilgesellschaft zu vermuten. Wahrscheinlich konnte Kant zeitbedingt darin keine Lösung sehen, weil sein Ordnungsdenken noch obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen verhaftet war, was in den Verweisen auf die Notwendigkeit des „Herrn" oder „Souveräns" zum Ausdruck kommt, und weil er den religiösen und ideologischen Antrieben des bürgerlichen Engagements mißtraute und einseitig auf die Karte der Vernunft setzte, die von Philosophen entworfen und von aufgeklärten Herren oder sonstigen Obrigkeiten gespielt werden sollte. Die Vernunft ist jedoch nur ein Ordnungsfaktor, dessen Entfaltung und Kontrolle sich erst in Verbindung mit moralischen Gefühlen und Überzeugungen und d.h. mit dem gewachsenen Gefuge an emotional, religiös und ideologisch gebundenen Institutionen erschließen. Damit ist die einleitend formulierte These angesprochen, daß sich Begriff, Funktionen und Formen der Zivilgesellschaft nur im Rahmen einer Theorie des Wandels und der Wirkungen von Institutionen präzisieren lassen. Die Umrisse einer solchen Theorie sind in groben Strichen vorgestellt worden. Darauf aufbauend sollen in den nachfolgenden Ausführungen drei Thesen begründet werden: — Erstens: Die originäre und räum- und zeitunabhängige Hauptfunktion der Zivilgesellschaft ist darin zu sehen, institutionelle Dilemmata zweiter und höherer Ordnung
18
Ebenda, S. 23.
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zu verhindern oder zu beseitigen, worin zugleich das Kriterium zur begrifflichen Abgrenzung der Zivilgesellschaft zu sehen ist. — Zweitens: Die Entfaltung des zivilgesellschaftlichen Engagements ist erklärungsbedürftig, weil es selber den Fallstricken der institutionellen Dilemmata zweiter Ordnung entkommen muß. Denn einerseits setzt die Zivilgesellschaft minimale rechtsstaatliche Freiräume des Denkens und Handelns voraus, deren Eröffnung andererseits vom zivilen Engagement abhängt. Dieses Paradoxon läßt sich auflösen, wenn die historisch eher zufälligen Entstehungsbedingungen sowohl für das zivilgesellschaftliche Engagement als auch für rechtsstaatliche Verhältnisse freigelegt werden. Die Wurzeln dafür sind in der Entwicklung der informalen, also der religiös und ideologisch gebundenen Institutionen zu vermuten, was am Beispiel der europäischen und der außereuropäischen Entwicklung aufgezeigt werden soll. — Drittens: Die Analyse dieser Entstehungsbedingungen ist die Voraussetzung für die Identifizierung der verschiedenen Formen der Zivilgesellschaft mit jeweils eigenen Auswirkungen auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung. Diese Thesen seien in den nachfolgenden Kapiteln in der gebotenen Kürze begründet.
4.
Begriff und Funktionen der Zivilgesellschaft aus institutionentheoretischer Perspektive
Die erste These soll vor allem dazu dienen, die begriffliche Unschärfe und die verschiedenen Formen der Zivilgesellschaft zu klären. Die meisten Versuche, diese Kategorie zu definieren, bemühen regelmäßig das Argument der zeit- und länderspezifischen Vielfalt der Kategorie. Diese Absicherungen manifestieren nur die Defizite in der Theorie der Zivilgesellschaft. Ein Minimalkonsens besteht im Verständnis der Zivilgesellschaft als Ensemble der freiwilligen Vereinigungen und Aktivitäten von Bürgern, die darauf gerichtet sind, die Gestaltung der Regeln des sozialen Zusammenlebens einschließlich der dafür verantwortlichen Politikprozesse aktiv zu beeinflussen. Das zivile Engagement ist also freiwilliger Natur und nicht profit- oder machtorientiert, sondern primär gemeinwohlorientiert. Gemäß diesem allgemeinen Verständnis existiert eine Zivilgesellschaft dort, wo es freie Vereinigungen der Bürger gibt, die weder vom Staat bevormundet noch von engen Wirtschaftsinteressen geleitet sind und die den Verlauf der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung aktiv mitbestimmen. 19 Dieses allgemeine Verständnis läßt sich dahingehend präzisieren, daß nur solche Vereinigungen das zivilgesellschaftliche Siegel verdienen, deren Hauptzweck es ist, die Verfassung des Gemeinwesens in Richtung des Ideals allgemeiner, also gleicher Regeln für alle Mitglieder der Gesellschaft einschließlich der allgemeinen Achtung und Befolgung zu bewegen und somit den Versuchungen zur Entstehung und Verfestigung institutioneller Dilemmastrukturen aktiv entgegenzuwirken. Dazu gehört es, für institutionelle Bedingungen Sorge zu tragen, welche die Erzielung machtbedingter Statusrenten 19
Vgl. Ch.Taylor, Die Beschwörung der Civil Society, in: Ch. Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie, Frankfurt a. M. 2001, S. 64-92, hier S. 69; J. Keane, Civil society and the State: Old Images, New Visions, Cambridge 1998, S. 6.
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einschließlich individueller Defektionsrenten möglichst verhindern. Indirekt ist das zivilgesellschaftliche Engagement somit auf gesellschaftliche und insbesondere institutionelle Bedingungen gerichtet, unter denen sich generalisiertes Vertrauen in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbreiten kann. Freilich repräsentiert ein verläßliches und möglichst generalisiertes Vertrauensklima einen normativen, um nicht zu sagen idealen Zustand. Die Frage nach den institutionellen Vorbedingungen für eine Annäherung an diesen Idealzustand wird kontrovers und nicht selten spekulativ beantwortet. Als geläufige und oft modische Erklärungsvariablen dienen neben der Zivilgesellschaft die Kultur, die Religion, die Rechtstradition, good governance und neuerdings verstärkt das von Soziologen entwickelte Konzept des Sozialkapitals. Alle exemplarisch angeführten Erklärungsvariablen bleiben deshalb diffus, weil es ihnen an einem Unterbau durch eine plausible Theorie der Entwicklung und der Wirkungen von Institutionen ermangelt. Die vor allem von Putnam in die Diskussion gebrachte Kategorie des Sozialkapitals mag dafür als Beispiel dienen.20 Die sich daran anschließenden vielfaltigen Definitionen des Sozialkapitals sind alleine deshalb verwirrend, weil sie mal auf Bestandsgrößen (Normen, Werte, Netzwerke, Vereinigungen), mal auf Stromgrößen (vertrauliche Beziehungen, Kontakte, Erträge, reziproke Vorteile) abstellen. Einigermaßen plausibel erscheint das Verständnis von Fukuyama, der Sozialkapital als den Bestand an gewachsenen informellen Werten und Normen definiert, die Kooperation zwischen den Mitgliedern einer Gruppe ermöglichen. 2 ' Sozialkapital wäre demnach auf der Ebene der informellen Institutionen erster Ordnung anzusiedeln, wobei das Kooperationsinteresse der Mitglieder der eher kleinen Gruppen, Netzwerke oder Vereinigungen pragmatischer und vorteilsbedachter, jedenfalls weniger gemeinwohlorientierter Natur als das des zivilgesellschaftlichen Engagements ist. Ferner benötigt Sozialkapital nicht die komplementäre Angewiesenheit auf den demokratischen Rechtsstaat. Beispielsweise gab es im Sozialismus vielfaltige Formen des Sozialkapitals, aber keine Zivilgesellschaft. Vergleichsweise zur Zivilgesellschaft ist die Entfaltung von Sozialkapital weniger problematisch. Die Zivilgesellschaft ist im Unterschied zum Sozialkapital auf die Mindestgeltung allgemeiner und gleicher Grundrechte angewiesen, deren Ausbau und Sicherung zugleich das eigentliche Ziel des zivilen Engagements ist. Zu nennen sind die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Religions- und Gewissensfreiheit, die Meinungsfreiheit und andere elementare Grundrechte. Wie Habermas betont, definieren diese Rechte „... den Spielraum für freiwillige Assoziationen, die in den Prozeß öffentlicher Meinungsbildung eingreifen, Themen von allgemeinem Interesse behandeln, unterrepräsentierte und schwer organisierbare Gruppen oder Anliegen advokatorisch vertreten,
20
21
Vgl. R. D. Putnam, Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern Italy, Princeton 1993; Als Überlick vgl. B. Lageman, „Soziales Kapital" als Kategorie kulturorientierter Transformationsforschung, in: H.-H. Höhmann (Hg.), Kultur als Bestimmungsfaktor der Transformation im Osten Europas, Bremen 2001, S. 72-89. F. Fukuyama, Der große Aufbruch: Wie unsere Gesellschaft eine neue Ordnung erfindet, Wien 2000, S. 32.
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die kulturelle, religiöse oder humanitäre Ziele verfolgen, Bekenntnisgemeinden bilden und so weiter."22 Die Zivilgesellschaft ist also auf den demokratischen Rechtsstaat angewiesen, so wie dieser aus dem zivilen Engagement hervorgegangen ist. Das provoziert die Frage, wie die Zivilgesellschaft und damit auch der Rechtsstaat entstehen konnten. Die Klärung dieser Frage ist nicht nur von historischem Interesse, denn Zivilgesellschaft und demokratischer Rechtsstaat sind auch im 21. Jahrhundert weltweit keine Selbstverständlichkeiten. Hier gilt es zu zeigen, daß die Zivilgesellschaft auf spezifische religiöse und ideologische Institutionen und Überzeugungen angewiesen war und bis heute ist.
5.
Institutionelle Entstehungsbedingungen der Zivilgesellschaft
5.1. Einige Besonderheiten der westeuropäischen Entwicklung An dieser Stelle können nur einige markante Verkettungen für die Entfaltung der Zivilgesellschaft stichwortartig genannt werden, die im Verständnis von Max Weber die Weichen für die Dynamik der zivilen Bewegung gestellt haben.23 Eine erste Voraussetzung ist im Aufkommen der Vorstellung zu sehen, Gesellschaft und politische Ordnung seien zwei relativ eigenständige Bereiche des menschlichen Zusammenlebens. In Europa entwickelten sich die Keime für diese Vorstellung bereits im feudal und d.h. herrschaftlich zersplittert verfaßten Frühmittelalter. Hier wurzelt auch die Vorstellung, daß Lehnsherr und Vasall subjektive Rechte und Pflichten zu erfüllen haben, worin wiederum die Basis dafür zu sehen ist, daß hierarchisch abgestufte Transaktionspartner sich an vertragliche Vereinbarungen zu halten haben. Damit war der Übergang vom Status- zum Vertragsdenken vorbereitet. Eine zweite wichtige Weichenstellung für die Entfaltung der Zivilgesellschaft war die Trennung zwischen staatlicher und kirchlicher Macht im Gefolge des Investiturstreits zwischen Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII. im 11. und 12. Jahrhundert. Der Jurist Berman hat die Konsequenzen der päpstlichen Revolution mit dem Bild einer institutionellen Atomexplosion auf den Punkt gebracht, welche die Christenheit in die Kirche als ein rechtlich autonomes Gebilde und in die weltliche Herrschaft als das andere und zunehmend rivalisierende Gebilde aufspaltete. 24 Als dritte und wichtigste Weichenstellung für die Zivilgesellschaft ist die Reformation zu bewerten, weil sie das Denken des feudal und ständisch geordneten Spätmittelalters wie auch die überkommenen institutionellen Bindungen erschütterte. Folgende Grundideen sind hervorzuheben. Gemeinsam war allen protestantischen Bewegungen der Widerstand gegen die mächtige römische Kirchenorganisation, die sich als legitime 22 23
24
J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1994,4. Aufl., S. 445. Vgl. M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen: Konfuzianismus und Taoismus, Tübingen 1991, S. 11. Vgl. zu den folgenden Ausführungen auch Ch. Taylor, Die Beschwörung der Civil Sciety, in: Ch. Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie, Frankfurt a. M. 2001, S. 64-92. H. J. Berman, Recht und Revolution: Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a. M. 1991,2. Aufl., S. 810.
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Anstalt verstand, das Heil der Gläubigen gegenüber Gott zu vermitteln. Stattdessen wurden Glaube und Heil zur individuellen Angelegenheit deklariert. Jedes Individuum sollte zuerst sein eigener Seelsorger sein und das Heil im unmittelbaren Kontakt mit Gott sowie in einer gottgefälligen Lebensführung suchen. Im Einklang damit wurde die Gleichrangigkeit aller Gläubigen ungeachtet ihres Standes betont. Ebenso wichtig war die Forderung nach selbständiger Verwaltung der Glaubensgemeinden. Der Aufwertung der Individuen und Gemeinden entsprach eine Abwertung der kirchlichen und weltlichen Hierarchien mit ihren tradierten Statusrenten und -rechten. Schließlich ist die Aufwertung der profanen, alltäglichen Berufe und Tätigkeiten hervorzuheben. Nach dem Verständnis von Luther ruft Gott alle Menschen zur Arbeit und zur selbstverantwortlichen Lebensführung, weshalb sie zu gottgefälligen Pflichten erhöht wurden. Die protestantischen Postulate der selbstverantwortlichen Seelsorge, der tatkräftigen Arbeit, der moralischen Aufrichtigkeit, des aktiven Engagements in der Gemeinde und die Infragestellung überkommener Hierarchien und Sonderrechte schufen fast alle Vorbedingungen für die Entfaltung einer zivilen Gesellschaft. Tatsächlich wurde das Potential dafür unterschiedlich ausgeschöpft. Paradoxerweise und unintendiert bahnte der Calvinismus als eher fundamentalistisch einzustufender Protestantismus den Weg für eine selbstvertrauende Zivilgesellschaft angloamerikanischen Musters, während das Luthertum ebenfalls ungewollt die Entstehung einer staatsvertrauenden Zivilgesellschaft kontinentaleuropäischen Musters begünstigte. Die Hintergründe für die pfadabhängige Herausbildung von zwei Formen der Zivilgesellschaft seien kurz angedeutet. Ausgangspunkt ist die berühmte These von Max Weber über die protestantische Ethik und den kapitalistischen Wirtschaftsgeist. 25 Danach wurde dieser Geist maßgeblich von der Prädestinationslehre des Calvinismus angestoßen, der es an einem überprüfbaren Kriterium ermangelte, wen Gott zum ewigen Heil oder Unheil auserwählt habe. Die Ungewißheit über das Seelenheil wurde von den Gläubigen dahingehend gedeutet, daß sie sich vor Gott in ihrer gesamten Lebensführung zu bewähren hätten. Dazu zählten tüchtige und ehrliche Arbeit und der sparsame Umgang mit knappen Gütern. Das dadurch erzielbare Vermögen wurde als Zeichen der göttlichen Gnade interpretiert, wobei nicht das Vermögen an sich, sondern die gottgefällige Bewährung der Lebensführung der eigentliche Antrieb war. Ebenso wichtig war wohl, daß die puritanische Ethik den Unternehmern und Kaufleuten ein Selbstwertgefiihl in einer aristokratischen Gesellschaft verlieh, in der Wirtschaft und Handel stigmatisiert waren. Hinzu kam, daß die frühen calvinistischen und diversen freikirchlichen Gemeinden meist Minderheiten bildeten, die sich in einer katholischen Umwelt behaupten mußten. Von daher waren Selbsthilfe und aktives Engagement in den Gemeinden gefragt, womit wichtige Keime für das zivile Engagement gesät wurden. Der Calvinismus hat schließlich wiederum unintendiert maßgeblich die Entwicklung der autonomen und analytisch ausgerichteten Wissenschaften begünstigt. Indem er kirchliche Autoritäten entthronisierte, wurden nicht nur religiöse Dogmen in Frage gestellt; zugleich wurde der Weg für den systematischen Gebrauch der Vernunft als Er25
Vgl. zum Diskussionsstand H. Lehmann und G. Roth (Hg.), Weber's Protestant Ethic: Origins, Evidence, Contexts, Cambridge 1993.
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259
kenntnisquelle gebahnt. So wie sich das Gewissen der Menschen vor Gott direkt zu verantworten hat, so soll die Wissenschaft direkt zur realen Welt, also zur Natur und zur Gesellschaft vordringen und deren Gesetze ergründen. Die Wissenschaft erwies sich von daher als eigentlicher Weichensteller für die modifizierte moderne Weltsicht. Herausgehoben sei hier nur die Einsicht von Descartes, daß die vernünftige Ordnung des sozialen Zusammenlebens nicht vorzufinden, sondern per Gebrauch des Verstandes zu erfinden und dann zu gestalten sei. Die Regeln des Zusammenlebens und der Moral werden also nicht mehr länger als vorgegebene, sondern als gestaltbare und veränderbare Bedingungen erachtet. Dadurch erscheint die Welt und deren Ordnung in einem neuen Licht. Der revolutionäre Denkwandel erschließt sich erst im Vergleich zur tradierten Weltsicht.26 Piaton sei als Bezugsperson zu Descartes gewählt. Piaton wollte schon früh die Vernunft als Quelle zur Erkenntnis der richtigen Prinzipien der Moral und der Ordnung gebrauchen. Er blieb jedoch noch der Vorstellung von der Existenz göttlich oder kosmisch vorgegebener und ewig gültiger Prinzipien der Moral und damit einer hierarchisch geordneten Gesellschaft verhaftet. Als ein weiterer bahnbrechender Beitrag für die Zivilgesellschaft sei die vertragstheoretische Begründung des Staates von J. Locke genannt. Sie basiert auf der Prämisse der Existenz vorstaatlicher Rechte und damit des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Weil die Geltung der Rechte jedoch aufgrund allzu menschlicher Schwächen prekär sei, liege die einvernehmliche Einigung nahe, den Staat als Rechtsschutzstaat einzurichten, dem das Rechts- und Gewaltmonopol jedoch nur auf Treu und Glauben sowie auf Zeit zu verleihen und im Falle des Mißbrauchs zu entziehen sei. Als außerordentlich einflußreich erwies sich dabei das Postulat von der Existenz elementarer Natur- oder Menschenrechte, insbesondere der Religions- und Gewissensfreiheit, die jeder staatlichen Bevormundung entzogen seien. Während die Ideen von J. Locke in Amerika und auch in England einen starken Einfluß auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung ausübten, wurden sie in Deutschland und im kontinentalen Westeuropa weder in der Theorie noch in der politischen Praxis aufgenommen. 27 Die unterschiedliche Rezeptionsbereitschaft mag als Indiz für das je eigenständige Gesellschafts- und Staatsverständnis gelten, das auch eigenständige Formen des zivilen Engagements hervorbrachte. Ungeachtet aller Unterschiede existierten jedoch in der westlichen Welt gemeinsame Überzeugungen und Regelwerke, die Freiräume für das zivile Engagement eröffneten. Diese Gemeinsamkeiten erschließen sich methodisch im Wege des Vergleichs mit den institutionellen Entwicklungen und Eigenarten in den außerwestlichen Kulturräumen.
26
Vgl. Ch. Taylor, Humanismus und moderne Identität, in: Ch. Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie, Frankfurt a. M. 2001, S. 218-270.
27
Vgl. dazu W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt: Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfangen bis zur Gegenwart, München 2000, 2. Aufl., S. 460.
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5.2. Einige institutionelle Besonderheiten in außerwestlichen Kulturräumen Als Kriterium für den exemplarischen Kulturvergleich dienen die im vorherigen Abschnitt diagnostizierten institutionellen und geistigen Bedingungen für die Entfaltung der Zivilgesellschaft. Sie seien deshalb noch einmal kurz zusammengefaßt. Die Zivilgesellschaft setzt zuerst einen Wandel der traditionalen Weltsicht voraus, die der Vorstellung einer natur- oder gottgegebenen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens verhaftet ist. Vielmehr muß die Einsicht Platz greifen, daß die Regeln des menschlichen Zusammenlebens veränderbar sind. Die Entzauberung der traditionalen Weltsicht hat nur dann und dort eine Erfolgschance, wenn Religion und Staat getrennt werden und wenn religiöse Dogmen, die ja meist die Existenz einer gottgewollten Ordnung legitimieren, entthronisiert werden. Notwendig ist also die Einsicht, daß Religion, Staat und Gesellschaft als relativ autonome Bereiche zu verstehen sind. Erst wenn der religiöse Glaube zur privaten Gewissensentscheidung erklärt und das staatliche Gewalt* und Rechtsmonopol auf die Gleichbehandlung aller Menschen unabhängig von Konfession, Herkunft, Rasse oder Geschlecht verpflichtet und eingeschränkt wird, erst dann kann überhaupt ein öffentlicher Raum für das zivile Engagement zugunsten des Ausbaus und der Festigung des demokratischen Rechtsstaates entstehen. Das zivile Engagement wiederum setzt die Verinnerlichung gemeinschaftsübergreifender, genereller und auf die Gestaltung des gesamten Gemeinwesens orientierter Überzeugungen voraus. Das eigentliche Paradox der Zivilgesellschaft ist also darin zu sehen, daß die rechtsstaatlichen Minimalbedingungen einerseits Voraussetzung, andererseits zugleich das Ziel und Ergebnis des zivilen Engagements waren und sind. Dieses Paradox läßt sich nie ganz auflösen und ist wohl der Hauptgrund für die weltweit eher magere und zudem kulturell unterschiedliche Erfolgsbilanz der Zivilgesellschaft. Das sei an einigen Beispielen verdeutlicht. In den afrikanischen Ländern fristet die Zivilgesellschaft aufgrund der ungebrochenen Geltung emotional-tribal gebundener Regeln und Überzeugungen ein Schattendasein. Im postkolonialen Afrika ist es nicht gelungen, den Staat und die Verwaltung als über den heterogenen Gemeinschaften stehende Instanz zu etablieren. Staatliche Ämter und Kompetenzen werden vielmehr zugunsten der Gemeinschaften instrumentalisiert, so daß man von einer Vergemeinschaftung und Patrimonialisierung des Staates, bevorzugt in Form der Tribalisierung sprechen kann.28 Als vergleichbares Hindernis für die Zivilgesellschaft erweist sich in den zum ostasiatischen Kulturraum gehörenden Ländern das ungebrochene Vertrauen in familiäre Regelbindungen, wenngleich diese Regeln in einen generell orientierten und hochentwickelten Moralkodex eingebettet sind.29 In China wird das zivile Engagement zudem durch die aktuellen rechtsstaatlichen Defizite behindert.
28
Vgl. G. Hanck, Staat, Markt und Zivilgesellschaft in Afrika, in: IV.-D. Bukow und M. Ottersbach (Hg.), Die Zivilgesellschaft in der Zerreißprobe, Opladen 1999, S. 100-114.
29
Vgl. H. Leipold, Der chinesische Kultur- und Wirtschaftsraum als Herausforderung für die Institutionenökonomik, in: Asien, 2000, Nr. 76, S. 29-46.
Funktionen und Formen der Zivilgesellschaft
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In den zum islamischen Kulturkreis gehörenden Ländern standen und stehen die Dominanz religiös gebundener Institutionen und die damit verbundene Vorstellung der Einheit von Religion, Staat, Recht und Gesellschaft der Entfaltung der Zivilgesellschaft im Wege. Wie Tibi lapidar feststellt, existiert in keinem arabischen Land eine Zivilgesellschaft im modernen Verständnis. 30 Auf dem indischen Subkontinent ist es das per Verfassung zwar wegdekredierte, das reale soziale Zusammenleben aber nach wie vor bestimmende Kastenwesen, das dem Aufkommen einer aktiven und wirksamen Zivilgesellschaft im Wege steht. In den ost- und südosteuropäischen Ländern, die den griechisch-orthodoxen Glauben übernahmen, waren es wiederum andere und eigenständige historische Bedingungen, die die Entfaltung der Zivilgesellschaft behinderten. Als wichtigster Bremsklotz erwies sich wohl die Allianz von weltlicher Herrschaft und Kirche. Schon die oströmischen Kaiser und dann die Zaren verstanden sich zugleich als kirchliches Oberhaupt, wodurch die Religion für die Staatsmacht vereinnahmt wurde. Zudem gingen von der Ostkirche keine zum Protestantismus vergleichbaren Anreize zur aktiven Arbeit und zur weltzugewandten Lebensführung aus. Von daher ermangelte es an mit Westeuropa vergleichbaren Antrieben und Entfaltungsräumen für bürgerliche Freiheiten, freie Städte, autonome Wissenschaften und für aufgeklärte säkulare Rechts- und Staatslehren. Vor allem blieb die systematische Entwicklung des Rechts und noch mehr dessen verläßliche Verwaltung auf der Strecke. 3 1 Die in den ost- und südosteuropäischen Ländern existierenden rechtsstaatlichen Defizite wurzeln also in zivilgesellschaftlichen Defiziten, die ihrerseits weit in die Geschichte zurückreichen. Der kursorische Überblick über die institutionellen Eigenarten einiger großer Kulturräume zeigt, daß es hier an den elementaren Minimalbedingungen für die Entfaltung einer Zivilgesellschaft ermangelte. Die Idee einer Weltzivilgesellschaft bleibt daher vorerst eine Utopie. Das belegt die oben angeführte These von I. Kant, daß in der Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft das schwierigste und größte Problem für die Menschengattung bestand und besteht. Anders formuliert, basiert diese These implizit auf der Einsicht, daß die bürgerliche oder zivile Gesellschaft die verläßlichste Vorkehrung zur Verhinderung oder zur Beseitigung institutioneller Dilemmata zweiter und höherer Ordnung bietet. In Europa und zuerst in den Vereinigten Staaten von Amerika gelang es den Bürgern aufgrund der zufälligen Verkettung der institutionellen Umstände, der „lähmenden Ausbeutung durch ihre eigenen Herrscher" 32 und damit dem institutionellen Dilemma zweiter und höherer Ordnung zu entgehen. Als maßgebliche Weichenstellungen für die zivilen Freiheiten erwiesen sich hier die frühe Trennung von weltlicher und kirchlicher Macht, die Reformation und dann die Aufklärung mit ihren verschiedenen Richtungen 30
31 32
B. Tibi, Krieg der Zivilisationen: Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg 1995, S. 28; H. Leipold, Islam, institutioneller Wandel und wirtschaftliche Entwicklung, Stuttgart 2001, S. 29. Vgl. A. Buss, Die Wirtschaftsethik des russisch-orthodoxen Christentums, Heidelberg 1989. Vgl. E. L. Jones, Das Wunder Europa: Umwelt, Wirtschaft und Geopolitik in der Geschichte Europas und Asiens, Tübingen 1991, S. 166.
262
Helmut Leipold
und Bewegungen. Trotz des gemeinsamen politischen, religiösen und geistigen Erbes entwickelten sich zwei unterschiedliche Formen der Zivilgesellschaft, deren Eigenarten am Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschlands aufgezeigt werden sollen.
6.
Die selbstvertrauende Zivilgesellschaft
Amerika verkörpert eine spezifische Form der Zivilgesellschaft, die Taylor in Anspielung an J. Locke als die L-Variante bezeichnet hat.33 Bereits in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 findet sich der Satz, daß Gott die Menschen mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet habe. Diese Überzeugung hat auch die amerikanische Verfassung und die 1791 deklarierte „Bill of Rights" angeleitet, die als die ersten großen Errungenschaften des zivilen Engagements gelten können. Hartz hat daher die amerikanischen Bürger als „natürliche Lockeaner" bezeichnet. 34 Die Zivilgesellschaft hat ihren Ursprung in der Gründungsphase Amerikas und hierbei in der Allianz von puritanischen und liberalen Überzeugungen, die sich gegen die britische Vorherrschaft verbündeten. Aus ihnen erwuchs das amerikanische Credo, dessen Botschaft von der großen Mehrheit der Bevölkerung geteilt wurde und bis heute wird. Dazu gehören der Glaube an individuelle Freiheit, Chancengleichheit, Unternehmertum, Wettbewerb, Leistungsdenken sowie Bürgerrechte und konstitutionelle Demokratie. Charakteristisch für die amerikanische Zivilreligion ist das historisch seltene Nebeneinander einer hohen Rechtsakzeptanz mit einer ausgeprägten AntiStaatlichkeit. 35 Das Vertrauen in das Recht ist das Ergebnis des liberalen Erbes und zeigt sich in der verbreiteten Neigung, Streitfälle durch Gerichte zu klären. Das Mißtrauen in die staatliche Zuständigkeit äußert sich in dem zivilen Engagement, gemeinsame öffentliche Angelegenheiten möglichst selbstverantwortlich zu erledigen. Die zivilen Tugenden hat Alexis de Tocqueville bereits vor mehr als 150 Jahren beschrieben. Die amerikanische Gesellschaft zeichne sich durch eine gewaltige Vielfalt von Vereinigungen aus, die das moralische Gefühl und das Engagement zugunsten des Gemeinwohls pflegten. Damit verbindet sich das Verständnis des Staates als einer gesellschaftlichen Einrichtung. Bei Tocqueville findet man bereits ansatzweise eine Erklärung für den Bedingungszusammenhang zwischen einer Zivilgesellschaft, einer verläßlichen Staats- und Rechtsordnung und einer funktionierenden marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Zivilgesellschaft erziehe die Menschen zu mündigen und verantwortlichen Bürgern. Sie wecke das Gefühl für Pflichten zugunsten des öffentlichen Wohls. Sie erinnere jeden daran, daß er in der Gesellschaft lebt. Das zivile Engagement verhin33
34
35
Ch. Taylor, Die Beschwörung der Civil Society, in: Ch. Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie, Frankfurt a. M. 2001, S. 64-92, hier: S. 80. L. Hartz, The Liberal Tradition in America: An Interpretation of American Political Thought since the Revolution, New York 1955. Zum folgenden vgl. H. Leipold, Die kulturelle Einbettung der Wirtschaftsordnungen: Bürgergesellschaft versus Sozialstaatsgesellschaft, in: B. Wentzel und D. Wentzel (Hg.), Wirtschaftlicher Systemvergleich Deutschland / USA, Stuttgart 2000, S. 1-52. Vgl. S. M. Lipset, American Exceptionalism: A Double-Edged Sword, New York 1998, S. 20.
Funktionen und Formen der
Zivilgesellschaft
263
dere in Verbindung mit den christlichen Wertbindungen zugleich, daß die individuelle Freiheit nicht in die destruktive „Selbstsucht" abgleite. Nach Tocqueville verschmelzen die Amerikaner in ihrem Denken Christentum und Freiheit so vollkommen, daß man sie fast nicht dazu bringe, dieses von jener zu trennen. In der Indienstnahme der Freiheit für die gemeinschaftlichen Belange erkennt er zugleich die allerwirksamste Begrenzung für die ungewollte Expansion des Staates hin zur freiheitsbeschränkenden Staatsallmacht, modern gesprochen, also hin zum allzuständigen Wohlfahrtsstaat.36 Spieltheoretisch interpretiert, bietet die in informalen Institutionen wurzelnde Zivilgesellschaft die verläßlichste Vorkehrung für die Vermeidung institutioneller Dilemmasituationen zweiter und höherer Ordnung, in deren Fallstricke sich Parteien und Politiker selbst im Rahmen ausgeklügelter verfassungsmäßiger „checks and balances" allzu leicht verfangen können.37 Von daher ist in der Lebendigkeit des zivilen Engagements die eigentliche Ursache dafür zu sehen, daß der Einfluß des Staates in der Wirtschaft begrenzt werden konnte. Aufgrund der verläßlich verwalteten Rechtsbedingungen bestehen Anreize und Freiräume für unternehmerisches Engagement und für die Entfaltung relativ freier und wettbewerblicher Märkte. Die Unterschiede gegenüber Deutschland kommen schlaglichtartig in der Entwicklung der Staatsquote zum Ausdruck. Während hier der Anteil der Staats- und Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt von ca. 20 v.H. im Jahre 1960 auf derzeit fast 50 v.H. anstieg, entwickelte sich die Staatsquote in Amerika im gleichen Zeitraum von 27 v.H. auf 30 v.H. Eine maßgebliche Ursache dafür ist in der besonderen Verfaßtheit der Zivilgesellschaft in Deutschland zu vermuten.
7.
Die staatsvertrauende Zivilgesellschaft
Die Zivilgesellschaft in Deutschland ist in der Typologie von Taylor dem auf Montesquieu anspielenden M-Strang zuzuordnen.38 Im Verständnis der Zivilgesellschaft vom Typ des M-Strangs wird die Gesellschaft enger mit der politisch-staatlichen Ordnung verknüpft. Das zivile Engagement weist vergleichsweise zum L-Strang weniger Vertrauen in die Selbstorganisation der Gesellschaft auf und vollendet sich in der aktiven Mitwirkung an der Entwicklung von Staat und Recht, die dem Ideal der Gewaltenteilung auf unabhängige Träger verpflichtet sein soll. Dadurch wird der Vorrang der Gesellschaft vor dem Staat umgekehrt und die Gesellschaft letztlich von der politischen Ordnung her definiert. Dieses Verständnis war und ist für das kontinentale Europa charakteristisch. Die deutsche Tradition steht jedoch für das extremste staatsbezogene Verständnis. Die renommierteste Version stammt von Hegel, weshalb es sich anbietet, das deutsche Verständnis der Zivilgesellschaft einem gesonderten H-Strang im Rahmen des MStrangs zuzuordnen. Hegel verortet die bürgerliche Gesellschaft seiner Zeit zwischen 36
Ä. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Erster und zweiter Teil, Zürich 1987, S. 160 und S. 442.
37
Vgl. B. Weingast, Constitutions as Governance Structures: The Political Foundation of Secure Markets, in: Journal of Institutional and Theoretical Economies, 1993, Vol. 149, S. 286311.
38
Ch. Taylor, Die Beschwörung der Cevil Society, in: Ch. Taylor, Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie, Frankfurt a.M. 2001, S. 64-92, hier: S. 80.
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Helmut Leipold
Familie und Staat und definiert sie als System der primär wirtschaftlichen Bedürfnisse und Interessen. Obwohl er das zunehmende Eigengewicht der bürgerlichen Gesellschaft anerkennt, traut er ihr nicht die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Gesamtgesellschaft zu. Die bürgerliche Gesellschaft setze „deshalb den Staat voraus, den sie als Selbständiger vor sich haben muß, um zu bestehen." 39 An anderer Stelle bezeichnet er den Staat als „Wirklichkeit der sittlichen Idee" oder als „göttliche Idee", die es zu verehren gelte. Im Unterschied zum angloamerikanischen Gesellschaftsverständnis wird in Deutschland der Staat als originärer Garant der sozialen Integration und Ordnung verstanden. Die Wurzeln für dieses Verständnis von Gesellschaft und Staat reichen weit in die Geschichte zurück. 40 Hier sollen lediglich einige Besonderheiten der deutschen gegenüber der amerikanischen Entwicklung herausgestellt werden. Im Unterschied zu Amerika kam es im Gefolge der Reformation nicht zur Allianz von Protestantismus und Liberalismus. Das Luthertum begünstigte vielmehr eine Allianz zwischen Altar und Thron, wodurch die Entfaltung des zivilen Engagements behindert wurde. Das Luthertum enthielt mit den Postulaten der Gleichrangigkeit aller Christenmenschen vor Gott und der autonomen Verwaltung der Glaubensgemeinde zwar zivile, zugleich aber auch obrigkeitsstärkende Ideen. Genannt sei die „Zwei-Reiche-Lehre", nach der das geistliche Reich für das Seelenheil, das weltliche Reich für Recht und Ordnung zuständig seien. Da die weltliche Obrigkeit von Gott verordnet sei, handele jeder gegen Gottes Ordnung, der sich der Obrigkeit widersetze. Dieses Gehorsamsgebot der Bibel findet im thomistischen Ordnungsverständnis der katholischen Kirche seine Entsprechung. Seinen ersten Niederschlag fand es im Augsburger Religionsfrieden von 1555. Danach bestimmten nicht die Bürger über ihre Konfession, sondern die Landesherren. Luther selbst hat die Rolle der Landesherren begrüßt, indem er sie aufforderte, sich an der Gestaltung der Gemeindeordnung zu betätigen. Diese übernahmen im Laufe der Zeit nicht nur das Kirchengut, sondern auch die Position eines Notbischofs, wodurch sie die quasisakrale Aura des Landesvaters erhielten, der später dann zum „Vater Staat" erhöht wurde. 41 Der Glaube an die christliche Botschaft und der Gehorsam gegenüber Staat und Recht wurden gleichwertig, weshalb der Staat sich zu einer Art irdischer Heilsanstalt entwickeln konnte. Der preußische und speziell der friderizianische wie auch der wilhelminische Staat waren Prototypen patriachalischer Obrigkeitsstaaten. Freilich gab es auch liberale Gegenbewegungen. Als Advokaten eines liberalen Staates und einer Bürgergesellschaft sind I. Kant, W. von Humboldt oder J. G. Herder zu nennen. Im beginnenden 19. Jahrhundert entwickelte sich vor allem in den Städten eine Bürgerbewegung, die später im Nationalliberalismus ihre stärkste Kraft fand. Die Bür-
39
40
41
G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Stuttgart 1964, § 182 und § 257. Vgl. H. Leipold, Die kulturelle Einbettung der Wirtschaftsordnungen: Bürgergesellschaft versus Sozialstaatsgesellschaft, in: B. Wentzel und D. Wentzel (Hg.), Wirtschaftlicher Systemvergleich Deutschland / USA, Stuttgart 2000, S. 1-52. W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt: Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2000, 2. Aufl., S. 267. Beispielhaft dafür sei die Verfassung für das Kurfürstentum Hessen von 1852 angeführt. In § 8 heißt es über den Landesherrn: „seine Person ist heilig und unverletzlich."
Funktionen und Formen der
Zivilgesellschaft
265
ger sollten sich nicht länger als Untertanen, sondern als Mitgestalter und Mitgesetzgeber des Gemeinwesens verstehen. Aus dem bürgerlichen Engagement entstanden Bildungsvereine, Kranken- und Pensionskassen und eine Vielzahl anderer patriotischer Vereinigungen. Obwohl die liberale Bewegung in einigen Regionen (Baden, Westfalen, Rheinland) stärker Fuß fassen konnte, blieb ihr der große Durchbruch versagt. Der Liberalismus scheiterte bekanntlich im Jahre 1848. Mit der nachfolgenden Gründung des Kaiserreichs siegten der Nationalstaat preußischer Prägung und damit die Idee der Staatsgesellschaft. Die Regeln des Obrigkeitsstaates wurden zuerst durch die Verfassung der Weimarer Republik und später durch das Grundgesetz formal beseitigt. In den informalen Regeln und Überzeugungen der Deutschen blieben jedoch beträchtliche gewachsene Überreste der Staatsgesellschaft lebendig. Bezogen auf die aktuellen bundesdeutschen Verhältnisse, ist das Verlangen nach einem starken und sozialen Staat für die große Bevölkerungsmehrheit charakteristisch. Die hohe Wertschätzung des Sozialstaates reflektiert nur das geringe Zutrauen der Bürger, die gemeinsamen Angelegenheiten im größeren Ausmaß selbstverantwortlich zu regeln. Diesem Mißtrauen entspricht die Vorstellung, daß den Bürgern die interessenüberhöht vorgestellten Staats- und Rechtsinstanzen gegenüberstehen, die für die Gestaltung von Politik und Recht zuständig zu sein haben und die primär dem Gemeinwohl und der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet sein sollen. Auch die korporativen Akteure, insbesondere die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände, verstehen sich als Wahrer des Sozialstaats. Die breite Akzeptanz des Sozialstaates ist Ausdruck in das hohe Vertrauen in Verfassung, Politik und Recht. Im Unterschied zum angloamerikanischen Verständnis der Freiheit als Negation der übermäßigen staatlichen Zuständigkeit dominiert in Deutschland das positive Verständnis, daß der Staat die Freiheit durch Recht sozial abzusichern habe. Dazu paßt die Bereitschaft, viele strittige politische Fragen nicht durch die Parlamente, sondern durch das Bundesverfassungsgericht zu klären. Der deutsche Bürger versteht sich daher als Staatsbürger, und er bevorzugt anstelle der Bürger- und Menschenrechte den Begriff der Staatsbürgerrechte. Aufgrund des hohen Vertrauens in Staat und Recht konnte sich der paternale Staat nahtlos in den demokratischen Sozialstaat wandeln, der seine Bürger von der Wiege bis zur Bahre umfassend versorgt. In der besonderen Geschichte und Ausprägung der Zivilgesellschaft sind deshalb auch die maßgeblichen Ursachen für die Eigenarten der Staats- Rechts- und Wirtschaftsordnung in Deutschland zu vermuten. Der positive Einfluß ist darin zu sehen, daß Staat und Recht auf ein solides religiös-ideologisches Fundament aufbauen, wobei die Akzeptanz demokratischer Verfahren aufgrund der positiven Erfahrungen in der noch jungen bundesrepublikanischen Geschichte als verläßlich eingestuft werden kann. Der Versuchung, das staatliche Rechts- und Gewaltmonopol zu mißbrauchen, stehen das gewachsene rechtsstaatliche Bewußtsein und die vielfaltigen demokratischen und verfassungsmäßigen Kontrollformen entgegen. Es existieren also wirksame zivile und konstitionelle Vorkehrungen gegenüber institutioneller Dilemmasituationen zweiter und höherer Ordnung. Die verbreitete Einstufung Deutschlands als „high trust country"
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Helmut Leipold
wurzelt in der gewachsenen und sowohl von den Normalbürgern als auch den politischen Eliten verinnerlichten Wertschätzung von Staat und Recht.42 Das relativ hohe Vertrauen in Staat und Recht begünstigt wiederum die Kooperationsbereitschaft in nichtstaatlichen Bereichen und Beziehungen und erklärt die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft in der Nachkriegszeit. Weil sich die Wirtschaftssubjekte in ihrer Rolle als Unternehmer, Händler, Kreditgeber oder Arbeitnehmer auf die Geltung informaler und rechtlicher Normen verlassen konnten, war die Entwicklung der Arbeitsteilung, der Spezialisierung, des Tauschhandels und damit des wirtschaftlichen Wohlstandes das folgerichtige Ergebnis. Freilich gilt es auch die Kehrseite des staatsvertrauenden Gesellschaftsverständnisses zu sehen. Das hohe Vertrauen in den Sozialstaat und das geringe Vertrauen in die eigenverantwortliche Lebensführung mußte früher oder später zur Expansion der sozialstaatlichen Regulierungen, des öffentlichen Rechts und dessen staatlicher Verwaltung fuhren. Die Defizite und Reformerfordernisse des deutschen Sozialstaates sind den Experten bekannt. Stichwortartig genannt seien hier nur die Sozialen Sicherungssysteme, deren Regelungen in neun Bänden mit über 3000 Seiten des Sozialgesetzbuches kodifiziert sind und von ca. 40 gesonderten Sozialämtern verwaltet werden, sowie die Regulierungen der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, so daß Arbeitsmärkte nur in rudimentärer Form existieren. Sozialstaatliche Regelungen durchdringen ferner alle Bereiche der Wirtschafts-, Finanz-, Agrar-, Umwelt-, Außenhandels- oder Bildungspolitik. Der Sozialstaat und mit ihm das Verständnis der staatsvertrauenden Zivilgesellschaft sind jedoch an ideelle, finanzielle und international wettbewerbsfähige Grenzen gestoßen.
8.
Aktuelle Herausforderungen der Zivilgesellschaft
Im Zuge des weltweiten Zusammenwachsens der Märkte, der Kulturen und der nationalen Politikprozesse ergeben sich für die Zivilgesellschaft naturgemäß erweiterte und neue Aufgabenfelder. Die einzelnen Staaten und damit auch Gesellschaften werden in absehbarer Zeit jedoch die Hauptakteure bleiben. Mit Reinhard, der ja die Entwicklung der Staatsgewalt über einen langen Zeitraum untersucht hat, ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Kernproblem der Staaten und der Gesellschaften in Deutschland und in den anderen europäischen Ländern schlicht darin zu sehen, daß sie „zuviel Staat" haben.43 Die Begrenzung des Staates, die Beseitigung machtbedingter Besitzstände und Statusrenten und damit die Sicherung individueller Freiräume und die Sorge für allgemeine und gleiche Rechte für alle Menschen, egal ob auf nationaler oder globaler Ebene, bleiben deshalb die zeit- und raumunabhängigen Anliegen des zivilen Engagements.
42
Vgl. z.B. F. Fukuyama, Konfuzius und Marktwirtschaft: Der Konflikt der Kulturen, München 1995, S. 186.
43
W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt: Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfangen bis zur Gegenwart, München 2000, 2. Aufl., S. 509 und S. 535.
Funktionen und Formen der
Zivilgesellschaft
267
Unter Ökonomen ist es üblich, die Expansion der Staaten und speziell des modernen Sozialstaates mit dem Argument des Politikversagens zu beantworten. 44 Gemäß der Ökonomischen Theorie der Demokratie bestehen für Parteien und Politiker Anreize, partikularen und bevorzugt organisierten Gruppen von Wählern Begünstigungen oder Sonderregeln einzuräumen und deren Finanzierung großen und nichtorganisierten Mehrheiten, damit letztlich den Steuerzahlern und den Konsumenten aufzulasten. Das Streben nach Wählerstimmenmaximierung begünstigt eine Politik der Sondervorteile für partikulare und häufig nicht wirklich bedürftige Gruppen, die zu Lasten von allen Bürgern geht und die ungewollt zur Expansion des Sozialstaats und zur zunehmenden Regulierung der Wirtschaft führt. Der ökonomische Ansatz erklärt jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn Parteien und Politiker orientieren ihre Politik an den Präferenzen des Medianwählers und d.h. der Normalbürger. Wie dargestellt, erwartet die Bevölkerungsmehrheit gerade in Deutschland die Lösung vieler ihrer Probleme vom Staat. Die Politiker haben in demokratisch korrekter Manier auf diese Erwartungen reagiert. Es liegt also nahe, eher von einem Versagen der staatsvertrauenden Zivilgesellschaft zu reden. Die Inangriffnahme und Durchsetzung der anstehenden Reformen des Sozialstaates haben erst dann reale Chancen, wenn sie von der Bevölkerungsmehrheit gewollt und aktiv unterstützt werden. Das setzt ein modifiziertes Verständnis von Staat und Gesellschaft voraus, wozu das Engagement der Bürger insbesondere in Familie, Erziehung, Bildung, Wissenschaft und in den Kirchen sowie in der medialen Öffentlichkeit gefordert ist. Notwendig ist also ein Wandel von der staatsvertrauenden Zivilgesellschaft hin zur selbstvertrauenden Zivilgesellschaft.
44
Vgl. M. Erlei, M. Leschke und D. Sauerland, Neue Institutionenökonomik, Stuttgart 1999, S. 459-487.
Die EU im Spannungsverhältnis zwischen dem Konsensund dem Mehrheitsprinzip* Inhalt 1. Zur Rolle der EU-Entscheidungsregeln
270
2. Die Aufbauphase und der Einfluß des Gemeinschaftsgeistes
271
2.1. Organe und Entscheidungsregeln nach den Gründungsverträgen
271
2.2. Einige Gründe für die Anfangserfolge
273
3. Die Stagnationsphase und die Herrschaft einstimmiger Ratsbeschlüsse
275
3.1. Der Luxemburger Kompromiß und die Folgen
275
3.2. Eine politikökonomische Analyse des Konsensprinzips
275
3.3. Verlauf und Ergebnisse der Gemeinschaftsmethode
278
4. Die Erneuerungsphase und der Beitrag des Mehrheitsprinzips 4.1. Die Reformen der Einheitlichen Europäischen Akte
281 281
4.2. Reformergänzungen durch den Vertrag über die Europäische Union und die nachfolgenden Verträge
283
4.3. Eine knappe Analyse der qualifizierten Mehrheitsregel
285
5. Die aktuelle Reflexionsphase: Quo vadis Europa?
287
5.1. Hat Europa ein Demokratiedefizit?
287
5.2. Hat Europa ein Orientierungsdefizit?
290
Literatur
293
Erstdruck in: Dirk Wentzel (Hg.), Europäische Integration - Ordnungspolitische Chancen und Defizite, Stuttgart 2006, S. 47-73.
270
1.
Helmut Leipold
Zur Rolle der EU-Entscheidungsregeln
Die Ablehnung des Europäischen Verfassungsvertrags durch die Referenden in Frankreich und in den Niederlanden im Jahre 2005 bedeutete einen herben Rückschlag für den europäischen Einigungsprozeß. Über die Motive für das „Non" bzw. „Nee" kann nur spekuliert werden, zumal die große Mehrheit der Bürger in den beiden Gründungsstaaten der Gemeinschaft über die Details des mehr als 300seitigen Verfassungskonvoluts nur oberflächlich informiert gewesen sein dürfte. Ausschlaggebend waren sowohl die Ängste vor der Billiglohnkonkurrenz durch die Osterweiterung der EU und die gleichlaufende intensivierte Globalisierung als auch das Unbehagen gegenüber der als verselbständigt empfundenen Gemeinschaftspolitik, die nicht hinreichend demokratisch legitimiert werde und deren Folgen nur unzureichend den verantwortlichen Persönlichkeiten und Institutionen zurechenbar seien. Diese verständlichen Ängste und Proteste der Bürger gingen mit dem Verlangen einher, ihre kulturellen, nationalen und regionalen Eigenarten und Identitäten gegenüber der von Brüssel verordneten Vereinheitlichung der institutionellen Bedingungen zu wahren. Dabei sollte der Verfassungsvertrag gemäß der Deklaration von Laeken, die ja am Anfang seiner Ausarbeitung stand, die europäischen Institutionen den Bürgern näher bringen und mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz schaffen. Dieser hehre Auftrag wurde offensichtlich verfehlt. Paradoxerweise hat die Ablehnung des Verfassungsvertrages die zuletzt durch den Vertrag von Nizza in 2001 festgeschriebenen Regelwerke bestätigt, die ja gerade verbessert und transparenter gestaltet werden sollten. Die Schwierigkeiten für die Überwindung dieses Paradoxons wurzeln in der historisch einzigartigen Verfaßtheit der europäischen Einigungsidee. Die Europäische Gemeinschaft (zuerst EWG, dann EG und jetzt EU, wie die Gemeinschaft im folgenden benannt wird) gilt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 89, 155 vom 12.10.1993) als ein Staatenverbund „von besonderer Art und Qualität", der sich gemäß einer frühen Bewertung von Everling (1977, S. 614) in kein herkömmliches Schema einordnen läßt. Die Gemeinschaft verkörpert vielmehr eine neuartige Mischung zwischen einem Staatenbund und einem Bundesstaat. Die markante Besonderheit ist darin zu sehen, daß sich die souveränen Mitgliedsstaaten nicht nur eine funktional begrenzte Wirtschafts- und Staatengemeinschaft, sondern zugleich auch ein supranationales Regime mit eigenständigen Kompetenzen geschaffen haben, das den souveränen Vertragsparteien und deren Bürgern Restriktionen auferlegen kann. In dieser zwischenund supranationalen bzw. suprastaatlichen Doppelstruktur ist zwangsläufig ein Spannungsverhältnis zwischen National- und Gemeinschaftsinteresse angelegt, dessen Ausmaß maßgeblich von zwei Bedingungen bestimmt wird: erstens vom Umfang der Gemeinschaftspolitik und damit des nationalstaatlichen Souveränitätsverzichts und zweitens von den Regeln und Prozeduren zum Ausgleich der Interessen und damit der Art und Weise, nach welchen Regeln oder Prinzipien über die Gemeinschaftspolitik entschieden wird. Als klassisches Prinzip für den Interessenausgleich zwischen souveränen und gleichberechtigten Staaten im Rahmen eines Staatenbundes gilt das Konsens- oder Einstimmigkeitsprinzip, während innerhalb der modernen National- oder Bundesstaaten ge-
Die EU zwischen Konsens- und
Mehrheitsprinzip
271
meinschaftliche Angelegenheiten gemäß dem demokratischen Mehrheitsprinzip entschieden werden. Die Vor- und Nachteile beider Entscheidungsprinzipien sind in der ökonomischen Theorie der Verfassung hinlänglich analysiert worden (vgl. klassisch dazu Buchanan und Tullock 1962; ferner zum folgenden auch Leipold 1993). Das einstimmige Konsensprinzip sichert aufgrund der Veto-Option die Wahrung der jeweiligen, hier also der nationalstaatlichen Interessen. Seirt Nachteil besteht in den dadurch bedingten hohen Einigungskosten und potentiellen Entscheidungsblockaden, die wiederum die Nutzung potentieller Kooperationsvorteile gefährden. Als realistische Alternative bietet sich deshalb das Mehrheitsprinzip in Form der qualifizierten oder der einfachen Mehrheit an. Sein Nachteil besteht jedoch in der Fremdbestimmung der überstimmten Minderheiteninteressen. Gerade in einem immer heterogeneren und zudem mächtigeren Staatenverbund waren und sind deshalb auch die aktuellen und möglichen zukünftigen Konflikte der Vergemeinschaftung vorprogrammiert. In der Europäischen Gemeinschaft hat man sich bereits in den Gründungsverträgen auf einen Kompromiß zwischen beiden Entscheidungsprinzipien geeinigt, wobei die Politische Union in Gestalt eines Europäischen Bundesstaates das visionäre Fernziel sein sollte. Von diesem Kompromiß erwartete man einen erträglichen Interessenausgleich und zugleich eine zügige Erreichung der Gemeinschaftsziele. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, daß sowohl das Konsens- als auch das Mehrheitsprinzip im Rahmen eines Staatenverbundes anspruchsvolle Entscheidungsprinzipien mit je eigenen Folgen für das Tempo, die Ausgestaltung und nicht zuletzt die Akzeptanz der europäischen Einigung waren und bis heute sind. Je nach dem Gewicht dieser beiden Entscheidungsprinzipien soll die bisherige institutionelle Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft in vier charakteristische Phasen eingeteilt werden: erstens in die mit den Gründungsverträgen vorgegebene und vom Gemeinschaftsgeist geprägte Aufbauphase von 1957 bis 1965 (Kapitel 2.), zweitens in die mit dem Luxemburger Kompromiß von 1966 verbundene und von einstimmigen Ratsbeschlüssen beherrschte Stagnationsphase (Kapitel 3.), drittens in die mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) im Jahre 1987 eingeleitete und von mehrheitlichen Ratsbeschlüssen und der verstärkten Mitentscheidung des Europäischen Parlaments inspirierte Erneuerungsphase, die durch die nachfolgenden Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza ausgebaut wurde und schließlich im Europäischen Verfassungsvertrag vollendet werden sollte (Kapitel 4.). Aufgrund der Ablehnung dieses Vertrags befindet sich die EU gegenwärtig in einer Reflexions- oder Neuorientierungsphase, für die abschließend einige denkmöglichen Reformoptionen thematisiert werden sollen (Kapitel 5.).
2.
Die Aufbauphase und der Einfluß des Gemeinschaftsgeistes
2.1. Organe und Entscheidungsregeln nach den Gründungsverträgen Am Anfang der EU stand bekanntlich die 1951 gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Ihr folgten die 1957 gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM). Diese drei Gemeinschaften führten ein rechtlich unabhängiges, praktisch jedoch verbundenes Leben. Dabei war die EWG die dominierende Gemeinschaft, weshalb der
272
Helmut Leipold
Gründungsvertrag von Rom bis heute den Verfassungskern repräsentiert. Mit dem Fusionsvertrag von 1967 wurden die wichtigsten Organe der drei Gemeinschaften zusammengefügt. Seitdem sind die Kommission, der Rat, das Europäische Parlament und der Europäische Gerichtshof die Hauptorgane der EG. Deren Kompetenzen sind in der Folgezeit vertraglich verändert und ausgebaut worden. Zum besseren Verständnis der nachfolgenden Ausfuhrungen sei kurz die derzeitige konstitutionelle Grundstruktur der EU skizziert. Mit dem 1993 in Kraft getretenen Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) gleicht deren Grundstruktur einer Tempelkonstruktion, die auf drei Säulen ruht. Die erste Säule bildet die wirtschaftliche Integration, also der Binnenmarkt, die Wirtschaftsund Währungsunion und die dazugehörigen jeweiligen Politikbereiche (siehe auch Smeets 2006). Die vertragliche Grundlage besteht aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag), der aus dem frühen EWG-Vertrag hervorgegangen ist. Die zweite Säule bildet die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die dritte die Zusammenarbeit in den Bereichen der Justiz und Innenpolitik, deren Kompetenzen im EU-Vertrag geregelt sind, der den EG-Vertrag einschließt. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die erste Säule und deren institutionelles Gefuge, wobei nur die Aufgaben von Kommission, dem Rat (heute: Rat der EU) und dem Europäischen Parlament (ursprünglich: Versammlung) und das intendierte Zusammenwirken zwischen diesen Zentralorganen in der gebotenen Kürze dargestellt werden sollen. Die Kommission soll gemäß den Regeln der Gründungsverträge das Gemeinschaftsinteresse vertreten. In ihrer Rolle als „Motor der Gemeinschaft" und „Hüterin der Verträge" hat sie im wesentlichen Initiativ-, Kontroll- und Exekutivaufgaben zu erfüllen. Zu den Initiativbefugnissen gehört die Ausarbeitung von Vorschlägen für die Ratsbeschlüsse. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, kann der Rat ohne einen Vorschlag der Kommission keine Rechtsakte beschließen. In ihrer Kontrollfunktion hat die Kommission die Einhaltung der Vertragsregelungen (primäres Recht) und der von den Gemeinschaftsorganen geschaffenen Rechtsregelungen (sekundäres Recht) seitens der Mitgliedsstaaten zu kontrollieren. Die Exekutivaufgaben umfassen vielfaltige Kompetenzen, beispielsweise die Verwaltung der EU-Haushalts- sowie der verschiedenen Fondsmittel, die Durchführung von Verordnungen oder Richtlinien und nicht zuletzt der verschiedenen sektoralen Politikaufgaben (vgl. Dietz und Glatthaar 1991; Nienhaus 2003). Der Rat der EU war und ist das zentrale Entscheidungs- und Rechtssetzungsorgan der Gemeinschaft. Gegenstand der Rechtssetzung sind hauptsächlich Verordnungen und Richtlinien. Die Verordnung ist ein allgemein verbindlicher Rechtsakt, der in allen Mitgliedsstaaten unmittelbar gilt und anzuwenden ist. Demgegenüber ist die Richtlinie ein Gemeinschaftsgesetz, das die Mitgliedsstaaten zur Verwirklichung eines Ziels verpflichtet, diesen die Art und Weise der Umsetzung in nationales Recht jedoch überläßt. Der Rat tagt in sektoral gegliederten Formen, in denen jedes Land durch ein Regierungsmitglied, in der Regel den Fachminister, vertreten ist. Über diesen Ministerräten steht der Europäische Rat als Versammlung der Staats- und Regierungschefs, der als Leitliniengeber die grundsätzliche Entwicklung der EU vorgibt. Als Unterbau des Rates fungieren der Ausschuß der Ständigen Vertreter (AStV), der die Ratssitzungen vorbereitet und deshalb auch als „kleiner Ministerrat" bezeichnet wird.
Die EU zwischen Konsens- und Mehrheitsprinzip
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In den Gründungsverträgen waren die Entscheidungsregeln im Rat nicht generell, sondern fallweise geregelt. Gemäß Art. 148 EWGV sollten Beschlüsse des Rates mit der Mehrheit seiner Mitglieder getroffen werden, sofern in dem Vertrag nichts anderes bestimmt ist. Damit wurden bereits die Ausnahmen von der einfachen Stimmenmehrheit angedeutet. Die Mehrzahl der vertraglichen Einzelfalle verlangte die qualifizierte Mehrheit, wobei die Bedingungen dafür ebenfalls in Art. 148 EWGV (bzw. Art. 28 EGKSV und Art. 118 EAGV) präzisiert waren. Der EWG-Vertrag sah jedoch für die ersten beiden Stufen der Übergangszeit (bis 1965) die Einstimmigkeitsregel im Rat vor. Nach Art. 100 EWGV waren die Richtlinien des Rates für die Angleichung der Rechts- und VerwaltungsVorschriften der Mitgliedsstaaten mit unmittelbarer Auswirkung auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes einstimmig zu beschließen. Die Modifikation dieses Artikels durch Art. 100a EEA zugunsten der qualifizierten Mehrheitsregel markiert eine einschneidende Reform, worauf noch einzugehen sein wird. Nach Art. 149 EWGV war Einstimmigkeit der Ratsbeschlüsse auch bei Abänderung der Kommissionsvorschläge gefordert, womit der Einfluß der Kommission im Zusammenspiel mit dem Rat gestärkt werden sollte. Der Vollständigkeit halber sei als drittes Organ die Versammlung genannt, deren Abgeordnete sich im Jahre 1962 selbst die Bezeichnung als Europäisches Parlament gaben. Die Abgeordneten wurden bis 1979 durch die nationalen Parlamente ernannt, besaßen lediglich Anhörungsrechte und sollten jährlich eine Sitzungsperiode abhalten (Art. 137 ff. EWGV). Mit der EEA wurde das Europäische Parlament als eigenständiges Organ bestätigt und durch das Verfahren der Zusammenarbeit und später der Mitentscheidung in seinen Rechten erheblich aufgewertet. Darauf wird an späterer Stelle noch eingegangen.
2.2. Einige Gründe für die Anfangserfolge Tatsächlich dominierten in der Anfangszeit der EWG einstimmige Beschlüsse des Rates selbst dort, wo die Mehrheitsregel ausgereicht hätte. Der breite Konsens hat die Effizienz der Gemeinschaftspolitik nicht beeinträchtigt. Die Anfangsjahre der EWG waren durch Dynamik und Erfolge der Integrationsprozesse geprägt. Die Zollunion wurde vor dem vorgesehenen Termin vollendet, wodurch der Warenverkehr der Mitgliedsländer begünstigt wurde, der schneller als der Welthandel wuchs. Auch die im EWG-Vertrag anvisierte gemeinsame Agrarpolitik wurde unter der Initiative der Kommission zügig im Rat durchgesetzt. Der vertraglich zugestandene Rückgriff auf die zahlreichen Ausnahmeklauseln und Schutzbestimmungen des EGWV seitens einzelner Länder blieb die Ausnahme. Indirekt kommt der anfängliche Integrationserfolg der EWG in dem bereits 1961 geäußerten Beitrittsgesuch Großbritanniens zum Ausdruck, dessen Beitritt jedoch vorerst am Veto Frankreichs scheiterte. Zweifellos ist die für die Aufbauphase belegbare Dynamik der Gemeinschaftspolitik trotz oder wegen der ausgeprägten Konsensbereitschaft maßgeblich vom anfänglich vorhandenen „Community spirit" innerhalb der sechs Gründerländer beflügelt worden. Dieser Geist motivierte die beteiligten Regierungen, den Versuchungen zu unkooperati-
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ven Verhaltensweisen weitgehend zu widerstehen. Zwischen- oder suprastaatliche Kooperation verkörpert die Fortsetzung des klassischen Ordnungsproblems mit anderen Mitteln und auf anderen Ebenen bei analogen Interessenstrukturen (vgl. Kösters 1998). Die Kooperation (z. B. die gegenseitige Respektierung der Regeln des Freihandels) eröffnet für die Partner gegenüber der Nichtkooperation (z. B. Protektion) einen höheren wirtschaftlichen Wohlstand. Verflixterweise winken jedoch demjenigen, der sich isoliert unkooperativ verhält, indem er nationale Schutz- oder Ausnahmeregelungen beansprucht, die größten Vorteile, vorausgesetzt die anderen Partner verhalten sich kooperativ. Diese Versuchung beeinträchtigt die Ausnutzung der potentiellen Kooperationsvorteile und führt unter bestimmten Annahmen regelmäßig zum wechselseitig schlechtesten Ergebnis (vgl. Leipold 1989). Aus den zahlreichen Arbeiten über das Gefangenendilemma sind die Bedingungen für das Zustandekommen kooperativer Lösungen bekannt. Ein Ausweg besteht in der Einrichtung einer unparteiischen Instanz, welche die Kooperation notfalls zwangsweise herstellt. Wie Frey (1984, S. 128) zutreffend bemerkt, wird mit der Annahme einer per Zwang durchgesetzten Kooperation das spezifische Ordnungsproblem der internationalen Zusammenarbeit wegdefiniert. Internationale oder zwischenstaatliche Kooperation beruht in aller Regel auf Freiwilligkeit. Die Chancen für die freiwillige Kooperation zwischen Egoisten sind bei permanenten (iterierten) Beziehungen am ehesten innerhalb kleiner Gruppen mit intensiven Kontakten gegeben. Hinzu kommt, daß sich der kooperative Geist innerhalb einer Kerngruppe verfestigen muß. In der Aufbauphase der EWG herrschten annäherungsweise diese günstigen Bedingungen für eine kooperative Gemeinschaftspolitik. Frankreich und vor allen Dingen Deutschland praktizierten eine hohe Konsensbereitschafit, der Italien und die Beneluxländer folgten. Dem deutsch-französischen Konsens lag dabei die einvernehmliche Annahme zugrunde, daß sowohl die mit ihrer jüngsten Vergangenheit belastete Bundesrepublik von der Gemeinschaft insgesamt als auch die starke westdeutsche Industrie von der Zollunion im besonderen profitierten. Im Gegenzug sah man es als legitime Entschädigung an, daß die Bundesrepublik als Nettozahler die interventionistische gemeinsame Agrar- und Strukturpolitik großzügig zu unterstützen habe, von der wiederum die französische Landwirtschaft und Industrie profitieren sollten. Analoge Kompensationskalküle galten im Verhältnis zu und zwischen den Beneluxländern und Italien. Unter den Bedingungen eines ausgeprägten Gemeinschaftsbewußtseins innerhalb des kleinen Mitgliederkreises sollte daher der anfangliche Integrationserfolg nicht verwundern. Die relativ kleine Zahl der Gründerländer und die weitgehende Homogenität der Interessen waren dafür verantwortlich, daß die Einigungskosten der Gemeinschaftspolitik in der Aufbauphase trotz Einstimmigkeitsregel gering ausfielen. Wie die spieltheoretische Analyse zeigt, bleibt jedoch die freiwillige Kooperation unter eigen- bzw. nationalinteressierten Akteuren labil, nicht zuletzt, weil vereinzelte unkooperative Alleingänge meist mit einer „Wie Du mir, so ich Dir-Strategie" beantwortet werden (vgl. Axelrod 1987; Keohane 1986).
Die EU zwischen Konsens- und Mehrheitsprinzip
3.
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Die Stagnationsphase und die Herrschaft einstimmiger Ratsbeschlüsse
3.1. Der Luxemburger Kompromiß und die Folgen Die anfängliche Konsens- und Kompromißbereitschaft innerhalb der EWG erlahmte Mitte der 1960er Jahre. Die nach dem EWG-Vertrag für die dritte Stufe vorgesehene erweiterte Anwendung qualifizierter Mehrheitsbeschlüsse im Rat scheiterte am Widerstand Frankreichs, das seine Vertreter aus den Sitzungen des Rates zurückzog („Politik des leeren Stuhls") und dieses Organ 9 Monate lang zur Entscheidungsunfahigkeit verdammte. Auslöser dafür war die Befürchtung, in der gemeinsamen Agrarpolitik überstimmt zu werden. Die französische Regierung berief sich auf die Formel von der Wahrung „vitaler nationaler Interessen" und war zur weiteren Mitarbeit erst nach der Zusicherung bereit, daß der Rat keinen Beschluß fassen könne, der wesentliche Interessen auch nur eines Mitgliedstaates beeinträchtige. Durch diesen „Luxemburger Kompromiß" vom Januar 1966 wurde die weitere Entwicklung der Gemeinschaftspolitik nachhaltig beeinflußt. Praktisch hatte er zur Folge, daß sich im Rat das Einstimmigkeitsprinzip bis Mitte der 1980er Jahre einbürgerte. Mißliebige Gemeinschaftsentscheidungen konnten jederzeit durch ein Veto verhindert werden. Mehrheitsbeschlüsse gab es gelegentlich noch bei der Verabschiedung des gemeinsamen Haushalts. Unter der stillschweigenden Praxis einstimmiger Entscheidungen im Rat wurde es üblich, entweder einvemehmlichen Konsens festzustellen oder anstehende nichtkompromißfahige Entscheidungen zu verschieben. Die maßgeblich in der Einstimmigkeitsregel begründete Stagnation der Gemeinschaftspolitik ist in der Literatur ausführlich behandelt und dokumentiert worden, so daß hier eine knappe Zusammenfassung genügen soll (vgl. Berg 1990; Scharpf 1985). Das Augenmerk richtet sich in diesen Arbeiten auf die sich nach dem Luxemburger Kompromiß eingebürgerte Praxis der „Gemeinschaftsmethode" in der Zusammenarbeit zwischen Kommission und Rat, die entgegen den Intentionen des EWG-Vertrages eine Eigendynamik entwickelte. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen können mit Anleihen bei der „Public Choice"-Theorie erklärt werden.
3.2. Eine politikökonomische Analyse des Konsensprinzips Aus der politikökonomischen Perspektive läßt sich die Gemeinschaftspolitik als ein erweiterter politischer Marktprozeß zwischen den im Rat vertretenen nationalen Regierungen, der Kommission, den Interessenverbänden und den Wahlbürgern modellieren (vgl. Vaubel 1986 und 1992; Josling und Meyer 1991). Realistischerweise ist anzunehmen, daß die nationalen Politiker am Erwerb und der Sicherung von Macht interessiert sind, die es ihnen erlaubt, persönliche oder politische Ziele durchzusetzen. Im Rahmen der geltenden Verfassungsbedingungen sind Machterwerb und -Sicherung von nationalen Erfolgen abhängig. Die Macht der Ratsmitglieder basiert also auf nationalen Wahlergebnissen, damit auch auf der Unterstützung durch nationale Interessengruppen und öffentliche Medien. Europäische Probleme spielen für den nationalen Erfolg oder Mißerfolg nur eine zweitrangige stimmenwirksame Rolle,
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wie auch umgekehrt Europawahlen häufig dazu benutzt werden, der Unzufriedenheit über nationale Regierungen und deren Politik Ausdruck zu verleihen (vgl. Manow 2005). Die Ratsmitglieder unterliegen auch seitens des Europäischen Parlaments und anderer EU-Organe keinen ernstzunehmenden Sanktionen. Dennoch ist die Gemeinschaftspolitik nicht belanglos. Unabhängig von nicht zu leugnenden europäischen Idealen werden nationale Politiker danach trachten, mit Hilfe der Gemeinschaftspolitik möglichst viele Wählerstimmen zu gewinnen. Das schließt die Option ein, die Gemeinschaftspolitik zu benutzen, um einflußreiche nationale Interessengruppen zu bedienen und die Belastungen für die Steuerzahler und Konsumenten zu kaschieren, um so Stimmenverluste bei der Masse der Wähler zu vermeiden. Dabei kommt den Politikern zugute, daß Wähler zur „rationalen Ignoranz" neigen. Sie beachten am ehesten spektakuläre politische Vorgänge wie etwa Gipfeltreffen der Regierungschefs mit verständlich und allgemein gehaltenen Botschaften, die zudem einen allseits akzeptierten Eigenwert verkörpern. Damit verbundene Konzessionen an spezielle Interessengruppen können entweder verdeckt oder aber als unpopuläre Konzessionen für die Gemeinschaftspolitik verkauft werden, wobei die unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindenden Ratssitzungen oder der Verweis auf die Brüsseler Eurokratie als Sündenbock die Zurechnung der Verantwortlichkeit seitens der Wähler und der Medien erschweren. Festzuhalten bleibt, daß die Gemeinschaftspolitik für die Politiker auch Anreize und Gelegenheiten eröffnet, nationalen Interessen und hierbei spezifischen, für die Masse der Wähler jedoch unpopulären Gruppeninteressen Priorität gegenüber dem Gemeinschaftsinteresse einzuräumen. Von daher stellt sich die Frage, ob die Kompetenzen der Kommission ausreichen, um die originären nationalen Politikerinteressen zugunsten des Gemeinschaftsinteresses korrigieren zu können. Die Kommission repräsentiert einen seit der Gründung der EU ständig gewachsenen Verwaltungsapparat von derzeit ca. 16 000 Beamten in 25 Generaldirektionen und anderen Ämtern. Gemäß der Ökonomischen Theorie der Bürokratie ist realistischerweise anzunehmen, daß die EG-Bürokraten persönliche Ziele, konkretisiert in Macht, Einfluß und hohen Einkommen, präferieren (vgl. Roppel 1979). Damit verbindet sich das Interesse an möglichst umfangreichen Budgets und Kompetenzen. Im Rahmen der Verträge hängt die Zuweisung dieser Mittel von der Akzeptanz und Unterstützung seitens der nationalen Regierungen ab. Der Erfolg der Kommission und des ihr unterstellten Verwaltungsapparates ist daher untrennbar mit dem Erfolg der vom Rat entschiedenen Gemeinschaftspolitik verknüpft. Die Abhängigkeit der Kommission vom Rat wird deutlich, wenn man sich die möglichen Schicksale von Kommissionsvorschlägen vor dem Hintergrund des Erfordernisses einstimmiger Ratsbeschlüsse vor Augen hält: — Entspricht der Kommissionsvorschlag nicht den primär national vorbestimmten Präferenzen der Ratsmitglieder, so können diese den Vorschlag verändern, sich also gegen die Kommission entscheiden. Geschieht dies häufiger, wird die Autorität der Kommission als „Motor der Gemeinschaft" beeinträchtigt. — Eine vergleichbare Einbuße an Autorität ist zu befürchten, wenn die Kommission auf ihren im Gemeinschaftsinteresse als richtig erkannten Vorschlägen insistieren
Die EU zwischen Konsens- und Mehrheitsprinzip
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würde. Hier würde die Autorität als „ehrlicher Makler" zwischen legitimen nationalen Interessen leiden. — Die verbleibende potentielle Strategie, Vorschläge nur als vorläufige und jederzeit änderbare Diskussionsgrundlage einzubringen, würde die Autorität als „Hüterin der Verträge" untergraben. Angesichts dieses Szenarios ist folgerichtig, daß die Kommission bei der Ausarbeitung ihrer Vorschläge die spätere Konsensfähigkeit zum „richtigen", weil erfolgsträchtigen Kriterium erkürt und unter den Bedingungen einstimmiger Ratsbeschlüsse tatsächlich auch befolgt hat. Schließlich kann die Kommission die für die Ratsmitglieder geltenden politischen Erfolgsbedingungen nicht ignorieren. Sie muß das Interesse der nationalen Politiker einkalkulieren, die Gemeinschaftspolitik stimmenwirksam und dabei auch zugunsten spezifischer, jedoch unpopulärer Privilegien für einflußreiche Interessengruppen einzusetzen. Diese Bereitschaft fallt den EU-Bürokraten deshalb leicht, weil sie nahtlos mit den systembedingten bürokratischen Eigeninteressen einhergeht. Der Entscheidungsprozeß der EU bietet den organisierten Interessengruppen vielfaltige Möglichkeiten der Einflußnahme. Die Gründungsdynamik und Präsenz der Verbände auf europäischer Ebene bestätigen diese Annahme. Der Aufbau der europäischen Verbände vollzog sich parallel zum Aufbau der EU-Organe. Bereits 1964 existierten ca. 50 v.H. der heute offiziell vertretenen Fachverbände, deren Zahl sich auf mehr als 500 Vertretungen beläuft. Schätzungen gehen von ca. 4000 Interessenvertretungen allein in Brüssel aus, wenn zu den Fachverbänden die Verbindungsbüros der Großunternehmen, der Anwaltskanzleien und der professionellen Lobbybüros gerechnet werden, hinter denen eine spezialisierte Servicebranche für Lobbydienste steht (vgl. Dietz und Glatthaar 1991, S. 164 ff./ Schwaiger und Kirchner 1981; Philip 1983). Die europäischen Verbände repräsentieren meist Dachverbände der nationalen Organisationen. Sie sind Koordinationsinstanzen, die von nationalen Verbänden gesteuert und kontrolliert werden. Die nationale Dominanz kommt interessanterweise in der Geltung der Einstimmigkeitsregel innerhalb der meisten Dachverbände zum Ausdruck. Wie nicht anders zu erwarten ist, dominieren die Produzenteninteressen und hierbei die Verbände der Industrie, des Handels und der freien Berufe (vgl. Vaubel 1992, S. 40). Die Produzentenverbände sind hauptsächlich darauf aus, durch Einflußnahme auf die Gemeinschaftspolitik Privilegien wie Subventionen, Sonderregelungen, Mindestpreise, Protektionen, kurz gefaßt also Wettbewerbsbeschränkungen mit korrespondierenden Monopolrenten zu erzielen. Die Kommission sucht den Kontakt zu Verbänden, die ihrerseits Kontakte zu Kommission und Rat zur Wahrung und Durchsetzung der Gruppeninteressen nutzen. Es ist daher zu vermuten, daß die Anstöße zu Kommissionsvorschlägen auch maßgeblich von Vertretern organisierter Interessenverbände ausgehen. Die EU-Beamten können die Spezifika der zu regelnden Bereiche in den Mitgliedsstaaten nur vage kennen und beurteilen. Sie sind also auf Informationen und Sachverstand der Branchenvertreter angewiesen. Sie kennen jedoch die Eigenarten des politischen Geschäfts und wissen, daß das Schicksal ihrer Vorschläge sich letztlich im Rat entscheidet, in dem nationale Interessen aufeinandertreffen. Damit sind in groben Zügen die Interessen der Hauptakteure skizziert, die im Rahmen der gesetzlich vorgegebenen Verfahren und insbesondere gemäß dem Erfordernis
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einstimmiger Ratsbeschlüsse den Verlauf und die Ergebnisse der Gemeinschaftspolitik bestimmt haben.
3.3. Verlauf und Ergebnisse der Gemeinschaftsmethode Nach dem bis Mitte der 1980er Jahre vorherrschenden Konsultationsverfahren (vgl. Übersicht 1) wurde der Entscheidungsprozeß mit der Ausarbeitung des Kommissionsvorschlags eingeleitet, der dann dem Rat und dem Europäischen Parlament zugeleitet wurde (vgl. Theurl und Meyer 2001). Faktisch gelangte er zuerst in den Ausschuß der Ständigen Vertreter, der im Auftrag des Rats die erste Konsensbefindung vornahm. Dieser Ausschuß, der ursprünglich als Zusammentreffen diplomatischer Regierungsvertreter konzipiert war, hat sich zu einem Treffpunkt nationaler und politisch sensibler Spitzenbeamten entwickelt. Diese wie auch die Minister waren (und sind) daher attraktive Ansprechpartner, vor allem für nationale Verbände. Wie oben dargelegt, bestehen für
Übersicht 1: Das Konsultationsverfahren (Anhörungsverfahren)
Die EU zwischen Konsens- und
Mehrheitsprinzip
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die Minister und deren Vertreter Anreize, die Forderungen nationaler Interessenverbände zu berücksichtigen. Dabei kann Einigkeit unterstellt werden, die jeweiligen nationalen Belange der Verbände gegenseitig großzügig zu tolerieren. Der Ausschuß der Ständigen Vertreter leitete den Kommissionsvorschlag dann dem Europäischen Parlament und meistens auch dem Wirtschafts- und Sozialausschuß mit der Aufforderung zur Stellungnahme zu. Der Einfluß beider Gremien für den weiteren Fortgang der Vorschläge war beim Konsultationsverfahren eher gering. Insofern waren die Parlamentsmitglieder auch keine interessanten Gesprächspartner für die Interessenvertreter. Diese Vermutung trifft auch für die Rolle des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu, der sich aufgrund seiner umfassenden Zusammensetzung nicht als Organ für die Durchsetzung spezifischer Gruppeninteressen anbietet. Die vergleichsweise wirksamere Einflußnahme boten die der Kommission und dem Rat zugeordneten Ausschüsse und Arbeitsgruppen, die unmittelbare Kontakte zu den einflußreichen Personen eröffneten. Die Stellungnahme des Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses landeten dann wieder bei der Kommission, mit der (unverbindlichen) Möglichkeit, den ursprünglichen Vorschlag zu ergänzen. Danach ging der Vorschlag wieder an den Rat und damit an den Ausschuß der Ständigen Vertreter. Der Konsens innerhalb dieses Zirkels der Diplomaten und Beamten war die Grundlage für den formalen und einstimmigen Ratsbeschluß. Konnten sich die Ständigen Vertreter nicht einigen, oblag es dem Rat, Einstimmigkeit zu erreichen oder aber die Entscheidung zu verschieben. Unter den Bedingungen der Einstimmigkeitsregel im Rat war ein Konsens nur dann wahrscheinlich, wenn die Gemeinschaftslösung nicht das Nutzenniveau eines Mitglieds verschlechterte oder die Verschlechterung durch Kompensationszahlungen oder Kompromisse (auch in anderen Gemeinschaftsbereichen) kompensiert werden konnte. Da die Macht zwischen den Ratsmitgliedem bei der Einstimmigkeitsregel völlig gleich verteilt war, konnte jedes Land erwartete externe Kosten durch die Veto-Option abwenden oder aber auf Kompensation bestehen. Angesichts dieser Gelegenheiten war es folgerichtig, daß sich die Paketlösung („Pakkage deal") als bevorzugte Gemeinschaftslösung einbürgerte. Danach war es üblich, Lösungsvorschläge, die verschiedene oder nur lose verbundene Bereiche betrafen, zu einem Paket zu schnüren, das die Interessen aller Beteiligten notfalls über Entschädigungen oder Zusagen für spätere Konzessionen hinreichend bediente und dem daher jedes Mitglied zustimmen konnte. Wie die Praxis der „Marathon Sitzungen" insbesondere in der Gemeinsamen Agrarpolitik zeigte, war die Suche nach ausgewogenen Kompromissen dennoch schwierig. Eine Einigung war nur dann in Aussicht, wenn die Kommission bereits bei der Ausarbeitung der Vorschläge als leitendes Kriterium die spätere Konsensfähigkeit berücksichtigt hatte. Dennoch wurden Lösungsvorschläge ad hoc nachgebessert oder einzelne Teile herausgebrochen, während die Problemfälle verschoben wurden. Diese Praxis mußte die Autorität der Kommission beeinträchtigen und den Einfluß nationaler Interessen im Rat und im Ausschuß der Ständigen Vertreter stärken. Die Langwierigkeit der Einigungsprozesse begünstigte auch den Einfluß der organisierten Interessengruppen.
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Dem einzigen und fragwürdigen Vorteil, daß überhaupt Einigungen erzielt werden konnten, standen offensichtliche Mängel der Paketlösung entgegen. Unbestritten ist, daß der europäische Integrationsprozeß in den 1970er Jahren zunehmend stagnierte. Anstelle des anvisierten Ausbaus des Binnenmarktes kam es zur verstärkten Zentralisierung jener Politikbereiche, in denen Sonderregeln und Umverteilungsmittel möglich waren. Begünstigt wurde dieses Bestreben durch die in Art. 235 EWGV festgeschriebene Generalklausel, wonach der Rat auf Vorschlag der Kommission auch Entscheidungen in Bereichen treffen konnte, in denen keine Befugnisse vertraglich festgeschrieben waren. Die bevorzugten Ziele waren jedoch zumeist redistributiver und nicht marktbezogener Natur. Dieses Streben wurde durch die verschiedenen Erweiterungen der Gemeinschaft in den 1970er und 80er Jahren zusätzlich begünstigt. Die wirtschaftlich weniger entwickelten Mitgliedsstaaten nutzten ihre Zustimmung zum Beitritt wohlhabenderer Länder dazu aus, Kompensationszahlungen in Form gemeinschaftlicher Strukturfondsmittel auszuhandeln, welche die vermeintlichen Wettbewerbsnachteile ausgleichen sollten. Tatsächlich war die Erzielung nationalstaatlicher Renten das Objekt der Begierde (vgl. Schäfer 2003). Solange institutionelle Reformen unterblieben, mußten Fortschritte in Richtung Binnenmarkt ausbleiben. Jeder Versuch, einen Beschluß, der einmal Bestandteil eines Paketes war, zu reformieren, beschwor die Gefahr der Neuverhandlung auch bewährter Entscheidungen. Zudem wohnte den impliziten Zusagen eine fatale Eigendynamik inne, weil deren Bedienung ständig neue Paketlösungen mit wiederum offenen, neu zustandezubringenden Kompromissen auf der Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners provozierte. Insgesamt erwies sich die im Gefolge des Luxemburger Kompromisses eingebürgerte Gemeinschafts- oder Konsensmethode als ein teures und ineffizientes Entscheidungsverfahren. Die Kehrtwendung leitete die im Februar 1986 unterzeichnete und ab Juni 1987 geltende Einheitliche Europäische Akte (EEA) ein. Die Gründe für die damit verbundenen Institutionenreformen hat der damalige Kommissionspräsident Delors (1987, S. 9) auf den Punkt gebracht: „Europa trifft seine Entscheidungen schlecht und zu spät, bei der Durchfuhrung der Entscheidungen zeichnet es sich nur selten durch hohe Effizienz aus. So kommt es zu lähmender und allzu interventionistischer Bürokratisierung."
Den Ausweg aus der verhängnisvollen Verstrickung und Lähmung der Gemeinschaftsorgane erhoffte er sich von der umfassenden Anwendung der qualifizierten Mehrheit bei den Ratsbeschlüssen und von der „vollen" Mitverantwortung des Europäischen Parlaments in der Gesetzgebung im Rahmen des Verfahrens der Zusammenarbeit, womit die beiden zentralen Reformelemente der EEA genannt sind.
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4.
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Die Erneuerungsphase und der Beitrag des Mehrheitsprinzips
4.1. Die Reformen der Einheitlichen Europäischen Akte Die mit der EEA eingeleiteten institutionellen Reformen waren darauf gerichtet, die im „Luxemburger Kompromiß" begründete Ineffizienz der Gemeinschaftspolitik zu überwinden und die ursprünglich vereinbarte und formal nie aufgehobene Mehrheitsregel für Ratsbeschlüsse endlich zu verwirklichen. Freilich war die EEA ebenfalls das Resultat eines politischen Kompromisses. Das Bekenntnis zur Mehrheitsregel kommt in Art. 100a EEA zum Ausdruck. Danach erläßt der Rat auf Vorschlag der Kommission in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses die Maßnahmen zur Angleichung der Rechtsvorschriften für die Schaffung und das Funktionieren des Binnenmarktes mit qualifizierter Mehrheit. Die zweite wichtige Neuerung bildete das in der Neufassung des Art. 149 EWGV festgelegte Verfahren der Zusammenarbeit zwischen Rat und Europäischem Parlament, das sowohl die qualifizierte Mehrheit der Ratsbeschlüsse als auch die Mitwirkung des Parlaments an solchen Beschlüssen sichern sollte. Neuartig waren und sind bis heute gegenüber dem dargestellten Konsultationsverfahren die zusätzlichen Verfahrensschritte bei den Ratsbeschlüssen zum Binnenmarkt, die nunmehr zwei Lesungen der Vorschläge im Parlament und Rat verlangen (vgl. Übersicht 2). Wie bisher leitet die Kommission mit ihrem Vorschlag das Verfahren ein, woraufhin das Parlament in erster Lesung Stellung nimmt und diese dem Rat zuleitet. Der Rat prüft den Vorschlag und die Stellungnahme in erster Lesung und erarbeitet mit qualifizierter Mehrheit einen „Gemeinsamen Standpunkt", der wiederum dem Parlament zugeleitet wird. Dem Parlament bleiben drei Monate Zeit, über den „Gemeinsamen Standpunkt" zu befinden. Es kann ihn erstens akzeptieren, zweitens ändern oder drittens ablehnen, wobei die zweite und dritte Option die absolute Parlamentsmehrheit verlangen. Im ersten Fall der Akzeptanz seitens des Parlaments kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden. Im zweiten Fall von Änderungsvorschlägen kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheiden, vorausgesetzt die Kommission hat die Änderungen innerhalb eines Monats ebenfalls akzeptiert. Ist dies nicht gegeben, muß der Rat einstimmig entscheiden. Im dritten Fall der Ablehnung des Ratsstandpunktes durch das Parlament kann der Rat ebenfalls nur einstimmig beschließen. Dieses auf den ersten Blick komplizierte Verfahren der Zusammenarbeit soll den Einfluß des Parlaments stärken und die Initiativkompetenz der Kommission sichern. Dem Rat bleibt dabei die letzte Entscheidungsbefugnis, in der Regel gemäß der qualifizierten Mehrheit. Eine Entscheidung gegen das Parlament wird jedoch dadurch erschwert, daß sie nur einstimmig legitim ist. Das Parlament erhält die Rolle eines beachtenswerten Mitspielers, nicht jedoch eines selbstverantwortlichen legislativen Organs. Indirekt wird durch dieses Verfahren die Kommission in ihrer Rolle als Vermittler zwischen Rat und europäischem Parlament gestärkt. Denn sie ist nun bestrebt, zwischen der Position des Rates als letzter Entscheidungsinstanz und den Mehrheitsvorstellungen des Parlaments einen Kompromiß zu finden. Dazu kann sie die Änderungsvorschläge des
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Parlaments übernehmen oder auch außer acht lassen und den jeweilig nach eigenem Ermessen überarbeiteten Vorschlag dem Rat vorlegen, der diese Veränderungen entweder mit qualifizierter Mehrheit annehmen oder nur durch einstimmiges Votum gemäß den eigenen Präferenzen durchsetzen kann. Übersicht 2: Das Verfahren der Zusammenarbeit (Kooperationsverfahren)
Vorschlag der Kommission
Arbeitsgruppen Ausschüsse Sachverständige Nationale Organe Verbände
Ministerrat
(Ausschuß der Ständigen Vertreter)
Europäisches Parlament (EP)
Wirtschafts- und Sozialausschuß Kommission
(Möglichkeit zu Veränderungen und Zusatzantragen)
(1. Lesung mit Stellungnahme)
Ministerrat
(Gemeinsamer Standpunkt)
Europäisches Parlament
£
Annatone oder keine Äußerung
(2. Lesung)
Änderung mit absoluter Mehrheit
ng mit absoluter Mehrheit
Kommission (Keine Über(Übernahme der Änderung nahme der Änderung des EP) des EP)
Ministerrat
(Beschluß mtt qualifizierter Mehrheit)
iMinisterrat
(Beschluß mit qualifizierter Mehrheit)
t
(Beschluß mit Einstimmigkeit)
Verordnung bzw. Richtlinie
Ministerrat
(Beschluß mit Eirvstimmigkeit)
Die EU zwischen Konsens- und
Mehrheitsprinzip
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4.2. Reformergänzungen durch den Vertrag über die Europäische Union und die nachfolgenden Verträge Im Vertrag von Maastricht über die Europäische Union wurden die Entscheidungsverfahren durch das Verfahren der Mitentscheidung erweitert, das dann in den Verträgen von Amsterdam und Nizza weiter zugunsten des Europäischen Parlaments ausgebaut wurde (Art. 251 EGV). Gemäß diesem Verfahren kann das Parlament erstmals einen Vorschlag der Kommission und dessen Verabschiedung als Rechtsakt durch den Rat mit absoluter Mehrheit scheitern lassen (vgl. Übersicht 3). Auch bei dem Verfahren der Mitentscheidung besitzt die Kommmission das Initiativmonopol. Sie übermittelt ihren Vorschlag gleichzeitig an den Rat und das Parlament. Das Parlament richtet seine Änderungsvorschläge an die Kommission, die die Vorschläge übernehmen oder ihrerseits neu bestimmen kann und sie dann dem Rat zuleitet. Im Fall der Übernahme der Änderungsvorschläge durch Kommission und Rat kann der Rechtsakt durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden. Andernfalls hat der Rat einen Gemeinsamen Standpunkt zu begründen und dem Parlament zu übermitteln. Das Parlament kann innerhalb von drei Monaten den Standpunkt in zweiter Lesung billigen, womit der Rechtsakt erlassen ist. Lehnt das Parlament ab und besteht auf weiteren Änderungsanträgen, hat der Rat innerhalb von drei Monaten darüber zu befinden. Im Falle der Billigung ist der Rechtsakt unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch die Kommission mit qualifizierter Mehrheit, andernfalls aber nur einstimmig zu beschließen. Im Falle der Nichtbilligung durch den Rat kommt es zur Einschaltung eines Vermittlungsausschusses zwischen Rat und Europäischem Parlament, worin die eigentliche Neuerung des Verfahrens der Mitentscheidung zu sehen ist (vgl. Wessels 1992; Theurl und Meyer 2001, S. 172 ff.). Der Ausschuß setzt sich je zur Hälfte aus Ratsmitgliedern und Vertretern des Parlaments zusammen. Kommt im Ausschuß keine Einigung zustande, kann das Parlament im Falle eines etwaigen Ratsbeschlusses den Rechtsakt mit absoluter Mehrheit ablehnen. Damit wird dem Parlament erstmals ein Vetorecht in der Rechtssetzung konzediert. Einigt sich dagegen der Vermittlungsausschuß auf einen gemeinsamen Entwurf, kann der Rat den Rechtsakt beschließen. Dazu bedarf es im Rat der qualifizierten Mehrheit, vorausgesetzt die Kommission hat den Entwurf ebenfalls gebilligt. Lehnt die Kommission ab, so hat der Rat einstimmig zu beschließen. Neben den verstärkten legislativen Mitentscheidungsrechten des Parlaments sind im EGV und in den nachfolgenden Verträgen die Bedingungen und Möglichkeiten für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Rat gestärkt worden, wodurch sich die Machtund Einflußverhältnisse sowohl im Rat als auch zwischen Rat, Kommission und Parlament verändert haben. Hier sollen nur einige Details und Probleme der derzeit geltenden und durch den Vertrag von Nizza festgeschriebenen Regeln thematisiert werden.
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Übersicht 3: Das Verfahren der Mitentscheidung
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In diesem 2001 unterzeichneten Vertrag sollte die EU institutionell auf die damals anstehende Erweiterung auf 25 Mitgliedsstaaten vorbereitet werden. Da es sich bei den zehn Beitrittsländern zumeist um kleinere Staaten handelte, befürchteten vor allem die bevölkerungsmäßig großen Staaten eine Einbuße ihrer Entscheidungsmacht im Rat. Deshalb stand die Neugewichtung der Stimmenanteile für qualifizierte Mehrheitsentscheidungen im Mittelpunkt. Die nach einem viertägigen Gefeilsche erzielten Kompromisse spiegeln geradezu klassisch das Spannungsverhältnis zwischen dem Konsensund dem Mehrheitsprinzip und damit zwischen National- und Gemeinschaftsinteressen wider. Man einigte sich auf ein dreistufiges Abstimmungsverfahren im Rat. Im ersten Schritt muß die Mehrheit der Mitgliedsstaaten, also 13 bei 25 bzw. 14 bei 27 Staaten zustimmen. Dann wird im zweiten Schritt nach Stimmengewichten abgestimmt. Die großen Länder wie Deutschland, Frankreich, Italien oder Großbritannien verfügen über je 29 Stimmen, Spanien und Polen über je 27 bis hin zu Malta mit 3 Stimmen. Für die Annahme und Verabschiedung eines Vorschlages ist insgesamt eine Mindeststimmenzahl von 232 der insgesamt 321 Stimmen in der EU-25, also 72,3 v.H. aller Stimmen erforderlich. Da Deutschland mit über 80 Mio. Einwohnern über 29 Stimmen wie auch Italien mit nur 57 Mio. Einwohnern und Polen mit weniger als der Hälfte der Bevölkerung Deutschlands immerhin über 27 Stimmen verfügen, einigte man sich auf ein drittes Kriterium, wonach die Mehrheit der Mitgliedsstaaten mindestens 62 v.H. der EU-Gesamtbevölkerung repräsentieren muß. Der Vollständigkeit halber seien hier nur die im vorerst gescheiterten Verfassungsentwurf vorgesehenen Regelungen angeführt. Danach sollte eine qualifizierte Mehrheit im Rat der einfachen Mehrheit der Mitgliedsstaaten und mindestens 60 v.H. der EUGesamtbevölkerung entsprechen. Dieser Vorschlag scheiterte am Widerstand Spaniens und Polens mit je eigenen 27 Stimmen. Die Regierungskonferenz in Brüssel im Juni 2004 einigte sich schließlich auf den neuen Kompromiß, daß für eine Mehrheit im Rat 55 v.H. der Mitgliedsstaaten, also in der EU-25 mindestens 15 Länder zuzustimmen haben, die wiederum 65 v.H. der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen. Mit dieser doppelten Mehrheit aus Länder- und Bevölkerungsquorum, die im Jahre 2009 in Kraft treten soll, will man sowohl die Entscheidungsfähigkeit des Rates in einer erweiterten EU als auch die angemessene Berücksichtigung des Mehrheitswillens der EUBevölkerung sichern.
4.3. Eine knappe Analyse der qualifizierten Mehrheitsregel Wie die mühsam ausgehandelten Kompromißregelungen zeigen, lassen sich die den Bürgern vertrauten nationalstaatlichen Regeln der demokratischen Entscheidungsfindung und der legitimen politischen Machtausübung nicht deckungsgleich auf die europäische Ebene des Staatenverbundes übertragen, weshalb die geltenden Regeln als intransparent und die hier getroffenen einheitlichen Rechtsvorgaben als fremdbestimmte Entscheidungen empfunden werden. Die Gründe dafür lassen sich exemplarisch anhand einer formalen Analyse alternativer kollektiver Entscheidungsregeln mithilfe des Konzepts des Machtindexes (Penrose-Index) verdeutlichen (vgl. Kirsch 2004; zu empirischen Ergebnissen vgl. Engel und Borrmann 1991; Leipold 1993).
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Danach bemißt sich die Macht eines Mitgliedes in einem Kollektiv wie dem Rat nach seiner Fähigkeit, das Ergebnis der Entscheidung durch eigenes Stimmenverhalten und -gewicht zu beeinflussen. Wichtig ist also, ob die Ja- oder Neinstimme zur Akzeptanz oder zur Ablehnung des Beschlusses führt, woraus sich statistisch ein Machtindex berechnen läßt. Verfügt ein Mitgliedsland über einen Machtindex von acht v.H., ein anderes von vier v.H., dann kann das relativ mächtigere Land doppelt so oft das Abstimmungsverhalten in seinem Interesse bestimmen. Angewendet auf die derzeit geltenden Regeln des Vertrags von Nizza, läßt sich berechnen, daß für Deutschland weder das erste Kriterium der einfachen Mehrheit der Mitgliedsstaaten noch das dritte Kriterium von 62 v.H. der EU-Bevölkerung einen meßbaren Einfluß auf den Machtindex von Deutschland und der anderen großen Staaten hat. Deren Indizes liegen bei 8,5 v.H. und unterscheiden sich nur minimal von denen Spaniens und Polens mit 8,1 v.H. Würden die Regeln des vorerst gescheiterten Verfassungsvertrages zur Geltung kommen, so würde der Machtindex von Deutschland auf 13,3 v.H. steigen und der von Polen auf 6,8 v.H. sinken, während die kleinen Staaten wie Litauen oder Malta an Macht gewinnen würden. Paradoxerweise fuhrt der im Jahre 2004 in Brüssel ausgehandelte Kompromiß einer Mehrheit von 55 v.H der Mitgliedsstaaten, die zugleich 65 v.H der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen, sowohl für Deutschland als auch für Polen zu einer Einbuße ihrer Abstimmungsmacht im Rat der EU. Die Regeln des Verfassungsvertrages genügen vergleichsweise zu den jetzt bzw. ab 2009 geltenden Regeln am ehesten dem Kriterium der demokratisch angemessenen Repräsentation der Entscheidungsmacht des Rates als dem dominanten Organ der Exekutive. Die gleiche Schlußfolgerung gilt auch für die im Verfassungsvertrag vorgesehene Ausweitung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments. Zwar wurde ihm auch zukünftig kein Initiativrecht in der Gesetzgebung zugestanden. Seine Stellung sollte jedoch gestärkt werden. Exemplarisch angeführt seien die erstmalige Einbeziehung großer Teile der Innen- und Rechtspolitik in das Verfahren der Mitentscheidung, ferner die Mitentscheidung über die sogenannten obligatorischen Ausgaben, vor allem des Agrarhaushaltes, die bisher der parlamentarischen Mitwirkung entzogen sind, sowie mehr Rechte bei der Benennung und Bestätigung der Kommissionsmitglieder einschließlich des Kommissionspräsidenten. Erhält der von den Staats- und Regierungschefs vorgeschlagene Kandidat nicht die Unterstützung von mindestens der Hälfte der Abgeordneten, dann muß der Europäische Rat einen neuen Vorschlag unterbreiten. Auch die Verteilung der Mandatszahlen für einzelne Länder sollte vor allem zugunsten der kleinen Länder mit mindestens je sechs Abgeordneten verändert werden. Die im Verfassungsvertrag intendierte Vereinfachung der Entscheidungsverfahren im Rat und die Stärkung der demokratischen Rechte des Parlaments sind jedoch zumindest in Frankreich und den Niederlanden von der Mehrheit der Bürger nicht akzeptiert worden. Offensichtlich haben die Reformvorschläge nicht dazu gereicht, die Undurchschaubarkeit der Entscheidungsprozeduren und das beklagte Demokratiedefizit spürbar zu beheben. Möglicherweise gesellt sich zu diesen beiden Mängeln der EU noch das in tieferen Schichten verwurzelte und empfundene Orientierungsdefizit des europäischen Einigungsprozesses. Von daher ist ein Nachdenken über die weiteren Ziele und Wege
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der EU angesagt. Im abschließenden Kapitel sollen dazu einige Überlegungen vorgestellt werden.
5.
Die aktuelle Reflexionsphase: Quo vadis Europa?
5.1. Hat Europa ein Demokratiedefizit? Auf die Frage nach der zukünftigen Gestaltung der EU und damit nach einem Ausweg aus der offensichtlichen Krise des europäischen Einigungsprozesses kann es keine einfachen und allseits konsensfahigen Antworten geben, zumal dieser Prozeß in der Vergangenheit vor vergleichbaren Krisen und dann immer wieder neuen Kompromissen und Auswegen stand. In diesem Beitrag wurden die Schwierigkeiten, aber auch die Erfolge der EU auf die einzigartige Verbindung der Prinzipien des Staatenbundes und des Bundesstaates als den beiden klassischen konstitutionellen Grundformen der Vergemeinschaftung ehemals souveräner staatlicher Körperschaften in Gestalt eines Staatenverbundes benannt und am Beispiel der Verbindung des Konsens- mit dem des Mehrheitsprinzips thematisiert. Diese Verbindung prägt von Anfang an sowohl die Entscheidungskompetenzen und -regeln der EU-Organe als auch deren Zusammenwirken. Im Rat der EU kommt sie im Nebeneinander des Konsensprinzips als klassische Entscheidungsregel eines Staatenbundes mit dem (wenn auch meist qualifizierten) Mehrheitsprinzip als klassische Entscheidungsregel innerhalb eines Bundesstaates zum Ausdruck. Im Europäischen Parlament spiegelt sich das Nebeneinander der beiden Prinzipien in der fehlenden legislativen Initiativkompetenz als Konzession an die nationalstaatlichen Souveränitätsrechte und dem demokratisch legitimierten Mitentscheidungsrecht an den von der Kommission vorgeschlagenen und vom Rat letztlich entschiedenen europäischen Gesetzen und Richtlinien wider, wobei die Kommission als einflußreiches Gemeinschaftsorgan allenfalls nur eine indirekte, jedenfalls schwache demokratische Legitimation besitzt (vgl. Blankart 2004). Berücksichtigt man die einzigartige Verfaßtheit der EU als Staatenverbund, so relativiert sich der häufig geäußerte Vorwurf vom Demokratiedefizit. Diesen Vorwurf hat Lepsius (1991, S. 22) bereits vor mehr als einem Jahrzehnt mit der Metapher auf den Punkt gebracht, daß die Bürger der EU einerseits der „Souverän" der Nationalstaaten, andererseits aber der „Untertan" der EU geblieben seien. Der Einwand ist nur insoweit stimmig, als man die Entscheidungsprinzipien der EU-Institutionen an den Kriterien der demokratisch verfaßten Bundesstaaten mißt. Die EU verkörpert jedoch keinen Bundesstaat, sondern einen Verbund von souveränen Bundes- oder Nationalstaaten, wenngleich ihr im Laufe der Jahrzehnte mehr und mehr quasistaatliche Funktionen übertragen worden sind. Dennoch verbleiben die souveränen Mitgliedsstaaten die Herren der Verträge. Gemessen an den Kriterien historischer oder ideell ausgedachter Staatenverbindungen, erweist sich der Vorwurf des Demokratiedefizits als haltlos, weil die demokratische Legitimation der EU-Institutionen und deren Beschlußfassung und Kontrollrechte schon erstaunliche Ausmaße angenommen hat. Im Rahmen eines Staatenverbundes kann diese Ausweitung des demokratischen Mehrheitsprinzips sogar unintendierte Folgen zeitigen, zumal wenn und insoweit die zukünftige Richtung und Ausgestaltung des Verbundes ungeklärt bleiben. Hier soll des-
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halb abschließend die These vertreten werden, daß die EU weniger ein Demokratiedefizit, sondern vor allem ein Orientierungs- bzw. Finalitätsdefizit aufweist, dessen eigentliche Wurzel im europäischen Identitätsdefizit zu vermuten ist. Die Folgen einer Ausweitung des Demokratieprinzips im Rahmen eines Staatenverbundes seien beispielhaft an den veränderten internen Einfluß Verhältnissen zwischen den EU-Institutionen verdeutlicht. Das Europäische Parlament ist zwar in den Änderungsverträgen aufgewertet worden, die klassischen Befugnisse der demokratischen nationalen Parlamente blieben ihm jedoch versagt. Gemäß den Verfahren der Zusammenarbeit und der Mitentscheidung kann es an der Rechtssetzung dahingehend mitwirken, daß es Vorschläge verändern oder verhindern, nicht jedoch selbstverantwortlich beschließen kann. Ein wirkliches Mitentscheidungsrecht hat es lediglich bei Assoziierungs- und Beitrittsabkommen. Das unbestrittene Entscheidungs- und Gesetzgebungszentrum der EG bleibt der Rat, der seine Entscheidungen im Stile der „klassischen Kabinettspolitik" hinter verschlossenen Türen trifft. Die Vollmacht der Vertreter ist zwar in nationalen demokratischen Wahlen erworben. Die Gemeinschaftspolitik spielt dabei jedoch eher eine zweitrangige Rolle. Zudem bleibt dem Wähler unklar, wem Ratsbeschlüsse zurechenbar sind. Die Kommission schließlich fuhrt ein Zwitterdasein zwischen dem von den nationalen Regierungen zugewiesenen Auftrag als Hüterin der Verträge einerseits und bürokratischer Eigenmacht andererseits. Die Kommissare und der Präsident werden „im gegenseitigen Einvernehmen" von den Regierungen der Mitgliedsländer ernannt. Da die Arbeit der Kommission keiner wirksamen demokratischen Kontrolle unterliegt, entwickelt sie ein Eigenleben, das weitgehend vom nationalen und bürokratischen Proporzdenken beherrscht wird. Paradoxerweise hat die schrittweise erfolgte Stärkung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments und damit der demokratischen Repräsentationsidee ungewollt die relative Machtposition der Kommission im Beziehungsgeflecht der EUInstitutionen gestärkt. Denn dadurch verfügt das Parlament über mehr Rechte, sowohl die Kommissionsvorschläge als auch die Entscheidungen des Rates zu modifizieren oder gar zu blockieren. Im Falle solcher Dissonanzen zwischen Rat und Parlament ist die Kommission die berufene Schlichtungsinstanz, zumal ihre Kompetenz nicht von der demokratischen Legitimation abhängt. Sie kann gemäß dem vertraglich vorgegebenen Auftrag entscheiden, welche Verordnungen und Richtlinien zur Entscheidung anstehen und welche Änderungsvorschläge des Parlaments sie akzeptiert, neu ausgestaltet oder gar zurückzieht. Zusätzlich hat sich mit der Ausweitung des qualifizierten Mehrheitsprinzips der Ratsentscheidungen der Druck für die Kommission verringert, bei der Formulierung ihrer Initiativen die spätere einstimmige Akzeptanz im Rat zu berücksichtigen und durch wohlkalkulierte konsensfähige Kompromisse aufzubereiten. Dadurch haben sich die Möglichkeiten für eine vertragskonforme Gemeinschaftspolitik verbessert, die auch von der Kommission genutzt worden sind. Dazu gehört die bereits erwähnte zügige Beseitigung der Schranken des Binnenmarktes Ende der 1980er und dessen Vollendung im Jahre 1992. Erwähnt sei ferner die zügige Deregulierung monopolistischer Markt-
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strukturen in den Bereichen des Transportwesens, der Elektrizitäts-, Wasser- und Gasversorgung, der Versicherungswirtschaft sowie der Telekommunikation und der Post {Kerber 2003; Nienhaus 2003). Dadurch kam es zur Reduzierung wettbewerblicher Ausnahmebereiche in den Mitgliedsstaaten und zum Durchbruch der Freiheit auf dem Markt. Der Deregulierung folgte seit Anfang der 1990er Jahre eine Welle der Regulierungen in fast allen Politikbereichen. Erwähnt seien hier nur die verstärkte Regulierung in der Sozialpolitik in Form von mehr als 40 sozialpolitischen Richtlinien, deren Kerngehalt in der Beschränkung der individuellen Vertragsfreiheit besteht. Verantwortlich dafür waren die mit der EEA und vor allem durch das Sozialpolitische Abkommen von Maastricht (1993) erweiterten sozialpolitischen Kompetenzen der EU, deren Umsetzung von der Kommission vorgeschlagen und vom Rat mit der qualifizierten Mehrheit entschieden werden kann. Auch diesen Kompetenzzuwachs hat die Kommission eigeninteressiert genutzt, wohlwissend, daß ihrer Deregulierungspolitik ein gleichlaufender Bedarf an sozialpolitischer und sonstiger Regulierung seitens der nationalen Regierungen entspricht (siehe Sundmacher und Müller 2006). Denn der Ausbau des europäischen Binnenmarktes und die damit einhergehende zunehmende Faktormobilität mußte für die nationalen Regierungen den Wettbewerb der Standorte und damit der nationalen Regelwerke intensivieren. Deren Interesse war und ist darauf gerichtet, diesen Wettbewerb im Wege einheitlicher und wirtschafts- und sozialpolitischer Regeln gemäß den Standards der sozialpolitisch höchstentwickelten Länder zu beschränken (vgl. Vaubel 2003; Leipold und Ludwig 2004). Sowohl aufgrund der von der Kommission forciert vorangetriebenen Politik der Deregulierung als auch der nachfolgenden Regulierung weiterer Bereiche erklärt sich das verbreitete Unbehagen der Bürger an der demokratisch nur unvollkommen legitimierten Fremdbestimmung seitens der EU-Institutionen. Denn diese Politik gefährdet angestammte Besitzstände von meist gut organisierten Interessen auf nationaler Ebene, zumal sie hier aufgrund der Intransparenz der Entscheidungsprozeduren und der mangelnden demokratischen Legitimität als Fremdbestimmung der Brüsseler Bürokratie empfunden werden. Gerade die Kommission wurde und wird mit ihrer Strategie der Vereinheitlichung als weitgehend verselbständigte Exekutivmacht, ja sogar als eine anonyme Agentur der Globalisierung eingeschätzt. In der Tat haben die EU und speziell die Kommission die europäische und damit auch die globale Liberalisierung der Märkte maßgeblich vorangetrieben (vgl. Wentzel 2006a). Davon haben die Bürger vor allem als Konsumenten profitiert. Die Liberalisierung erfreut sich jedoch wegen der damit einhergehenden Ängste gegenüber einer verstärkten Billiglohnkonkurrenz, dem Verlust an Arbeitsplätzen und nicht zuletzt dem Verlust an tradierten nationalen und regionalen Werten und Sitten nur einer geringen Wertschätzung. In dem verstärkten Wettbewerbsund Anpassungsdruck durch die parallel abgelaufene europäische und globale Liberalisierung der Märkte wurzeln also die tieferliegenden Motive für die aktuelle Europaskepsis. Hauptverantwortlich dafür waren und sind jedoch vor allem die Regierungen der Mitgliedsstaaten und nicht das erwähnte Demokratiedefizit der EU-Institutionen und hierbei insbesondere der Kommmission. Die Regierungschefs haben es sich bei den
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Gipfeltreffen des Europäischen Rats angewöhnt, ihre historisch bedeutsamen Entscheidungen über Europa ohne eine vorhergehende öffentliche Debatte zu treffen. Exemplarisch für dieses Defizit sei die im Dezember 1999 getroffene Entscheidung genannt, der Türkei den Kandidatenstatus zu verleihen und mit konkreten Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 zu beginnen. Diese wie auch andere Erweiterungsentscheidungen waren offensichtlich von der Überzeugung bestimmt, daß sich die Vertiefung und Erweiterung der EU problemlos vereinbaren ließen. Ähnlich elitär und deswegen defizitär verliefen die Entscheidungen über die Ausarbeitung und später dann die Ratifizierung des EUVerfassungs Vertrages. Ein erstes Versäumnis bildete der mangelnde Konsens über die zukünftige Gestalt der europäischen Integration. Einigkeit bestand nur insoweit, als die EU-Institutionen an die anstehende erweiterte EU-25 bzw. EU-27 anzupassen seien. Darüber hinaus bewegten sich die national verschiedenen Grundsatzpositionen zwischen den Polen der Festschreibung der gewachsenen Besitzstände bis hin zum entschiedenen Ausbau des Demokratieprinzips in Richtung eines föderalen Bundesstaates. Diese Vision hat der damalige deutsche Außenminister Fischer in seiner Europarede an der Humboldt-Universität Berlin im Jahre 2000 in aller Klarheit vorgestellt. Als anstrebenswertes Ziel der EU postulierte er den Übergang vom Staatenverbund zur vollen Parlamentarisierung der EU in Gestalt eines föderalen Bundesstaates, der sich auf einen neuen europäischen Verfassungsvertrag gründen sollte. Wenngleich diese Vision damals und heute europaweit eine Außenseiterposition verkörperte, wollte der Verfassungskonvent allen Grundsatzpositionen gerecht werden. Damit war das Scheitern dieses anspruchsvollen Vorhabens vorprogrammiert (vgl. Winkler 2005). Jedenfalls hat die Mehrheit der Bürger in den zwei Ländern, denen das Abstimmungsrecht über den Verfassungsvertrag zugestanden und zugetraut wurde, ihre Zustimmung verweigert.
5.2. Hat Europa ein Orientierungsdefizit? So lange keine konsensfahigen Antworten bezüglich der zukünftigen Verfassung der EU erkennbar sind und einer europaweiten öffentlichen Debatte anheimgestellt werden, wird auch die europäische Integration stagnieren, wenn nicht gar zurückfallen. Europa hat also weniger ein Demokratiedefizit, sondern ein Orientierangs- bzw. Finalitätsdefizit. Es braucht nicht illusorische oder elitäre Utopien, sondern realistische und konsensiahige Visionen und Ideen. Deshalb gilt es sich von der Idee eines europäischen föderalen Bundesstaates zumindest in absehbarer Zeit zu verabschieden. Bescheidenheit in Gestalt eines funktional begrenzten und konstitutionell verläßlich abgesicherten Staatenverbundes ist angesagt. Denn der bisher erreichte Staatenverbund ist schon per se ein historisch einmaliges und auch zukünftig anspruchsvolles Projekt. Die ihm und seinen Institutionen übertragenen Souveränitäten sind für die Nationalstaaten und deren Bürger nur insoweit akzeptabel, als sie verfassungsmäßig klar benannt und begrenzt werden. Gerade bezüglich dieser elementaren Anforderung hat der EU-Verfassungsvertrag versagt. Aufgrund der mangelnden Klärung der Finalitätsfrage hat er weder ein klares und konsensfähiges Konzept für das einem Staatenverbund angemessene Nebeneinander zwischen dem Konsens- und dem Mehrheitsprinzip noch eine verläßliche Begrenzung der einem Staatenverbund angemessenen Kompetenzen formuliert.
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Die Ausweitung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments und der qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat weist den Weg in Richtung eines föderalen Bundesstaates, wenngleich dem Parlament noch elementare legislative Rechte vorenthalten und im Rat auch das Konsensprinzip für wichtige Gemeinschaftsbeschlüsse beibehalten wurden. Zugleich weist der Verfassungsvertrag auch Schritte zurück in die Richtung eines funktional zu begrenzenden Staatenverbundes auf. Exemplarisch dafür steht die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips, indem die nationalstaatlichen Parlamente einschließlich der Vertretungen der Länder und Regionen zusätzliche Kontrollrechte in Gestalt von Stellungnahmen über die von der Kommission beanspruchten EUZuständigkeiten erhalten sollen (Art. 1-9 und Protokolle; vgl. Leschke und Möstl 2006). Insbesondere wächst dem Ausschuß der Regionen zunehmend die Aufgabe zu, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips zu überwachen (vgl. Wentzel 2006b), etwa durch eine unabhängige Klagebefugnis. Dieser potentiellen, bisher allerdings unwirksamen Begrenzung der immanenten Politikzentralisierung zugunsten der EU steht die gleichzeitige Festschreibung der oft zufallig gewachsenen Kompetenzen und noch mehr deren Ausweitung entgegen. Es ist kein Zufall, daß der „Acquis communautaire" in der deutschen Übersetzung des Vertragswerkes als gemeinsamer Besitzstand bezeichnet wird, was die gedankliche Assoziation mit Besitzstandswahrung nahelegt, die im Verfassungsvertrag ungeachtet der veränderten europäischen und globalen Bedingungen unhinterfragt festgeschrieben wurde. Darüber hinaus sieht der Vertragsentwurf eine erneute Ausweitung der EUKompetenzen vor. Exemplarisch genannt seien die neuen Kompetenzen in der Energiepolitik (Art. III-157), in der Kulturpolitik (Art.III-181), im Katastrophenschutz (Art. III184), in der Raumfahrtpolitik (Art. III-144), der Tourismuspolitik (Art. III-116) und nicht zuletzt die in Teil II eingefügte Charta der Grundrechte, wodurch der europaweiten Vereinheitlichung der Grund- und damit auch der Sozialrechte in der Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs- oder Kulturpolitik Tür und Tor geöffnet werden (vgl. Voigt 2005). Berücksichtigt man neben den angeführten Inkonsistenzen, die im Orientierungsdefizit und dem komplizierten Nebeneinander der Regeln eines Staatenverbundes mit denen eines Bundesstaates wurzeln, noch den ungewöhnlichen Umfang des Verfassungsvertrages mit mehr als 300 Seiten und 68 635 Wörtern, sollte es nicht verwundern, daß er seine ursprüngliche Intention verfehlen mußte, die europäische Identität der Bürger zu stärken und die europäische Union den Bürgern durch mehr Demokratie und Transparenz näher zu bringen. Die angestrebte „immer engere Union der Völker Europas" verlangt mehr als einen Verfassungsvertrag. Sie bedarf eines europäischen Gemeinschaftsbewußtseins, das von der großen Mehrheit der Bürger geteilt und getragen wird. Ein solches Bewußtsein existiert, wenn auch nur in schwacher Ausprägung. Es speist sich aus den gemeinsam geteilten christlichen Werten und der davon geprägten gemeinsamen Rechtstradition. Am Anfang der europäischen Zivilisation stehen die produktiven Trennungen des Mittelalters zwischen kirchlicher und weltlicher Herrschaft, die später durch die Reformation und die Aufklärung zur Trennung zwischen Glauben und Vernunft, zwischen Religion und autonomen Wissenschaften und zur Teilung der politischen Gewalten führten (vgl. dazu Szücs 1994, S. 26; Leipold 2006, S. 121 ff.).
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Ungeachtet dieser Gemeinsamkeiten zeichnet sich die europäische Zivilisation jedoch gerade durch ihre Vielfalt und den Wettbewerb der nationalen und regionalen Ordnungen aus. Europa war und ist deshalb bis heute weder eine Erfahrungs- noch eine Kommunikationsgemeinschaft. Die geschichtlichen Erfahrungen über die Gemeinschaft oder Gegnerschaft wurden und werden in Europa über die Institution der Nation vermittelt und verinnerlicht. Es gibt so gut wie keine gesamteuropäischen Erfahrungen. Europa war stets durch eine Vielzahl von Völkern und Nationen gekennzeichnet, die sich nur dann und das selten genug einig waren oder sind, wenn es gegen etwas, aber sich kaum einigen konnten, wenn es für etwas ging. Europa war und ist auch keine wirkliche Kommunikationsgemeinschaft. Es kennt mehr als 20 Sprachen, ohne die Dialekte. Diese Vielsprachigkeit ist wahrscheinlich das wichtigste Hindernis für das Aufkommen einer europäischen Indentität. Die Kommunikationsschwierigkeiten behindern die Herausbildung einer öffentlichen Meinung und eines akzeptierten Systems von intermediären Vermittlungsinstanzen zwischen Gesamtund Individualinteressen. Ohne öffentliche Meinung und intermediäre Vermittlungsinstanzen kann es jedoch auch keinen verträglichen Interessenausgleich und damit auch keine oder nur eine geringe Akzeptanz kollektiv getroffener Mehrheitsentscheidungen seitens der betroffenen Minderheiten geben (vgl. Loth 2005; Wagner 2005). Da es bei politischen Entscheidungen häufig Gewinner und Verlierer gibt, werden überstimmte Minderheiten die Mehrheitsentscheidungen im Rahmen der Gemeinschaftspolitik mit großer Wahrscheinlichkeit als illegitime und nichtakzeptable Fremdentscheidungen empfinden. Mit Kielmansegg (1992, S. 35} ist darin das zentrale Problem für die verstärkte Anwendung des demokratischen Mehrheitsprinzips innerhalb der EU zu sehen. Die breite Akzeptanz mehrheitlich getroffener Entscheidungen bedarf eines geteilten Vorrats an gemeinsamen kulturellen Werten. Dieser geschichtlich gewachsene Vorrat an europäischer Identität ist jedoch nur begrenzt vorhanden. Er bedarf jedenfalls der behutsamen Bewirtschaftung. Von daher ist zu befürchten, daß bei einer Erweiterung der EU um Länder mit anderen kulturellen Werten und Traditionen der knappe Vorrat endgültig aufgezehrt würde. Die seit dem Maastrichter Vertrag eingeleitete und durch den EU-Verfassungsvertrag implizit geforderte Strategie, den europäischen Staatenverbund als Durchgangsstation hin zum europäischen Bundesstaat zu erachten, kann deshalb nur als Holzweg für die zukünftige Entwicklung Europas bewertet werden. Die Bürger wollen ein einiges, aber kein einheitliches Europa. In dem Unterfangen, die geringere nationalstaatliche Souveränität mittels eines europäischen Bundesstaates kompensieren oder gar aufheben zu wollen, kann im Zeitalter der Globalisierung und des intensivierten Wettbewerbs der kulturellen und staatlichen Ordnungen nur ein global überholtes Auslaufmodell gesehen werden (vgl. Leipold 2006). Die einzig tragfahige Reformstrategie der EU kann nur in der Sicherung eines konstitutionell und funktional verläßlich begrenzten Staatenverbundes liegen. Dazu wäre es erforderlich, zusätzliche Kompetenzen der EU zeitlich zu befristen und Teile der gewachsenen Kompetenzen in die Mitgliedsstaaten und deren Regionen zurückzuverlagern und dem institutionellen Wettbewerb zwischen den jeweiligen Jurisdiktionen zu überlassen, weil hier die öffentlichen Angelegenheiten bürgernah
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entschieden und von überstimmten Minderheiten am ehesten akzeptiert werden können (vgl. Leipold 2000, S. 66 ff.). Natürlich verlangt dieser Wettbewerb für die betroffenen Regierungen und Bürger ebenfalls einen Verzicht auf Souveränität. Dessen Akzeptanz dürfte jedoch im Vergleich zur institutionellen und politischen Integration leichter fallen, weil der EU weniger Kompetenzen abzutreten wären und weil der Ausgleich von Interessen und die Angleichung von Regeln und Gewohnheiten in größerem Umfang den unmittelbar betroffenen Bürgern übertragen würden. Der EU blieben bei einer Intensivierung des politischen und institutionellen Wettbewerbs noch genügend Aufgaben, die einer einheitlichen europäischen Regelung bedürfen. Die Hauptaufgabe bliebe die des Wächters über die Regeln des gemeinsamen Marktes. Weitere Aufgaben, etwa im Bereich der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, sind denkbar. Europas Stärke und Einmaligkeit war und ist die Vielfalt. Die EU repräsentiert nur einen Teil der zu Europa gehörenden Länder und Völker. Die Erweiterung hin zur umfassenden Europäischen Gemeinschaft dürfte nur dann eine realistische Chance haben, wenn diese Vielfalt an nationalen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Besonderheiten akzeptiert wird und erhalten bleibt.
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Publikationen von
Prof. Dr. Helmut Leipold
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2005: Der Vergleich und der Wettbewerb der Wirtschaftssysteme vor globalen Herausforderungen, in: H. Leipold und D. Wentzel (Hg.), Ordnungsökonomik als aktuelle Herausforderung, Stuttgart 2005, S. 3-29. Grundlegende Institutionenreformen im Spannungsverhältnis zwischen ideellen und materiellen Einflussfaktoren, in: T. Eger (Hg.), Voraussetzungen für grundlegende institutionelle Reformen, Berlin 2005, S. 15-48. Mentale und politische Ursachen der wirtschaftlichen Krise Deutschlands, in: N. Combé und H. Schönfeld (Hg.), Die Krise Deutschlands: Antworten der ökonomischen Marburger Schule auf die wirtschaftliche und institutionelle Stagnation, Berlin 2005, S. 58-72. zusammen mit Dirk Wentzel (Hg.), Ordnungsökonomik als aktuelle Herausforderung, Festschrift für A. Schüller, Stuttgart 2005
2004: zusammen mit Sandra Ludwig, Soziale Marktwirtschaft und europäische Wirtschaftsordnung, in: U. Andersen u. a. (Hg.), Soziale Marktwirtschaft: Stagnation, Umbau oder Neubeginn?, Politische Bildung, Jg. 37, H. 1, 2004, S. 43 - 59. Ebenfalls erschienen in: U. Andersen (Hg.), Soziale Marktwirtschaft: Eine Einführung, Schwalbach/Ts. 2004, S. 68 96. Perspektiven einer kulturellen Ökonomik. Zu dem gleichnamigen Band, hrsg. v. G. Blümle, N. Goldschmidt, R. Klump, B. Schauenberg und H. v. Senger, in: ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 55, 2004, S.367-371.
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Grundlegende Institutionenreformen im Spannungsverhältnis zwischen ideellen und materiellen Einflußfaktoren, Volkswirtschaftliche Beiträge des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Philipps-Universität Marburg, Nr. 31, Marburg 2004.
2003: Funktionen und Formen der Zivilgesellschaft, in: Chr. Meier, H. Pleines und H.-H. Schröder (Hg.), Ökonomie - Kultur - Politik: Transformationsprozesse in Osteuropa, Bremen 2003, S. 82 - 107. Kulturelle Determinanten der wirtschaftlichen Entwicklung, in: H.-H. Höhmann, und H. Pleines (Hg.), Wirtschaftspolitik in Osteuropa zwischen ökonomischer Kultur, Institutionenbildung und Akteursverhalten: Russland, Polen und Tschechische Republik im Vergleich, Bremen 2003, S. 1 4 - 4 1 . Warum eine selbstverantwortliche Bürgergesellschaft das "schwerste" Ordnungsproblem ist, in: A. Schüller (Hg.), Orientierungen für ordnungspolitische Reformen, Walter Hamm zum 80. Geburtstag, Stuttgart 2003, S. 56-77. Wirtschaftsethik und wirtschaftliche Entwicklung im Islam, in: H. G. Nutzinger (Hg.), Christliche, jüdische und islamische Wirtschaftsethik: Über religiöse Grundlagen wirtschaftlichen Verhaltens in der säkularen Gesellschaft, Marburg 2003, S. 131-149. Entstehung und Vermächtnis ordoliberalen Denkens, Anmerkungen zu dem gleichnamigen Buch von N. Goldschmidt, in: ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 54, Stuttgart 2003, S. 339-343.
2002: Kulturelle Einflußfaktoren der Integration in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung, in: A. Schüller und H. J. Thieme (Hg.), Ordnungsprobleme der Weltwirtschaft, Stuttgart 2002, S. 45-71. Auch veröffentlicht in: Volkswirtschaftliche Beiträge des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Philipps-Universität Marburg, Nr. 12, Marburg 2002. Kulturspezifische Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Regelteilung und wirtschaftlicher Arbeitsteilung, in: T. Eger (Hg.), Kulturelle Prägungen wirtschaftlicher Institutionen und wirtschaftspolitischer Reformen, Berlin 2002, S. 17-46. Neue Beiträge, in: A. Schüller und H.-G. Krüsselberg (Hg.), Grundbegriffe zur Ordnungstheorie und Politischen Ökonomie, 5., überarbeitete und ergänzte Auflage, Arbeitsberichte zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Nr. 7, Marburg 2002. Beiträge: Theorie der kulturellen Evolution von F.A. von Hayek, S. 56-59; Institutionen: Begriff und Typen, S. 94-99; Neue Institutionenökonomik, S. 103-106; Die Theorie des institutionellen Wandels von D.C. North, S. 111-115; Transaktionskostenökonomik, S. 128-133. Sachbeiträge „Freiheitssicherung", „Wirtschaftsordnung: Begriff und praktische Ausformung", in: R. H. Hasse, H. Schneider und K. Weigelt (Hg.), Lexikon Soziale Marktwirtschaft, Paderborn, München, Wien und Zürich 2002, S. 232-235, S. 469-471. Einige unzeitgemäße Denkrelikte im Denken in Verfassungen, in: I. Pies und M. Leschke (Hg.), Walter Euckens Ordnungspolitik, Tübingen 2002, S. 72-75. Wider ein ökonomistisch überzeichnetes Kapitalismusverständnis, in: Erwägen, Wissen, Ethik (Deliberation, Knowledge, Ethics), H. 3, 2002, S. 315-317.
2001: Islam, institutioneller Wandel und wirtschaftliche Entwicklung, Studien zur Ordnungsökonomik Nr. 27, Stuttgart 2001.
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Kulturspezifische Zusammenhänge zwischen gesellschaftlicher Regelteilung und marktwirtschaftlicher Arbeitsteilung, in: Volkswirtschaftliche Beiträge des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Philipps-Universität Marburg, Nr. 11, Marburg 2001.
2000: Offene Ordnungsprobleme einer Osterweiterung der EU, in: S. Paraskewopoulos (Hg.), Die Osterweiterung der Europäischen Union: Chancen und Perspektiven, Berlin 2000, S. 4160. Der chinesische Kultur- und Wirtschaftsraum als Herausforderung für die Institutionenökonomik, in: Asien, Deutsche Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, Nr. 76, Juli 2000, S. 29-46. Die Osterweiterung als Prüfstein für die Reformfahigkeit der EU, in: H. G. Nutzinger (Hg.), Osterweiterung und Transformationskrisen, Berlin 2000, S. 51-83. Herrschaft, Recht und Religion als Determinanten der wirtschaftlichen Entwicklung. Anmerkungen zu dem Buch von E. Weede, Asien und der Westen, in: ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 51, Stuttgart 2000, S. 493-503. The Contribution of Neoliberal Ordnungstheorie to Transformation Policy, in: A. Labrousse und J.-D. Weisz (eds.), Institutional Economics in France and Germany, Berlin 2000, S. 334348. Die kulturelle Einbettung der Wirtschaftsordnungen: Bürgergesellschaft versus Sozialstaatsgesellschaft, in: B. Wentzel und D. Wentzel (Hg.), Wirtschaftlicher Systemvergleich Deutschland - USA, Stuttgart 2000, S. 1-52. Informale und formale Institutionen: Typologische und kulturspezifische Relationen, in: H. Leipold und I. Pies (Hg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik: Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven, Stuttgart 2000, S. 401-428. In Deutschland muß sich eine Bürgergesellschaft entwickeln! - Ist das realistisch?, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Dezember 2000, S. 14-20.
1999: Institutionenbildung in der Transformation, in: H.-H. Höhmann (Hg.), Spontaner oder gestalteter Prozeß? Die Rolle des Staates in der Wirtschaftstransformation osteuropäischer Länder, Baden-Baden 1999, S. 133-151. Kultur und Wirtschaftsstil - Erklärungsansätze für die Systemdynamik und Systemeffizienz in Entwicklungsländern? Korreferat zu V. Nienhaus, in: D. Cassel (Hg.), Perspektiven der Systemforschumg, Berlin 1999, S. 115-118. Die Osterweiterung als Prüfstein für die Reformfähigkeit der EU, Volkswirtschaftliche Beiträge des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Philipps-Universität Marburg, Nr. 14, Marburg 1999.
1998: Wertewandel und Werteverzehr: Moralische Dimensionen der Sozialen Marktwirtschaft, in: D. Cassel (Hg.), 50 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Ordnungstheoretische Grundlagen, Realisierungsprobleme und Zukunftsperspektiven einer wirtschaftspolitischen Konzeption, Stuttgart 1998, S. 153-175. Die große Antinomie der Nationalökonomie: Versuch einer Standortbestimmung, in: ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 49, 1998, S. 15-42.
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1997: Privateigentum und Privatisierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: H.-H. Höhmann (Hg.), Die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland und die ökonomische Transformation in Rußland, Köln 1997, S. 79-93. (Russische Ausgabe: Moskau 1997). Institutionelle Ursachen der wirtschaftlichen Unterentwicklung in Schwarzafrika, in: S. Paraskewopoulos (Hg.), Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung, Stuttgart 1997, S. 415-443. Der Zusammenhang zwischen der Entstehung und dem Wettbewerb von Ordnungen, in: K. v. Delhaes und U. Fehl (Hg.), Dimensionen des Wettbewerbs: Seine Rolle in der Entstehung und Ausgestaltung von Wirtschaftsordnungen, Stuttgart 1997, S. 397-427. Die Lust am Niedergang - Eine logische Asymmetrie der Logik des kollektiven Handelns, in: I. Pies und M. Leschke (Hg.), Mancur Olsons Logik des kollektiven Handelns, Tübingen 1997, S. 227-237. Der Zusammenhang zwischen gewachsener und gesetzter Ordnung: Einige Lehren aus den postsozialistischen Reformerfahrungen, in: D. Cassel (Hg.), Institutionelle Probleme der Systemtransformation, Berlin 1997, S. 43-68.
1996: Privatization Policy and Restructuring - the German Example, in: R. Ovin (ed.), Reform and Economic Policy Coordination, Maribor 1996, S. 87-106. Zur Pfadabhängigkeit der institutionellen Entwicklung: Erklärungsansätze des Wandels von Ordnungen, in: D. Cassel (Hg.), Entstehung und Wettbewerb von Systemen, Berlin 1996, S. 9 3 - 1 1 5 . Privateigentum und Privatisierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: H.-H. Höhmann (Hg.), Wirtschaft und Staat in der Bundesrepublik Deutschland, Köln (russische Ausgabe). Rolle und Reformierbarkeit der Staatsunternehmen in Marktwirtschaften, in: E. Schinke und Z. Hong (Hg.), Ordnungsreform und Entwicklung der chinesischen Wirtschaft in den 90er Jahren, Festschrift für Armin Bohnet zum 60. Geburtstag, Berlin, S. 121 - 1 4 2 .
1995: Theoretische und rechtliche Grundlagen der deutschen und europäischen Wettbewerbspolitik, in: Nase Gospodarstvo (Slowenien), H. 3-4, 1995, S. 272-279. Zur Osterweiterung der Europäischen Union: Chancen und Hindernisse, in: Außenpolitik, II, 1995, S. 126-135. Interdependenz von wirtschaftlicher und politischer Ordnung, russische Übersetzung in: C. Herrmann-Pillath, O. Schlecht und H. F. Wünsche (Hg.), Ziel - Marktwirtschaft: Wirtschaft und Gesellschaft im Prozeß des Übergangs vom Plan zum Markt, Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, Bd. 3, russische Redaktion A. Tschepurenko und V. Gutnik, Moskau 1995, S. 543-554.
1994: Interdependenz von wirtschaftlicher und politischer Ordnung, in: C. Herrmann-Pillath, O. Schlecht, H. F. Wünsche (Hg.), Marktwirtschaft als Aufgabe, Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, Bd. 3, Stuttgart, Jena und New York 1994, S. 723-738. Ordnungsprobleme der Entwicklungsländer: Das Beispiel Schwarzafrika, Arbeitsberichte der Marburger Gesellschaft für Ordnungsfragen der Wirtschaft, Nr. 17, Marburg 1994.
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Die EU im Spannungsverhältnis zwischen Vertiefung und Erweiterung, in: H. Leipold (Hg.), Ordnungsprobleme Europas: Die Europäische Union zwischen Vertiefung und Erweiterung, Arbeitsberichte der Marburger Gesellschaft für Ordnungsfragen der Wirtschaft, Nr. 18, Marburg 1994, S. 39-78. Helmut Leipold (Hg.), Ordnungsprobleme Europas: Die EU zwischen Vertiefung und Erweiterung, Arbeitsberichte der Marburger Gesellschaft für Ordnungsfragen der Wirtschaft, Nr. 18, Marburg 1994. 1993: Die EG im Spannungsverhältnis zwischen Konsens und Effizienz, in: H. Gröner, A. Schüller (Hg.), Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, Stuttgart/Jena/New York 1993, S. 41-72. Alternative Privatisierungs- und Sanierungsmethoden in Mittel- und Osteuropa, in: H. J. Thieme (Hg.), Privatisierungsstrategien im Systemvergleich, Berlin 1993, S. 13-40. Models of Market Economies - Concepts and Realities, in: H.-G. Fleck, R. Lawniczak (eds.), Alternative Models of Market Economy for Transition Economies, Warschau 1993, S. 53-73.. Begriffsbestimmungen: "Dritter Weg", "Neue Institutionenökonomik", "Theorie des institutionellen Wandels", "Transaktionskostentheorie", "Ökonomische Theorie der Verfassung", in: E. Dichtl, O. Issing (Hg.), Vahlens Großes Wirtschaftslexikon, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, München 1993. 1992: Das Eigentumsproblem in der Transformationspolitik, in: H. Leipold (Hg.), Privatisierungskonzepte im Systemwandel, Arbeitsberichte zum Systemvergleich, Nr. 16, Marburg 1992, S. 1-26.
Privatisierungs- und Sanierungsalternativen für Deutschland, in: H. Leipold (Hg.), Privatisierungskonzepte im Systemwandel, Arbeitsberichte zum Systemvergleich, Nr. 16, Marburg 1992, S. 27-38. Slowenische Übersetzung in: Bilten der Universität Maribor, 2-3/1992. The neoliberal Concept of Economic Order, in: Ch. T. Saunders (ed.), Economics and Politics of Transition, Basingstoke and London 1992, S. 73-84. Some institutional failures of socialist market economies - A Dynamic Market and Institutional Theory Approach, in: J. M. Koväcs, T. Tardos (eds.), Reform and Transformation in Eastern Europe, London 1992, S. 80-90. Probleme und Konzepte der Privatisierung von Staatseigentum, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt), 2/1992, S. 54-59. Nachdruck in: P. Meyer-Dohm, K.-E. Schenk, A. Wass von Czege (Hg.), Das Neue Europa, Stuttgart, Jena und New York 1992, S. 42-50. Reformrestriktionen in alternativen politischen Ordnungen, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 11. Bd., 1992, S. 217-231. Unternehmens-Netzwerke" im Lichte der Institutionenökonomik, Korreferat zu dem Beitrag von M. Fritsch, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, 1992, 11. Bd., S. 103-105. Problemi in Koncepti Privatizacije (Problem and Conception of Privatization), in: Nase Gospodarstvo (Slowenien), 3-4/1992, S. 195-201.
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1991: Institutioneller Wandel und Systemtransformation: Ökonomische Erklärungsansätze und ordnungspolitische Folgerungen, in: H. J. Wagener (Hg.), Anpassung und Wandel: Zur Evolution und Transformation von Wirtschaftssystemen, Berlin 1991, S. 17-38. Politische Ordnung und wirtschaftliche Umgestaltung: Zu Restriktionen und Reformen in Politik und Verwaltung, in: K.-H. Hartwig und H. J. Thieme (Hg.), Transformationsprozesse in sozialistischen Wirtschaftssystemen: Ursachen, Konzepte, Instrumente, Heidelberg und Berlin 1991, S. 227-252. Innovationen im Systemvergleich: Der Einfluß des Wirtschaftssystems auf die Hervorbringung von Innovationen, in: P. Oberender und M. E. Streit (Hg.), Marktwirtschaft und Innovation, Baden-Baden 1991, S. 163-182.
1990: Neoliberal Ordnungstheorie and Constitutional Economics: A Comparison between Eucken and Buchanan, in: Constitutional Political Economy, Vol. 1, 1990, S. 47-65. Technologische Modernisierung der UdSSR? Bedeutung der Reformpolitik für die Innovationsfähigkeit der sowjetischen Wirtschaft, in: D. Cassel (Hg.), Wirtschaftssysteme im Umbruch, München 1990, S. 173-195. Zum Verhältnis von Wirtschaft und Politik in beiden deutschen Staaten, in: Politische Bildung, Heft 1, 1990, S. 5-22. In den Fängen der Planbürokratie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.1.1990. Viel Forschung mit wenig Nutzen: Innovationen im Systemvergleich, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.4.1990.
1989: Vertragstheorie und Gerechtigkeit, in: G. Gutmann und A. Schüller (Hg.), Ethik und Ordnungsfragen der Wirtschaft, Baden-Baden 1989, S. 357-385. Neuere Ansätze zur Weiterentwicklung der Ordnungstheorie, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 8, 1989, S. 13-29. zusammen mit H. Hamel, "Perestrojka" und "Neues Ökonomisches System": Reformmodelle für die DDR? in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Heft 42, 4/1989, S. 23-30. Das Ordnungsproblem in der ökonomischen Institutionentheorie, in: ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirschafit und Gesellschaft, Bd. 40, 1989, S. 129-146. zusammen mit H. Hamel, Perestrojka und NÖS: Funktionsprobleme der sowjetischen Wirtschaftsreform und die Erfahrungen der DDR in den sechziger Jahren, Arbeitsberichte zum Systemvergleich, Nr. 12, Marburg 1989.
1988: Ordnungspolitische Konsequenzen der ökonomischen Theorie der Verfassung, in: D. Cassel, R.-Th. Ramb und H.J. Thieme (Hg.), Ordnungspolitik, München 1988, S. 257-284. Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme im Vergleich: Grundzüge einer Theorie der Wirtschaftssysteme (UTB 481), Stuttgart 1976, 5. Überarb. Aufl. 1988.
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1986: zusammen mit A. Schüller, Unternehmen und Wirtschaftsrechnung: Zu einem integrierten dynamischen Erklärungsansatz, in: H. Leipold und A. Schüller (Hg.), Zur Interdependenz von Unternehmens- und Wirtschaftsordnung, Stuttgart und New York 1986, S. 3-40.
1985: Ordnungspolitische Implikationen der Transaktionskostenökonomie, in: ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 36, 1985, S. 31-48. Begriffsbestimmungen (insges. 14), in: A. Schüller und H.G. Krüsselberg (Hg.), Grundbegriffe zur Ordnungstheorie und Politischen Ökonomik, Arbeitsberichte zum Systemvergleich, Nr. 7, Marburg 1985.
1984: Eigentumsrechte, Öffentlichkeitsgrad und Innovationsschwäche: Lehren aus dem Systemvergleich, in: A. Schüller, H. Leipold und H. Hamel (Hg.), Innovationsprobleme, Stuttgart 1984, S. 51-64. Die Kombinatsreform in der DDR im Lichte der Transaktionskostenökonomie, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 3, 1984, S. 252-267. Eigentum und Wirtschaftsordnung, in: H.-G. Krüsselberg (Hg.), Vermögen im Systemvergleich, Stuttgart und New York 1984, S. 21-36. Wirtschaftspolitische Konzeptionen sozialistischer Marktwirtschaften, in D. Cassel (Hg.), Wirtschaftspolitik im Systemvergleich, München 1984, S. 69-91. Institutionelle Ursachen der Wachstumsverlangsamung in West und Ost, in: A. Schüller (Hg.), Wachstumsverlangsamung und Konjunkturzyklen in unterschiedlichen Wirtschaftssystemen, Berlin 1984, S. 11-46.
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Neuere Ansätze der ökonomischen Theorie des Eigentums, in: Eigentum als Grundrecht und Element der Ordnungspolitik, hrsg. v.d. Ludwig-Erhard-Stiftung e.V., Stuttgart und New York 1984, S. 21-37. 1983: Der Einfluß von Property Rights auf hierarchische und marktliche Transaktionen in sozialistischen Wirtschaftssystemen, in: A. Schüller (Hg.), Property Rights und ökonomische Theorie, München 1983,185-217. Eigentum und wirtschaftlich-technischer Fortschritt: Eine dogmenhistorische und systemvergleichende Studie, Köln 1983. zusammen mit A. Schüller und H. Hamel (Hg.), Innovationsprobleme in Ost und West, Stuttgart 1983. 1982: Eigentümerkontrolle und Managerverhalten, in: Anreiz- und Kontrollmechanismen in G. Hedtkamp (Hg.), Wirtschaftssystemen I, Berlin 1982, S. 29-66. zusammen mit H. Hamel, Zum Kompromiß von Selbstverwaltung und Staaseigentum in der neuen polnischen Unternehmensverfassung, in: H.G. Nutzinger (Hg.), Mitbestimmung und Arbeiterselbstverwaltung, Frankfurt und New York 1982, S. 173-187. Staatseigentum und Innovation: Ein Beitrag zur ökonomischen Theorie sozialistischer Eigentumsrechte, Habilitationsschrift, Universität Marburg 1982. zusammen mit H. Hamel und R. Peterhoff, Zur Reform der Polnischen Unternehmensverfassung: Dokumentation und Perspetiven, Arbeitsberichte zum Systemvergleich, Nr. 3, Marburg 1982. 1981: Wirtschaftssysteme: Ungarn, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW), Bd. 9, 1981, S. 399-412 1979: Zielbestimmung und Instabilitäten als Ergebnis politischer Entscheidungsprozesse, in: H. J. Thieme (Hg.), Gesamtwirtschaftliche Instabilitäten im Systemvergleich, Stuttgart und New York 1979, S. 39-53. zusammen mit H. Hamel, Handlungsspielräume und Unternehmerqualitäten von Managern unter alternativen Ordnungsbedingungen, in: Deutschland-Archiv, Sonderheft "30 Jahre DDR", 1979, S. 175-187. 1978: Die Verwertung neuen Wissens bei alternativen Eigentumsordnungen, in: K.-E. Schenk (Hg.), Ökonomische Verfügungsrechte und Allokationsmechanismen, Berlin 1978, S. 89-122. Theorie der Property Rights: Forschungsziele und Anwendungsbereiche, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium - WiSt, Heft 11, 1978, S. 518-525. Assoziation versus Hierarchie: Zur Konkurrenzfähigkeit von Selbstverwaltungsunternehmen, in: H. Backhaus, Th. Eger und H.G. Nutzinger (Hg.), Partizipation in Betrieb und Gesellschaft, Stuttgart und New York 1978, S. 109-132.
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1977: Koordinations- und Willensbildungsprobleme bei einer direkten Investitionslenkung, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Heft 1, 1977, S. 3-30. Gesellschaftstheoretische Fundierung der Wirtschaftssysteme, in: H. Hamel (Hg.), Soziale Marktwirtschaft - Sozialistische Planwirtschaft: Ein Vergleich Bundesrepublik Deutschland - DDR, München 1977, 5. neubearb. Aufl. 1989, S. 1-24. Planversagen versus Marktversagen, in: H. Hamel (Hg.), Soziale Marktwirtschaft - Sozialistische Planwirtschaft: Ein Vergleich Bundesrepublik Deutschland - DDR, München 1977, 5. neubearb. Aufl. 1989, S. 111-152.
1976: Einkommensverteilung nach der Leistung als Preisbildungsproblem, in: D. Cassel und H.J. Thieme (Hg.), Einkommensverteilung im Systemvergleich, Stuttgart 1976, S. 59-71. Planungskomplexität und ökonomischer Entwicklungsstand: Bemerkungen zur ideologischen Kritik der Wirtschaftsreformen im Sozialismus, in: Osteuropa-Wirtschaft, Heft 2, 1976, S. 127-140.
1975: H. Leipold (Hg.), Sozialistische Marktwirtschaften: Konzeptionen und Lenkungsprobleme, München 1975. Das jugoslawische Modell der Arbeiterselbstverwaltung, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium - WiSt, Heft 11, 1975, S. 520-525. Entwicklung und gesellschaftspolitische Bedeutung der sozialistischen Marktwirtshaften, in: H. Leipold (Hg.), Sozialistische Marktwirtschaften: Konzeptionen und Lenkungsprobleme, München 1975, S. 7-20. zusammen mit Th. Eger, Die jugoslawische Arbeiterselbstverwaltung im Experiment, in: H. Leipold (Hg.), Sozialistische Marktwirtschaften: Konzeptionen und Lenkungsprobleme, München 1975, S. 21-47.
1974: Betriebsdemokratie - Ökonomische Systemrationalität: Eine organisationstheoretische Analyse der jugoslawischen Arbeiterselbstverwaltung, Stuttgart 1974. Alternative Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme, hrsg. v. der Niedersächsichen Landeszentrale für politische Bildung, Hannover 1974. Konflikt und Rationalität in der selbstverwalteten Unternehmung, in: H. Hamel (Hg.): Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien, München 1974, S. 84-107.
Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft Lucius&Lucius Verlags-GmbH, Stuttgart, ISSN 1432-9220 Herausgeber: Prof. Dr. Gernot Gutmann, Dr. Hannelore Hamel, Prof. Dr. Helmut Leipold Prof. Dr. Alfred Schüller, Prof. Dr. H. Jörg Thieme, Prof. Dr. Stefan Voigt In Vorbereitung: Band 90: Dirk Wentzel (Hg.), Medienökonomik heute: Ordnungsökonomische Grundfragen und Gestaltungsmöglichkeiten, 2008. Band 89: Alfred Schüller und Stefan Voigt (Hg.), Von der Ordnungstheorie zur Institutionenökonomik: Rückblick und Entwicklungsoptionen eines Marburger Forschungsprogramms - aus Anlaß des 50jährigen Bestehens der Forschungsstelle zum Vergleich wirtschaftlicher Lenkungssysteme, 2008. Bereits erschienen: Band 88: Helmut Leipold, Die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft als zentrale Aufgabe: Ordnungsökonomische und kulturvergleichende Studien, 2008, 307 S„ 38 €, ISBN 978-3-8282-0436-2. Band 87: Katharina Wacker, Wettbewerb und Regulierung auf dem deutschen Fernsehmarkt: Deregulierungsbedarf und Umsetzungsbedingungen, 2007, 220 S., 36 €, ISBN 978-3-8282-0414-0. Band 86: Albrecht F. Michler und H. Jörg Thieme (Hg.)„ Systeme monetärer Steuerung: Analyse und Vergleich geldpolitischer Strategien, 2007,420 S., 44 €, ISBN 978-3-8282-0410-2. Band 85: Friedrich Gröteke, Europäische Beihilfenkontrolle und Standortwettbewerb: Eine ökonomische Analyse, 2007, 336 S., 38 €, ISBN 978-3-8282-0401-0. Band 84: Dieter Starke, Unternehmensinsolvenzen im Wandel der Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme: Eine Untersuchung im Lichte des Kritischen Rationalismus und der Evolutionsökonomik, 2007, 333 S., 38,00 €, ISBN 978-3-8282-0395-2. Band 83: Klaus Heine und Wolfgang Kerber (Hg.), Zentralität und Dezentralität von Regulierung in Europa, 2007, 355 S„ 42,00 €, ISBN 978-3-8282-0383-9.
Band 82: Dirk Wentzel (Hg.), Europäische Integration - Ordnungspolitische Chancen und Defizite, 2006, 284 S„ 34,00 €, ISBN 978-3-8282-0382-2. Band 81: Martin Dietz, Der Arbeitsmarkt in institutionentheoretischer Perspektive, 2006, 314 S., 38,00 €, ISBN13: 978-3-8282-0365-5. Band 80: Gerrit Fey, Banken zwischen Wettbewerb, Selbstkontrolle und staatlicher Regulierung: Eine ordnungsökonomische Analyse, 2006, 332 S., 38,00 €, ISBN 10: 3-8282-0364-7, ISBN13: 978-3-8282-0364-8. Band 79:
DavidNguyen-Thanh, Steuerreformen in Transformationsländern und wirtschaftspolitische Beratung: Eine Fallstudie am Beispiel der Politik des IWF in Kroatien und Bosnien-Herzegowina, 2005, XXIV/287 S., 38,00 €, ISBN 3-8282-0318-3.
Band 78: Helmut Leipold und Dirk Wentzel (Hg.), Ordnungsökonomik als aktuelle Herausforderung, 2005, X/413 S., 36,00 €, ISBN 3-8282-0319-1. Band 77: Werner Pascha und Cornelia Storz (Hg.), Wirkung und Wandel von Institutionen: Das Beispiel Ostasien, 2005, X/287 S., 48,00 €, ISBN 3-8282-0312-4. Band 76: Rolf Hasse und Uwe Vollmer (Hg.), Incentives and Economic Behaviour, 2005, X/134 S., 32,00 €, ISBN 3-8282-0308-6. Band 75: Martin Leschke und Ingo Pies (Hg.), Wissenschaftliche Politikberatung: Theorien, Konzepte, Institutionen, 2005, X/432 S., 38,00 €, ISBN 3-8282-0304-3. Band 74: Thomas Apolte, Rolf Caspers und Paul J.J. Weifens (Hg.), Ordnungsökonomische Grundlagen nationaler und internationaler Wirtschaftspolitik, 2004, X/236 S., 34 €, ISBN 3-8282-0293-4. Band 73: Hubertus Bardt, „Arbeit" versus „Kapital" - Zum Wandel eines klassischen Konflikts, 2003, X/177 S., 32,00 €, ISBN 3-8282-0277-2. Band 72: Dieter Cassel und Paul J.J. Weifens (Hg.), Regionale Integration und Osterweiterung der Europäischen Union, 2003, VIII/543 S., 42,00 €, ISBN 3-8282-0278-0. Band 71: Alfred Schüller und H. Jörg Thieme (Hg.), Ordnungsprobleme der Weltwirtschaft, 2002, VIII/524 S., 42,00 €, ISBN 3-8282-0231-4.
Band 70: Alfred Schüller, Marburger Studien zur Ordnungsökonomik, 2002, X/348 S., 32,00 €, ISBN 3-8282-0221-7. Band 69: Dirk Wentzel, Medien im Systemvergleich, 2002, XVII/268 S., 38,00 €, ISBN 3-8282-0220-9. Band 68: Thomas Apolte und Uwe Vollmer (Hg.), Arbeitsmärkte und soziale Sicherungssysteme unter Reformdruck, 2002,454 S., 36,00 €, ISBN 3-8282-0204-7. Band 67: Dietrich v. Delhaes-Guenther, Karl-Hans Hartwig, Uwe Vollmer (Hg.) Monetäre Institutionenökonomik, 2001, VIII/400 S., 34,50 €, ISBN 3-8282-0194-6. Band 66:
DirckSüß, Privatisierung und öffentliche Finanzen: Zur Politischen Ökonomie der Transformation, 2001, 236 S., 31,00 €, ISBN 3-8282-0193-8.
Band 65: Yvonne Kollmeier, Soziale Mindeststandards in der Europäischen Union im Spannungsfeld von Ökonomie und Politik, 2001, 158 S., 29,00 €, ISBN 3-8282-0179-2. Band 64: Helmut Leipold und Ingo Pies (Hg.), Ordnungstheorie und Ordnungspolitik: Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven, 2000,456 S., 42,00 €, ISBN 3-8282-0145-8. Band 63: Bertram Wiest, Systemtransformation als evolutorischer Prozeß: Wirkungen des Handels auf den Produktionsaufbau am Beispiel der Baltischen Staaten, 2000, 266 S., 34,00 €, ISBN 3-8282-0144-X. Band 62: Rebecca Strätling, Die Aktiengesellschaft in Großbritannien im Wandel der Wirtschaftspolitik: Ein Beitrag zur Pfadabhängigkeit der Unternehmensordnung, 2000, 270 S., 31,00 €, ISBN 3-8282-0128-8. Band 61: Carsten Schittek, Ordnungsstrukturen im europäischen Integrationsprozeß: Ihre Entwicklung bis zum Vertrag von Maastricht, 1999,409 S., 39,00 €, ISBN 3-8282-0108-3. Band 60: Peter Engelhard und Heiko Geue (Hg.), Theorie der Ordnungen: Lehren für das 21. Jahrhundert, 1999, 369 S., 36,00 €, ISBN 3-8282-0107-5.