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German Pages 280 Year 2022
Sonja Heyer Die Kunst der Dauer
Musik und Klangkultur | Band 61
Meinem Bruder Frank Heyer (1959-1995) gewidmet.
Sonja Heyer, geb. 1965, ist Klangkünstlerin und Musikpädagogin. Sie studierte Musik, Ethnologie, Soziologie und Sound Studies, lehrte an der Universität der Künste Berlin im Fachbereich Sound Studies and Sonic Arts und promovierte in Musikwissenschaft bei Dörte Schmidt. Zu den Schwerpunkten ihrer künstlerischen Forschung zählen die interkulturelle Zeitphilosophie und die ästhetischen Manifestationen von Zeit.
Sonja Heyer
Die Kunst der Dauer Transformative Erhabenheit in der zeitgenössischen Musik
Dissertation an der Universität der Künste Berlin, Fakultät Musik (2021). Diese Arbeit wurde durch ein Promotionsstipendium des Evangelischen Studienwerks e.V. Villigst unterstützt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: »opernfraktal/feindtönung«, © Marcus Kaiser Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6498-0 PDF-ISBN 978-3-8394-6498-4 https://doi.org/10.14361/9783839464984 Buchreihen-ISSN: 2703-1004 Buchreihen-eISSN: 2703-1012 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
Einleitung .................................................................................7 Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit ................................................... 43 1.1. Aktuelle Topoi von Erhabenheit und notwendige Abgrenzungen ...................... 43 1.1.1. Immersion und Embodiment .................................................. 44 1.1.2. Generative Kunst.............................................................. 46 1.1.3. Lebenszeitkunst .............................................................. 48 1.2. Zeit: Materie, Material oder Beziehung? ............................................. 48 1.3. Zum Spannungsverhältnis von Kontingenz und Anthropozentrismus: Das Gesamtzeitfeld der künstlerischen Praxis ....................................... 55 1.3.1. Herleitung der transformativen Perspektive: Die klassisch erhabenen Kategorien der Stille und Überzeitlichkeit ............. 62 Kapitel 2: Die Komponistengruppe Wandelweiser als Denk- und Praxisraum experimenteller Musik .................................................................. 67 2.1. Wandelweiser als Denkraum ........................................................ 69 2.2. Cages Verfahren von Entgrenzung als Ausgangspunkt des Denk- und Experimentalraums von Wandelweiser-Komponisten................................. 70 2.3. Wandelweiser als Experimentalraum ................................................ 79 2.3.1. Wandelweiser als Akteure der experimentellen Musikpraxis .................... 83 2.4. Material- und produktionsästhetische Fokussierung: Auswahl der Werkanalysen ...... 92 2.5. Antoine Beuger: Stille als innermusikalische Zerdehnung ............................ 93 2.5.1. Der Denkraum: Grundsätzliche Entscheidungen ................................ 94 2.5.2. Stille, Ereignis und Entgrenzung: philosophische Tiefendimensionen ........... 97 2.5.3.Der Praxisraum: Formanalyse calme étendue (1996) ........................... 103 2.5.4. Zum Verhältnis von Denk- und Praxisraum in calme étendue....................107 2.5.5.Zusammenfassung: Das Komponieren eines prekären Gleichgewichts von Stille und Klang als Kompositionsform bei Antoine Beuger ..109 2.6. Marcus Kaiser: Lebenszeitkunst als überzeitlicher Kompositionsansatz .............. 110 2.6.1. Der Denkraum .................................................................111
2.6.2. Rückbindung der biologischen Modelle an das musikalische Organismus-Modell ............................................................ 116 2.6.3.Der Praxisraum: Zur Material-, Produktions- und Medienästhetik von opernfraktal (2003–) ...................................................... 121 2.6.4. Autorschaft: Konzeptualität und Reflexivität in opernfraktal ................... 134 2.6.5.Zum Verhältnis von Denk- und Praxisraum in opernfraktal ..................... 135 2.6.6.Zusammenfassung: Lebenszeitkunst als überzeitlicher Kompositionsansatz bei Marcus Kaiser ....................................... 138 2.7. Antoine Beuger und Marcus Kaiser: John Cage weiterdenken ........................ 141 Kapitel 3: Transformative Erhabenheit in der zeitgenössischen Musik.................145 3.1. Kontingenz und Überzeitlichkeit als material- und produktionsästhetische Entscheidungen: Zu einem spezifischen Subjekt-Objekt-Verhältnis ...........................................................149 3.2. Musikalische Stille als nicht aufgelöste Spannung zwischen Werkcharakter und Entgrenzung .................................................... 151 3.3. Überzeitlichkeit als nicht aufgelöste Spannung zwischen entgrenzenden Verfahren und begrenzenden Formen ............................... 156 Zusammenfassung Die transformativ-erhabene Zeitbeziehung................................................159
Anhang Komponistengespräche .................................................................167 Partiturauszüge.........................................................................231 Grafiken................................................................................ 249 Literaturverzeichnis ................................................................... 257
Einleitung
Werke der zeitgenössischen Musik und Klangkunst konfrontieren den Rezipienten1 seit einigen Jahrzehnten mit performativen, installativen und konzertanten Spielarten von Überzeitlichkeit. In Halberstadt (Deutschland/Sachsen-Anhalt) wird seit dem Jahr 2000 die Komposition ORGAN²/ASLSP von John Cage auf ortsspezifische Weise aufgeführt.2 Die Initiatoren des John-Cage-Orgel-Kunst-Projektes beabsichtigen, die Klanginstallation bis zum Jahr 2640 fortzuführen.3 Ausgangspunkt hierfür war die von Musikwissenschaftlern, Komponisten, Orgelbauern, Philosophen und Theologen diskutierte Frage, was die Spielanweisung »as slow as possible« (ASLSP) des Stückes ORGAN² für die Aufführungspraxis eines Orgelstückes bedeuten kann.4 Die Aufführung begann schließlich, gemäß der ursprünglichen Komposition um ein Vielfaches zeitlich gedehnt, mit einer achtzehnmonatigen Pause. Mit einer geplanten Aufführungsdauer von 639 Jahren konfrontiert die konkrete ästhetische Situation des John-Cage-Orgel-Kunst-Projektes das an der Länge eines Lebens orientierte menschliche Maß mit einem überzeitlich gedehnten Material. Doch Überzeitlichkeit muss nicht dieses monströse Ausmaß annehmen. Antoine Beuger, niederländischer Komponist und Initiator der Komponistengruppe Wandelweiser, die im Fokus des zweiten Kapitels stehen wird, führte 1997 seine Komposition calme étendue (spinoza), die eine Gesamtdauer von circa einhundertachtzig Stunden besitzt, an sechsundzwanzig aufeinanderfolgenden 1 2
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In der vorliegenden Arbeit inkludiert das generische Maskulinum alle Geschlechter. John Cage: ORGAN²/ASLSP Solo organ, New York (Edition Peters Nr. 67185a) 1987. Cage verfasste die Komposition zunächst für Klavier und arbeitete sie 1987 für Orgel um. In Halberstadt erklingt das Werk mittels speziell angefertigter Orgelpfeifen. Rainer O. Neugebauer und Hans Jörg Bauer: »Die Cage-Orgel – Planen für die Ewigkeit«, in: John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstadt: ORGAN²/ASLSP John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt Halberstadt, 2017, S. 13-14. Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn, Hans-Ola Ericsson, Christoph Bossert, Jakob Ullmann und Karin Gastell entwickelten 1998 während der zweiten Tagung für neue Orgelmusik in Trossingen die Idee des John-Cage-Orgel-Kunst-Projektes, die sich an der Lebensdauer einer Orgel und an der Orgelbaugeschichte von Halberstadt orientiert. Siehe hierzu Sonja Heyer: Zum Raum wird hier die Zeit: Das John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt, 2013, URL: https://www.grin.c om/de/e-book/232165/zum-raum-wird-hier-die-zeit [Abruf: 11.07.2019].
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Die Kunst der Dauer
Tagen täglich sechs bis zehn Stunden lang auf.5 Die Komposition besteht aus allen einsilbigen deutschen Wörtern der Ethik von Baruch de Spinoza – circa vierzigtausend.6 Alle acht Sekunden wird eines davon gesprochen. Phasen des Sprechens werden regelmäßig von unterschiedlich langen Phasen des Schweigens abgelöst. Das Werk beginnt mit einer neunminütigen stillen Phase. Da ästhetische Diskurse immer auf die konkrete Kunst ihres Zeitalters Bezug nehmen, lohnt es sich nachzufragen, woher das Interesse am Überzeitlichen kommt und wie es sich manifestiert. Es ist naheliegend, ästhetische Überzeitlichkeit mit dem Topos der Erhabenheit zu assoziieren, doch für die zeitgenössische Musik wird diese Verknüpfung äußerst selten hergestellt. Dafür mag verantwortlich sein, dass Erhabenheit zumindest in Europa nach ihrer kulturpolitischen Instrumentalisierung während der 30er- und 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts in einem schlechten Ruf stand. Entweder galt sie als metaphysisches Relikt der Vormoderne oder als potenziell faschistoides Relikt einer Selbsterhöhung, die obsolet geworden war. Und doch bleibt die Arbeit an einem neuen, zeitgemäßen Begriff von Erhabenheit in der Ästhetik auch nach dem Zweiten Weltkrieg virulent.7 Dies ist unter anderem der Anregung durch Produktionsweisen in der US-amerikanischen zeitgenössischen Kunst zu verdanken.8 In der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts ersetzen nach dem Zweiten Weltkrieg »Seelenlandschaften« die erhabene Natur.9 So, wie mit dem abstrakten Expressionismus10 die Monochromie11 Einzug hält, die alle vier Register der Burke’schen »Privationen« zieht (Leere, Finsternis, Einsamkeit und Schweigen),12 erfährt das musikalische Material als Kehrseite des Zerfalls der musikalischen Form seit den 50er-Jahren eine Emanzipation.13 Komponisten wie John Cage und Edgard Varèse ist ein Materialverständnis eigen, das all die Charakteristika aufweist, die im 18. Jahrhundert bereits Edmund Burke zu den
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Die Aufführung wurde, angepasst an die Öffnungszeiten, im Museum Schloss Morsbroich (Leverkusen) realisiert. Baruch Spinoza: Die Ethik: Lateinisch und Deutsch, übers. von Jakob Stern, Stuttgart 1977. Brigitte Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 1997, S. 96f. Siehe Barnett Newman: »The Sublime is Now«, in: ders. und John P. O’Neill: Selected Writings and Interviews, New York 1990, S. 170-173. Tracey Bashkoff: »Einleitung«, in: Über das Erhabene: Mark Rothko, Yves Klein, James Turell. Ausstellungskatalog Deutsche Guggenheim Berlin, 7.7.–7.10.2001, New York 2001, S. 17-39 (S. 37). Hal Foster u.a.: Art since 1900: modernism, antimodernism, postmodernism, London 2004, S. 34854. Ebd., S. 439-444. Edmund Burke: Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, Hamburg 1989 (¹1757), S. 107. Burke verfolgt einen gegenstandsanalytischen Ansatz der Herleitung des Erhabenen. Ursache sind sogenannte Privationen, also Entbehrungen. Carl Dahlhaus: Gesammelte Schriften in 10 Bänden, Bd. 8: 20. Jahrhundert: Historik, Ästhetik, Theorie, Oper, Arnold Schönberg, hg. von Hermann Danuser, Laaber 2005.
Einleitung
Ursachen des Erhabenen zählt: Unendlichkeit, Sukzession, Gleichartigkeit, Unvollendetsein und Unterbrechung.14 In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts findet eine Neubelebung und Neudefinition erhabener Kunst statt.15 Am Ende jener Dekade werden global die Grenzen des ökonomischen Wachstums bewusst. Gleichzeitig erfordert die rasante Entwicklung neuer Technologien eine ständige Neujustierung und Erweiterung der menschlichen Wahrnehmung. Transzendenz als Grenzüberschreitung lässt sich nun an verschiedenen künstlerischen und musikalischen Tendenzen ablesen, zu denen neben der Auflösung von Gattungsgrenzen auch die Rückkehr der Vorstellung des Künstlers als Medium gehört.16 Neue Medien externalisieren die menschliche Wahrnehmung und konstituieren eine Realität, zu der sich unsere Sinne verhalten müssen.17 Erhabene Kunst hat von jeher das Grenzenlose aufgerufen. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wartet mit einem widersprüchlichen Szenario auf: Grenzen natürlicher Ressourcen treffen auf die Entgrenzung virtueller, technologischer und künstlerischer Räume. Die Klangkunst als Genre der Entgrenzung zwischen Musik und Bildender Kunst entsteht. In diese Phase fällt global eine auffallend intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Zeit.18 Auch in der zeitgenössischen Kunst und Musik äußert sich auf verschiedenartigste Weise ein besonderes Interesse daran: Fluxus und Perfomancekunst betonen das temporäre und prozesshafte Moment künstlerischer Produktion. Happenings dehnen die ästhetische Zeit auf alltägliche Handlungen aus. John Cage beginnt, mit time brackets zu arbeiten, und entwickelt wegweisende musikalische Konzepte für die Integration von Stille in Kompositionen. In der vorliegenden Arbeit werden Komponisten in 14 15
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Burke, Philosophische Untersuchung, S. 110-122. Siehe María Isabel Peῆa: Ästhetik des Erhabenen: Burke, Kant, Adorno, Lyotard, Wien 1994; Christine Pries (Hg.): Das Erhabene: zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989; Markus Brüderlin: »Avantgarde der Entschleunigung. Bewegung und Ruhe in der Kunst der Moderne von Goethe über Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei«, in: ders. u.a. (Hg.): Die Kunst der Entschleunigung: Bewegung und Ruhe in der Kunst von Caspar David Friedrich bis Ai Weiwei, Ostfildern 2011, S. 14-62. Helga de la Motte-Haber: »Grenzüberschreitung als Sinngebung in der Musik des 20. Jahrhunderts«, in: dies. (Hg.): Musik und Religion, Laaber 1995, S. 215-249 (S. 219/20 und 240ff.) Siehe zum Verhältnis von Erhabenheit und Überwältigung durch akustische Gewalt Dörte Schmidt: »Hörenswerte Explosionen? Reflexion und Realisation akustischer Gewalt in der Neuen Musik seit den 60er Jahren«, in: Nicola Gess, Florian Schreiner und Manuela K. Schulz (Hg.): Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert, Würzburg 2005, S. 165-179 und Helmut Lethen: »Geräusche jenseits des Textarchivs. Ernst Jünger und die Umgehung des Traumas«, in: ebd., S. 33-52. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. Rudolf Wendorff: Zeit und Kultur: Geschichte des Zeitbewusstseins in Europa, Opladen 1985, S. 458/59.
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den Fokus gerückt, die diese Avantgardetradition reflektieren. In expliziter Auseinandersetzung mit dem Topos der musikalischen Zeit entwickeln sie Verfahren, die dazu tendieren, musikalische Formen zu entgrenzen.
Fokussierung der Fragestellung Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Beobachtung zweier musikalischer Zeit-Verfahren in der zeitgenössischen Musik und Klangkunst des 21. Jahrhunderts: zum einen die fortgesetzte Arbeit mit Stille als musikalischer Dauer, zum anderen die besonders in der Klangkunst verbreitete Arbeit mit Langzeitinstallationen, die entweder Loop- oder Prozesscharakter tragen. Der Vergleich beider Verfahren zeigt, dass sie trotz gänzlich unterschiedlicher Anmutung verwandte Qualitäten besitzen: Stille droht den linearen Verlauf der musikalischen Zeit durch Introspektion und Konzentration auf den unbekannten Weitergang auszuhebeln; prozesshafte Verfahren tendieren dazu, die ästhetische Zeit vollends in die Alltagswelt zu entgrenzen. Für die musikalische Zeit bedeuten beide Verfahren Entgrenzung durch Zerdehnung. Ablesbar ist das immer wieder auch auf der Rezeptionsseite: Besucher solcher Art von Aufführungen beschreiben ihre Konfrontation mit Attributen zwischen den Polen Horror Vacui und Griff nach der Ewigkeit – charakteristisch für erhabene Situationen. Doch die vorliegende Arbeit verfolgt kein rezeptionsästhetisches, sondern ein gegenstandsanalytisches und produktionsästhetisches Interesse. Nicht das Subjekt des erhabenen Gefühls19 soll hinterfragt, sondern die Frage gestellt werden: »Wie sind erhabene […] Dinge beschaffen?«20 Dieser Zugang erlaubt, sowohl die Zuschreibungen zum erhabenen Ding diskursanalytisch zu untersuchen als auch die Materialität und Produktion des erhabenen Gegenstands exemplarisch herauszuarbeiten. Hierfür konzentriert sich die Arbeit auf künstlerisch-musikalische Verfahren von überzeitlicher Dauer. Zwei solche Verfahren werden identifiziert und beschrieben: 1) Zerdehnungen der musikalischen Struktur innerhalb eines musikalischen Werkes, die den musikalischen Zusammenhang sprengen, und 2) Werkdauern, die einen Konzertrahmen überschreiten.21
Da beide Verfahren von Komponisten der Gruppe Wandelweiser seit Jahren erprobt, eingesetzt und weiterentwickelt werden, fokussieren die Materialanalysen
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Jean-François Lyotard: Die Analytik des Erhabenen. (Kant-Lektionen, Kritik der Urteilskraft §§ 23–29), München 1994, S. 33. Werner Strube: »Einleitung«, in: Burke, Philosophische Untersuchung, S. 9-32 (S. 9). Keine nähere Betrachtung sollen dabei konzeptkünstlerische Werke erfahren, da an ihnen produktionsästhetische Fragen nicht sinnvoll erörtert werden können.
Einleitung
auf eine Auswahl ihrer Werke. Diese Komponistengruppe steht exemplarisch für eine spezifische zeitgenössische Kompositionspraxis, die seit den 1980er-Jahren beobachtbar ist. Sie zeichnet sich durch Stasis und Klangintrospektion aus, arbeitet mit zeitlichen Ausdehnungen, die das Erfassen eines ganzen Werkes unmöglich machen, und setzt Stille als musikalisches Material ein.22 Ihr Anknüpfungspunkt ist die Cage’sche Idee von Stille als erweiterter Musik.23 Das neue ästhetische Problem, das die vorliegende Arbeit aufgreift, entsteht dort, wo in einer zerdehnten ästhetischen Situation die Zeit selbst zur Akteurin der Situation wird. Ausgangspunkt der hier verfolgten Argumentation ist die musikalische Praxis. In ihr sind innovative Verfahren im Umgang mit Dauern entwickelt worden, die potenziell erhabene Situationen kreieren. Die Musikästhetik hält noch keinen zeitgemäßen Erhabenheitsbegriff für diese neue Praxis bereit. Auffallend ist, dass die Komponisten der Gruppe Wandelweiser selbst nicht von Erhabenheit sprechen, aber unentwegt Werke komponieren, die entsprechende ästhetische Situationen hervorbringen. Die Fokussierung auf Verfahren und Formen verweist bereits auf den hier gewählten material- und produktionsästhetischen Zugang zum Topos Erhabenheit. Dieser weicht vom herkömmlichen rezeptionsästhetischen Zugang in der Ästhetik ab und ist Konsequenz einer Problemidentifikation. Der lange Zeit rezeptionslastige und primär auf die Bildende Kunst beschränkte Erhabenheitsbegriff der Ästhetik hat den Anschluss an die bahnbrechenden Erkenntnisse der Zeitphilosophie und -physik des 20. Jahrhunderts verloren. Wenn aber der philosophische und der physikalische Zeitbegriff im 20. Jahrhundert interdisziplinär diskutiert werden, darf davon ausgegangen werden, dass der musikalische davon nicht unberührt bleibt. Daher bedarf es sowohl einer Analyse der daraus resultierenden Kompositionspraxis als auch einer Analyse des dahinter liegenden zeitphilosophischen und zeitästhetischen Denkraumes. Die Reflexionen der Komponisten ihre Praxis betreffend verweisen auf ein weiteres Problem. Sie werden von einem je eigenen Vokabular bestimmt, das unterschiedlichen Diskursen aus Philosophie, Ästhetik, Biologie und Theologie entlehnt ist, aber auch über eine Fülle von kreativen Neologismen verfügt. Einige Wandelweiser-Komponisten entwickeln seit Jahrzehnten ihre Kompositionspraxis in stetiger Auseinandersetzung mit philosophischen Fragestellungen weiter. Der intrapersonale und gruppeninterne Diskurs um musikästhetische Probleme bietet produktive Anknüpfungspunkte an die Zeitphilosophie, die philosophische Ästhetik
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Rowell untersucht die Produktionsästhetik von Werken des 20. Jahrhunderts, die musikalische Stasis erzeugen. Siehe Lewis Rowell: »Stasis in music«, in: Semiotica 66, H. 1−3 (1987), S. 181-195. Michael Pisaro: WANDELWEISER, https://www.Wandelweiser.de/_texte/erstw-deutsch.ht ml 2009 [Abruf 25.07.2019].
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und die Musikwissenschaft. Er soll mit der vorliegenden Arbeit offengelegt werden, damit er in (musik)ästhetische Diskurse Eingang finden kann. Letztlich sollen die Werkanalysen den analytisch gewonnenen neuen Begriff von Erhabenheit validieren.
Methodische Vorüberlegungen Um die skizzierten Forschungslücken zu schließen, müssen zunächst die entsprechenden Diskurse in der Ästhetik und Philosophie mit dem Ziel eingekreist werden, die kritischen Ansätze in ihnen zu identifizieren. Der erste Diskurs betrifft die Ästhetik. Dass Kants Analytik des Erhabenen24 bis heute der Referenzpunkt für jeden kritischen Zugang zum Erhabenen ist, zeigt sich nicht zuletzt an prominenten Publikationen aus den 1980er- und 1990er-Jahren, die innerhalb des postmodernen Diskurses auf ihn Bezug nehmen.25 Sowohl Lyotard als auch Pries unterziehen Kants Konzept der transzendentalen Vernunft einer erneuten Revision und kommen bezüglich des Subjekts des erhabenen Gefühls zu unterschiedlichen Ergebnissen. Deshalb soll zunächst geprüft werden, in welchem Verhältnis Kant den Menschen zur Natur und zur Zeit sieht, denn schließlich geht es um erhabene Situationen, in denen Zeit Gegenstand von Erhabenheit wird. Kant formuliert eine anthropozentrische Analytik des Erhabenen, die eine spezifische Kritik beinhaltet. Nachdem diese genau bestimmt ist, können Aussagen darüber getroffen werden, ob Lyotards Verneinung des Kant’schen erhabenen Subjekts plausibel erscheint und ob Pries’ Beharren auf dem kritischen Potenzial von Kants transzendentaler Vernunft für den hier verfolgten Erhabenheitsbegriff tragfähig ist. Der zweite Diskurs betrifft die Zeitphilosophie und -physik. Wie bereits angemerkt, werden hier im 20. Jahrhundert Theoreme entwickelt, die nicht nur die menschliche Zeitbeziehung neu deuten, sondern grundsätzlich neue Aussagen zur Erkenntnistheorie treffen. Wenn sich das Denken über die Grenzen der Rationalität verändert, erscheint es plausibel, nach dem Widerhall dieser Grenzverschiebung in der Ästhetik zu fragen. Mit Einsteins Relativitätstheorie beginnt die sogenannte »Grundlagenkrise«26 , die unter anderem das Subjekt der Zeitbeziehung neu bestimmt und die Kant’schen reinen Anschauungsformen infrage stellt. Um den 24 25 26
Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), (im Folgenden = KU) (= Philosophische Bibliothek, Bd. 507), hg. von Heiner F. Klemme, Hamburg (Meiner) 2009, B 74-B 131. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen; Pries, Das Erhabene; Christine Pries: Übergänge ohne Brücken: Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik, Berlin 1995. Der Begriff Grundlagenkrise geht zurück auf Hermann Weyl: »Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik«, in: Mathematische Zeitschrift 10, H. 1/2, 1921, S. 39-79. Diese Krise dokumentieren Milič Čapek: The Concepts of Space and Time: their Structure and their Development, Dordrecht u.a. 1976 sowie Peter C. Aichelburg (Hg.): Zeit im Wandel der Zeit, Braunschweig u.a. 1988.
Einleitung
Brückenschlag zur Ästhetik zu vollziehen, wird untersucht, wie sich diese neuen naturwissenschaftlichen Ansätze in der Existenzphilosophie27 und insbesondere in der Lebensphilosophie28 des 20. Jahrhunderts abbilden, bevor mit Jean Gebser ein lebensphilosophischer Denker vorgestellt wird, dessen Konzept der »Aperspektivität« eine Brücke zwischen Zeitphilosophie, Zeitphysik und Ästhetik schlägt.29 Gebsers Denkfiguren werden ausführlicher vorgestellt, da sie weithin unbekannt geblieben sind und doch produktive Ansätze für den hier entwickelten kritischen Erhabenheitsbegriff bieten. Die identifizierten Fragen verlangen nach unterschiedlichen methodischen Zugriffen. Für die Analyse der Kompositionspraxis empfahl sich eine Unterscheidung in den Denkraum und den Praxisraum des jeweiligen Komponisten. Im Denkraum werden die ideellen Prämissen des Komponisten erörtert. In Vorbereitung darauf wurden umfangreiche qualitative Interviews mit insgesamt vier Wandelweiser-Komponisten geführt.30 Hinzu tritt die Textanalyse ausgewählter konzeptioneller Publikationen von Wandelweiser-Komponisten. Der auf diese Weise skizzierte Denkraum wird dann dem Praxisraum gegenübergestellt, in dem Werkserien form- und verfahrensanalytisch untersucht werden. So soll veranschaulicht werden, inwiefern sich der Ideenraum des Komponierens in der Material- und Produktionsästhetik abbildet. Untersucht wird, welche innovativen musikalischen Zeitverfahren entwickelt und in Serien weiterentwickelt werden. Der Musikwissenschaft sollen so neue Verfahrens- und Formbegriffe für die Analyse zeitkünstlerischer Werke bereitgestellt werden. Der Begriff der Zeitkunst meint Kompositionen und Installationen, die die Zeit selbst zum Sujet erklären und sie ästhetisch erfahrbar machen. Um zu einem zeitgemäßen Erhabenheitsbegriff zu gelangen, soll die Verbindung zwischen Ästhetik und moderner Zeitphilosophie diskursanalytisch hergestellt werden. Die im Fokus der vorliegenden Arbeit stehenden Werke berühren durch ihre Material- und Produktionsästhetik zeitkritische Debatten der Moderne und sogenannten Postmoderne. Hierzu zählt die in der Moderne periodisch wiederkehrende Entschleunigungsdebatte, die im 20. Jahrhundert die Idee der Vermenschlichung der Lebenswelt durch Rückgewinnung von Zeitautonomie als Alternative zur posthumanen Zeitdiktatur entwirft.31 Relevanz besitzt ebenfalls die
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Martin Heidegger: Sein und Zeit, 15. Aufl. Tübingen (Niemeyer) 1979 (¹1927). Henri Bergson: Zeit und Freiheit: Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen, Jena 1911; ders.: Schöpferische Entwicklung, Jena 1921; ders.: Denken und schöpferisches Werden: Aufsätze und Vorträge, Meisenheim am Glan 1948, S. 21-41. Jean Gebser: Ursprung und Gegenwart, Stuttgart 1949/1953. Siehe Anhang: Komponistengespräche. Brüderlin, Avantgarde, S. 19/20; Hartmut Rosa: Beschleunigung: die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 2005; Hartmut Böhme: »Wollen wir in einem posthumanen
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seit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts vollzogene produktionsästhetische Auflösung des Objekts durch Minimal, Anti-Form und Prozesskunst32 sowie die postmoderne philosophische Reflexion dieser Tendenz in den Künsten, die eine Entwicklung vom Material zur Materie postuliert.33 In Anknüpfung an diejenige Tradition des Erhabenheitsbegriffs, die an einem gegenstandsanalytischen Zugang festhält, wird ein neuer, kritischer Erhabenheitsbegriff entwickelt, der dem Forschungsstand der neueren Zeitphilosophie Rechnung trägt und durch eine neue ästhetische Praxis gedeckt ist.
Historischer Begriffsexkurs und aktueller Forschungsstand Wie jeder ästhetische Begriff, so bezieht sich auch das Sprechen vom Erhabenen in der Kunst von jeher auf die jeweilige Epoche und hat sich vielfach gewandelt. Immer jedoch hat das Erhabene eine spezifische Spannung zwischen Anziehungskraft und Verweigerung beinhaltet. Erhabenheit konnte eine Qualität des verwendeten Materials, eine des produzierenden Künstlers oder eine des rezipierenden Bewusstseins sein.34 Erhabene Kunst zeichnet sich grundsätzlich durch eine Attraktion aus, die durch Überwältigung entsteht. Der erhabene Gegenstand kann
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Zeitalter leben? Geschwindigkeit und Verlangsamung in unserer Kultur«, in: Brüderlin u.a., Die Kunst der Entschleunigung, S. 2-8 (S. 2). Lucy Lippard: Six Years: The dematerialization of the art object from 1966 to 1972, New York u.a. 1973. Lyotard konstatiert für die Künste der Moderne eine Entwicklung, die weg vom Formen eines Materials und hin zum Zeigen von Materie verlaufe. Diese immaterielle Materie nennt er Präsenz: »En même temps que décline lʾidée dʾune convenance naturelle entre la matière et la forme, déclin déjà impliqué dans lʾanalyse kantienne du sublime […], lʾenjeu qui est celui des arts, surtout la peinture et la musique, lʾenjeu ne peut alors être que dʾapprocher la matière. Cʾest-à-dire dʾapprocher la présence sans recourir aux moyens de la présentation.« Jean-François Lyotard : Lʾinhumain: Causeries sur le temps, Paris 1988, S. 151. Und weiter: »La matière dont je parle est ›immatérielle‹, an-objectable, parce qu’elle ne peut ›avoir lieu‹ ou occasion quʾau prix de la suspension de ces pouvoirs actifs de lʾesprit.« Ebd., S. 152/53. Der Erhabenheitsbegriff hat seinen Ursprung in der Rhetorik, also der wirkungsvollen Rede, wird aber bereits bei Pseudo-Longinos, einem bis heute nicht identifizierten Autor des 1. Jahrhunderts n. Chr., in seiner Schrift Peri hypsous als Qualität von menschlichem Geist und Material gedacht. Siehe Longinus: Vom Erhabenen, Stuttgart 1988. Das Sprechen vom Erhabenen wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunächst in England durch die Publikation von John Dennis: The advancement and reformation of modern poetry: A critical discourse. In two parts, London 1701 wieder entfacht. Er gilt als der Begründer des sogenannten associationism, einer Theorie der Poesie, die sowohl nach den Ursachen des erhabenen Gefühls wie den erhabenen Objekten fragt. Siehe John Dennis: »The Grounds of Criticism in Poetry«, in: The Select Works of John Dennis, 2 Bde., Bd. 2, London 1718, S. 415-479 (S. 423). Dennis prägte den Begriff vom »(E)nthusiastick terror« (ebd., S. 459). Siehe auch Samuel H. Monk: The Sublime: A Study of Critical Theories in XVIII-Century England, Ann Arbor 1960, S. 45ff.
Einleitung
übermächtig, schrecklich, aber auch heilig sein. In jedem Fall ist er unerreichbar und unbeherrschbar. Erhabenheit entfaltet sich in dieser Diskrepanz zwischen Nähe und Distanz, Schrecken und Schönheit. Der Begriff der Erhabenheit hat eine circa zweitausendjährige Geschichte hinter sich.35 In einer Doppelbewegung lösten sich im 18. Jahrhundert der Begriff des Erhabenen vom Schönen und die Ästhetik von der Moral. Im Mittelpunkt stand nun das Subjekt, seine Wahrnehmungsweisen und wie diese durch Natur beziehungsweise Kunst entstehen. Auch wenn Kants Analytik des Erhabenen36 in seinem eigenen Werk keine prominente Position einnimmt, so bleibt sie doch bis heute ein unhintergehbarer Referenzpunkt der Diskussion um einen zeitgemäßen Erhabenheitsbegriff. Ausschlaggebend dafür ist Kants genaue Analyse der menschlichen Vermögen, die es erlaubt, die Grenzen von Verstand, Vernunft und Urteilskraft zu bestimmen. Dabei haben alle divergierenden Interpretationen der Analytik ihren Ursprung in Kants Vorhaben, eine auf wissenschaftlichen Fundamenten beruhende Metaphysik zu erarbeiten. Metaphysik bedeutet für ihn »die Wissenschaft, von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten«.37 Genau auf dieser Reflexionsebene, in der Vernunft, die die Wahrnehmungslücke des Verstandes angesichts eines übermächtigen ästhetischen Gegenstands füllt, identifiziert Kant das Erhabene.38 »Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist.«39 Hier klingt bereits eine Unentschiedenheit an, die sich bei ihm in Bezug auf das erhabene Objekt, die äußere Natur40 , fortsetzen wird. Einerseits kann es nichts Sinnliches sein, denn in der Natur sind alle Größen und Maße relativ. Erhaben ist also kein Objekt, sondern »die Geistesstimmung durch eine gewisse, die reflektierende Urteilskraft beschäftigende Vorstellung«.41 Andererseits ist das Erhabene »ein Gegenstand (der Natur), dessen Vorstellung das Gemüt bestimmt, sich die Unerreichbarkeit der Natur als Darstellung von Ideen zu denken.«42 Letzteres impliziert zumindest eine gewisse Dynamik im Mensch-Natur-Verhältnis und wird folgerichtig auch das Dynamisch-
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Peer Sporbert: »Bibliographie«, in: Pries 1989, S. 349-383, hat eine umfangreiche Bibliografie des Erhabenheitsdiskurses vorgelegt. KU, B 74-B 131. »Über die von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnitzens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat?« (1791), in: Kant: Werke ins sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3, Darmstadt 1959, S. 587-676 (S. 590). KU, B 74–78. KU, B 84. Die Kunst wird hier gar nicht bedacht, da sie nicht über alle Maße groß bzw. formlos sein kann. KU, B 85. KU, B 115.
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Erhabene genannt.43 Kants Gewichtung des sinnlichen Gegenstands, der das erhabene Gefühl hervorbringt, bleibt unentschieden: Also ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns überlegen zu sein uns bewusst werden können. Alles, was dieses Gefühl in uns erregt, wozu die Macht der Natur gehört, welche unsere Kräfte auffordert, heißt alsdann (obzwar uneigentlich) [sic!] erhaben; […].44 In genau diesem uneigentlichen Status verharren die äußeren Gegenstände. Die Dynamik im Mensch-Natur-Verhältnis wird hingegen eindeutig in das menschliche Vermögen verlegt. Der Mensch kann gegenüber einer übermächtigen Natur ohnmächtig, aber auch überlegen reagieren. Das erhabene Gefühl ist, und das ist Kants wegweisende Setzung, gleich von zwei Leistungen der Vernunft abhängig: Erstens muss die Übermacht des Äußeren als ästhetische wahrgenommen werden; zweitens muss die Vernunft dem sinnlich nicht wahrnehmbaren Maß dieses Äußeren »einen anderen nicht-sinnlichen Maßstab« zur Verfügung stellen.45 Nur so ist dem Menschen beispielsweise eine Vorstellung von Unendlichkeit möglich. Kant gewichtet in seiner Kritik der Urteilskraft die Vernunft so stark, dass er ihr sogar »die Überlegenheit […] über das größte Vermögen der Sinnlichkeit« zuspricht.46 Daran entzündet sich von Beginn an heftige Kritik.47 Die Analytik des Erhabenen bewegt sich im Rahmen des klassischen, im aristotelischen Denken verwurzelten neuzeitlichen Anthropozentrismus.48 Der Mensch definiert Erkenntnisgegenstände;49 die Natur wird zum »Material und Mittel«50 . Doch Kants Vernunftkonzept fügt dem Anthropozentrismus einen kritischen Aspekt hinzu. Zwischen die zu reinen Anschauungsformen erklärten Kategorien von Raum und Zeit und die ästhetische Urteilskraft tritt die Vernunft, die die Grenzen des Verstandes kennt. Erhabenheit mit Kant zu denken, bedeutet, sich dieser Grenzen wie der Möglichkeiten der Vernunft bewusst zu sein. Darin besteht sein kritischer Anthropozentrismus. Besonders Schelling51 und Herder machen sich nach Kant gegen dessen transzendentale Vernunft und für eine Ausformulierung des erhabenen Gegenstands 43 44 45 46 47 48 49 50 51
KU, B 102–109. KU, B 109. KU, B 104. KU, B 97. Hier sei nur auf Herders Kalligone verwiesen, ein fiktives Streitgespräch mit Kant. Johann Gottfried Herder: Kalligone, Weimar 1955. Dieter Lau: Der Mensch als Mittelpunkt der Welt: Zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen des anthropozentrischen Denkens, Aachen 2000, S. 44-52. KrV, B XVI. Yang-Hyun Kim: Kantischer Anthropozentrismus und ökologische Ethik, Münster 1998, S. 57. F. W. J. von Schelling: Schriften zur Philosophie der Kunst, Leipzig 1911.
Einleitung
als ästhetischen und formhaften stark. In einer transzendentalen Vernunft meint Herder eine gefährliche Selbsterhöhung des Menschen zu erkennen.52 Das Erhabene möchte er gebunden an sinnlich fassbare Gegenstände wissen. Die Natur taugt als ein solcher Gegenstand, weil Herder sie, anders als Kant53 , nicht als grenzenund formlos konzipiert, sondern als erkennbares Regelwerk. Natur und Kunst als ihr Abbild kennen deshalb erhabene Formen. Herder führt vier Weisen an, Erhabenheit in der Musik zu erzeugen: 1. Das Maß des Alltags wird plötzlich unterbrochen und durch ein musikimmanentes Maß ersetzt; 2. musikalische Verdichtung fordert die Wahrnehmung aufs Äußerste heraus; 3. Aufschichtungen führen zu Verwirrung; 4. die Auflösung einer Spannung wird hinausgezögert.54 Im 18. Jahrhundert beginnt die bis heute andauernde Zuordnung des Erhabenen zu einem entweder das Subjekt überwältigenden erhabenen Objekt oder zu einem sich über sich selbst beziehungsweise andere(s) erhebenden Subjekt. Je nachdem, welche Position dem Subjekt im Beziehungsdreieck erhabenes Objekt, erhabenes Gefühl und erhabener Geist zugesprochen wird, gerät die ihm äußere oder innere Natur dabei als Gegenstand in den Hinter- oder Vordergrund.55 Diese Zuordnung zeigt an, ob das Erhabene als Qualität eines Gegenstands aufgefasst wird, dem sich der Mensch immer nur annähern kann, oder ob es im Menschen und seiner Erhebung über die Natur, auch seine eigene, gefunden werden kann. Beide Zuordnungen haben bis heute immer wieder Konjunkturen erlebt. Im 20. Jahrhundert erfährt der Erhabenheitsbegriff nach einer fast vollständigen Diskreditierung durch Faschismus und Totalitarismus56 erneut eine Wieder52 53
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Herder, Kalligone, S. 210. KU, B 78: »Aber in dem, was wir an ihr [der Natur – S. H.] erhaben zu nennen pflegen, ist so gar nichts, was auf besondere objektive Prinzipien und diesen gemäße Formen der Natur führte, dass diese vielmehr in ihrem Chaos […] die Ideen des Erhabenen am meisten erregt.« Herder, Kalligone, S. 229-30. Die von Herder angeführten Techniken können als musikästhetische Weiterentwicklungen der »Gedanken- und Ausdrucksfiguren« betrachtet werden, die ursprünglich bereits von (Pseudo-)Longinos als Quellen des Erhabenen benannt werden. Longinus, Vom Erhabenen, §8 und §18-29. Hegel tritt einer radikal subjektiven Ästhetik entgegen. Das Erhabene wird in seiner Ästhetik zur Kategorie einer dialektischen Beziehung zwischen Objekt und Subjekt. Der Ton ist darin »das negativ gesetzte Sinnliche«. Siehe G. W. F. Hegel: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 13: Vorlesungen über die Ästhetik I (Theorie Werkausgabe), neu editierte Ausgabe von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1970, S. 121. Siehe Isolde von Foerster, Christoph Hust, Christoph-Hellmut Mahling (Hg.): Musikforschung, Faschismus, Nationalsozialismus. Referate der Tagung Schloss Elgers, 8. bis 11. März 2000, Mainz 2001. Darin Ludwig Finscher: »Musikwissenschaft und Nationalsozialismus. Bemerkungen zum Stand der Diskussion«, S. 1-7; Birgitta Schmidt: »Die Idee des Nationalstaates und die Instrumentalisierung der Musikwissenschaft vor 1933«, S. 47-64; Eckhard John: »Legendenbildung und kritische Rekonstruktion. Zehn Thesen zur Musikforschung im NS-Staat«, S. 461470. Siehe auch Rainer Kipper: Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 2002; Wolfgang J. Mommsen: »Der Erste Weltkrieg und die europäische Kultur«, in: Christa Brüstle,
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belebung, die bis heute anhält. Nach der »völkischen« Selbsterhebung und dem instrumentellen Erhabenheitskult57 des Faschismus war die Rolle des geschichtlichen, aber auch ästhetischen Subjekts prekär geworden. Symptomatisch dafür rückten in den Künsten nach dem Zweiten Weltkrieg das Material und seine Eigenbeschaffenheit und -logik in den Mittelpunkt. Für die begriffliche Bestimmung des Erhabenen entstand daraus jedoch ein Dilemma, denn die Kategorie der Natur war inzwischen ebenso prekär geworden58 wie die des handlungsmächtigen Subjekts. Dem Erhabenen drohten quasi gleich zwei Konstituenten abhandenzukommen: die Natur als Objekt und das Subjekt als handlungsmächtiges einer ästhetischen Beziehung. Als Sujet von Erhabenheit entfällt Natur damit,59 denn mit ihrer Beherrschung schlägt sie dem Menschen nicht mehr als Fremdes entgegen, sondern ist ein Eigenes. Wie in einem Herbarium werden nun ihre Restbestände gesammelt und archiviert.60 Erst die Infragestellung der instrumentellen Vernunft eröffnet dem Erhabenheitsbegriff nach dem Zweiten Weltkrieg wieder ein kritisches Potenzial. Symptomatisch für die völlig unterschiedlichen Ausgangslagen kommt es dabei im deutschen Sprachraum zu einer anderen Akzentuierung als im angelsächsischen und französischen.61 Wilhelm Weischedel gehört zu den frühen Stimmen, die sich nach
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Guido Heldt und Eckard Weber (Hg.): Von Grenzen und Ländern, Zentren und Rändern: der Erste Weltkrieg und die Verschiebungen in der musikalischen Geographie Europas, Schliengen 2006, S. 19-35. Der Begriff »instrumentelle Erhabenheit« erfolgt hier in Anlehnung an Horkheimers Begriff der instrumentellen Vernunft. Siehe Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft: Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende, Frankfurt a.M. 1967. Symptomatisch dafür ist die andauernde Diskussion um das sogenannte Anthropozän als ein neues, menschengemachtes Zeitalter bzw. die Datierung seines Beginns, die teilweise um Jahrhunderte differiert. Siehe Jürgen Manemann: Kritik des Anthropozäns: Plädoyer für eine neue Humanökologie, Bielefeld 2014; Jens Kersten: Das Anthropozän-Konzept: Kontrakt, Komposition, Konflikt, Baden-Baden 2014. In jedem Fall kennzeichnet der Begriff Anthropozän die Umkehrung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Mensch und Natur zugunsten des Menschen, sodass seitdem von einer grundsätzlich sozial konstituierten Natur ausgegangen wird. Siehe Gernot Böhme: Soziale Naturwissenschaft: Wege zu einer Erweiterung der Ökologie, Frankfurt a.M. 1985. US-amerikanische Künstler des abstrakten Expressionismus, die sich in den 1960er-Jahren explizit mit dem Erhabenen beschäftigen, lehnen folgerichtig den europäischen Formenkanon ab und streben »absolute emotions« an. Siehe Barnett Newman, »The Sublime is Now«, S. 173; Angeli Janhsen: Dies. Hier. Jetzt. Wirklichkeitserfahrungen mit zeitgenössischer Kunst, München 2000. Seit 1972 schließt die UNESCO in das Welterbe auch Landschaften ein, das sog. Weltnaturerbe. Seit 1992 existiert das Programm Weltdokumentenerbe. Pries weist darauf hin, dass es in Deutschland nach der Erfahrung des Faschismus plausible Vorbehalte gegenüber einem wiedererwachenden Erhabenen gab, während andernorts in Auseinandersetzung mit neuesten künstlerischen Strömungen, wie dem abstrakten Expres-
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der faschistischen Diskreditierung des Erhabenen in Deutschland um eine kritische Revision des Begriffs bemühen und zwar in expliziter Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist.62 Er plädiert dafür, dem Nihilismus mit der fortgesetzten Frage entgegenzutreten, wo das Erhabene heute seinen Ort habe. Schließlich sei es »ein Spiegel des Wandels unseres Zeitbewusstseins überhaupt in den letzten zwei Jahrhunderten.« Weischedels zutiefst dialektische Rehabilitierung des Begriffs rückt die produktive Spannung zwischen unendlichem Objekt und endlichem Subjekt, die das Erhabene nach wie vor ausmacht, wieder in den Mittelpunkt. Seine Kritik am Nihilismus ist eine Kritik an einem ins Gegenteil verkehrten Anthropozentrismus. Wenn er den Versuch unternimmt, das durch instrumentelle Vernunft diskreditierte Subjekt philosophischer Erkenntnis, dem der Fortschrittsglaube abhandengekommen und der Weg zurück in die Metaphysik versperrt ist, durch eine Binnendifferenzierung von Nihilismus wiederzugewinnen, dann geht es ihm darum, den prekären Status des Erkenntnissubjekts gerade über die logische Aufrechterhaltung der Möglichkeit des Scheiterns herzuleiten. Das Philosophieren, so Weischedel, ist »als radikales Fragen zwar ein Nihilismus, aber ein offener Nihilismus«63 , und so behält auch das Erhabene nach der faschistischen Instrumentalisierung für ihn sein ambivalentes Potenzial als Gegenstand der Auseinandersetzung mit unsicherem Ausgang.64 Im Zuge des postmodernen Diskurses kommt es schließlich im späten 20. Jahrhundert zu einer erneuten Auseinandersetzung mit der Kant’schen Analytik des Erhabenen in dem Bemühen, sein kritisches Potenzial wiederzuentdecken.65 Überraschenderweise werden dabei zwei Pfade, die das Denken über die Zeit seit
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sionismus, »das Erhabene eher als Grenzerfahrung interpretiert wird, die die Einheitlichkeit des neuzeitlichen Subjekts in Frage stellt und – im Zentrum der modernen Kunst – über ein ›kritisches Potenzial‹ gegenüber dem Gegebenen verfügt, weil sie die ›Darstellung‹ zerbrechen lässt«. Siehe Pries, Übergänge ohne Brücken, S. 36 und Fußnote 179. Siehe auch Claus-E. Bärsch: »Das Erhabene und der Nationalsozialismus«, in Merkur 487/488, 1989, S. 777-790. Wilhelm Weischedel: »Rehabilitation des Erhabenen«, in: Josef Derbolav und Friedhelm Nicolin (Hg.): Erkenntnis und Verantwortung: Festschrift für Theodor Litt, Düsseldorf 1960, S. 335-345. Wilhelm Weischedel: Der Gott der Philosophen: Grundlegung einer philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus, Bd. 2, Darmstadt 1983, S. 164. »Der Nihilismus, wie er unser gegenwärtiges Daseinsgefühl beherrscht, entspringt aus der Freisetzung des negativen Moments aus dem vollen Wesen des Erhabenen. So ist denn auch die Geschichte des Wortes ›erhaben‹ unzulänglich beschrieben, wenn sie bloß als ein Verfall ins Lächerliche gedeutet wird. Sie ist die Geschichte des Verschwindens des einen und des Hervorbrechens des anderen Momentes aus dem Gefüge des Erhabenen. Damit aber ist sie ein Spiegel des Wandels unseres Zeitbewusstseins überhaupt in den letzten zwei Jahrhunderten.« Weischedel: »Rehabilitation des Erhabenen«, in: Derbolav und Nicolin (Hg.): Erkenntnis und Verantwortung, S. 345. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen; Pries, Übergänge ohne Brücken.
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dem 20. Jahrhundert maßgeblich beeinflusst haben und die geeignet sind, die Kant’schen Aporien zu hinterfragen, vernachlässigt. Das betrifft für die Objektseite der Zeit die die Physik revolutionierenden Arbeiten zur Relativitäts- und Quantentheorie und für die Subjektseite der Zeitvorstellung die lebensphilosophischen Arbeiten von Henri Bergson, Jean Gebser und Hans-Georg Gadamer. Dies ist aus zwei Gründen erstaunlich: Zum einen wurde in Theorien des 20. Jahrhunderts zu Raum und Zeit der Versuch unternommen, die Dichotomie von absoluter und subjektiver Zeit aufzubrechen.66 Zum anderen hat es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der theoretischen Physik eine explizite Auseinandersetzung mit der Kant’schen Raum-Zeit-Theorie gegeben, die Raum und Zeit als reine Anschauungsformen hinterfragt.67 Hier kann es nicht darum gehen, die Konsequenzen der Relativitätstheorie für die Gültigkeit der Kant’schen Raum-Zeit-Theorie erschöpfend zu erörtern. Auch Kant scheidet die reinen Anschauungsformen von der Ästhetik. Zeit ist nicht notwendigerweise ästhetische Zeit. Und doch steht Kants transzendentale Ästhetik am Beginn seiner Kritik der reinen Vernunft, da die Raum-Zeit-Theorie alle weiteren Überlegungen fundiert.68 Kants Raum-Zeit-Theorie bleibt auch im 20. Jahrhundert die Hintergrundfolie für die Auseinandersetzung zwischen theoretischer Physik und (Zeit-)Philosophie, nur dass die Naturwissenschaften inzwischen eine gegenüber der Philosophie wie der Theologie autonome Position errungen haben. Die Kant’schen Anschauungsformen werden im 20. Jahrhundert zu umstrittenen Kategorien, mit Folgen für das Erhabene. Wenn naturwissenschaftliche Erkenntnisse das Denken über die Zeit verändert haben, darf vermutet werden, dass auch das ästhetische Denken davon beeinflusst wurde. Deshalb soll hier zunächst dasjenige Feld der Überschneidung von moderner theoretischer Physik, Zeitphilosophie und Ästhetik im 20. Jahrhundert abgesteckt werden, das für die weitergehende Argumentation wichtig ist. Dieses Feld ist ein interdisziplinäres Grenzgebiet, in dem sich Erkenntnistheorie, Naturphilosophie, Naturwissenschaft und Ästhetik begegnen. Es soll nicht umfänglich, sondern entlang der Frage diskutiert werden, wie vor dem Hintergrund einer im 20. und 21. Jahrhundert veränderten Vorstellung
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Höhepunkt der Dichotomisierung sind Ellis McTaggerts A-, B- und C-Reihe, die alle aus einer anthropozentrischen Zentralperspektive möglichen Perspektiven durchspielen und die erwartbaren Widersprüche produzieren. Siehe John McTaggert Ellis McTaggert: »The Unreality of Time«, in: Mind: A Quarterly Review of Psychology and Philosophy 17, 1908, S. 457-474. Albert Einstein: Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie, Braunschweig 1988; Hans Reichenbach: Gesammelte Werke in 9 Bänden, Band 3: Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, Braunschweig u.a. 1979; Hans Driesch: Relativitätstheorie und Philosophie, Karlsruhe 1924. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, (im Folgenden = KrV), ehemalige Kehrbachsche Ausgabe (1924) hg. von Raymund Schmidt, Leipzig 1979, S. 92-124.
Einleitung
von der Zeit das Spannungsverhältnis zwischen Kontingenz und Anthropozentrismus gedacht werden kann. Dabei steht im Mittelpunkt, wie sich der Blick auf die Zeit als Objekt und auf das Subjekt der Zeitbeziehung verändert. Die Kategorie der Zeit wird im 20. Jahrhundert verstärkt zum Diskussionsgegenstand der Wissenschaften.69 Ansätze einer Betrachtungsweise, der Zeit selbst eine schöpferische Dynamik und dem Subjekt das Potenzial von anthropozentrismuskritischen Perspektivwechseln zuzusprechen, finden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl in den Naturwissenschaften als auch in der Philosophie. Die Infragestellung der Objekthaftigkeit der Zeit geschieht zu Beginn des Jahrhunderts durch die Physik. Die Neubewertung des Subjekts der Zeitbeziehung wird im gleichen Zeitraum durch die lebensphilosophischen Arbeiten Henri Bergsons vorangetrieben, die Ende der 40er-Jahre unter anderem durch Jean Gebser aufgegriffen werden. Mit der »Grundlagenkrise« der Physik zu Beginn der 20er-Jahre tut sich ein fundamentaler Bruch mit dem Kant’schen Apriori und den reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit auf.70 Einstein lehnt das Kant’sche Apriori ab und definiert Wahrheit als ein immer wieder neu zu bestimmendes Ordnungssystem, dessen Grundlage nicht ewige Kategorien seien, sondern Plausibilität.71 Dies hat weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis der Naturwissenschaften zur Philosophie, insbesondere zur Erkenntnistheorie.72 Die Eliminierung der Kategorie der Zeit durch ihre vollständige Verräumlichung innerhalb der theoretischen Physik bereitet zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Boden dafür, den Kategorien der reinen Anschauungsformen selbst eine Zeitgebundenheit zuzusprechen. In dieser Temporalisierung des kategorialen Denkens steckt, trotz der Verschiebung des Fokus von der Zeit auf den Raum, ein Beitrag zu einer anthropozentrismuskritischen 69
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Zwischen 1951 und 1979 fanden in Deutschland, den USA und Japan insgesamt 13 internationale und interdisziplinäre Konferenzen zur Zeitproblematik statt. Siehe Wendorff, Zeit und Kultur, S. 458/459. Die Relativitätstheorie beruht auf empirisch gewonnenen Ergebnissen, die der euklidischen Geometrie widersprechen. »Über die Art und Weise, wie wir Begriffe zu bilden und zu verknüpfen haben und wie wir sie den Sinneserlebnissen zuzuordnen haben, lässt sich nach meiner Ansicht a priori nicht das geringste aussagen. Nur der Erfolg bezüglich der Herstellung einer Ordnung der Sinneserlebnisse entscheidet. Die Regeln der Verknüpfungen von Begriffen müssen nur überhaupt festgelegt sein, da sonst Erkenntnis in dem von uns angestrebten Sinne unmöglich wäre. Man hat diese Regeln mit den Regeln eines Spiels verglichen, die an sich willkürlich sind, deren Bestimmtheit aber das Spiel erst möglich macht. Diese Festlegung wird aber niemals eine endgültige sein können, sondern nur für einen ins Auge gefassten Anwendungsbereich Gültigkeit beanspruchen dürfen, d.h. es gibt keine endgültigen Kategorien im Sinne Kants.« Albert Einstein: Aus meinen späten Jahren, Stuttgart 1979, S. 66. Werner B. Sendker: Die so unterschiedlichen Theorien von Raum und Zeit: Der transzendentale Idealismus Kants im Verhältnis zur Relativitätstheorie Einsteins, Osnabrück 2000, S. 121.
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Haltung zur Zeit, weil die Verzeitlichung von Kategorien das kategoriale Denken selbst öffnet: Die Schnittstelle zwischen sinnlicher Anschauung und reiner Vernunft, um mit Kant zu sprechen, wird auf diese Weise eine immer wieder neu zu bestimmende. Alltagsweltlich ermöglichen zu dieser Zeit technische Entwicklungen in bis dato ungekanntem Ausmaß eine immer schnellere Überwindung räumlicher Distanz. Die subjektive Zeitbeziehung muss sich dem anpassen. Die Synchronizität von Abläufen und Handlungen, die räumlich verschiedenen Sphären angehören, wird zur Normalität, besonders in urbanen Zentren. Hier soll zunächst festgehalten werden, dass der Zeitbegriff als Beziehungsbegriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts von naturwissenschaftlicher Seite in direkter Auseinandersetzung mit der Philosophie diskutiert wird. Zudem eröffnen Existenzphilosophie und Lebensphilosophie nach dem Ende des transzendentalen Idealismus73 grundsätzlich unterschiedliche Perspektiven auf Anthropozentrismus und Vernunftkritik. Das Ende absoluter Wahrheiten hinterlässt einen leeren Raum74 , in dem sich der Mensch neu positionieren kann und muss. Für die Philosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollen hier beispielhaft drei Positionen angeführt werden, die die Zeitbeziehung diskutieren: die ontologisch-existenzphilosophische Martin Heideggers, die phänomenologisch-lebensphilosophische Henri Bergsons und die bewusstseinsgeschichtliche Jean Gebsers. Seine Positionen zur Vernunftkritik drückt Heidegger explizit dort aus, wo es um die Endlichkeit beziehungsweise Unendlichkeit der Zeit geht. An dieser Stelle wird auch sein eigenwilliger Brückenschlag zwischen Ontologie und Existenzphilosophie deutlich.75 In welchem Sinne ist ›die Zeit‹ endlos? […] Das Problem kann nicht lauten: wie wird die ›abgeleitete‹ unendliche Zeit, ›in der‹ das Vorhandene entsteht und vergeht, zur ursprünglichen endlichen Zeitlichkeit, sondern wie entspringt aus der endlichen eigentlichen Zeitlichkeit die uneigentliche, und wie zeitigt diese als uneigentliche aus der endlichen eine un-endliche Zeit? Nur weil die ursprüngliche Zeit endlich
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Die Anlehnung der Zeitphilosophie an die Naturwissenschaften nach dem Niedergang des Idealismus bleibt prekär, weil die neuzeitlichen Naturwissenschaften von einer »Elimination der Zeit« sprechen. Siehe Émile Meyerson: Identität und Wirklichkeit, Leipzig 1930, S. 220-240. Fernab einer hier scheinbar anklingenden Metaphorik bleibt die Stofflichkeit des Alls ein ungelöstes Problem der Physik. Sowohl die auch von Einstein noch vertretene Äthertheorie als auch die derzeit noch vertretene Kraftfeld-Theorie kann nicht klären, warum sich Licht durch Vakuum bewegt. So bleibt die Aporie des leeren Raums bis heute bestehen. Siehe Sendker, Die so unterschiedlichen Theorien, S. 96ff. Heidegger, Sein und Zeit, insbes. § 65: »Die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge«, S. 323-331.
Einleitung
ist, kann sich die ›abgeleitete‹ als un-endliche zeitigen. In der Ordnung der verstehenden Erfassung wird die Endlichkeit der Zeit erst dann völlig sichtbar, wenn die ›endlose‹ Zeit herausgestellt ist, um ihr gegenübergestellt zu werden.76 Heideggers ontologische Prämissen sind deutlich: Der Ursprung aller Zeitkategorien befindet sich im Menschen. Da dessen Dasein endlich ist, erscheint Unendlichkeit als bloße Ableitung der Endlichkeit. »Das Zu-Ende-sein des Daseins besagt jedoch existenzial: Sein zum Ende.«77 Heideggers Fokussierung auf die menschliche Endlichkeit impliziert die Abkehr von jeglicher Vorstellung, es könne ein Jenseits geben. Darin steckt ihr emanzipatorisches Potenzial. Alle Dauern sind so gesehen menschliche Dauern und liegen in menschlicher Selbstverantwortung. Vernunftkritik bedeutet hier, dass Unendlichkeit »un-eigentlich« und als bloße Ableitung von Endlichkeit konzipiert wird. Jene wird quasi zu einer Kapriole des Geistes. Die Zeitbeziehung ist somit anthropozentrisch auf eine innersubjektive Auseinandersetzung zwischen Verstand und Vernunft fokussiert. Heideggers existenzphilosophische Wendung ist also gerade durch ihren Anthropozentrismus kritisch. Andererseits überrascht es nicht, dass seine Setzung Anknüpfungspunkte sowohl für metaphysische wie instrumentelle Interpretationen bietet. Ein dynamisches Verständnis von Dauern, wie es für einen anthropozentrismuskritischen Ansatz notwendig ist, lässt sich damit nicht verknüpfen.78 Das interdisziplinäre Feld der Erforschung der Zeitbeziehung wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer weiteren philosophischen Strömung besetzt. Exemplarisch hierfür steht der phänomenologisch-lebensphilosophische Ansatz79 Henri Bergsons, aus dem eine fundamental andere Charakterisierung der Zeitwahrnehmungssituation erwächst, als es die Heidegger’sche existenzphilosophische Perspektive zulässt. Phänomenologisch daran ist, dass alles, was dem Menschen vor-
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Ebd., S. 330/331. Ebd., S. 305. Es muss hinzugefügt werden, dass Heidegger noch in Sein und Zeit seinen ontologischen Ansatz phänomenologisch wendet: »Ontologie ist nur als Phänomenologie möglich.« Heidegger, Sein und Zeit, S. 35. Die Lebensphilosophie besitzt eine Schnittstelle zum sogenannten Vitalismus, der an der Schwelle zum 20. Jahrhundert als antimaterialistische Bewegung gegen die Evolutionstheorie in Biologie und Philosophie entstand. Siehe Hans Driesch: Geschichte des Vitalismus, Leipzig 1922, S. 167ff. Driesch bezeichnet seine eigene Position innerhalb des Vitalismus als Finalismus, d.h. er schreibt der organischen Natur eine aristotelisch gedachte Entelechie und vollkommene Determiniertheit zu, der eine nicht materielle Lebenskraft innewohne (179). Bergson wendet sich mit seinem Begriff élan vital (dt.: Schwungkraft) explizit gegen Drieschs Finalismus und betont: »Gibt es aber nichts Unvermutetes, keine Erfindung und keine Schöpfung im All, dann wird die Zeit zum anderen Mal überflüssig. Auch hier, wie in der mechanistischen Hypothese, wird vorausgesetzt, es sei alles gegeben. So angesehen ist der Finalismus nur ein umgekehrter Mechanismus.« Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 45.
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stellbar ist, Objektcharakter trägt. So ist es möglich, die Zeitbeziehung auch in ihrem Bezug auf die nicht sinnlich erfahrbaren Dimensionen als Beziehung zwischen Subjekt und Objekt zu verstehen. Bergsons Kant-Kritik macht sich an dessen Raum-Zeit-Kategorien fest und wird dann von ihm in Richtung einer grundsätzlichen Vernunftkritik weitergedacht: Ganz im Gegenteil dazu [zu Kant – S. H.] ging aus unserer Analyse hervor, dass wenigstens ein Teil der Wirklichkeit, nämlich unsere Person, in ihrer ursprünglichen Reinheit erfasst werden kann. Hier ist das Material unserer Erkenntnis nicht geschaffen […]. Unsere Person erscheint uns, so wie sie ist, in ihrem ›An-sich‹, sobald wir uns von Denkgewohnheiten freimachen, die wir aus Bequemlichkeit angenommen haben. Aber sollte es nicht ebenso bei anderen Wirklichkeiten sein, vielleicht gar bei jeder? […] (D)ie Konstruktion zwingt sich uns nicht unausweichlich auf, sie rührt von uns selbst her; was wir selbst gemacht haben, können wir auch wieder auflösen, und dann treten wir in direkten Kontakt mit der Wirklichkeit.80 Vernunftkritik schließt bei Bergson zwei Aspekte ein: die Kritik am Festhalten an gewohnten Denkmustern und die Kritik an Denkkategorien selbst, denn die Zeit, so Bergson, wurde zu lange räumlich gedacht und sprachlich gefasst.81 Für die Physik mag es sinnvoll sein, eine Bewegung in zeit-räumlich disparate Punkte zu zerlegen, um sie zu beschreiben. Lebensweltlich ist jedoch eine Bewegung nur sinnvoll in ihrer Gesamtheit zu verstehen. Zeit ist permanente Bewegung, die sich in bestimmten Dauern ausdrückt. Dies vorausgesetzt, können die grundsätzlich unterschiedlichen Qualitäten von Raum und Zeit benannt werden. Zeit, so Bergson, sei nur als »ununterbrochene Dynamik« und »Kontinuität des Übergangs« begreifbar.82 In dieser Emanzipation der Zeit vom Raum steckt ihr Potenzial für die menschliche Zeitbeziehung. Zeit verkörpert nicht nur das schöpferische Prinzip schlechthin; ihre Dauern stellen Formen bereit, die eigenschöpferisch sind. »Die Dauer wird sich als das offenbaren, was sie tatsächlich ist, nämlich fortdauernde Schöpfung, ununterbrochenes Hervorquellen von Neuem.«83 In dieser Weitung des 80 81 82 83
Bergson, Denken und schöpferisches Werden, S. 40. Ebd., S. 24/25. Ebd., S. 27. Ebd., S. 28. Bergson unterscheidet bewegliche Bewusstseinsdauern von starren physikalischen Dauern und erkennt auch in deren Beziehung eine Dynamik: »Wenn wir es [das Universum – S. H.] in seiner Gesamtheit umfassen könnten, als unorganisch, aber durchwoben von organischen Wesen, so würden wir sehen, wie es unaufhörlich ebenso neue, ebenso originelle, ebenso unvorhersehbare Formen annähme wie unsere Bewusstseinszustände.« Ebd., S. 32. Dieser Ansatz wird in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts von der Physik im Zusammenhang mit dem Phänomen der Irreversibilität wieder aufgegriffen. Siehe Ilya Prigogine: Vom Sein zum Werden: Zeit und Komplexität in den Naturwissenschaften, München 1979.
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Begriffs der Dauer als einer zeitimmanenten und nicht nur zeitinhärenten Qualität steckt ein wichtiger anthropozentrismuskritischer Gedanke Bergsons, denn die Beziehung zwischen Mensch und Zeit wird so nicht nur vom Menschen, sondern auch von der Zeit aus dynamisch denkbar. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt eine fruchtbare Zeit der Auseinandersetzung mit zeitphilosophischen Fragen und ihren ästhetischen Konsequenzen dar.84 Ein bislang in der Zeitphilosophie wie in der Ästhetik wenig beachteter Ansatz ist das vom Schweizer Kulturphilosophen Jean Gebser Ende der 40er-Jahre formulierte Konzept der Aperspektivität.85 Gebsers Opus magnum »Ursprung und Gegenwart« thematisiert unter anderem die Konsequenzen der Relativitätstheorie für die Natur- und Geisteswissenschaften und deren erkenntnistheoretische Voraussetzungen. Da es bislang kaum rezipiert wurde,86 für die Zeitbeziehung im 20. Jahrhundert jedoch das neue Konzept der Aperspektivität entwickelt, soll es hier etwas ausführlicher erörtert werden. In »Ursprung und Gegenwart« entwirft Gebser ein kulturphilosophisches Strukturmodell der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins. Er verknüpft die Analyse der materiellen Kultur bestimmter Epochen mit ihrer Geistesgeschichte. Dabei untersucht er die Wechselwirkungen zwischen der jeweils gültigen Raum-Zeit-Theorie, dem naturwissenschaftlichen Wissensstand und ästhetischen Ausdrucksformen.87 Sein Konzept der Aperspektivität thematisiert genau jene Aporie, die sich durch die Dichotomie von absoluter und subjektiver Zeit auftut.
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Siehe zu zeitphilosophischen Debatten der 50er- bis 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts Wendorff, Zeit und Kultur. Zur ästhetischen Wiederbelebung des Erhabenheitsbegriffs durch Adorno und Weischedel in Deutschland siehe Pries, Übergänge ohne Brücken, S. 32-35. Gebser, Ursprung, S. 283-291. Gebser war Schüler von Werner Sombart und war unter anderem mit Picasso und C. G. Jung befreundet. Er verließ Deutschland 1931 und ließ sich nach Aufenthalten in Spanien und Frankreich 1939 in der Schweiz nieder. Gebser begründete keine eigene philosophische Schule. Sein Werk Ursprung und Gegenwart verknüpft in einem historisch weit gespannten Bogen Wissens- und Bewusstseinsgeschichte und wird entsprechend disparat rezipiert. Martin Zenck verweist auf die implizite Nähe der Zeittheorie Bernd Alois Zimmermanns zu Jean Gebser und der Verwendung der Kugelmetapher durch beide: »Es wurde zwar immer wieder darauf hingewiesen, dass Zimmermann die Zeittheorie Jean Gebsers nicht ausdrücklich kannte, vergessen wird dabei aber das entscheidende Argument, dass die Reflexion der Zeit in den Kompositionen Zimmermanns und in seiner Zeittheorie so extensiv erfolgt ist, dass sie sich implizit mit Jean Gebser berühren kann.« Martin Zenck: »Begriff und Gattung der ›Zeitoper‹ in B. A. Zimmermanns Oper Die Soldaten«, in: Ulrich Tadday: Musik-Konzepte, Sonderband Bernd Alois Zimmermann, München 2005, S. 25-40 (S. 39). Gebsers Stufenmodell des Bewusstseins kann hier nicht umfänglich dargestellt werden. Es enthält die Stufen magisch, mythisch, perspektivisch und aperspektivisch. Wesentlich für die vorliegende Arbeit ist der Schritt vom perspektivischen zum aperspektivischen Bewusstsein. Gebser, Ursprung, S. 286/87.
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Aperspektivität versteht Gebser sowohl als eine integrale Bewusstseinsleistung, die im 20. Jahrhundert möglich wird, als auch als eine Eigenschaft künstlerischer Werke, also als material- beziehungsweise produktionsästhetische Qualität. Aperspektivischen Werken eignet die Darstellung von Gleichzeitigkeit und Gleichräumigkeit. Er veranschaulicht das Konzept an Werken des Kubismus.88 An der Herausforderung, die ein kubistisches Werk an den Künstler wie den Rezipienten stellt, lässt sich die Innovation beschreiben, die Aperspektivität für die Analyse der Zeitbeziehung bedeutet. Wesentlich ist, dass Aperspektivität frühere RaumZeit-Konzepte nicht negieren, sondern integrieren will. Dies geschieht, indem Gebser das Neben- und Ineinander verschiedener Räume in einem kubistischen Bild zeitlich deutet. Man könnte einwenden, das Nacheinander des Realen als Nebeneinander in einem Bild sei zunächst eine Notwendigkeit jeder Bildproduktion. Auch ein Vanitas-Stillleben stelle bereits eine Übersetzung von Prozesshaftem in den Augenblick des Bildes dar. Doch der Kubismus sorgt für ein völlig neues ästhetisches Raum-Zeit-Gefüge, da sich seine Werke der Mimesis entziehen.89 Eine kubistische Darstellung zeigt gleichberechtigt und autonom die Räumlichkeit aller Objekte der Bildkomposition. Überlagerungen von opaken Objekten werden durchsichtig, Objekte können einander durchdringen. Diese autonome Eigenräumlichkeit kann von einem Rezipienten nicht auf einen Blick wahrgenommen, sie kann aber in Gänze dargestellt werden. In dieser Verknüpfung liegt materialund produktionsästhetisch die Integrationsleistung eines aperspektivischen Werkes.90 Produktionsseitig bedingt Aperspektivität die Fähigkeit des permanenten Perspektivwechsels. Um die autonome Eigenräumlichkeit der Körper in einem Bild wie Three Women (P. Picasso, 1908)91 in ihrer ganzen Vielfalt zu erfassen, müssen die Bewegungen eines jeden von ihnen aus seiner eigenen Dynamik heraus verstanden und nachvollzogen werden. Die Darstellung auf diesem Bild widerspricht der euklidischen Geometrie. Mimetisch können die vielfältigen Dynamiken – 88 89 90
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Gebser, Ursprung, S. 38ff. Foster u.a.: Art since 1900, S. 84. »In dieser ersten Periode des Kubismus führte Picasso die Gegenstandsformen auf ihre kubischen Entsprechungsformen zurück […] und ließ das Objekt noch erkennbar sein. […] (d)er Körper sollte, in seiner flächenhaften Grundform erfasst, als ein im Raum Befindliches erfasst werden. In der zweiten Periode wurde dann das Naturbild völlig aufgelöst. Die durch die wechselnden Gesichtspunkte in immer neuer Weise erhaschten kubischen Formen […] wurden nun so zusammengefügt, dass die Illusion eines in einem unendlichen Raum sich vollziehenden dynamischen Vorganges entsteht. […] Wer die Unendlichkeit des Raumes versichtbaren will, muss gleichsam die Zeit als vierte Dimension mitmalen. Er muss zeigen, wie jeder Sehakt ein jetzt auf diese, dann auf jene Weise erhaschtes Raumbild über das jeweils vorherige Raumbild schichtet.« Thomas Herzog: Einführung in die moderne Kunst, Zürich 1948, S. 151/52. Gebser, Ursprung, S. 509, bezieht sich in seiner Charakterisierung des Kubismus als künstlerische Ausdrucksform von Aperspektivität unter anderem auf Herzog. Abgebildet in: Foster u.a., Art since 1900, S. 83.
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Bewegungen von Körperteilen, die ein lebender Organismus nicht zulassen würde; Überlagerungen von Körpern; Synthese neuer Körper aus disparaten Teilen anderer Körper etc. – nicht dargestellt werden. Gebser entwickelt für die integrale Bewusstseinsstruktur, die für die Produktion und Rezeption eines solchen Werkes notwendig ist, das Symbol einer sich bewegenden, durchsichtigen Kugel.92 Mit diesem Symbol nimmt er das Im-Werk-Sein des ästhetischen Subjekts in der späteren Installationskunst voraus. Für die Material- und Produktionsästhetik des Erhabenen ist dieses Symbol interessant, weil es den Anthropozentrismus des ästhetischen Prozesses infrage stellt, denn indem Gebser die ästhetische Situation als Feld unterschiedlicher Zeitbeziehungen versteht, durch das sich die durchsichtige Kugel des ästhetischen Subjekts hindurchbewegt, zeigt er, dass das Feld selbst aus mehr als einer Subjekt-Objekt-Beziehung besteht. Es besteht gleichrangig aus nicht-subjektiven und subjektiven Dynamiken. Aperspektivität bedeutet also die Integration qualitativ unterschiedlicher Raum-Zeit-Beziehungen in einer Darstellung beziehungsweise Anschauung. Die Produktion von Werken, in denen Objekte sich auf paradoxe Weise begegnen, provoziert in der Anschauung eben jene Lücke zwischen Verstand und Vernunft, eine Aporie, wie sie Kant bereits für seine Raum-Zeit-Theorie anführt. Epistemisch betrachtet haben Aporien jedoch nur Bestand, solange sich der Mensch in seiner Verfasstheit als unveränderlich begreift. Gebser begreift Aporien selbst als temporäre Phänomene. Mit dem Gebser’schen Symbol der sich bewegenden, durchsichtigen Kugel gesprochen, bedeutet dies: Eine ruhende Holzkugel könnte keine Aperspektivität herstellen. Begreift sich der schaffende wie der rezipierende Mensch aber als ein beweglicher und beziehungsfähiger Teil in einem Werk mit Eigendynamiken, kann das erkennende Subjekt immer wieder neue Positionen einnehmen.93 Gebsers Kugelsymbol geht dabei über das Konzept der »Kugelgestalt der Zeit« bei Bernd Alois Zimmermann hinaus.94 Zimmermanns Vorstellung einer 92 93
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Gebser, Ursprung, S. 122, 368ff. Die Eigenschaft der Durchsichtigkeit, bei Gebser Diaphanik genannt, ist als Symbol so zu verstehen, dass nur durch durchsichtige Elemente hindurch andere Elemente Beziehung zueinander aufnehmen können. Siehe Gebser, Ursprung, S. 160f. Zu B. A. Zimmermann siehe Carl Dahlhaus: »›Kugelgestalt der Zeit‹: Zu Bernd Alois Zimmermanns Musikphilosophie«, in: Musik und Bildung. Zeitschrift für Musikerziehung 10 (1978), S. 633-636. Wilfried Gruhn arbeitet die Anschlussfähigkeit von Zimmermanns »Kugelgestalt der Zeit« an Gebsers »integrale(s) Bewusstsein« heraus: »Sein Symbol der Kugel für die aperspektivische Wahrnehmung des ganzen Bezugs steht in völligem Einklang mit Zimmermanns kugelgestaltiger Zeit. […] In vieler Hinsicht wäre es daher zutreffender und klarer, den Begriff des ›Pluralismus‹ durch den der ›Integration‹ zu ersetzen und statt von ›pluralistischer‹ von ›integraler‹ Komposition zu sprechen, in der die Vielfalt der sich wechselseitig durchdringenden Musik- und Zeitschichten aufgehoben ist.« Siehe Wilfried Gruhn: »Integrale Komposition. Zu Bernd Alois Zimmermanns Pluralismus-Begriff«, in: Archiv für Musikwissenschaft, 40. Jg., H.4, S. 287-302, Wiesbaden (S. 295/296).
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musikalischen Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer Einheit verschmelzen und Zeitlinearität aufgehoben wird, weist eine Übereinstimmung mit Gebsers Konzept der Aperspektivität als Wahrnehmungsqualität auf. Doch die Stellung des Subjekts bleibt bei Zimmermann eine anthropozentrische,95 während bei Gebser die Kugel »der (durch die Zeit!) gekrümmte Raum«96 selbst ist, in dem der Mensch sich nicht mehr zentral setzt. Gebsers Konzept hat zur Konsequenz, das Kant’sche Apriori als eine mögliche menschliche Perspektive mit einer Eigenzeit denken zu können. Aperspektivität ist deshalb auch keine Negation des Apriori, sondern dessen Integration in ein Bewusstsein, das gelernt hat, subjektive Dauern in Beziehung zu anderen Dauern und diese wiederum in Beziehung zur Kontinuität zu setzen. Gebser schließt damit an Einsteins und Reichenbachs Kritik am Kant’schen Apriori an. Der Physiker und Philosoph Hans Reichenbach (1891–1953), Schüler von Albert Einstein, bezweifelt die Logik des Kant’schen Apriori und dessen Vereinbarkeit mit der Relativitätstheorie, da es induktiv vorgehe und Erfahrungen, die ihm widersprächen, ausschließe. Die Physik, so Reichenbach, sei ein widerspruchsvolles System, und »die Relativitätstheorie hat den Nachweis erbracht, dass mit dem evidenten System der Vernunft eine eindeutige Ordnung der Erfahrung nicht mehr möglich ist. Aber während die Relativitätstheorie daraus den Schluss gezogen hat, dass man die konstitutiven Prinzipien ändern muss, glaubte Kant, dass damit jede Erkenntnis überhaupt aufhören würde«.97 Das Konzept der Aperspektivität denkt die Relativitätstheorie, die die Verschmelzung von Raum und Zeit postuliert hat, auf eine originelle Weise weiter und gesteht der Zeit die eigentlich integrierende Kraft gegenüber dem Raum zu.98 Gebser sieht in Bergson einen Wegbereiter für sein eigenes Konzept der Aperspektivität und sucht dessen Dualismus von physischer und psychischer Zeit99 zu überwinden. Sein Verständnis eines dialektischen Verhältnisses von Augenblick und Ewigkeit – der Augenblick wird zur Ewigkeit, indem er das schöpferische Prinzip der Zeit, das
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»Der Zuschauer sitzt im Zentrum einer Kugel, rund um ihn herum die Zeit, ein Kontinuum, was er gerade betrachtet, ist von seinem Blickwinkel abhängig.« Bernd Alois Zimmermann zitiert in: Heinz Josef Herbort: »Kugelgestaltige Zeit«, in: Musica 1 (1969), S. 5-7 (S. 5). Gebser, Ursprung, S. 370. Hans Reichenbach: »Widerlegung der Kantischen Vorausschauung durch die Relativitätstheorie«, in: Gesammelte Werke in 9 Bänden, Bd. 3: Die philosophische Bedeutung der Relativitätstheorie, Braunschweig (1979), S. 251-262 (S. 261). Gebser, Ursprung, S. 380. Ebd., S. 198 und 438. Bergson unterscheidet Dauer (durée) von Zeit (temps) und postuliert: »Die Zeit ist Zeugung oder sie ist schlechthin nichts.« Bergson, Schöpferische Entwicklung, S. 344.
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ewige Werden, zeigt100 – schließt direkt an Bergson an. Sein Begriff »Zeitfreiheit« bezeichnet das Erkennen aller Realisationsformen der Zeit, auch der nichtanthropologischen.101 Aperspektivität ist für Gebser eine produktionsästhetische Qualität und eine integrale Bewusstseinsleistung. Sie ist eine Möglichkeit aller Zeitbeziehungen. Mit diesem Konzept denkt er das Schöpferische der Zeit mit dem Schöpferischen des Subjekts der Zeitbeziehung zusammen. Die menschliche Zentralperspektive wird im Rahmen einer ästhetischen Situation auf ein Beziehungsfeld aus Künstler und Werk geweitet. Darin steckt seine Anthropozentrismuskritik.102 Ursprung und Gegenwart kann als frühes postmodernes Werk verstanden werden. Es schließt an phänomenologisch-lebensphilosophische Positionen der Vorkriegszeit an und entwickelt sie in Abgrenzung zu existenzialistischen und nihilistischen Tendenzen der Vor- und Nachkriegszeit103 produktiv weiter. Gebser stellt Ende der 1940er-Jahre bereits Konzepte bereit, die zwar vom postmodernen Diskurs später nicht explizit aufgegriffen werden, zu diesem jedoch eine Brücke schlagen.104 Insbesondere hinsichtlich seiner Vernunftkritik kann Gebser als früher postmoderner Denker gelten. Sein Konzept des integralen Bewusstseins ist keines geschichtlicher Epochen, die der Mensch hinter sich zurücklässt (wie bei den Postmetaphysikern und Modernisten), sondern eines von Vernunft-Fähigkeiten, die erhalten und integriert werden. Wie zu zeigen sein wird, entwirft er damit eine Anthropozentrismuskritik, die einem kritischen Begriff von Erhabenheit produktivere Konzepte bereitstellt als der später einsetzende postmoderne Diskurs.105 Welsch betont, der Streit um die Postmoderne sei »ein Streit um die Vernunft«.106 So ist es nur folgerichtig, wenn Lyotard nach seiner Analyse postmoderner Wissensformen107 das Kant’sche Erhabene einer kritischen Revision unterzieht. Auch er hinterfragt das Erkenntnissubjekt anhand seiner Zeitbe-
100 Gebser, Ursprung, S. 39. 101 Gebser, Ursprung, S. 300/301. 102 Gebser, S. 39, betont den Inklusionscharakter des Begriffs der Aperspektivität. Aperspektivität negiert nicht Perspektivität, sondern integriert sie. 103 Ebd., S. 525, 543. Ursprung und Gegenwart wurde 1932 konzipiert, Teil 1 1947/48, Teil 2 1951/52 geschrieben und 1964/65 ergänzt. 104 Siehe das Konzept der transversalen Vernunft bei Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Berlin 2002, S. 295ff. 105 Das Konzept der Aperspektivität ist darüber hinaus anschlussfähig an buddhistische Zeitkonzepte, die im Abschnitt »Zusammenfassung: Die transformativ-erhabene Zeitbeziehung« diskutiert werden. 106 Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S. 274. 107 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen: Ein Bericht, Wien 2015.
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ziehung. Seine »Plaudereien über die Zeit«108 entzünden sich am Augenblick, dessen Präsenz vom Menschen nicht erfasst und beherrscht werden könne und der deshalb absolut gedacht werden müsse.109 Nicht die »Ewigkeit« genannte kontinuierliche Zeit ist hier also das absolut Gesetzte, sondern die Gegenwart, das Jetzt. Damit steht Lyotard in einer Denktradition, die seit Platon110 und bis zu Kierkegaard111 den Augenblick wahlweise als Berührung von Punkt und Prozess, Kontinuität und Dauer beziehungsweise von Ewigkeit und Zeitlichkeit betrachtet. Dieser Augenblick entzieht sich dem menschlichen Zugriff beziehungsweise kann erst später synthetisiert werden. Die Position des menschlichen Bewusstseins bündelt Lyotard im Begriff der »Zwischenmonade«.112 Er diagnostiziert für die menschliche Zeitsynthese von Augenblicken Grenzen des Maximalen und Minimalen. Augenblicke nennt er »Informationen«. Die maximale Grenze sei die der absoluten Zeit, die minimale verortet er in der modernen Teilchenphysik. Doch an diesen Grenzen werde gerüttelt. Die menschliche Synthesefähigkeit gegenüber der absoluten Zeit sei, so Lyotard, eine des »noch nicht«.113 Er spricht dem menschlichen Geist in der Zeitbeziehung ein spezifisches Potenzial zu und entwickelt zwei kontroverse Denkfiguren. Zum einen gebe es das gänzlich Andere, dem Menschen Unzugängliche, das ihm stets vorausgehe und ihm als Ereignis zustoße. Der Mensch könne weder eine Zeugenschaft für das Ereignis dieses Anderen beanspruchen, noch könne er es beweisen.114 Gleichzeitig dürfe er ein Denken sein eigen nennen, das empfänglich für Alterität sei. Diese Einheit aus Empfänglichkeit und Unverfügbarkeit treffe auf die Zeitbeziehung zu. »Nur die Fähigkeit, das zu empfangen, was zu denken das Denken nicht vorbereitet ist, verdient, Denken genannt zu werden. […] Wenn Denken tatsächlich darin besteht, Ereignisse zu empfangen, dann kann man nicht beanspruchen zu denken, ohne sich ipso facto in einer Position des Widerstandes gegenüber dem Prozess der Zeitkontrolle zu befinden.«115
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Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989. Lyotard: »Zeit heute«, in: ebd., S. 107-139 (S. 108/109). Platon: Parmenides, Philebos, ins Deutsche übertragen von Otto Kiefer, Jena 1920. Søren Kierkegaard: Der Augenblick, Jena 1923. Lyotard, »Zeit heute«, S. 110/111. »Wenn Gottes Retention vollständig sein soll, so deshalb, weil sie auch die Informationen einschließt, die so unvollständigen Monaden wie unserem Geist noch nicht gegenwärtig sind, aber aus dem, was wir Zukunft nennen, noch hervorgehen sollen.« Lyotard, »Zeit heute«, S. 110. »Das, was sich erinnert oder sich etwas merkt, ist nicht ein Vermögen des Geistes, es ist nicht einmal die Zugänglichkeit für das, was geschieht. Sondern im Ereignis erscheint ›von Zeit zu Zeit‹ die unfassbare und unleugbare ›Präsenz‹ von etwas, das anders ist als der Geist […].« Ebd., S. 135. Ebd., S. 133.
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Hier soll zunächst festgehalten werden, dass Lyotard das Kant’sche Apriori nicht infrage stellt, epistemologisch jedoch das Denken des Nicht-Denkbaren nicht ausschließen will. Er nennt dies die »grundsätzliche Empfänglichkeit des Selbst für eine rekursive Alterität«.116 Diese von ihm »Empfänglichkeit« genannte Haltung hatte Einstein bereits zu Beginn des Jahrhunderts für die Physik gefordert. Gebser drückt sie in seinem Terminus der integralen Bewusstseinsstruktur nicht als Hoffnung, sondern als reales Potenzial aus. Der epistemologischen Lücke zwischen Anschauungsformen und Begriffen bleibt Lyotard im Weiteren mit seiner Analytik des Erhabenen auf der Spur. Seine Auseinandersetzung mit dem Kant’schen Erhabenen mündet in die Absage an die Kant’sche Deduktion des »Subjekts des erhabenen Gefühls«.117 Da das Erhabene formlos sei, könne es im Subjekt auch nicht synthetisiert werden: »Es scheint unzweifelhaft, dass die grundlegendsten Bedingungen (die Synthesen der Zeit) für die Synthese eines Selbst hier ausfallen.«118 Folgerichtig müsse eine Analytik des Erhabenen eine »negative Ästhetik« sein, denn sie werde nicht von der Natur, sondern von einer das Denken übersteigenden Präsenz geweckt. »Kritisch gesehen bleibt sie ein Rätsel«.119 Interessant ist nun, wie Lyotard Vernunftkritik formuliert. Der »Spasmus« des Denkens, das durch das Erhabene an seine Grenzen geführt werde, sei der »›Zustand‹ des kritischen Denkens«.120 Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Charakterisierung des Denkens als Zustand seine eigene Grenze mit sich führt. Ein Denken, das an eine unüberschreitbare Grenze stößt und dann dort verweilt, teilt die Welt in Absolutes und Relationales. Lyotards Vernunftkritik geht hier nicht über das hinaus, was schon Kant postuliert hat. Sie mündet in Kants intelligiblen Gegenständen.121 Lyotard vollzieht also eine Kant-kritische Denkbewegung, um dann zu Kant zurückzukehren. Einerseits weist er Kants erhabenes Subjekt zurück, andererseits schließt er sich dessen Postulierung einer unüberschreitbaren Grenze zwischen Absolutem und Relationalem an. Wenn sich an diesem »Zustand« etwas ändern soll, kann es nicht vom Subjekt, sondern nur vom Gegenstand der Zeitbeziehung herrühren. Folgerichtig unterscheidet Lyotard das moderne vom postmodernen Darstellbaren:122
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Ebd., S. 109. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, S. 33. Kant hatte das Erhabene im Formlosen und der menschlichen Urteilskraft Zweckwidrigen verortet. Siehe KU, B 76. 118 Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, S. 34. 119 Ebd., S. 67. 120 Ebd., S. 70. 121 Ebd. S. 257; siehe KrV, A 538, A 565. 122 Jean-François Lyotard: »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?«, in: ders.: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–1985, Wien 1987, S. 11-31 (S. 29).
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Die Differenz ist also folgende: Die moderne Ästhetik ist eine Ästhetik des Erhabenen, bleibt aber als solche nostalgisch. Sie vermag das Nicht-Darstellbare nur als abwesenden Inhalt anzuführen, während die Form dank ihrer Erkennbarkeit dem Leser oder Betrachter weiterhin Trost gewährt und Anlass von Lust ist. Diese Gefühle aber bilden nicht das wirkliche Gefühl des Erhabenen, in dem Lust und Unlust aufs innerste miteinander verschränkt sind: Die Lust, dass die Vernunft jegliche Darstellung übersteigt, der Schmerz, dass Einbildungskraft und Sinnlichkeit dem Begriff nicht zu entsprechen vermögen. Das Postmoderne wäre dasjenige, das im Modernen in der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares anspielt; das sich dem Trost der guten Formen verweigert, dem Konsensus eines Geschmacks, der ermöglicht, die Sehnsucht nach dem Unmöglichen gemeinsam zu empfinden und zu teilen; das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt, jedoch nicht, um sich an deren Genuss zu verzehren, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen, dass es ein Undarstellbares gibt. In gewisser Weise stellt Lyotards Denken an dieser Stelle selbst das einer Zwischenmonade dar. Die Fähigkeiten des Subjekts enden demnach an den klassischen Grenzen des Undarstellbaren. Gleichzeitig werden postmoderne Kompetenzen entwickelt, die jedoch offenbar nur noch die innersubjektive Plausibilität benötigen.123 Dazwischen scheint es keine Brücke zu geben. Während Lyotards Vernunftkritik sich fast in Deckungsgleichheit mit Kant befindet, wird das an anderer Stelle von ihm postulierte »noch nicht« des menschlichen Geistes nicht kritisch ausgeführt.124 Lyotards Anthropozentrismuskritik ist der Versuch einer Vernunftkritik, die Zuflucht in der Negativität der Darstellung nimmt. Natürlich befindet er sich mit dieser Position an einer historisch anderen Stelle als Gebser. Sein Erhabenheitsbegriff begegnet den positivistischen wie den instrumentellen Träumen der Moderne an den Grenzen ihres Wachstums mit postmoderner Unversöhnlichkeit und Undarstellbarkeit.125 Damit fällt er jedoch hinter den mit der Gebser’schen Aperspektivität gewonnenen Denkraum zurück. Gebser denkt die Zeit123
Postmodernes Wissen setzt sich zusammen aus »Ideen vom Machen-Können (savoir-faire), Leben-Können (savoir-vivre), Hören-Können (savoir-écouter) usw. […] Es handelt sich also um eine Kompetenz, die über die Bestimmung und Anwendung des einzigen Wahrheitskriteriums hinausgeht und sich auf jene der Kriterien von Effizienz (technische Qualifikation), Gerechtigkeit und/oder Glück (ethische Weisheit), klanglicher und chromatischer Schönheit (auditive und visuelle Sensibilität) usw. ausdehnt. So verstanden ist das Wissen das, was jemanden befähigt, ›gute‹ denotative Aussagen hervorzubringen, aber auch ›gute‹ präskriptive, evaluierende usw.« Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 62. 124 Lyotard, »Zeit heute«, S. 110. 125 »Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, dass es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann. […] Das 19. und 20. Jahrhundert haben uns das ganze Ausmaß dieses Terrors erfahren lassen. Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen, nach der Versöhnung
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beziehung unter Einbeziehung ihrer Aporien als die Ganzheit einer dynamischen Beziehung.126 Bei Lyotard bleibt Ganzheit ein undynamisches Schreckgespenst der Moderne, ein bloßes Resultat von Instrumentalität oder Metaphysik. Der Brückenschlag zwischen Subjekt und intelligiblen Gegenständen kann so nicht gelingen und die Dichotomie zwischen subjektiver und physischer Zeit, zwischen Dauer und Kontinuität, wird wieder manifestiert.127 Lyotard weitet also den bei Kant auf das Subjekt verengten Erhabenheitsbegriff wieder in Richtung Gegenstand einer Subjekt-Objekt-Beziehung. Die Vernunftkritik hingegen wird von ihm nicht ausgearbeitet. Christine Pries greift die in Kants Analytik des Erhabenen vorhandene Ambivalenz zwischen Metaphysik, Moral und kritischer Vernunft auf, um das darin enthaltene kritische Moment aufzuwerten. Die Rezeptionsgeschichte des Kant’schen Erhabenen, so Pries, sei eine Geschichte der »Vereindeutigung« zugunsten des metaphysisch Erhabenen, die Kant nicht gerecht werde.128 Pries geht es darum, einen vom metaphysisch Erhabenen unterschiedenen Begriff des kritisch Erhabenen von Kant herzuleiten und diesen als Ausgangspunkt eines zeitgemäßen kritischen Erhabenheitsbegriffs für die Künste heranzuziehen: Die kritische Lesart des Erhabenen stellt die in diesem Gefühl implizierte Negativität in den Vordergrund. Das Erhabene ist ihr nicht Zeichen einer moralischen und metaphysischen Er- bzw. Überhebung des Subjekts, sondern Ausdruck einer Grenzerfahrung. Im Gegensatz zur bisherigen Rezeption, die annahm, dass mit dem Erhabenen, um es mit Vischer zu sagen, die ›Grenze […] verschwinde‹129 , möchte ich behaupten, dass das Erhabene die Grenze zum Übersinnlichen zeigt. Es ist diese Grenze.130 Pries’ Ansatz ist aus zwei Gründen für die vorliegende Arbeit interessant. Zum einen zeigt sie auf, warum im 20. Jahrhundert der Erhabenheitsbegriff angesichts einer Kunst, die »die Wahrnehmungsfähigkeit des Rezipienten übersteigt oder unterläuft«131 , nach kritischer Aktualisierung verlangt.132 Zum anderen beschreibe
von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt.« Lyotard, »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?«, S. 30. 126 Gebser, Ursprung, S. 39. 127 Welsch zeigt auf, wie Lyotards »Heterogenität der Sprachspiele« keineswegs nur die Erfahrung des Partikularen bedeutet, sondern ebenso die »Offenhaltung des Ganzen«. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S. 246. 128 Pries, Übergänge ohne Brücken, S. 14. 129 Pries bezieht sich hier auf Friedrich Theodor Vischer: Über das Erhabene und Komische und andere Schriften zur Ästhetik, hg. von Willi Oelmüller, Frankfurt. a. M. 1967. 130 Pries, Übergänge ohne Brücken, S. 38. 131 Ebd., S. 39. 132 Siehe hierzu insb. Pries, Das Erhabene.
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Kants Vernunftkonzept gerade im erhabenen Gefühl ein Grenzgebiet, in dem Verstand und Vernunft gleichzeitig nebeneinander existieren: Erhabenes und Kritik stehen bei Kant in enger Wechselbeziehung. Der kritische Richter lässt sich bei der kritischen Grenzziehung selbst von erhabenen (Grenz)Gefühlen leiten. Das Erhabene ist das kritische Gefühl par excellence, das nicht nur ›das Gegebene‹ (und Kants eigene – und zwar auch die transzendentale – Ästhetik) hinterfragt, sondern zeigt, wie der kritische Richter auf die ihm eigene (im kantischen Sinne) dialektische Weise seine Maßstäbe gewinnt, wobei nicht zuletzt die Gefahr eines Rückfalls in die dogmatische Metaphysik offenkundig wird. Die Fronten in der derzeitigen Diskussion um das Erhabene scheiden sich an der Frage, ob Kant hier Kritiker geblieben oder zum Metaphysiker geworden ist.133 Für einen zeitgemäßen kritischen Erhabenheitsbegriff postuliert Pries die Notwendigkeit des Beharrens auf einer Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Metaphysik. Der Übergang zwischen beidem »ist keine materiale Brücke über den Abgrund, sondern ein Perspektivwechsel (und zwar nur) im Bewusstsein dieses Abgrunds. […] Man könnte vielleicht sagen, dass mit dem Kritisch-Erhabenen das Unendliche als unbestimmter Horizont, als Ebene der Möglichkeit selbst, in die endliche Welt hineingeholt und eine immanente Metaphysik, wenn man das denn noch so nennen will, betrieben wird.«134 Pries interpretiert den Kant’schen Vernunftbegriff als Begriff eines permanenten Übergangs und macht seinen kritischen Anthropozentrismus gegen seine moralische Rezeptionsgeschichte stark. Den von Lyotard als Zustand bezeichneten Punkt des Verweilens des Denkens vor der Aporie wendet Gadamer ins Dynamische.135 Er entwickelt seinen Gedankengang in Absetzung von der Heidegger’schen Existenzphilosophie, indem er das Sein der Zeit als dialektisches Vergehen und Werden begreift.136 Im Zusammenwirken dieser Qualitäten verbirgt sich die eigenschöpferische Kraft der Zeit, wie sie Gebser und Bergson bereits betont haben. Wichtig für die Charakterisierung der menschlichen Zeitbeziehung werden bei Gadamer die Denkfiguren der organischen Zeit und des Übergangs. Die organische Zeit gilt ihm, in Anlehnung an Plotin und Schelling, als menschengemachte Zeit der Dauer, als Zeit, die ein Alter entwickelt. Ihr stehen die Zyklen der Natur gegenüber. Deren ewige Wiederkehr 133 134 135 136
Pries, Übergänge ohne Brücken, S. 40. Ebd., S. 177, 195. Hans-Georg Gadamer: »Über leere und erfüllte Zeit«, in: Walther Ch. Zimmerli und Mike Sandbothe (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993, S. 281-297. »Aber ist es wirklich die Zeit, die da erfahren und als beschränkender Widerstand erfahren wird, und nicht eher das in der Zeit Erstrebte, das sich als unerreichbar entzieht? Was ist die Zeit selbst für eine Realität, gegenüber dem, was man sich von ihr und in ihr erwartet? Was ist das überhaupt für ein Seiendes, bei dem man immer nur vom Vergehen spricht und nicht vom Entstehen?« Ebd., S. 285.
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bezeichnet Gadamer als »dauernde Gegenwart«. In Anlehnung an Plotin verkörpern sie für ihn ein Bewegungsprinzip, aus dem der Mensch »Lebensgewissheit«137 schöpfen könne. Zwischen diesem Bewegungsprinzip und den realen Dauern gibt es immer noch eine Lücke, aber es gibt auch den Übergang zwischen ihnen, dem eine Dialektik innewohnt.138 Der Übergang impliziert Kontingenz. Dauer und subjektive Handlungsmacht sind in ihm nicht festgelegt. Da der Zeit selbst das Bewegungsprinzip des Übergangs immanent ist, können Dauern und Handlungen immer wieder neu in sie eingeschrieben werden. Gadamers Charakterisierung der Zeit ist somit eine grundsätzlich beziehungshafte, die die subjektive Handlungsmacht in Relation zum schöpferischen Bewegungsprinzip der Zeit setzt. Das ist anschlussfähig an die Bergson’sche Definition der Dauer und das integrale Bewusstsein bei Gebser. Gadamer öffnet die anthropozentristische Zeitbeziehung hin zu einem Beziehungsfeld. Dieses Feld inkludiert das der Zeit immanente Bewegungsprinzip und menschengemachte Dauern. Zwischen ihnen herrscht eine kontingente Beziehung. Wie gezeigt werden sollte, entzünden sich am Topos der Zeit sowohl in der (Zeit-)Philosophie als auch in der Ästhetik zwei Diskussionsstränge; der eine thematisiert die Fähigkeiten und Grenzen der Vernunft sowie die Temporalität menschlicher Kategorien, der andere das Wesen der Dauer. Das Kant’sche Erhabene entfaltet sich an der Schnittstelle von Sinnlichkeit und Metaphysik. Dazwischen tritt die Vernunft als innersubjektive Vermittlerin. Zeit und Erhabenheit werden zu rein innersubjektiven Qualitäten. Im Konzept der Vernunft, ihrer Fähigkeit, die Spannung zwischen dem Erfahrbaren und dem Vorstellbaren aufrechtzuerhalten, drückt sich Kants kritischer Anthropozentrismus aus. Bergson hingegen – und an ihn später anknüpfend Gebser und Gadamer – erklären die Zeit zu einer eigenschöpferischen Kraft. Dies geschieht durchaus mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Gemein ist ihnen, dass sie die Zeitbeziehung nicht als exklusiv innersubjektiv, sondern relational zu einem dynamischen Außen konzipieren und diesem Außen, den Dauern, eine Eigendynamik zusprechen.
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Ebd., S. 289. Gadamer weiter: »Dieser Aion ist wie eine Zeit vor der Verzeitlichung, vor der Negativität des Einen und des Anderen und vor dem Fortgang vom Einen zum Anderen, und ist mit und in der Lebensgewissheit als solche erfahrbar. […] Diese Analyse des Aion beschreibt offenbar die Zeitstruktur dessen, was in aller Veränderung und Artikulation von Lebensphasen als ein und dasselbe bleibt, nämlich die Lebendigkeit.« S. 291. Gadamer nimmt hier Bezug auf die Empedokles-Figur bei Hölderlin und spricht dem Übergang eine spezifische Qualität zu: »Aber nicht die Zwiegesichtigkeit, die ›Übergang‹ für den Deuter hat, sondern die reale Unentschiedenheit und offene Unendlichkeit des Geschehens selber ist das, was das ›Reifen‹ der Zeit ausmacht. […] Nicht, dass der Übergang zugleich Vergehen und Werden ist, ist die Auszeichnung des Übergangs, sondern dass das Neue eben dadurch wird, dass das Alte in seiner Auflösung erinnert wird.« Ebd., S. 293/94.
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Die Vorstellung einer eigenschöpferischen Zeit besitzt für die hier zu erörternde Frage, wie durch das Komponieren überzeitlicher, kontingenter Dauern eine kritische Situation von Erhabenheit geschaffen werden kann, durchaus Plausibilität. Schließlich verweist ein musikalisches Werk während solcher Dauern auf etwas außerhalb seiner selbst Liegendes. Das Einbrechen von Kontingenz verlangt deshalb nach einer Neubestimmung der erhabenen Beziehung. Erhabenheit war seit dem 18. Jahrhundert eine Wirkungskategorie. Nun wird sie zu einer Produktionskategorie. Doch von wem wird Zeit »produziert«, wenn nicht vom Menschen? Die lebensphilosophischen Arbeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschieben den Fokus vom Subjekt der Zeitbeziehung auf die Beziehung selbst. Ihr Charakter ist die Kontinuität der Veränderung, und diese geschieht, auch wenn das Subjekt nicht handelt. Veränderung ist hier also das Bewegungsprinzip der Zeit selbst. Auch wenn Bergson und Gebser nicht davon sprechen, dass die Zeit selbst handle, so ebnet die Denkfigur einer eigenschöpferischen Zeit doch den Weg zu einer Perspektivverschiebung: Auch die nicht-subjektive Zeit kann produktiv sein und produktiv gemacht werden. Ein solches Verständnis ist anschlussfähig sowohl an die soziologische AkteurNetzwerk-Theorie als auch an die philosophische Theorie des kritischen Posthumanismus. Beide sollen hier kurz in Bezug auf ihre Konzepte von Subjektivität und Subjekt-Objekt-Beziehungen diskutiert werden, um herauszuarbeiten, inwiefern ein kritischer Erhabenheitsbegriff sich bestimmter Begrifflichkeiten aus diesen Theorien bedienen kann beziehungsweise wie sie für die Musikästhetik produktiv gemacht werden können. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) wurde in den 1980er Jahren innerhalb der Techniksoziologie entwickelt. Ein Gegenstand dieser soziologischen Subdisziplin war und ist die Innovationsforschung, die das Potenzial smarter Maschinen und innovativer Strukturen netzwerkartiger Forschercommunitys untersucht. Auf unterschiedliche Weise fokussieren beide Forschungsstränge die Mensch-MaschineBeziehung als sich selbst verstärkenden Referenzrahmen. Über die theoretische Fundierung der Akteur-Netzwerk-Theorie gibt es eine anhaltende Diskussion.139 Wichtig für die vorliegende Arbeit sind zwei Setzungen der ANT. Erstens: Natur und Technik bilden gemeinsam mit dem Menschen ein Netzwerk und werden deshalb als »soziale Akteure«140 verstanden. Zweitens: Beziehungen sind daher zwi139
Bruno Latour, einer der Begründer der ANT (Akteur-Netzwerk-Theorie), äußert sich widersprüchlich: »Sie ist aber auch […] eine Methode, nicht eine Theorie«. Siehe Bruno Latour: »Über den Rückruf der ANT«, in: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 561-572 (S. 567). Siehe auch Ates Gürpinar: Von Kittler zu Latour: Beziehung von Mensch und Technik in Theorien der Medienwissenschaft (= Massenmedien und Kommunikation 189), Siegen 2012. 140 Belliger und Krieger, »Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie«, in: dies. (Hg.): ANThology, S. 13-50 (S. 15).
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schen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren denkbar. Kommunikation wird von Vertretern der ANT nicht mehr allein vom Subjekt her gedacht, sondern als ein System »zirkulierender Referenz«141 . Handlungen gehen nach diesem Verständnis von jedem Akteur aus, sie sind nicht mehr an ein intentionales Subjekt gebunden. Alles, was sich aufeinander bezieht, handelt. Es ist mehr als eine Anekdote, wenn einer der prominentesten Vertreter der ANT, Bruno Latour, diesen Ansatz an Louis Pasteurs Entdeckung der Milchsäurefermentierung erläutert. Pasteur kann diese Entdeckung 1857 nur deshalb gelingen, weil die Milchsäure zwischen seinen experimentellen Schritten etwas tut. Sie entwickelt sich. Latour gelangt über die scheinbar rhetorische Frage, was das Milchsäureferment wohl machte, bevor Pasteur es entdeckte, zur »Geschichtlichkeit der Dinge«142 . Etwas hat sich verändert und dies reicht als Indiz dafür, dass auch den Dingen ein Bewegungsprinzip und eine Zeitlichkeit innewohnt. Dabei benötigt die ANT keine Subjektivierung der handelnden Dinge. Die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt wird nicht durch die Subjektivierung der Objekte aufgehoben, sondern durch die Fokussierung auf die Handlungen aller Beteiligten im Netzwerk. Wichtig hierfür ist der Begriff der Referenz: »Jede Veränderung in der Serie von Transformationen, die die Referenz bildet, wird einen Unterschied ausmachen, und Unterschiede sind alles, was wir zunächst brauchen, um eine lebhafte Geschichtlichkeit in Bewegung zu setzen«143 . Dieser Fokus auf Beziehungen, die nicht aus der Substanzialität und Subjekthaftigkeit der Akteure, sondern aus dem Sich-aufeinander-Beziehen von Entitäten144 entstehen, macht die ANT interessant für einen anthropozentrismuskritischen Erhabenheitsbegriff. Schließlich geht es darum, was in stillen oder überzeitlichen musikalischen Dauern eigentlich passieren soll. Worauf kann sich die Hoffnung der Komponisten richten, etwas möge sich in diesen Dauern ereignen, auf das sie keinen Zugriff haben? Dabei muss noch einmal betont werden, dass mit dem Vokabular der ANT nicht die Zeit selbst zu einem Akteur erklärt werden soll, sondern die nicht-menschlichen Zeitbeziehungen. Wie zu zeigen sein wird, gehört zu Letzteren die Beziehung zwischen Klang und Stille. Dieser Akteurstatus gilt für die Außenbeziehungen aller zeitlichen Entitäten zueinander. Jede Entität, das heißt jeder Akteur, wird selbst als heterogenes Netzwerk gedacht. In einem Akteur-Netzwerk kommunizieren also nicht Menschen mit handelnden Maschinen, sondern es handeln Akteure, denen Subjektives, Natürliches oder Maschinenhaftes eignet. Die jeweiligen Eigenschaften treten im Prozess
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Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt a.M. 2002, S. 36. Latour, Die Hoffnung der Pandora, S. 181. Ebd. Latour benutzt wechselweise die Begriffe »Akteur«, »Aktant« und »Entität« synonym. Ebd., S. 145, 372.
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des Handelns hervor und sind nicht substanziell. Im Sinne der ANT kann jeder Akteur selbst als »fraktal(e)«145 Entität aufgefasst werden. Die Konzeption des Fraktalen macht die Theorie ein weiteres Mal interessant für einen kritischen Erhabenheitsbegriff, denn so kann jede zeitliche Entität als heterogen verstanden werden. Der Substanzialisierung von Klang und Stille sowie von Kontinuität und Dauer als Entitäten kann so entgangen werden. Handelnde Subjekte sind also Entitäten mit heterogenen Anteilen. Ob die kontingente ästhetische Situation einer musikalischen Stille mit den Begriffen der ANT hinreichend beschrieben werden kann, soll in der vorliegenden Arbeit geprüft werden. Posthumanismus und Transhumanismus bilden gegenwärtig eine noch nicht überschaubare, im Entstehen begriffene philosophische Theorienlandschaft, deren Denkfiguren sich gegenseitig befruchten. Beide Strömungen teilen eine Anthropozentrismuskritik, die zu unterschiedlichen Konsequenzen führt. »Der Transhumanismus (TH) will den Menschen weiterentwickeln, optimieren, modifizieren und verbessern.«146 Dabei soll künstliche Intelligenz die menschlichen Defizite ausgleichen. Als ein solches Defizit wird unter anderem auch die Endlichkeit betrachtet.147 Während Vertreter des Transhumanismus den Menschen tendenziell überwinden wollen, geht es den Posthumanisten darum, »die tradierten, zumeist humanistischen Dichotomien wie etwa Frau/Mann, Natur/Kultur oder Subjekt/Objekt« zu hinterfragen.148 Die posthumanistische Theorie erfährt gegenwärtig eine Binnendifferenzierung. Thematisiert werden soll hier deshalb nur diejenige theoretische Strömung, deren Vision nicht in der Überwindung des Menschen besteht, denn für die ästhetische Situation ist die Existenz des Menschen unverzichtbar. Dieser Posthumanismus im Sinne einer Kritik des humanistischen Weltbildes und einer Akzeptanz nicht-menschlicher Alteritäten wird von Stefan Herbrechter »kritischer Posthumanismus« genannt.149 Prominente Vertreterinnen dieser Theorieströmung sind unter anderen Rosi Braidotti150 und Karen Barad151 .
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Belliger und Krieger bezeichnen die ANT selbst als ein »fraktales Modell, denn Netzwerke bestehen aus Akteuren, die sich selbst aus heterogenen Elementen zusammensetzen, d.h. Netzwerke sind. Es gibt keine einfachen Letztelemente – weder auf der Seite des Sozialen noch auf der Seite der Natur und der Materie. Wirklichkeit ist hybrid.« Belliger und Krieger, Einführung, S. 43. Janina Loh: Trans- und Posthumanismus zur Einführung, Hamburg 2018, S. 11. »Der Tod ist aus transhumanistischer Sicht eine Obszönität, Altern ist eine Krankheit […].« Ebd., S. 42. Ebd., S. 11. Stefan Herbrechter: Posthumanismus: Eine kritische Einführung, Darmstadt 2009. Rosi Braidotti: Posthumanismus: Leben jenseits des Menschen, Frankfurt a.M. und New York 2014. Karen Barad: Agentieller Realismus, Berlin 2012.
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Braidotti versteht sich nicht als Antihumanistin, sondern als Humanismuskritikerin.152 Es geht ihr darum, eine »posthumane Subjektivität« zu konzipieren.153 In Abgrenzung zum Transhumanismus geht es dabei nicht um eine Überwindung des Menschen, sondern ganz im Gegenteil um »eine Erweiterung des Begriffs des Lebens hin zum nicht-menschlichen Leben«, das heißt um eine »Gemeinschaft zwischen Subjekten menschlicher und nicht-menschlicher Art« als »materielle(r) Realität«.154 Braidotti dehnt mit ihrer Denkfigur der Zoé Subjekthaftigkeit und Relationalität auf »alle nicht-anthropomorphen Elemente« aus.155 Anschlussfähig an die Diskussion der Zeitbeziehungen einer ästhetischen Situation sind dabei zwei Aspekte: Das Braidotti’sche, kritisch-posthumane Subjekt ist eine »dynamische(n), nicht-einheitliche(n) Entität« und in einem ständigen »Werden« begriffen.156 Es wird zu einer »transversalen Beziehungseinheit«.157 Im Unterschied zu einem anthropozentrischen Subjekt hat das kritisch-posthumane Subjekt also gelernt, sich als Teil einer Gemeinschaft aus Subjekten menschlicher und nicht-menschlicher Art zu verstehen. Die Verwandtschaft dieses Ansatzes zur ANT besteht in der Postulierung der Handlungsfähigkeit und Relationalität nicht-menschlicher Entitäten.158 Die Behauptung der Subjekthaftigkeit nicht-menschlicher Entitäten unterscheidet ihn von der ANT. Für das hier verhandelte Thema der Erhabenheit ist dieses kritisch-posthumane Subjekt interessant, weil es, wie der Akteur der ANT, auch im Fall einer nichtmenschlichen Entität Relationalität und Handeln zugesprochen bekommt. Aber Braidotti geht darüber hinaus und denkt Posthumanismus weiter für den Begriff der Zeit selbst als »komplexes, nicht-lineares System […], fragmentiert und vervielfältigt durch unterschiedliche Zeitsequenzen, […] befreit von chronologischer Linearität und logozentrischer Gravitationskraft«159 . An dieser Stelle ist Braidottis Zeitkonzept implizit anschlussfähig an Jean Gebsers Konzept der Aperspektivität. Beiden eignet die Betonung des Werdens statt des Seins. Alle Elemente von Zeitbeziehungen entstehen im Handeln, das heißt im Aufeinander-Bezug-Nehmen.
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Braidotti, Posthumanismus, S. 42/43. Ebd., S. 8. Ebd., S. 54/55. Ebd., S. 65. Ebd., S. 167. Ebd., S. 170. Siehe dazu auch den Begriff der transversalen Vernunft bei Welsch, Unsere postmoderne Moderne, S. 295ff. Karen Barad bezeichnet diese nicht-menschlichen Entitäten als »intraagierende ›Agentien‹ (agencies)«. Barad, Agentieller Realismus, S. 19. Braidotti, Posthumanismus, S. 170.
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Karen Barad geht in ihrer agentiell-realistischen Ontologie so weit, diese reine Handlungsstruktur zunächst auf die Materie selbst160 und dann auf die Zeit auszuweiten161 . Das heißt, nicht-menschliche Entitäten können durch ihr AufeinanderBezogen-Sein Zeit hervorbringen, und diese Beziehung ist eine reine Vollzugsqualität. Während die ANT also den Akteurbegriff in den Mittelpunkt stellt, fokussiert die philosophische Theorie des kritischen Posthumanismus das noch basalere Problem des Bewegungsprinzips der Zeit selbst. Die dahinterstehende Frage lautet: Wie können sich Zeitbeziehungen entwickeln, wenn nicht nur subjektiv gehandelt wird? Dies berührt die Frage, warum sich in Dauern musikalischer Stille überhaupt etwas ereignen können soll. Braidotti und Barad stellen mit ihren posthumanistischen Ansätzen Denkfiguren und Begriffe bereit, deren Eignung für die Entwicklung eines kritischen Erhabenheitsbegriffs überprüft werden soll.
Zum Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit verfolgt einen miteinander verschränkten historischen und systematischen Zugriff. Im ersten Kapitel werden zunächst aktuelle Topoi von Erhabenheit vorgestellt, die die Zeitbeziehung thematisieren. Dabei wird deutlich, dass zeitkünstlerische Arbeiten das Verhältnis zwischen Autorschaft, musikalischer Materialbewältigung und Produktionsästhetik neu beantworten müssen, denn im Umgang mit der Zeit stellt sich die Frage: Ist sie Materie, Material und/oder Beziehung? (1.2.) Diese ästhetisch immer wieder neu zu beantwortende Frage thematisiert das Spannungsverhältnis zwischen Kontingenz und Anthropozentrismus (1.3.). Das zeigt sich besonders im Umgang mit musikalischer Stille und Überzeitlichkeit. Sie zählen zu den klassischen Kategorien von Erhabenheit. An ihnen wird eine neue, transformativ genannte Perspektive für den Erhabenheitsbegriff entwickelt. Das zweite Kapitel stellt die Komponistengruppe Wandelweiser als Protagonisten der zeitgenössischen experimentellen Musik vor. Da sich ihr Wirken explizit in der Tradition John Cages verortet, werden wichtige Verfahren von (zeitlicher)
160 »Die Welt wird nicht von Dingen bevölkert, die sich mehr oder weniger voneinander unterscheiden. Beziehungen hängen nicht von ihren Relata ab, sondern umgekehrt. […] Materie ist ein Agens und kein festes Wesen oder eine Eigenschaft von Dingen.« Barad, Agentieller Realismus, S. 14/15. 161 »Dieser fortlaufende Fluss von Tätigkeiten, durch den ein Teil der Welt sich auf unterschiedliche Weise einem anderen Teil der Welt zu erkennen gibt und durch den kausale Strukturen stabilisiert und destabilisiert werden, findet nicht in Raum und Zeit statt, sondern ereignet sich in der Herstellung der Raumzeit selbst. […] Materie ist immer schon permanente Geschichtlichkeit.« Barad, Agentieller Realismus, S. 21, 39.
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Entgrenzung bei Cage vorgestellt (2.2.). Anhand einer historischen und systematischen Analyse der Konzertreihe KLANGRAUM wird gezeigt, wie die Komponistengruppe einen Praxisraum entwickelt hat, in dem das Cage’sche Erbe weitergedacht und -entwickelt wird (2.3.). In Abschnitt 2.5. wird der Denk- und Praxisraum des Komponisten Antoine Beuger (*1955) diskutiert. Beuger ist nicht nur Mitbegründer der Komponistengruppe Wandelweiser. Seine Kompositionspraxis, aber auch sein musikästhetisches Denken kreisen um das Thema Zeit und um das Verhältnis von Kontinuum und kompositorischem Schnitt. Beuger hat sich in programmatischen Schriften mit der Bedeutung des Cage’schen Erbes für seine Kompositionspraxis auseinandergesetzt und in drei ausführlichen Gesprächen mit der Autorin dazu Stellung genommen. Anhand einer Formanalyse seiner Werkserie calme étendue (1996) wird herausgearbeitet, wie sich seine Haltung zum Umgang mit der musikalischen Zeit auch durch die Rezeption philosophischer Schriften verändert hat. Beugers Kompositionsansatz und -praxis werden hier ausgewählt, weil in ihnen eine besondere Reflexionstiefe bezüglich des Verhältnisses von Klang und Stille zum Vorschein kommt. Abschnitt 2.6. thematisiert den Denk- und Praxisraum des Komponisten Marcus Kaiser (*1967). Sein Denkraum wird von biologischen und ökologischen Ideen und Metaphern beherrscht, die er auf kreative Weise in komplexe musikalische Installationen übersetzt. Hier bot sich die Möglichkeit, das innovative und mitunter synkretistische Vokabular seines Denkens in den musikwissenschaftlichen Begriffskanon zu übersetzen und es somit anschlussfähig an weiterreichende ästhetische Diskurse zu machen. Marcus Kaiser steht mit seiner Werkserie opernfraktal (2003–) für die »Lebenszeitkunst« genannte Verschmelzung von ästhetischer und Lebenszeit. Im dritten Kapitel werden der systematische Zugriff des ersten und die Analyse produktionsästhetischer Verfahren des zweiten Kapitels zusammengeführt, um den transformativen Erhabenheitsbegriff auszuarbeiten. Stille und Überzeitlichkeit, im ersten Kapitel eingeführt als klassische Kategorien erhabener Situationen, können durch die Formanalysen des zweiten Kapitels validiert und als spezifische Spannungsverhältnisse charakterisiert werden: musikalische Stille als nicht aufgelöste Spannung zwischen Werkcharakter und Entgrenzung (3.2.), Überzeitlichkeit als nicht aufgelöste Spannung zwischen entgrenzenden Verfahren und begrenzenden Formen (3.3.). Voraussetzung des transformativen Erhabenheitsbegriffs ist die genaue Analyse des sogenannten Gesamtzeitfeldes aller Zeitbeziehungen einer ästhetischen Situation, das nicht-menschliche Zeitbeziehungen inkludiert. Transformative Erhabenheit, so die These, ist eine spezifisch anthropozentrismuskritische Erhabenheit. Die transformativ-erhabene Zeitbeziehung ist ein andauerndes Spannungsverhältnis, dessen Akteure sich permanent wandeln und neue Zeitperspektiven ermöglichen.
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Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
1.1. Aktuelle Topoi von Erhabenheit und notwendige Abgrenzungen Das ästhetische Sprechen über Phänomene von Entgrenzung in zeitkünstlerischen Werken bedient sich oft einer Begrifflichkeit, die diversen Feldern der (experimentellen) Kunst entnommen und nur bei genauem Hinsehen dem Erhabenheitsdiskurs zuzuordnen ist. Dazu zählen Immersion und Embodiment in der virtuellen Realität und Klangkunst, Verfahren und Formen generativer Kunst wie Permutation und Sonifikation, biorhythmische Verfahren und nicht zuletzt Kunst, die die Lebensspanne eines Menschen teilweise oder gänzlich zur Werkform erklärt. Letztere soll hier »Lebenszeitkunst« genannt werden. Auch im Zusammenhang mit Popmusik wird das Erhabene bemüht, soll hier jedoch nicht weiterführend thematisiert werden.1 Um zu klären, welche spezifischen Formen von Entgrenzung die vorliegende Arbeit als Voraussetzungen kritischer Erhabenheit herausarbeiten wird, müssen daher zunächst einige Abgrenzungen zu assoziationsreichen Metaphern vollzogen werden, die den Erhabenheitsdiskurs zwar aufrufen, ihn jedoch nur scheinbar oder nur teilweise betreffen.2 Dies ist nicht nur für die Schärfung des hier zu entwi-
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Erhabenheit wird produktionsästhetisch in der Popmusik unter anderem im Zusammenhang mit dem Starkult diskutiert, der einen Mythos erzeugen soll. Dieser Mythos behauptet ein vollkommenes Bei-sich-Sein durch Selbststilisierung. Des Weiteren taucht der Erhabenheitsbegriff im Zusammenhang mit Drone Music auf, die durch den Einsatz besonders tiefer Bässe den Eindruck von Stasis erweckt. Siehe Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik, Köln 2014, S. 142 und 322, 323. Weder Selbststilisierung noch innermusikalisch behauptete Stasis rücken die Beziehung zur Zeit selbst in den Mittelpunkt, um den es in der vorliegenden Arbeit geht. Dazu gehören Metaphern von Überzeitlichkeit, wie »ständige Gegenwart« bei B. A. Zimmermann oder »gefrorene Zeit« bei G. Ligeti. Vgl. hierzu: Eva-Maria Houben: Die Aufhebung der Zeit: Zur Utopie unbegrenzter Gegenwart in der Musik des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1992, S. 31, 33. Das jährlich in Berlin stattfindende Musikfestival MärzMusik firmiert seit dem Jahr 2015 unter dem Namen Festival für Zeitfragen. 2017 schloss es mit dem dreißigstündigen Konzert »The Long Now«. Ziel, so die Kuratoren, war »ein Ort der andauernden Gegenwart. Ein Raum, in dem sich die Zeit selbst entfalten und das Zeitgefühl sich verlieren kann.« Inmitten einer »monumentalen Kulisse« sollte das Klangerleben zu einer »körperlichen und künstlerischen
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Die Kunst der Dauer
ckelnden Erhabenheitsbegriffs notwendig; es soll auch aufzeigen, wie das jeweilige Forschungsfeld das spezifische Verhältnis von Objekt und Subjekt der ästhetischen Beziehung gewichtet, denn wie sich zeigen wird, entscheidet die Qualität dieser Beziehung über die Form der Erhabenheit, die sich manifestieren kann.
1.1.1.
Immersion und Embodiment
Motte-Haber verweist darauf, dass die Überschreitung und Aufhebung von Gattungsgrenzen in der Musik des 20. Jahrhunderts zu einer Wiederentdeckung des Raums sowie zu einer musikalischen Installationskunst führte, die die Zeit durch Verräumlichung neu erleben lässt.3 Klangkünstler haben installative Formen ästhetischer Produktion entwickelt, die auf spezifische Weise Immersion ermöglichen.4 Dies hat Konsequenzen für das musikalische Material.5 Der Begriff der Immersion (synonym: Immergenz) bezeichnet ursprünglich in den Bildwissenschaften das In-einer-virtuellen-Realität-Sein durch Eintauchen in sie.6 Neue Praktiken bildgebender Verfahren in der Wissenschaft und in den Künsten haben in jüngerer Vergangenheit die Frage der Erkenntnis durch Verkörperung erneut aufgeworfen.7 Dabei geht es um die ästhetische Erfahrung, da in ihr Sinnproduktion durch Einverleibung beobachtet werden kann. Einverleibung benötigt Zeit und Interaktion: Das Konzept der verkörperten Erkenntnis im Sinne einer »embodied cognition« rückt ab von der dualistischen Vorstellung, der Mensch
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Grenzerfahrung« führen. Damit werden explizit Begriffe des Erhabenheitsdiskurses aufgerufen. Siehe Berno O. Polzer, Laurens von Oswald und Harry Glass: Programmtext, URL: https://www.berlinerfestspiele.de/de/aktuell/festivals/maerzmusik/archiv_mm/archiv_m m17/mm17_programm/mm17_programm_gesamt/mm17_veranstaltungsdetail_193332.php [Abruf: 17.11.2017]. Helga de la Motte-Haber: »Zum Raum wird hier die Zeit«, in: Österreichische Musikzeitschrift 41 (1986), S. 282-288 (S. 288). Marina Pugliese: »A Medium in Evolution: A Critical History of Installations«, in: Barbara Ferriani und Marina Pugliese (Hg.): Ephemeral Monuments: History and Conservation of Installation Art, Los Angeles 2009, S. 22-91 (S. 23ff.). Siehe hierfür beispielhaft die Klangskulpturen des amerikanischen Klangkünstlers Stephan von Huene. Sanio verweist darauf, dass in Klanginstallationen das Klangmaterial »(V)on seiner Funktion für das Werk und dessen Form befreit« wird und »seine Eigenqualitäten, insbesondere die konkrete sinnliche Beschaffenheit, in den Fokus der Aufmerksamkeit« geraten. Sabine Sanio: »Ästhetische Erfahrung als Wahrnehmungsübung?«, in: Ulrich Tadday: Klangkunst, Musik-Konzepte Sonderband IX, München 2008, S. 47-66 (S. 65). Helga de la Motte-Haber: »Intermedialität – Interaktivität – Immersion: Neue Musik und visuelle Kontextualisierung«, in: Neue Zeitschrift für Musik 2 (2010), S. 25-29 (S. 28). Siehe hierzu die Forschungsschwerpunkte »Embodied Cognition« und »Ästhetik der Verkörperung – Verkörperungstheorien der Ästhetik« der seit 2008 tätigen Kolleg-Forschergruppe »Bildakt und Verkörperung« an der Humboldt-Universität zu Berlin: http://bildakt-verkoerp erung.de/forschungsschwerpunkte/ [Abruf: 08.11.2020].
Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
verschaffe sich über seine Wahrnehmungsorgane schlicht ein Abbild der äußeren Realität, und vertritt stattdessen die Auffassung, dass Sinnproduktion ein interaktiver intra- und interpersoneller Prozess ist. Prozesshafte ästhetische Verfahren, die die Selbstbeobachtung der Einverleibung und des Einverleibtwerdens ermöglichen, bieten hierfür einen Erfahrungsraum. So besitzen Klanginstallationen das Potenzial, Räume zu kreieren, in denen Frequenzen, Bilder und virtuelle Zeichen einander und den Wahrnehmenden durchdringen.8 In einem Klang zu sein, bedeutet zunächst, sich dem Alltäglichen auszusetzen, denn Klang durchdringt den Körper unablässig. Das Einverleibt- und Verlassenwerden durch Klang entspricht der Physik des Klangs und der Physis des menschlichen Körpers. Körper werden unwillkürlich von der Physik des Klangs berührt, in Bewegung versetzt und zurückgelassen. Dabei findet keine Verschmelzung statt, sondern Begegnung. Zweifellos kann es im Prozess der Bewusstwerdung dieser Begegnung zu überwältigenden Momenten kommen. Die Temporalität des Klangs provoziert die Infragestellung menschlicher Zeitautonomie und konfrontiert mit der Tatsache, ständig und unwillkürlich von fremden Dauern durchdrungen zu werden. Diese Erfahrung kann überwältigend sein, doch die Gleichsetzung dieser Überwältigung mit dem Erleben von Erhabenheit verweist auf einen begrifflichen Kurzschluss, denn Überwältigung ist nur ein Teil von Erhabenheit. Die Verschmelzung von Subjekt und Objekt in der ästhetischen Beziehung ist hingegen vom Begriff des Erhabenen nicht gedeckt. Noch deutlicher tritt dies in der Debatte um virtuelle Realität (VR) und Embodiment hervor. VR erschafft Räume, in denen innere Vorstellungsräume nach außen projiziert und interaktiv erlebt werden können. Dieser virtuelle Raum wird durch Immersion, das heißt durch das Eintauchen in ihn, als real erfahren.9 Als Embodiment beziehungsweise Verkörperung wird dabei das quasi Einverleiben der externalisierten Vorstellung bezeichnet. Hier wird bereits die unterschiedliche Besetzung des Begriffs der Immersion deutlich: Bezeichnet er im Fall des Klangs eine reale Materialeigenschaft, nämlich die der Einverleibung von Räumen, meint er im Fall der VR eine Eigenschaft menschlicher Erfahrung, nämlich die der körperlichen Erfahrung vorgestellter Räume. Gerade weil VR auf ihre spezifische Weise eine Brücke zwischen vorgestelltem und realem Raum baut, wird sie oft mit Transzendenz und Erhabenheit assoziiert. Dyson bezeichnet dies als »rhetorical maneuvers« und weist darauf hin, dass »although sound as a material acoustic medium provides an opening to an alternate metaphysics, it does not in itself constitute
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Susanne Binas und Carsten Seiffarth (Hg.): Singuhr – Hörgalerie in Parochial: Klangkunst. Ausstellung 1996–1998, Symposium 1998, Saarbrücken 1998, S. 7. Frances Dyson: Sounding New Media: immersion and embodiment in the arts and culture, Berkeley u.a. 2009, S. 1.
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Die Kunst der Dauer
that metaphysics«.10 Auch wenn virtuelle Räume überwältigend sein können, sind sie doch vom Menschen erschaffen und beherrschbar. Hier schlägt einem nichts Fremdes, sondern das Eigene entgegen. Reale Immersion konstituiert Räume der Durchdringung. Sie ist, wie der Klang, allgegenwärtig und nicht außergewöhnlich. Deutlich wird hier der Kurzschluss zwischen künstlerischer Praxis und ästhetischem Diskurs. Grundsätzlich widersprechen sowohl Durchdringung wie Verkörperung dem Erhabenen. Erhabenheit benötigt substanziell die Aufrechterhaltung einer Distanz zwischen Objekt und Subjekt in der ästhetischen Erfahrung. Der Verknüpfung von Immersion und Embodiment mit Transzendenz muss daher ein kritischer Erhabenheitsbegriff entgegentreten.
1.1.2. Generative Kunst Generative Kunst zeichnet sich durch die Ingangsetzung offener Prozesse aus, in denen sich das Material überraschend und autonom verändern kann.11 Prozessmodelle des Komponierens haben eine weit zurückreichende Geschichte.12 Immer ging es darum, eine Formel oder ein Modell zu finden, das aus sich heraus neue musikalische Wendungen produziert. Dazu gehört die Inversion ebenso wie die musikalischen Würfelspiele Ende des 18. Jahrhunderts oder die bis in die Antike zurückreichenden mechanischen Musikautomaten. Mit der Entwicklung von Computern entstehen im 20. Jahrhundert algorithmische Programme. Generative künstlerische Prozesse können aufgrund ihrer zeitlichen Unabgeschlossenheit in eine reale Überzeitlichkeit münden, indem sie ihren Autor überdauern. Mit der Autorisierung prozesshafter Kompositionsverfahren wurden im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts durchaus unterschiedliche Ziele verfolgt. Motte-Haber verweist im Zusammenhang mit permutativen Verfahren der seriellen Musik darauf, dass in diesem an sich offenen Prozess das komponierende Subjekt hinter einer scheinbar »transpersonalen abstrakten Ordnung« zurücktritt13 und spricht von »Kunstformen mit einem transpersonalen Charakter«14 . Indem sich das komponierende Subjekt nach Ingangsetzung eines bestimmten Prozesses aus diesem herausnimmt, verweist es auf das darin selbsttätige Material und entzieht sich der Gestaltung. Motte-Haber entdeckt darin »eine seit dem 18. Jahr-
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Dyson, Sounding New Media, S. 5. Alberto de Campo: »Neue Perspektiven: Generative Methoden in der künstlerischen Praxis«, in: Positionen: Texte zur aktuellen Musik 99 (2014), S. 6-10 (S. 6). Siehe u.a. Curtis Roads u.a.: The Computer Music Tutorial, Cambridge und London 1996, S. 819852 und Gerhard Nierhaus: Algorithmic Composition: Paradigms of Automated Music Generation, Wien und New York 2009, S. 21-66 und 157–186. Motte-Haber, Grenzüberschreitung, S. 244. Ebd., S. 220.
Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
hundert kontinuierliche Entwicklung […], die wie in einem dialektischen Umschlag den prometheischen Charakter des Künstlers in einen medialen verwandelte.«15 Das hier angedeutete Verhältnis des Komponisten zu seinem Material und seiner Autorschaft kehrt im Forschungsfeld der Sonifikation wieder. Unter Sonifikation werden Verfahren verstanden, die rein quantitative Werte, zum Beispiel Informationen oder Daten, auf akustischem Weg in eine qualitative, sinnliche Erfahrung verwandeln.16 Ein grundsätzlicher Aspekt von Sonifikation sind die »Transformationen von Unhörbarem in hörbare Phänomene«.17 Dies macht den Begriff zu einer ausdeutungsreichen Metapher, auch für metaphysische Intentionen. Straebel verweist darauf, dass die »grundlegende Annahme von Sonifikationsforschern, dass ihr Verfahren die Möglichkeit bietet, ein unmittelbares Verständnis von den Gegenständen zu erhalten, die klanglich repräsentiert werden, gewissen Annahmen der Frühromantik ähnelt. […] In der Sonifikationsforschung folgen Wissenschaftler wie Künstler der Sehnsucht der Romantiker, den Bann zu brechen und die Welt verständlich zu machen, indem Phänomene der Natur unseren Sinnen gemäß zu übersetzen wären und unmittelbarer Erfahrung zugänglich zu machen.«18 Hier zeigt sich ein immer wiederkehrender Fallstrick der übermäßigen Gewichtung des Materials innerhalb einer ästhetischen Beziehung: Wird dem Material nicht nur eine Eigendynamik, sondern darüber hinaus auch das erkenntnisleitende Potenzial zugesprochen, scheint unweigerlich dahinter die Sehnsucht nach Überwältigung durch das Objekt und nach der Selbstentledigung von Autorschaft durch. Für generative Verfahren kann daher zunächst festgehalten werden, dass in ihnen durch potenziell unendliche Materialanordnung beziehungsweise durch den Verweis auf ein potenziell unendliches (natürliches) Material eine Entgrenzung der Zeiterfahrung aus der Linearität der Zeit angestrebt wird. Das Gewicht innerhalb der ästhetischen Beziehung zwischen komponierendem Subjekt, Material und Rezipient verschiebt sich in Richtung des Materials. Die Enthebung aus der Zeit und Autorschaft bleibt jedoch für den Komponisten wie für den Rezipienten eine imaginierte. Komponisten, die heute mit generativen Verfahren arbeiten, sind sich dessen bewusst. Sie liefern ihr Material partiell einer Autogenese aus und justieren so
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Ebd., S. 241. Jonathan Sterne und Mitchell Akiyama: »The Recording that never wanted to be heard and other stories of Sonification«, in: Trevor Pinch und Karin Bijsterveld (Hg.): The Oxford Handbook of Sound Studies, Oxford u.a. 2012, S. 544-560; insbes. zur Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft im Rahmen der Sonifikation: S. 551/52. Andi Schoon und Axel Volmar: Das geschulte Ohr: Eine Kulturgeschichte der Sonifikation, Bielefeld 2012, S. 18. Volker Straebel: »Anmerkungen zur Sonifikationsmetapher in der Instrumentalmusik«, in: ebd., S. 191-206 (S. 191/192 und 203).
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Die Kunst der Dauer
das Verhältnis zwischen Autor und Material neu. Dahinter steckt nicht zuletzt die Hoffnung, von Materialmutationen überrascht zu werden.19
1.1.3. Lebenszeitkunst Entgegen der in generativen Verfahren angestrebten Präsenz eines potenziell überzeitlichen Materials oder Prozesses erklären Lebenszeitkünstler, wie Marina Abramović oder Tehching Hsieh, Abschnitte ihrer Lebenszeit zur Kunst. Ihre Intention ist nicht nur die Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und trivialem Leben; sie implementieren einen Biorhythmus in den künstlerischen Prozess. Lebenszeitkünstler dehnen die Werkdauer (teilweise) auf ihre Lebensdauer aus. Dies kann für den Rezipienten eine überzeitliche Werkdehnung bedeuten. Die eigentliche Entgrenzung findet hier aber zwischen den Sphären der Kunst und des Alltags statt. Damit steht diese Art der Performancekunst in der Tradition der Avantgarden des 20. Jahrhunderts.20 Bei lebenslangen Projekten, wie der Bildserie Date Paintings von On Kawara,21 kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Nicht das Wirken der Zeit an einem Material, gegebenenfalls dem eigenen Körper, wird hier gezeigt, sondern ein Datum als Gegebenes.22 Die Zuordnung zur Lebenszeitkunst kann, wie im Fall der bildenden Künstlerin Hanne Darboven, auch durch den Kunstdiskurs erfolgen. Insbesondere Darbovens sich in langen Prozessen vollziehende Arbeitsweise und ihre Entwicklung von scheinbar unendlichen Zahlenreihen wurden als produktions- beziehungsweise materialästhetischer Umgang mit ästhetischer Zeit als Lebenszeit gedeutet.23
1.2. Zeit: Materie, Material oder Beziehung? Das hier aufgefächerte Panorama zeitkünstlerischer Ansätze der jüngeren Gegenwart sollte verdeutlichen, wie das Zeigen beziehungsweise Hörbarmachen von Zeit material- und produktionsästhetisch mit einem spezifischen Gewichten der kompositorischen Autorschaft, der musikalischen Materialbewältigung und der Pro-
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De Campo, Neue Perspektiven, S. 6. Motte-Haber, Grenzüberschreitung, S. 220. Susan Stewart: »Annal and Existence: On Kawara’s Date Inscriptions«, in: Jeffrey Weiss und Anne Wheeler (Hg.): On Kawara – Silence, New York 2015, S. 171-177. Stewart postuliert, Kawara gelinge es, mit den Date Paintings das mathematisch Sublime im Sinne Kants aufscheinen zu lassen. Ebd., S. 172. »Hanne Darboven visualisiert die konkrete Existenz von Zeit; ihr gesamtes Werk ist ihre eigene Zeit-Geschichte: ein Prozess des Lebens, Arbeitens, Erkennens als ein mehrdimensionaler Visualisierungsablauf.« Tilman Osterwold: »Hanne Darboven – Zeit und Weltansichten«, in: Institut für Auslandsbeziehungen (Hg.): Hanne Darboven, Stuttgart 2000, S. 6-9 (S. 6).
Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
duktionsästhetik einhergeht, denn das schöpferische Prinzip der Zeit entzieht sich der Beherrschung durch den Menschen. Dies stellt besondere Fragen an den Materialcharakter musikalischer Zeit. Geht es in einem Werk um Überzeitlichkeit, so gerät es in den Einzugsbereich des Erhabenen. Soll Erhabenheit dabei nicht nur als Metapher zitiert, sondern tatsächlich eingelöst werden, bedarf dies einer präzisen Reflexion, worauf sich die kompositorische Autorschaft beziehen soll, welche Qualitäten der Faktor Zeit besitzt und wo genau sich Entgrenzung manifestieren kann. Das Hörbarmachen der Zeit in künstlerischen Werken kann unterschiedlich motiviert und produktionsästhetisch gestaltet sein, immer jedoch geht es um die fundamentale Spannung zwischen der Zeit als bloßem Kontinuum und ihrer ästhetischen Verzeitlichung. In der unauflösbaren Spannung zwischen beiden Qualitäten besteht die hervorragende Eignung der Zeit für das Erhabene. Material- und produktionsspezifische Ansätze, wie die werkinterne Zerdehnung des musikalischen Zusammenhangs, die Ausdehnung von Werken auf Monate und Jahre, aber auch die Entgrenzung eines Werks in den Alltag und die Konfrontation mit Kontingenz durch Stille intendieren, mit den Mitteln der Zeit auf Überzeitlichkeit zu verweisen. Die Fokussierung der vorliegenden Arbeit auf ausgewählte Komponisten der Gruppe Wandelweiser ist für die Diskussion um den Materialcharakter der Zeit besonders aufschlussreich, da einige von ihnen im Zusammenhang mit dem Faktor Zeit den Begriff der Materie explizit gegen den des Materials in Stellung bringen.24 Zentral für die produktionsästhetische Selbstverortung der Wandelweiser-Komponisten ist ihr Verständnis der Zeit als (nicht verfügbare) Materie von Komposition. Im Gegenzug wird der Zeit ihr musikalischer Materialstatus abgesprochen. Hier seien daher zunächst die Begriffe Materie und Material erörtert, um die Plausibilität dieser Herangehensweise zu prüfen. Die Frage lautet, ob Zeit sinnvoll als Materie konzipiert werden kann, denn in der kategorialen Gegenüberstellung von Material und Materie kehrt die grundsätzliche Unterscheidung von Substanz und Akzidenz wieder, die die Philosophie seit ihren Anfängen beschäftigt, diesmal jedoch auf die Zeit gemünzt. Die Klärung dieser Frage dient der genauen Benennung des ästhetischen Gegenstands, der komponiert wird. Ist es die Zeit oder die (eigene) Zeitbeziehung? An dieser Frage schärft sich auch, wie später gezeigt wird, ein kritischer Erhabenheitsbegriff. Hier kann nicht erschöpfend erörtert werden, ob der Zeit eher etwas Substanzielles oder Akzidentiell-Relationales zugesprochen werden sollte, sondern wie und warum die hier diskutierten zeitgenössischen Komponisten die Zeit als Materie konzeptualisieren. Deren Zeitkonzept hat Schnittstellen zu durchaus disparaten Begriffstraditionen, so zum aristotelischen Materiebegriff, zum Descarte’schen
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Siehe Anhang: Komponistengespräche.
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Substanzbegriff, zur Naturästhetik, aber auch zu buddhistischen Zeitkonzepten und zum kritischen Posthumanismus. Bereits Aristoteles’ Abgrenzung von Platon in der Antike kennzeichnet eine grundsätzliche Differenzierung abendländischen Denkens zwischen unveränderlichen Formen und veränderlichen Gegenständen.25 Das Nachdenken darüber, ob es substrathaften, kosmischen Urstoff gibt oder ob ein nicht physisches Bewegungsprinzip waltet, beschäftigt die Philosophie bis heute. Aristoteles’ Definition einer sogenannten materia prima ist daher ein immerwährender Anknüpfungspunkt philosophischer Materiedefinitionen geblieben. Danach ist unter einer Urmaterie sowohl ein Substrat als auch ein Bestimmungsprinzip veränderlicher physischer Substanzen zu verstehen.26 Die Auseinandersetzung zwischen den widerstreitenden Begriffen Substrat/Substanz versus Bewegungsprinzip macht den Kern der abendländischen Definitionen der Materie aus. Doch die Frage nach dem Erzeuger einer Substanz beziehungsweise dem Agens eines grundsätzlichen Bewegungsprinzips kann nach Ablösung von der Theologie philosophisch nicht beantwortet werden.27 Für jede Ausdifferenzierung des Materiebegriffs bleibt es entscheidend, ob der Materie eine passive oder eine aktive Kraft zugesprochen wird, denn daran knüpft sich das ihr zugesprochene Beharrungs- beziehungsweise Bewegungsvermögen. Dies gilt für den materialistischen ebenso wie für den phänomenologischen Materiebegriff. Während das erste Newton’sche Gesetz der Materie die Grundeigenschaften Trägheit und Schwere zuweist, wird ihr im 19. Jahrhundert die Stofflichkeit abgesprochen. 28 Im Zuge dieser Entwicklung des Materiebegriffs von der Substanzhaftigkeit zur Relation gerät der Raumbegriff in den Mittelpunkt. Dem Raum wird in neueren Theorien des 20. Jahrhunderts zugesprochen, eine Eigenschaft der 25
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Die von Platon im Timaios entwickelte Gattungslehre, »Das Werdende, das, worin es wird, und das, dessen nachgebildetes Erzeugnis es ist«, setzt den Raum als Unveränderliches und Ewiges. Siehe Platon: Timaios, Kritias, Gesetze X, Jena 1909, S. 56. Zur Identität von Platons Materiebegriff mit dem Raumbegriff siehe Eduard Zeller: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Bd. 2/1, Leipzig 1889, S. 719ff., insb. S. 725. Aristoteles hingegen wendet den Materiebegriff ins Relationale, »(D)enn ›Anfang‹ ist immer Anfang ›von etwas‹, einem oder mehrerem.« Siehe Hans Günter Zekl (Hg.): Aristoteles’ Physik. Vorlesung über Natur, Erster Halbband Bücher I(A)-IV(Δ), Hamburg 1987, S. 5. Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWbPhil), hg. von Joachim Ritter u.a., 10 Bde., Basel 1971–2004, Bd. 5, 1980, S. 877ff. Im Mittelalter setzt sich das teleologisch-christliche Denken von der aristotelischen Bewegungslehre ab: »Neben die Materie als das sich in einem Prozess identisch Durchhaltende tritt bei teleologisch gesteuerten Prozessen das Material, das in eine bestimmte, im Sinn einer Essenz vorgestellte Form gebracht wird.« HWbPhil, Bd. 5, S. 881. Ernst Mach (1838–1916) definiert 1883 in seiner Kritik am Newton’schen Trägheitsgesetz Masse als reine Beziehungsgröße. Siehe Ernst Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung historischkritisch dargestellt, Leipzig 1921, S. 227-229.
Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
Materie zu sein. Albert Einstein postuliert in der Relativitätstheorie die Äquivalenz von Masse und Energie und erklärt die Unterscheidung von Zeit und Raum zu einem Aspekt der menschlichen Wahrnehmung.29 Im Grunde kehrt die moderne Physik damit zum alten platonisch-aristotelischen Substanz-Akzidenz-Problem des Materiebegriffs zurück. Auch für die ästhetische Begriffsbildung ist entscheidend, ob Materie als Substanz oder Akzidenz gedacht wird. Die Kant’sche Ästhetik ist deshalb bis heute aktuell, weil sie ihre eigenen Grundlagen bis zur Negation des Sinnlichen als Quelle ästhetischen Empfindens denkt.30 Wenn Hegel in den Mittelpunkt seines Materiebegriffs die Relationalität stellt, nämlich die einer dauerhaften Beziehung zwischen Raum und Zeit,31 so klingt hier bereits an, was die Relativitätstheorie im 20. Jahrhundert postulieren wird. Doch ob die Materie selbst beziehungsfähig ist, bleibt offen. Lyotard spricht ihr schließlich die Formhaftigkeit ab.32 In der Auseinandersetzung mit der Zeit als Gegenstand der zeitgenössischen Kunst setzt er die Denkfigur33 der Präsenz an die Stelle der Materie.34 Präsenz als Erscheinungsform des
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Albert Einstein: »Zur Elektrodynamik bewegter Körper«, in: Annalen der Physik und Chemie 17 (1905), S. 891-921 und ders.: Grundzüge der Relativitätstheorie, Braunschweig 1965. Siehe auch Charles W. Misner und John A. Wheeler: »Classical physics as geometry«, in: Annals of Physics 2, H. 6 (1957), S. 525-603. In Kants Absage an die Erkennbarkeit eines Dinges an sich steckt auch die Absage an die Substanzhaftigkeit von Materie. Sie ist nur »Form des innern Sinnes […] und sie hängt nicht an den Gegenständen selbst, sondern bloß am Subjekte, welches sie anschaut.« KrV, A 33, 38. »Die Bewegung ist der Prozess, das Übergehen von Zeit in Raum und umgekehrt: die Materie dagegen die Beziehung von Raum und Zeit als ruhende Identität.« G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke, Bd. 9: System der Philosophie, Zweiter Teil: Die Naturphilosophie, Stuttgart (1929), S. 93. »[D]ie Materie in den Künsten, das heißt auch die Präsenz«, und Präsenz ist das »Paradox einer Ästhetik ohne sinnliche oder imaginative Formen«. Siehe Lyotard, Das Inhumane, S. 233, 236. Zum Begriff der Denkfigur als einer Art vorbegrifflicher Denkbewegung siehe André Reichert: Diagrammatik des Denkens: Descartes und Deleuze, Bielefeld 2013. Der Begriff der Denkfigur geht zurück auf Lyotards »figure de la pensée«. Siehe Jean-François Lyotard: Discours, Figure, Paris 1971, S. 62. Lyotard wiederum übernimmt ihn von Paul Valéry: Variété II, Paris 1930. Der sich vom Naturalistischen und Abbildhaften lösenden Moderne »kann es […] nur darum gehen, sich der Materie zu nähern. Das heißt, sich der Präsenz zu nähern, ohne auf die Mittel der Darstellung zu rekurrieren.« Lyotard, Das Inhumane, S. 238. Der Begriff der Präsenz wird in der Ästhetik widersprüchlich besetzt. Er kann als Moment vollständiger Gegenwart im Sinne von Zeitlosigkeit innerhalb des Zeitkontinuums, aber auch als reine Erfahrungsdimension verstanden werden. Zur vollständigen Gegenwart: siehe Günter Figal: »Zeit und Präsenz als ästhetische Kategorien«, in: Richard Klein u.a. (Hg.): Musik in der Zeit – Zeit in der Musik, Weilerswist 2000, S. 11-20 (S. 18/19); Zur reinen Erfahrungsdimension: siehe Richard Klein: »Thesen zum Verhältnis von Musik und Zeit«, in: ebd., S. 57-107.
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Ereignisses ersetzt bei ihm das greifbare Objekt, die formbare Materie, das Material. Alle hier kursorisch gestreiften Attribute der Materie – passive Substanz versus veränderliches Akzidenz, objekthaft versus subjekthaft, beziehungsfähig versus unverfügbar – finden sich bei Wandelweiser-Komponisten wieder, wenn sie postulieren, die Zeit nicht als Material verwenden, sondern als Materie begreifen zu wollen. Musikwissenschaftlich wird damit eine alte Diskussion aufgerufen. Versteht man musikalisches Material als »Klänge und Stille in musikalischen Zusammenhängen«35 , so ergeben sich zunächst keine Differenzen zum Selbstverständnis der Wandelweiser-Komponisten. Die Vermutung liegt daher nahe, es könnte gar nicht um eine Abkehr vom Materialbegriff an sich gehen. Welches Problem wird also damit ausgedrückt? Wenn Eduard Hanslick eine Generation nach Hegels »Phänomenologie des Geistes« davon spricht, Komponieren sei »ein Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material«36 , so steckt darin ein spezifisches Verhältnis von passivem Material und aktiver kompositorischer Formung.37 Mit Hanslick gibt es keine Schönheit ohne Geist, und in der Musik entsteht sie durch Formen. Diese genügen »gewissen primitiven Grundgesetzen, welche die Natur in die Organisation des Menschen und in die äußern Lauterscheinungen gelegt hat.«38 Der Komponist bedient sich also dieser natürlichen Materialgesetze der Harmonie. Aus geistfähigem Material wird ein Jahrhundert später bei Adorno in gewisser Weise geisthaltiges Material, denn es birgt eine geschichtliche Tendenz, es hat einen bestimmten historischen Entwicklungsstand.39 Damit sind die Pole benannt, zwischen denen der Begriff des Materials in der Musikästhetik oszilliert: Naturhaftigkeit und Geschichtlichkeit. Es verwundert nicht, dass sich am Komponieren stiller oder überzeitlicher Dauern die im 20. Jahrhundert in der Musikwissenschaft geführte Diskussion um den »Materialfetischismus« neu entzündet. An der Auseinandersetzung mit dem Status des Materials schärft sich die Haltung zur eigenen Subjektivität.40 Carl Dah-
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Helga de la Motte-Haber (Hg.): Lexikon der Systematischen Musikwissenschaft, Laaber 2010, S. 271. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen: Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik in der Tonkunst, Leipzig 1854, S. 35. »Das Material, aus dem der Tondichter schafft, […] sind die gesamten Töne, mit der in ihnen ruhenden Möglichkeit zu verschiedener Melodie, Harmonie und Rhythmisierung.« Ebd., S. 32. »Alle musikalischen Elemente stehen unter sich in geheimen, auf Naturgesetze gegründeten Verbindungen und Wahlverwandtschaften.« Ebd., S. 35. Theodor W. Adorno: Philosophie der Neuen Musik, Frankfurt a.M., 6 2016, S. 38ff. Siehe Carl Dahlhaus: »Abkehr vom Materialdenken?«, in: ders., 20. Jahrhundert, S. 482-494 (S. 482/483).
Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
lhaus betont, die Behauptung natürlicher oder geschichtlicher Gesetze, die diesen Status bestimmten, verhülle nur den Tatbestand der »Freiheit der Axiomsetzung«41 , zu der sich jeder Komponist verhalten müsse.42 Dahlhaus verteidigt diese Freiheit sowohl gegen Adornos »geschichtliche Tendenz« als auch gegen John Cages »Vorstellung von Materie« als einer vermeintlichen »Naturkategorie«.43 Komponisten wie Helmut Lachenmann und Dieter Schnebel sowie Musiktheoretiker wie Gianmario Borio haben den Fokus der Materialdiskussion in den letzten Jahrzehnten auf zwei neue Aspekte gelenkt: zum einen auf den Aspekt der Interaktion, das heißt des Verhältnisses der Aufführenden zueinander als Material;44 zum anderen auf ein neues Verständnis von Form und Zeit. Sie gelten nun nicht mehr als Werkzeuge der Bearbeitung musikalischer Materie, sondern sind selber »Teile des Materials«.45 Lachenmann betont, Materialdenken bedeute heute »geschichtliches Denken«46 . Dies schließe die Reflexion der eigenen subjektiven Geschichtlichkeit und der des Materials ein. Dem Klang einer reinen Materie erteilt auch er, wie Dahlhaus, eine Absage.47 Was je als Material definiert wird, unterliegt, so Borio, zeitgebundenen Kommunikationen und Interaktionen: Man hätte also nicht zu tun mit Maßnahmen der subjektiven Vernunft gegen den Vorrang eines als naturgegeben erscheinenden Prinzips, sondern mit den Ergebnissen von Interaktionen zwischen Subjekten. […] Material entspräche also nicht der – sei es geschichtsphilosophisch, sei es physikalisch bestimmten – Objektseite der Musik, sondern dem Schauplatz einer Interaktion, in der ästhetische Normen gesetzt, umgebildet und von neuen abgelöst werden.48
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Dahlhaus nimmt hier Bezug auf Ernst Křenek. Dahlhaus, Abkehr vom Materialdenken, S. 483. »Eine Diskussion über die Abkehr vom Materialdenken und die als hemmend empfundenen Implikationen des Materialbegriffs ist also zugleich und ineins eine Auseinandersetzung über Chancen und Schwierigkeiten einer unverhohlen subjektiven Expressivität.« Ebd., S. 483. Ebd., S. 483, 485. Dieter Schnebel: Denkbare Musik: Schriften 1952–1972, hg. v. Hans Rudolf Zeller, Köln 1972, S. 287/288. Helmut Lachenmann: Der Materialbegriff in der Neuen Musik, unveröff. Manuskript eines Vortrags an der Ulmer Hochschule für Gestaltung, 1964, S. 8, zitiert in: Gianmario Borio: »Material – zur Krise einer musikästhetischen Kategorie«, in: ders. (Hg.): Ästhetik und Kommunikation: Zur Aktualität der Darmstädter Ferienkursarbeit (Darmstädter Beiträge zur neuen Musik, Bd. 20), Mainz u.a. 1994, S. 108-118 (S. 113). Siehe Lachenmann, Der Materialbegriff, zitiert in Borio, Material, S. 114. Helmut Lachenmann: »Bedingungen des Materials: Stichworte zur Praxis der Theoriebildung«, in: ders.: Musik als existentielle Erfahrung: Schriften 1966–1995, hg. von Josef Häusler, Wiesbaden 1996, S. 35-47 (S. 46). Borio, Material, S. 114.
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Was bedeutet diese Wandlung des Materialbegriffs von etwas Substanzhaftem zu etwas Relationalem für den Umgang der Komponistengruppe Wandelweiser mit dem Faktor Zeit? Wenn ihre Mitglieder in diesem Zusammenhang von Materie statt Material sprechen, dann betonen sie damit die Abkehr von etwas Verfügbarem und Modulierbarem.49 Allerdings ist es begrifflich weder philosophisch noch musikwissenschaftlich etabliert, die Zeit als Materie zu konzipieren.50 Wie zu zeigen sein wird, ist die Hinterfragung der Materialhaftigkeit der Zeit deshalb so bedeutsam, weil sich daran der kompositorische Umgang mit Kontingenz entzündet, denn kontingente Phasen in einer Komposition beinhalten zwei Schnittstellen: die zwischen verfügbarer und unverfügbarer Zeit sowie die zwischen ästhetischer und Lebenszeit. Es scheint, dass sich die Abkehr der Wandelweiser-Komponisten vom Material- und ihre Hinwendung zum Materiebegriff einer begrifflichen Unschärfe verdankt. (Musikalische) Zeit kann weder philosophisch noch musikwissenschaftlich als Materie bezeichnet werden. Doch die Beziehung des Komponisten und der Aufführenden zur (musikalischen) Zeit wird hier offensichtlich zum Material der Komposition. Es soll daher im Folgenden für die Produktionsästhetik von Wandelweiser-Komponisten im Zusammenhang mit dem Faktor Zeit von Beziehung statt Materie gesprochen werden. Für konkrete Werke betrifft dies sowohl die in einer Komposition wirkende Beziehung des Klingenden zur Stille als auch die Beziehung des/der Aufführenden zum Werk. Diese Haltung lässt sich konsistent in die musikwissenschaftliche Materialdiskussion seit den 60er-Jahren einordnen. Sie folgt offensichtlich der Intention, die Herrschaft über das kompositorische Material zugunsten der Beziehung zum Material und zwischen den Aufführenden aufzugeben, und erweitert diese Haltung um die Beziehung zur Zeit selbst.51 Dieser relationale, produktionsästhetische Ansatz hat Konsequenzen für den hier herauszuarbeitenden Erhabenheitsbegriff, denn die Schwerpunktverlagerung von der kompositorischen Materialbeherrschung zum Sich-in-Beziehung-Setzen zum Faktor Zeit verschiebt den lange Zeit rezeptionslastigen Kern des Erhabenheitsbegriffs von der Wirkung eines Werks hin zum Werk selbst und seiner Produktion. Nicht, wie Überzeitlichkeit vom Rezipienten wahrgenommen wird, son49 50 51
Siehe Anhang: Komponistengespräche. Siehe HWbPhil, Bd. 12, S. 1186ff, »Zeit«. Diesen Beziehungsansatz verkörpert beispielhaft auch György Ligeti, wenn er auf die Geschichtlichkeit jeder musikalischen Form verweist: »Töne, Klänge etc., also das akustische Substrat [sic!], können nicht in dem Sinne als Material für die Musik aufgefasst werden, wie etwa Stein und Holz Material der Bildhauerei sind. Der Prozess der ›Formung‹ in der Musik bezieht sich vielmehr auf Verhältnisse, die durch Kontexte von Tönen und Klängen vermittelt werden: was in Musik geformt ist, ist bereits an sich ›Form‹ und nicht Material.« György Ligeti: unbetitelter Aufsatz, in: Form in der Neuen Musik: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 10, Mainz 1966, S. 23-35 (S. 27).
Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
dern wie mit den Mitteln der Zeit kompositorisch auf Überzeitlichkeit verwiesen wird, soll deshalb im Mittelpunkt stehen. Im Folgenden sollen insbesondere zwei kompositorische Verfahren verhandelt werden: die Arbeit mit Stille und mit überzeitlichen Dauern. Zeit weder als Material noch als Materie, also nicht substanziell, sondern relational zu konzipieren, ist charakteristisch für gleich mehrere philosophische Denktraditionen.52 In der hier bereits angerissenen Charakterisierung der Zeit steckt ein Spannungsverhältnis zwischen Unverfügbarkeit und Beziehungshaftigkeit. Eine Beziehung jedoch, die sich der Beherrschung durch eine Seite entzieht, ist immer von Unwägbarkeiten, also von Kontingenz geprägt.
1.3. Zum Spannungsverhältnis von Kontingenz und Anthropozentrismus: Das Gesamtzeitfeld der künstlerischen Praxis Dem Begriff der Kontingenz kommt in diesem Zusammenhang eine wesentliche und zugleich vielschichtige Bedeutung zu. Kontingenz (von lateinisch contingere: sich ereignen; spätlateinisch: Möglichkeit, Zufall) bezeichnet in der Philosoph ie und Systemtheorie die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrung.53 Diese Spanne beinhaltet so vielschichtige Aspekte wie Unverfügbarkeit, Ausgesetztsein oder Überraschung.54 Das Komponieren kontingenter Dauern stellt im 20. Jahrhundert ein neues ästhetisches Problem dar. Kontingenz stellt auf besondere Weise den Anthropozentrismus sowohl der Kunstproduktion als auch -rezeption infrage. Kunst kann zwar nach wie vor nur vom Menschen produziert und rezipiert werden, doch Kunst, die nicht gestaltete Dauern enthält, schlägt eine Lücke in den ästhetischen Anthropozentrismus. Dabei gilt es zunächst philosophiehistorisch zwischen klassisch-aristotelischem, christlich-mittelalterlichem und neuzeitlichem Anthropozentrismus zu unterscheiden.55 Letzterer mündet in Kants epistemischen Anthropozentris-
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Siehe zur buddhistischen Zeitphilosophie Rolf Elberfeld: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, Stuttgart 2004 und zur ökologischen Naturästhetik Gernot Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a.M. 1989. Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie: Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim u.a. 1973, S. 34-40, §3 Widerfahrnis und Handlung. Michael Makropoulos: Moderne und Kontingenz, München 1997, S. 14f. unterscheidet zwischen dem unverfügbar Kontingenten und der Handlungskontingenz. Das fächert das Potenzial von Kontingenz zwischen Zumutung und Chance auf. Kim Yang-Hyun: Kantischer Anthropozentrismus und ökologische Ethik, Münster 1998, S. 47-57. Siehe auch Dieter Lau: Der Mensch als Mittelpunkt der Welt: Zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen des anthropozentrischen Denkens, Aachen 2000.
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mus, nach dem Raum und Zeit keine gegenständlichen Qualitäten, sondern Anschauungsformen56 sind. Doch was bringen Komponisten, die in ihre Werke Dauern nicht gestalteter musikalischer Zeit, also kontingente Zeit, integrieren, zu Gehör? Und was kann in diesen Dauern gehört werden? Kontingente Dauern bauen ein Spannungsverhältnis zwischen autorisiertem Klang und nicht intendierten Klängen auf. Offensichtlich wird dabei in Erwartung der Hörbarkeit einer zeitimmanenten Dynamik produktionsästhetisch kontrolliert Kontrolle abgegeben. Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, welchem kompositorischen Interesse die Herstellung solcher kontingenten Phasen entspringt und welche Fragen die Implementierung kontingenter Dauern produktionsästhetisch in Kompositionen beantwortet.57 Dies ist deshalb wichtig, weil dem Begriff der Kontingenz im (post)modernen Diskurs eine wesentliche Rolle zukommt.58 Das Ausgeliefertsein und das sich Ausliefern im Rahmen ästhetischer Situationen sind zwei Pole, die das Erhabene von jeher ausgemacht haben. Jahrhundertelang bildeten natürliche Sujets eine Projektionsfläche hierfür. Interessant ist nun die Frage, warum Ende des 20. Jahrhunderts Zeit an deren Stelle tritt. Offensichtlich birgt das Erhabene einen durch die Epochen andauernden Konflikt, den Komponisten und Künstler mit je eigenen Mitteln produktiv machen. Es gibt in der Philosophiegeschichte keine dem Terminus natura vergleichbare terminologische Entwicklung für den Begriff der Zeit. Unser Umgang mit der Zeit entspricht jedoch unserem eingeübten Umgang mit der Natur: Wir hegen sie ein und kultivieren sie, zum Beispiel in Gestalt von Musik. Doch die Zeit behält ihr widerständiges Potenzial. Sie lässt sich gestalten, aber nicht aufbrauchen, nicht vernutzen. Dadurch unterscheidet sich Zeit von jeglicher Natur. Wir selbst sind, wie die Musik, in der Zeit und doch bleibt diese uns äußerlich. Unsere Angst vor der Zeit ist die letzte verbliebene Angst vor der Natur in und um uns. Davon künden nicht nur die Versuche, das Altern aufzuhalten und die Sterblichkeit zu überwinden, sondern auch das rastlose Bemühen, akustische Artefakte zu sammeln und zu archivieren.59 Es scheint, als träten im 20. Jahrhundert »Temporarien« an die 56 57
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KrV, A 42. Wandelweiser-Komponisten arbeiten auf unterschiedliche Weise mit kontingenten Dauern. Bei Antoine Beuger geschieht dies im Zusammenhang mit der von ihm angestrebten Selbstaufgabe der kompositorischen Gestaltung. Marcus Kaiser arbeitet mit nicht kalkulierbaren Dauern. Insofern stehen beide Komponisten beispielhaft für die Ausdeutbarkeit des Kontingenzbegriffs. Siehe Anhang: Komponistengespräche. Zur Begriffsgeschichte der Kontingenz in der Moderne, Postmoderne und reflexiven Moderne siehe: Markus Holzinger: Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft: Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie, Bielefeld 2007, S. 98ff. Das global grassierende Mapping prägt in Form von GPS-Koordinaten unseren Alltag und findet sein künstlerisches Pendent beispielsweise in radio aporee, einem Klangkunstprojekt
Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
Seite der Herbarien: Zeit wird nun gesammelt, um sich ihrer und seiner selbst zu versichern. Im Folgenden wird daher von der Prämisse ausgegangen, dass seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Kunst die Zeit die Natur als Gegenstand von Erhabenheit ersetzt. Diese Prämisse erfordert eine spezifische Betrachtung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses der ästhetischen Situation. Die Qualität dieses Verhältnisses entscheidet über die Qualität von Erhabenheit. Erhabenheit und Zeit stellen auf je spezifische Weise zwei Herausforderungen an die menschliche Vernunft: das Unfassbare zu denken und die Kategorien dieses Denkens gleichzeitig zu hinterfragen. Ästhetische Situationen von Erhabenheit konstituieren klassischerweise ein spezifisches Verhältnis von Subjekt und Objekt, ein Verhältnis, das material- und produktionsästhetisch eine prekäre Balance zwischen Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit herstellt und auf der Rezeptionsseite eine Balance zwischen entgrenzender Überwältigung und Grenzwahrnehmung aufrechterhält. Objekt und Subjekt dieser Beziehung haben sich historisch selbstverständlich gewandelt.60 Ihr Verhältnis und die Qualität des Überwältigenden, Wahrnehmbaren und Unbeherrschbaren müssen daher immer wieder neu bestimmt werden. Die Notwendigkeit eines kritischen Erhabenheitsbegriffs bleibt somit immer aktuell. Immersion, Embodiment, generative Kunst und Lebenszeitkunst wurden auf die Qualitäten von Entgrenzung und auf die Gewichtung der kompositorischen Autorschaft hin überprüft. Musikalische Zeit wurde als Beziehungs- und Materialqualität charakterisiert. Auch wenn sie sich der Verfügbarkeit teilweise entzieht, kann sie gestaltet werden. Entscheidend für die produktionsästhetische Praxis, die im Weiteren erörtert werden soll, ist ein eigenschöpferisches Verständnis von Zeit. Das bedeutet, Zeitbeziehungen sind keine konventionellen Subjekt-ObjektBeziehungen mehr. Dieses Verständnis wird von einer Anthropozentrismuskritik fundiert und schließt an verschiedene Denkansätze des 20. Jahrhunderts an. Dazu zählen, wie bereits erörtert, Theorien der theoretischen Physik ebenso wie die Lebensphilosophie, die Akteur-Netzwerk-Theorie und der kritische Posthumanismus. Grundsätzlich gewichten diese Ansätze das Verhältnis von Kontingenz und Anthropozentrismus neu.
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des Berliner Künstlers Udo Noll, in dem field recordings eine Weltkarte generieren. Siehe Udo Noll, URL: https://www.aporee.org/ [Abruf: 01.10.2019]. Pries verweist darauf, dass dem Begriff des Erhabenen von jeher Paradoxien inhärent sind: »Irrationalität und Rationalität, Passivität und Aktivität, Empirizität und Transzendentalität, Negation und Affirmation, Loslösung und Anbindung, Natur und Kultur, physis und techne, Krise und Größenwahn, Kritik und Metaphysik, Abgrund und Übergang, Chaos und Ordnung, Revolution und Restauration«. Pries, Das Erhabene, S. 11. Aufschlussreich für das Verständnis eines ästhetischen Diskurses ist es daher, wann welcher Aspekt, welches paradoxe Begriffspaar favorisiert und zum Kern des Erhabenheitsbegriffs erklärt wird.
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Ein kritischer Begriff der erhabenen Zeitbeziehung, wie er nun entwickelt werden soll, muss, so die hier vertretene These, im Kern eine Anthropozentrismuskritik beinhalten. Anthropozentrismuskritik ist ein Analyseinstrument. Sie ermöglicht eine selbstreflexive Haltung zur subjektiven Zeitbeziehung und die Analyse aller nicht-subjektiven Zeitbeziehungen der ästhetischen Situation. Das anthropozentrische Verständnis von Erhabenheit arbeitete sich historisch, die Zeitbeziehung betreffend, wiederholt an der unüberbrückbaren Lücke zwischen empirischer Zeitlichkeit und vernunftgegebener Überzeitlichkeit ab. Diese Lücke wurde ästhetisch wahlweise durch eine Überhöhung des erhabenen Objekts oder Subjekts geschlossen. Dabei soll noch einmal betont werden, dass metaphysische, instrumentelle und kritische Erhabenheit nicht etwa als historische Perioden zu verstehen sind, sondern unterschiedliche Haltungen zur ästhetischen Situation der Erhabenheit ausdrücken, die historisch wiederkehrend auftreten. Eine ästhetische Situation metaphysischer Erhabenheit zeichnet sich dadurch aus, dass das Subjekt angesichts einer drohenden Überwältigung Zuflucht und Aufgehobensein bei einer absoluten Idee sucht, in der es Transzendenz und Versöhnung findet. Als beispielhaft dafür kann Karlheinz Stockhausens Œvre gelten. Stockhausen äußerte sich explizit zum christlichen Symbolismus in seinen Kompositionen61 sowie zum Wirken eines ewigen Geistes in seiner Musik62 . Das instrumentell erhabene Subjekt hingegen flieht in die Selbsterhöhung und -ermächtigung und behauptet seine Herrschaft über das Objekt durch Postulierung der eigenen Unsterblichkeit.63 Kritisch erhabene Positionen wurden in der Vergangenheit in Opposition zu metaphysischen oder instrumentellen entwickelt. Sie sprachen dem Menschen unter anderem verschiedene Vermögen zu64 oder trugen eine Gesellschaftskritik vor65 . Der nun hier verfolgte spezifisch kritische Erhabenheitsbegriff wählt einen anderen Ansatz. 61 62
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Karlheinz Stockhausen: Texte zur Musik, Bd. 9: 1984-1991, Kürten 1991, S. 714-715. Karlheinz Stockhausen: Texte zur Musik, Bd. 6: 1977-1984, Köln 1989, S. 228. Zur Möglichkeit, Stockhausens Opernzyklus LICHT als eine neue Art absoluter Musik zu verstehen, siehe Markus Wirtz: LICHT – die szenische Musik von Karlheinz Stockhausen: Eine Einführung, Saarbrücken 2000, S. 10ff. The Long Now Foundation, eine 1996 gegründete US-amerikanische Stiftung, finanziert den Bau einer Uhr, deren Glocken nach ihrer Fertigstellung zehntausend Jahre lang in einer Höhle in Westtexas klingen sollen. Der britische Musiker Brian Eno entwickelte für dieses Carillonähnliche Instrument ein Programm, das sicherstellen soll, dass die Glocken innerhalb von zehntausend Jahren niemals eine Melodie wiederholen. Amazon-Gründer Jeff Bezos erwarb für das Projekt den Baugrund und finanziert den Bau der Uhr. Siehe URL: http://longnow.or g/clock/ [Abruf 25.03.2019]. KU, B 74. »Eine Kunst, die den Bedingungen der industriellen Reproduzierbarkeit und immer mehr der industriellen Rentabilität unterworfen ist, muss konsumierbar sein. Die Erhabenheit ist im Gegensatz dazu gerade das Unkonsumierbare, das man nicht verdauen kann.« Jean-François Lyotard in: ders. und Christine Pries: »Das Undarstellbare – Wider das Vergessen: Ein Ge-
Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
Anthropozentrismuskritik meint nicht die Infragestellung der epistemischen Tatsache, dass Erkenntnis ausschließlich dem Menschen eigen ist. Anthropozentrismuskritik soll heißen, dass das Subjekt der ästhetischen Beziehung die ästhetische Situation als Feld qualitativ unterschiedlicher Zeitbeziehungen versteht, die alle erkennbar und produktiv, jedoch ihm selbst nur teilweise verfügbar sind. Unter dieser Prämisse ist die Mensch-Zeit-Beziehung als eine notwendige Beziehung unter anderen zu verstehen, die die erhabene Zeitbeziehung konstituieren. Andere notwendige Beziehungen sind die zwischen Lebenszeit und ästhetischer Zeit sowie zwischen Dauer und Kontinuität. Das Eindringen kontingenter Dauern in die ästhetische Situation erfordert, Erhabenheit nicht mehr nur als eine aporetisch verstellte Subjekt-Objekt-Beziehung zu verstehen, sondern als ein erweitertes Beziehungsfeld zu begreifen. Kritisch kann in diesem Beziehungsfeld zweierlei sein: die Haltung des rezipierenden Subjekts zu seiner Wahrnehmung und der Status von Dauern. So geraten beispielsweise Klang und Stille durch uneindeutige Dauern in Gefahr, ihre Trennschärfe zu verlieren. Ein anthropozentrismuskritischer Zugang zum Erhabenheitsbegriff erfordert daher zweierlei: einen erweiterten Begriff der ästhetischen Situation und einen erweiterten Beziehungsbegriff. Ersterer berührt die musikwissenschaftliche Diskussion um den Werkbegriff. Überlegungen zu einer veränderten Definition des Werkcharakters für die zeitgenössische Musik, wie sie von Sabine Sanio66 vertreten werden, stellen die ästhetische Situation in den Mittelpunkt. Interessant daran ist zweierlei: Erstens wird der Werkbegriff für Prozesshaftigkeit geöffnet.67 Zweitens gerät die Bedeutung der Aufführungssituation in den Blick.68 Die produktionsästhetischen Verfahren, die ein musikalisches Werk zum Prozess hin öffnen, werden im zweiten Kapitel eingehend untersucht. Dabei soll gezeigt werden, dass der Werkcharakter nicht auf-
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spräch zwischen Jean-François Lyotard und Christine Pries«, in: Pries, Das Erhabene, S. 319-347 (S. 340). Sanio arbeitet insbesondere heraus, wie der Einsatz von Zufallsverfahren durch John Cage das traditionelle musikalische Werk in Richtung Unbestimmtheit öffnet. »Die Auflösung des Werkcharakters der Musik zugunsten eines ganz allgemein durch Unbestimmtheit ›organisierten‹ musikalischen Prozesses stellt die Voraussetzung für die neue selbstbestimmte Situation des ästhetischen Subjekts dar, dessen Verhalten kein ästhetisches Objekt mehr strukturiert, sondern sich als ästhetisches intentionslos und frei entfaltet.« Sabine Sanio: Alternativen zur Werkästhetik: John Cage und Helmut Heißenbüttel, Saarbrücken 1999, S. 120. »[Cages – S. H.] Prozessbegriff beruht auf einer Wirklichkeitskonzeption, die jede Art von Unterscheidungen, einschließlich der zwischen Beobachter und Beobachtetem sowie Subjekt und Objekt, relativiert. Alle beteiligten Akteure, Interpreten wie Publikum, sind Teil des ästhetischen Geschehens.« Sabine Sanio: 1968 und die Avantgarde. Politisch-ästhetische Wechselwirkungen in der westlichen Welt, Sinzig 2008, S. 53. »Die Aufführungssituation ist eben nicht mehr bloßer Rahmen für das Werk, sondern selbst Teil des ästhetischen Konzepts«. Sanio, »Ästhetische Erfahrung als Wahrnehmungsübung?«, S. 65.
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gelöst, sondern mit Phasen kontrollierter Kontingenz angereichert wird. Im kompositorischen Umgang mit dem Faktor Zeit kommt es dabei zu einer Verschiebung der Perspektive: Die Zeit selbst wird nicht gestaltet, sondern die ihr immanente Qualität des Werdens wird durch das pure Setzen von Dauern zu Gehör gebracht. Die ästhetische Beziehung zur Zeit muss daher auch nicht durch den Einsatz bestimmter Techniken infrage gestellt oder »überwunden« werden,69 denn es geht im Umgang mit der Zeit nicht mehr darum, den Objektcharakter zu verneinen, sondern die Dynamik aller Zeitbeziehungen der ästhetischen Situation zu verstehen. Für die hier zu erörternde musikalische Kompositionspraxis wird als Konsequenz daraus das Gesamtzeitfeld postuliert. Es besteht als Ort künstlerischer Praxis aus subjektiven und nicht-subjektiven Akteuren. Subjektive Akteure sind alle menschlichen Zeitbeziehungen, nicht-subjektive Akteure sind Beziehungen zwischen musikalischen Dauern und zeitlicher Kontinuität. Dem Gesamtzeitfeld ist eine fortwährende Transformation eigen, die das Subjekt in die Lage versetzt, den Lyotard’schen »spasmodischen Zustand«70 zu überwinden. Das Feld der erhabenen Zeitbeziehung wird also nicht allein als Ort der ästhetischen Rezeption, sondern auch der ästhetischen Situation verstanden, einer Situation mit subjektiv unverfügbaren Akteuren. Dies ist deshalb notwendig, weil gerade für die Erhabenheit diese sich der Verfügbarkeit entziehenden Zeitbeziehungen ebenso wichtig sind, wie das subjektive Erleben. Anders kann die Spannung, die durch stille oder überzeitliche Dauern erzeugt wird, nicht verstanden werden. Von entscheidender Bedeutung ist es daher, zu verstehen, was in diesem Zusammenhang Beziehung bedeutet. Als Beziehung darf hier nicht nur im herkömmlichen Sinne das aufeinander oder das auf klingende Dauern gerichtete Verhalten eines Subjekts verstanden werden, denn beides würde schlicht subjektive Perspektiven hervorbringen. Als Beziehung wird darüber hinausgehend ebenso ein aufeinander gerichtetes Verhältnis von Dauern und das Verhältnis einer Dauer zum Subjekt, das nicht dessen Verfügungsgewalt unterliegt, verstanden. So liegt beispielsweise das Verhältnis zwischen Klang und Stille, aber auch das Verhältnis zur eigenen Lebenszeit außerhalb der subjektiven Handlungsmacht, insofern man diese Macht als ein Bestimmen der Dauer, das heißt von Anfang und Ende, versteht. Der Begriff der ästhetischen Situation muss dafür erweitert werden: Er inkludiert neben der subjektiven Zeitbeziehung auch subjektiv unverfügbare Zeitverhältnisse.
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»Auch die Absicht, als Komponist etwas ohne Objektcharakter herzustellen, ist eine ähnlich paradoxe Unternehmung, wie die intentional realisierte Haltung der Absichtslosigkeit. Zu ihrer Realisierung sind rational entwickelte […] Techniken nötig, die Cage ausgehend von der Technik der Zufallsentscheidungen des I Ging im Laufe der fünfziger Jahre konsequent ausgearbeitet hat.« Sanio, Alternativen zur Werkästhetik, S. 122. Lyotard, Die Analytik des Erhabenen, S. 70.
Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
Subjektiv verfügbar sind im Gesamtzeitfeld der ästhetischen Situation die folgenden Zeitbeziehungen: a) die Beziehung des Zuhörers beziehungsweise des Aufführenden zur Kontinuität, zum Klang und zur Stille b) die ästhetische Zeit des Zuhörers beziehungsweise des Aufführenden zu seiner eigenen Lebenszeit c) die ästhetische Zeit des Zuhörers zur ästhetischen Zeit des Aufführenden
Am Begriff der Kontinuität wird hier im Sinne der lebensphilosophischen Begriffstradition festgehalten. Kontinuität ist keine ewigkeitsgleiche Substanz für das Einschreiben von Dauern, sondern die Art und Weise, wie sich Veränderung vollzieht.71 Sie soll hier als Bewegungsprinzip des Gesamtzeitfeldes verstanden werden. Zuhörer und Aufführende setzen selbstbestimmt gewisse Dauern ihrer Lebenszeit einer gewählten Situation der Veränderung, zum Beispiel einem Konzert, aus (a). Im Rahmen einer Aufführung entscheidet der Zuhörer über die Dauer seiner Anwesenheit und der Aufführende über die Ausführung des Werks. Beide entscheiden somit über Dauern ästhetischer Zeit innerhalb ihrer Lebenszeit (b). Beider Entscheidungen können voneinander abweichen, ein Zuhörer kann die Aufführung vorzeitig verlassen (c). Subjektiv nicht verfügbar sind folgende Zeitverhältnisse: d) das Verhältnis von Klang und Stille zueinander e) das Verhältnis von Klang und Stille zur Kontinuität f) das Verhältnis der Lebenszeit von Zuhörern und Aufführenden zur Kontinuität
Die Grenzen der Dauern von Klang und Stille sind nicht eindeutig bestimmbar. Das Verklingen des Klangs und das Erklingen der Stille sind nicht klar von der klingenden Kontinuität abgrenzbar. Ihr Verhältnis zueinander (d) ist daher subjektiv ebenso wenig verfügbar wie das zwischen Klang und Stille zur Kontinuität (e). Das Verhältnis der Lebenszeit von Zuhörern und Aufführenden zur Kontinuität wiederum unterliegt der unwägbaren Lebensdauer (f). Alle Zeitverhältnisse befinden sich in permanenter Veränderung. Nichts verharrt (zum Beispiel in einer Aporie), alles wandelt sich ständig. Die erstrangige Qualität des Gesamtzeitfeldes ist die Transformation. Bevor im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit musikalische Verfahren diskutiert werden, die Klänge, Aufführende und Zuhörer der Stille beziehungsweise der Überzeitlichkeit aussetzen, sollen systematisch Aspekte von Stille und Überzeitlichkeit herausgearbeitet werden, 71
Henri Bergson: »Die Wahrnehmung der Veränderung« in: ders., Denken und schöpferisches Werden, S. 149-179 (S. 178).
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die diese klassischen Kategorien des Erhabenen für die transformative Perspektive qualifizieren.
1.3.1. Herleitung der transformativen Perspektive: Die klassisch erhabenen Kategorien der Stille und Überzeitlichkeit Stille und Überzeitlichkeit wurden durch die Jahrhunderte immer wieder als Topoi von Erhabenheit aufgerufen, da sie die Grenzen- und Formlosigkeit in einer ästhetischen Beziehung exemplarisch verkörpern. Je nach Verortung der erhabenen Situation in der Rhetorik, der Bildenden Kunst oder der Musik konnten sie dabei spezifische Formen (Schweigen, Unterbrechung, Unendlichkeit etc.) annehmen. Hier soll zunächst die begriffliche Traditionslinie aufgezeigt werden, an die eine transformative Perspektive auf diese Kategorien anschließen kann. Es handelt sich um diejenige Begriffstradition, die am ästhetischen Gegenstand außerhalb des Subjekts festhält. Diese Subjekt-Objekt-Dichotomisierung ist ein notwendiger Zwischenschritt. Da es um die Produktionsästhetik musikalischer Werke, um kontrollierte Kontingenz, das heißt um Dauern, geht, die zunächst gesetzt werden, um sich ihnen dann auszusetzen, müssen alle an dieser ästhetischen Situation beteiligten Akteure identifiziert werden. Erst dann kann festgestellt werden, wie Stille und Überzeitlichkeit selbst als nicht-menschliche Akteure in diesen Dauern wirken. Stille und Überzeitlichkeit werden bereits bei Pseudo-Longinos als klassische Aspekte der Erhabenheit verhandelt.72 Als zu Beginn des 18. Jahrhunderts die subjektiven Wahrnehmungsweisen in den Mittelpunkt der Ästhetik rücken, ist es Edmund Burke73 , der an identifizierbaren Gegenständen, sogenannten Privationen – also Entbehrungen – als Ursache der Verschmelzung von Schrecken und Leidenschaft im ästhetischen Erleben festhält. Unendlichkeit, so Burke, erfülle den Menschen mit frohem Schrecken, weil sie konträr zu allem menschlich Erfahrbaren stehe. Unvollendetsein rege die unendliche Einbildungskraft an und das Schweigen konfrontiere mit einem maßvollen Horror Vacui.74 Burke verhandelt Unendlichkeit primär räumlich und nicht zeitlich. Ästhetisch produziert, ist sie bei ihm immer künstlich, sinnlich hingegen nicht erfassbar.75 Diese Unterscheidung er72
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Pseudo-Longinos versteht das Schweigen als produktionsästhetisches Stilmittel erhabener Rede. Eine Veränderung der natürlichen Wort- oder Gedankenfolge als Abbild leidenschaftlicher Erregung, Hyperbaton genannt, erzeugt eine Schwebe und die Angst, die Rede könne auseinanderbrechen. Siehe: Longinus, Vom Erhabenen, §9 und §22. Burke, Philosophische Untersuchung. Ebd., S. 107, 110, 114. Ebd., S. 110. Im deutschsprachigen Raum vertritt Moses Mendelssohn eine ähnliche Position. Ewigkeit rechnet Mendelssohn den »Gegenständen der Natur« zu, die die Kunst unter anderem durch offene Enden und Schweigen nachahme. Resultat sei eine »zusammengesetzte
Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
laubt es ihm, die ästhetische Beziehung zum Grenzen- und Formlosen als eine der aufrechterhaltenen Spannung zwischen Subjekt und äußerem Objekt zu konzipieren, auch wenn sie etwas sinnlich nicht Wahrnehmbares thematisiert. Diese am äußeren Gegenstand der ästhetischen Beziehung festhaltende Perspektive findet sich durchgehend auch im deutschsprachigen Erhabenheitsdiskurs von Herder und Hegel über Schelling bis Vischer, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Herder entwickelt seine Kritik an Kants transzendentaler Vernunft in Auseinandersetzung mit dem Grenzen- und Maßlosen des Erhabenen.76 Er verweigert Kants Kunstgriff, das Subjekt spüre seine Vernunftkräfte über das Erhabene, obwohl es den erhabenen Gegenstand offenbar nicht erfassen und nicht spüren könne. Anthropozentrismuskritik äußert sich bei ihm als Zurückweisung der Selbsterhöhung. Die Unendlichkeit selbst fasst Herder nicht als absolute, sondern relationale Kategorie. Darin steckt seine Vernunftkritik. Zwar eigne der Unendlichkeit ein anderes Maß als der sinnlich erfahrbaren Endlichkeit, aber die Künste verfügten über unterschiedliche Techniken, ein Gefühl von Unendlichkeit maßvoll zu erzeugen. Die Musik könne dies durch die plötzliche Unterbrechung des Alltags und die Setzung eines musikimmanenten Maßes.77 Wenn F. W. J. Schelling Zeit als »allgemeine Form der Einbildung des Unendlichen ins Endliche«78 versteht, so geht dem ein spezifisches Naturverständnis voraus. Die organische Natur, so Schelling, könne nicht mit Formlosigkeit zusammengedacht werden. Alles Organische ist seinem Wesen nach unendlich – alles entsteht aus etwas anderem – seiner Form nach aber begrenzt.79 Zwischen Unendlichkeit und Formlosigkeit besteht also eine Differenz. In der Natur findet sich eine notwendige Verbindung von Unendlichkeit und Form. Sie ist daher ein Modell für die Musik, denn »diese selbe Einbildung des Unendlichen in das Endliche ist auch die Form der Musik.«80 Diese Sichtweise hat Konsequenzen für das Erhabene: »Alle Erhabenheit ist entweder Natur oder Gesinnung«.81 Schellings Definition erlaubt die Unterscheidung zwischen erhabenem Gegenstand und Subjekt. Aus dem jeweiligen Verhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit ergibt sich, ob ein Gegen-
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Empfindung« und ein »süßer Schauer«. Siehe Moses Mendelssohn: »Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften« (1769), in: Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Nach den Originaldrucken und Handschriften, herausgegeben von Georg Benjamin Mendelssohn in sieben Bänden, Bd. 1, Hildesheim 1972, S. 307-347 (S. 310, 312). Herder, Kalligone, S. 209/210. Ebd. S. 230. Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Schriften zur Philosophie der Kunst, hg. von Otto Weiß, Leipzig 1911 (¹1859), S. 139. Schelling: Schriften zur Philosophie der Kunst, S. 67/68. Ebd., S. 149. Ebd., S. 110.
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stand mehr oder weniger erhaben oder schön ist.82 Dieses Verhältnis, so Schelling, ist ästhetisch immer wieder neu gewichtet worden. Es ist aber immer ein ästhetisches Verhältnis und keines zur Natur an sich. Mit Schelling lässt sich, bezogen auf die Zeit als Beziehungsgröße, sagen: Nicht die menschliche Beziehung zur Zeit an sich ist eine Quelle des Erhabenen, sondern die Beziehung zur ästhetisch gestalteten Zeit. Dies erfordert geeignete Objekte außerhalb des Subjekts, zu denen die Musik zählt. Wesentlich für die hier skizzierte Traditionslinie des Erhabenheitsbegriffs ist Schellings Unterscheidung zwischen Unendlichkeit und Formlosigkeit. Sie erlaubt, die Unendlichkeit als ästhetisch gestaltete Form zu denken. Friedrich Theodor Vischers »Aesthetik«83 kann als letzter substanzieller Beitrag zum Erhabenheitsdiskurs vor seiner instrumentellen Inbesitznahme im 20. Jahrhundert gelten, und wieder wird der Begriff an seinem Verhältnis zur Zeit geschärft. Vischer widmet dem Erhabenen der Zeit einen eigenen Paragrafen: In positiver Form tritt das Erhabene der Zeit auf, wenn eine Erscheinung die umgebenden Dinge so lange überdauert, dass der Zuschauer in ihr das Gefühl ihrer Endlichkeit mit dem Gefühle der unendlichen Zeit zusammenfasst. […] Erscheint nun selbst das lange Dauernde, das geeignet war, das positiv Erhabene der Zeit darzustellen, und mit ihm alles Dauernde als vergänglich, so kommt dadurch die reine Unendlichkeit der Zeit zum Ausdruck, wogegen das längste Daseyn ein verschwindender Punkt ist. Dies ist die negative Form.84 Vischers »positive Form« entspricht der in der vorliegenden Arbeit »überzeitliche Dauer« genannten Zeitform. Die »negative Form« hat ihr Synonym in der Kontinuität. Wie schon Herder, Hegel und Schelling hält auch Vischer am erhabenen Gegenstand außerhalb des Subjekts fest. Der Gegenstand steht für ihn am Anfang, er bleibt der Bezugspunkt des subjektiven Erlebens, weil er einen Widerspruch ausdrückt. »Es ist ein Fortschreiten und >Zurücksinken< zugleich, ein Halten und Verlieren und diese Bewegung hat ihren Grund im Gegenstande, der in jedem Moment seine Grenze aufzuheben im Begriff ist und sie doch festhält, der in der Grenze über die Grenze hinausgeht.«85 Der Gegenstand wird also gefunden und nicht in etwas hineingelesen. In diesem Festhalten am erhabenen Gegenstand steckt Vischers Anthropozentrismuskritik. Der Gegenstand selbst bewegt sich auf einer Grenze und verschiebt so auch immer wieder die Perspektive auf ihn. Wenn Vischer seine Differenzierung von positiver und negativer Form an einer der Burke’schen Privationen durchführt, so definiert er damit genau jenen Möglichkeitsraum, der durch den Einbruch von Stille in einer Komposition entsteht:
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Ebd., S. 117. Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, Reutlingen u.a. 1846. Ebd., §93, S. 239; §94, S. 240/241. Ebd., S. 222.
Kapitel 1: Zeitkunst und Erhabenheit
Der Ausfluss der Negation aus dem positiv Tätigen bleibt auch da in seiner Geltung, wo völlige Ruhe, eine Abwesenheit des Lebens, die jedoch gemäß dem Gesetze alles Schönen selbst noch sinnlich sich darstellen muss, in der erhabenen Erscheinung herrscht, denn in dieser gibt sich entweder eine vorhergegangene oder eine mögliche und bevorstehende, noch in sich zusammengehaltene Kraftentwicklung zu erkennen, und beidemal wirkt dieser Rückfall doppelt stark durch die Unendlichkeit des Hintergrunds.86 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es Nicolai Hartmann, der mit seiner posthum erschienenen »Ästhetik«87 im deutschsprachigen Raum einen Neuanfang formuliert, das Erhabene gegenstandsanalytisch zu denken. Er vollzieht zwei innovative Denkschritte der Abgrenzung sowohl von der transzendentalen wie von der romantischen Lesart des Erhabenen. Zunächst trennt er den erhabenen Gegenstand von der Notwendigkeit der Unendlichkeit. Er muss, so Hartmann, nicht groß sein, sondern groß wirken. Überwältigung im Rahmen einer erhabenen Situation hat ihre Ursache also nicht in der physischen Größe des Gegenstands, sondern in seiner Überlegenheit dem Menschen gegenüber.88 Seine qualitative Seite wird gegenüber der quantitativen aufgewertet. Das ist deshalb wichtig, weil Hartmanns zweiter Schritt in einer Vermenschlichung des Maßlosen der erhabenen Beziehung im Diesseits besteht. Dafür muss er aber die bis dato gesetzte Ambivalenz in der erhabenen Situation positiv deuten, ohne in die instrumentelle Falle zu tappen. Dies bedingt, die Beziehung zwischen Subjekt und erhabenem Objekt als eine des Einanderentsprechens zu definieren.89 Das Erhabene konfrontiert den Menschen also nicht mehr mit etwas Unmöglichem, sondern mit etwas Möglichem. Hartmann vermutet den Impuls des Menschen, dieses Mögliche zu suchen, als Sinnsuche. Damit spricht er in expliziter Abgrenzung zu Kant dem erhabenen Gegenstand einen Wert zu.90 Hartmanns Anthropozentrismuskritik steckt in der Umdeutung der Beziehung zum erhabenen Gegenstand von einer quantitativen Unerreichbarkeit zu einer qualitativen Erreichbarkeit. Das bestimmt seine Vernunftkritik. In Hartmanns Wendung der erhabenen zu einer möglichen Beziehung steckt die Temporalität des Denkbaren wie dessen Aporien. Das Nicht-Mögliche wird zum Nochnicht-Möglichen. Hier sei zusammengefasst: Die für eine transformative Perspektive auf die erhabene Zeitbeziehung wesentliche Traditionslinie hält am ästhetischen Gegen86 87 88 89
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Ebd., §86, S. 224/225. Nicolai Hartmann: Ästhetik, Berlin 1953. Ebd., S. 370. »5. an die Stelle des Nichtentsprechens und der Unangemessenheit tritt ein klares, im Menschenwesen von vornherein liegendes Entsprechen zwischen dem Überlegenen des Gegenstandes und einem seelischen Bedürfnis des Menschenherzens.« Ebd., S. 374. Ebd., S. 376.
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stand außerhalb des Subjekts fest. Für Stille und Überzeitlichkeit bedeutet dies, dass ihnen im Folgenden vier Eigenschaften zugesprochen werden sollen: Qualität (statt Quantität), Formhaftigkeit (statt Formlosigkeit), Grenzhaftigkeit und Relationalität (Beziehungshaftigkeit). Stille und Überzeitlichkeit ermöglichen spezifische Beziehungen im Gesamtzeitfeld. Diese Beziehungen sind charakterisiert durch die Merkmale Entsprechung und Dynamik. Entsprechung bedeutet für das Subjekt, es begegnet im Erhabenen nicht einem unerreichbaren Absoluten, sondern setzt sich zur erhabenen Situation in ein dynamisches Verhältnis. Dynamik bedeutet, stillen und überzeitlichen Dauern eignet ebenso wie den Aufführenden und Rezipienten einer musikalischen Aufführung die fortwährende Transformation. Stille und Überzeitlichkeit überwältigen daher nicht durch ihre Absolutheit, sondern durch die Vielfalt an Zeitbeziehungen, die sie ermöglichen. Das soll im zweiten Kapitel musikästhetisch überprüft werden.
Kapitel 2: Die Komponistengruppe Wandelweiser als Denk- und Praxisraum experimenteller Musik
Wandelweiser1 ist nicht nur eine Gruppe von Komponisten, die ihre Werke in einer Edition veröffentlichen. Sie wird im Folgenden als Denk- und Praxisraum an der Schnittstelle von zeitgenössischer Musik, Klangkunst und philosophischer Ästhetik näher betrachtet. Primärquellen dieser Untersuchung sind zunächst Partituren und Aufführungsvorschriften ausgewählter Werke sowie CDs und Texte, die von Mitgliedern der Gruppe in der edition wandelweiser seit 1992 erschienen sind. Einige Komponisten haben für ihr kompositorisches Selbstverständnis wichtige Texte auf der Internetseite der Gruppe veröffentlicht.2 Auch die Chronik der seit 1994 von Antoine Beuger veranstalteten Konzertreihe KLANGRAUM Düsseldorf ist online zugänglich. Eine weitere Primärquelle sind die zwischen 2016 und 2018 von der Autorin geführten Gespräche mit Mitgliedern der Komponistengruppe, die die philosophisch-ästhetische Verortung der jeweiligen Kompositionspraxis explizit thematisieren und die Werkanalysen in einen produktionsästhetischen Kontext stellen. Darüber hinaus findet Sekundärliteratur Beachtung, die die Kompositionspraxis von Wandelweiser innerhalb der zeitgenössischen Musik diskutiert. Einige der heute zum Kern der Gruppe Wandelweiser gehörenden Mitglieder trafen erstmalig vom 10. bis 14. September 1991 in Boswil (Schweiz) aufeinander. Die dortige Stiftung Künstlerhaus hatte einen Wettbewerb unter dem Motto »Stille Musik« ausgeschrieben.3 Es ging auf den Schweizer Komponisten Klaus Huber zurück, der, mit buddhistischer und sufistischer Philosophie und ihren Zeitkonzepten vertraut, ein explizites Verständnis musikalischer Stille als »eine offene
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In Übereinstimmung mit Publikationen der Komponistengruppe gilt die folgende Schreibweise: Komponistengruppe Wandelweiser, edition wandelweiser. https://www.wandelweiser.de Das Künstlerhaus Boswil ist im Jahr 1991 aus einem Künstlerheim hervorgegangen, das unter der Leitung von Willy Hans Rösch dreißig Jahre lang mittellosen älteren Künstlern eine Heimstatt bot und durch die Einrichtung internationaler Kurse und Symposien zu einem lebendigen Ort zeitgenössischer Musik wurde. URL: https://www.kuenstlerhausboswil.ch/ueb er-uns/geschichte [Abruf: 01.10.2019].
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Zeit, in der etwas hörbar wird, was sich nicht in den Vordergrund rückt«, hatte.4 Der von ihm initiierte Kompositionswettbewerb hatte die Intention, als Gegenbewegung zum Kalten Krieg in Boswil einen Interaktions- und Erfahrungsraum für Komponisten aus Ost und West zu schaffen. Dies gelang nachhaltig.5 Die Jury des Wettbewerbs »Stille Musik« bestand aus Dieter Schnebel (D), Roland Moser (CH), Alfred Schnittke (D), Marianne Schroeder (CH), Jakob Ullmann (D) und Christian Wolff (USA). Die Wahl des Mottos »Stille Musik« entsprach nicht nur Hubers persönlicher langjähriger Auseinandersetzung mit Stille als formalem Moment der Musik,6 das Motto lud auch ein, die musikalische Grenze zwischen Erklingen und Verklingen, zwischen Klang und Stille auszuloten. Voraussetzung dafür war das zu diesem Zeitpunkt bereits fast vierzig Jahre existierende Werk 4’33” von John Cage, dessen Werkcharakter erstmalig ausschließlich durch die Bestimmung einer Dauer, innerhalb der Stille herrschen soll, festgelegt worden war.7 Gerade Klaus Huber war durch sein umfangreiches Wissen über Zeitkonzepte in unterschiedlichen spirituellen Traditionen der östlichen und westlichen Hemisphäre in der Lage, dem »Stille Musik«-Wettbewerb durch die Auswahl der Teilnehmer ein facettenreiches Profil zu verleihen. Eingeladen wurden Antoine Beuger (NL), Juerg Frey (CH), Dieter Jordi (CH), Ricardas Kabelis (LT), Hiroshi Kihara (JP), Chico Mello (BRA), Urs Peter Schneider (CH) und Ernstalbrecht Stiebler (D).8 Antoine Beuger und Juerg Frey, die sich in Boswil kennenlernten, gehören heute zum Kern der Komponistengruppe Wandelweiser. Antoine Beuger und Burkhard Schlothauer, die in den 80er-Jahren einige Jahre Mitglieder der von Otto Mühl gegründeten Aktionsanalytischen Organisation (AAO) gewesen waren, gründeten 1992 die edition wandelweiser. Beuger etablierte 1994 das bis heute jährlich stattfindende Festival KLANGRAUM Düsseldorf als Praxisraum experimenteller Musik.
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Klaus Huber und Claus-Steffen Mahnkopf: Von Zeit zu Zeit: Das Gesamtschaffen. Gespräche mit Claus-Steffen Mahnkopf, Hofheim 2009, S. 126. Klaus Huber und Max Nyffeler: Klaus Huber: Dossier 2, Bern u.a. 1989, S. 90/91. Siehe auch die Broschüre 60 Jahre Künstlerhaus Boswil, URL: https://www.kuenstlerhausboswil.ch/ueber-un s/geschichte [Abruf: 01.10.2019]. Huber und Mahnkopf, Von Zeit zu Zeit. Siehe auch Dieter Daniels: Sounds like silence – John Cage – 4'33'' – Silence today – 1912, 1952, 2012, Leipzig 2012. Dörte Schmidt: »›It’s important that you read the score as you’re performing it‹: Die Fassungen von 4'33' aus philologischer Sicht«, in: Gabriele Buschmeier, Ulrich Konrad und Albrecht Riethmüller (Hg.): Transkription und Fassung in der Musik des 20. Jahrhunderts. Beiträge des Kolloquiums in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur vom 5. bis 6. März 2004, Stuttgart 2008, S. 11-43 diskutiert die zwischen 1952 und 1990 erschienenen diversen Fassungen und Weiterentwicklungen von Cages 4'33'. Douglas G. Barrett: »The Silent Network – The Music of Wandelweiser«, in: Contemporary Music Review 30, Nr. 6 (2011), S. 449-470 (S. 453).
Kapitel 2: Die Komponistengruppe Wandelweiser als Denk- und Praxisraum
2.1. Wandelweiser als Denkraum 1992 war John Cage gestorben. Im gleichen Jahr wurde die edition wandelweiser gegründet. Michael Pisaro betont, dass Wandelweiser »keine einheitliche ästhetische Position verkörpert«, sondern von Beginn an ein gemeinsames »Interesse an Stille, Dauer und an d(er) radikale(n) Erweiterung der Ideen von Cage« hatte.9 Zu Beginn der 90er-Jahre begannen einige Komponisten zunächst unabhängig voneinander, sich mit der Ausdehnung von Stille in der Musik zu beschäftigen.10 Das Festhalten an der Frage, was Cages Komposition 4’33’ eigentlich für die Kompositionspraxis von heute bedeutet, wurde dann zum Ausgangspunkt des Denk- und Praxisraums Wandelweiser.11
Die edition wandelweiser Der von Antoine Beuger und Burkhard Schlothauer in Haan bei Düsseldorf gegründete Verlag veröffentlicht seit 1992 Partituren, seit 1996 CD-Einspielungen von Wandelweiser- und anderen Komponisten sowie seit 2004 Schriften von und über Wandelweiser-Komponisten, die ihre Praxis reflektieren.12 Als programmatisch darf die erste CD-Veröffentlichung 1996 verstanden werden, »Cage. Pisaro. Frey. Beuger« mit Einspielungen von Cheap Imitation (J. Cage), Sam Lazaro Bros (J. Frey), here (2) (M. Pisaro) und die geschichte eines sandkorns (A. Beuger). Das Booklet evoziert wiederkehrend Metaphern von Überzeitlichkeit und Entgrenzung. So heißt es über Cheap Imitation: »(T)his music comes from nowhere, goes nowhere, is forever on its way…«; Sam Lazaro Bros wird charakterisiert als »infinitely inflecting line, that has no intention of connecting two points«; und über die geschichte eines sandkorns wird gesagt: »This is a quiet piece with events taking place only once in a while. […] Listening to this music does not in the first place address memory. It rather involves freeing the mind from ideas, anticipations and rememberances.«13 Unabhängig davon, ob Cage selbst Cheap Imitation so charakterisiert hätte, positionieren sich die Wandelweiser-Komponisten mit dieser ersten Veröf-
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Pisaro: WANDELWEISER, 2009, URL: https://www.Wandelweiser.de/_texte/erstw-deutsch. html [Abruf 25.07.2019]. Antoine Beuger, Jürg Frey, Radu Malfatti, Kunsu Shin, Manfred Werder. Antoine Beuger, Gründungsmitglied der Komponistengruppe Wandelweiser und Geschäftsführer der edition wandelweiser, äußert sich explizit zur entscheidenden Bedeutung von Cage für seine Kompositionspraxis. Siehe Antoine Beuger: »Grundsätzliche Entscheidungen«, in: Positionen: Texte zur aktuellen Musik 41 (1999), S. 8/9. Alle Kataloge unter https://www.wandelweiser.de. John Cage u.a.: Cage. Pisaro. Frey. Beuger: accordion music, [CD] Haan (edition wandelweiser Records Nr. EWR 9601/2) 1996.
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fentlichung in seiner direkten Nachfolge und artikulieren ein explizites Interesse an musikalischer Zeitlichkeit. In den ersten zwei Jahren der Edition veröffentlichten sechs Komponisten, die heute noch zum Kern der Gruppe gehören, teils ältere, teils zu Beginn der 90erJahre entstandene Werke. Antoine Beuger, der in der Zeit, als er in der Otto-MühlKommune lebte, das Komponieren unterbrochen hatte, veröffentlichte als erstes Werk in der edition wandelweiser seine 1975 noch während des Studiums entstandene Komposition solo in difference (ew01.001) und als zweites seine 1989 entstandene Komposition musik No.1 (ew01.002). In diesem Brückenschlag zeigt sich, wie die Edition Beuger für die Integration seines kompositorischen Schaffens diente. Ähnliches kann für Jürg Frey gesagt werden. Seine erste Wandelweiser-Veröffentlichung ist ein Werk aus dem Jahr 1984 (Sam Lazaro Bros, ew02.001), die zweite datiert aus dem Jahr 1990 (Invention, ew02.002). Auch Frey schlägt eine Brücke zwischen seinem Schaffen vor und in Wandelweiser. Das Gleiche gilt für Thomas Stiegler (1987, ew00.001; 1990, ew09.002; 1992, ew09.003). Manfred Werder veröffentlichte 1991 seine erste Komposition bei Wandelweiser (klavierstück für vierteltonduo, ew13.001), Burkhard Schlothauer 1992 (Trouvé, ew07.001). Neben den Genannten gehörte von 1994 bis 1999 auch der südkoreanische Komponist Kunsu Shin zum Kern der Gruppe. Bis 1994 mit dem KLANGRAUM Düsseldorf ein regelmäßiges Praxisfeld experimentellen Musizierens geschaffen wurde, veröffentlichten acht Komponisten ihre Werke in der edition wandelweiser.14 Im Jahr 2010 gehörten der Edition einundzwanzig Komponisten sowie bildende und Performancekünstler an.15 Um zu verstehen, warum Cage in den 1990er-Jahren des 20. Jahrhunderts ein so wichtiger Bezugspunkt für die zeitgenössische Musik werden konnte, soll hier zunächst der Frage nachgegangen werden, welche seiner Zeitkonzepte ein unverbrauchtes Potenzial für die Kompositionspraxis von Wandelweiser darstellen. Dabei soll es um solche Zeitkonzepte gehen, die ein Potenzial der Entgrenzung besitzen.
2.2. Cages Verfahren von Entgrenzung als Ausgangspunkt des Denkund Experimentalraums von Wandelweiser-Komponisten Im Folgenden werden drei wesentliche Konzepte der Entgrenzung thematisiert, die die Material-, Produktions- und Rezeptionsästhetik von Cages Werken betreffen. Erstens soll untersucht werden, inwiefern die Integration von Stille in der Musik 14 15
Antoine Beuger, Jürg Frey, Carlo Inderhees, Anastassis Philippakopoulos, Michael Pisaro, Burkhard Schlothauer, Thomas Stiegler und Manfred Werder. Siehe URL: https://www.Wandelweiser.de/edition-w-w.html [Abruf 24.07.2019].
Kapitel 2: Die Komponistengruppe Wandelweiser als Denk- und Praxisraum
material- und produktionsästhetisch Kontingenz impliziert. Zweitens soll das Autorisieren offener Prozesse als Form experimenteller Musik charakterisiert werden. Drittens wird es darum gehen, welche Konsequenzen die Aufhebung der konventionellen Aufführungspraxis für die Entgrenzung der Subjekt-Objekt-Beziehung in der ästhetischen Situation hat.
Stille Cage beschäftigte sich intensiv mit dem Verhältnis von Stille und Klang. Stille, schreibt er, verlange einen spezifischen Umgang mit Zeit, denn, anders als der Klang, besitze sie nur eine einzige Struktur, die der Dauer.16 Dauer könne hingegen beides beinhalten: Klang und Stille. In dieser Erkenntnis steckt Cages erster Schritt der Ablösung von der Absicht, musikalische Objekte zu komponieren, und der Hinwendung zum Initiieren offener Prozesse. Klangobjekte können musikalisch erzeugt werden, Stille hingegen muss ermöglicht werden. Mehring betont: »Man darf Cages Logik nicht dahingehend missverstehen, dass das Zeitmaß zur alleinigen Regelgröße in der Musik erhoben werden soll. Vielmehr geht es Cage darum, die Betonung vertikaler, harmonischer Strukturen in der europäischen Kunstmusik zugunsten horizontaler, zeitlicher Strukturen zu verschieben.«17 Cage: »For, when, after convincing oneself ignorantly that sound has, as its clearly defined opposite, silence, that since duration is the only characteristic of sound that is measurable in terms of silence, therefore any valid structure involving sounds and silences should be based, not as occidentally traditional, on frequency, but rightly on duration […].«18 Cages Verständnis von Stille lässt sich der US-amerikanischen transzendentalistischen Denktradition zuordnen.19 Zwar wird gerade für die Integration von Stille in Musik immer wieder sein Interesse an fernöstlicher Philosophie geltend gemacht; wie Erdmann jedoch herausgearbeitet hat, geschah Cages Hinwendung zu buddhistischen Denkfiguren unsystematisch und lässt sich nicht unmittelbar an einem Werk ablesen.20 Auch geht seine Auseinandersetzung mit Stille seinen ersten Begegnungen mit dem Buddhismus voraus.21 Gerade seine Deutung der Stille 16 17 18 19 20 21
John Cage: »45' für einen Sprecher«, in: ders.: Silence, übersetzt von Ernst Jandl, Frankfurt a.M. 1995, S. 63-157 (S. 107). Frank Mehring: Sphere Melodies: Die Manifestation transzendentalistischen Gedankenguts in der Musik der Avantgardisten Charles Ives und John Cage, Stuttgart u a. 2003, S. 129. John Cage: »Experimental Music: Doctrine«, in: ders.: Silence: Lectures and writings by John Cage, S. 13-17 (S. 13). Mehring, Sphere Melodies. Martin Erdmann: Untersuchungen zum Gesamtwerk von John Cage, Bonn 1993, S. 36. Cage erwähnte bereits 1948 in einem Vortrag seinen Plan, ein »stilles Stück« zu komponieren. Siehe: Eric De Visscher: »›There’s no such thing as silence…‹: John Cage’s Poetics of Silence«
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als quasi natürliche Kontinuität offenbart seine Verwurzelung im US-amerikanischen Transzendentalismus, insbesondere in der »Schule von Concord«. Zu jener Schule zählten im Neu-England des 19. Jahrhunderts unter anderem Ralph Waldo Emerson (1803–1882) und Henry David Thoreau (1817–1862). Emerson legte mit seiner Essaysammlung »Nature« 1836 die theoretische Basis und begründete die unitarische Bewegung des US-amerikanischen Transzendentalismus, der sich Thoreau später anschloss. Dieser Transzendentalismus »rückt […] die Einheit aller Erfahrung in den Mittelpunkt seiner Philosophie […]. Kunst […] ist ein Abbild der Natur […].«22 In diesem Geleitetsein durch die Erfahrung drückt sich der Bezug zum US-amerikanischen Pragmatismus aus, wie er durch Charles S. Peirce und William James dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründet wurde. Der starke Pragmatismus der transzendentalen Philosophie23 entspricht Cages Impuls, alle Klänge in seiner Musik willkommen zu heißen. »[…] I had been struck by the twentieth-century way Thoreau listened. He listened, it seemed to me, just as composers using technology nowadays listen. He paid attention to each sound, whether it was ›musical‹ or not, just as they do; and he explored the neighborhood of Concord with the same appetite with which they explore the possibilities provided by electronics.«24 Diese Unvoreingenommenheit und Offenheit gegenüber dem Alltäglichen fasziniert Cage. Die Bereitschaft, möglichst allen Wahrnehmungen die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken, impliziert, sie aus den Hierarchien, in die sie üblicherweise eingespannt sind, herauszulösen. Dies erfordert eine Denkungsart, die die Dinge selbst in den Vordergrund, die Ordnungen jedoch, denen sie entstammen, so weit in den Hintergrund setzt, bis diese sich auflösen. Auch das findet Cage bei Thoreau: »Mentioning opposites, he called them correlatives.«25 Widersprüche schließen sich nicht aus, sondern bilden zwei Seiten eines Ganzen. Die hierarchiefreie Betrachtung von Dingen schließt das betrachtende Subjekt ein. Auch die Bereitschaft, Stille nicht als Abwesenheit, sondern Anwesenheit von etwas wahrzunehmen, findet sich bereits bei Thoreau: »More than anything else we need communion with everyone. […] Thoreau said: The best communion man have is in
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(1991) in: Richard Kostelanetz (Hg.): Writings about John Cage, Ann Arbour 1993, S. 117-133 (S. 117ff.). Entgegen Cages späterer Selbsterzählung, fand seine Begegnung mit dem buddhistischen Lehrer Daisetz Suzuki erst danach statt. Siehe Erdmann, Untersuchungen, S. 40/41. Wolfgang Rathert: »Musik als Philosophie – Ives und Cage in der Nachfolge des Transzendentalismus«, in: Der Hang zum Gesamtkunstwerk: Europäische Utopien seit 1800, Beiheft zur gleichnamigen Ausstellung, hg. vom Berliner Künstlerprogramm des DAAD, Berlin 1983, S. 53-59 (S. 54). Ebd., S. 55. John Cage: »Foreword«, in: ders.: M: Writings '67–'72, London 1973, S IX. John Cage: »Diary: How to Improve the World (You Will Only Make Matters Worse), continued 1968 (revised version)«, in: M: Writings, S. 3-25 (S. 3).
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silence.«26 Cage wird es immer wieder darum gehen, das Verhältnis von Klang und Stille zu ordnen und Prozesse zu initiieren, in denen sich Stille ausbreiten kann. Durch die Einladung der Stille in seine Kompositionen versucht er, eine moderne Form von Kontinuität zu stiften. In seinen »Lectures«27 ordnet er die Kontinuität (continuity) dem Nichts (nothing) und die Diskontinuität (no-continuity) dem Etwas (something) zu. Durch Implementierung der Stille in die Musik wird die diskontinuierliche Zeit, der Klang, mit der kontinuierlichen Zeit, der Stille, verbunden.28 Cage versteht Stille also als unendliches Kontinuum, das von Klängen unterbrochen wird. Ästhetisch muss sie daher durch Dauersetzungen integriert werden. An den Fassungen seines Stückes 4’33’ lässt sich nachvollziehen, dass sich sein Verständnis von Stille mit der Zeit durchaus veränderte.29 Ob es nun darum geht, die Stille dem Klang gegenüberzustellen oder die Stille selbst zum Klingen zu bringen: Hier soll zunächst festgehalten werden, dass die Setzung von stillen Dauern immer die Integration einer kontingenten Situation in eine Komposition impliziert. Dies betrifft zunächst das Material der Stille: Stille bedeutet »die Gesamtheit unbeabsichtigter Klänge. Klang und Stille auszutauschen bedeutet[e], vom Zufall abzuhängen«,30 und wie bereits erörtert, zählt der Zufall zu den Ausdeutungsmöglichkeiten von Kontingenz. Kompositions- und Aufführungsprozess sind gleichermaßen von der Stille betroffen. Stille sorgt für das »Eindringen des Lebens in die Musik«31 und entgrenzt das Werk in eine nicht notwendig künstlerisch kodierte Situation. Das Komponieren mit Stille verlangt, dass der Komponist Dauern setzt und sich dem Unvorhersehbaren aussetzt. Dieses Unvorhersehbare kann das Klingen der Stille, aber auch die Dauer selbst sein.
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John Cage: »Preface to ›Lecture on the weather‹« in: Empty Words: Writings '73 – '78, London 1980, S. 3-5 (S. 5). John Cage: »Lecture on Nothing« und »Lecture on Something«, in: ders. Silence: Lectures and writings by John Cage, Middletown, Connecticut 1961, S. 109-127 bzw. 128–145. Thomas M. Maier: Ausdruck der Zeit: Ein Weg zu John Cages stillem Stück 4'33', Saarbrücken 2001, S. 110/111. Dörte Schmidt weist an den verschiedenen Fassungen des Stücks nach, wie aus der ursprünglich seine Struktur bestimmenden Frage nach Klang oder Stille mit der Zeit Versionen wurden, die das Klingen stiller Aufführungen fokussierten. Schmidt, »›It’s important‹«, S. 17. John Cage u.a.: Für die Vögel: John Cage im Gespräch mit Daniel Charles, Berlin 1984, S. 38. Jill Johnston: »Nun gibt es keine Stille mehr«, in: Richard Kostelanetz: John Cage, Köln 1973, S. 202-205 (S. 203).
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Das Autorisieren offener Prozesse: Musik als Experiment In den 60er-Jahren entwickelt sich Cages Kompositionspraxis von Dauer-Strukturen (wie in 4’33’) zum Initiieren offener Prozesse.32 Es geht ihm um das Öffnen des Werks hin zum Prozess: »A structure is like a piece of furniture, whereas a process is like the weather. […] In the case of weather, though we notice changes in it, we have no clear knowledge of its beginning or ending.«33 Cage gewichtet hier die Beziehung zwischen Komponist und klingendem Material neu. Komponieren so zu verstehen, impliziert ein spezifisches Verständnis der eigenen Subjektivität und des verwendeten Materials. Einen offenen Prozess zu starten, bedeutet, eine Versuchsanordnung zu schaffen, innerhalb der sich Material auf überraschende Weise entwickeln kann. Dabei darf nichts dem Zufall überlassen bleiben, höchstens der Zufall selbst. Darin ist ein solcher offener Prozess dem Experiment verwandt. Cage meinte auf die Frage, was experimentelles Komponieren sei: »Experimental music can have many definitions, but I use the word experimental to mean making an action the outcome of which is not foreseen.«34 Ein Experiment unterscheidet sich von zufälligen Ereignissen durch ein kontrolliertes Maß an Zufall und Regeln. »Die Existenz dieses Regelwerks ist deshalb wichtig, weil so der Kompositionsprozess den Charakter eines naturwissenschaftlichen Experiments annimmt, bei dem die Willkür des Komponisten, der aus subjektiven Momenten heraus eingreifen will, ausgeschaltet ist.«35 Wer sich von einer Materialentwicklung überraschen lassen will, muss das Material von seiner herkömmlichen funktionalen Einbindung befreien. Das Autorisieren offener Prozesse in Form von Experimenten hat also mehrere Aspekte. Es benötigt ein reflektiertes Maß an kompositorischer Autorität und Neugierde in Bezug auf das Potenzial des verwendeten Materials.36 Es braucht darüber hinaus Methoden der Materialgenerierung und offene Formen der Materialentwicklung. Cage war sich seiner Rolle als Komponist sehr bewusst. Schmidt betont, Cages Interesse habe nicht darin bestanden, das komponierende Subjekt abzuschaffen,
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»In 1952 we had a duration structure with compartments which had been arrived at by chance operations. But in my more recent work [early 1960s] I’m concerned rather with what I call process – setting a process going which has no necessary beginning, no middle, no end, and no sections.« Cage im Gespräch mit Richard Kostelanetz in: ders.: Conversing with Cage, New York u.a. 2003, S. 75. John Cage: »The Future of Music«, in: Empty Words, S. 177-187 (S. 178). John Cage: »Interview. Gespräch mit Roger Reynolds und Robert Ashley (1961)«, in: Robert Dunn (Hg.): John Cage, New York 1962, S. 45-52 (S. 48). Erdmann, Untersuchungen, S. 6. Dem Material wird in derartigen Prozessen das Potenzial eines epistemischen Dinges zugesprochen. Siehe: Hans-Jörg Rheinberger: Natur und Kultur im Spiegel des Wissens, Heidelberg 2015, S. 37/38.
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sondern »(d)ie Funktion des Subjekts, des Individuellen im kreativen Prozess zu hinterfragen«.37 Seine Funktion, so Cage, bestehe darin, den Reichtum des in der Welt Klingenden zu erkennen und als Musik zu verstehen. Auch hier zeigt sich wieder seine Verwurzelung im Transzendentalismus.38 Diese Denkungsart setzt voraus, die subjektiven Wahrnehmungsfilter kritisch zu prüfen. »Der Komponist verschwindet nicht, sondern er verabschiedet sich von einer romantischen Konzeption eines alles kontrollierenden und gestaltenden Künstlers.«39 Cage ging es nicht darum, seine Autorschaft preiszugeben, doch er wollte seine kulturell gewachsene, subjektive Prägung nicht auf das Material übertragen, sondern das Material auf seine Eigenschaften hin befragen. Daher wurden für ihn Zufallsoperationen interessant: »[…] chance operations are not mysterious sources of ›the right answers‹. They are a means of locating a single one among a multiplicity of answers, and, at the same time, of freeing the ego from its taste and memory, its concern for profit and power […].«40 Erdmann benennt Zufallsoperationen als »diejenigen Arbeitsgänge während des Komponierens […], bei denen sich der Komponist willkürlich der ›zufälligen‹ Beschaffenheit der von ihm verwendeten Materialien überlässt.«41 Genau dieses Verhältnis von kompositorischer Willkür und Materialzufällen kennzeichnet das Kalkül, mit dem Cage sich des I Ging bedient; es verschiebt die Freiheit des Komponierens vom Selbstausdruck des Komponisten zum Selbstausdruck des Materials.42 Diesem Material ist jedoch, wenn man das von C. G. Jung formulierte »synchronistische Prinzip« mitdenkt, eine spezifische Notwendigkeit eigen.43 Es trägt –
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Dörte Schmidt: »Die Geburt des Flugzeugs: Cage, I Ging und C. G. Jung«, in: Annette Kreutziger-Herr (Hg.): Das Andere: Eine Spurensuche in der Musikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 15), Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 353-366 (S. 354). Mehring, Sphere Melodies, S. 127/128 verweist auf die Nähe dieses Denkansatzes von erweiterter Musik zu Ralph Waldo Emerson. Ebd., S. 346. Cage, »Preface to ›Lecture on the Weather‹«, S. 5. Erdmann, Untersuchungen, S. 5 (Unterstreichung M. E.). D. Schmidt, »Die Geburt des Flugzeugs«, S. 356f. Nach C. G. Jung besitzt das Zeitkontinuum selbst Qualitäten, die es den in ihr stattfindenden Ereignissen auch an disparaten Orten und unabhängig von sonstigen Kausalitäten aufprägt. Gleiches geschieht somit aufgrund des Zugleich-in-einer-Zeit-Seins. Siehe Carl Gustav Jung: Gesammelte Werke, Bd. 15: Über das Phänomen des Geistes in Kunst und Wissenschaft, Solothurn u.a. 1995, S. 66. Jung fügte der Wilhelm’schen Übersetzung des I Ging aus dem Chinesischen, die in der englischen Übersetzung von Cary F. Baynes publiziert wurde, ein Vorwort bei, in der er das synchronistische Prinzip erklärt. Die deutschsprachige Erstfassung dieses Vorworts enthält den Abschnitt über Synchronizität nicht. Dörte Schmidt bemerkt, dass dies eine besondere Bedeutung für den US-amerikanischen Diskurs gehabt habe. Siehe Dörte Schmidt, ebd., S. 360. Cage wurde durch dieses Vorwort mit dem Jung’schen synchronistischen Prinzip vertraut.
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ebenso wie die kompositorischen Entscheidungen selbst44 – Qualitäten seiner Zeit in sich. Die Integration von Zufallsoperationen korreliert also auf der Komponistenseite mit reflektierter Autorschaft, die Vertrauen in das Eigenleben des selbstklingenden Materials hat. Produktionstechnisch werden nun noch offene Formen der Materialentwicklung benötigt. Cage selbst erklärt Charles Ives »zum Vorreiter der sogenannten ›indeterminate music‹ – eine Musik also, bei der dem ausführenden Musiker ein ungewöhnliches Maß an Spielraum in der musikalischen Umsetzung gewährt wird.«45 Indeterminacy, Unbestimmtheit, tritt bei Cage kompositionstechnisch in verschiedenen Formen und schon in frühen Kompositionen auf und bleibt lebenslang eine wichtige Form der Materialentwicklung für ihn. Unbestimmtheit kann heißen, dass die Instrumentierung eines Werks nicht festgelegt ist46 oder dass die Spielanweisung dem Interpreten die Aufgabe stellt, die konkrete Aufführung selbst aus einem bestimmten Material zu entwickeln.47 Die Interpretation soll sich allerdings immer an die Partitur halten. Cage formulierte hierfür die Regel: »Permission granted. But not to do whatever you want.«48 Autorschaft, Prozess, Zufall und Unbestimmtheit müssen also auf spezifische Weise zusammenwirken, um eine Situation musikalischen Experimentierens zu schaffen, die das Potenzial der Entgrenzung in sich trägt. Das Autorisieren offener musikalischer Prozesse impliziert die Reflexion der Subjekt-Objekt-Beziehung im kompositorischen Prozess. Ein solcher offener Prozess kommt zustande, wenn das komponierende Subjekt Beherrschung zugunsten von Beziehung aufgibt. Es geht dann nicht mehr um die Beherrschung musikalischer Objekte, sondern um das Setzen von Regeln, zum Beispiel für den Zufall, und es geht um Formen, zum Beispiel der Unbestimmtheit, um eine experimentelle Situation zu schaffen, in der es zu unvorhersehbaren Materialentwicklungen kommen kann. Dies kann zu material- und werkästhetischen Entgrenzungen führen.
Die Aufhebung der konventionellen Kompositions- und Aufführungspraxis Aspekte material- und werkästhetischer Entgrenzung sind in Cages erweitertem Musikbegriff untrennbar miteinander verbunden. Sanio betont diesen Zusammenhang zwischen ästhetischem Gesamtkonzept und musikalischem Materialverständnis, wenn sie von Cages »Engagement für das Individuum, gleich ob Klänge
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D. Schmidt, ebd., S. 359. Mehring, Sphere Melodies, S. 335/336. John Cage: Sonata for Two Voices, New York (Edition Peters Nr. 6754) 1933. Bei Solo for Piano erarbeitet der Aufführende aus einem gegebenen Material eine eigene Version, während er die zeitliche Abfolge der Klänge selbst festlegt. Siehe Erdmann, Untersuchungen, S. 65. John Cage: A Year from Monday: New lectures and writings, London u.a. 1975, S. 28.
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oder Menschen«49 spricht. Sie verweist darauf, dass Cage bereits 1938 in seinem Aufsatz »The Future of Music«50 – ganz in der US-amerikanischen Tradition von Charles Ives und Henry Cowell – für einen radikal erweiterten Musikbegriff eintritt, der die Grenze zwischen Kunst und alltäglicher Lebenspraxis aufhebt.51 Cages Verständnis vom Musizieren und Klingen impliziert die Entgrenzung des Werks in ein allumfassendes Klingen und die Entgrenzung des musikalischen Materials hin zum autonomen Klang, der in einem immerwährenden Universum gehört werden soll. Dabei geht es nicht darum, das musikalische Werk an sich zum Verschwinden zu bringen, sondern, im Gegenteil, alles zum Werk erklären zu können. Jeder Ort kann, so gesehen, zu einem Konzertraum werden. Letztlich verfolgt Cage das Ziel »der ›Musikalisierung‹ von allen akustischen Ereignissen«.52 Für die in der vorliegenden Arbeit verfolgte Argumentationslinie, Cages Entgrenzung der konventionellen Aufführungspraxis als Entgrenzung der Subjekt-Objekt-Beziehung in der ästhetischen Situation herzuleiten, ist die aus seiner Haltung resultierende Hinwendung zur Natur interessant. Sie folgt seinem Vorbild Henry David Thoreau. Thoreau beschreibt in seinem Tagebuch ausführlich die Stille und ihre Qualitäten.53 Um Neues zu hören, begibt sich der Avantgardist auf eine Entdeckungsreise, die nach dem Kunstwerk in der Natur sucht, ohne durch subjektive gestalterische Mittel den Originaltext oder die Originalpartitur verändern zu wollen. Solche Vorgehensweisen erinnern an die transzendentalistische Vorstellung, dass Natur mit einem Bilderbuch vergleichbar sei, das nur durch eine angemessene Betrachtungsweise dechiffriert werden könne.54 Hier tritt das romantische Erbe der Transzendentalisten zutage, in deren Gefolgschaft Cage sich verortet. Deren »Idee einer Natursprache, in der man die Natur als direkte Verkörperung eines metaphysischen Wesens oder Geistes erfahren könne«55 gleicht einem Refugium, einem Jungbrunnen, zu dem der Musiker zurückkehren kann, wenn alles Denkbare komponiert wurde. »Der Kompositionsprozess bildet lediglich eine Vorstufe zum eigentlichen Sehen und Hören.«56 Diese Konzeption impliziert, Natur als Immerwährendes und somit Unzerstörbares zu verstehen – eine Vorstellung, die von Künstlern am Ende des 20. Jahrhunderts kaum noch ge-
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Sanio, 1968 und die Avantgarde, S. 62. John Cage, »The Future of Music«. Sanio, 1968 und die Avantgarde, S. 61. Mehring, Sphere melodies, S. 132. Henry D. Thoreau: Walden: An Annotated Edition, Boston u.a. 1995. Mehring, Sphere Melodies, S. 315. Straebel, »Anmerkungen zur Sonifikationsmetapher«, S. 192. Mehring, Sphere Melodies, S. 315.
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teilt wird. Mehring kritisiert die Ahistorizität dieser Denktradition und grenzt sie von europäischen Denkbewegungen des 20. Jahrhunderts ab.57 Zusammenfassend kann hier Folgendes gesagt werden: Cage verfolgt in Weiterführung des transzendentalistischen Denkens eine Entgrenzung des musikalischen Werks hin zur umfassenden Musikalisierung alles Klingenden. Innerhalb dieses klingenden Kosmos besitzen die Klänge Autonomie: sie sollen so erfahren werden können, wie sie vorgefunden werden. Komponieren bedeutet, diese Erfahrung zu ermöglichen und benötigt daher weiterhin Autorschaft. Das Werk behält seine Daseinsberechtigung, da alles zum Werk erklärt werden kann. Cages Verständnis des Verhältnisses von Mensch und Natur ist getragen von seinen anarchistischen Überzeugungen.58 Anarchie im Sinne von Herrschaftslosigkeit – nicht jedoch von Regellosigkeit, wie sie mitunter missverstanden wird – benötigt, so Cage, die individuelle Überwindung des Egos mit seinen Vorlieben und Meinungen.59 Dies impliziert die Idee eines Subjekts, das versucht, sich zielgerichtet der Ziellosigkeit anzunähern.60 Cage gelingen durch die Integration von Stille in Musik, durch das Initiieren offener Prozesse und durch die Aufhebung der konventionellen Aufführungspraxis Formen von Entgrenzung in der experimentellen Musik. Stille sorgt für das Einbrechen kontingenter Phasen in eine Komposition und entgrenzt Musik in das alltägliche Leben. Die Autorisierung offener musikalischer Prozesse versetzt alle Beteiligten in eine idealiter hierarchiefreie ästhetische Situation. Das Komponieren offener Prozesse verlangt, die Regeln eines Experiments aufzustellen. Die konventionelle Vorstellung der Materialbeherrschung durch den Komponisten weicht tendenziell der einer Beziehungsaufnahme zwischen Komponist und Material. Die Aufhebung der konventionellen Aufführungspraxis verschärft diese Tendenz durch die Entgrenzung des Musikbegriffs.
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Mehring: »Der Glaube an die Selbstperfektion des Menschen, den Fortschritt und die Unerschöpflichkeit des natürlichen Regenerationsprozesses nimmt in der Kunst Züge einer Utopie an, welche die amerikanische Avantgarde deutlich von der europäischen Bewegung unterscheidet.« Ebd., S. 545. Cage, »Diary«. »I sincerely express the hope that all this conglomeration of individuals […] will disappear; and that a period will approach by way of common belief, selflessness, and technical mastery that will be a period of Music and not of Musicians […].« John Cage: »Counterpoint« (1934), in: Richard Kostelanetz: Writings about John Cage, Ann Arbour, 1993, S. 15-17 (S. 17). John Cage: »When we say ›purposelessness‹ we add ›purposeful purposelessness‹.« In: Michael Kirby und Richard Schechner: »An Interview with John Cage«, in: The Tulane Drama Review 10, H. 2 (1965), S. 50-72 (S. 70).
Kapitel 2: Die Komponistengruppe Wandelweiser als Denk- und Praxisraum
2.3. Wandelweiser als Experimentalraum Antoine Beuger, Burkhard Schlothauer und Jürg Frey können als Initiatoren der Gruppe Wandelweiser angesehen werden. Beuger und Schlothauer teilten die gemeinsame jahrelange Erfahrung in der Kommune Aktionsanalytische Organisation unter Otto Mühl. Beuger und Frey hatten am Wettbewerb »Stille Musik« 1991 in Boswil teilgenommen. Die Gruppe wurde in den folgenden Jahren stetig größer, indem Komponisten eingeladen wurden, Teil von Wandelweiser zu werden. So begann sich etwas herauszubilden, das hier ein musikalischer Denk- und Experimentalraum genannt wird – ein Raum, der sich mit den Konsequenzen von Cages Kompositionspraxis auseinandersetzt. Dessen Komposition 4’33’ wurde darin »im besten Sinne als unvollendetes Werk gesehen: es schaffe neue Möglichkeiten für die Kombination (und das Verständnis) von Klang und Stille. Stille war, einfach gesagt, ein Material und eine Störung des Materials zugleich.«61 Hier gilt es zunächst festzuhalten, wie Wandelweiser von einem Denkraum zu einem Experimentalraum wurde. Die Identität der Gruppe formierte sich, wie Douglas Barrett in einem Gespräch mit Antoine Beuger feststellt, nicht durch ein Manifest, sondern durch gemeinsames Tun:»they unite on specific aesthetic territory«.62 Für die Etablierung dieses Praxisraums waren zwei Faktoren wesentlich: Die Begründung der Konzertreihe KLANGRAUM in der städtischen Galerie Kunstraum Düsseldorf durch Antoine Beuger im Jahr 1994 sowie die Formierung des Komponisten-Ensembles Wandelweiser ab 1995. Schlothauer charakterisiert die jährlich stattfindende Reihe KLANGRAUM als »Metastruktur«, als ein »ständig wachsende(s) ›Werk‹« und eine »Forschungsreihe«, die sich explizit mit den Zeitkonzepten Cages auseinandersetzt.63 Dies soll im Folgenden historisch und systematisch anhand der Programme der Konzertreihe und des Repertoires des Ensembles überprüft werden.
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Pisaro, WANDELWEISER, 2009, URL: https://www.Wandelweiser.de/_texte/erstw-deutsch. html [Abruf 25.07.2019]. Barrett, »The Silent Network«, S. 454. Burkhard Schlothauer: »Wenn Zeit zur wichtigsten Kategorie wird… Neue Präsentationsformen im Klangraum Düsseldorf«, in: Positionen: Texte zur aktuellen Musik 66 (2006), S. 41-43 (S. 41).
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Die Konzertreihe KLANGRAUM – eine historische und systematische Analyse der Jahre 1994 bis 2016 Die historische Analyse der Chronik der Konzertreihe64 zeigt die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den Werken Cages auf. So wurden mit wenigen Ausnahmen jährlich ein oder mehrere von ihnen im KLANGRAUM aufgeführt. Dabei fällt auf, dass solche Werke am häufigsten wiederkehren, die Zufallsoperationen beinhalten (Music of Changes, 1951; Music for Piano, 1952–) oder mit variablen Dauern arbeiten (Number pieces und Music for…, beide 1987–1992). Die systematische Neuinterpretation solcher Kompositionen durch Mitglieder der Komponistengruppe Wandelweiser kann selbst als Serie verstanden werden. Besonders häufig wird Cages Werk One in seinen diversen Variationen interpretiert. Es arbeitet mit einer variablen Anzahl flexibler und festgelegter time brackets, einer von Cage entwickelten Struktur der werkinternen Zeitorganisation. Bei flexiblen Zeitklammern entscheidet der Interpret während der Aufführung über den Zeitpunkt des Einsatzes und damit gleichzeitig über die Dauer der Stillen. Der KLANGRAUM wird im Verlauf von mehr als zwei Jahrzehnten ebenfalls zu einem Ort der Weiterentwicklung eigener Serienkompositionen von Wandelweiser-Mitgliedern. Dazu zählen Antoine Beugers Werkserien calme étendue und landscapes of absence 1 und 2, Marcus Kaisers opernfraktal einschließlich der Teilkompositionen an einem ort – an einem anderen ort, UNTERHOLZ und spinoza wucherung sowie Jürg Freys Serie WEN. Im Jahr 2000 präsentiert der KLANGRAUM erstmalig eine die herkömmliche Konzertdauer sprengende Aufführungsform, die auf neun Monate ausgelegte, an und zwischen zwei Orten stattfindende Konzertinstallation Gegenwendig von Marcus Kaiser. In den darauffolgenden Jahren wird es immer eine mehrtägige bis mehrmonatige Installation geben, die verschiedene Künste, Medien und Aufführungsformen beinhaltet. In diese überzeitlichen Konzertinstallationen fließen nicht nur die diversen Kollaborationen von Wandelweiser-Mitgliedern mit anderen Künstlern ein, sie integrieren auch die je eigene Zeitlichkeit verschiedener Künste (Video, Fotografie, Tanz, Musik, Malerei), Medien (Instrumente, Lautsprecher, Elektronik, Licht) und Aufführungsformen (Konzert, Installation, Lesung, Ausstellung). Charakteristisch für diese Installationen ist, dass sie nicht, wie es für Klanginstallationen so oft gilt, einen einmal produzierten Endlosloop abspulen, sondern dass in ihnen mit Dauern kreativ gearbeitet wird. Aufführungszeitpunkte
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Wandelweiser-KLANGRAUM-Chroniken für 1994–2014 siehe URL: https://www.Wandelweis er.de/_archiv/material/klangraumchronik+.pdf; für 2015: URL: https://www.Wandelweiser. de/_archiv/_2015/index.html; für 2016: URL: https://www.Wandelweiser.de/_archiv/_2016/i ndex.html; [Abruf für alle 25.07.2019]. Systematische KLANGRAUM-Analyse, siehe Anhang: Grafiken.
Kapitel 2: Die Komponistengruppe Wandelweiser als Denk- und Praxisraum
verschieben sich immer wieder innerhalb eines Kontinuums (Garonne (24) für sich, Carlo Inderhees, Christoph Nicolaus 2001; Interferenzen Wellenspiele, André O. Möller, Markus Grolle, Barbara Siebert 2004), unterschiedliche Konzerte treten in einen Dialog mit Bildern (The Remarkable Absent, Els van Riel, Burkhard Schlothauer, Marcus Kaiser, Antoine Beuger, Michael Pisaro, Radu Malfatti 2005), Klänge brechen sich an wechselnden Lichtverhältnissen (Lichtgesänge, Mauser, Antoine Beuger 2006), Kunst und Leben verbinden sich unter der Prämisse der Stille (Ein Tisch. Ein Stuhl. Ein Fahrrad, Jürg Frey, Christoph Nicolaus, Sylvia Alexandra Schimag, Ary Strien, Chiyoko Szlavnics, Els van Riel, Manfred Werder 2009). Eine besondere Rolle spielt immer wieder das Sprechen. Die Lesungen der Künstlerin Sylvia Alexandra Schimag sind seit 2002 ein kontinuierlicher Bestandteil des KLANGRAUMS. 2011 liest sie in einer zehnstündigen CD-Fassung John Cages Empty Words für die edition wandelweiser und schlägt damit paradigmatisch die Brücke zwischen Klang und Wort: das gesprochene Wort wird Klang, Klang kann Wort sein. Dieses Format des Wortklangs wurde auf andere Aufführungsformate übertragen, die die philosophischen Tiefendimensionen einiger Wandelweiser-Mitglieder thematisieren. Beugers Komposition calme étendue (spinoza) griff 1997 Spinozas Ethik auf und verwandelte sie in eine mehrstündige Wortklangaufführung aller einsilbigen Wörter des fünfbändigen Werkes. Michael Pisaro, Marcus Kaiser und Sylvia Alexandra Schimag lasen als Teil der Installation Lichtgesänge 2006 Spinoza öffentlich. Marcus Kaiser integrierte 2014 seine Komposition spinoza wucherung in sein Gesamtwerk opernfraktal. Auch hierin zeigt sich die Verschränkung von Denk- und Praxisraum. Bis Ende der 90er-Jahre hatte sich Wandelweiser personell so gefestigt, dass seitdem ein Kern von circa sechs bis zehn Komponisten regelmäßig den KLANGRAUM Düsseldorf gestaltet und die edition wandelweiser als Denkraum für Texte nutzt. Durch die Konzertreihe KLANGRAUM und die in Haan beheimatete Edition ist Düsseldorf das Gravitationszentrum von Wandelweiser geblieben.
Das Wandelweiser Komponisten Ensemble Das Wandelweiser Komponisten Ensemble ging 1995 aus der edition wandelweiser hervor. Es versteht sich als offener Raum gemeinsamen Musizierens. Die Zusammensetzung ist variabel.65 Sein selbsterklärtes Ziel ist es, »nicht nur die Werke
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»(D)er Begriff ›Ensemble‹ ist in keiner Weise mit einem üblichen Ensemble zu vergleichen. Wann immer Wandelweiserfreunde miteinander gespielt haben bzw. spielen, nennen wir das gern Wandelweiser Komponisten Ensemble.« E-Mail-Korrespondenz Antoine Beuger – Sonja Heyer, Dezember 2018.
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gemeinsam zu verlegen, sondern auch in Konzerten aktiv zu werden«.66 Das Ensemble versteht sich als »Werkstätte, in der Fragen der Ästhetik auf intensive Weise diskutiert werden. Eine Diskussion, die nicht auf der verbalen Ebene stehen bleiben muss: Sie kann sich durchaus auch in den Kompositionen selber abspielen, was jedes Konzert zu einem spannenden Erlebnis macht, zu einem Forum, in dem die Stücke auf den Prüfstand gebracht werden und den wachen Ohren und der lebendigen Argumentationsweise von Kollegen und Publikum ausgesetzt sind.«67 Innerhalb von zwei Jahrzehnten gemeinsamer Aufführungspraxis ist ein Repertoire an Solo- und Ensemblestücken entstanden, das neben ausgewählten Werken von Mitgliedern eine Reihe von Kompositionen von John Cage68 und Christian Wolff69 enthält. Dazu kommen Solowerke von Morton Feldman und Alvin Lucier. Ein besonderes Merkmal der gemeinsamen Aufführungspraxis sind die Konzertserien, die den Aspekt der Interaktion in den Mittelpunkt rücken. Bereits in den ersten Jahren seiner Existenz, von 1996 bis 1998, entwickelte das Ensemble nach einer Konzeption von Antoine Beuger das Programm stones and other stones und führte es in Ulm, Aarau und Krefeld auf. Darin wurde die Aufführung des Stückes stones von Christian Wolff auf einen ganzen Abend ausgedehnt. Das Stück beruht auf einer Textpartitur, die eine einzige Anweisung enthält: Mit Steinen sollen Klänge erzeugt werden.70 In stones and other stones bildete das zeitlich gedehnte Werk den Rahmen für die Aufführung weiterer Solostücke von Ensemblemitgliedern. Alle Stücke wurden dezentral aufgeführt, das heißt, die Musiker
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Im Jahr 2019 umfasste das Ensemble Antoine Beuger (NL, Flöte), Jürg Frey (CH, Klarinetten), Eva-Maria Houben (D, Orgel, Klavier), Carlo Inderhees (D, Performance, Klavier), Radu Malfatti (A, Posaune), Marcus Kaiser (D, Violoncello), Anastassis Philippakopoulos (GR, Klavier), Michael Pisaro (USA, Gitarre), Burkhard Schlothauer (D, Violine, Gitarre), Craig Shepard (USA, Posaune), Thomas Stiegler (D, Violine), Manfred Werder (CH, Klavier) sowie neunzehn Gastmusiker. Siehe URL: https://www.Wandelweiser.de/w-w-k-ensemble.html [Abruf 25.07.2019]. Ebd. John Cage: Ryoanji, New York (Edition Peters Nr. 66986b-g) 1983–1985; Two, New York (Edition Peters Nr. 67176) 1987; Seven, New York (Edition Peters Nr. 67227) 1988; Two5, New York (Edition Peters Nr. 67419) 1991; Four6, New York (Edition Peters Nr. 67469) 1992. Wolff: Stones (1968); Exercises, New York (Edition Peters, Nr. divers) 1974; Changing the system, New York (Edition Peters Nr. 66319) 1973/74; Incidental Music & Keyboard Miscellany, New York (Mode Records) 2015 (enthält das Stück 70 (or more) for Alvin). Christian Wolff: »Make sounds with stones, draw sounds out of stones, using a number of sizes and kinds (and colours); for the most part discretely; sometimes in rapid sequences. For the most part striking stones with stones, but also stones on other surfaces (inside the open head of a drum, for instance) or other than struck (bowed, for instance, or amplified). Do not break anything.« Textpartitur, STONES (1968). Das Wandelweiser Komponisten Ensemble spielte eine Version des Werks für die edition wandelweiser auf CD ein: Christian Wolff: stones, [CD] Haan (edition wandelweiser Records Nr. EWR 9604) 1995.
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spielten, nachdem sie individuell gewählte Plätze im Raum aufgesucht hatten. In dieser ersten Konzertserie des Ensembles treten wesentliche Aspekte der beginnenden gemeinsamen Aufführungsästhetik zutage. Es geht um die Interaktion der Ensemblemitglieder in einem Stück und um die Interaktion von Stücken innerhalb einer Aufführung, das heißt, verschiedene Dauern und Interaktionsebenen werden ineinander verschachtelt. Das Ziel ist, »Durchlässigkeit und Transparenz« zu schaffen.71 Von 2000 bis 2003 fand in Düsseldorf beziehungsweise Friedrichshof/Zurndorf (Österreich) einmal jährlich die Reihe »Wandelweiser in residence« statt (Konzeption Düsseldorf: Antoine Beuger; Friedrichshof: Radu Malfatti). Für eine Woche kamen Wandelweiser-Mitglieder zusammen und erarbeiteten jeden Tag ein Abendprogramm, das aus aktuellen eigenen Stücken bestand. Da viele WandelweiserKompositionen von Mitgliedern für Mitglieder geschrieben werden, sorgten diese Jahrestreffen für einen intensiven Austausch über die Interpretations- und Aufführungspraxis und trugen zur Reflexion ästhetischer Vorstellungen im Wandelweiser Komponisten Ensemble bei.72 Auch wenn die abendlichen Konzerte öffentlich waren, kann »Wandelweiser in residence« als wichtiger Faktor interner Verständigung betrachtet werden, der die Entwicklung einer eigenen Ästhetik förderte. Für das Wandelweiser Komponisten Ensemble gilt ebenso wie für die Komponistengruppe als Ganzes, dass sie ihren Zusammenhalt nicht durch ein einmal ausgesprochenes Manifest aufrechterhalten, sondern immer wieder durch die nach innen wie außen gerichtete Diskurs- und Aufführungsarbeit herstellen.73 Weitere Konzertserien führen diese Praxis fort.74
2.3.1. Wandelweiser als Akteure der experimentellen Musikpraxis Michael Pisaro, ein US-amerikanischer Komponist und Gitarrist, der seit 1994 Mitglied der Komponistengruppe und von Beginn an Mitglied des Wandelweiser Komponisten Ensembles ist, veröffentlichte 2009 eine Geschichte der Gründung und
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URL: https://www.wandelweiser.de/w-w-k-ensemble.html [Abruf 10.01.2021]. Ebd. Bruno Latour: Reassembling the social: An introduction to actor-network-theory, Oxford u.a. 2007 verweist auf den für künstlerische Netzwerke notwendigen aktiven Prozess der kontinuierlichen »Performance«. Siehe auch Barrett, »The Silent Network«, S. 454-456. Zum Beispiel: 3 jahre, 156 musikalische ereignisse, eine skulptur, 1997–1999 in Berlin, Konzeption: Carlo Inderhees; ort – ton – platz – klang, 1998–2003 in Aarau, Konzeption: Jürg Frey; Wandelweiser an der grossen mühl, 2007–2015 in Neufelden (Österreich), Konzeption: Marcus Kaiser u.a.
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Entwicklung der Komponistengruppe75 und äußerte sich explizit zum Status des Experiments in der Neuen Musik: An artistic procedure is carried further, not as the strict adherence to a clear code or law, but the way in which discoveries of any kind might be pursued: a process which passes through questioning, hypothesis, experiment, doubt, evaluation, and so on, in an endless cycle – without any assurance (other than intuition and the works themselves) that a particular path is the right one.76 Wenn künstlerische Arbeit also als fortgesetzter Prozess mit ungewissem Ausgang verstanden wird, muss nicht nur, wie bereits erörtert, das Werk als Prozess verstanden werden, es bedarf auch eines Materials, das fortgesetzt befragt werden kann, das quasi nie »fertig« ist und ein autonomes Potenzial besitzt.77 Der Wandelweiser-Komponist Antoine Beuger äußert sich hierzu explizit: Wenn man […] auf die Idee kommt, dass die Welt eine Unendlichkeit von Differenzierungen ist, dann gibt es nicht zwei gleiche Töne und selbst in einem Ton ist ein ständiges Anderswerden. Dann kann es als Komponist nicht meine Aufgabe sein, noch mehr Differenzen zu erfinden und aneinanderzureihen. Das ist der Stoff der Dinge. Die Materie ist ein ständiges Anderswerden. […] Deine Aufgabe als Komponist ist dann das aufmerksame Zuschauen und nicht das Definieren dessen, was sich ändert, sondern dessen, was gleich bleibt. […] Wir kommen eigentlich viel weiter, wenn wir etwas finden zwischen Machen und Geschehenlassen.78 Beuger geht es also nicht darum zu erfinden, sondern zu finden; deshalb kreiert er Versuchsanordnungen, die ein Aufmerksamkeitsraster bilden, durch die Auf75 76 77
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Pisaro, URL: https://www.wandelweiser.de/_texte/erstw-deutsch.html 2009 [Abruf 25.07. 2019]. Michael Pisaro: Eleven Theses on the State of New Music, (These 3), 2004/2006, URL: https://w ww.wandelweiser.de/_michael-pisaro/11theses-12-06.pdf [Abruf 25.07.2019]. Hier wird die Nähe der künstlerisch-experimentellen Praxis zur naturwissenschaftlichen Praxis deutlich. Wie Rheinberger feststellt, formieren sich in ihren Experimentalsystemen epistemische Dinge, Gegenstände der Wissensgewinnung. Diese sind »erstens von einer je spezifisch zu fassenden Materialität. Zweitens kommt ihnen so etwas wie Eigenwilligkeit zu. Drittens leisten sie ihrer begrifflichen Erfassung Widerstand, und viertens müssen sie noch etwas zu wünschen übrig lassen.« Rheinberger, Natur und Kultur, S. 38. Gespräch Antoine Beuger – Sonja Heyer, siehe Anhang: Komponistengespräche. Gisela Nauck spricht für das ausgehende 20. Jahrhundert von zwei Materialrevolutionen in der neuen Musik, die zu Innovationen für die Materialebene, das kompositorische Handwerk und die Aufführungspraxis führten. Dazu gehört die »Entwicklung von […] ›Versuchsanordnungen‹, damit sich Material relativ frei im Ablauf entwickeln kann« sowie »Prinzipien des ›Geschehenlassen‹«. Gisela Nauck: »Ohne John sähen wir alt aus… Zur Szene aktueller Musik heute«, in: Larisssa Kowal-Wolk u.a.: Da mal Saturn herankam: In Erinnerung an Karl Amadeus Hartmann zum 100. Geburtstag. Neue Musik und ihr Umfeld, München 2006, S. 48-85 (S. 55/56).
Kapitel 2: Die Komponistengruppe Wandelweiser als Denk- und Praxisraum
führende wie Zuhörer kontinuierliche Veränderung erkennen können sollen. Die Definition dieses Rasters bestimmt das experimentelle System seiner Kompositionen. Die Transferierung des Begriffs des Experiments aus den Naturwissenschaften in die künstlerische Praxis hat nicht nur etwas mit einem spezifischen Erfahrungsinteresse in den Künsten zu tun, sondern auch mit einer spezifischen Materialität künstlerischer Untersuchungsgegenstände im 21. Jahrhundert. Wie bereits erläutert, bietet sich die Zeit nun als Sujet in besonderer Weise für solche Experimente an. Sie beinhaltet substanziell durch ihr kontinuierliches Vergehen das Versprechen, auf Neues gestoßen zu werden. Sie ist, so gesehen, ein epistemisches Ding79 . Ihre spezifische Materialität leistet der Vernutzung Widerstand und löst doch den Wunsch aus, sie integrieren zu können. Die für neue Zeiterfahrungen notwendige Versuchsanordnung muss, vergleichbar mit einem naturwissenschaftlichen Experiment, vom Komponisten spezifisch reflektiert werden, denn ihre Durchführung hat nicht mit Geräten, sondern mit Menschen zu tun. Beuger betrachtet die Aufführung seiner Werke deshalb auch als soziales beziehungsweise politisches Experiment.80 Seine Kompositionen beinhalten einen »präzis formulierte(n) Fokus« für die Aufführenden, etwas – nicht irgendetwas – geschehen zu lassen. In diesem Verständnis von Experiment ist Beuger ganz bei Cage. Auch, wenn er das Miteinander der Aufführenden als Modell für das Miteinander jenseits der Musik versteht, denkt Beuger Cage weiter. Für ihn besitzt die Transferierung der aufführungspraktischen Konsequenzen seiner Werke ins Soziale eine explizit politische Dimension.81 In der Kompositionspraxis von Marcus Kaiser, Wandelweiser-Komponist und Mitglied des Wandelweiser Komponisten Ensembles seit 1998, haben Versuchsanordnungen einen festen Platz, die das Wachstum von Pflanzen beinhalten. Kaiser hat sich tiefgehend mit vegetativen Wachstumsprozessen beschäftigt und das darin herrschende Fließgleichgewicht als Konzept auf seine Kompositionspraxis übertragen. Ihm geht es, ebenso wie Beuger, um die aufführungspraktische Erzeugung experimenteller Situationen durch die Festlegung eines Wahrnehmungsrasters, innerhalb dessen sich diverse Kompositionen und kontingente Phasen miteinander verflechten: »Das Raster ergibt sich […] immer in dem Augenblick, wo ich eine konkrete Situation in einem konkreten Raum vorfinde. Deshalb ist es immer auf die 79 80
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Siehe Rheinberger, Natur und Kultur, S. 37/38. »Für mich geht das durchaus ins Politische. Wie geht man überhaupt miteinander um, angesichts der Tatsache, dass wir alle ständig anders sind und dass wir, wie Judith Butler es nennt, gefährdetes Leben sind.« Siehe Anhang: Komponistengespräche. Beuger bezieht sich hier auf Judith Butler: Gefährdetes Leben: Politische Essays, Frankfurt a.M. 2005. Nauck bezeichnet eine solche Kompositions- und Aufführungspraxis als »a-politische Entwürfe von Utopie, die trotzdem den kritischen Reflex auf soziale Realität in ihrem Gegenbild enthalten.« Gisela Nauck: »Modelle für die Zukunft: Die uneingelösten Utopien der Avantgarde – eine Skizze«, in: Positionen: Texte zur aktuellen Musik 98 (2014), S. 19-21 (S. 21).
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eigene Lebenszeit bezogen.«82 Stärker noch als bei Beuger tritt bei ihm der Aspekt des Selbsterzeugens dieser Situationen hervor: Das Interessante für mich ist […] die Erzeugung von Diversität. Wenn ich das aus einer anderen, existentiellen Perspektive betrachte, z.B. der von persönlichem Glück oder erfülltem Leben, dann würde ich auch auf so ähnliche Begriffe kommen, nämlich eine Existenzweise zu finden, die möglichst viel Raum für Mannigfaltigkeit lässt. […] Diese Diversität kann man zeitlich als Chronotektur bezeichnen.83 Mit dem Begriff der Chronotektur beschreibt Kaiser die Koexistenz diverser Dauern in einem Aufmerksamkeitsraster. Um diese Diversität erlebbar zu machen, bedarf es spezieller Versuchsanordnungen, denn Wachstumsrhythmen und -tempi sind naturgemäß sehr unterschiedlich. Beide Komponisten legen genaue Versuchsanordnungen fest und arbeiten formal mit Kompositionsserien.84
Reduktion und Serienkomposition Wie aus der Analyse der KLANGRAUM-Chronik ersichtlich wird, haben allein die vier ausgewählten Wandelweiser-Komponisten regelmäßig eigene Serien aufgeführt.85 Wandelweiser-Komponist Michael Pisaro unterscheidet zwei typische Ausgangssituationen für Serienkompositionen: a) Der Komponist formuliert ein Konzept und setzt einen Prozess in Gang, der auf verschiedene Instrumente übertragen wird; b) Die Komposition eines Stücks ist ein offener Prozess, der von Fall zu Fall weitergeführt wird.86
Die für die vorliegende Arbeit vorgenommene Durchsicht der Serien von Antoine Beuger, Marcus Kaiser, Jürg Frey und Eva-Maria Houben, die im KLANGRAUM aufgeführt wurden, ergab, dass beide Serientypen praktiziert werden und Wan-
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Gespräch Marcus Kaiser – Sonja Heyer, siehe Anhang: Komponistengespräche. Ebd. Siehe die Analyse der KLANGRAUM-Chronik, Anhang: Grafiken. Ebd. Zur ersten Ausgangssituation zählt Pisaro Prozesse, bei denen ein und dasselbe Konzept auf alle Teile der Serie übertragen wird, zur zweiten hingegen solche, bei denen das Konzept selbst von Stück zu Stück weiterentwickelt wird. Michael Pisaro im Gespräch mit James Saunders in: James Saunders: »Testing the Consequences – Multipart Series in the Work of the Wandelweiser Composers«, in: Contemporary Music Review 30, H. 6 (2011), S. 497-524 (S. 499).
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delweiser-Serien vorzugsweise aus autonomen Einzelkompositionen mit gemeinsamen Eigenschaften und/oder Bestimmungen bestehen.87 An dieser Stelle soll keine formale Analyse unterschiedlicher Serienmodelle erfolgen, sondern es soll hergeleitet werden, in welchem Verhältnis Serienkomposition und musikalische Reduktion zueinander stehen. Dies scheint geboten, weil in der jüngeren Vergangenheit Wandelweiser-Werke im musikwissenschaftlichen Kontext dem sogenannten reduktiven Minimalismus zugeordnet wurden,88 einzelne von der Autorin befragte Mitglieder sich davon jedoch distanzieren. Serienkompositionen eignen sich zunächst einmal aus Gründen der Logik als Form für künstlerische Experimente. Wenn eine Komposition nicht Ausdruck einer musikalisch geformten Idee ist, sondern als Versuchsanordnung verstanden wird, die, an unterschiedlichen Orten fortgesetzt, ermöglichen soll, zu hören, wie etwas Bestimmtes klingt, dann braucht es stabile Versuchsbedingungen. Dies gilt unabhängig davon, was erklingt.89 Beuger erläutert dieses Prinzip in Bezug auf seine Komposition calme étendue (1996)90 anhand der Frage »Was bleibt eigentlich gleich?«: Mein Interesse ist es, eine größtmögliche Subtilität dessen zu ermöglichen, was nicht gleich bleibt. An sich interessieren mich weder drei noch fünf oder acht Sekunden. Aber ich möchte in den Blick bekommen, womit der Spieler sich beschäftigt, seinen Fokus. […] Das heißt, es geht nicht um die Struktur, um drei oder fünf, sondern darum: Was der Spieler macht, bleibt gleich. Denn um alles andere muss ich mich gar nicht kümmern. Sonst verhindere ich alles, was an tollen Sachen passieren kann.91 Das von Beuger hier geäußerte, absolute Vertrauen in die Diversität alles Klingenden ermöglicht ihm, sich auf die Herstellung optimaler Versuchsbedingungen zu konzentrieren. Beuger:
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Ebd. Die von der Autorin vorgenommene systematische Sichtung der zwischen 1994 und 2016 im KLANGRAUM Düsseldorf aufgeführten Serienkompositionen ergab, dass Antoine Beuger, Marcus Kaiser und Jürg Frey überwiegend Serien des Typs a aufführten. Eva-Maria Houben führte eine Serie auf, die eine Kombination aus den Typen a und b darstellt. Volker Straebel: Hören als Wahrnehmung und Vorstellung: Phänomenologische Überlegungen im Angesicht des reduktiven Minimalismus in der Musik, Beitrag zu Moments Musicaux Aarau 2002. URL: https://www.straebel.de/praxis/index.html [Abruf 17.07.2019]. Man stelle sich einen Wanderer vor, der täglich einen anderen Weg beschreitet und dabei das gleiche Lied singt, um herauszufinden, wie es jeweils klingt. Bei einem solchen Erkenntnisinteresse sollten die Parameter Wanderer, Gehen und Singen möglichst stabil bleiben, damit das unterschiedliche Klingen des Liedes wahrgenommen werden kann. Siehe hierzu die Formanalyse des Stücks calme étendue (oboe), (edition wandelweiser ew01.044b) 1996, in Kapitel 2.5. Siehe Anhang: Komponistengespräche.
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So sind die Schritte vom Komponisten aus gedacht: 1. Wie kann ich es ermöglichen, dass sich in dem Stück echt etwas ereignet? Komponieren kann ich es nicht.92 2. Kann ich kompositorisch die Bedingungen dafür schaffen, dass sich etwas ereignet? Aber ich habe gemerkt, das ist der Versuch, das Ereignis hintenherum doch wieder in den Griff zu bekommen. 3. Hoffen, dass es passiert. Wie bringst du diese Hoffnung zum Ausdruck? Über die Metapher des Klanges, der des Ereignisses gedenkt.93 Besonders die Reduzierung des Komponierens solcherart Musik auf das Setzen von Bedingungen des Erklingens könnte zu der Annahme verleiten, es gehe gar nicht mehr um den Klang, sondern um eine reine Konzentrationsübung für den Hörenden. Dieser Sichtweise treten mehrere Wandelweiser-Komponisten entschieden entgegen. Beuger: »Ich habe das niemals als minimalistisch oder reduktiv aufgefasst. Es geht nicht um Reduktion auf das Wesentliche, sondern um Öffnung auf das Ereignis hin. Dafür taugt kein Gattungsbegriff.«94 Beuger distanziert sich also von den Begriffen Reduktion und Minimalismus, wenn mit ihnen gemeint ist, seine Musik würde die Fülle des Hörbaren einschränken. Ganz im Gegenteil geht es ihm darum, durch klare Aufführungsvorschriften eine größtmögliche Fülle an Hörwahrnehmungen möglich zu machen. Von Reduktion lässt sich bestenfalls bezogen auf die Aufführungsanweisungen sprechen; je reduzierter auf das Wesentliche diese sind, desto wahrscheinlicher kann es zu neuen, überraschenden Hörerfahrungen kommen. So verzichtet er beispielsweise bei der Notation von silences (für Mundharmonika) (Beuger 1992, ew01.016)95 auf ein Taktmaß und gibt differenzierte Spielanweisungen für die dynamische und klangfarbliche Ausführung jedes einzelnen Tons. Alle siebzehn kurzen Stücke sind einer Tempospanne von 40–60 oder 80–100 zugeordnet. Die dynamische Spanne von pppp bis f soll »innerhalb eines sehr leisen Spektrums« realisiert werden, was nur minimale Abstufungen zulässt. Die Ausführung der Stillen zwischen den Einsätzen wird am Ende jeder Seite durch die Länge eines Pfeils angegeben, der anzeigt, in welcher Richtung die Partitur weiterzuspielen ist beziehungsweise wie viel Zeit sich der Aufführende für das Umblättern nehmen soll. In der Aufführungsanweisung wird das Rascheln des Umblätterns explizit als Klang verstanden. Während die Notation also äußerst differenziert ist, reduzieren sich die Aufführungsanweisungen auf ein Mindestmaß an Angaben zu Dynamik und Tempo, die ihrerseits ausdeutungsreich sind.
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Siehe zu Beugers Verständnis eines Ereignisses Kapitel 2.5. Siehe Anhang: Komponistengespräche. Ebd. Siehe Anhang: Partiturauszüge.
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Beuger lehnt den Begriff des reduktiven Minimalismus zur Beschreibung seines Werkes ab. Eva-Maria Houben, Wandelweiser-Komponistin seit dem Jahr 2000, führt diesen Aspekt aus: Zum Beispiel lass ich zwei Leute spielen und komponiere unglaublich komplexe Rhythmen. Die müssen zehn Tage üben. Aber eine Beziehung zwischen den beiden, auch eine volle und in Nuancen abweichende, bekomme ich auch mit ganz einfachen Vorschriften in der Partitur hin. Dann ist die Vorschrift ganz einfach und die Partitur sieht aus wie nichts. Aber was passiert, ist dermaßen komplex, dass ich das gar nicht in Septolen, Nonolen ausdrücken kann. Da passiert so etwas von Fülle, weil es einmalig ist, nicht wiederholbar, weil es eine Beziehung zwischen den Aufführenden ist − und die kann ich nicht komponieren. Ich kann ihnen das Material geben und dann passiert etwas. […] So ein Material ermöglicht eine freie Beziehung zwischen den Aufführenden.96 Houben betont, dass gerade durch kluge Setzung einfachster Ausführungsvorschriften der Fokus von der Virtuosität des einzelnen Instrumentalisten auf die Komplexität des musikalischen Miteinanders gelenkt wird. Die Freiheit des Einzelnen, diese Beziehung zu gestalten, möchte sie komponierend ermöglichen. Die Kompositionspraxis von Eva-Maria Houben enthält noch einen weiteren Aspekt von Reduktion. Houben hat in jahrelanger Auseinandersetzung mit dem Instrument Orgel spezielle Techniken entwickelt, den Reichtum an Klangfacetten jenseits aller Konventionen hörbar zu machen. Ihr Credo lautet, »das Instrument ganz genau zu kennen und zur vollen Entfaltung zu bringen«.97 Ein Blick in die Textpartitur von orgelinstallation I98 (2005, ew16.061) zeigt, dass die darin enthaltenen Anweisungen genauestens benennen, mithilfe welcher Techniken der Orgel ungewöhnliche Klänge entlockt werden sollen. Erzeugt werden sollen Klänge mit einem unterschiedlich hohen Anteil an Luftzustrom. Die Partitur ist anwendbar auf verschieden große Orgeln und gibt einzig den Oktavbereich an, in dem Liegetöne gespielt werden sollen. Die Dynamik soll durchgängig »sehr leise« sein, die Dauer wird mit »lang bis sehr lang« angegeben. Reduktion bedeutet in diesem Fall also Fokussierung auf Techniken, mit denen die Spannbreite an Klangfarben einer bestimmten Orgel hörbar gemacht werden kann. Auf eine Notation wird hier ganz verzichtet. An der Kompositionspraxis von Jürg Frey, Wandelweiser-Mitglied von Beginn an, sei ein weiterer Aspekt von Reduktion für die Wandelweiser-Ästhetik erörtert. Frey nennt das, was er sucht, »das einfache, eindeutige Material«, das sich
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Gespräch Eva-Maria Houben – Sonja Heyer, siehe Anhang: Komponistengespräche. Ebd. Textpartitur orgelinstallation I, Eva-Maria Houben (edition wandelweiser ew16.061) 2005, siehe Anhang: Partiturauszüge.
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»noch in einem Zustand vor der sinnlichen Qualität« befindet99 und meint damit Klänge, die unbelastet von Konventionen und entbunden von einer musikalischen Vorgeschichte, in einer Komposition erklingen sollen. Anders als Beuger, der in Cage’scher Tradition allem Klingenden in seinem Sosein vertraut, vertritt Frey die Auffassung, solche leeren Klänge können nicht gefunden, sondern müssen erfunden werden: J. Frey: Das ist ein komplexer Prozess, die Sorgfalt des Findens des richtigen Materials. Der zweite Faktor, der die Konvention und Geschichte aushebeln kann, ist die Komposition. Die Zeitgestaltung kommt hinein. Das ist eine Energie, die das Material davon wegbringt, so zu klingen, wie es immer geklungen hat. Diese zwei Aspekte sind für mich ganz wesentlich. Die kompositorische Energie bewirkt, dass konventionelles Material plötzlich anders, neu klingt. […] Es geht in Richtung Präzision des Klanges, aber nicht in Richtung Behauptung des Klanges. Entfaltung und Loslassen des Klanges zusammen mit einer sehr präzisen Vorstellung, wie er sein soll. S. Heyer: Hat das eher mit dem Machen oder mit dem Finden von Klängen zu tun? J. F.: Ich glaube, eher mit dem Machen. S. H.: Also, der Klang wird leer gemacht und nicht leer gefunden. Es gibt keine leeren Klänge, die man finden kann, sondern man muss sie leer komponieren. Sonst könnte man denken, man kann leere Klänge, die noch unbesetzt sind, zum Beispiel in der Natur finden. J. F.: Das macht die Komposition. Unbesetzte Klänge in der Natur sind eine Illusion. […] Die Komposition macht klar, dass die Klänge aus einem Naturkontext herausgenommen sind. Der Kontext fällt nicht vollkommen weg, aber er öffnet sich in eine künstlerische Dimension.100 Reduktion kann für Freys Kompositionspraxis als eine Art Entschlackungsprozess verstanden werden. Durch die sorgfältige Auswahl von Klängen bemüht er sich, sie von Konventionen befreit und auf das Unentdeckte in ihnen reduziert, erklingen zu lassen. Eine in den Klängen verborgene Naturhaftigkeit, die durch eine geläuterte Wahrnehmung entdeckt werden könnte, hält er für eine Illusion. Beuger, Houben und Frey bedienen sich auf je spezifische Weise der Reduktion als Mittel für ihre musikalischen Experimente. Die Zuordnung ihrer Kompositionspraxis zur Musik des reduktiven Minimalismus101 muss trotzdem abwägend
99 Jürg Frey: »Material«, in: Positionen: Texte zur aktuellen Musik 38 (1999), S. 22-25 (S. 23). 100 Gespräch Jürg Frey – Sonja Heyer, siehe Anhang: Komponistengespräche. 101 Straebel 2002, URL: https://www.straebel.de/praxis/index.html [Abruf 17.07.2019] führt die Gründung der Gruppe Wandelweiser zu Beginn der 90er-Jahre als typisches Beispiel für den sog. reduktiven Minimalismus an.
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geschehen. Unter reduktivem Minimalismus wird eine Strömung der zeitgenössischen Musik verstanden, die seit den 1980er-Jahren einige für die Emanzipation des musikalischen Materials charakteristische Kriterien erfüllt.102 Dazu zählen Stasis und Klangintrospektion statt der Entwicklung musikalischer Formen, eine zeitliche Ausdehnung von Kompositionen, die das Erfassen eines ganzen Werkes unmöglich macht, sowie der Einsatz von Stille als Material. Wilson spezifiziert den Begriff der Reduktion und spricht von »ästhetische(n) Strategien der Verringerung musikalischer Komplexität, sei es auf der Ebene von Material oder Struktur«.103 Für die von der Autorin gesichteten Kompositionen gelten die aufgeführten Kriterien nicht umfänglich; Reduktion als Strategie kann hingegen grundsätzlich für die Kompositions- und Produktionsästhetik der Wandelweiser-Komponisten konstatiert werden. Wenn Beuger, Frey und Houben sich teilweise explizit gegen die Zuordnung ihrer Musik zum reduktiven Minimalismus aussprechen, dann, weil sie den Begriff der Reduktion nicht auf ihr musikalisches Material angewandt wissen möchten. Reduktion als Mittel ihrer Serienkompositionen wird von ihnen hingegen ausdrücklich beschrieben. Zusammenfassend lässt sich über den Zusammenhang von Serienkompositionen und Reduktion Folgendes sagen: Serienkompositionen sind in besonderer Weise als Form experimenteller Musik geeignet, da sich in ihnen unter wechselnden, reflektierten Bedingungen gleichbleibendes musikalisches Material in seiner situativen Veränderung erfahren lässt. Die Reduktion der Aufführungsanweisungen von Serienkompositionen auf klare Regeln steigert die Wahrscheinlichkeit neuer Hörerfahrungen. Die Aufführungspraxis zahlreicher Wandelweiser-Komponisten zeichnet sich durch wenige, auf ein Mindestmaß reduzierte Regeln aus, die den Fokus von der Virtuosität des Instrumentalisten wahlweise auf die Eigenschaften des Klangs beziehungsweise die Interaktion der Aufführenden verschiebt. Dieser spezifische Fokus sorgt dafür, Werke über lange Zeiträume im hörenden Vergleich immer wieder neu erleben zu können. Die Reflexion und regelmäßige Neujustierung dieser Aufführungspraxis ist nicht zuletzt Gegenstand der ästhetischen Praxis des Wandelweiser Komponisten Ensembles.
102 Zur Stasis in der Musik siehe Rowell, Stasis in music. Burkhard Schlothauer, Mitglied der Gruppe Wandelweiser, spricht in Abgrenzung zum Begriff reduktive Musik von abstrakter Musik. Siehe Burkhard Schlothauer: »Abstrakte Musik«, in: Eva-Maria Houben (Hg.): MusikDenken: Texte der Wandelweiser-Komponisten, Zürich 2007, S. 34-49 (S. 34). 103 Peter Niklas Wilson: Reduktion: Zur Aktualität einer musikalischen Strategie, Mainz 2003. S. 5.
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2.4. Material- und produktionsästhetische Fokussierung: Auswahl der Werkanalysen Die Wandelweiser-Komponisten Antoine Beuger (*1955) und Marcus Kaiser (*1967) zählen zu den wichtigen Vertretern einer zeitgenössischen Komponistengeneration, die sich explizit und implizit mit dem Erbe von John Cage auseinandersetzt. Dabei arbeiten sie auf den ersten Blick sehr unterschiedlich: Während Beuger Stücke komponiert und aufführt, die oft lange Dauern von Stille beinhalten, komponiert Kaiser lang dauernde Mixed-Media-Installationen, die in ihrer Komplexität kaum zu erfassen sind. Auf unterschiedliche Weise behandeln damit beide klassische Topoi der Erhabenheit: Leere und Fülle. In Aufführungen von Beugers Stücken kann es geschehen, dass der Komponist als Interpret sich unter das Publikum mischt. Wenn die Komposition dann noch längere Dauern von Stille vorsieht, geraten für den Zuhörer gleich mehrere Konventionen herkömmlicher Aufführungspraxis ins Wanken: die Trennung von Bühne und Publikum, die Funktion der Stille als Pause, eventuell auch die gewohnt überschaubare Länge von Aufführungsdauern. In Marcus Kaisers oft Wochen dauernden Installationen hingegen kann sich der Besucher verlieren und ist nicht nur aufgerufen, ein komplexes Miteinander medialer Ebenen zu erfassen, sondern auch, sich selbst daran zu beteiligen. Der Horror Vacui einer plötzlich aufbrechenden Leere, in der sich scheinbar nichts ereignet, und sich einer unüberschaubaren Informationsflut auszusetzen – beide Situationen sind geeignet, ein Gefühl der Überwältigung zu evozieren, wie sie für das Erhabene typisch ist. Die hier ausgewählten Werkanalysen sollen nun zeigen, wie das Erhabene auf neue und zeitgemäße Weise einen Platz in der zeitgenössischen Kompositionspraxis eingenommen hat. Die genauere Betrachtung der Material- und Produktionsästhetik beider Komponisten erlaubt Aufschlüsse darüber, mit welchen unterschiedlichen musikalischen Verfahren und Formen heute solche Situationen hergestellt werden. Beide Komponisten werden mit je einer Serienkomposition vorgestellt. Die Autorin entschied sich nach ausführlichen Gesprächen mit fünf Wandelweiser-Komponisten für Antoine Beugers Kompositionsserie calme étendue (1996) sowie Marcus Kaisers Werk opernfraktal (seit 2003). Dafür spricht, dass beide – exemplarisch für die Wandelweiser-Ästhetik – mit Stille und Überzeitlichkeit arbeiten und sich in eigenen Texten hierzu explizit geäußert haben. Darüber hinaus zeigte sich in den Gesprächen mit ihnen ihr Interesse an (zeit)philosophischen Fragestellungen, das die Produktionsästhetik der eigenen Werkserien fortgesetzt beeinflusst. Analog zur Differenzierung von Denk- und Praxisraum für die Komponistengruppe Wandelweiser soll im Folgenden für die einzelnen Komponisten zunächst der entsprechende Denkraum charakterisiert werden, bevor im Praxisraum die Material- und Produktionsästhetik des ausgewählten Werks analysiert wird. Diese Vorgehensweise entspricht einigen von der Autorin entdeckten Diskrepanzen.
Kapitel 2: Die Komponistengruppe Wandelweiser als Denk- und Praxisraum
So ist der Denkraum, wie er sich in Gesprächen und Texten entäußert, mitunter von Terminologien und Ideen geprägt, die nicht oder anders, als zu erwarten wäre, kompositionspraktisch eingelöst werden. Aus der Zusammenschau des jeweiligen Denk- und Praxisraums werden schließlich analytische Schlussfolgerungen gewonnen, die in ihrer Terminologie wiederum sowohl von der Textpartitur als auch von den Selbstaussagen der Komponisten abweichen können.
2.5. Antoine Beuger: Stille als innermusikalische Zerdehnung Antoine Beuger (*1955) studierte von 1973 bis 1978 Komposition am Sweelinck Conservatorium Amsterdam bei Ton de Leeuw. Er zog sich danach aus dem Musikleben zurück und war einige Jahre Mitglied in der von Otto Mühl initiierten Kommune Aktionsanalytische Organisation, die sich 1991 auflöste. Beuger hat sich in Gesprächen explizit zu seinen Erfahrungen in der AAO geäußert, der er von 1977 bis 1989 angehörte.104 Sie beeinflusste maßgeblich seine Entscheidung, das Komponieren nach einer Unterbrechung von circa zehn Jahren wieder aufzunehmen. Aus der Erfahrung einer alternativen Lebensgemeinschaft, die damit experimentiert hatte, radikal das Private ins Öffentliche zu wenden,105 nahm Beuger die Überzeugung mit, dass eine Gemeinschaft nicht Menschen in eine Idee pressen sollte, sondern wächst, indem die Idee immer wieder neu von Menschen ausformuliert wird. Dies benötigt Integration statt Selbstdarstellung, und als eine solche integrative Kraft begreift sich Beuger innerhalb der Wandelweiser-Gemeinschaft.106 Beuger nahm das Komponieren 1990 wieder auf. 1992 gründete er gemeinsam mit Burkhard Schlothauer die edition wandelweiser, deren künstlerischer Direktor er 1996 wurde. Seit 2004 ist er ihr Geschäftsführer. Beuger vollzieht eine permanente Doppelbewegung von philosophischer Reflexion und musikalischer Produktion. Die Analyse des Denk- beziehungsweise Praxisraums vollzieht diese Bewegung nach und zeigt, wie sich sein Komponieren über Jahrzehnte in direkter Auseinandersetzung mit (zeit)philosophischen Fragestellungen weiterentwickelt hat.
104 Barrett, The Silent Network, S. 451/452. 105 Robert Fleck: Die Mühl-Kommune: Freie Sexualität und Aktionismus. Die Geschichte eines Experiments, Köln, 2003, S. 156. 106 Barrett, The Silent Network, S. 453.
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2.5.1. Der Denkraum: Grundsätzliche Entscheidungen Mit Denkraum soll diejenige Reflexionsebene beschrieben werden, die die Material- und Produktionsästhetik des Komponierens ideell und programmatisch begleitet. Antoine Beuger hat in seinem Text »Grundsätzliche Entscheidungen«107 Prämissen seiner Kompositionspraxis formuliert. Zentrale Themen, um die sein Komponieren kreisen, sind die Beziehungen zwischen a) Zeit, Materie, Form und Unendlichkeit, b) Kontinuum und Schnitt, c) Stille, Ereignis und Entgrenzung.
Cages Komposition 4’33’ stellt für ihn einen fundamentalen Einschnitt in die Musikgeschichte dar, zu dem sich die Kompositionen seines Gesamtwerks je verhalten.108
Zeit, Materie, Form und Unendlichkeit Beuger äußert sich zu der immanenten und relationalen Qualität, die die Zeit für ihn besitzt. Letztere sieht er darin, »Modalität unseres Seins, die dieses als Werden bestimmt«,109 zu sein. Ihre immanente Qualität, das Kontinuum, kann weder besetzt noch besessen werden.110 Es gibt die Frage nach der Materie (›Woraus setzt sich Musik zusammen?‹) und die Frage nach der Form (›Wie macht sie das?‹). Die Materie der Musik ist das allgegenwärtige Rauschen der Welt, das heißt: alles, was klingt. Ihre Form ist der jeweilige Ausschnitt, den sie aus dieser unendlichen Mannigfaltigkeit herausschneidet.111
107 Beuger formulierte den gleichnamigen Text 1997; er erschien 1999 in Positionen: Texte zur aktuellen Musik 41 (1999), S. 8-9 und stellt die Quintessenz seiner jahrelangen Auseinandersetzung mit Cage und dessen Folgen für seine eigene Kompositionspraxis dar. 108 »Ein solches Komponieren, das sich dem Ereignis, das heißt: der Begegnung mit dem Realen, öffnet, ist ohne John Cage undenkbar. Es ist immer der Versuch einer Antwort auf die Frage: ›Wie geht es nach 4'33' weiter?‹ oder anders formuliert: ›Was ist in 4'33' noch an Unbekanntem enthalten?‹« Beuger, »Grundsätzliche Entscheidungen«, S. 9. 109 Antoine Beuger: Gedanken eines Komponisten, Programmheft, Gerolstein, 1997, in: Eva-Maria Houben und Burkhard Schlothauer (Hg.): Antoine Beuger: Werkanalysen und Hintergründe, Zürich 2013, S. 149. 110 James Saunders: »Zeit ist niemandes Eigentum. Ein E-Mail-Interview mit Antoine Beuger (Dezember 2003 bis März 2004)«, in: MusikTexte: Zeitschrift für neue Musik 130 (2011), S. 44-52. 111 Beuger, »Grundsätzliche Entscheidungen«, S. 8.
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Beugers Setzung, die Frage, woraus Musik sich zusammensetze, sei eine Frage nach ihrer Materie, birgt das bereits diskutierte Problem in sich, Zeit weder philosophisch noch musikwissenschaftlich als Materie konzeptualisieren zu können. Seine eingehendere Erklärung, was er unter Materie und Form versteht, legt nahe, dass es hier um die erläuterte Form-Inhalt-Differenzierung geht. Dem Inhalt, der von ihm Materie genannt wird, ordnet er die Eigenschaft Allgegenwart zu, die Form hingegen ist ein »Ausschnitt« aus ihr. Die Begriffe Materie und Form, wie sie Beuger verwendet, können also als Synonyme der zeitphilosophischen Definitionen der Kontinuität und der Dauer verstanden werden.112 Kontinuität meint das Immerwährende beziehungsweise das immer Klingende; Dauer bezeichnet einen komponierten Ausschnitt daraus. Beuger möchte den Begriff Zeitkunst nicht auf Musik anwenden, da sich darin bereits eine Inbesitznahme der Zeit ausdrücke. Ich tue mich schwer, Musik als Zeitkunst zu definieren. Musik spielt sich in der Zeit ab. Eine Dauer etabliert sich. Ich würde Deleuze folgen, dass Dauer ein Kontinuum von wechselnden Intensitäten ist, in dem man sich bewegt, eine Linie mit unterschiedlichen Volumen. Aber es ist nicht das eigentliche Material.113 An dieser Stelle zeigt sich eine Überschneidung in Beugers Denken, die zu einer terminologischen Verwirrung führt. Wie noch gezeigt werden soll, ist Deleuze besonders für Beugers Verständnis von Ereignis wesentlich, und das Ereignis, da ist er sich mit Deleuze einig, sei grundsätzlich unverfügbar. Weder die Zeit noch das musikalische Ereignis, so Beuger, könne man besitzen; daher sei es seine Aufgabe als Komponist, auf diese Nichtbesitzbarkeit und Unverfügbarkeit zu verweisen und sich zu ihnen in Beziehung zu setzen. Löst man den durch das Gleichsetzen von Materie und Kontinuität bei Beuger entstehenden terminologischen Zirkel auf, bleibt festzuhalten: Über das Kontinuum kann der Komponist selbstverständlich weder als Materie noch als Material verfügen; er kann aber Dauer als musikalische Form setzen und darin besteht seine Beziehungsaufnahme zum Faktor Zeit. Beugers wiederholter Verweis auf sein Nichtverfügen über die Zeit verweist darauf, dass es ihm um eine Enthierarchisierung der Beziehung zwischen Mensch und Zeit geht, deshalb spricht er der Zeit den Materialstatus ab. Gerade die immanenten Qualitäten der Zeit fordern einen spezifischen Umgang des Komponisten mit 112 113
Die Unterscheidung von Aion (Immmerwährendes) und Chronos (Zeit der Welt) findet sich in der antiken Philosophie bereits bei Anaximander. Siehe HWBPhil, Bd. 12, S. 1194f. Siehe Anhang: Komponistengespräche. Die Aussagen, die Beuger hier Deleuze zuweist, gehen zurück auf dessen Interpretation von Bergson. Siehe Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 2001, S. 54: Zeit ist für Bergson reine Dauer und innere Vielheit »des Nacheinanders, der Verschmelzung, der Organisation, der Heterogenität, der qualitativen oder Wesensunterscheidung, eine Vielheit, die virtuell und kontinuierlich ist und nicht auf das Numerische zurückgeführt werden kann.« Siehe auch Henri Bergson: Zeit und Freiheit, S. 100f.
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ihr: »Es gibt keinen Weg, in das Kontinuum zu gelangen: Aufgrund seiner Dichte ist es unmöglich, sich darin zu bewegen. Es scheint angebrachter zu sein, das Komponieren als Schnitt in diese Unendlichkeit zu betrachten […]«114 Wenn die Zeit zu Musik wird, dann also nur dadurch, dass man sich temporär zu ihr in Beziehung setzt und einen Ausschnitt von ihr definiert. Dieser Ausschnitt ist die musikalische Form: die Dauer einer Komposition oder die Dauern von Klang und Stille in einer Komposition.
Kontinuum und Schnitt Wenn man, Beuger folgend, Komponieren als das Setzen von Schnitten in das ewig klingende Kontinuum der Zeit versteht, dann impliziert dies die Vorstellung einer kontinuierlich hörenswerten Fülle. Beuger denkt Zeit als größtmögliche und »reine Differenzialität dessen, was es gibt«115 . Das bestimmt sein spezifisches Selbstverständnis als Komponist. Komponieren bedeutet nun, zu hören, was immer schon da ist, statt zu kreieren, was sich entwickeln soll. Somit offenbart jeder Schnitt in ihr Kontinuum eine »Wahrheit«: Der Schnitt in das Rauschen, der im Sinne der Natur vollkommen arbiträr ist (jeder Schnitt ist gleichermaßen wahrscheinlich), erhebt als geschichtliches Ereignis einen Wahrheitsanspruch (den Anspruch, eine, nicht die Wahrheit zu sein) und forciert ein neues Wahrnehmen, ein neues Empfinden, ein neues Denken.116 Beuger knüpft hier implizit an zwei Denktraditionen an – Transzendentalismus und Postmoderne – und stellt sich in die Traditionslinie der experimentellen Musik, die über Cage und Ives zu den Transzendentalisten um Thoreau und Emerson zurückreicht.117 Beuger betont die Bedeutung der Grenzsetzung beim Komponieren. Sein Schnitt ist nicht nur ein Schnitt in ein Kontinuum, sondern wird in jeder Komposition durch einen weiteren Schnitt begrenzt, der wahlweise dem Klang oder der Stille ein Ende setzt. Beuger unterstreicht, wie wichtig bereits bei Cages 4’33’ der Anfang und das Ende der Aufführung war.118 Daran lässt sich erkennen, 114 115 116 117
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Saunders, Zeit ist niemandes Eigentum, S. 44. Beuger, »Grundsätzliche Entscheidungen«, S. 9. Beuger, »Grundsätzliche Entscheidungen«, S. 8/9. Frank Mehring verweist in diesem Zusammenhang auf den Mythos der Sphärenmelodien: »Hinter den Sensibilisierungsprozessen der Transzendentalisten und Avantgardisten verbirgt sich nichts anderes als der antike Mythos der Sphärenmelodien, die nur dem besonders empfindsamen Menschen zugänglich sind.« Mehring, Sphere Melodies, S. 531. »4'33' […] Das ist keine Einladung: Macht doch mal die Ohren auf und hört, wie schön das alles ist! Im Ergebnis ist es das auch, aber eigentlich geht es darum zu sagen: Wenn wir von Stille reden, ist das Einzige, wovon wir sprechen können, dass es hier anfängt und dort aufhört.« Siehe Anhang: Komponistengespräche.
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dass es ihm nicht um ein bloßes Hineinhören in den naturgleich sich vollziehenden Lauf der Zeit geht, sondern um ein Aufzeigen von Endlichkeit. Durch bewusstes Setzen von Anfang und Ende entgeht er den Fallstricken der frühromantischen Reminiszenz, der Natur eine Sprache zuzugestehen, die erhört werden könne.119 Gehört werden kann nicht die Kontinuität, sondern die Differenzialität des gesetzten Ausschnitts. Dem kompositorischen Setzen von Schnitten spricht Beuger einen Wahrheitsgehalt zu, denn es markiert eine willkürliche Entscheidung des Komponisten. Durch Schnitte wird das Raster definiert, das vor die Kontinuität der Zeit gehalten wird; nur, dass ein Komponieren, das die Zeit selbst zum Inhalt erklärt, die Perspektive postmodern verschiebt. Der kompositorische Schnitt sorgt nicht für die Wahrheit, sondern für Wahrheiten.120 Der Schnitte setzende Mensch zeigt seinen je geltenden Wahrheitsanspruch, indem er in das Kontinuum Grenzen setzt. Der Schnitt sorgt für die Dauerverhältnisse eines Stücks und soll innerhalb des entstandenen Zeitfensters die unendliche Differenzialität der klingenden Zeit zu Gehör bringen.
2.5.2. Stille, Ereignis und Entgrenzung: philosophische Tiefendimensionen stille: die bejahung der kontingenz; fröhliches warten ohne gegenstand; die kraft des vergessens. ereignis: nie gegenwärtig; in keinem noch so kleinen Intervall zwischen zwei zeitpunkten zu erfassen; immer gleichzeitig »noch nicht« und »bereits nicht mehr«.121 Für Beuger ist die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Stille und Klang ein Teil der realen Lebenserfahrung. Im Kern geht es ihm darum herauszufinden, was eigentlich ein Ereignis ist und wie man es zu fassen bekommt, denn die Erkenntnis eines Ereignisses läuft dem Ereignis immer hinterher. Ihn beschäftigt die Frage, wie sich das musikalisch ausdrücken lässt122 : »Ich habe mich circa zehn Jahre damit auseinandergesetzt, was es eigentlich mit der Stille auf sich hat, die durch einen Einschnitt zustande kommt. […] Es ist eine Auseinandersetzung mit Verlusterfahrung. Plötzlich ist es anders als vorher und unumkehrbar.«123 Wenn Beuger davon
119 Siehe Straebel, »Anmerkungen zur Sonifikationsmetapher«. 120 »Das Entscheidende ist diese Grenzsetzung, dieser Einschnitt in das ontologische Kontinuum dessen, was ist.« Siehe Anhang: Komponistengespräche. 121 Beuger, »Gedanken eines Komponisten«, S. 149. 122 Sanio spricht davon, dass Beuger »die Musik gewissermaßen strukturell dem Ereignis ähnlich machen« möchte. Sabine Sanio: »Ist eine Musik des Ereignisses möglich?«, in: Positionen: Texte zur aktuellen Musik 75 (2008), S. 38-40 (S. 39). 123 Siehe Anhang: Komponistengespräche.
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angetrieben wird, herauszufinden, was die Stille ist, so schließt dies die Auseinandersetzung mit der Zeitlichkeit von Stille, Klang und Ereignis ein. Die Suche nach etwas, das sich tatsächlich ereignet, sieht sich im Konflikt damit, dass das, was ist, im Moment des Erkennens immer schon war. Ereignis ist somit immer das Erkennen eines Verschwindens. Klang in seiner physikalischen Natur des gleichzeitigen Er- und Verklingens ist daher für Beuger eine Metapher des Ereignisses.124 Cage brachte mich auf die Frage: Wieso ereignet sich hier eigentlich nichts? Was ist das für eine Welt, in der sich nichts ereignet? Cage sagte dazu: »Alles ist sein eigenes Zentrum«, und er sprach von gegenseitiger Durchdringung ohne Behinderung usw. Doch da sträubte sich etwas in mir und ich sagte: Aber es gibt doch auch das, was es nicht mehr gibt. Es gibt die Erfahrung, hinter die man nicht mehr zurück kann, und das ist vielleicht der Stoff, aus dem Musik gemacht wird. Ich war lange mit Deleuze unterwegs, bis ich Badiou entdeckte.125 Hier drückt sich der Grundkonflikt im kompositorischen Umgang mit Klang aus, dem Beuger versucht, auf die Spur zu kommen: Die Unverfügbarkeit des Ereignisses begegnet darin der Geschichtlichkeit der Erfahrung. Beuger setzt sich damit auseinander, was an dieser Begegnung für ihn als Komponisten gestaltbar ist. Seine Denkbewegung weg von Deleuze und hin zu Badiou markiert sein Fortschreiten zu einer selbstbewussten Ausweitung seines Gestaltungsspielraums. Anhand von vier Werken, die Beuger zwischen 1991 und 1996 veröffentlicht hat, soll nachgezeichnet werden, wie es ihm gelungen ist, eine eigene musikalische Position zur Stille zu finden, indem er seinen Begriff des Ereignisses schärfte: silent understanding (1991), silences (1992), first music for marcia hafif (1994) und calme étendue (oboe) (1996). Die langjährige philosophische Reflexion der Natur des Ereignisses führte ihn von Jacques Derrida über Edmond Jabès und Vladimir Jankélévitch zu Gilles Deleuze und schließlich zu Alain Badiou. Wesentlich für diese Auseinandersetzung ist, dass aus einer dekonstruktivistisch grundierten Haltung, Unmöglichkeit zu konstatieren, über die Jahre eine Haltung wird, die reflektiertes subjektives Handeln wieder möglich macht. Dies spiegelt sich in seinen Kompositionen wider. Ein Ergebnis ist das vorangestellte Zitat, das der Stille die Qualität positiv verstandener Kontingenz und dem Ereignis die einer nicht fassbaren Existenz zuschreibt. 1991 erscheint silent understanding (ew01.009). Es ist der Beginn einer ganzen Reihe von Stücken, die mit Beugers Jabès-Rezeption verknüpft sind.126 Der Titel
124 Ebd. 125 Ebd. 126 Antoine Beuger: silent understanding (für Flöte und Tonband), Haan (edition wandelweiser ew01.009) 1991; silences (für Mundharmonika), Haan (edition wandelweiser ew01.016) 1992; die stille, die zeichen (für Oboe, Fagott, Viola und Gitarre), Haan (edition wandelweiser ew01.020) 1993.
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des Stücks bezieht sich explizit auf eine Zeile aus einem Text von Edmond Jabès: »L’hospitalité est entente silencieuse. Telle est sa particularité«.127 In der Textpartitur von silent understanding greift Beuger das Mitschwingen des Worts »entendre« (französisch: [zu]hören) im Wort »entente« (französisch: Einvernehmen) auf.128 Gastfreundschaft, so seine Schlussfolgerung, benötige das vorbehaltlose Zuhören, das Schweigen des Gastgebers und das Willkommenheißen des Gastes, ohne nach seiner Identität zu fragen. So will Beuger seine Musik verstanden wissen. »In my music, sounds are like guests deserving our silence, which means our not asking questions about their identities, their origins and their goals, our listening.«129 Das deckt sich vollkommen mit Cages Haltung, alles in seiner Musik willkommen zu heißen. Es verweist darüber hinaus auf ein philosophisches Hinterland um Jacques Derrida, der Jabès’ Texte diskutiert hat.130 Derrida geht es um die Analyse eines Sprechens, das dem Ereignis gerecht werden möchte. Der Sprechakt, so Derrida, könne das Ereignis nur konstatieren oder es selbst performativ hervorbringen.131 Jenseits dessen gebe es das unverfügbare Ereignis, das überraschend, nicht fassund beherrschbar daherkomme.132 Sprechen entstehe aus dem Schweigen. Diesem Denkansatz entspringt Beugers silent understanding. Die Partitur des Stücks zeichnet sich durch klare Anweisungen aus. Einsätze, Längen und Tempi sind vorgegeben. Ein Teil der Klänge muss vom Aufführenden vorproduziert werden, denn für die Aufführung gilt, dass eine live gespielte Passage von einer aufgenommenen abgelöst werden soll, die mittels eines Tapes vom Aufführenden eingespielt wird. Mit silent understanding unternimmt Beuger einen frühen Versuch, das Verhältnis von Klang und Stille zu gestalten. Die regelmäßige Struktur von 120 jeweils 30 Sekunden langen Abschnitten, in denen Klänge sekundengenau platziert sind, lässt den stillen Momenten jedoch kaum Platz zur Entfaltung einer Eigendynamik im Sinne von Kontingenz. Stille dient eher dem Verklingen des Klangs. Silences (für Mundharmonika) (1992, ew01.016) bezieht sich auf ein zweites wichtiges Thema von Jabès’ Nachdenken, der (Un-)Möglichkeit des Dialogs. Der Textpartitur ist ein Zitat vorangestellt, das dem Verhältnis von Schweigen und Edmond Jabès : Le Livre de l’Hospitalité, Paris 1991, S. 21. »In the french word ›entente‹, understanding, the verb ›entendre‹, to hear/to listen, resonates. Hospitality, therefore, has to do with listening, with silence, with a silent understanding between host and guest.« Aus: Textpartitur silent understanding, Beuger 1991, ew01.009. Siehe Anhang: Partiturauszüge. 129 Ebd. 130 Jacques Derrida: »Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch«, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1976, S. 102-120. 131 Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, S. 21, 24. 132 Ebd., S. 31, 35. 127 128
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Miteinandersprechen nachgeht.133 Zwei Anweisungen Beugers zu silences (für Mundharmonika) geben Aufschluss darüber, dass sein Verständnis des Verhältnisses von Stille und Klang sich hier bereits verändert hat: »Es gibt 39 Blätter. Jedes enthält eine Klanggestalt umgeben von zwei ›Stillen‹: vor-hören … hören … nachhören? Oder vielleicht: vor-hören … nach-hören … hören?«134 Zwei neue Aspekte im Verhältnis von Stille und Klang werden hier deutlich: der Aspekt der Umgebung und der des Hörens. Klang ist umgeben von Stille; es gibt ein Davor und Danach, und es gibt ein aktives Hören. Dies verweist auf die Intention einer veränderten Beziehung zwischen Klang und Stille: Der Dialog zwischen ihnen soll die bloße Koexistenz ersetzen. Beuger ist bestrebt, das dialogische Prinzip kompositorisch zu realisieren, indem er das Schweigen zwischen den klanglichen Aktionen zum Hören erklärt. Nicht nur der Klang soll klingen, auch die Stille dazwischen. Zwischen den Seiten: der Klang des Umblätterns. Klang, der unser Lesen, unser Leben, begleitet. Die Richtung des Blätterns (beziehungsweise des Wegschiebens) wird von einem Pfeil am untern Blattrand gezeigt. Die Länge beziehungsweise Intensität dieser Aktion wird von der Länge des Pfeiles angedeutet. Klang der Stille zwischen den Stillen.135 So bekommen die stillen, schweigenden Phasen des Stücks unterschiedliche klangliche Qualitäten. silences (für Mundharmonika) soll eine dialogfähige Stille realisieren. Für Jabès besitzt die Stille einen Hinweischarakter, sie verweist auf den Kollaps des Diskursiven.136 Mit silences (für Mundharmonika) verlässt Beuger die Sackgasse des unmöglichen Miteinandersprechens durch eine Rückkehr zum Aufeinanderhören, und dies schließt Schweigen mit ein. So, wie ein tatsächlicher Dialog davon lebt, dass zwei Personen nicht nur abwechselnd sprechen, sondern auch aufeinander hören, wird die hier komponierte Stille als eine klingende und hörbare und somit auch dialogfähige Stille konzipiert. In gewisser Weise löst sich Beuger damit von Jabès, den er in der Textpartitur noch selbst zitiert. Der angestrebten Ereignishaftigkeit der Musik ist Beuger damit zumindest insofern nähergekommen, als dass die von ihm komponierte Stille gleichberechtigt neben den Klang tritt. Seine erste Serienkomposition first music for marcia hafif (ew01.032)137 nähert sich dem Problem der Ereignishaftigkeit durch eine Inspiration aus der bildenden Kunst. Beuger stieß auf Bilder der US-amerikanischen Malerin Marcia Ha133 134 135 136 137
Siehe Anhang: Partiturauszüge. Beuger überträgt damit den Jabès’schen Gedanken, jede Stille beinhalte derer zwei, in die Werkform. Siehe Partitur silences (für Mundharmonika), ebd. Ebd. Nicholas Melia: »Stille Musik – Wandelweiser and the Voices of Ontological Silence«, in: Contemporary Music Review 30, H. 6 (2011), S. 471-495 (S. 485). Antoine Beuger: first music for marcia hafif, Haan (edition wandelweiser ew01.032) 1994. Siehe Anhang: Partiturauszüge.
Kapitel 2: Die Komponistengruppe Wandelweiser als Denk- und Praxisraum
fif (1929–2018), die seit den 1960er-Jahren monochrome Bilderserien entwickelte. Beuger macht an diesen Bildern eine Entdeckung: »Alle Zeichnungen sind sich sehr ähnlich, doch alle sind anders. Mehrere Jahre lang machte sie immer das Gleiche. Dabei kamen all diese Unterschiede heraus.«138 Beuger erkennt darin das Potenzial von Wiederholung und beginnt, mit der Serie first music for marcia hafif ein Verfahren der zeitlichen Festlegung von Dauern der Stille und Klänge zu entwickeln, das er in späteren Serien weiterführen wird.139 Es fällt auf, dass first music for marcia hafif eine starke Betonung auf die Definition der Klänge legt. Die Textpartitur legt fest, wie die Klänge erzeugt werden und wie sie klingen sollen. Das Stück soll neun Stunden dauern und beinhaltet lange Dauern von Stille. Beuger denkt Klang als eine Metapher für Ereignis.140 Ein musikalisches Ereignis selbst zu produzieren, bleibt für ihn schwierig, weil er Klang ganz im Sinne von Vladimir Jankélévitch als etwas nicht Fassbares betrachtet. Jankélévitch schreibt dem Klang eine Doppelnatur zu, er tauche gleichzeitig auf und verschwinde. Den kurzen Moment dazwischen bezeichnet er als »Presque-Rien« (Beinahe-Nichts). Er ist für ihn der einzige Moment einer potenziell metaphysischen Erkenntnis.141 Für Beuger ist an diesem Gedanken interessant, das plötzliche Auftauchen von Stille als Ereignis zu denken. »In meiner Musik habe ich mich deswegen weg von einer ontologischen Auffassung von Stille und hin zu dem, was da ist, bewegt. Und dann ist Stille das, was passiert, wenn etwas nicht mehr da ist. Dieses Verschwinden ist das Ereignis.«142 Der verschwindende Klang kündet gewissermaßen davon, dass sich etwas ereignet hat. Die einsetzende Stille kündet vom Verlust. Auf diese Weise gelingt es Beuger, sowohl die Stille als auch den Klang in Beziehung zum Ereignis zu setzen. Um 1995 entdeckt Beuger die Schriften des französischen Philosophen Alain Badiou und seinen Ereignisbegriff, der ihm erlaubt, sich aus der dekonstruktivistischen Negation des Jabès’schen Denkens zu lösen. »Das Ereignis schlägt ein Loch in die vorhandene Ordnung und zieht eine grundsätzliche Umstrukturierung dieser Ordnung nach sich. Wer von dem Ereignis ergriffen wurde, wird sich für diese Umstrukturierung im Sinne des Ereignisses einsetzen.«143 Beuger schätzt an Badiou die Stärke und Unwiderruflichkeit seines Ereignisbegriffs.144 Stille ist nun für ihn ein unumkehrbarer Einschnitt im Sinne Badious und nicht mehr eine potenziell metaphysische Denkfigur, wie bei Derrida und Jabès. Eine so gedachte Stille beinhaltet neben dem Verschwinden und dem Verlust auch die Erinnerung und Saunders, Zeit ist niemandes Eigentum, S. 47. Siehe die Serie calme étendue, Haan (edition wandelweiser ew01.044a-) seit 1996 oder die Serie place, Haan (edition wandelweiser ew01.047a-) seit 1996/97. 140 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 141 Vladimir Jankélévitch: Das Ich-weiß-nicht-was und das Beinahe-Nichts, Wien u.a. 2010, S. 72, 74f. 142 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 143 Beuger, »Grundsätzliche Entscheidungen«, S. 8. 144 Siehe Anhang: Komponistengespräche.
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Ereignishaftigkeit.145 Badiou wird für Beuger aber auch deshalb wichtig, weil er mit seiner These der ontologischen Entscheidung eine Denkfigur entwickelt, die es Beuger erlaubt, sein eigenes Verhältnis als Komponist zum Ereignis zu definieren.146 Beuger vollzieht diese Denkbewegung vor dem Hintergrund der fortgesetzten Auseinandersetzung mit Cage. Sein Credo »Aber es gibt doch auch das, was es nicht mehr gibt. Es gibt die Erfahrung, hinter die man nicht mehr zurück kann […]«147 spricht dem Ereignis die Qualität von Unverrück- und Unverfügbarkeit zu.148 Die Schlussfolgerung »und das ist der Stoff, aus dem vielleicht Musik gemacht wird«149 drückt seine Intention aus, die Erfahrung von Ereignissen durch Musik zu ermöglichen. Dafür setzt er vor die unendliche Differenz dessen, was ist, ein gleichbleibendes Raster, um »eine größtmögliche Subtilität dessen zu ermöglichen, was nicht gleich bleibt.«150 Menschliche Wahrnehmung bedarf der Raster. Wenn der Gegenstand der Betrachtung grenzenlos different gedacht wird, gelingt Erkenntnis nur durch das Setzen von Grenzen. »Und wie bei einem Mikroskop entsteht durch die Vergrößerung nicht Nichts, sondern eine neue Unendlichkeit.«151 Musik wird so zum Experiment, die Komposition zur Versuchsanordnung.152 Beuger kennzeichnet diese produktionsästhetische Haltung als eine historisch notwendige. In der Musik, die sich als Musik nach dem Ereignis 4'33' versteht, ist nicht der Klang, sondern der Schnitt selbst der Gegenstand der kompositorischen Tätigkeit. Komponiert wird das Verfahren, mit welchem aus der unendlichen Mannigfaltigkeit aller Klänge ein neuer Ausschnitt, eine neue Wahrnehmungsmöglichkeit gewonnen wird. Komponieren ist das Entwerfen eines Schnittverfahrens. Der Kom-
145 Melia, Stille Musik, S. 487. 146 In Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005, S. 173ff. arbeitet Alain Badiou heraus, wie in der Neuzeit – zunächst parallel zur Vorstellung eines unendlichen Gottes und später diese Vorstellung ablösend – die Vorstellung von der unendlichen Natur entwickelt wird, und zwar als Folge der Entdeckung der Unendlichkeit der Zahl. Badiou argumentiert, dass dies eine geistesgeschichtliche Entscheidung war, genauso, wie man im Mittelalter entschied, die Vorstellung von der Endlichkeit des Menschen versus die der Unendlichkeit Gottes aufrechterhalten zu wollen. Das von der Mathematik und den Naturwissenschaften im 16./17. Jahrhundert hervorgebrachte neue Denken führte dazu, Unendlichkeit nicht mehr mit (göttlicher) Einheit, sondern mit natürlicher Vielheit zusammenzudenken. Metaphysisches wie kritisches Denken stellen nach Badiou also eine ontologische Entscheidung dar. 147 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 148 Beuger bezieht sich hierbei auf Judith Butler und Athēna Athanasiou: Dispossession: the performative in the political: conversations with Athēna Athanasiou, Cambridge u.a. 2013. 149 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Siehe Rheinberger, Natur und Kultur.
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ponist entscheidet, wie geschnitten wird, die Musik ergibt sich aus diesem Verfahren.153 Wie bereits erörtert, sorgt das Hineinschneiden von Stille-Dauern in eine Komposition für eine Entgrenzung durch kontingente Dauern.154 Autorschaft bedeutet in diesem Sinne erstens, Klang und Stille in ein solches Verhältnis zu setzen, dass eine größtmögliche Subtilität des Klingenden wahrgenommen werden kann, und zweitens, Dauern so zu setzen, dass innerhalb ihrer die grenzenlose Differenz des Hörbaren bewusst werden kann. Beuger ist illusionslos, wenn es um die menschlichen Möglichkeiten geht, in diese unendliche Differenz vorzudringen. Man würde ja denken, irgendwann hört das auf, aber es ist nicht so. Es ist immer wieder eine neue Unendlichkeit von Differenzen. Dieser Unendlichkeit kann man sich problemlos überlassen. Da kannst du nicht mithalten. Da gibt es eigentlich nur Verwunderung und Vertrauen […]. Es ist letztlich eine Überheblichkeit, wenn wir uns über diese unendliche Differenzierung stellen und sagen, wir machen mal und gestalten das, und wenn wir nicht merken, dass wir bei allem Machen kaputtmachen.155 Beugers reflektierter Begriff von Autorschaft bewegt sich also zwischen Machen und Geschehenlassen. Welche Verfahren er im Einzelnen anwendet und welche Formen er verwendet, soll eine Werkanalyse veranschaulichen.
2.5.3. Der Praxisraum: Formanalyse calme étendue (1996) Irgendwann hatte ich die Idee für ein Stück, das 9 Stunden gehen soll […]. Ich war aufgeregt und fragte mich, wie das gehen soll. Ich dachte, es ist länger als ein Arbeitstag, aber noch kein Hochleistungssport. Es war ein Solostück für Radu Malfatti, der damals noch Kettenraucher war. […] Es war klar, dass es lange Pausen geben müsste für ihn. Ich musste biologische Grenzen berücksichtigen. Ich habe ein Zufallsverfahren entwickelt, das das Stück in klingende und nicht-klingende Teile geteilt hat. Für so ein Stück muss man auch soziale Rhythmen bedenken. Wann soll es anfangen? Sollen die Leute sitzen? Nein, sie sollen sich bewegen können. Man führt das nicht im Winter auf […]. Am Anfang und am Ende sind alle da, weil sie wissen wollen, wie es anfängt, wie es ist und aufhört. Zwischendurch gehen
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Beuger, »Grundsätzliche Entscheidungen«, S. 9. »Stille wird gemacht und ihre einzige Eigenschaft ist mit Cage die Dauer. Wenn es um Entgrenzung geht, geht es immer um die Entgrenzung von Dauerverhältnissen.« Siehe Anhang: Komponistengespräche. Siehe Anhang: Komponistengespräche.
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Leute raus und rein. Man muss das zeitlich klug legen […]. Man muss es an ihren Biorhythmus anpassen und an soziale Rhythmen.156 Für die Werkserie calme étendue157 (seit 1996) gilt eine Textpartitur, die für jede Instrumentalversion eine Liste mit 482 Zeitpunkten zwischen 0:00:24 und 8:59:52 und ein Buch mit Klängen umfasst. Die Partitur zeichnet sich durch eine Reihe kompositionstechnischer Unbestimmtheiten aus.158 Sie erklärt die Herstellung einer Fassung zur Angelegenheit des Aufführenden, der eigenständig die Dauer und die Zeitstruktur der Aufführung festlegen muss. Die Zeitstruktur soll mittels eines Zufallsverfahrens ermittelt werden. Des Weiteren ist festgelegt, dass im Stück eine klingende Phase immer von einer stillen Phase abgelöst werden soll. Für die klingenden Phasen steht dem Spieler das jeweilige »Buch der Klänge« zur Verfügung. Es enthält äquidistant angeordnete Notenköpfe159 mit dynamischen Zeichen von ppp bis f, aus denen er selbstbestimmt Abschnitte auswählen kann, jedoch soll es innerhalb eines Stücks keine Wiederholung geben. Es gilt die Festlegung, dass jeder Klang drei Sekunden gespielt werden und auf jeden Klang eine Pause von fünf Sekunden folgen soll.160 Das »Buch der Klänge«, das entsprechend dem Instrument bestimmte Töne vorgibt, ist ein Resultat von Beugers intensiver Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des jeweiligen Instruments, vor allem aber mit der Situation des Aufführenden. Meine Aufgabe beim Komponieren von Fassungen für verschiedene Instrumente war dann, eine Aktivität für das Instrument zu finden, zum Beispiel für das Cello, die etwas über das Cellospiel an sich sagt. Mit anderen Worten, eine Aktivität, die einen Cellisten viele Stunden lang wirklich ausfüllen und befriedigen kann. 156 157
Ebd. Die Kompositionsserie besteht bislang aus siebzehn Instrumentalfassungen. Werkanalytisch wird hier die Ausführung calme étendue (oboe), Haan (edition wandelweiser ew01.044b) 1996 diskutiert. Siehe Anhang: Partiturauszüge. 158 Erdmann, Untersuchungen, S. 50/51 und 65/66, unterscheidet in Bezug auf Cage zwischen kompositionstechnischer und aufführungspraktischer Unbestimmtheit: Kompositionstechnische Unbestimmtheit entsteht »durch einen Umschlag von Quantität in Qualität aus der aufführungspraktischen Unbestimmtheit«. Sie unterliegt zwei Kriterien: 1. Die zu erzeugenden Klänge sind wenig oder gar nicht bestimmt. 2. »Die zeitliche Abfolge der Klänge ist nicht geregelt.« (S. 65). 159 Im Fall der Partitur zu calme étendue (percussion), Haan (edition wandelweiser ew.01.044i) 1996 besteht das »Buch der Klänge« aus Grafiken, die die Anschlagsorte der zu spielenden Klänge auf einem Holzbrett festlegen. 160 Erdmann spricht in Bezug auf Cage von musikalischen Aggregaten. Diese sind »in sich abgeschlossen und unveränderbar […]. Sie können also nicht wie Motive ›verarbeitet‹ werden, wie es in motivisch-thematischer Musik geschieht, sondern bewahren ihre Identität von Anfang bis Ende eines Stückes«. Erdmann, Untersuchungen, S. 4. Die im jeweiligen »Buch der Klänge« von Beuger notierten Klänge besitzen einen solchen aggregathaften Charakter.
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Gewöhnlich traf ich mich mit dem Spieler und schaute ihm einfach beim Spielen seines Instruments zu. Dabei nahm ich wahr, was vor sich ging, schlug manchmal etwas vor, probierte etwas aus, bis wir diese eine Aktivität gefunden hatten, die sich als höchst erhellend und befriedigend herausstellte. […] Die Aktivität war der Brennpunkt, der Klang, den die Aktivität hervorbrachte, ihr natürliches Ergebnis […].161 Beugers reflektierte Autorschaft zeigt sich an der genauen Festlegung der kompositionstechnisch unbestimmten Zeitstruktur. Die Textpartitur von calme étendue besagt, dass der Interpret je nach Veranstaltungsbedingungen festlegt, wie lang zwischen minimal 45 Minuten und maximal neun Stunden die Aufführung dauern soll. Von einem Blatt mit Zeitpunkten sollen mindestens zwei und höchstens 25 Punkte ausgewählt werden. Die Aufführungen können daher in ihren Längen stark variieren und sich an die Veranstaltungsbedingungen anpassen. Das heißt, unterschiedliche Rhythmen des Aufführungsorts, des Interpreten und des Publikums können berücksichtigt werden. Besonders verpflichtet sieht sich Beuger dem Interpreten. Dessen biologische und aufführungspraktische Notwendigkeiten werden in der Textpartitur mitgedacht. Die Wechsel zwischen klingenden und stillen Phasen sind in calme étendue gleichmäßig, die Phasendauern ungleichmäßig. Die zu spielenden Töne sind rhythmisch gleichförmig aber dynamisch divers komponiert. Die Tondauern (3’) und Pausendauern (5’) sind festgelegt und eine Konsequenz von Beugers Auseinandersetzung mit den verschiedenen Biorhythmen einer Aufführung. Interessanterweise enthält die Textpartitur explizite Aussagen zu den Qualitäten von Stille im Stück: während der stillen phasen macht der ausführende nichts stille ist die zeit des wartens, des vergessens, des werdens: die dinge ändern sich unmerklich. stille ist die zeit des hörens: zeit ohne einflussnahme, ohne kontrolle; zeit der verfügbarkeit; zeit, in der sich ereignisse ereignen können162 Die ausdrückliche Anweisung an den Aufführenden, in den stillen Phasen nichts zu tun, versetzt diesen, ebenso wie das Publikum, in die Situation reinen Zuhörens. Gleichzeitig erhält der Interpret durch seine Anwesenheit auch in den Phasen des »Nichtstuns« die Werkspannung aufrecht. Solang er da ist, dauert das Stück. Die Präsenz des Interpreten verändert auch die Wahrnehmung der stillen Phasen, die immer einem Klang folgen. In der Denkweise Beugers, der Klang als Metapher
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Saunders, Zeit ist niemandes Eigentum, S. 47/48. Textpartitur calme étendue (oboe), Siehe Anhang : Partiturauszüge.
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eines Ereignisses und Stille als Verschwinden beziehungsweise Gedenken dieses Ereignis versteht, geschieht in den stillen Phasen zugleich »warten«, »vergessen« und »werden«, das heißt Vergessen des Klangs, Warten auf einen neuen Klang und Werden dieses neuen Klangs beziehungsweise Ereignisses. Doch dieser Klang soll nicht während des Wartens gedanklich vorbereitet werden, denn »stille ist die zeit des hörens« und »zeit ohne einflussnahme«. Gerade während man sich der kontingenten Situation aussetzt, kann es passieren, dass sich etwas ereignet. In der Textpartitur besetzt Beuger den Begriff der Kontingenz eindeutig positiv. Die stillen Phasen stellen den Interpreten, auch wenn er sie zeitlich selbst vorher festlegt, bei ihrem Eintreffen vor Dauern der Unverfügbarkeit, denn er kann währenddessen kein Material entwickeln oder interpretieren. Alle Anwesenden sind auf das Hören zurückgeworfen und alles Klingende wird Teil des Stücks. Die Gesamtdauer mag im Programmheft verzeichnet sein, doch die Dauern der gewählten Phasen sind dem Publikum oft unbekannt und führen zu ungewissen Längen von Stille und Klang. Innerhalb der Gesamtdauer des Werks wird, abgesehen vom regelmäßigen Phasenwechsel, keine weitere Strukturierung vorgenommen. Im Fall einer neunstündigen Aufführung kann diese für Zuhörer überzeitlich wirken. Doch Beuger betont: »Eine überzeitliche Gesamtdauer besagt noch nichts. Die Gesamtdauer ist relativ, aber das Verhältnis des Klingenden zum Stillen ist entscheidend.«163 Alle Aussagen über Beugers Ästhetik müssen aus seinem Verständnis des Verhältnisses von Stille und Klang gewonnen werden. Wenn hier erörtert werden soll, ob dieses Verhältnis in calme étendue zu spezifischen Entgrenzungen im Sinne der Überzeitlichkeit führt, geht es also nicht um eine überzeitliche Gesamtdauer, die das Werk in Richtung der Konzeptkunst verschiebt,164 sondern um den kompositorischen Zusammenhang von Stille, Kontingenz, Form und Entgrenzung. Darüber kann zusammenfassend Folgendes gesagt werden: In calme étendue sorgen kompositionstechnische Unbestimmtheiten für spezifische Spannungsverhältnisse. Die klingenden stillen Phasen bilden gemeinsam mit den Klangphasen eine Gesamtform, die sich intern bei jeder Aufführung neu durch ein Zufallsverfahren austariert. Die in der Textpartitur gegebene Anweisung, der Aufführende habe über die Dauern von Klang- und stillen Phasen zu entscheiden, hat zwei Aspekte; sie sorgt gleichermaßen für die Grenzen und eine spezifische Entgrenzung innerhalb des Werks. Letztere soll hier »Zerdehnung« genannt werden. Damit ist eine übermäßige Dehnung der ästhetischen Dauer einer Auffüh-
163 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 164 Straebel diskutiert calme étendue aufgrund seiner potenziell übermäßigen Länge als Akt reiner Imagination, da es bei einer Gesamtdauer von neun Stunden nicht als Gesamtwerk wahrgenommen werden könne. Siehe Volker Straebel: »Aspects of conceptual composition«, in: The Open Space Magazine 10 (2008), S. 69-78 (S. 70–71).
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rung innerhalb der stillen Phasen gemeint, durch die der ästhetische Status der Aufführung selbst prekär wird. Dies geschieht formal durch die Kongruenz von Stille und zeitlicher Kontinuität. Stille klingt kontinuierlich, Kontinuität ist jedoch nicht immer still. Der ästhetische Status der klingenden Stille muss also aufführungspraktisch behauptet werden. Die der Textpartitur beiliegende Liste mit Zeitpunkten ist die Grundlage für die gewählten Dauergrenzen; die Kontingenz der stillen Phasen hingegen sorgt für die innermusikalischen Zerdehnungen. In diesen stillen Phasen geschieht Materialentwicklung in dem Sinne, dass der Aufführende wie die Hörenden ihre Beziehung zur vergehenden Zeit und allem in ihr Klingenden als ästhetischen Gegenstand entwickeln. Das Verhältnis von Gesamtform und aufführungsinterner Gewichtung der Phasen ist ein prekäres Gleichgewicht, da es durch die Wahl bestimmter Zeitpunkte zu extremen Stille-Dauern innerhalb einer Aufführung kommen kann.
2.5.4. Zum Verhältnis von Denk- und Praxisraum in calme étendue Wie verhält sich nun das Werk beziehungsweise seine Aufführung zu Beugers »Grundsätzlichen Entscheidungen«? Bilden sich seine philosophischen Überzeugungen und Termini in seiner Material- und Produktionsästhetik ab? Dies soll anhand der Schwerpunktsetzungen, die für den Denkraum gesetzt wurden, überprüft werden. Wie gezeigt werden konnte, entspricht Beugers Definition von Materie der in der Zeitphilosophie etablierten Definition von Kontinuität. Seine Weigerung, Zeit als Material von Musik zu betrachten, hindert ihn nicht daran, in der Textpartitur von calme étendue Zeitpunkte festzulegen, aus denen die Dauern innerhalb des Werks entstehen. Die Weigerung verweist aber auf seine Intention, die Beziehung zur Zeit zum Thema des Komponierens zu machen. Beuger versucht dies zum einen durch das Setzen kontingenter Dauern zu erreichen. Sie repräsentieren die von ihm angestrebte Position zwischen Machen und Geschehenlassen. Zum anderen weist er den Aufführenden an, die Dauern mittels eines Zufallsverfahrens zu ermitteln. So baut er in die Beziehung des Aufführenden zur Zeit eine Art kontrollierte Kontingenz ein. Mittels einer erdachten Technik (Zufallsverfahren) setzt der Aufführende sich und das Publikum dem Geschehenlassen aus. Beugers gedankliche Entwicklung vom koexistenten Setzen von Stille und Klang hin zu dialogfähigen Stillen lässt sich anhand seiner Textpartituren nachweisen. Diese Entwicklung produktionsästhetisch zu zeigen, ist schwierig. Sie berührt seine Auseinandersetzung mit der Qualität des Ereignisses.165 Sein 165
»Mir geht es um eine Musik des Ereignisses. Aber dann dachte ich: Was soll denn das Ereignis sein? Alles, was du dir da einfallen lässt, ist blöd. Das ist alles geplant und entzieht sich damit dem Ereignischarakter, denn das Ereignis kommt unvorhersehbar und es ist unverfüg-
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kompositorischer Umgang mit Zeit soll keine Ereignisse erschaffen, sondern Ereignishaftigkeit – »zeit, in der sich ereignisse ereignen können«166 – ermöglichen. Klang und Stille erfüllen offensichtlich zwei unterschiedliche Funktionen, sich diesem Ziel zu nähern. Klang gleicht dem Ereignis strukturell im Sinne seines Kommens und Gehens und dient Beuger daher als Metapher für Ereignis. Stille besitzt strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem Entschwinden; ihr plötzliches Eintreten dient ihm als Metapher für Verlust.167 Abgesehen von dieser terminologischen Selbstverortung Beugers, die sich in Texten, aber auch in Textpartituren zeigt, begegnen sich Klang und Stille in seinen Kompositionen relativ unvermittelt. Silent understanding (1991) ist vollkommen durchkomponiert, die Einsätze, Längen und Tempi aller Klänge und Stillen sind definiert, und der Aufführende wird nicht aufgefordert, diese Ordnung durch ein Zufallsverfahren zu durchbrechen. Die Stillen besitzen daher auch nicht das Potenzial der werkinternen Zerdehnung. In silences (für Mundharmonika) (1992) sind stille Abschnitte als Fermaten gekennzeichnet, deren genaue Länge notiert ist. Dies verweist geradezu auf einen dienenden Charakter der Stillen gegenüber den gespielten Klängen, denn Fermaten zeigen üblicherweise das Halten des Klingenden an. Einzig, dass das Stück mit einer solchen Fermate beginnt, gesteht der klingenden Stille einen gewissen Grad an Autonomie zu. Das Verhältnis von Klängen und Stillen ist zeitlich festgelegt. Auch in silences (für Mundharmonika) besitzen die komponierten Stillen daher nicht das Potenzial, das Werk zu zerdehnen. In calme étendue (1996) tritt das neue Element des Zufallsverfahrens für die Bestimmung der Phasenlängen hinzu. Die Liste mit Zeitpunkten, die Teil der Textpartitur ist, macht nun möglich, dass es zu werkinterner Zerdehnung kommt. Die Länge der gespielten Klänge ist gleichförmig. Die Aufführung lenkt die Aufmerksamkeit daher auch nicht auf die in den klingenden Phasen gespielten Töne, sondern auf die Brüche, die beim Einsetzen der Stille eintreten beziehungsweise auf die ungewisse Länge dieser Stillen. Dieser Bruch ist das Ereignis, auf das Beuger hinaus will. Der Bruch wird aber nur insofern komponiert, als dass die Längen der Phasen, die ihn hervorbringen, vor der Aufführung bestimmt werden. Hierin drückt sich Beugers Vertrauen in die Eigendynamik der Stille aus: »Die Dinge bar. Und das einzige Ereignis, auf das ich keinen Zugriff habe, ist dieses Verschwinden. Noch nicht mal, wann der Ton verschwunden ist, kannst du sagen. Das Verschwinden hat mit dem Ereignis strukturelle Gemeinsamkeiten. Es weist metaphorisch auf das Ereignis hin. Mehr kannst du nicht machen, ansonsten versündigst du dich an diesen leeren Händen. Das Unverfügbare und nicht Definierbare des Ereignisses hindert dich daran, es zu gestalten.« Siehe Anhang: Komponistengespräche. Siehe hierzu auch Sanio, Ist eine Musik des Ereignisses möglich? S. 38-40. 166 Textpartitur calme étendue (oboe), Siehe Anhang: Partiturauszüge. 167 Siehe Anhang: Komponistengespräche.
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ändern sich unmerklich.«168 Beuger löst damit produktionsästhetisch ein, was er über sein Komponieren sagt: Das Ereignis selbst kann er nicht komponieren, wohl aber sein Erscheinen ermöglichen.
2.5.5. Zusammenfassung: Das Komponieren eines prekären Gleichgewichts von Stille und Klang als Kompositionsform bei Antoine Beuger Beugers Kompositionsverständnis kann als grundsätzlich dialog- und beziehungsorientiert verstanden werden. Dies betrifft seine Haltung gegenüber dem musikalischen Material, dem Interpreten sowie dem Publikum. Wie sich gezeigt hat, geht es Beuger um das Ermöglichen von Ereignissen durch Musik, nachdem durch Cages Komposition 4’33’ der Musikbegriff radikal erweitert worden ist. Dafür muss er sein eigenes Verhältnis, aber auch das der Aufführenden seiner Werke zur Zeit genau reflektieren. Ein Resultat dieser langjährigen Reflexion ist das Komponieren einer Werkform, für die beispielhaft die Komposition calme étendue steht. In ihr sind musikalische Formen und Verfahren so definiert, dass ein spezifisches Verhältnis von Bestimmtheit, Unbestimmtheit und Kontingenz bei der Aufführung entsteht. Zum Material wird in dieser Werkform die Beziehung zur Zeit selbst. Material meint in diesem Sinne Gegenstand der Auseinandersetzung. Eine Beziehung zur Zeit aufzunehmen, impliziert das Setzen von Dauern. Es drückt sich verfahrenstechnisch in einer bestimmten Schnittpraxis aus, die Aufmerksamkeitsraster schafft. Diese sollen eine spezifische Erfahrung ermöglichen, nämlich die des direkten Aufeinandertreffens von Endlichkeit und Überzeitlichkeit in der konkreten Aufführungsund Hörsituation. Sowohl Endlichkeit im Sinne gesetzter Dauern als auch Überzeitlichkeit im Sinne zeitlicher Kontinuität zeichnen sich durch ein permanentes Werden aus. Diese übereinstimmende Qualität macht es möglich, kompositionstechnisch mit ihnen zu arbeiten. Dialogfähige Stillen zu komponieren, bedeutet, eine Beziehung wahrnehmbar zu machen: die Beziehung zwischen endlichem und überzeitlichem Werden. Beugers Schnittpraxis ist Ausdruck dialogischer Grundannahmen: Die Stille besitzt kontingente Klangqualitäten und steht in einem Spannungsverhältnis zum Klang. Innerhalb gesetzter Stille-Dauern kann der Hörende eine Beziehung zu einer unendlichen Differenzialität des nicht komponierten Klingens in sich und um sich erfahren. Die Ermöglichung der Erfahrung der Beziehung zwischen Endlichkeit – den gesetzten Dauern – und Unendlichkeit – der unendlichen Differenzialität des Hörbaren in den Stille-Dauern – innerhalb eines Werks ist ein klassischer Topos von Erhabenheit. Das produktionsästhetische Material, also der Gegenstand der Auseinandersetzung in den Stille-Dauern, ist die Beziehung der Hörenden, also auch der Aufführenden, zur Kontingenz. Die Materialentwicklung geschieht also, indem alle Hörenden ihr Verhältnis zu stillen Dauern 168 Textpartitur calme étendue (oboe), Siehe Anhang : Partiturauszüge.
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entwickeln. Beuger hat Vertrauen in die Kontinuität der Zeit als ewig und unendlich differenziert Klingende. Deshalb und aufgrund seines positiven Verhältnisses zur Kontingenz kann er sich, seine Werke und deren Interpreten beliebigen Stille-Dauern aussetzen. Seine Kompositionen sind ein Aufmerksamkeitsraster, definiert durch die Dauern komponierter Klänge und stiller Phasen. In den stillen Phasen steht der ästhetische Status der Aufführung durch Zerdehnung auf dem Spiel. Doch die Präsenz des Aufführenden sorgt dafür, dass das Werk produktionsästhetisch zusammengehalten wird. Ob jedoch die angestrebte Materialentwicklung im Sinne der Entwicklung einer Beziehungsgestaltung zur Zeit gelingt, muss offen bleiben. Sie ist bei jeder Aufführung die eigentliche Herausforderung an den Aufführenden wie an das Publikum. Deshalb soll Beugers Kompositionsform hier als prekäres Gleichgewicht charakterisiert werden. Die Aufführung gelingt in diesem Sinne nur, wenn sie zwischenzeitlich durch Zerdehnung außer Kraft gesetzt wurde und die Autorschaft auf alle Beteiligten übergegangen ist. Dann kann es im Beuger’schen Sinne zu einem Ereignis kommen und sich die Materialentwicklung von der Interpretation komponierter Klänge auf die autonome Beziehungsgestaltung zur Zeit verschieben.
2.6. Marcus Kaiser: Lebenszeitkunst als überzeitlicher Kompositionsansatz Der Komponist Marcus Kaiser wurde 1967 in Tübingen geboren. Er studierte an der Kunstakademie Düsseldorf und an der Robert-Schumann-Musikhochschule Düsseldorf (Violoncello). Seit 1998 veröffentlicht er seine Werke in der edition wandelweiser und gehört dem Wandelweiser Komponisten Ensemble an. In Kaisers Kompositionspraxis entsteht ein vielschichtiges Gesamtwerk aus musikalischen und visuellen Einzelkompositionen, die von ihm in teils wiederkehrenden Serien, teils neuen Werkkombinationen miteinander verflochten werden. Kaiser hat sich in Texten explizit zu ästhetischen Gesichtspunkten seiner Kompositionspraxis geäußert.169 Daraus lassen sich zwei Aspekte hervorheben: die Beschäftigung mit dem Thema Zeit und die Übertragung ökologischer Fragestellungen auf die Material- und Produktionsästhetik seiner Werke.
169 Marcus Kaiser: wenn ich etwas zu meiner kunst sagen sollte…, URL: https://www.opernfraktal.d e/text-presse.html [Abruf: 02.10.2019].
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2.6.1. Der Denkraum wenn ich etwas zu meiner kunst sagen sollte am liebsten wäre sie mir als garten manches in den schatten manches in die sonne rückend aus meiner verfügbarkeit entwachsend angewiesen auf das darüber hinausliegende in einem garten kann man sich frei bewegen darin herumtoben zerstören sich lieben altes laub zusammenfegen ein garten ist lange zeit170 Kaiser legt seinem Komponieren die Analogie des Gartens nahe. Ein Garten präsentiert sich zunächst als räumliche Logik. Erst, wenn man die Eigenlogik der darin enthaltenen lebenden Elemente bedenkt, fällt die konstitutive Rolle der Zeit auf. Kaiser entlehnt Terminologien und Modelle aus der Biologie, um seine Kompositionspraxis als ökologische Praxis zu beschreiben.171 Er denkt, wie es das Anlegen eines Gartens erfordert, Lebenszeit und Lebensraum zusammen, um unterschiedliche künstlerische Wachstumsprozesse miteinander zu verflechten. Leben und Komponieren werden von ihm nicht getrennt. Folgerichtig benutzt er sowohl für seine Lebenszeit als auch für die Dauer seines Gesamtwerks opernfraktal den der Biologie entlehnten Begriff Biom und übersetzt ihn mit »Großlebensraum«.172 Im Biom verzahnen sich für ihn Leben und Komponieren. Sein künstlerisches Schaffen soll daher hier der Lebenszeitkunst zugeordnet werden. Kaiser steht einem Denken nahe, wie es Gernot Böhme in seiner ökologischen Naturästhetik173 ausführt. Die ökologische Naturästhetik begegnet Ende des 20. Jahrhunderts der sogenannten Umweltkrise nicht mit einem »Zurück zur Natur« oder zum Naturschönen, sondern interpretiert das in den 1980er-Jahren
170 Ebd. 171 Darunter soll hier zunächst eine Verflechtung von Ideen verstanden werden, die teils aus der klassischen Ökologie als einer Subdisziplin der Biologie, teils aus der Soziologie stammen. 172 Siehe Anhang: Komponistengespräche. Im streng biologischen Sinne bezeichnet der Begriff Biom die »Lebensgemeinschaft aller Organismen einer Klimazone. Biome werden nach den jeweils vorherrschenden Pflanzenformationen benannt.« Siehe Ulrich Lüttge und Manfred Kluge: Botanik: die einführende Biologie der Pflanzen, Weinheim 2012, S. 464. Für die Karriere des Biom-Begriffs gilt das Gleiche wie für den des Anthropozäns. 173 Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik.
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augenfällige Umweltproblem als ein »Leiden an der Natur, insofern nämlich der Mensch beginnt, das, was er der Natur antat, am eigenen Leibe zu spüren«. Kunst, die Natur darstellt, wird vor diesem Hintergrund »zum sich selbst versichernden Zeigen«.174 Natur besitzt, so gedacht, ein Doppelwesen: Sie ist immer sozial konstituiert175 und gleichzeitig als Naturschönes im Adorno’schen Sinne »die Spur des Nichtidentischen an den Dingen«.176 Der ökologischen Naturästhetik geht es darum, den in einer Kant’schen Tradition gewachsenen, subjekt- und rezeptionszentrierten Begriff der Ästhetik ökologisch neu zu definieren. Eine Umwelt gibt es demgemäß nur als Mesokosmos – als Kosmos, der den Menschen umgibt und gleichzeitig eine Schnittstelle sowohl zum mit bloßem Auge nicht erfassbaren Mikrokosmos als auch zum Makrokosmos der globalen Zusammenhänge bildet. Dieser Mesokosmos verkörpert Wesenhaftes aller drei Sphären. Dem aufmerksamen Betrachter begegnen hier, also in der Umwelt, all jene ökologischen Sachverhalte und Probleme, die sich ebenso in ihm selbst wie in weltweit kaum überschaubaren Zusammenhängen wiederfinden. Wie mit einem Zoom kann er, je nach Erkenntnisinteresse, zwischen den Sphären Mikro, Meso und Makro wechseln. Dabei bleibt immer der Beziehungscharakter zwischen Mensch und Natur – auch gegenüber seiner eigenen humanen Natur – erhalten, denn Ökologie ist grundsätzlich ein Beziehungsbegriff. Die ökologische Naturästhetik verschiebt die rezeptionslastige Gewichtung der ästhetischen Beziehung hin zur Materialund Produktionsästhetik. Naturökologisch gedacht, entsteht Kunst gewissermaßen nicht nur im Auge des Betrachters,177 sondern offenbart an Gegenständen Qualitäten, die je für schön, erhaben etc. gehalten werden können. Ökologische Naturästhetik ist eine Ästhetik der wiedergefundenen Beziehung zum Gegebenen des Materials. Marcus Kaisers der ökologischen Naturästhetik naher Kompositionsansatz lässt sich an seinen musikalischen Verfahren und an ganz konkreten material- und produktionsästhetischen Entscheidungen ablesen. Seine zentrale Idee ist die des
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Ebd., S. 24. Ebd., S. 12. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1970, S. 114. Die Schnittstelle zwischen Böhmes ökologischer Naturästhetik und Adornos Idee des Naturschönen besteht in der Aufrechterhaltung eines äußeren Objekts der ästhetischen Erfahrung, und zwar eines Objekts, das sich der vollkommenen Verdinglichung entzieht, denn Objekt und begriffliches Ding stimmen nie ganz überein. Im Streben nach Versöhnung mit der Natur entwickelt der Mensch die Idee des Naturschönen. Doch das Objekt, die Natur, behält ihre Andersheit, und das Naturschöne bleibt unbestimmbar. Ebd. Diese Auffassung manifestierte sich mit Marcel Duchamps ersten ready-mades 1913/14.
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Fließgleichgewichts.178 Diese soll hier zunächst anhand des von ihm entwickelten Begriffs der Chronotektur erläutert werden.
Chronotektur als musikalische Diversität Kaisers besonderes Interesse gilt der natürlichen Diversität179 und ihrer Regenerationskräfte: »Das finde ich besonders spannend: Wie erhält Natur Diversität aufrecht? Deshalb ist für mich die Musik – Dauer – so wichtig, denn das ist ja nur fassbar, wenn man zeitlich denkt.«180 Musik exemplifiziert nach Kaisers Verständnis zeitliche Prozesse, deshalb kann kompositorisch in ihr auch Diversität abgebildet werden. Diese Grundannahme verdeutlicht, dass Kaiser Musik in Analogie zu natürlichen Prozessen denkt. Er plädiert dafür, das in Einzeldisziplinen zerfallene wissenschaftliche Denken durch Integration des Parameters Zeit einer ökologischen Gesamtschau zu unterziehen und Ökologie als eine Gesamtbewegung von Mensch und Umwelt zu verstehen.181 Seine Einzelkompositionen, insbesondere jedoch sein Gesamtwerk, betrachtet er als die Übersetzung ökologischer Prinzipien in Zeitkunst. Als Modell hierfür dient ihm der Garten beziehungsweise das vegetative Wachstumsmodell.182 Im besten Fall entstehen dabei musikalische Lebensräume, die Diversität zulassen. Bezogen auf den Akteur Zeit bedeutet dies das kompositorische Ermöglichen einer sogenannten Chronotektur.183 Damit meint Kaiser das Verwobensein diverser zeitlicher Prozesse in einem musikalisch-lebensweltlichen Gesamtsystem. Exemplarisch dafür steht sein Werk opernfraktal.
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Der Begriff des Fließgleichgewichts geht auf den österreichischen Biologen Karl Ludwig von Bertalanffy zurück. Siehe Ludwig von Bertalanffy, Walter Beier und Reinhard Laue: Biophysik des Fließgleichgewichts, Berlin 1977. Der Begriff fand synonym als »dynamisches Gleichgewicht« Eingang in die Ökonomie, Soziologie und verwandte Disziplinen. Er bezeichnet grundsätzlich den konstanten Zu- und Abfluss von Elementen eines Systems. Zu Kaisers Bezug darauf siehe die Textpartitur an einem ort – an einem anderen ort, Haan (edition wandelweiser ew15.007) 2000, Anhang: Partiturauszüge. 179 Analog zum Begriff der Ökologie hat auch der Diversitätsbegriff Ausdifferenzierungen in den Natur- und Kulturwissenschaften erfahren, wie beispielsweise »kulturelle Vielfalt« und »Biodiversität«. Kirchhof und Trepl verweisen darauf, dass dahinter unterschiedliche Weltbilder stehen. Siehe Thomas Kirchhof und Ludwig Trepl: »Vom Wert der Biodiversität: Über konkurrierende politische Theorien in der Diskussion um Biodiversität«, in: Zeitschrift für Angewandte Umweltforschung, hg. von Harald Spehl und Martin Held, Sonderheft 13: Vom Wert der Vielfalt, Berlin 2001, S. 27-44. 180 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 181 Ebd. 182 Vegetatives Wachstum bezeichnet in der Biologie den für Pflanzen lebenserhaltenden Aufbau von Biomasse außerhalb der Fortpflanzungszeiten. 183 Das Kompositum Chronotektur setzt sich aus Chronos und Tektonik zusammen.
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Kaiser begreift seine eigene Lebensspanne wie die seiner Werke als Räume des Zulassens größtmöglicher Mannigfaltigkeit.184 Die von ihm angestrebte Chronotektur sucht er kompositorisch durch das Ingangsetzen von musikalischen Prozessen zu initiieren, in denen diverse biologische, kulturelle und kompositorische Rhythmen und Tempi miteinander agieren. Vegetative Wachstumsprozesse185 treffen auf auskomponierte und unbestimmte Phasen musikalischen und lebensweltlichen Agierens. Die von ihm »Konkretionen« genannten Aufführungen versteht er als Zeitfenster, in denen Aufführende, Partizipierende und Rezipienten die Diversität dieser Verflechtung erfahren können. Aufführungen von opernfraktal passen sich in ihren Dauern jeweils den lokalen Gegebenheiten an. Die Herstellung einer Chronotektur durch opernfraktal impliziert bestimmte produktionsästhetische Verfahren. So werden Einzelkompositionen oder Teile davon bei jeder Aufführung aufgezeichnet und ganz oder als Ausschnitt bei der nächsten Aufführung wieder eingespielt. Dieses Verfahren, das hier »Werkrecycling« genannt werden soll, dient der Herstellung des sogenannten Fließgleichgewichts. Jede Aufführung definiert also einen Zeitausschnitt, in dem die audiovisuellen Mitschnitte der vergangenen Aufführungen durch neues Material überlagert und angereichert werden. Eine Chronotektur im Kaiser’schen Sinne verlangt also das Gewichten von mitgenommenem und neuem Material, das heißt, das Einrichten eines Fließgleichgewichts durch den Komponisten. Kaiser bezieht sich hierbei auf den Regenwald als Modell für asymptotisches Wachstum.186 Das Fließgleichgewicht stellt Kaiser dem exponentiellen Wachstumsmodell gegenüber. Er versteht seine Kompositionspraxis als Kritik an Letzterem.187 Das der Biologie entlehnte Modell des Fließgleichgewichts begreift er als Bewegungsidee für seine Musik: Die Natur hat Modelle, die interessant für die Kunst sind, weil ein Minimalismus auf einen Maximalismus trifft. […] Es gibt eine Ästhetik des Reinen und Weißen und Leeren, die ich ziemlich dekadent finde. Darum ging es aber bei Cage und anderen nie, sondern darum, dass man, auch wenn man keine Klänge produziert, eine unglaubliche Vielfalt von Klängen vorfindet, selbst im schalltoten Raum. Man findet also immer etwas im Regenwald. Es kann ein einfaches Biotop wie in der Wüste sein, aber es ist immer etwas da, und wenn man das in Ruhe lässt, ist es umso vielfältiger. […] Ich glaube, […] und deshalb setze ich auch so viel auf die
184 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 185 In den Aufführungen von opernfraktal spielen Farnpflanzen eine wichtige Rolle. Die Struktur ihrer Blattform verkörpert für Kaiser das fraktale Prinzip. 186 Ein Regenwald, so Kaiser, speichere die gesamte Biomasse in den Pflanzen und Bäumen und nicht im Boden. Im Regenwald existiere der größte Artenreichtum dann, wenn der Mensch nicht eingreift. Siehe Anhang: Komponistengespräche. 187 Ebd.
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Tropen, dass wir über die tropischen Kulturen, die das Recycling vorgeben, auf ganz andere Ideen kommen.188 Kaiser versucht, die Wahrnehmung von und das Mitagieren in zeitlicher Verflechtung durch die Festlegung von kompositorisch bestimmten und unbestimmten Dauern innerhalb einer Aufführung zu unterstützen, und sieht seine wesentliche Aufgabe als Komponist darin, die angestrebte Chronotektur zu realisieren.
Konfigurationsprinzip Fraktal Fraktal,189 das Grundwort seines Werktitels opernfraktal, grenzt Kaiser terminologisch explizit vom Fragment ab.190 Auch diese Unterscheidung ist der Biologie beziehungsweise den Naturwissenschaften entlehnt. Ein Fragment ist ein mehr oder weniger zufälliges Bruchstück eines Ganzen und verweist in seiner offensichtlichen Anfänglich- und Endlichkeit auf die Linearität von Zeit.191 Ein Fraktal hingegen trägt durch die Selbstähnlichkeit seiner Elemente in sich das Strukturprinzip von Unendlichkeit und Komplexität.192 Ein Fraktal kann in alle Richtungen wachsen. Anfang und Ende sind in ihm nicht festgelegt. Es besitzt daher das Potenzial, Strukturelement eines sogenannten Rhizoms zu sein.193 Kaiser benennt das Rhizom als Formvorbild seines künstlerischen Gesamtwerks und verweist auf seine Lektüre von Deleuze und Guattari.194 Interessant daran ist für ihn, dass aus einem Rhizom Elemente herausgeschnitten und immer 188 Ebd. 189 Fraktal ist ein von dem Mathematiker BenoîtMandelbrot 1975 geprägter Begriff (von lateinisch fractus »gebrochen«). Er bezeichnet bestimmte natürliche oder künstliche Gebilde sowie geometrische Muster, die intern einen hohen Grad an Selbstähnlichkeit ihrer Elemente aufweisen. 190 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 191 Beispielhaft hierfür mag ein Torso stehen, der ursprünglich Teil eines Ganzen war und dessen fehlende Teile auf Anfang und Ende der Figur und die an ihm vollbrachte Arbeit verweisen. Selbst intentional geschaffene Torsi tragen, obwohl an ihnen Anfang und Ende bewusst nicht ausgearbeitet wurden, die Linearität der Zeit durch die an ihnen begonnene und beendete Arbeit an sich. 192 Siehe auch den sogenannten Pythagoras-Baum. 193 Ein Rhizom im botanischen Sinne ist ein Sprossachsensystem, das grundsätzlich auf zweierlei Weise wachsen kann; zum einen durch monopodiale Verzweigung, bei der eine durchgehende Achse erhalten bleibt und zyklisch weitertreibt; zum anderen durch sympodiale Verzweigung, bei der die Hauptachse abstirbt und die Seitenachsen austreiben. Letztere ermöglicht ein Wachstum in alle Richtungen. Siehe Lüttge und Kluge, Botanik, S. 323. Zur monopodialen und sympodialen Verzweigung siehe Wilhelm Nultsch: Allgemeine Botanik, Stuttgart 2012, S. 246/47. 194 Siehe Anhang: Komponistengespräche. Siehe auch Gilles Deleuze und Félix Guattari: Rhizom, Berlin 1977.
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wieder neu zusammengesetzt werden können, weil alle Elemente eine eigene Vitalität besitzen, die sie in eine neue Kombination überführen. Außerdem ermöglicht die Rhizomstruktur eine Aufhebung der Linearität von Einzelelementen in ein räumliches Wachstum.
Biotop und Konkretion Biome setzen sich aus kleineren Biotopen zusammen. Kaiser übernimmt diese der Biologie entstammende Kategorisierung insofern, als dass er Einzelkompositionen als Untersysteme seines Gesamtwerks versteht.195 Aufführungen von opernfraktal werden von ihm Konkretionen genannt. Dabei handelt es sich um jeweils orts- und zeitspezifische Installationen, die sich durch eine klar definierte Abfolge von Zeitfenstern auszeichnen. Innerhalb dieser festgelegten Dauern soll die Aufmerksamkeit auf den Ausschnitt eines fortlaufenden musikalischen oder lebensweltlichen Prozesses gelenkt werden.
2.6.2. Rückbindung der biologischen Modelle an das musikalische Organismus-Modell Da Kaisers Terminologie vielfach auf die Biologie zurückgreift, sei hier kurz zusammengefasst, welche biologischen Modelle seinen Denkraum bestimmen und welche musikalischen Verfahren ihnen zugeordnet werden können. Der Begriff der Chronotektur ist ein Kaiser’scher Neologismus, mit dem das strukturelle Miteinander unterschiedlicher Dauern innerhalb einer Aufführung beschrieben wird. Er soll hier als klassische Partitur verstanden werden. Diese Partitur besteht sowohl aus musikalisch und lebensweltlich definierten wie kontingenten Dauern. Daher soll Kaisers Gesamtwerk opernfraktal im musikwissenschaftlichen Sinne als offene Form verstanden werden.196 Konkretion ist eine Kaiser’sche Metapher und bezeichnet eine musikalische Aufführung. Die in opernfraktal erklingenden Einzelkompositionen entsprechen in ihren wechselnden Anordnungen dem biologischen Modell des Fraktals. Das heißt, die erklingenden Dauern werden von Kaiser als rekombinierbare Zeitfenster innerhalb eines zeitlichen Kontinuums konzipiert. Das Fraktal soll deshalb formanalytisch »Konfigurationsprinzip der offenen Form« genannt werden. Akustisches und visu-
195 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 196 Offene Form gilt als Sammelbegriff für Kompositionsverfahren, »in denen bestimmte (einzelne oder alle) Formteile oder Formebenen nicht mehr eindeutig durch den Komponisten determiniert, sondern durch die Interpreten, das Publikum oder den Zufall entschieden werden können«. HSMw Bd. 6, S. 122.
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elles Material aus opernfraktal kann zwischen den Aufführungen weiterentwickelt und bei der nächsten Aufführung neu zusammengesetzt werden.197 Die Rückbindung kompositorischer Verfahren an das biologische Modell des Organischen beziehungsweise des Organismus hat historisch wiederkehrende Konjunkturen in der Kompositionslehre und Musikanalyse erlebt. Immer wieder muss deshalb die Frage gestellt werden, welchen Erklärungswert sie hat. Die hier versuchte Erhellung des Kaiser’schen Begriffsapparats verfolgt einen analytischen Zweck. Folgendes soll geklärt werden: Welche Funktion erfüllt für Kaiser die Rückbindung an biologische Modelle? In welcher Traditionslinie historischer Organismus-Modelle steht sie? Und schließlich: Entstehen durch die Rückbindung Innovationen für die Musikanalyse? Sowohl die Gespräche mit Marcus Kaiser als auch seine programmatischen Werkbeschreibungen bewegen sich permanent zwischen der Erläuterung musikalischer Verfahren und der Suche nach analogen Modellen in der Natur und Biologie. Sein Komponieren findet in genau diesem Zwischenraum statt. Daher soll seine explizite Rückbindung musikalischer Verfahren an biologische Modelle hier als Selbstverständigungsprozess verstanden werden. In diesem Prozess überprüft er sein kompositorisches Handeln fortgesetzt daraufhin, inwiefern es ein strukturelles Miteinander verschiedener Dauern innerhalb eines Werkzusammenhangs erzeugt. Es geht ihm um einen Ideentransfer zwischen Biologie und Musik. Die gewählten biologischen Modelle haben eine Brückenfunktion; sie stellen einen Kontextraum und einen Begriffsapparat zur Verfügung, über den weder die Kompositionstheorie noch die Musikanalyse verfügt. In diesen Raum stellt Kaiser seine kompositorischen Verfahren und überprüft zunächst, ob sie eine Verfahrensanalogie zur Biologie besitzen. Dann überprüft er seine kompositorische Verflechtung der Verfahren daraufhin, ob sie eine Strukturanalogie zur Biologie aufweisen. Dieser Schritt impliziert, sowohl ein musikalisches Werk als auch dessen Aufführung als System oder Organismus zu verstehen. Im dritten Schritt überprüft er, welchem biologischen Wachstumsmodell die Generierung des musikalischen Materials entspricht. Die Sinnhaftigkeit dieser Kontextualisierung ergibt sich aus Kaisers Absicht, Komponieren und Aufführen selbst als Analogie nicht nur zu einer biologischen, sondern zu einer ökologischen Praxis zu begreifen. Da die ökologische
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Das Recycling von Werken oder Werkteilen ist von jeher eine gängige Kompositionspraxis. Siehe Ludwig Finscher: »Intertextualität in der Musikgeschichte«, in: Musik als Text: Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Freiburg i.Br. 1993, hg. v. Hermann Danuser und Tobias Plebuch, 2 Bde., Kassel u.a. 1998, Bd. 1, S. 50-53. Siehe zur Intertextualität bei Pierre Boulez, Wolfgang Rihm und Beat Furrer: David Ender: »Übermalung? Montage? Wucherung? Strategien und Wege kompositorischer Selbstbearbeitung in neuer Musik«, in: Österreichische Musikzeitschrift 66, H. 1 (2011), S. 29-37.
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und die musikalische Praxis zunächst keinen gemeinsamen Begriffshaushalt besitzen, muss Kaiser musikalische Verfahren und biologische beziehungsweise ökologische Modelle permanent miteinander vergleichen und auf ihre Struktur- und Verfahrensgleichheit hin überprüfen. Die Reflexion der Modellhaftigkeit biologischer und ökologischer Prozesse für musikalische und vice versa steht im Zentrum seines Denkraums. Das Modell des musikalischen Organismus impliziert die Ganzheit, Regelhaftigkeit und Autonomie des musikalischen (Kunst-)Werks.198 Die Gewichtung dieser Aspekte fällt jedoch historisch recht unterschiedlich aus und verweist stets auf das je favorisierte Naturbild. Im Zuge der klassizistischen Emanzipation der Musik als Kunst musste zunächst die Ganzheit der musikalischen Form analog zur bildenden Kunst behauptet werden. Dann konnte der Musik Autonomie und Regelhaftigkeit zugesprochen werden. Die musikalische Form ist nun zugleich das Organische am musikalischen Werk, »d.h. die Töne müssen in zweckmäßiger wechselseitiger Beziehung aufeinander stehen, genau zusammenpassen und einander entsprechen«.199 Der klassizistische Rückgriff auf das Organismus-Modell hat also eine ganz bestimmte Naturvorstellung zur Voraussetzung: Natur wird als regelhafte und autonome Ganzheit gedacht. Deshalb kann sie ein Vorbild für das autonome musikalische (Kunst-)Werk sein. Ganzheit und Regelhaftigkeit nobilitieren das musikalische Werk zur Kunst, auch wenn es dem mimetischen Gebot der bildenden Kunst nicht entspricht. Autonomie bedeutet also zweierlei: das musikalische
198 Zum Musikalisch-Organischen im Zuge der klassizistischen Kunsttheorie siehe Heinrich Christoph Koch: Versuch einer Anleitung zur Composition, 3 Bde., (¹1782/1787/1793), reprografischer Neudruck, Hildesheim (Olms) 1969. Schiller spricht von einer Analogie zwischen schönem Kunstwerk und organischem Naturprodukt und von der »Autonomie des Organischen«. Siehe Friedrich Schiller: »Schiller an Körner, 23. Februar 1793«, in: Schillers Briefwechsel mit Körner, hg. von Karl Goedeke, zweite vermehrte Auflage, 2 Bde., Bd. 2: »1793-1805«, Leipzig 1878, S. 15-40 (S. 30). Michaelis spricht von »einem melodischen und harmonischen Ganzen«. Siehe Christian Friedrich Michaelis: »Vermischte Bemerkungen über Musik«, in: Berlinische musikalische Zeitung, hg. von Johann Friedrich Reichhardt, Zwei Jgg. in einem Bd., 1. Jg. Nr. 4 (1805), S. 13-14 (S. 14), Hildesheim 1969. Michaelis stellt Kants »Naturprodukt«, das seine Schönheit durch vollkommene Regel- und Gesetzmäßigkeit in sich trägt, als Forderung an das Kunstwerk: »Das musikalische Stück muss sich also wie ein absichtliches, aber in sich selbst vollendetes Naturprodukt ausnehmen, wenn wir gleich (sobald wir es durch Vernunft betrachten) wissen, dass es ein Werk der Kunst ist.« Michaelis: Über den Geist der Tonkunst, Bd. 1, Leipzig 1795, S. 69/70. Die Begriffe des Organs und der Organisation werden für die Kompositionskunst erstmals ausgeführt von Carl Philipp Moritz: »Über die bildende Nachahmung des Schönen« in: ders.: Werke, Bd. 2, hg. von Horst Günther, Frankfurt a.M. 1981, S. 549-578 (S. 568f.). 199 Christian Friedrich Michaelis: »Ein Versuch, das innere Wesen der Tonkunst zu entwickeln«, in: Allgemeine musikalische Zeitung, Nr. 43, 23. Juli 1803, S. 674-683 (S. 683), enthalten in: Allgemeine musikalische Zeitung, 8. Jg., 2. Oktober 1805 bis 24. September 1806, Leipzig.
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Kunstwerk ist eine autonome Ganzheit mit regelhaften, aufeinander bezogenen Teilen. Produktionsästhetisch wird jedoch das mimetische Prinzip fallengelassen. Kunst soll nun nicht mehr die Natur nachahmen, sondern aus sich selbst heraus produktiv sein.200 Das heißt, die klassizistische Kunsttheorie löst die Kunst und Musik von der Mimesis, borgt sich aber das Organische als Strukturprinzip der Natur und implementiert es als musikalische Form. An die Stelle der göttlichen Einheit tritt die natürliche Ganzheit. Teleologie tritt an die Stelle der Theologie: Das regelhafte Ganze ist natürlich zweckmäßig. »Organische Form, Schönheit und ästhetische Autonomie bilden so historisch und systematisch eine Einheit. Dies zeigt sich immer wieder dort, wo einer der drei Faktoren gefährdet erscheint: wo sich die Organisation auflöst, sich dem Unorganisierten, dem Zufälligen nähert, entsteht das Gegenteil von Schönheit, Häßlichkeit.«201 Kompositionslehren und Naturkonzeptionen sind Teil der Ideengeschichte. Wird eine Kompositionslehre in Analogie zu einer bestimmten Naturkonzeption entworfen, handelt es sich um eine Legitimationsstrategie. Innermusikalisch ist der Rückgriff auf das Organismus-Modell eine Option, jedoch keine Notwendigkeit. So verträgt sich Ende des 18. Jahrhunderts weder die Naturvorstellung noch irgendeine Kompositionslehre mit Zufall, Unbestimmtheit und Kontingenz. Ganz im Gegenteil wird mit dem Organischen und der Natur unendliche Produktivität bei gleichzeitiger Regelhaftigkeit assoziiert. Im 20. Jahrhundert hingegen können sich hinter dem ästhetischen Rückgriff auf biologische Modelle völlig divergierende Hoffnungen und theoretische Annahmen verbergen.202 Dies impliziert unter anderem auch, dass an das Organische keine bestimmten musikalischen Formen mehr geknüpft sind.203 Vielmehr drücken sich in einem solchen Rück200 »Die idealische Nachahmung ist vielmehr eine Erfindung, als eine Nachahmung zu nennen. Sie löst gleichsam die Natur in ihre Grundbestandtheile auf, sondert das Ungehörige davon, und bildet aus dem Wesentlichen neue volkomnere Gestalten, als die Natur hervorzubringen vermag. Sie geht dabei weder mechanisch, noch atomistisch, noch logisch wie der Verstand, sondern nach einem Vernunftprinzip genialisch und wahrhaft schöpferisch zu Werke; und in diesem organischen Bilden neuer übermenschlicher Gestalten erscheint die Kunst als eine höhere Natur.« Carl Ludwig Fernow: Römische Studien, 3 Bde., Bd. 1, Zürich 1806, S. 318/19. 201 Lothar Schmidt: Organische Form in der Musik: Stationen eines Begriffs 1795–1850, Marburger Beiträge zur Musikwissenschaft Bd. 6, hg. von Wilhelm Seidel, Kassel u.a. 1990, S. 79. 202 Geiger, Hennecke und Kempf benennen vier Leitbilder der Übertragung des Biologischen auf die Kunst der Moderne: 1. vollkommene Funktionalität, 2. Ableitung ästhetischer Formen aus der Evolution, 3. Begründung von Harmonielehren aus den »Prinzipien des Lebens« und 4. »Chaos, Entropie, Willkür und Vergänglichkeit«. Siehe: Annette Geiger, Stefanie Hennecke und Christin Kempf (Hg.): Spielarten des Organischen in Architektur, Design und Kunst, Berlin 2005, S. 15. 203 »In dem Moment also, in dem sich das klassische Gattungssystem aufgelöst hat, verselbständigt sich das ›Organische‹, das nun an keine bestimmte Form mehr geknüpft ist, sondern – um mit Adorno zu sprechen – die ›Tendenz des Materials‹ ausdrückt. Nicht die For-
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griff außermusikalische Krisen aus, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, zwischen gesellschaftlichem Ganzen und seinen Teilen sowie die subjektive Autonomie thematisieren.204 Kaisers Selbstverständnis von kompositorischer als ökologischer Praxis kann nicht ohne den Begriffshaushalt der Wachstumskrise am Ende des 20. Jahrhunderts verstanden werden. Diese Krise kann von ihm musikalisch nicht bewältigt, aber musikalisch ausgedrückt werden. Sein Rückgriff auf biologische beziehungsweise ökologische Modelle (Rhizom, Fraktal, Fließgleichgewicht) ist daher stringent. Kaisers Denkraum weist Schnittstellen zu historischen Vorbildern des 18. und 19. Jahrhunderts auf, geht jedoch darüber hinaus. Dies lässt sich an der von ihm komponierten Form der kontingenten Dauer veranschaulichen. Kaisers Festhalten an der Dauerform bei gleichzeitiger Öffnung dieser Form hin zum kontingenten Inhalt weist eine Schnittstelle zum morphologischen Organismus-Modell205 auf, wie es von Marx206 beziehungsweise Riemann207 vertreten wurde. Insbesondere Marx’ Terminus der »Gangbildung« ist ein Anknüpfungspunkt. Marx geht von einer stetigen Entwicklung des Motivs aus, das einen eigenen Trieb besitzt. Diesen nennt er »Gangbildung«. Jeder Gang, so Marx, sei unendlich fortführbar, jedes Motiv dränge ins Unbestimmte und werde nur durch die Form bestimmt. Er setzt das Motiv also analog zum Naturtrieb, die Formgebung hingegen ist Komposition. Letztere nennt er organisch.208
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men sind organisch, sondern die hinter diesen Formen liegenden allgemeinen musikalischen Gestaltungsprinzipien, die ahistorisch gedacht sind und die deshalb dem jeweiligen historischen Komponisten vorgegeben sind.« Lotte Thaler: Organische Form in der Musiktheorie des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, Berliner musikwissenschaftliche Arbeiten Bd. 25, hg. von Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan, München u.a. 1984, S. 130. Erich Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, Bonn 1948, S. 86ff. Siehe auch Joachim Wilke: »Landscape revisited: Naturästhetik und Selbstorganisation«, in: Selbstorganisation. Jahrbuch für Komplexität in den Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften Bd. 4, hg. von Uwe Niedersen und Frank Schweitzer, Berlin 1993, S. 103-120 (S. 116): »Die Zeiten der Genieästhetik sind vorbei, und das Vertrauen in die menschliche Schöpfungskraft ist – zumindest was ihre Analogie zur Natur betrifft – stark angekratzt […]. Parallel dazu ist eine Neigung zu beobachten, die Attribute des Genies wieder auf die (äußere) Natur rückzuprojezieren. Die kreative Natur des Selbstorganisationsparadigmas trägt eindeutige Züge der von der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts in den Menschen verlagerten ›natura naturans‹. Sie ist das ›Originalgenie‹ des ausgehenden 20. Jahrhunderts.« Thaler unterscheidet für die Musiktheorie des späten 19. beziehungsweise frühen 20. Jahrhunderts zwischen morphologischem und energetischem Organismus-Modell. Siehe Thaler, Organische Form, S. 11/12. Adolf Bernhard Marx: Die Lehre von der musikalischen Komposition, 3 Bde., Bd. 1, Leipzig 1841. Hugo Riemann, Grundriss der Kompositionslehre, Berlin u.a., 1922. »Jede Fortführung eines Motivs erzeugt einen Gang, und so oft wir den eben gebildeten Gang betrachten, ergibt sich uns die Möglichkeit zu zahlreichen andern. Aus der Wiederholung des Motivs […] entsteht der Gang − deswegen ein bloßer Gang genannt, weil ihm der bestimmte
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Kaisers Festhalten an der Setzung von Dauern als wichtigster kompositorischer Entscheidung ermöglicht ihm eine Art kontrollierte Kontingenz. Wie das bei Marx ins Unbestimmte gehende Motiv, das durch die Form eingehegt wird, so kann bei Kaiser musikalisches Material innerhalb kontingenter Dauern eine Eigendynamik entfalten, wird aber gleichzeitig durch die Festlegung der Dauern in das Gesamtwerk integriert. Sowohl während der Aufführungen als auch zwischen ihnen schiebt er Dauern der Sichtung und Bewertung des laufenden musikalischen Prozesses ein. Kontingente Dauern stehen also immer in Wechselbeziehung zu auskomponierten Dauern. Sie sind nicht Ausdruck einer irrigen Hoffnung, dass sich in ihnen eine ungekannte, kreative Natur entfaltet, sondern sie sollen Entwicklungen des auskomponierten Materials ermöglichen. Die Stringenz von Kaisers Rückgriff auf biologische Modelle wurde bereits erörtert. Seine Innovation besteht in seinem Verständnis kompositorischen Handelns als ökologisches Handeln. Dies impliziert die Fokussierung auf die Beziehungen aller Teildauern zur Gesamtdauer seines Werks. Kontingente Dauern können sinnvoll nur durch ihre Beziehung zu auskomponierten Dauern verstanden werden. Musikalisch Neues entsteht nicht aus dem Wirken der Natur, sondern aus der komponierten Beziehung aller Teildauern und der Reflexion ihrer Eigendynamiken. Dies ist Kaisers Versuch eines musikalischen Ausdrucks der außermusikalischen Wachstumskrise, der er sich ausgesetzt sieht. Das von ihm musikalisch angestrebte Fließgleichgewicht ist sein Versuch, eine kompositorische Struktur für die Verflechtung von asymptotischem und vegetativem Wachstumsmodell als Kritik am außermusikalisch-exponentiellen Wachstumsmodell zu schaffen. Die Formanalyse des Gesamtwerks opernfraktal soll nun die Material- und Produktionsästhetik konkretisieren und verdeutlichen, inwiefern sich das konzeptionelle Denken Kaisers in seiner Kompositionspraxis niederschlägt.
2.6.3. Der Praxisraum: Zur Material-, Produktions- und Medienästhetik von opernfraktal (2003–) opernfraktal ist ein zustand/eine bewegung eingebunden in architektur/installation und tätigkeit/handlung und dauer/klang im sinne von CHRONOTEKTUR.209 Opernfraktal ist das Gesamtwerk, das Marcus Kaiser kontinuierlich aufführt und weiterentwickelt. Die erste Konkretion fand 2003 im Rahmen der Konzertreihe KLANGRAUM in Düsseldorf statt. Sie stellte erstmalig den Bezug verschiedener Abschluss fehlt; er […] geht unbestimmt darüber hinaus. Wir sehen daran, wie Gänge beliebig weit in das Unbestimmte fortgeführt werden können, da es ja eben ihr Karakter ist, keinen bestimmten Abschluss zu haben.« Marx, Die Lehre von der musikalischen Komposition, Bd. 1, S. 33. 209 Vollständige Textpartitur opernfraktal21tage, siehe Anhang: Partiturauszüge.
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akustischer und visueller Werke Kaisers zueinander her. Potenziell kann Kaiser jede seiner Einzelkompositionen in opernfraktal integrieren. Die Dauer einer Aufführung funktioniert wie ein Zeitfenster, das vor die Verflechtung unterschiedlicher definierter Dauern gehalten wird, von denen einige klanglich kontingent sind. Dabei sind Kaiser besonders Perspektivänderungen wichtig. Dies drückt sich in den Begriffspaaren seiner Textpartitur »Zustand/Bewegung«, »Architektur/ Installation« und »Tätigkeit/Handlung« aus. Sie stellen Synthesen von scheinbaren Gegensätzen beziehungsweise Abstraktionsebenen dar. Ein aus der Ferne betrachteter Zustand erweist sich aus der Nähe als Bewegung, die Architektur wird zu einer konkreten Installation, die allgemeine Tätigkeit zu einer individuellen Handlung. Um von einer Ebene zur anderen zu gelangen, bedarf es der Perspektivverschiebung. Hier kommen die verschiedenen Zeitfenster innerhalb einer Aufführung von opernfraktal ins Spiel: Die unterschiedlichen Begriffe kommen daher, weil ich mich dem gleichen Ding in zwei Dimensionen nähere. Wenn ich, innerhalb des Fraktals gedacht, einen bestimmten Abstand habe, ist es ein Zustand, betrachte ich es in einem anderen Kontext, ist es eine Bewegung. […] Die Doppelsysteme beruhen nur auf verschiedenen Standpunkten, auf verschiedenen Rastergrößen.210 Bei näherer Betrachtung von Kaisers Aufführungspraxis zeigt sich, dass zwei Einzelwerke regelmäßig in opernfraktal aufgeführt werden: die Kompositionen an einem ort – an einem anderen ort (ursprünglich im Jahr 2000 komponiert; Teil von opernfraktal seit 2003) und UNTERHOLZ (seit 2005/06). Diese sollen hier zunächst vorgestellt werden, bevor die sich in ihnen manifestierenden Zeitebenen in ihrer Verwobenheit innerhalb von opernfraktal analysiert werden.
an einem ort – an einem anderen ort (2000–) Kaisers Beschreibung des Stücks legt dar, wie die Komposition entstanden ist, wie die Aufführungen realisiert werden und welche Idee er mit dem Stück verfolgt: das stück »an einem ort – an einem anderen ort« wurde im jahr 2000 in köln begonnen. es transportiert mit seinem ihm eigenen verfahren klänge und räume mit ihrer jeweils eigenen akustik von ort zu ort, wobei jeder raum als filter das material weiter verändert, in gewisser weise auswäscht, erodiert. jede aufführung besteht pro ort aus zwei teilen von je 25 minuten, durch eine pause getrennt. ein instrumentalist spielt wenige, recht unterschiedliche klänge (von kurzen, trockenen und eher lauten tönen bis zu einem sehr leisen und sehr langen klang pro teil). jeder
210 Siehe Anhang: Komponistengespräche.
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teil wird aufgenommen und beim nächsten teil wird die aufnahme der schicht davor zugespielt (und gleichzeitig werden wieder über raummikros die instrumentalstimme und die bandstimme aufgezeichnet und im nächsten teil zugespielt usw. …) die aufnahme der zweiten schicht des ortes, an dem zuletzt gespielt wurde, ist also die grundschicht einer neuen aufführung an einem anderen ort. durch einen instrumentalisten (und das publikum und die umgebungsgeräusche) wird bei jeder aufführung neues material dazugebracht. der instrumentalist entscheidet, wie er das material im einzelnen teil anordnet und wie er es im zweiten teil und zum band in beziehung setzt. im laufe der zeit entsteht ein fließgleichgewicht im werden zwischen neuen, dazu kommenden klängen und älteren, zunehmend im hintergrundrauschen verschwindenden klängen.211 An einem ort – an einem anderen ort ist eine Komposition, in der akustisches und visuelles Material auf unterschiedliche Weise geschichtet und angeordnet wird. Das Klangmaterial entsteht durch die Wahl des Instruments und des Aufführungsorts, der als klingende Umgebung konzipiert ist.212 Die Textpartitur gibt insgesamt fünfzehn instrumentale Einsätze in verschiedenen Dynamiken und ungefähren Dauern vor. Die Anordnung dieser Einsätze innerhalb der 25 Minuten bleibt dem Aufführenden überlassen. Jede Aufführung entsteht durch eine akustische Überblendung. Dem Klingen des zweiten Teils der aktuellen Aufführung wird in gleicher Länge über im Raum platzierte Lautsprecher die Aufnahme des ersten Teils zugespielt.213 Ein in der Nähe des Instrumentalisten platziertes Mikrofon nimmt seine Töne und Umgebungsgeräusche auf.214 Das klingende Material wächst auf diese Weise linear, indem dem immer dichter werdenden Klangmaterial durch jede Aufführung eine weitere Klangschicht hinzugefügt wird. Gleichzeitig treten durch die Schichtung Schwebungen und destruktive Interferenzen (Auslöschungen) auf. Das Video wird getrennt vom Ton aufgenommen und getrennt zur nächsten Aufführung eingespielt. Eine Videokamera nimmt den Aufführenden und seine engere Umgebung auf. Kaiser bearbeitet das Videomaterial zwischen den Aufführungen, mischt es gegebenenfalls mit anderen Videoaufnahmen und projiziert es bei der
Aus der Textpartitur zu Marcus Kaiser: an einem ort – an einem anderen ort, Haan (edition wandelweiser ew15.007), siehe Anhang: Partiturauszüge. 212 Das Videoarchiv der Aufführenden zeigt ein breites Spektrum von Instrumenten, das von klassischen Musikinstrumenten bis zu alltäglichen Dingen reicht. URL: https://www.opernfr aktal.de/_aneinemort_aneinemanderenort/ligne_sans_fin.html [Abruf: 22.06.2021]. 213 Diese Aufführungspraxis erinnert in ihrer Aufnahme- und Zuspielpraxis zunächst an Alvin Luciers »I am sitting in a room« (1969), weicht jedoch durch das mit jeder Aufführung neu hinzukommende Klangmaterial davon ab. 214 Zu Beginn wurden hierfür Kassettenrecorder verwendet, später Minidiscrecorder. Seit circa 2003 kommt ein Laptop zum Einsatz.
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nächsten Aufführung neben den Aufführenden. Auch diese Situation wird wiederum mit einer Kamera aufgenommen. Die Dauer der beiden Instrumentalteile ist mit 25 Minuten festgelegt, doch die Gesamtdauer einer Aufführung ist unbestimmt, denn die Dauer der Pause zwischen den beiden Teilen ist nicht festgelegt. Die Dauern des in den beiden Teilen Klingenden sind in der Textpartitur nur vage mit »sehr kurz«, »eher kurz«, »lang« und »sehr lang« beschrieben. Da die Anordnung der zu spielenden Töne vom Aufführenden entschieden wird, entsteht in jedem Teil eine eigene Dramaturgie, die durch die Überblendung im zweiten Teil ein komplexes Miteinander von vergangener und aktueller Zeitlichkeit ergibt. Der erste Teil einer Aufführung ist immer Teil eines Prozesses, der im zweiten weiterentwickelt wird. Die jeweilige Aufführung selbst ist insgesamt wiederum die klangliche und visuelle Basis für die nächste. Das Kompositionsprinzip von an einem ort – an einem anderen ort soll hier »lineare Überschreibung« genannt werden. Sein Grundprinzip ist die Schichtung und Wiederverwertung von Ton- und Bildmaterial. Die entstehende Grundschicht aus Klang und Bild wird gleichzeitig immer reicher und konturloser, da durch die Aufschichtung von immer mehr mitgeführtem Material schließlich ein visuelles und auditives Rauschen entsteht, aus dem sich nur noch die konkrete und gegebenenfalls ein, zwei davor liegende Einspielungen identifizieren lassen. Gleich der Einspielphase eines Orchesters vor einem Konzert, vermengen sich in an einem ort – an einem anderen ort so viele Klänge, dass ein dissonanter Klangteppich entsteht. Die Projektion der Aufzeichnung des letzten Konzerts innerhalb der laufenden Aufführung konfrontiert permanent zwei Zeitpunkte miteinander. Die Material- und Produktionsästhetik von an einem ort – an einem anderen ort weist ein komplexes Miteinander definierter und kontingenter Faktoren auf. Die Textpartitur sorgt für einen großen Spielraum an möglichen Interpretationen. Die Anzahl der Einsätze innerhalb der 25-minütigen Spielphasen sind festgelegt. Das Instrument, die Dauern der Klänge und ihre Dynamik können jedoch stark variieren. Da die Videokamera nicht nur den Instrumentalisten, sondern auch seine nähere Umgebung aufnimmt, mischen sich in die Aufzeichnung Aktionen von Zuhörenden und Unbeteiligten als unbestimmtes Element. Durch lineare Überschreibung entsteht also eine Klang- und Bildmasse, die mit jeder Aufführung das Verhältnis zwischen altem und neuem Material neu gewichtet. Die Spezifik von Klang und Bild sorgt dafür, dass in dieser Masse alles mitgeführte Material enthalten und gleichzeitig das meiste davon durch das menschliche Ohr und Auge nicht mehr identifizierbar ist. Klänge und Bilder verschwimmen, verlieren ihre Trennschärfe und löschen mitunter einander aus.
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UNTERHOLZ (2005/06–) Kaisers Beschreibung von UNTERHOLZ trifft über die Stückstruktur hinaus ebenfalls Aussagen zur Idee des Werks: unterholz ist ein stück das sich (wie reales unterholz eines waldes) im lauf der zeit, d.h. von aufführung zu aufführung und von ort zu ort, verändert, material mit sich führt, sedimentiert und dazu neues material ansammelt. die grundsituation ist die einer installation mit einem zuspielband aus sinus-klängen und einem video einer sich sehr langsam durch ein »urwald-dickicht« bewegenden sequenz. während der aufführung werden von einigen stellen aus video- und tonaufnahmen gemacht, die dann bei weiteren aufführungen in die video/ton sequenzen eingearbeitet werden. die aufführung kann konzertant oder sehr lange sein, dann haben die instrumentalisten ihren platz und können kommen und gehen. die orientierung erfolgt nach der uhrzeit und zeitangaben in den stimmen, die eine koordination mit dem zuspielband/video ermöglichen.215 UNTERHOLZ ist eine audiovisuelle Komposition. Die Partitur216 weist acht Stimmen über acht Oktaven für Instrumente auf, die eindeutig intonieren können. Dazu kommen in der obersten und untersten Zeile Zahlen, denen Stimmen für geräuschhafte und perkussive Instrumente zugeordnet sind,217 sowie mittig Buchstaben, die für bestimmte Sprechtexte stehen.218 Kaiser bezeichnet diese unterschiedlichen Materialien als »Übersetzungsebenen« seiner Partitur. Er möchte die Interpretation von UNTERHOLZ offen für weitere solcher Übersetzungen in verschiedene Materialien halten.219 Eine Version von UNTERHOLZ hat Kaiser selbst als Sinustonkomposition realisiert. Sie kann über Lautsprecher in die Aufführungen eingespielt werden. Praktiziert wird wahlweise aber auch eine konzertante Aufführung mit mehreren Instrumentalisten. In jedem Fall werden auch hier, wie bei an einem ort – an einem anderen ort getrennte Video- und Tonaufnahmen gemacht. Doch ihre Länge und die Art ihrer Bearbeitung zwischen den Aufführungen sowie ihre Wiedereinspielung in die nächste Aufführung sind nicht festgelegt.
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Textpartitur UNTERHOLZ, URL: https://www.opernfraktal.de/unterholz/index.htlm [Abruf 04.07.2022]. Vollständige Partitur siehe URL: http://marcus-kaiser.net/partituren/unterholz-spw-score.h tml [Abruf 04.07.2022]. Partiturausschnitt Zahlen, ebd. Partiturausschnitt Sprechtext »T«, ebd. E-Mail-Korrespondenz Marcus Kaiser–Sonja Heyer, 8.11.2018.
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Visueller Ausgangspunkt für UNTERHOLZ war das Video unterholz#0. Es entstand unter anderem aus einem Bild der Serie Grüne Bilder, an der Kaiser seit vielen Jahren fortgesetzt arbeitet. Dabei schichtet er mit Pigmenttusche, Bleistift und Aquarellfarben feingliedrige Fraktalstrukturen, wie sie für Farne charakteristisch sind, auf Papier. Kaiser beschreibt diese Bilder als »Urwaldzeichnungen, die langsam den gesamten Bildraum füllen und dann Schicht um Schicht grünen, bis nahe an die Sättigung, bis die Details wieder anfangen im Ganzen zu verschwinden«.220 Zwischen den Aufführungen arbeitet er zeichnerisch am Bild weiter. In den Grünen Bildern kommt also das gleiche material- und produktionsästhetische Verfahren zum Tragen, wie bei an einem ort – an einem anderen ort, die lineare Überschreibung. Kaiser fotografiert Etappen der Arbeit an einem Bild und fertigt ein Video daraus, in dem die Kamera eine langsame Bewegung durch die gezeichneten Fraktalstrukturen vollzieht. Die Partitur von UNTERHOLZ221 ist nicht abgeschlossen. Sie wird von Kaiser weiter ausgebaut. Die geplante Gesamtlänge der Aufführung, beispielsweise eine wochenlange Installation oder ein einstündiges Konzert, setzt den zeitlichen Rahmen von UNTERHOLZ. Innerhalb einer Aufführung treffen auch hier unterschiedliche Dauern aufeinander. Die Zusammensetzung von altem und neuem Material sowie von klanglich definierten und kontingenten Dauern ist bei jeder Konkretion wieder neu und in ihrer Länge variabel. Kontingente Phasen, während derer Instrumentalisten ihre Zeit frei gestalten können, werden mit festgelegten Zeitpunkten instrumentaler Einspielungen und Zuspielungen verbunden. Anfang und Ende des jeweiligen Grünen Bildes, das die Grundlage des Videos ist, sind deutlich identifizierbar und werden von Kaiser bestimmt. Der Prozess der Bildproduktion durch Zeichnung und Aufnahmepraxis bleibt fortgesetzt bestehen. UNTERHOLZ zeichnet sich durch ein Miteinander strukturell unterschiedlicher Elemente aus. Über Anfang und Ende der Bildproduktion entscheidet Kaiser anhand des Kriteriums der Sättigung. Die Dichte des Bildes soll so lange wachsen, bis die in ihr geschichteten Fraktale nicht mehr identifizierbar sind. Die erreichte Sättigung führt zur Herausnahme des Bildes aus dem Prozess der fortgesetzten Bildproduktion und zum Beginn eines neuen Bildes. Kaiser gewichtet bei jeder Aufführung von UNTERHOLZ bereits existierende und neue Elemente. Das Prinzip der variablen Länge und Anordnung dieser Elemente sorgt dafür, dass UNTERHOLZ zu einer Materialwucherung wird. Das einzige stabile Element in diesem Setting ist die Sinuston-Einspielung, die inzwischen fast vollständig »überspielt« ist, aber an einigen Stellen wieder in den Vordergrund rücken kann. Vor
220 URL: http://marcus-kaiser.net/gruene_bilder.html [Abruf: 07.06.2021]. 221 Marcus Kaiser: UNTERHOLZ, Haan (ew15.014.01–) 2005/06−. Im Jahr 2021 enthielt die Komposition insgesamt zwanzig Werkteile. Siehe URL: https://www.wandelweiser.de/_marcuskaiser/catalogue.html [Abruf: 07.06.2021].
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ihrem Hintergrund gibt es zeitlich variable Dauern des Musizierens, von Pausen, Einspielungen und Aufzeichnungen. Vor der nächsten Konkretion ordnet Kaiser das durch Aufzeichnungen entstandene audiovisuelle Material und legt das Setting für die nächste Konkretion fest. Dabei kann sich die Gewichtung zwischen visuellen und musikalischen Elementen ebenso verschieben, wie die Gesamtdauer ortsspezifisch angepasst werden kann. Das Strukturprinzip von UNTERHOLZ soll hier »Wucherung« genannt werden.222 Im Folgenden sollen drei Konkretionen von opernfraktal daraufhin untersucht werden, wie Einzelwerke sowie definierte und kontingente Dauern darin verflochten werden und sich daraus ein komplexes Miteinander unterschiedlicher Dauern und Prozesse entwickelt. Die drei Beispiele decken den Zeitraum 2003 bis 2015 ab. So lassen sich Entwicklungen der Material- und Produktionsästhetik von opernfraktal aufzeigen.
Die erste Aufführung: opernfraktal21tage (2003)223 Opernfraktal fand erstmalig vom 3. bis 23.8.2003 im KUNSTRAUM Düsseldorf statt. Die Textpartitur von opernfraktal21tage definierte räumliche und zeitliche Festlegungen sowie künstlerische und lebensweltliche Handlungen der Beteiligten. Zu den räumlichen Materialien zählten vier von Marcus Kaiser gebaute offene Metallkuben. Dieser von ihm »Raumraster« genannte Raum im Raum war den von ihm benannten vier Tätigkeitsbereichen »Küche/Bar«, »Kommunikation/Modell«, »Elektronik/Arbeit« sowie »Intuition/Klang« zugeordnet. Zu diesem Zeitpunkt war der KUNSTRAUM Düsseldorf offen mit einem Café verbunden. Der räumlichen Offenheit der Kuben entsprach Kaisers Intention, das Publikum in die Installation einzubeziehen. Kaiser hatte, analog zum Besetzen eines Quartetts, drei Künstlerinnen und Künstler eingeladen teilzunehmen. Einundzwanzig Tage lang lebten und arbeiteten in opernfraktal21tage In Sook Kim, Bernd Glaser, Frank Eickhoff und Marcus Kaiser. Sie führten Tätigkeiten aus, die vorher verabredet worden waren, besaßen jedoch Zeitautonomie und konnten so ihre Anwesenheit selbst strukturieren. Um 0, 6, 12 und 18 Uhr eines jeden Tages führte Kaiser zwischen fünfzehn und sechzig 222 Der Begriff der Wucherung ist insbesondere in Bezug auf Pierre Boulez’ Komposition Douze Notations pour piano (1945) diskutiert worden, die er 1978 zu einem Orchesterwerk umgearbeitet hat. Siehe Andreas Zeißig: »Zum Begriff der Wucherung bei Pierre Boulez am Beispiel der douze notations (1945) und der notations pour orchestre (1978)«, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 6. Jg., H. 2–3 (2009), S. 309-329. Boulez verwendete selbst den Begriff der prolifération (Wucherung). Siehe Barbara Zuber: »Komponieren – Analysieren – Dirigieren: Ein Gespräch mit Pierre Boulez«, in: Pierre Boulez, Musik-Konzepte 89/90, München 1995, S. 29-46 (S. 35). 223 Textpartitur siehe Anhang: Partiturauszüge.
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Minuten lang ein Stück auf, das jeweils unterschiedliche Schichtungen aufwies.224 Beim ersten Konzert um 0 Uhr für Violoncello und Sinustongenerator wurde nicht live mit Schichtungen gearbeitet, sondern der Mitschnitt wurde selbst Teil der finalen Schichtung, bei der für eine CD alle konzertanten Einspielungen der einundzwanzig Tage übereinandergelegt wurden. Das dreißigminütige Stück um 6 Uhr für Stimme und Elektronik wurde mitgeschnitten. Der Mitschnitt wurde in sechs Blöcke à fünf Minuten geteilt. Diese wurden täglich neu geschichtet und als fünfminütige Stimme zum Konzert der gleichen Zeit am folgenden Tag ein- und ausgeblendet. Beim dreißigminütigen Stück um 12 Uhr für Violoncello und Elektronik wurde die Aufnahme jeweils um eine Oktave nach oben gepitcht, dadurch kürzer und in dieser Form am nächsten Tag zugespielt. Das sechzigminütige Konzert um 18 Uhr für Violoncello und Elektronik wies eine täglich andere Partitur auf. Es wurde mitgeschnitten und zum jeweils nächsten Konzert der gleichen Zeit zugespielt. Mit Ausnahme des täglich ersten Konzertes um 0 Uhr kamen hier also unterschiedliche Varianten des Verfahrens der linearen Überschreibung zur Anwendung. Als zweites musikalisches Element trat eine dauerhafte Klanginstallation hinzu, die eine klangliche Materialanhäufung nach dem Modell der Wucherung in Gang setzte. Im Sinne eines in die Alltagswelt ausgedehnten Musikbegriffs zählten zum musikalischen Material der Aufführung hörbare lebensweltliche Handlungen. Sie flossen ebenfalls in die regelmäßigen auditiven Aufzeichnungen der Klanginstallation ein und wurden am nächsten Tag zur gleichen Zeit in den Raum eingespielt. Die von Kaiser »Zeitraster« genannte Dauerstruktur von opernfraktal21tage weist eine Aufteilung in Sechs-Stunden-Phasen auf. Sie entspricht der Vierteilung eines Tages. Analog wurde der Raum in vier Lebensbereiche geteilt. Die Gesamtdauer von einundzwanzig Tagen war für Kaiser interessant, weil sie von allen Beteiligten, auch von den Besuchern, die Integration von Kunst und alltäglichem Leben erforderte. Er betrachtet diese Entscheidung als direkte Konsequenz von Cages Werk 4’33’.225 Die Dauer und die offen strukturierte Räumlichkeit erlaubte dem Publikum eine flexible Anwesenheit bis hin zur Partizipation.226
224 Textpartitur und zeitliche Struktur der vier täglichen Konzerte in opernfraktal21tage siehe URL: https://www.opernfraktal.de/21tage/index.html. [Abruf: 14.06.2021]. Einzelpartituren siehe URL: https://www.opernfraktal.de/score/ew15.012.01.jpg, https://www.wandelweiser. de/kaiserscores/ew15.012.02.pdf, https://www.opernfraktal.de/score/ew15.012.03.jpg,https: //www.wandelweiser.de/kaiserscores/ew15.012.04.pdf, [Abruf: 14.06.2021]. 225 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 226 Auch das Übernachten in der Installation war für Besucher möglich. Kaiser konzipiert partizipative Kunst analog zu einem Garten, »angewiesen auf das darüber Hinausliegende« als Ökosystem, das existenziell den Austausch mit dem Außen benötigt. Siehe URL: https://ww w.opernfraktal.de/text-presse.html [Abruf: 14.06.2021].
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Aus dem wechselnden und nur teilweise geplanten Neben- und Miteinander der Aufführenden, der Verschränkung des visuellen und musikalischen Materials und der Anwesenheit des Publikums ergab sich innerhalb des Zeitrahmens von opernfraktal21tage eine Partitur aus sich teilweise überlappenden, teilweise einander ablösenden Dauern musikalischen und lebensweltlichen Agierens. Alle Dauern waren zeitlich festgelegt, wiesen aber in der Umsetzung teilweise Unschärfen auf, die gewollt waren. So begannen die für 0, 6, 12 und 18 Uhr angesetzten Konzerte nicht immer pünktlich, weil andere Aktivitäten noch nicht beendet waren. Dies veränderte die Gesamtpartitur, denn während die Konzerte vollständig mitgeschnitten und am nächsten Tag zum entsprechenden Konzert zugespielt wurden, nahm die computergestützte Klanginstallation unabhängig von dieser menschlichen Unschärfe alle fünf Minuten eine Minute lang den Raumklang auf und spielte ihn am nächsten Tag zur gleichen Zeit in den Raum ein. Opernfraktal21tage weist eine komplexe zeitliche Verflechtung von Einzelwerken mit definierten und kontingenten Dauern auf.227 In der Textpartitur des Werks wird explizit zwischen Zeitraster und Raumraster unterschieden. Zeitraster, wie die festgelegten Dauern, schaffen, so Kaiser, einen Aufmerksamkeitsrahmen für das Gleichbleibende und sich Wiederholende, Raumraster, wie zum Beispiel die Metallkuben, hingegen für Veränderung.228 Die Zeitraster in opernfraktal21tage sind wesentlich an den Einsatz bestimmter Aufzeichnungsverfahren geknüpft. Die Künstlerin In Sook Kim fertigte täglich Fotografien an, die den Fortgang der Aufführung dokumentierten und in Boxen gesammelt wurden. Die Textpartitur der ersten Aufführung sagt noch nichts über den Einsatz einer Videoaufzeichnung. Diese wurde aber bei der Aufführung spontan vorgenommen. Die Aufzeichnung
227 Siehe Anhang: Grafiken, Marcus Kaiser: opernfraktal21tage (2003). Die Grafik veranschaulicht beispielhaft einen Ausschnitt eines Aufführungstages. In ihr sind vertikal die kontingenten und die definierten Dauern angeordnet, um die zeitliche Verflechtung deutlich zu machen. Die Zeitstruktur inkludiert das Raumraster mit seinen sieben Bereichen: die vier Kuben mit den ihnen zugeordneten Arbeitsbereichen, einen Bereich mit Schlafgelegenheiten, einen offenen Außenbereich hin zum Café sowie Zwischenräume. Das Zeitraster umfasst definierte und kontingente Aktivitäten mit stetigen, regelmäßigen und unregelmäßigen Rhythmen. Die Bereiche Küche/Bar, Schlafen und der Außenbereich waren stetig gegeben und – auch für das Publikum – offen. In den Bereichen Intuition/Klang, Elektronik/Arbeit und Kommunikation/Modell fanden stetige, regelmäßige und unregelmäßige Ereignisse statt. Ein Grünes Bild war stetig anwesend. Zu den definierten Aktivitäten zählten regelmäßige musikalische Aktionen, wie die Konzerte und die Klanginstallation. Kontingente Aktivitäten des Publikums nahmen auf das Klingen des Raums Einfluss. Visuelle Arbeiten, wie das Fotografieren und computeranimierte Zeichnungen, wurden unregelmäßig eingespeist. Die Fotografien wurden in den Zwischenräumen aufgehäuft, die Computerzeichnungen an einigen Wänden nebeneinandergehängt. 228 Textpartitur opernfraktal21tage (2003) siehe Anhang: Partiturauszüge.
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der Konzerte und die computergenerierte Klanginstallation dienten der Zuspielung innerhalb der gleichen Aufführung. Kaiser produzierte darüber hinaus von opernfraktal21tage eine CD/DVD, auf der alle einundzwanzig 0-Uhr-, 6-Uhr-, 12Uhr- und 18-Uhr-Konzerte übereinandergeschichtet sind. Das Ziel dieser Aufzeichnung war es, unterschiedliche hör- und sichtbare Dichten von audiovisueller Aktivität komprimiert aufzuzeigen.229 Aus dem Miteinander von Raum- und Zeitrastern ergeben sich unterschiedliche Verdichtungen. Das klingende konzertante Material und das Material der Klanginstallation verdichten sich zyklisch, das fotografische Material verdichtet sich durch unregelmäßige Aufschichtung. Alle drei Materialien wachsen nach dem Prinzip der linearen Überschreibung. Kaiser thematisiert explizit den medienästhetischen Aspekt seiner Aufzeichnungsverfahren. Den audiovisuellen Mitschnitt der konzertanten Dauern in opernfraktal und deren Zuspielung zum nächsten Konzert sieht er in Analogie zur klassischen Begleitung einer Solostimme durch ein Klavier. Doch das Aufzeichnen besitzt für ihn eine weitere Bedeutungsebene. Jede Aufzeichnung problematisiert die Abbildbarkeit des Aufgezeichneten. Die Aufzeichnung ist notwendigerweise Teil vom Stück. […] Wichtig finde ich daran auch, dass es die Idee einer objektiven Abbildbarkeit damit nicht mehr gibt. Dieses Stück funktioniert nur mit diesem elektronischen Aufnahmemedium. […] Am Anfang dachte ich beim Nachdenken darüber, wie Erinnerung funktioniert, sogar an das Überschreiben. Ich glaube, unsere Erinnerung erinnert sich oft mehr an die Erinnerung als an das Ursprungsereignis. Man erzeugt oft nur ein blasses Bild und hat mehr Kontakt zur Erinnerung selbst. So ähnlich ist es auch mit dem Stück.230
Die Aufführung feindtönung – opernfraktal (2014)231 Feindtönung fand vom 18.1. bis 14.2.2014 in den ehemaligen Betriebswerkstätten der Isartalbahn in München-Thalkirchen statt. Der Ort war ein verlassenes Industriegebäude, das verschieden große, leere, unbeheizte, fenster- und türlose Räume sowie eine große Halle beherbergte. 229 Siehe URL: https://www.opernfraktal.de/21tage/index.html. Alle Aufführungen von opernfraktal seit 2003 werden auf der Website https://www.opernfraktal.de audiovisuell dokumentiert. 230 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 231 Textpartitur feindtönung − opernfraktal (2014), siehe URL: https://www.opernfraktal.de/_fein dtoenung/index.htm [Abruf: 14.06.2021]. Der Begriff Feindtönung geht auf den Biologen Jakob von Uexküll (1864–1944) zurück, der als Begründer der Ökologie gilt. Uexküll bezeichnet mit Feindtönung die Angst, die Nachtraubtiere in ihrer Umwelt verbreiten. Siehe Jakob von Uexküll: Theoretische Biologie, Frankfurt a.M. 1973.
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Zu den Raumrastern dieser Aufführung zählten ein von Kaiser gebauter, einige Kubikmeter großer, transparenter Kubus mit zwei angeschlossenen kleineren Kuben, ein ihnen gegenübergestelltes Modell232 sowie visuelle Arbeiten, die teilweise angrenzende Räume durchschnitten. Im großen Kubus war eine Reihe von Baumfarnen und Palmen platziert, die sich sonst in Kaisers Atelier und Lebensraum befinden. Im Kubus wurde eine konstante Temperatur von 10°C hergestellt, so dass er Pflanzen und Insekten beherbergen sowie Kaiser als Konzertraum dienen konnte.233 Feindtönung versammelte diverse audiovisuelle Einzelwerke Kaisers. Das Stück an einem ort – an einem anderen ort wurde ein Mal von ihm aufgeführt. Darüber hinaus spielte er im großen Kubus die Sarabande aus Bachs Cellosuite Nr. 2 d-Moll (BWV 1008) in extremer Verlangsamung. In den Pflanzen installierte Mikrofone und Lautsprecher nahmen alle fünf Minuten eine Minute lang den akustischen Lebensraum auf und spielten ihn am nächsten Tag zur gleichen Zeit wieder in den Raum ein; eine rein auditive Variante von an einem ort – an einem anderen ort. Die audiovisuelle Arbeit unterholz#0 (HD Remix) wurde kontinuierlich an einer gegenüberliegenden Wand gezeigt. An eine andere Wand wurde ein Video ohne Ton der 2011 von ihm aufgeführten Installation heraklits kitchen projiziert. Kaiser bearbeitete dieses Video während der Aufführung. Ein sich im Anfangsstadium befindendes neues Grünes Bild war an einer Wand angebracht. Seine Bildserie ich – trojanisch234 war auf langen Tischen angeordnet, die zwei Räume miteinander verbanden. Er arbeitete an ihr während der Aufführung weiter. Kaiser lebte, arbeitete und übernachtete in der Installation, verließ diese gelegentlich aber auch, um in die Stadt zu fahren und unter anderem an seinen parallel büchern235 weiterzuarbeiten. Die Installation wurde täglich von 17 bis 21 Uhr für das Publikum geöffnet. In diesem Zeitraum war auch ein Rolltor einen Spalt weit geöffnet, durch den man unter Umständen den Sonnenuntergang sehen konnte. Feindtönung – opernfraktal (2014) weist eine spezifische zeitliche Verflechtung von Einzelwerken mit definierten und kontingenten Dauern auf.236 Das Zeitraster
232 Dieses Modell gehört zu den bislang noch nicht ausgearbeiteten Elementen von opernfraktal. Es war ursprünglich gedacht als weitere visuelle Erzählebene im Sinne einer virtuellen Geschichte beziehungsweise eines »Librettos«. E-Mail-Kommunikation Marcus Kaiser–Sonja Heyer, 15.6.2018. 233 Hummeln halten normalerweise Winterschlaf. Für die Aufführung kamen Exemplare zum Einsatz, die in der industriellen Landwirtschaft jahreszeitenunabhängig zum Bestäuben von Tomaten eingesetzt werden. 234 In ich – trojanisch übermalt Kaiser seit 2001 eigene Kontoauszüge. Siehe URL: http://marcuskaiser.net/ich-trojanisch.html [Abruf: 02.07.2021]. 235 In seinen parallel büchern zeichnet Kaiser mit beiden Händen gleichzeitig und parallel auf zwei gegenüberliegenden Seiten eines Malheftes. Siehe URL: http://marcus-kaiser.net/para llel_buecher.html [Abruf 15.06.2021]. 236 Siehe Anhang: Grafiken, Marcus Kaiser: feindtönung – opernfraktal (2014).
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umfasst wieder definierte und kontingente Aktivitäten mit stetigen, regelmäßigen und unregelmäßigen Rhythmen. Im Kubus waren Pflanzen und Insekten dauerhaft anwesend. Kaiser hielt sich gelegentlich darin auf und musizierte unregelmäßig darin. Die in den Pflanzen angebrachte Klanginstallation lieferte regelmäßig neues akustisches Material. Ein Grünes Bild, die Bildserie ich – trojanisch, die Videoarbeit heraklits kitchen sowie das Architekturmodell waren die ganze Zeit über anwesend. Neu hinzu tritt hier die audiovisuelle Arbeit unterholz#0 (HD Remix), die unablässig läuft und während der Aufführung von Kaiser weiterbearbeitet wird. Das klingende konzertante Material und das Material der Klanginstallation verdichten sich zyklisch und wachsen nach dem Prinzip der linearen Überschreibung. Die Arbeiten UNTERHOLZ und parallel bücher tragen das Verfahren der Wucherung in die Aufführung. Beides wird unregelmäßig von Kaiser weiterentwickelt. Feindtönung kann als ortsspezifische Arbeit verstanden werden.237 Kaisers stetiges Weiterarbeiten an Stücken während einer Aufführung verweist auf sein Biom genanntes Gesamtverständnis von Leben und Werk. Die Dauer einer Aufführung unterbricht nicht seine Kompositionspraxis, sondern ist Teil davon.
Die Aufführung opernfraktal/spinozawucherung (2015)238 Opernfraktal/spinozawucherung fand vom 6. bis 27.2.2015 im Kultur- und Kommunikationszentrum TUFA Trier e. V. statt. Das Raumraster von spinozawucherung arbeitete mit zwei der ursprünglich vier im Jahr 2003 verwendeten offenen Metallwinkel-Kuben – einem für alltägliche Aktivitäten des Künstlers und des Publikums, und einem für Kaisers tägliche Konzerte – sowie zwei etwas größeren, weitestgehend geschlossenen Würfeln für den Künstler zum Schlafen und für das Publikum zum Ausruhen. Hinzu kamen vier Tische. Auf einem waren Textpartituren ausgebreitet; der andere Tisch diente als Arbeitsplatz für Künstler und Publikum. Der Kochkubus, ein Schlafwürfel und ein Arbeitstisch standen auch dem Publikum zur Verfügung. Pflanzen waren ein visueller und klanglicher Teil der Installation. Sie waren an einer Drehvorrichtung befestigt, die sie in konstante Rotation versetzte und damit ihre Blätter aneinanderschlagen ließ. Dadurch wurden sie ein permanenter akustischer Teil der Aufführung. Sie wurden zwar nicht mit Mikrofonen abgenommen, ihr geräuschhaftes Klingen wurde aber Teil der Videoaufnahme. Auch
237 »In der Mitte der großen dunklen und kalten Halle steht ein großer, hell erleuchteter transparenter Kubus. […] (Über-)Lebensraum für Baumfarne […]: aus den großen Baumfarnwäldern des Karbon ist die Kohle entstanden, mit denen die Dampfloks der Isartalbahn von hier aus fuhren.« Siehe URL: https://www.opernfraktal.de/_feindtoenung/index.htm [Abruf: 14.06.2021]. 238 Dokumentation opernfraktal/spinozawucherung (2015) siehe URL: https://www.opernfrakt al.de/_spinozawucherung/index.html [Abruf: 14.06.2021].
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das opernfraktal-Modell war wieder anwesend, diesmal mit raschelndem Laub unterlegt. An der gegenüberliegenden Wand platzierte Kaiser die Bildarbeit kourotrophos/erste schneidung. An einer anderen Wand befanden sich vier Zeichnungen aus Kaisers Serie ich – trojanisch. Am anderen Ende des Raums befand sich die den metapieces zugehörige Bildarbeit michel foucault: wahnsinn und gesellschaft/erste schneidung. Dazu kam ein begonnenes Bild aus der Serie Grüne Bilder. Der lang gestreckte, rechtwinklige Raum wurde durch deckenhohe Stellwände unterbrochen, auf deren Außenseite die Partitur von UNTERHOLZ gezeigt wurde. Im von den Stellwänden begrenzten Innenbereich wurden immer vier Videomitschnitte der vergangenen Tage projiziert. Das änderte sich, wenn täglich zwischen 18 und 19 Uhr konzertiert wurde. Dann wurden die bis dahin mitgeschnittenen Audioschichten in diesen halboffenen Raum eingespielt. Das Zeitraster wurde wesentlich durch die tägliche Aufführung von Kaisers Komposition spinoza wucherung um 18 Uhr bestimmt, die mit der gleichen Partitur wie UNTERHOLZ arbeitete. Es war die einzige in ihrer Anfangszeit bestimmte und regelmäßige klangliche Aktivität. Für spinoza wucherung hatte Kaiser die ersten drei Seiten von Spinozas Ethik auf eigene Weise vertont. Er entwickelte ein System der Zuordnung aller Buchstaben zu bestimmten Tönen. Ein Wort entspricht in der Partitur einem aus solchen Tönen zusammengesetzten Klang. Dabei werden die Wörter von oben nach unten in den Notenlinien angeordnet.239 Die Partitur lässt dem Ausführenden viele Freiheiten – Fermaten können beliebig lang ausgehalten werden, Teile dürfen ausgelassen werden, die Partitur darf in jede Richtung gespielt werden. Wie in anderen Konkretionen verflechten sich auch in opernfraktal/spinozawucherung die Raum- und Zeitraster auf spezifische Weise.240 Kaiser geht bei dieser Konkretion mit Texten genauso um wie mit musikalischem Material: Er schneidet und ordnet es neu. Opernfraktal/spinozawucherung überträgt das Verfahren der Wucherung auf alle klanglichen Ereignisse und fügt ihnen eine Textebene als Material hinzu. Der Text wird selbst in Fraktale zerlegt, seiner Linearität beraubt und dadurch integrierbar in das aus audiovisuellen Fraktalen bestehende Gesamtwerk opernfraktal. Spinoza wucherung gehört zu Kaisers metapieces.241 Er versteht darunter »stücke, bei denen vorhandenes nach einem einfachen muster zerschnitten und wieder zusammengesetzt wird. gewohnte (denk-)bewegungen werden verfremdet.«242 Metapieces sind also zweierlei: eine bestimmte Art, Material zu schneiden, und ein dar-
239 Siehe URL: http://marcus-kaiser.net/partituren/unterholz-spw-score.html [Abruf: 14.06. 2021]. 240 Siehe Anhang: Grafiken, Marcus Kaiser: opernfraktal/spinozawucherung (2015). 241 Marcus Kaiser: methapieces 1 und 2, Haan (ew15.002.01/02) 1998/99. 242 http://marcus-kaiser.net/metapieces.html [Abruf: 14.06.2021].
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aus resultierendes Werk. Das Auslegen der Partitur von spinoza wucherung war ein neues Element in opernfraktal. Es veranschaulichte das Schnittverfahren, während die tägliche Arbeit mit Klang und Bild das Verfahren durchführte. Im Vergleich der hier untersuchten drei Aufführungen von opernfraktal zeigt sich, wie Kaiser mit einer Reihe von Faktoren experimentiert. Er wendet die beiden Verfahren lineare Überschreibung und Wucherung wahlweise auf konzertante, installative und visuelle Werke und Arbeitsbereiche an; er verändert die Anzahl der beteiligten Künstlerinnen und Künstler; er passt die Art und Anzahl der Raumstrukturen dem jeweiligen Ort an und spielt mit der Anzahl und Art der präsentierten visuellen Werke. Darüber hinaus bietet das Zeitraster immer Möglichkeiten, laufende Arbeiten weiterzuentwickeln. Komponieren und Aufführen gehen eine strukturelle Verbindung ein. Die zeitliche Verflechtung von Lebenszeit und Werkzeit in opernfraktal (seit 2003) stellt sich wie folgt dar:
Abbildung 1
Grafik: Sonja Heyer
2.6.4. Autorschaft: Konzeptualität und Reflexivität in opernfraktal Die Herstellung einer Chronotektur erfordert vom Autor permanent die genaue Reflexion aller beteiligten Faktoren und eine vorausschauende Bewegungsanalyse des Gesamtprozesses. Für Aufführungen von opernfraktal bedeutet dies, zunächst das größte Raum- und Zeitraster festzulegen: den Aufführungsort und die Dauer. Eine sich dann verfeinernde Partitur enthält Festlegungen für räumliche Bereiche sowie für definierte und kontingente Dauern. Dabei muss Kaiser verschiedenste Rhythmen und Zyklen beachten. Der Aufführungsort ist mitunter von bestimmten sozialen Rhythmen geprägt. Das Publikum und die beteiligten Künstler tragen mit ihren zeitautonomen Entscheidungen zum klanglichen Fortgang bei. Regelmäßige musikalische Produktions- und Aufzeichnungsrhythmen treffen auf Prozesse, die
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zu stetig anwachsenden oder zyklischen Verdichtungen klanglicher Aktivität führen. Die von Kaiser angestrebte Chronotektur entfaltet sich, wenn es ihm gelingt, die Zeitfenster so zu setzen, dass sich in ihnen wesenhaft unterschiedliche Prozesse erfahrbar verschränken. Das hierfür notwendige Setzen von Grenzen ist für Kaiser die einzige und entscheidende Option des Komponisten. Grenzen entscheiden über die Struktur und über die innerhalb ihrer wirkenden Relationen. Kaiser betont, die zeitliche Organisation der Dauern in opernfraktal sei »zwar nie etwas Endgültiges und trotzdem ist sie notwendig, denn man braucht doch einen Widerstand oder einen Standpunkt. […] Das unglaublich Komplizierte und Wichtige ist, diesen Standpunkt auf bewegtem Terrain zu setzen.«243 Das hier angesprochene Verhältnis von Beharrungs- und Bewegungsvermögen ist nicht nur entscheidend für das Verständnis des von ihm angestrebten Fließgleichgewichts, es verweist auch auf Kaisers Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen künstlerischer Konzepte. Wie entwickelt man ein Konzept, bei dem die Fortentwicklung das Konzept selbst verändern können muss. Eine Konzeptkunst, die nicht bereit ist, das Konzept zu verändern, finde ich zu statisch gedacht. Dann hat auch das Sich-in-der-Zeit-Bewegen keinen Sinn. Das wäre zutiefst unmusikalisch und unzeithaft.244 Kaiser reflektiert im Gespräch explizit die Möglichkeiten und Grenzen seiner Autorschaft.245 Wenn er seine Aufführungen für kontingente Prozesse öffnet, erfordert dies, die Eigenlogik anderer beteiligter Subjekte – und dazu zählen auch Lebewesen wie Pflanzen und Insekten – mitzudenken. Das Definieren von Raumund Zeitrastern ist daher für jede Aufführung die eigentliche Herausforderung.
2.6.5. Zum Verhältnis von Denk- und Praxisraum in opernfraktal Hier soll nun überprüft werden, inwiefern Kaisers Denkfiguren und Konzepte sich in seiner Material- und Produktionsästhetik abbilden. In biologischen Systemen kann ein ausgeglichener Zu- und Ablauf von Elementen quantitativ nachgewiesen werden. Für ein musikalisches System ist dies quantitativ nicht möglich. Die Idee des Fließgleichgewichts muss daher für Kaisers Kompositionspraxis als Modell verstanden werden, das sich qualitativ an bestimmten Werkstrukturen, Aufführungspraktiken und Konfigurationsprinzipien ablesen lässt. Kaisers Gesamtwerk opernfraktal ist der permanente Versuch, die Prinzipien eines offenen und dynamischen Systems musikalisch umzusetzen, indem bei jeder neuen Aufführung neues und mitgeführtes musikalisches Material sowie definierte und kontingente Dauern 243 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 244 Ebd. 245 Ebd.
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kombiniert werden. Dafür sorgen produktionsästhetisch die Verfahren der Wucherung und der linearen Überschreibung. Voraussetzung dafür sind Werkstrukturen, die rekombinierbar sein müssen und prozesshaft angelegt sind. Parallel zu opernfraktal arbeitet Kaiser an weiteren prozesshaften Einzelwerken, die er wahlweise in opernfraktal integrieren kann, wie zum Beispiel die Grünen Bilder oder die parallel bücher. Die Rekombinierbarkeit gilt also nicht nur für Kompositionssequenzen, sondern auch für ganze Einzelwerke. Die Analyse der Material- und Produktionsästhetik von opernfraktal hat gezeigt, dass die Kompositionen an einem ort – an einem anderen ort und UNTERHOLZ auf je spezifische Weise geeignet sind, prozesshaftes und rekombinierbares audiovisuelles Material zu generieren. Die Analysen der Raum- und Zeitstrukturen der drei Aufführungen von opernfraktal verdeutlichten, dass in an einem ort – an einem anderen ort das audiovisuelle Material linear wächst, während es in UNTERHOLZ nicht linear wächst. Diese beiden Kompositionen beziehungsweise ihre Aufführungen führen also zu einem unterschiedlich starken Zufluss an Material zum Gesamtsystem opernfraktal. Jedoch entscheiden erst die Schichtungen, die Kaiser bei jeder Aufführung vornimmt, über das Verhältnis von altem und neuem Material. Die Eigenheiten audiovisueller Materialschichtung sorgen durch Interferenzen und Auslöschung dafür, dass nicht das gesamte Material identifizierbar bleibt. Produktionsästhetisch zeigt sich hier, dass nicht jede der Biologie beziehungsweise Ökologie entlehnte Idee ein kompositorisches Verfahrenspendant haben muss. Das angestrebte Fließgleichgewicht lässt sich offensichtlich über verschiedene Wachstumsmodelle erreichen. Entscheidend bleibt die Schichtung. Ähnlich verhält es sich mit dem Modell des Rhizoms. Das Rhizom ist, spätestens durch die im postmodernen Diskurs wieder aufgeflammte Diskussion um die gleichnamige Schrift von Deleuze und Guattari,246 zu einer Denkfigur hierarchiefreier, gesellschaftlicher Beziehungen geworden. Postmodernes vernetztes Denken, so die Argumentation, zeichne sich im Gegensatz zum linearen Wachstumsmodell eines Baumes durch Querverbindungen unterschiedlicher Ebenen aus, da alle Ebenen in alle Richtungen wachsen. Wissensorganisationen, die baumartig wüchsen, leisteten der Festigung von Hierarchie und Herrschaft bis zur Diktatur Vorschub. Netzartige Wissensorganisationen hingegen ermöglichten hierarchiefreie Beziehungen.247 Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass dieser Transfer aus der Botanik in die Gesellschaftswissenschaften einige Unschärfen aufweist.248 Zum einen besitzen nur rhizomartige Gewächse mit sympodialer Verzweigung das Potenzial der Neuausrichtung des Wachstums. Zum anderen zeigen
246 Deleuze und Guattari, Rhizom. 247 Ebd., S. 26ff. 248 Zeißig, »Zum Begriff der Wucherung«, S. 327, zeigt dies anhand der von Deleuze und Guattari abweichenden Definition der Wucherung (prolifération) durch Boulez.
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Analysen heutiger Funktionsweisen netzwerkartig generierten Wissens, dass die Struktur des Netzes allein mitnichten Hierarchiefreiheit sichert. Nicht die Funktionsweise einer Technik bestimmt den Umgang mit ihr, sondern der Umgang mit einer Technik bestimmt ihre Funktion. In der poststrukturalistischen Rezeption dieses Ansatzes wurde daher die Opposition von Baum versus Rhizom bereits dialektisch kritisiert. Multipolarität erwächst demnach nicht aus einer Überwindung der Unipolarität, sondern beides existiert als zweckvolles Modell nebeneinander.249 Interessant und tragfähig für den Transfer des Rhizoms als Metapher aus der Botanik in Marcus Kaisers Kompositionspraxis ist hingegen das Potenzial an Eigendynamik, das den Einzelwerken des Gesamtwerks opernfraktal inhärent ist. Die Rekombinierbarkeit dieser Einzelwerke macht immer wieder neue Verdichtungsmuster möglich.250 Dabei müssen nicht alle Einzelwerke das Verfahren der Wucherung aufweisen. Es reicht, wenn ein einziges das tut. Kaiser erliegt nicht der naiven Annahme, ein naturgleich wucherndes Material berge eine besondere Kreativität in sich, die der Künstler nur zeigen müsse.251 Kaiser denkt und komponiert – anders als Boulez252 – nicht von einer festen Werkform aus, sondern ausgehend von der von ihm angestrebten Chronotektur, also zeitlicher Diversität. Seine Werkform ist die je festgelegte Dauer einer Aufführung, die Verdichtungsmuster zeigen soll. Das heißt, bei Kaiser wird die Dauer der Verdichtung angepasst. Seine Schnittpraxis während und zwischen den Aufführungen macht aus dem audiovisuellen Material erst Fraktale im eigentlichen Sinne, indem Teile heraus- und in neue Kontexte hineingeschnitten werden. Das Fraktal, eine weitere Denkfigur Kaisers, gilt daher
249 »Der Poststrukturalismus denkt sowohl in differenten Vielheiten wie in Zusammenhängen. Das dabei entstehende Bild von Einheit und Vielheit ordnet die Vielheit der Einheit nicht identitätslogisch unter bzw. sie verfällt nicht in bloß nominalistische Opposition, die nichts am Baumschema ändert. Vielmehr verweben sich Einheit und Vielheit ineinander und weder existiert das eine vor oder über dem anderen noch hebt das eine das andere auf. Keines gibt es ohne das andere.« Siehe Gabriel Kuhn: Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden: Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus, Münster 2005, S. 63. 250 Die Graphiken im Anhang zeigen, wie aus der gezielten Kombination zeitlich unterschiedlich strukturierter Einzelwerke innerhalb von opernfraktal eine Partitur unterschiedlicher Verdichtungen entsteht. Siehe Anhang: Grafiken. 251 Wilke, Landscape revisited, S. 116 verweist mit Bezug auf Benoît Mandelbrots Fraktalgeometrie auf eine wiederkehrende Genieästhetik im Gewand der Naturästhetik. 252 Boulez denkt Wucherung als etwas durch das Werk Einzuhegendes, als etwas, das der Werkform angepasst werden muss: »Ich weiß, dass die Tendenz zur Wucherung gefährlich ist, weil sie zur immer gleichen Dichte führen kann, zu einer größten Dichte, einer höchsten Spannung oder einer äußersten Variierung in jedem Augenblick. Ich habe also in vielen Fällen reduzieren müssen, die Möglichkeiten beschneiden oder sie so in eine Abfolge bringen müssen, dass sie eine Entwicklung in der Zeit nahmen und nicht zu Überlagerungen führten, die zu kompakt gewesen wären.« Pierre Boulez: Wille und Zufall: Gespräche mit Célestin Deliège und Hans Mayer, Stuttgart 1977, S. 15.
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nicht für seine Material-, sondern Produktionsästhetik. Seine Schnittpraxis sorgt für einen Aufführungsraum, in dem diverse Dauern mit- und nebeneinander existieren. Einige nehmen aufeinander Einfluss, andere koexistieren. Während die Koexistenz künstlerischer Werke innerhalb eines Kontextes zu den gewohnten Gegebenheiten unserer Ausstellungspraxis gehört, stellen Werke, die aufeinander Einfluss nehmen, eine Besonderheit dar. Kaiser praktiziert mit opernfraktal zeitliche Synchronizität und Symbiosen. Die Partitur der Raum- und Zeitraster von opernfraktal21tage zeigt, dass die Raumraster alle synchron zueinander angeordnet sind und bleiben. Auf der Ebene der Zeitraster hingegen gibt es strukturelle Verflechtungen, die hier Zeitsymbiosen genannt werden sollen. Der der Biologie entstammende Begriff Symbiose meint das Miteinander verschiedener Arten zum gegenseitigen Nutzen, Synchronizität hingegen bedeutet ein gleichzeitiges Nebeneinander verschiedener Prozesse. Eine Komposition wie an einem ort – an einem anderen ort lebt strukturell davon, dass altes sich mit neuem Material verbindet. Die Klanginstallation wiederum geht eine Symbiose mit den konzertanten und lebensweltlichen Dauern ein. Beide werden von der Installation aufgenommen und wieder in sie eingespielt. Gemeinsam generieren sie einen klanglichen Lebensraum. In diesem Lebensraum wird permanent komponiert und aufgeführt.
2.6.6. Zusammenfassung: Lebenszeitkunst als überzeitlicher Kompositionsansatz bei Marcus Kaiser In Marcus Kaisers Gesamtwerk opernfraktal treffen diverse musikalische Prozesse und Dauern aufeinander. In den Aufführungen von opernfraktal lassen sich vier Konfigurationstypen der Verflechtung von Dauer und Klang identifizieren: A B C D
Definierte Dauer und definierter Klang Definierte Dauer und kontingenter Klang Kontingente Dauer und definierter Klang Kontingente Dauer und kontingenter Klang
Typ A entspricht dem Einzelwerk an einem ort – an einem anderen ort. Dem Typ B können die in der Aufführung opernfraktal/spinozawucherung hörbar gemachten Pflanzen zugeordnet werden. Typ C entsprechen die lebensweltlichen Raum- und Zeitraster aller Aufführungen. Die partizipativen Akteure der Aufführungen schließlich können Typ D zugeordnet werden. Das Gesamtwerk opernfraktal in seiner Verbindung aus Lebenszeit, Kompositionszeit und Aufführungszeit zeichnet sich selbst durch eine Verflechtung von definierten und kontingenten Dauern aus. Die Gesamtdauer von opernfraktal ist aufgrund seiner untrennbaren Verbindung mit der Lebenszeit Kaisers kontingent. Dies trifft auch auf die Dauern zwischen den Aufführungen zu. Die Aufführungen
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sind zeitlich definiert und klanglich durch die Vielfalt der in ihnen stattfindenden audiovisuellen Verflechtungen kontingent. Um innerhalb dieser Verflechtungstypen diejenigen zu identifizieren, die eine überzeitliche Qualität besitzen, soll hier der Terminus der offenen Form näher betrachtet werden. Der Begriff enthält bereits ein Paradox, nämlich das einer Grenze mit offenen Ein- und Ausgängen. Solche offenen, dynamischen Formen können definierte und überzeitliche Dauern enthalten. Deshalb sollen nun diejenigen mit überzeitlichem Charakter identifiziert werden. Wie bereits erörtert, werden mit Überzeitlichkeit zwei produktionsästhetische Praktiken gefasst: die innermusikalische Zerdehnung einer Werkstruktur und die Zerdehnung eines Gesamtwerks über das von einem Menschenleben erfassbare Maß hinaus. Opernfraktal enthält vier überzeitliche Dauern. Der Praktik der innermusikalischen Zerdehnung entspricht das Einzelwerk an einem ort – an einem anderen ort, dessen Verfahren der linearen Überschreibung für eine zeitliche Spreizung der musikalischen Entwicklung bis hin zur Zerdehnung sorgt. Drei weitere Dauern können der Praktik der Zerdehnung des Gesamtwerks opernfraktal zugeordnet werden. Dazu zählen dessen lebenszeitliche Dehnung und die Dehnung der Aufführungen auf ein Maß, das das Werk als Ganzes entgrenzt. Als drittes Element treten Pflanzen hinzu. Ihr Wachstum fügt sowohl dem Lebens- als auch dem Aufführungsraum einen vegetativen Rhythmus hinzu und ist damit nicht an Kaisers Lebens- und Werkzeit gebunden. Kaisers Modell des Fließgleichgewichts sowie die Kompositionsverfahren des Werkrecyclings und der Wucherung entstammen ideengeschichtlich dem Kontext der Ökologie. Seine Kompositionspraxis weist eine Verwandtschaft zur Gartenbaukunst auf, wie sie in den englischen Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts verkörpert wurde.253 Interessant an dieser Traditionslinie ist, dass sie als Absatzbewegung von einer als Einengung empfundenen Tradition allzu perfektionistisch entwickelter Kunstfertigkeit entstand. Kaisers Verortung seiner Kunst als Garten ist ein Widerhall der Hirschfeld’schen Charakterisierung der Natur als einer Lehrmeisterin der Kunst; ein Garten sei »eine von der Kunst nachgebildete Gegend, zur Verstärkung ihrer natürlichen Wirkung«.254 Kaiser überträgt diesen Ansatz auf die Arbeit mit dem Faktor Zeit. Sein Modell der Chronotektur beinhaltet die Integration von Raum- und Zeitrastern in eine Partitur der zeitlichen Vielfalt. Vegetative 253 Die englischen Landschaftsgärten unterschieden sich von den französischen Gärten ihrer Zeit durch die bewusste Verbannung des Ebenmaßes und die zielgerichtete Herstellung von naturwüchsig anmutender Raumkomposition. Siehe Marie Luise Gothein: Geschichte der Gartenkunst, Bd. 2: Von der Renaissance in Frankreich bis zur Gegenwart, Jena 1926, S. 376f. Ein Gärtner namens Bridgeman war 1724 der erste, der die Grenze zwischen Garten und offener Landschaft durch einen Graben, den man erst aus der Nähe sah, öffnete: »der Garten war nunmehr nur noch der Vordergrund für die weite Landschaft dahinter.« Ebd., S. 371. 254 Christian Cay Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, Bd. 2, Hildesheim u.a. 1996, S. 26.
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Prozesse sollen mit humanen und medialen Prozessen interagieren. In diesem Zusammenhang bekommen die Dauern zwischen den Aufführungen, ebenso wie die nicht konzertanten Zeiten innerhalb der Aufführungen, eine ganz eigene Bedeutung. Hierin spiegeln sich die unterschiedlichen Dauern notwendiger Rekreation wider. Sie sind keine Pausen im Sinne von Unterbrechungen, sondern Ruhephasen innerhalb eines künstlerisch-lebensweltlichen Wachstumszyklus. Dass Kaiser über das bloße Zeigen von ihm komponierter Prozesshaftigkeit und Vielfalt nach Art der Gartenbaukunst hinausgeht, zeigt sich insbesondere an seiner Reflexion von Autorschaft. Sie impliziert ein gewisses Maß an Kontingenz, wie sie für die Landschaftsgärten des 18. Jahrhunderts noch nicht gedacht werden konnte. In diesen wurden zwar Bilder von Naturwüchsigkeit geschaffen, der Natur wurde jedoch kein Raum zur kontingenten Selbstentfaltung gestattet. Zentral für die musikalische Einlösung einer offenen Form ist das Setzen und Nachjustieren von Grenzen wie von Ein- und Ausgängen. Kaiser denkt die ständige Nachjustierung der Zeitpartitur von opernfraktal, die sowohl in den Aufführungen als auch zwischen ihnen stattfindet, mit.255 Er praktiziert eine kontrollierte Werköffnung durch die Integration lebensweltlicher Prozesse. Dadurch setzt er die Beteiligten und das klingende Material einer gewissen Unvorhersehbarkeit aus. Das in opernfraktal angestrebte Gleichgewicht aus definierten und kontingenten Dauern ist somit potenziell immer gefährdet. Handlungen in den lebensweltlichen Raumund Zeitrastern können geplante konzertante Dauern verschieben, wodurch sich das gesamte durch lineare Überschreibung gebildete Material auf unvorhersehbare Weise verändert. Die Partizipation des Publikums kann eine Aufführung torpedieren. Pflanzen und Insekten können sterben. Die Aufzeichnungstechnik kann versagen. Kaiser reflektiert diese Unwägbarkeiten: »Man darf auch nicht ausblenden, dass die offene Situation eines Gartens immer zerstört werden kann.«256 Die Raumraster und die in ihnen platzierten Materialien verweisen auf einen weiteren Aspekt von Kaisers reflektierter Autorschaft. Sie zeigt sich in der Aufführung feindtönung – opernfraktal (2014) bereits in der Auswahl der den Kubus bewohnenden Spezies. Das evolutionär erst spät entstandene Miteinander von Farnen und Insekten, das Kaiser in seinem Glaskubus platziert, entpuppt sich bei genauer Betrachtung als eine menschengemachte »Natur« nach der Natur. Die physischen Grenzen, die feindtönung setzt, problematisieren heutige Definitionen von Umwelt. Kaiser verlagert musikalische, lebensweltliche und vegetative Prozesse in einen geschützten Raum, von dem aus auf einen dystopischen Ort, eine Industrieruine, geblickt wird. Eine lebbare Umwelt befindet sich eher im Kubus als um ihn herum. Genau solche künstlichen Szenarien sind es jedoch, die heute eine Chronotektur ermöglichen. Diversität entsteht im 21. Jahrhundert nicht mehr aus natürlicher 255 Siehe Anhang: Komponistengespräche. 256 Ebd.
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Urwüchsigkeit, sondern muss künstlich erzeugt werden. Kaiser begreift sich als Autor solcher Prozesse, in denen sich Vielfalt entwickeln und in denen sie erlebt werden kann. Sein Denk- und Praxisraum besitzt eine Schnittstelle zur ökologischen Naturästhetik. Böhme257 möchte den von ihm Ende der 1980er-Jahre eingeführten Terminus der ökologischen Naturästhetik als Beitrag zu einer neuen Naturphilosophie verstanden wissen. Seine ökologisch-naturästhetische Perspektive rückt die Natur als Naturhaftigkeit des Menschen in den Mittelpunkt. Die Frage, was Natur noch sein könne, stellt sich vor dem Hintergrund globaler Umweltkrisen zu jener Zeit immer drängender. Böhme verweist darauf, dass sich in Umweltkrisen die Destruktivität des Menschen seiner eigenen Naturhaftigkeit gegenüber spiegelt.258 Der ökologische Aspekt der von ihm entworfenen Naturästhetik zeigt sich daran, dass »das Ästhetische als eine Dimension des Gegenstandes Natur selbst« begriffen wird.259 Böhmes historischer Anknüpfungspunkt ist der englische Landschaftsgarten als Vorläufer der Bloch’schen Allianztechnik.260 Kaisers Kompositionspraxis kann als eine solche Allianztechnik im Geiste der ökologischen Naturästhetik verstanden werden. In opernfraktal erhält das Setzen von Dauern einen ästhetischen Eigenwert. Kaiser denkt und praktiziert Autorschaft als kontrollierte Werköffnung. Sein Ziel ist, zeitliche Diversität erfahrbar zu machen. Dieses Beziehungshafte seiner Denk- und Kompositionspraxis verbindet ihn mit anderen Komponisten der Gruppe Wandelweiser, wie Antoine Beuger.
2.7. Antoine Beuger und Marcus Kaiser: John Cage weiterdenken Cage eröffnete Denkwege, die zu produktiver Weiterentwicklung einladen. Wie gezeigt wurde, haben Wandelweiser-Komponisten wie Antoine Beuger und Marcus Kaiser dabei eigene Wege beschritten. Das Gemeinsame ihrer je eigenen Ansätze besteht im Thema der Beziehungshaftigkeit: der Beziehung zwischen Klang und Stille, zwischen Stille und Ereignis, zwischen Kontinuität und Endgültigkeit, zwischen der Zeit des Menschen und der Zeit anderer Akteure. Wandelweiser-Komponisten, so Michael Pisaro, betrachteten Cages Stück 4’33’ »nicht als Witz oder als Zen-Koan oder als philosophische Aussage […]: es wurde als Musik gehört. Auch 257 258 259 260
Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik. Ebd., S. 8/9 u. 24. Ebd., S. 51. Ernst Bloch tritt bereits in den 1940er-Jahren der Ansicht entgegen, die Natur sei durch vollständige Erforschung und Kontrolle an ihr Ende gelangt. Der Mensch, so Bloch, sei in der Lage, eine »Allianztechnik« zu entwickeln, um sich mit der nach wie vor gegebenen »Mitproduktivität der Natur« zu verbinden. Siehe Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Kap. 33–42, Frankfurt a.M. 2013, S. 807.
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wurde es im besten Sinne als unvollendetes Werk gesehen: es schaffte neue Möglichkeiten für die Kombination (und das Verständnis) von Klang und Stille.«261 Motte-Haber verweist darauf, dass die Künste des 20. Jahrhunderts antraten, Rahmen zu überschreiten und aufzulösen.262 Sie exemplifiziert dies an Cages Komposition 0’00’ (1962) und zeichnet den Weg nach, den Cage von 4’33’ bis 0’00’ konzeptionell ging. 0’00’ trägt in Klammern die Hinzufügung (4’33’ no. 2). Die Textpartitur besagt: »In a situation provided with maximum amplification (no feedback), perform a disciplined action.«263 Während Cage in 4’33’ Dauern der Stille festlegt, gibt es in 0’00’ keine gesetzten Dauern mehr.264 Cage löst also den Zeitrahmen auf und hält an seiner Autorschaft allein durch die Definition einer Aktion fest. Beuger setzt sich damit auseinander und geht einen anderen Weg. Er betont immer wieder, dass das Wichtigste an 4’33’ das Setzen von Grenzen sei und wie wichtig genau das für das Komponieren sei. Es sei überhaupt die einzige Entscheidung von Belang. Beuger führt Cages 0’00’ – auch innerhalb des KLANGRAUMS – nicht auf, sondern hält daran fest, Dauern zu setzen. Innerhalb dieser Grenzen will er Möglichkeiten ausloten. Er verlässt sich mit Cage darauf, dass die Stille ein zeitliches und klingendes Kontinuum ist. Von dieser Position aus sind aber unterschiedliche Wege denkbar. Cage geht mit 0’00’ einen Schritt weiter, hin zur vollkommenen Entgrenzung des Ästhetischen in den Alltag. Autorschaft bedeutet nun, ein »Konzept eines nur prozessualen, ephemeren Geschehens«265 zu entwerfen. Beuger entscheidet sich anders. Er will die Erfahrung klingender Kontinuität mit der Erfahrung biografischer Geschichtlichkeit verknüpfen, und das bedeutet, Kontinuität und Unumkehrbarkeit in ein Verhältnis zu setzen. Beugers Selbstbefragung von »Cage brachte mich auf die Frage: Wieso ereignet sich hier eigentlich nichts?« bis zur Erkenntnis »Doch da sträubte sich etwas in mir und ich sagte: Aber es gibt doch auch das, was es nicht mehr gibt«,266 zeigt die Spanne der Auseinandersetzung um Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit an, die in ihm durch Cage 261 Michael Pisaro, WANDELWEISER, Internetquelle, a.a.O. 262 Helga de la Motte-Haber: »›Invade areas where nothing’s definite‹ (John Cage). Kunst jenseits des goldenen Rahmens«, in: Julia H. Schröder und Volker Straebel (Hg.): Cage and Consequences, Hofheim 2012, S. 15-21. 263 John Cage: 4'33' (no. 2); (0'00'); solo to be performed in any way by anyone, New York (Edition Peters 6796) 1962. 264 Cage bezeichnet dies in Anlehnung an Christian Wolff als »Zero Time«: »You see, if music is conceived as an object, then it has a beginning, middle, and end, and one can feel rather confident when he makes measurements of the time. But when it [music] is process, those measurements become less meaningful, and the process itself, involving if it happened to, the idea of Zero Time (that is to say no time at all), becomes mysterious and eminently useful.« John Cage: »Interview. Gespräch mit Roger Reynolds und Robert Ashley (1961)«, in: Robert Dunn (Hg.): John Cage, New York 1962, S. 45-52 (S. 48). 265 Motte-Haber in Schröder und Straebel (Hg.): Cage and Consequences, S. 17. 266 Siehe Anhang: Komponistengespräche.
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ausgelöst worden ist. Sein Nachdenken über 4’33’ mündet nicht in den Impuls, ästhetische Zeitlichkeit in klingender Kontinuität aufgehen lassen zu wollen, sondern Ereignishaftigkeit und Kontinuität in einer musikalischen Form zu fassen. Sabine Sanio weist darauf hin, dass Cage die musikalische Form radikal infrage stellt: »[…] bei ihm hat sie nur noch den Charakter eines Rahmens, in dem die Phänomene präsentiert werden.«267 Beuger stimmt mit Cage darin überein, dass die Phänomene immer schon da sind. Doch in Beugers Umgang mit der Stille ist ablesbar, wie er eine andere Konsequenz daraus zieht als Cage. Zuerst ist sie – ganz im Sinne Cages – eine Dauer, in der alles willkommen geheißen wird (siehe silent understanding, ew01.009, 1991), dann ist sie ein Akt der Kommunikation, denn Schweigen heißt Zuhören (siehe silences (für Mundharmonika), ew01.016, 1992), schließlich ist sie selbst ein Ereignis (siehe first music for marcia hafif, ew01.032, 1994). Für Beuger bleibt es entscheidend, an 4’33’ als Werkform festzuhalten und sie nicht in 0’00’ aufzulösen, denn die Auflösung von Dauergrenzen würde die Ereignishaftigkeit von Musik für ihn in Frage stellen. Einem Ereignis treu sein heißt: den neuen Wahrnehmungen und Empfindungen, die durch dieses Ereignis geschaffen wurden, nachzugehen, sie zu fördern, sie weiterzuentwickeln: alles herauszufinden und herauszubringen, was in ihnen enthalten ist. 4'33' treu sein heißt: es immer wieder zu hören; wahrzunehmen, was beim Hören passiert; Absichtslosigkeit üben; immer wieder Möglichkeiten zu finden, wie sich Musik als reines Erklingen ereignen kann.268 An der Form der Dauergrenze festzuhalten, eröffnet Beuger die Chance, von Grenzen zu erzählen, die er selbst erfahren hat. Er interpretiert seine biografische Erfahrung mit Verlusten als eine Erfahrung des unwiederbringlichen Verschwindens. Was auf diese Weise verloren ist, geht nicht ein in ein Kontinuum, auf das er zurückgreifen kann. Es bleibt verloren. Dahinter kann er als Mensch nicht zurück. Davon soll seine Musik (auch) künden. Aus dieser Grunderfahrung speist sich sein Ringen um ein musikalisches Verhältnis von Klang und Stille. Beuger denkt Cage auf zweierlei Weise weiter: Er entscheidet sich implizit gegen dessen 0’00’, um im Sinne von 4’33’ komponieren und wirken zu können. Das Setzen von Dauern ermöglicht ihm einerseits, die Erfahrung der Endlichkeit in eine musikalische Form zu bringen; es ermöglicht andererseits, innerhalb der Grenzen dieser Dauern auf eine real erfahrbare Unendlichkeit zu verweisen, denn seine Vorstellung der Unendlichkeit ist eine diesseitige im Sinne Alain Badious.269
267 Sabine Sanio: »Werk – Prozess – Situation. Zum Konzept ästhetischer Erfahrung bei John Cage«, in: Schröder und Straebel (Hg.), Cage and Consequences, S. 23-33 (S. 26). 268 Beuger, »Grundsätzliche Entscheidungen«, S. 9. 269 Badiou, Sein und Ereignis, S. 164-166.
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Während es bei Antoine Beuger um die Beziehung zwischen Klang und Stille geht, rückt Marcus Kaiser produktionsästhetisch die Beziehungen zwischen gleichzeitig verlaufenden Prozessen in den Mittelpunkt. Cage war von der Koexistenz und der Verfügbarkeit alles Klingenden ausgegangen. Seine Idee gegenseitiger Durchdringung270 wird von Kaiser weitergedacht. Die von diesem in opernfraktal komponierten diversen zeitlichen Prozesse sollen sich nicht nur durchdringen und sich dabei nicht behindern, sondern auch gegenseitig befruchten. So wird aus Diversität – der Vielfalt des Nebeneinanders – Symbiose, das Miteinander musikalischer Dauern und Prozesse. Aus einer Struktur der Verflechtung bei Cage wird so eine der Beziehung bei Kaiser, eine Beziehung zwischen Materialien und Dauern. Beuger und Kaiser beschäftigt in der Nachfolge von Cage die Frage, wie viel man als Komponist selbst tun muss, um geschehen zu lassen. Für Kaiser wird dies virulent, wenn er sich mit natürlicher Diversität auseinandersetzt. Cage war von der permanenten Verfügbarkeit eines klingenden Kosmos ausgegangen. Stille ermöglichte, in ihn hineinzuhören. Kaiser betrachtet diese Verfügbarkeit kritisch. Mit opernfraktal kreiert er einen ästhetischen Raum, der heutige Begriffe von Umwelt problematisiert, nachdem auf eine ursprünglich klingende Natur praktisch nicht mehr zurückgegriffen werden kann. Dem Cage’schen Fortschrittsoptimismus, der sich noch aus der transzendentalistischen Tradition speiste, vermag ein solches Szenario nicht mehr zu folgen. Die Natur, die in opernfraktal klingt, muss von Kaiser vorbereitet werden. Gleichwohl können ihrem Wachsen dann Prozesse abgelauscht werden, die modellhaft auf ästhetische Prozesse übertragen werden. Kaiser entwickelt also den Cage’schen Gedanken eines universellen Klingens weiter, indem er ihn mit der ökologischen Naturästhetik verknüpft.
270 John Cage: »Brief an Paul Henry Lang« 1956, in: Richard Kostelanetz, John Cage, Köln 1973, S. 166/167: »Ich sehe diese Situation, in der ich vergänglich lebe, als ein komplexes Einander-Durchdringen von Zentren, die sich ohne Unterlass in alle Richtungen fortbewegen. Das steht auch im Einklang mit unserem heutigen Wissen über das Wirken der Natur.« (S. 167).
Kapitel 3: Transformative Erhabenheit in der zeitgenössischen Musik
Ist vom Erhabenen die Rede, darf mit Kontroversen gerechnet werden. Auch nach zwei Jahrtausenden Begriffsgeschichte bleibt der Erhabenheitsbegriff attraktiv für aktuelle ästhetische Diskurse. Dies liegt daran, dass das Erhabene die grundsätzliche Frage nach dem Selbst- und Weltverhältnis des Menschen aufruft, gekleidet in das Erhobenwerden durch oder Sicherheben über einen ästhetischen Gegenstand. Da diese Frage, historisch betrachtet, unterschiedlich beantwortet wurde, kursieren in ästhetischen Debatten entsprechend disparate historische Bezüge. In jedem Fall besitzt das Aufrufen des Erhabenen einen hohen Aufforderungscharakter. Es fordert eine Haltung zur ästhetischen Situation. Erhabenheit immer wieder neu zu definieren, ist notwendig, weil die Fallstricke der Instrumentalität nicht verschwinden, sondern sich nur wandeln. Das Erhabene kann im Gewand des Monströsen daherkommen. Ästhetische Situationen, die durch die schiere Größe ihres Gegenstands versuchen, Angst und Schrecken oder wohliges Sichausliefern zu suggerieren, gehören zum Standardrepertoire der Unterhaltungsindustrie. In einer doppelten Vermeidung eines tatsächlichen Sichaussetzens wird ein scheinbar erhabener Gegenstand dabei zuerst überhöht, um ihn dann konsumierbar zu machen. Erhabenheit kann aber auch im Gewand des Religionsersatzes als raunende Ewigkeit auftreten und sich damit einem menschlichen Urbedürfnis esoterisch andienen. Monstrosität und Religionsersatz gehören zum Spektrum des Erhobenwerdens. Die instrumentelle Selbsterhebung ist ein ebensolcher historischer Wiedergänger, zumal vor dem Hintergrund des technologischen Optimierungswahns und der politischen Populismen des beginnenden 21. Jahrhunderts. Selbst- und Weltbeherrschung durch Zeitbeherrschung bleibt attraktiv. Die metaphysischen und instrumentellen Spielarten des Erhabenen kehren regelmäßig wieder. Im Gegenzug lassen sich Ausdrucksformen kritischer Erhabenheit identifizieren, die die Selbststilisierung des Künstlers vermeiden und sich der reinen Konsumption durch ein Publikum entziehen. Wie gezeigt werden konnte, ist in den letzten Jahrzehnten von Komponisten und Klangkünstlern eine Kompositions- und Aufführungspraxis entwickelt worden, die in der Lage ist, eine neue kritische Form der Erhabenheit zu erzeugen.
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Diese wird in der vorliegenden Arbeit »transformativ« genannt. Sie konnte entstehen, indem sich Künstler explizit und implizit mit ihrem und dem Weltverhältnis ihrer Musik beschäftigen, und zwar, indem sie sich mit ihrem Zeitverhältnis auseinandersetzen. Doch weder im Denk- noch im Praxisraum der hier ausgewählten Komponisten spielt der Erhabenheitsbegriff eine Rolle. Nur die von ihnen entwickelten musikalischen Verfahren des Umgangs mit überzeitlichen Dauern waren ein Indiz dafür, dass es hier um ästhetische Situationen gehen könnte, die geeignet sind, den alten Erhabenheitsbegriff neu zu definieren. Im ästhetischen Diskurs ist diese neue Praxis noch nicht angekommen. Diese Lücke sucht die vorliegende Arbeit zu schließen. Der historische Begriffsexkurs ergab, dass Erhabenheit ein historisch spezifisches ästhetisches Spannungsverhältnis zwischen Subjekt und ästhetischem Gegenstand etabliert. Methodisch bedurfte es zunächst der Freilegung der kritischen Analytik des Erhabenen, wie sie von Kant formuliert und in jüngerer Zeit von Lyotard und von Pries vor dem Hintergrund neuer Arten künstlerischer Praxis hinterfragt wird. Diese kritische Analytik ist der Ausgangspunkt für die Formulierung einer anthropozentrismuskritischen Perspektive auf das Erhabene. Dafür hat sich ein Exkurs in die Lebensphilosophie (Bergson, Gebser) als produktiv erwiesen, die der Zeit eine eigenschöpferische Kraft beimisst. Schließlich sollte es um die Analyse einer Kompositionspraxis gehen, die dem Setzen von Dauern einen eigenschöpferischen ästhetischen Wert zugesteht. Die im zweiten Kapitel der Arbeit diskutierten Werke sind Zeitkunst genannt worden. Insbesondere ging es um Werke, die mit den Mitteln der Zeit auf Überzeitlichkeit verweisen. Oft werden solche Werke mit Metaphern der Erhabenheit beschrieben. Deshalb schien es im Vorfeld zielführend, diejenigen Entgrenzungsformen und -verfahren zu identifizieren, die Voraussetzung einer spezifisch kritischen Erhabenheit sind. Dabei zeigte sich, dass es im Wesentlichen darauf ankommt, ob im Akt der Grenzüberschreitung die Grenze zwischen Subjekt und Gegenstand aufgelöst oder aufrechterhalten wird. So stellt Embodiment externalisierte Räume zur Verfügung, die immersiv erlebt werden können. Die Grenzüberschreitung geschieht durch Eintauchen in die Virtualität. Auf diese Weise evozierte Verschmelzungsfantasien können ein Relikt metaphysischer Wünsche sein. Generative musikalische Verfahren wiederum setzen offene Prozesse in Gang, die eine eigenständige Produktivität entwickeln und ihren Autor überdauern können. Sonifikation verklanglicht und ästhetisiert Daten. In beiden Fällen kann das Material durchaus eine Eigenlogik und -dynamik entwickeln, doch erhabene Überwältigung entsteht nicht allein daraus, sondern benötigt Autorschaft und Interpretation. Wenn Zeitkunst die Zeit selbst erlebbar macht, ist es wichtig, nach dem Status der Zeit zu fragen. Wird sie als Materie, Material oder Beziehung verstanden? Der Materie kann sich der Mensch aussetzen, das Material kann er formen, an einer Beziehung wiederum kann er teilhaben. Dominiert er die Beziehung, ver-
Kapitel 3: Transformative Erhabenheit in der zeitgenössischen Musik
schiebt er den Beziehungspartner in Richtung eines Materials. Ob Materie selbst aktiv oder passiv ist, bleibt im abendländischen Denken ebenso umstritten wie die Frage, ob Zeit eine Substanz (Platon) oder ein Bewegungsprinzip (Aristoteles) ist. Die Newton’sche absolute Zeit prägt unser heutiges Alltagsbewusstsein immer noch stärker als die Einstein’sche Relativitätstheorie. Und auch der Materialbegriff der Musikwissenschaft bewegt sich historisch zwischen naturhafter Gesetzlichkeit der Harmonie (Hanslick) und Geschichtlichkeit (Adorno). Die ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren eine Epoche der globalen Bewusstwerdung der Grenzen natürlicher Ressourcen. In der Kunst rückte nun die Zeit als Sujet der Erhabenheit an die Stelle der Natur. Tatsächlich scheint es sich dabei um eine Ressource zu handeln, die nicht aufgebraucht werden kann. Doch damit verändert sich das klassische Subjekt-Objekt-Verhältnis der ästhetischen Situation fundamental, denn wenn die Zeit im lebensphilosophischen Sinne eigenschöpferisch ist, dann ist eine ästhetische Beziehung zu ihr aus menschlicher Sicht eine kontingente Situation. Die Implementierung stiller Zeitdauern in Kompositionen wirft daher die Frage nach dem Verhältnis von Anthropozentrismus und Kontingenz auf. Das selbstbewusste Setzen stiller Dauern, wie es von Wandelweiser-Komponisten praktiziert wird, entspringt dem Vertrauen in das Klingen der Zeit, auch wenn sie still und unwägbar vergeht. Als Konsequenz daraus wurde in der vorliegenden Arbeit das Gesamtzeitfeld der ästhetischen Situation postuliert. Es besteht aus allen subjektiven und nicht-subjektiven Zeitbeziehungen, die eine ästhetische Situation etablieren. Zu den subjektiven Zeitbeziehungen, die dem menschlichen Handeln unterliegen, zählen die Lebenszeit und die ästhetischen Zeitbeziehungen des Aufführenden und des Zuhörers. Zu den nicht-subjektiven Zeitbeziehungen zählen die Dauerverhältnisse zwischen definierten und kontingenten Klängen, der Stille und der Kontinuität. Das Gesamtzeitfeld ist ein musikanalytisches Modell, das seinen Ursprung in der lebensphilosophischen Denkfigur der eigenschöpferischen Zeit bei Henri Bergson und dem Konzept der Aperspektivität bei Jean Gebser hat. Im Gesamtzeitfeld wird, anschließend an die Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour) und an Denkansätze des kritischen Posthumanismus (Braidotti, Barad), sowohl den subjektiven als auch den nicht-subjektiven Zeitbeziehungen ein Akteurstatus zugesprochen. Nur so erscheint es plausibel, Stille als musikalisch klingende Dauer zu komponieren und wahrzunehmen. Kontinuität als fortwährende Veränderung ist das Bewegungsprinzip des Gesamtzeitfeldes. Für seine Analyse ist Anthropozentrismuskritik notwendig. Diese ermöglicht, das Zusammenwirken aller subjektiven Handlungen und nicht-subjektiven Verhältnisse für das Entstehen einer ästhetischen Situation zu erkennen. Anthropozentrismuskritik ist auf die Behauptung eines äußeren Gegenstands angewiesen und befindet sich deshalb in einer identifizierten Begriffstradition, die am ästhetischen Gegenstand außerhalb des Subjekts festhält (Burke, Schelling, Vischer, Hartmann). In dieser begrifflichen Tradition der
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Aufrechterhaltung einer Spannung zwischen innen und außen stehend, konnten an den klassisch erhabenen Kategorien Stille und Überzeitlichkeit die Eigenschaften Qualität, Formhaftigkeit, Grenzhaftigkeit und Beziehungshaftigkeit nachgewiesen werden. Diese gegenständlichen Eigenschaften machen es möglich, dass der Mensch aber auch andere Akteure zu Stille und Überzeitlichkeit im Gesamtzeitfeld Beziehungen aufnehmen können, so wie sie selbst in spezifischer Weise in diesem Gesamtzeitfeld als Akteure auftreten. Die Wandelweiser-Komponisten Antoine Beuger und Marcus Kaiser scheinen zunächst produktionsästhetisch ganz unterschiedliche Wege zu gehen, doch sie verorten sich beide in der Nachfolge John Cages, der begonnen hatte, Stille in seine Werke zu implementieren. Mit Stille als klingendem Ereignis hält Mitte des 20. Jahrhunderts ein Phänomen in der zeitgenössischen Musik Einzug, das völlig unterschiedlichen Traditionen entstammt. Stille als wirkungsvolle Unterbrechung der Rede deklariert bereits Pseudo-Longinos im 1. Jahrhundert n. Chr. als eine Voraussetzung des Erhabenen. Diese Begriffstradition ist jedoch weitestgehend verschüttet, als Cage in den 1950er-Jahren sein stilles Stück 4’33’ komponiert. Sein Zugang zur klingenden Stille speist sich aus dem US-amerikanischen Transzendentalismus und Begegnungen mit der fernöstlichen Philosophie. Beuger reflektiert den Stillebegriff in Auseinandersetzung mit dem europäischen Postmoderne-Diskurs (Deleuze, Badiou), Kaiser denkt Stille und Überzeitlichkeit mit dem poststrukturalistischen Modell des Rhizoms (Deleuze und Guattari) zusammen und schlägt komponierend eine Brücke zur Naturästhetik (G. Böhme). So kehren die altehrwürdigen erhabenen Kategorien der Stille und der Überzeitlichkeit in die Ästhetik des 20. und 21. Jahrhunderts zurück. Die Auffächerung der Arbeit von Beuger und Kaiser in jeweils einen Denk- und Praxisraum schien zielführend, weil beide ihre jeweilige Kompositionspraxis in fortwährender Auseinandersetzung mit außermusikalischen philosophischen Fragestellungen vorantreiben. Beiden geht es um Autorschaft als Teilhabe an offenen Prozessen. Beuger arbeitet mit langen Stille-Dauern, Kaiser mit prozesshaften Langzeitinstallationen. Diese beiden musikalischen Formen drohen auf unterschiedliche Weise den Werkzusammenhang zu sprengen, indem sie ihn durch Leere zer- beziehungsweise überbordende Fülle überdehnen. Wenn Wandelweiser-Komponisten Zeit als Materie bezeichnen, mag dies eine begriffliche Unschärfe sein. Doch diese Unschärfe sorgt für einen produktiven Diskursraum, in dem die Komponisten präzise über die Verortung der eigenen Autorschaft nachdenken, und sie sorgt für einen notwendigen Abstand zum Materialdenken, um das selbstbewusste Setzen von Dauern immer wieder zu hinterfragen und zu legitimieren. Konsequenz dieser selbstreflexiven Praxis sind materialund produktionsästhetische Entscheidungen zum Umgang mit Kontingenz, die zu einem spezifischen Subjekt-Objekt-Verhältnis in ihrer Aufführungspraxis führen.
Kapitel 3: Transformative Erhabenheit in der zeitgenössischen Musik
Dieser Umgang ermöglicht, dass nicht-subjektive Zeitbeziehungen als Akteure auftreten.
3.1. Kontingenz und Überzeitlichkeit als material- und produktionsästhetische Entscheidungen: Zu einem spezifischen Subjekt-Objekt-Verhältnis Wie gezeigt wurde, haben Antoine Beuger und Marcus Kaiser spezifische Verfahren entwickelt, um in ihren Werken kontingente Dauern mit definierten Dauern zu verbinden. Beide arbeiten mit einem Verfahren, das hier »kontrollierte Kontingenz« genannt wird. Dabei fokussieren sie unterschiedliche Aspekte von Zeit. Moment und Dauer sind zwei musikalische Formen der Zeit. Für Beuger steht in calme étendue der Moment zwischen Klang und Stille im Mittelpunkt. Kaiser geht es in opernfraktal darum, wie kontingente Dauern mit (klanglich) definierten Dauern in Beziehung treten können. Beuger und Kaiser wenden sich also mit unterschiedlicher Fokussierung dem gleichen Thema zu, der Beziehung zur Zeit. Beuger gestaltet diese durch werkinterne Zerdehnungsdauern als prekäre Beziehung. Kaiser arbeitet die nicht als ein Werk überschaubare Diversität zeitlicher Verflechtungen heraus. Beugers Interesse richtet sich auf die Unverfügbarkeit des Moments, Kaisers Interesse auf die Unverfügbarkeit der Dauer. Das Hereinbrechen des Unerwarteten, sei es der Moment der Stille oder die Konfrontation mit einer nicht geplanten zeitlichen Verflechtung, kann nur dann Teil einer Werkeinheit sein, wenn der Autor Vertrauen in das Klingen alles Gegebenen hat. Beugers Überzeugung, Zeit sei die »reine Differentialität dessen, was es gibt«, drückt dies aus.1 Kaiser unterstreicht diese Auffassung: »[…] Dauer und Klingen sind fast Synonyme. Alles, was dauert, klingt, und weil alles dauert, klingt alles, und deshalb ist auf eine Art alles Musik.«2 Moment und Dauer enthalten auf je spezifische Weise das Potenzial der Überzeitlichkeit. Der Moment der kontingenten Erfahrung, der Moment des Hereinbrechens der Stille, setzt das vorab gleichmäßig in calme étendue klingende Material einem anderen Ausklingen aus. Der ausklingende Ton verbindet sich mit keinem darauffolgenden Ton, sondern ausschließlich mit den Resonanzen des Raums. Bis die einsetzende Stille vollständig klingt, entfaltet sich eine Dauer des Noch-Klangs, gefolgt von einer Dauer des Nicht-mehr-Klangs, die vom Klingen der Stille abgelöst wird. Die Dauern des Noch-Klangs, des Nicht-mehr-Klangs und des Stille-Klangs sind uneindeutig und für den Aufführenden unwägbar.
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Beuger, »Grundsätzliche Entscheidungen«, S. 9. Siehe Anhang: Komponistengespräche.
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Die der Kontingenz ausgesetzte Dauer öffnet das klingende Material und die Aufführenden für die Prozesshaftigkeit zeitlicher Vorgänge. Grundsätzlich sind sowohl die Fokussierung auf den Moment als auch auf die Dauer Versuche, der Linearität der Zeit zu entfliehen. Kaiser thematisiert dies explizit anhand seines Begriffs des Fraktals: Als Kind denkt man Unendlichkeit mehr als das, was war und das, was sein wird. […] Das wäre auf einen Zeitstrahl bezogen + unendlich und – unendlich. […] Bei einem Fraktal hingegen ist es anders. Z.B. schneidet man eine Linie in drei Teile, löscht den mittleren Teil und macht mit den übrig gebliebenen zwei Teilen dasselbe usw. Dann bekommt man quasi eine Unendlichkeit an Unendlichkeiten. […] An diesem Punkt dringt man ganz ins Jetzt vor. Bezogen auf die Existenz verliert man sich da nicht in diesem Plus und Minus, sondern da geht man ganz in die Unendlichkeit. […] Und das ist es, was ein mathematisches Fraktal macht. Man kann an jedem Punkt unendlich reinzoomen und an jedem Punkt kann man mit dem Raster vergrößern und hat wieder eine Unendlichkeit. […] Das Fraktal sieht als Bild immer wie ein Raum beziehungsweise wie ein Muster aus, aber es ist nur zeitlich zu betrachten und deshalb immer Musik für mich. Wenn man sie erfährt, sind das alles zeitliche Prozesse.3 Auch wenn Kaisers Schnittpraxis, die er hier anhand des Fraktals erläutert, an die Linearität der Zeit gebunden bleibt, so gelingt es ihm in opernfraktal, durch Verflechtung unterschiedlicher zeitlicher Verdichtungsprozesse und ihrer räumlichen Manifestierung zu zeigen, wie innerhalb von Linearität ein Raum für unterschiedlich gerichtete Wachstumsprozesse entstehen kann. Für Beuger und Kaiser wirft die Integration kontingenter Dauern neben material- und produktionsästhetischen Fragen die des Selbstverständnisses von Autorschaft auf. Das Setzen kontingenter Dauern, die ein Werk entgrenzen, ohne es zu sprengen, erfordert einerseits die Formung einer Partitur, andererseits die Öffnung des Werks hin zur Unwägbarkeit. Materialbeherrschung bedeutet in diesem Zusammenhang, das Verhältnis zwischen definierten und kontingenten Dauern genau zu reflektieren und immer wieder neu zu justieren. Ein Werk und sich selbst der Unwägbarkeit auszusetzen, ist eine bewusste kompositorische Entscheidung mit verfahrenstechnischen Konsequenzen. Sie impliziert die Auseinandersetzung mit der eigenen Zeitbeziehung. Die ihr gemäße Kompositionspraxis beinhaltet zwei Implikationen:
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Siehe Anhang: Komponistengespräche.
Kapitel 3: Transformative Erhabenheit in der zeitgenössischen Musik 1. Der Komponist versteht sich als Autor offener Prozesse. 2. Sein Verhältnis zu diesem Prozess ist nicht mehr das einer umfassenden Beherrschung, sondern das einer offenen Beziehung. Folglich geht es produktionsästhetisch nicht mehr um musikalische Materialbeherrschung, sondern darum, sich zum autorisierten Prozess in Beziehung zu setzen.
Überzeitlich konzipierter Musik und Kunst geht es darum, durch das Setzen von Dauern auf die Unendlichkeit der Kontinuität als Bewegungsform von Veränderung zu verweisen. Auf endliche Weise kann so der Mensch an der unendlichen Prozesshaftigkeit teilhaben. Wie gezeigt wurde, sind Stille und Überzeitlichkeit auf besondere Weise geeignet, eine ästhetische Brücke zur Kontinuität zu bauen. An ihnen wird nun der transformative Erhabenheitsbegriff entwickelt.
3.2. Musikalische Stille als nicht aufgelöste Spannung zwischen Werkcharakter und Entgrenzung Musikalische Stille erzeugt spezifische ästhetische Zeitbeziehungen. Dies sei hier anhand der Beziehung zwischen Klang und Stille-Dauern in einer Werkaufführung exemplifiziert.4 Für den Übergang zwischen Klang und Stille-Dauern können folgende Zeitbeziehungen festgestellt werden, die durch subjektives Verhalten von Akteuren realisiert werden: • • • • • • • • •
Zuhörer ↔ Kontinuität Aufführender ↔ Kontinuität ästhetische Zeit Zuhörer ↔ ästhetische Zeit Aufführender Aufführender ↔ Klang Zuhörer ↔ Klang Aufführender ↔ Stille Zuhörer ↔ Stille ästhetische Zeit ↔ Lebenszeit Zuhörer ästhetische Zeit ↔ Lebenszeit Aufführender
Durch nicht-subjektive Verhältnisse von Akteuren werden folgende Zeitbeziehungen realisiert:
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Siehe Anhang: Grafiken, Das Beziehungsmodell Klang – Stille. Die Grafik folgt beispielhaft der systematischen Herleitung aller Zeitbeziehungen des Gesamtzeitfeldes in Kapitel 1.3. Alle Zeitbeziehungen besitzen Akteurstatus. Die horizontalen Felder markieren den zeitlichen Verlauf je eines Akteurs. Die Pfeile zeigen Beziehungen zwischen Akteuren an.
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• • •
Klang ↔ Kontinuität Klang ↔ Stille Stille ↔ Kontinuität
Der Komponist wird in dieser Grafik vernachlässigt. In den hier diskutierten Kompositionen sind Komponist und Aufführender insofern austauschbar, als dass sich beide dem Verfahren der kontrollierten Kontingenz unterwerfen. In den kontingenten Dauern geschieht durch das Eindringen nicht intendierter Klänge der Entzug der Verfügungsgewalt über die ästhetische Situation, unabhängig davon, ob der Komponist oder der Aufführende die Dauer der Stillen kennt. Entscheidend ist nicht das Wissen um die Quantität, sondern der Vollzug der Qualität dieser Dauern. Der Aufführende vollzieht einerseits die Einschreibung musikalischer Dauer in zeitliche Kontinuität, andererseits die Einschreibung ästhetischer Zeit in die eigene Lebenszeit. In der Phase des Übergangs vom Klang zur komponierten StilleDauer weitet sich seine lineare Handlungsperspektive zum Gesamtzeitfeld der ästhetischen Situation. Der Aufführende wird zum Hörenden, und zwar nach außen in Richtung des klingenden Übergangs und anderer Zuhörer, sowie nach innen in Richtung der in ihm klingenden Stille. Mit seiner körperhaften Präsenz, das heißt mit seiner Lebenszeit, sichert er das Andauern der ästhetischen Situation. Die klingende Stille allein würde dafür nicht reichen, denn sie könnte die ästhetische Zeit gegen die Lebenszeit nicht behaupten. In dieser Doppelrolle von aktiver linearer Handlung und multiperspektivischer Beziehungsaufnahme zum Gesamtzeitfeld besteht das Spannungsverhältnis des Aufführenden. Durch die Ausführung der Partitur versetzt er sich also in eine Situation, die zwischen Rezipient und Produzent changiert. Seine Perspektive verschiebt sich beständig zwischen Partitur, Ausführung und Beziehungsaufnahme zu anderen Zeitakteuren. Sein Verhältnis zum komponierten Klang ist eindeutig, da er dessen Beginn selbst bestimmt. Ebenso ist die Beziehung zwischen seiner ästhetischen und Lebenszeit durch die Aufführungsdauer eindeutig und konstant bestimmt. Das seiner Verfügungsgewalt Entzogene besteht also nicht in der Quantität der Stille-Dauern, die er schließlich selbst bestimmt hat, sondern in der Qualität der nicht intendierten Klänge während dieser Dauern. Der Zuhörer vollzieht, ebenso wie der Aufführende, eine Einschreibung ästhetischer Zeit in die zeitliche Kontinuität und seine Lebenszeit. In der Phase des Übergangs zwischen Klang und Stille ist er mit der Uneindeutigkeit beider Dauern konfrontiert.5 Dauert die nachfolgende Stille an, muss er entscheiden, wie lange die ästhetische Dauer für ihn anhält. Dies impliziert die Frage, ob er das Andauern 5
Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob es sich um einen analogen Ton mit einer Ausschwingphase oder einen Sinuston handelt, da Sinustöne zwar physikalisch keine Ein- und Aus-
Kapitel 3: Transformative Erhabenheit in der zeitgenössischen Musik
der Aufführung überhaupt an fortgesetzte Klänge bindet oder ob er die Dauer der ästhetischen Zeit anders bestimmt. Besonders lange Aufführungsdauern zwingen ihn in besonderer Weise zu Letzterem und lassen ihn vom Rezipienten zum Produzenten seiner eigenen Aufführung werden. Der Klang besitzt bei einer nachfolgend einsetzenden Stille-Dauer ein Spezifikum: Seine Ränder werden uneindeutig. Der Klang verklingt…, die Stille beginnt zu klingen. Das Spannungsverhältnis entsteht durch das Verhältnis beider zur Kontinuität, denn beide etablieren uneindeutige Dauern. Uneindeutigkeit soll hier nicht als Wahrnehmungsqualität, sondern als produktionsästhetischer Status des jeweiligen Zeitakteurs verstanden werden. Der Klang beziehungsweise die klingende Stille selbst haben ein uneindeutiges und damit gespanntes Verhältnis zur Kontinuität. Es bleibt unklar, wann die klingende Stille tatsächlich den Klang abgelöst hat. Stille-Dauern in Werkaufführungen implementieren kontingente Dauern, in denen der ästhetische Status der Situation prekär wird. Die klingende Stille steht in unterschiedlichen Spannungsverhältnissen zu subjektiven und nicht-subjektiven Akteuren des Gesamtzeitfeldes. Klingende Stille besitzt selbst Kontinuität, teilt aber kein eineindeutiges Verhältnis mit ihr. Stille klingt kontinuierlich, aber Kontinuität ist nicht gleich Stille. Diese Uneindeutigkeit führt zu einem prekären Status der Stille. Das nicht eineindeutige Verhältnis zwischen Stille und Kontinuität lässt sich theoretisch herleiten und praktisch erfahren. Während des Klingens der Stille bleibt es interpretationsoffen, was die Aufführung zu Gehör bringt. Ob es sich um das Klingen nicht intendierter Klänge während der Stille-Dauer oder um das Klingen der Kontinuität als Bewegungsform des Gesamtzeitfeldes handelt, steht nicht fest. Auf diese Weise bleibt das Verhältnis Stille − Kontinuität spannungsgeladen. Ganz anders hingegen verhält sich die Stille zum kontingenten Klang. Man stelle sich vor, in eine kompositorisch gesetzte Stille-Dauer mischt sich ein hör-, aber nicht sichtbarer Straßenmusiker, der seinerseits ein komponiertes Werk spielt. Die Stille-Dauer transportiert dann diese kontingenten, eventuell sogar auskomponierten Klänge und behauptet gerade dadurch ihren Status als Stille-Dauer der laufenden Aufführung. Damit wird eingelöst, dass die einzige kompositorisch definierte Eigenschaft der Stille ihre Dauer ist – wobei Anfang und Ende uneindeutig bleiben. In jedem Fall ermöglicht die Dauer das Auftreten anderer Zeitakteure. Für den Zuhörer wiederum besitzt die Stille gerade durch ihre Kongruenz mit der Kontinuität einen ästhetisch prekären Status und verlangt von ihm eine Entscheidung zwischen ästhetischer und Lebenszeit. Zusammenfassend lässt sich über die vier der Stille zugesprochenen Eigenschaften Qualität, Formhaftigkeit, Grenzhaftigkeit und Relationalität Folgendes schwingphase haben, aber produktionsästhetisch immer in einen Raum gestellt sind und ihre Resonanzen Ausschwingphasen hervorbringen.
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sagen: Musikalische Stille, so die hier vertretene These, ist in ihrer negativen Qualität eine gesetzte Dauer ohne komponierte Klänge und in ihrer positiven Qualität eine radikale Beziehungsoffenheit. Ihre negative Qualität kongruiert mit ihrer Form, das heißt mit ihrer Dauer. Musikalische Stille braucht die Dauer, ansonsten verliert sie ihr ästhetisches Potenzial. Ihre positive Qualität, die radikale Beziehungsoffenheit, ermöglicht ihre Beziehungsaufnahme mit allen anderen Akteuren des Gesamtzeitfeldes. Darüber hinaus agiert die musikalische Stille wie die gläserne Kugel in Jean Gebsers Konzept der Aperspektivität.6 Sie ermöglicht die Beziehungen anderer Akteure zueinander. Auch wenn sie ursprünglich komponiert wird, entwickelt sie ein Eigenleben und wird zu einem nicht-menschlichen Akteur des Gesamtzeitfeldes. Der Akteurstatus kann ihr zugesprochen werden, wenn Handeln im Sinne der ANT, aber auch im Sinne eines kritischen Posthumanismus, von intentionaler Subjektivität entkoppelt und als ein Aufeinanderbezugnehmen verstanden wird. Die musikalische Stille besitzt ein spannungsgeladenes, weil uneindeutiges Verhältnis zum Klang und zur Kontinuität. Diese Uneindeutigkeit gefährdet und sichert zugleich den ästhetischen Status des Werks. Die Stille baut fortwährend eine Brücke zwischen komponierten und nicht intendierten Klängen. Die Stille besitzt relationale Qualitäten. Eine besteht in ihrer Beziehung zum Klang. Klang braucht Stille, Stille braucht Klang. In diesem Aufeinanderangewiesensein steckt eine Dialogfähigkeit. Stille und Klang sind je füreinander notwendige Umgebungen. Beide sind Zeitakteure, die im Kontakt miteinander entstehen. Zwischen ihnen besteht im Sinne der ANT eine zirkulierende Referenz. Der Einheit von Stille und Klang im musikalischen Werkzusammenhang entspricht die Bedingtheit von Sprechen und Schweigen beim Menschen. Sobald das Sprechen zum Dialog wird, erfährt der Mensch die Kontingenz dieser Kommunikationsform. Die Pausen, Unterbrechungen und die Gesamtdauer eines Dialogs sind niemals festgelegt. Für die Erfahrung der in ein Werk einbrechenden Stille besitzt der Mensch also eine erfahrungsbasierte Entsprechung. Der Hörer wird selbst zur Brücke zwischen kontingenter Stille und ereignishaftem Klang. Sein Hören bewegt sich dynamisch zwischen Werk, kontingenten Elementen und Selbstwahrnehmung. Diese Hörerfahrung erfordert eine Entwicklung der eigenen Zeitbeziehung, ein Einüben in eine anthropozentrismuskritische Haltung. Eine Voraussetzung dafür ist das Wahrnehmen einer Krise im musikalischen Verlauf, die eine Entscheidung erfordert. Das Einsetzen der Stille kann eine solche Krise auslösen, denn es verwehrt der Aufführung den gewohnten Verlauf und fordert die menschlichen Akteure auf, musikalische Entwicklung neu zu denken. Es verlangt vom Subjekt, die Dynamik aller Akteure des Gesamtzeitfeldes
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Gebser, Ursprung und Gegenwart, S. 370.
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wahrzunehmen und sich dazu ins Verhältnis zu setzten.7 Das Subjekt muss sein Verhältnis zu kontingenten Klängen und zum Aufführenden, aber auch zur eigenen Lebenszeit neu definieren. Ein Resultat kann durchaus das Verlassen der ästhetischen Situation und somit ihr Abbruch durch den Hörer sein.8 Dies ist ein Indiz dafür, dass Stille eine Aufführung dem Risiko des Zerbrechens aussetzt. Nicht immer gelingt die spannungsreiche Integration nicht intendierter Klänge durch Stille. Komponierte Dauern fordern einen Nach-Vollzug, Stille-Dauern hingegen einen Eigen-Vollzug. Der Nachvollzug gleicht dem Verstehen einer vorgegebenen Dramaturgie, der Eigenvollzug hingegen bedeutet die Erforschung der offenen Situation, der Wahrnehmung von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Die Fülle der in einer solchen Situation möglichen hörbaren Zeitbeziehungen zwischen Dramaturgie und Offenheit vermag Schrecken und Euphorie gleichermaßen zu evozieren, wie es typisch für eine erhabene Situation ist. Wenn es der Aufführung gelingt, diese Spannung aufrechtzuerhalten, eröffnet sie einen Möglichkeitsraum für transformative Erhabenheit. Das Komponieren von Stille-Dauern impliziert das Verfahren der kontrollierten Kontingenz. Stille ermöglicht das autonome Wirken nicht-subjektiver wie subjektiver Akteure innerhalb eines Spannungsverhältnisses von Lebenszeit und ästhetischer Zeit. Durch das Eindringen kontingenter Dauern in die ästhetische Zeit verwandeln sich nicht intendierte Klänge in ästhetische, die Lebenszeit von Rezipienten in eine ästhetische Zeit von Produzenten und die Zeit der Aufführenden in eine Zeit der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Stille-Dauern zeigen, dass die Zeit und auch die musikalische Zeit ohne das Aufführen von Klängen vergehen. Stille nimmt also eine Beziehung zur ästhetischen Zeit wie zur Lebenszeit des Aufführenden und des Hörers auf. Sie verlangt eine Entscheidung zugunsten der ästhetischen oder der Lebenszeit. Stille agiert transparent. Durch ihr Klingen, das durchlässig für andere Klänge ist, können sich die subjektiven und nicht-subjektiven Zeitbeziehungen des Gesamtzeitfeldes weiterentwickeln. Die Kontinuität ist zwar kein Akteur des Gesamtzeitfeldes, doch soll an ihr als Hintergrundfolie aller Akteure festgehalten werden, weil sich an der Kategorie der Überzeitlichkeit zeigen wird, dass Kontinuität als Agens der Zeit verstanden werden kann.
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Im John-Cage-Orgel-Kunst-Projekt Halberstadt gibt es immer wieder längere Stillen, die Monate bis Jahre dauern können. Als in das Aufführungsgebäude, eine ehemalige Kirche, nistende Vögel einzogen, entschieden sich die Betreiber des Projekts, sie nicht zu vertreiben. Die Vögel fügen seitdem dem Klang wie der Stille der Komposition ihren saisonalen Eigenklang hinzu. Ihre Rationalität und Dynamik sind unwägbar. In der Grafik ist diese Krise durch eine geschlängelte Linie im Feld der ästhetischen Zeit des Zuhörers gekennzeichnet. Siehe Anhang: Grafiken.
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3.3. Überzeitlichkeit als nicht aufgelöste Spannung zwischen entgrenzenden Verfahren und begrenzenden Formen Um Überzeitlichkeit in ein positives Verhältnis zur ästhetischen Dauer zu setzen, soll hier zunächst deren Qualität anhand der Begriffe »Agens« und »Form« beschrieben werden. Agens bezeichnet philosophisch »das Prinzip, das die Form einführt«.9 Für die besondere Beziehung zur Überzeitlichkeit, die das Erhabene fordert, gilt, dass sie genau auf der Grenze von Kontinuität und Dauer stattfindet. Doch was ist an der Zeit Agens und was Form? Zwischen Kontinuität und Dauer herrscht keine eineindeutige Beziehung: Kontinuität braucht die Dauer nicht; hingegen benötigt die Dauer sehr wohl die Kontinuität. Nur in ein fortwährend sich Bewegendes können sich Anfang und Ende von Formen einschreiben. Kontinuität soll daher hier als Agens verstanden werden, das Formen von Dauer ermöglicht. Der menschliche Gestaltungsspielraum erstreckt sich auf die Handhabung von Dauern. Das Dauern zugrunde liegende Agens, die Kontinuität, ist hingegen weder gestalt- noch zerstörbar. In diesem Doppelcharakter liegt die Qualität der Überzeitlichkeit als Gegenstand von anthropozentrismuskritischer Erhabenheit. Dies gilt für alle hier verhandelten überzeitlichen Formen. Die Formhaftigkeit von Überzeitlichkeit ist durch die Werkanalysen des zweiten Kapitels gezeigt worden. Vier Formen überzeitlicher Werkdauern wurden identifiziert: die innermusikalische Zerdehnung, die lebenszeitliche Zerdehnung, die Zerdehnung zwischen Aufführungen sowie die Integration vegetativer und medialer Dauern in ein Werk. Daraus entsteht eine Diversität an Verflechtungsmöglichkeiten von humanen, vegetativen und medialen Prozessen innerhalb des Werkzusammenhangs. Die Relationalität, also Beziehungshaftigkeit, dieser überzeitlichen Dauern wurde im zweiten Kapitel anhand der Verflechtung diverser zeitlicher Prozesse innerhalb der Kompositionspraxis von Marcus Kaiser aufgezeigt. Die Grenzhaftigkeit überzeitlicher musikalischer Dauern wird produktionsästhetisch durch das Aufführen offener Werke realisiert. In einem offenen Werk werden eigendynamische Prozesse in ein ästhetisch produktives und aufführbares Verhältnis zueinander gesetzt. Das offene Werk benötigt als produktionsästhetisches Verfahren die kontrollierte Kontingenz. Die Initiierung von künstlerischen Prozessen setzt die Annahme von Entwicklung voraus. Theoretisch könnte sich Zeit auch rein zyklisch vollziehen. Unsere Welt wäre dann eine andere, aber durchaus vorstellbar. Neben die Zyklizität tritt jedoch die gerichtete, den Kreis verlassende Entwicklung. Sie tritt in der Natur unter anderem als Mutation, im menschlichen Denken und Handeln als das Schöpferische oder als Transformation in Erscheinung. Die Zeit bewusst als eigenschöpferischen 9
HWbPhil, Bd. 1, S. 101.
Kapitel 3: Transformative Erhabenheit in der zeitgenössischen Musik
Faktor in der Musik einzusetzen, verfolgt das Ziel, die Transformation musikalischer Akteure und ihrer Beziehungen zueinander hörbar zu machen. Die Dynamik der Zeitbeziehung wurde für den Fall der innermusikalischen Zerdehnung durch Stille diskutiert. Bei einer lebenszeitlichen Zerdehnung des Werks geraten Lebenszeit, Kompositionszeit und Aufführungszeit in eine spannungsgeladene Beziehung. Während die noch erwartbare Lebenszeit linear verläuft und unweigerlich immer kürzer wird, werden prozesshafte Werke immer länger. Andere Stücke werden innerhalb einer Aufführung vielleicht beendet oder initiieren neue. Leben und Werk in eins zu setzen, bedeutet, eine anthropozentrismuskritische Haltung nicht als Ausnahme-, sondern als Regelfall der eigenen Gestaltung der Zeitbeziehung zu verstehen, denn die Einwirkung kontingenter Elemente auf das eigene Leben wird auf diese Weise für das eigene Werk zur dauerhaften Normalität erklärt. Für die Grenzhaftigkeit gilt, wie schon bei der Stille, dass überzeitliche Dauern Entgrenzung und Grenze zugleich in sich tragen, denn während ein Werk niemals ein Leben lang als solches wahrgenommen werden kann, gilt das für ein Leben sehr wohl. Die Entgrenzung des Werks fällt also in eins mit den Grenzen des Lebens. Leben und Komponieren in diesem Modus bedeutet, sich selbst als permanente Transformation zu verstehen. Dieses Verweilen in der Grenzsituation beziehungsweise im permanenten Wandel ist ein tastendes Suchen nach Zeitbeziehungen. Im Fall überzeitlicher Zerdehnung zwischen den Aufführungen eines Werks entsteht eine Spannung zwischen Entgrenzung und Dauergrenzen durch die Rückbindung der Werkzeit an die Lebenszeit, denn daraus bezieht die Aufführung ihre Qualität als Ausschnitt eines fortgesetzten Prozesses. Die innerhalb dieses Ausschnitts hörbaren musikalischen Elemente tragen durch ihre fraktale Qualität das Potenzial der unendlichen Rekombinierbarkeit in sich. Werden in ein lebenszeitliches Werk vegetative und mediale Dauern integriert, entstehen wiederum spezifische Dynamiken. Vegetative Dauern besitzen eigene Zyklen und ein unwägbares Mutationspotenzial. Ihre Integration in ein menschliches Werk fügt diesem daher gleichermaßen Zyklizität und Kontingenz hinzu. Mediale Dauern hingegen folgen dem Prinzip der kontrollierten Kontingenz. Die entsprechenden musikalischen Verfahren können Material zyklisch (lineare Überschreibung) oder unregelmäßig und variabel (Wucherung) verdichten. Daraus entsteht ein unendliches Potenzial an rekombinierbaren Dauern, die durch die Aufführungen in den Rahmen einer Dauer gefasst werden. Die Spannung wird also zwischen entgrenzenden musikalischen Verfahren und begrenzenden musikalischen Dauern gehalten. Unterschiedliche Materialverdichtungen führen zu den verschiedensten zeitlichen Beziehungen während der Aufführungen. Eine kaum überschaubare Diversität von Prozessen erfordert die ständige Reflexion der eigenen Position.
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Überzeitlichkeit kann also formal in Werkdauern übersetzt werden. Dies erfordert spezifische Verfahren und Formen. Zu den Verfahren zählen kontingente Materialverdichtung und Rückbindung des Werks an die Lebenszeit, zu den Formen die zyklische Materialverdichtung und definierte Dauern. Ebenso wie bei der Stille, tendieren die Verfahren zur Entgrenzung des Werks, während die Formen es begrenzen. Gelingt es der Komposition, die Spannung zwischen Verfahren und Form aufrechtzuerhalten, entsteht ein Möglichkeitsraum für Beziehungen zwischen Dauer und Kontinuität und somit für Beziehungen zur Überzeitlichkeit.
Zusammenfassung Die transformativ-erhabene Zeitbeziehung
Aus der Charakterisierung von Stille und Überzeitlichkeit kann nun der transformative Erhabenheitsbegriff entwickelt werden. Transformative Erhabenheit ist eine spezifische Beziehungsqualität einer ästhetischen Situation. Sie besteht im permanenten Wandel aller Beziehungen zwischen subjektiven und nicht-subjektiven Zeitakteuren in einem Gesamtzeitfeld. Die Grenzen zwischen den Akteuren sind fließend, gestalt- und wahrnehmbar. Transformative Erhabenheit wird kompositorisch durch das Verfahren der kontrollierten Kontingenz ermöglicht. Der transformative Erhabenheitsbegriff ist in Abgrenzung zum metaphysischen und instrumentellen Erhabenheitsbegriff ein spezifisch anthropozentrismuskritischer Begriff. Anthropozentrismuskritik impliziert nach der Grundlagenkrise des 20. Jahrhunderts, den instrumentellen Auswüchsen der 1940er-Jahre und dem postmodernen Diskurs seit den 1960er-Jahren heute eine spezifische Vernunftkritik, die ihre Denkkategorien selbst als temporär betrachtet. Für den transformativen Erhabenheitsbegriff, der den zeitlichen Selbstvollzug und das Eigenschöpferische der Zeit betont, gibt es Anknüpfungspunkte in der fernöstlichen Zeitphilosophie und Ästhetik. Um die Plausibilität wie die Grenzen dieser Anknüpfung aufzuzeigen, gilt es zu beachten, welchen Status das Subjekt im Gesamtzeitfeld beansprucht. Es sei daran erinnert, dass es hier um einen Begriff geht, der eine konkrete ästhetische Situation beschreiben kann, nämlich die der kompositionstechnischen Herstellung von Überzeitlichkeit. Diese konkrete Situation ist der Ort der Begegnung von Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit. Einen bislang für den Erhabenheitsbegriff nicht produktiv gemachten Ansatz bietet die buddhistische Zeitphilosophie. Ohne hier eine Denktradition in Gänze darstellen zu können, sollen zwei zentrale Aspekte buddhistischen Denkens kurz angerissen werden, die anschlussfähig an einen transformativen Erhabenheitsbegriff sind.1 Dies geschieht im Wissen um grundsätzliche Unterschiede zwischen 1
Zentral für die buddhistische Zeitphilosophie sind die Schriften Shōbōgenzō des zen-buddhistischen Meisters Dōgen Zenji aus dem 13. Jahrhundert. Siehe Dōgen: Shōbōgenzō: Ausgewählte Schriften: Anders Philosophieren aus dem Zen, übersetzt, erläutert und hg. von Ryōsuke Ōha-
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beiden Philosophien, die ein »Übersetzen« erschweren. Erstens denkt die buddhistische Philosophie grundsätzlich nicht substanzialisierend, sondern relational. Damit entfällt das für die westliche Philosophie notwendige Subjekt der Erkenntnis ebenso wie die Metaphysik.2 Die buddhistische Philosophie konzipiert Zeit als fundamentale Relation. Der Mensch, sein Denken, aber auch die Zeitformen selbst sind nur als Beziehung denkbar, nicht als für sich Seiendes. Damit sind bereits die wesentlichen Schwierigkeiten für ein westliches Verständnis dieses Denkens angedeutet.3 Doch die westliche Philosophie selbst erweist sich als heterogene Denktradition, zieht man allein die fundamental unterschiedlichen Ansätze des Existentialismus und der Lebensphilosophie in Bezug auf die Konzeption der Zeit in Betracht. Die Auseinandersetzung um den Terminus Postmoderne zeigt nicht zuletzt den Versuch, die Einheit des sogenannten westlichen Philosophierens angesichts einer Vielheit von Ansätzen zu bewahren. Insofern gesellt sich zum interkulturellen das intrakulturelle Philosophieren. Für beides ist die Frage nach der Methode essenziell. Diesbezüglich versteht die buddhistische Philosophie Zeit selbst nicht als Denk-, sondern als Vollzugskategorie. Diese Setzung wird bereits von Nāgārjuna vorgenommen, der im 2. Jahrhundert n. Chr. zu den Begründern der buddhistischen Philosophie in Indien gehört.4 Das Verstehen von Zeit bedeutet »Übung
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shi und Rolf Elberfeld, Stuttgart 2006. Siehe auch Dōgen: Shōbōgenzō: Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges von Meister Dōgen (1200–1253), 4 Bde., 3. überarb. Ausgabe, aus dem japanischen Urtext ins Deutsche übersetzt von Ritsunen Gabriele Linnebach und Gudō Wafu Nishijima, Heidelberg 2008. »Die asiatische Entscheidung, den Menschen als einen Teil des Kosmos zu verstehen und nicht als Kreatur, geschaffenes Ab- und Nachbild eines Schöpfergottes, markiert die breiteste und die unüberwindbare Kluft zwischen der okzidental-alteuropäischen und der asiatischen Weltanschauung. […] (w)ährend im Westen sich Sinn aus dem Verweis auf eine Hinterwelt einstellt, […] ergibt sich im Osten […] Sinn als Konstellation oder Konfiguration von Elementen innerhalb des einen, als Kontinuum gedachten ungeschaffenen Alls.« Siehe Peter Pörner: »mono – Über die paradoxe Verträglichkeit der Dinge: Anmerkungen zur Geschichte der Wahrnehmung in Japan«, in: Rolf Elberfeld und Günter Wohlfahrt (Hg.): Komparative Ästhetik, Köln 2000, S. 211-226 (S. 219). Mit Aristoteles’ Trennung von Physik und Metaphysik beginnt auch die Trennung von objektiver und subjektiver Zeit, die von der buddhistischen Philosophie verneint wird. Elberfeld, Phänomenologie der Zeit, S. 348ff. »19.1 Wenn ja Gegenwart und Zukunft die Vergangenheit fordern, dann würden Gegenwart und Zukunft bereits in der Vergangenheit entstehen. 19.2 Wenn aber Gegenwart und Zukunft dort [in der Vergangenheit] noch nicht vorhanden sind, wie könnten Gegenwart und Zukunft sie [Vergangenheit] dann fordern? 19.3 Andererseits lässt sich ein Nachweis [für ihre Existenz] ohne das Fordern der Vergangenheit nicht führen. Und deshalb findet sich weder die gegenwärtige noch die künftige Zeit. […] 19.6 Falls es Zeit [jedoch] geben sollte, [nämlich] abhängig von Seiendem, woher sollte sie dann ohne dieses Seiende kommen? – Irgendein Seiendes existiert aber nicht, woher also sollte Zeit kommen?« Deutsche Übersetzung nach Bernhard Weber-Brosamer und Dieter M. Back: Die Philosophie der Leere. Nāgārjunas Mūlama-
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der Zeit« und ein »(S)ich selber als zeitlichen Selbstvollzug«-Realisieren.5 In diesem Selbstvollzug liegt die Unvergänglichkeit.6 Ohne an dieser Stelle diskutieren zu können, wie Selbstvollzug ohne Subjekt gedacht werden kann,7 soll hier festgehalten werden, dass ein transformativer Erhabenheitsbegriff zwei begriffliche Anknüpfungspunkte zur buddhistischen (Zeit-)Philosophie besitzt: Erstens befreit die nicht substanzialisierende Konzipierung der Zeit als fundamentaler Relation von fruchtlosen Bemühungen, die Begegnung des Hörenden mit Überzeitlichkeit in das westlich-dualistische Korsett von Physik versus Metaphysik zu zwingen. Überzeitlichkeit liegt somit weder im Subjekt noch im Objekt, sondern im Vollzug von Zeit. Zweitens rückt die Vollzugskategorie alles Zeitliche in den Mittelpunkt und ist damit anschlussfähig an das hier skizzierte Gesamtzeitfeld der ästhetischen Situation. Schwierig bleibt jedoch die in der buddhistischen Philosophie vorgestellte Auflösung des Subjekts durch Zeitvollzug. Hierin liegt die Grenze der Anschlussfähigkeit an die westliche Ästhetik, die immer ein Subjekt benötigt. »Sowohl das daostische Ideal des von-selbst-so-Geschehens (ziran), als auch die Handlungen in den buddhistisch beeinflussten japanischen Künsten werden als Ausdruck einer Vollendung genommen, die […] der Sichtweise der klassischen europäischen Ästhetik fremd bleiben muss.«8 Dies zeigt sich beispielhaft in der Auseinandersetzung um die Möglichkeiten und Grenzen des ästhetischen Umgangs mit kontrollierter Kontingenz. »Das Nicht-Handeln ist […], ebenso wie die buddhistischen ›Wege‹ das Ergebnis einer lang eingeübten Spontaneität. Obwohl sich viele im gegenwärtigen europäischen Kontext mehr und mehr asiatische Einstellungen zu eigen machen, scheint sich in Bezug auf die Entscheidung, jetzt bewusst nicht mehr zu handeln, doch nur eine weitere Verwirklichung des europäischen Geistes unter anderem Vorzeichen anzukündigen.«9 In der Vorstellung, sich durch Kontingenz des Subjekts zu entledigen, liegt tatsächlich ein Missverständnis. Bei genauer Betrachtung der in der vorliegenden Arbeit diskutierten Kompositionen sollte jedoch deutlich
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dyamaka-Kārikās. Übersetzung des buddhistischen Basistextes mit kommentierenden Einführungen (= Beiträge zur Indologie, Bd. 26), Wiesbaden 1997, S. 71. Für den Originaltext in Sanskrit siehe: David J. Kalupahana: Nāgārjuna. The Philosophy of the Middle Way. Mūlamadyamakakārikā. Introduction, Sanskrit Text, English Translation and Annotation, New York 1986, S. 275-79. Elberfeld, Phänomenologie, S. 251 (Hervorhbg. dort). Ebd., S. 216. »Der Mensch besteht nach der Lehre Buddhas aus fünf Anhaftungs- beziehungsweise Daseinsgruppen. […] Der Mensch ist demnach nicht eine substanzhaft gedachte Persönlichkeit, sondern ein Geflecht von Daseinsfaktoren, aus denen sich die Illusion eines sich durchhaltenden Ich ergibt.« Dieses Geflecht ist in ständigem Wandel, weil alles zeitlich bedingt ist. Ebd., S. 71-72 (Hervorhbg. dort). Jens Schlieter: »Ästhetische Handlungen: Ost und West«, in: Elberfeld und Wohlfahrt (Hg.): Komparative Ästhetik, S. 319-337 (S. 320). Ebd., S. 337 (Hervorhbg. dort).
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geworden sein, dass Stille-Dauern keinem Nichthandeln, sondern einem anderen als dem herkömmlichen kompositorischen Handeln entspringen. Stille-Dauern ermöglichen einen zeitlichen Selbstvollzug durch die Verwandlung von Lebenszeit in ästhetische Zeit. Deshalb ist auch der Rückbezug der Komponisten auf Cage plausibel. An einem Werk wie 4’33’ ist, so gesehen, nicht wichtig, was in den Stille-Dauern alles gehört werden kann, sondern dass die Stille als ästhetische Zeit vollzogen wird. Durch die Kongruenz von Stille und Kontinuität wird auf diese Weise Überzeitlichkeit mitvollzogen. Der transformative Erhabenheitsbegriff hat also in der Vollzugsqualität von Zeit und in der Verzeitlichung aller (auch nicht-subjektiven) Beziehungen zwei Anknüpfungspunkte in der buddhistischen Zeitphilosophie. Naheliegender, gerade aufgrund seiner anthropozentrismuskritischen Fundierung, ist für den transformativen Erhabenheitsbegriff jedoch der westliche Diskursraum, insbesondere die kritische Analytik des Erhabenen. Christine Pries hat luzide nachgewiesen, »dass Kant mit dem Erhabenen an der Grenze von Kritik und Metaphysik steht«.10 Sein kritischer Anthropozentrismus mündet in eine Vernunft, die im Fall des Erhabenen der Sinne nicht mehr bedarf und sich gleichzeitig der Grenzen des Verstandes bewusst ist. Die Dynamik der erhabenen Beziehung verlegt er vollständig in das Subjekt. Mit Kant kann die Grenze zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem beschritten, aber auch der Sieg der Vernunft über die Sinne behauptet werden. Pries gewichtet den ersten Aspekt stärker und unterstreicht die Notwendigkeit, das Kritisch-Erhabene differenziert zu bestimmen. »Entscheidend ist dabei, wie der im Erhabenen entdeckte unendliche Horizont aufgefasst und ausbuchstabiert wird.«11 Der transformative Erhabenheitsbegriff setzt an dieser Stelle an. Er beinhaltet jedoch eine andere Anthropozentrismuskritik, als Kant sie entwickelt hat, indem er die Dynamik der erhabenen Beziehung allen Akteuren des Gesamtzeitfeldes zuschreibt. Zur Erläuterung dessen sei noch einmal die konkrete ästhetische Situation aufgerufen, die für den Aufführenden, den Zuhörer und weitere Akteure durch die Implementierung kontingenter Dauern entsteht. Stille und Überzeitlichkeit etablieren eine Grenzsituation. Doch die Herausforderung für die subjektiven Akteure besteht im Fall eines transformativen Verständnisses der Situation nicht darin, mittels der Vernunft eine scheinbar reale Bedrohung in eine ästhetische zu wenden oder sich bewusst zu machen, dass Teilhabe an der Unendlichkeit allein durch die eigene Vorstellungskraft realisiert werden könne – im ersten Fall wendet das Subjekt einen Horror Vacui ab, im zweiten Fall zieht es selbstbewusst die Zugbrücke zur Überzeitlichkeit hoch und verschanzt sich in seiner Vernunft. In beiden Fällen hängt dem Äußeren eine negative oder bedrohliche Qualität an.
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Pries, Übergänge ohne Brücken, S. 193. Ebd., S. 194.
Zusammenfassung
Der transformative Erhabenheitsbegriff interpretiert die skizzierte Grenzsituation positiv. Er verschiebt den Fokus vom Subjekt der ästhetischen Beziehung auf die Beziehungen aller Akteure des Gesamtzeitfeldes und beschreibt die kritisch erhabene Zeitbeziehung als andauerndes Spannungsverhältnis innerhalb dieses Feldes sowie Transformation als die eigentliche Qualität aller subjektiven wie nicht-subjektiven Akteure. Eine Voraussetzung dafür ist, Kontinuität nicht als Ewigkeit, sondern als fortwährenden Wandel zu begreifen. Wandel ist deshalb die Bewegungsform aller subjektiven wie nicht-subjektiven Zeitakteure. Alle Akteure einer transformativ-erhabenen Situation sollen deshalb prioritär nicht in ihrem Sein, sondern in ihrem permanenten Werden verstanden werden. Alle Subjekte verwandeln sich daher in Aufführende. Dies könnte dazu verleiten, die ästhetische Situation in anthropozentrischer Denkweise allein zu einer Sache des Hörens und somit des subjektiven Erlebens zu erklären. Aber die Situation besteht eben nicht nur aus der Rezeption, das heißt den subjektiven Wahrnehmungen. Transformative Erhabenheit kann produziert und geteilt werden. Für das Subjekt bedeutet dies, dass es im Moment der Konfrontation mit Überzeitlichkeit nicht in einer Aporie verharrt, sondern den Lyotard’schen Spasmus des Denkens durch Zeitvollzug überwindet. Im Rahmen einer transformativ-erhabenen Situation erfährt der Mensch eine Überwältigung durch die Teilhabe an einer unendlichen Vielfalt von Beziehungen. Nicht eine jenseitige Ewigkeit ist das Unerreichbare, sondern die diesseitige Fülle. Nicht Aporie, sondern Wandel, das heißt Transformation, ist daher auch die Grundqualität der transformativ-erhabenen Situation für das Subjekt. Für diesen Gedankengang war es notwendig, lebensphilosophische Ansätze mit der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und Positionen des kritischen Posthumanismus zu verknüpfen. Hier soll noch einmal Jean Gebser aufgerufen werden. Gebsers Konzept der Aperspektivität ist deshalb von Interesse, weil es Aperspektivität als anthropozentrismuskritische Bewusstseinsleistung und produktionsästhetische Qualität definiert. Aperspektivität könnte also die fundamentale Qualität des Gesamtzeitfeldes sein, um das es hier geht. Ohne Zweifel ist Gebser von allen hier angeführten Autoren derjenige, der das Eigenschöpferische der Zeit und den permanenten Wandel von Zeitbeziehungen am profundesten vertritt. Allerdings ist der Begriff »aperspektivisch« mit einer Schwierigkeit behaftet. Er soll den Dualismus von perspektivisch und unperspektivisch nicht negieren, sondern in eine höhere Einheit integrieren. Gebser verweist auf die im Latein noch gebräuchlichen »Urworte« wie »altus«, die sowohl »hoch« als auch »tief« bedeuten konnten und ihre Differenzierung als »psychisch betonte« erfuhren.12 Doch in der Lesart der westlichen Philosophie bleibt der Begriff potenziell missverständlich, weil er durch das Initial »a« im herkömmlichen Sinne als nichtperspektivisch gedeutet werden kann. 12
Gebser, Ursprung und Gegenwart, S. 5.
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Der Begriff der transformativen Erhabenheit ist daher geeignet, am präzisesten die ästhetische Situation der Konfrontation mit Überzeitlichkeit in musikalischen Werken zu beschreiben. Der Zeit eignen dabei, wie dargelegt worden ist, spezifische Eigenschaften, die sie als Akteur erhabener Situationen prädestinieren: die Notwendigkeit der menschlichen Beziehungsaufnahme bei gleichzeitiger Unverfüg- und Unverbrauchbarkeit. Genau in dieser reizvollen und zugleich überwältigenden Beziehung steckt das krisenhafte Moment der transformativen Erhabenheit. Beziehung ohne Beherrschung und Vernutzung ist also das Wesen des Gesamtzeitfeldes und somit auch der ästhetischen Situation.
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Gespräch Antoine Beuger – Sonja Heyer, 11. und 12.5.2016, Haan bei Düsseldorf S. H.: Welche Qualitäten haben die Stillen in deinen Kompositionen? A. B.: Stille wird gemacht, und ihre einzige Eigenschaft ist mit Cage die Dauer. Wenn es um Entgrenzung geht, geht es immer um die Entgrenzung der Dauerverhältnisse. Du schiebst die Grenzen – wann fängt es an, wann hört es auf – so weit weg, dass du nicht mehr herankommst. Das passiert meines Erachtens bei 4’33’. Das ist keine Einladung: Macht doch mal die Ohren auf und hört, wie schön das alles ist! Im Ergebnis ist es das auch, aber eigentlich geht es darum zu sagen: Wenn wir von Stille reden, ist das einzige, wovon wir sprechen können, dass es hier anfängt und dort aufhört. 4’33’ ist nur deshalb ein Musikstück, weil es einen Anfang und ein Ende hat und nicht, weil es 4’33’ dauert – das war nur bei der Uraufführung so –, auch nicht, weil es offiziell drei Teile hat und so weiter. Das Entscheidende ist diese Grenzsetzung, dieser Einschnitt in das ontologische Kontinuum dessen, was ist. Mit diesem Schnitt definierst du die Aufführung. Die bloße Einladung »Mach mal die Ohren auf und schreib auf, was du alles hörst!« hat damit nichts zu tun. Das ist noch nicht das Stück. Es ist die Vorstellung, wir schneiden aus diesem Kontinuum etwas heraus, indem wir eine Grenze setzen. In Bezug auf die Stille ist das aber willkürlich. Angesichts dieses Kontinuums gibt es keinen logischen Ort für die Grenzsetzung. Deswegen kann die Dauer auch fünf Stunden betragen. Deswegen brauchst du einen Ausführenden, der den Anfang und das Ende macht. Dafür muss man heute nicht mehr den Klavierdeckel auf und zu machen. Irene Kurka hat 4’33’ einmal in ihr Gesangsprogramm integriert, indem sie nach Ende eines Parts die Augen geschlossen hat. Damit fing 4’33’ an. Es war kein hartes Signal, aber jeder hat irgendwann gemerkt, es muss irgendwo angefangen haben. Irgendwann machte sie die Augen wieder auf. Wir haben zusammen diese Lösung erarbeitet. Anfang und Ende sind nicht unbedingt lokalisierbar, aber erkennbar. Man merkt, jetzt sind wir drinnen, also muss es irgendwann angefangen haben. Es geht nicht um das Zeichen und darum, Jetzt zu sagen, sondern nur darum, dass es einen Anfang gegeben hat. Die Qualität einer Aufführung lässt sich daran bewerten, wie
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fein das gelingt. Es geht darum, die Empfindung dafür zu schaffen, dass es hier um eine Dauer geht. Von da ist es nur ein kleiner Schritt zu sagen: Diese Dauer kann auch unglaublich groß sein. Für mein eigenes Komponieren gilt ebenfalls dieser Einschnitt, der in einem Kontinuum von gleichmäßigen Klängen vorgenommen wird. Eine Zeit lang habe ich so komponiert. Alle acht Sekunden kam ein Klang. Und dann kam auf einmal kein Klang mehr. Ich weiß noch, als ich das allererste Mal aufgeschrieben habe, Die Stille dauert 21’, da dachte ich (Entsetzen)… Aber mir war klar, wenn ich das mit der Stille ernst nehme, darf ich nicht sagen: Stille ja, aber sie darf höchstens dreißig Minuten lang sein. Stefan Streich (Komponist) organisiert in Berlin die Klangwerkstatt und hatte einen Kompositionsauftrag für die Weltausstellung in Hannover. Sein Stück hatte mitunter Pausen von dreißig Sekunden. Da bekam er von dem berühmten Dirigenten Gerd Albrecht einen Brief, in dem dieser schrieb: Ich habe viele Werke der Neuen Musik aufgeführt, und ich kann Ihnen sagen: Das geht nicht. Doch diese Dauern von Stille wären für uns [WandelweiserKomponisten – S. H.] kaum merkbar. Da habe ich gemerkt, worum es geht. Wenn Stille eine Stille sein soll und nicht nur eine funktionale Pause, dann ist sie ein Einschnitt und hört per Einschnitt auf. Diese Einschnitte kannst du nicht strukturell einbauen. Das heißt, die Stille muss jede Dimension annehmen können. Dann haust du die Form des Stückes auseinander. An der Stelle kannst du nicht mehr vernünftig gestalten. Einschnitt der Stille heißt Aufschub der Gestaltung. Ich gebe es aus den Händen; es passiere, was passiere. Gestaltet ist nur das Setzen von Anfang und Ende. Das einzig Bearbeitbare an der Stille ist die Dauer, und die ist völlig offen. Das ist nicht zu erfühlen. Wenn es zu erfühlen ist, hat es mit dem Fluss zu tun und dann denke ich, komm, dann machen wir mal weiter und setzen der Stille ein Ende. Das findet man zum ersten Mal bei Bruckner. Bruckner hat 4’33’ vorweggenommen, ohne es zu wissen. In seinen Sinfonien gibt es Momente mit plötzlichen Generalpausen ohne irgendeinen strukturellen Grund. Die Dauern sind nicht festgelegt und danach geht es mitunter völlig anders weiter, besonders in den Erstfassungen. Dann kommen wohlmeinende Freunde und sagen ihm: »Anton…« Ich erkläre mir das bei Bruckner als Geste eines gläubigen Menschen, der sagt: So, und jetzt bist du dran [Gott – S. H.]. Denn da hört er einfach mit dem Komponieren auf, und wer weiß, was da alles passiert. Das kriegt man natürlich nie so zu hören. S. H.: Würdest du von »Aufhören mit dem Komponieren« sprechen? Ist nicht das Setzen der Grenzen das Komponieren, und bestimmt es nicht die unterschiedlich klingenden Stillen? A. B.: Ja, aber bei Bruckner kannst du das strukturell gar nicht erklären. Eigentlich gehört da keine Stille hin. Dieses »So, jetzt höre ich auf zu komponieren und jetzt fange ich wieder an« ist mitten in einer Phrase. Deswegen ist es für mich ein
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Vorläufer von 4’33’. Ich träume immer von einer Aufführung, bei der man es wirklich darauf ankommen lässt, dass es schon gutgehen wird. Ich habe mich circa zehn Jahre damit auseinandergesetzt, was es eigentlich mit der Stille auf sich hat, die durch einen Einschnitt zustande kommt. Das gibt es im Leben ja auch. Es ist eine Auseinandersetzung mit Verlusterfahrung. Plötzlich ist es anders als vorher und unumkehrbar. Du öffnest mit der Stille eine Dimension, in der alles passieren kann. Es könnte jemand im Saal sterben. Du hörst auf, zu erfinden, was passieren könnte, und du lässt es darauf ankommen. Deswegen wollte Cage wohl ursprünglich das Stück Silent prayer nennen. Er hat jahrelang daran gearbeitet. Für mich sagt das etwas aus. Stilles Gebet bedeutet in der geistlichen Tradition: Du sprichst nicht und du machst nichts. Das Gebet besteht daraus, da zu sein. Die Idee der Entgrenzung finde ich gut. Bei Bruckner gibt es das schon. Damit schneidet er die Welt des Stückes in die Welt der Welt. S. H.: Solche Stillen haben meines Erachtens zwei Aspekte: 1. Man bindet die musikalische Zeit zurück an die außermusikalische. 2. Es ist völlig klar, dass damit etwas Außergewöhnliches und Künstliches stattfindet. Und damit bleibt es Teil der Musik. Denn wenn ich merke, dass es einen Anfang hat, gehe ich als Mensch davon aus, dass es auch ein Ende hat. Also warte ich, und das konstituiert eine musikalische Spannung. Mir wird viel stärker die Außergewöhnlichkeit und Künstlichkeit der Situation bewusst. A. B.: Und du hast immer das Gefühl, die Welt hat jetzt ganz anders geklungen, als ich dachte. Durch den bloßen Schnitt erhält die Welt einen Zauber. S. H.: Das ist der Unterschied zwischen Leere und Stille: Leere würde die vollkommene Banalisierung bedeuten, Stille jedoch die Entgrenzung durch Grenzsetzung. Stimmt dann: »Nicht-Ereignis«? A. B.: Das ist echt interessant! Es ist selbst kein Ereignis, es ist auch nicht vorwegzunehmen. Es könnte sich aber jederzeit etwas daraus ereignen. Es hängt davon ab, wie emphatisch man den Ereignisbegriff auffasst. Deleuze würde sagen: Alles ist Ereignis, und es greift zu kurz, objekthaft zu denken. Ich muss alles ins Ereignishafte wenden, um zu verstehen. Mit ihm würde man nicht sagen: »Ich habe eine Nase«, sondern: »Mir ereignet sich diese Nase.« Dieser Ereignisbegriff könnte mit Cage zusammenhängen. Dann würde man sagen: Stille ist alles, was sich tut. Bei Alan Badiou hingegen gibt es einen sehr starken Ereignisbegriff, wo Ereignis etwas Seltenes ist. Es ist unumkehrbar und hat einen Wahrheitsanspruch. Es hat den Charakter einer Begegnung. Plötzlich hat sich etwas getan. Ab jetzt musst du alles, was du tust, an diesem Ereignis messen. Wenn du das Ereignis als ein solches anerkennst, zum Beispiel die Liebesbegegnung, dann ist auf einmal alles
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anders. Es ist nicht genau datierbar, du kannst nur sagen: Ja, es war. Und es verwandelt sich in: Ja, es wird eine Liebe gewesen sein. Ab jetzt wird mein Leben den Beweis erbringen, dass das so war. Man lebt in der Treue an dieses Ereignis, an die tiefe Berührung, die stattgefunden hat und die man nicht mehr leugnen kann und die immer stattgefunden haben wird. Dieser viel stärkere Ereignisbegriff hat mich mehr interessiert. Bei Cage gibt es solche unumkehrbaren Schnitte meines Wissens nur bei Empty Words. Im ersten Teil gibt es Phrasen, Wörter, Silben und Buchstaben, im zweiten Teil keine Phrasen mehr und so weiter. Ich habe das immer für eines der wichtigsten Stücke von Cage gehalten. Es ist wie ein Zustand, bei dem du weißt, so hat es angefangen, so wird es weitergehen. Es ist wie ein aufgeführtes 4’33’. Aber ich denke, das allein kann es nicht sein. Es gibt doch auch diese ganz andere Stilleerfahrung, die als mitunter schmerzhafte Unterbrechung kommt. Das ist eine ganz wesentliche Stilleerfahrung, und ich glaube, wir haben die Musik, um uns damit auseinandersetzen zu können. In meiner Musik habe ich mich deswegen weg von einer ontologischen Auffassung von Stille und hin zu dem, was da ist, bewegt. Und dann ist Stille das, was passiert, wenn etwas nicht mehr da ist. Dieses Verschwinden ist das Ereignis, das passieren kann. S. H.: Das Verschwinden ist meines Erachtens der Anfang von Stille. Aber was ist dann mit dem ganzen Rest, der dauert? Ist das kein Ereignis mehr? A. B.: Nein, das ist nach dem Ereignis. Und jetzt musst du schauen, dass du damit zurechtkommst, und in dieser Dauer tut sich ganz viel. Bei ins ungebundene1 ging es mir ganz stark darum. Für die Flöte gibt es einen Ton, der sehr kurz und leise und fast weg ist, bevor er da war. Ab und zu taucht der immer gleiche Ton auf. Frühestens nach zehn Minuten und spätestens nach vierzig Minuten gibt es diesen Ton nicht mehr. Frühestens nach sechzig Minuten und spätestens nach neunzig Minuten hört das Stück auf. Das sind unglaubliche Dimensionen. Angenommen, ich spiele das und nach fünfundzwanzig Minuten merke ich, ich habe aufgehört zu spielen. Ich probiere, es so zu machen, dass ich nicht entscheide. Dann gibt es erst mal die Phase, in der du den Ton immer noch hörst oder dir nicht sicher bist, ob er da war und du ihn nicht gehört hast. Der Ton bleibt wie ein roter Faden. Er ist da. Er ist verschwunden und du lebst in der Nachzeit dieses Verschwindens. In der Erinnerung ist er noch da, und das wandelt sich langsam. Du spürst, dass die Umgebungsgeräusche präsenter werden. Man kommt dahin zurück, wo man sowieso ist. Aber du bist immer noch in dem Stück, es ist immer noch anders als Alltag. Wenn dann der Schnitt kommt, wenn es aus ist, dann ist das wie ein kleiner Schock. Alles klingt anders und du merkst, wie weit du weg warst. Das Stück lebt nur von dem Ereignis, dass etwas verschwunden ist. 1
Antoine Beuger: ins ungebundene, Haan (ew01.060) 1999.
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S. H.: …und vom Ereignis der Dauer… A. B.: Ich arbeite mit dem emphatischeren Ereignisbegriff. Die Dauer ist das, was nach dem Ereignis beginnt. Es gibt ein Vor und ein Nach dem Ereignis. So erklärt Badiou die Entstehung der Zeit, für die es ein Davor und ein Danach geben muss. Mir geht es um eine Musik des Ereignisses. Aber dann dachte ich, was soll denn das Ereignis sein? Alles, was du dir da einfallen lässt, ist blöd. Das ist alles geplant und entzieht sich damit dem Ereignischarakter, denn das Ereignis kommt unvorhersehbar und es ist unverfügbar. Und das einzige Ereignis, auf das ich keinen Zugriff habe, ist dieses Verschwinden. Noch nicht mal, wann der Ton verschwunden ist, kannst du sagen. Das Verschwinden hat mit dem Ereignis strukturelle Gemeinsamkeiten. Es weist metaphorisch auf das Ereignis hin. Mehr kannst du nicht machen, ansonsten versündigst du dich an diesen leeren Händen. Das Unverfügbare und nicht Definierbare des Ereignisses hindert dich daran, es zu gestalten. S. H.: Ich dachte, du stellst die Stille als Nicht-Ereignis dem Klingen als Ereignis gegenüber. Aber wenn das Ereignis das Unverfügbare ist, sind die musikalischen Formen, die du setzt, keine Ereignisse. A. B.: Ja, diese Formen sind meinetwegen Geschehnisse. Ich würde nicht sagen, in diesem Stück gibt es zwanzig Ereignisse. Das kann man gar nicht sagen. S. H.: Sind es Geschehnisse im Sinne von Handlungen? A. B.: Ja, da tun Leute dies und das, aber das garantiert überhaupt nicht, dass sich etwas ereignet. Zur Definition des Ereignisses gehört immer die Unverfügbarkeit. Selbst bei Deleuze, bei dem alles Ereignis ist, heißt es nicht, dass ich dessen habhaft werden kann. Man kann, wie Xenakis, auf einer materiellen Ebene, sozusagen statistisch, davon reden, dass es so und so viele Ereignisse gibt, aber das gibt nichts her, das geht nicht in die Tiefe. Es bleibt auf einer Klangoberfläche. Cage brachte mich auf die Frage: Wieso ereignet sich hier eigentlich nichts? Was ist das für eine Welt, in der sich nichts ereignet? Cage sagte dazu: »Alles ist sein eigenes Zentrum«, und er sprach von gegenseitiger Durchdringung ohne Behinderung und so weiter. Doch da sträubte sich etwas in mir und ich sagte: Aber es gibt doch auch das, was es nicht mehr gibt. Es gibt die Erfahrung, hinter die man nicht mehr zurück kann, und das ist vielleicht der Stoff, aus dem Musik gemacht wird. Ich war lange mit Deleuze unterwegs, bis ich Badiou entdeckte. S. H.: Ich würde das, was du Ereignis nennst, im Deutschen eher Widerfahrnis nennen. Aber etymologisch ist das Ereignis etwas, was sich ereignet, und nicht etwas, was ich ereigne.
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A. B.: Seit Heidegger ist das in der Philosophie ein großes Thema. Ein Aufsatz von Derrida heißt »Über die unmögliche Ereignung des Ereignisses«2 . Vladimir Jankélévitch – der vielleicht beste Musikphilosoph – hat den schönen Begriff »verschwindendes Erscheinen« geprägt. Das Ereignis erscheint im Verschwinden, und du kannst so schnell nicht dabei sein. Du bist nie dabei, du kannst nur sagen: Jetzt ist es passiert. Dadurch, dass Musik mit Klang arbeitet und Klang immer vorübergehend ist, hat sie strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem Ereignis. Der Klang kann dadurch an das Ereignis erinnern. S. H.: Ist Klang nur eine Metapher für das Ereignis? A. B.: Ja, genau. So sind die Schritte vom Komponisten aus gedacht: 1. Wie kann ich es ermöglichen, dass sich in dem Stück echt etwas ereignet? Komponieren kann ich es nicht. 2. Kann ich kompositorisch die Bedingungen dafür schaffen, dass sich etwas ereignet? Aber ich habe gemerkt, das ist der Versuch, das Ereignis hintenherum doch wieder in den Griff zu bekommen. 3. Hoffen, dass es passiert. Wie bringst du diese Hoffnung zum Ausdruck? Über die Metapher des Klanges, der des Ereignisses gedenkt. Wenn man Musik hört, erfährt man sinnlich, dass manchmal Dinge passieren. Die Stücke von mir, die ich beschrieb, sind die äußerste Konsequenz dieses Nachdenkens.
Ich habe das niemals als minimalistisch oder reduktiv aufgefasst. Es geht nicht um Reduktion auf das Wesentliche, sondern um Öffnung auf das Ereignis hin. Dafür taugt kein Gattungsbegriff. S. H.: Konstituiert die Stille, im Gegensatz zur Leere, einen Ort? Hat sie eine Räumlichkeit? Entfaltet sich die Stille, wie der Klang, im Raum oder nur in der Dauer? Im Deutschen assoziieren wir ganz schnell Zeit und Raum. Ich würde das gern differenzieren. A. B.: Ich habe durch das Zulassen extremer Dauern die Erfahrung gemacht, dass die Stillen etwas Monumentales bekommen konnten. Das schreckte einige ab. Es baute sich so etwas Riesiges auf. Ich habe es selbst nicht immer so erlebt. Für mich konnte es einfach und leicht sein, eineinhalb Stunden Zeit zu haben, zu sitzen und nichts zu tun. Es kann durchaus eine monumentale Architektur werden, die das Davor und Danach auseinanderhält. Aber darum ging es mir nicht. Deshalb
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Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003.
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musste ich mir überlegen, wie ich da wieder herauskomme. Materiell lässt sich dieses Monumentale nicht fassen. Das passiert im Erleben. S. H.: Könnte man nicht sagen, dass die Dauer ein Material ist? Dann ließe sich ableiten, diese Dauer richtet sich gegen alles, was ich als Mensch normalerweise (er)lebe. Der Körper rebelliert. A. B.: Aber an diesem Erleben kannst du die Definition nicht festmachen. S. H.: Man könnte, anschließend an das, was du über Architektur sagst, von Leerräumen sprechen, die in der Architektur in einem Dazwischen entstehen. Wenn ich als Architekt die Grundmauern immer weiter verschiebe, wird das Gebäude instabil. Es gibt Grenzen der Stabilität. A. B.: Das ist mit der Stille nicht so. Da bricht nichts zusammen. S. H.: Da bricht nichts zusammen, aber so könnte ich mir die Monumentalität, die etwas Beängstigendes hat, erklären. Durch die Dehnung der Grenzen wird der Raum dazwischen instabil. A. B.: Das hängt aber auch davon ab, wie man sich darin verhält. Bei einem Workshop habe ich die Teilnehmer aufgefordert, dreißig Minuten still zu sein. Ich verlängerte die Stille auf fünfundvierzig Minuten. Danach fragte ich sie, wie lang das jetzt war. Sie sagten, zwanzig Minuten. In dieser entspannten Situation, in der es keine musikalische Erwartungshaltung gibt, stellt sich die Monumentalität nicht ein; das tut sie nur im Konzertsaal. Deswegen lässt sich über Stille beziehungsweise Dauer als Material nicht viel sagen. Darum gefällt mir Entgrenzung am besten. Es ist auch eine Negativdefinition. Man verschiebt Grenzen eines Normalzustandes. Schon die zehn Sekunden Stille bei Bruckner haben alles kurz und klein gehauen. Ab da denkst du immer: Was war denn das gerade? Stille bedeutet für den Komponisten: Du hörst mitten im Komponieren mit dem Komponieren auf. Das Stück geht aber weiter. Jürg Frey [Komponist der Gruppe Wandelweiser – S. H.] würde vielleicht von Leerformen sprechen. Für ihn ist Komponieren etwas anderes. S. H.: Ich bin durch deine Kompositionen auf die Denkfigur der Körperhaftigkeit gekommen. Einige Kompositionen leiten den Rhythmus aus dem Biorhythmus, aus dem Atmen und so weiter ab. Wie kann man Pfeifen und Nichtpfeifen oder bloßes Atmen unterscheiden? Ist das Atmen selbst Musik oder ist es die Stille zwischen den Klängen?
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A. B.: Den Atem sollte man nicht überbewerten. Wenn ich Flöte spiele, atme ich auch, und das hört man auch. Das ist kein strukturelles Element. Wenn man es wegschneiden würde, würde man ein komisches Gefühl bekommen. Es gibt ein Sprechstück von Robert Ashley, das vierzig Minuten dauert und in dem er alle Atempausen weggeschnitten hat.3 Nach einer Weile bekommt man keine Luft mehr. Das ist monströs. Ich denke, er tritt in vielen seiner Stücke ins Erhabene ein, nicht so sehr mit seinen späteren video operas, aber in den Stücken, die über das hinausgehen, was man ertragen kann. Man kann es herstellen. S. H.: Das Erhabene definiert sich ja klassisch über Größe. Bei diesem Stück aber schrumpfe ich als Rezipientin. Vielleicht könnte man sagen, es entsteht Zeitlosigkeit, weil irgendwann gar keine Zeit mehr vergeht. A. B.: Das geht aber theoretisch mit einem Berg auch, vor dem du stehst oder mit dem Kölner Dom. Ashley ist ein Beispiel für Entgrenzung, weil er die natürlichen Grenzen des Atems entfernt hat. Es ist sehr eindrucksvoll, entgrenzt und nicht schön. Es geht über das hinaus, was eine menschliche Stimme tut. S. H.: Ist der Atem eine Art Biorhythmus für die Musik? A. B.: Biorhythmus gehört immer zur Musik und auch zur Stille. Irgendwann hatte ich die Idee für ein Stück, das neun Stunden gehen sollte, so wie anderen eine Melodie einfällt. Ich war aufgeregt und fragte mich, wie das gehen soll. Ich dachte, es ist länger als ein Arbeitstag, aber noch kein Hochleistungssport. Es war ein Solostück für Radu Malfatti, der damals noch Kettenraucher war. Er sollte mit seiner Posaune alle acht Sekunden einen drei Sekunden langen Ton spielen. Die meisten Töne hatten Glissandi. Es war klar, dass es für ihn lange Pausen geben müsste. Ich musste biologische Grenzen berücksichtigen. Schließlich hat er weder geraucht noch ist er auf die Toilette gegangen. Ich habe ein Zufallsverfahren entwickelt, das das Stück in klingende und nicht klingende Abschnitte geteilt hat. Für so ein Stück muss man auch soziale Rhythmen bedenken. Wann soll es anfangen? Sollen die Leute sitzen? Nein, sie sollen sich bewegen können. Man führt das nicht im Winter auf. Wir haben es im Frühsommer in einem offenen Atelier aufgeführt. S. H.: Bei überlangen Installationen verhalten sich Besucher oft so, wie in jeder konventionellen Ausstellung. Wenn sie das Prinzip verstanden haben, gehen sie wieder. Ist diese Motivation bei einem Konzert anders? Bleiben dann viele, um das Ganze zu erleben? 3
Robert Ashley und Paul de Marinis: In Sara, Mencken, Christ And Beethoven There Were Men And Women, Cramps Records 1990.
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A. B.: Am Anfang und am Ende sind alle da, weil sie wissen wollen, wie es anfängt, wie es ist und aufhört. Zwischendurch gehen Leute raus und rein. Man muss das zeitlich klug legen, damit Leute kommen und bleiben. Man muss es an ihren Biorhythmus anpassen und an soziale Rhythmen. Feldman übergeht das alles in seinem zweiten Streichquartett4 . Die Interpreten haben Traubenzucker auf den Notenständern. Das ist eine Tortur für die Musiker und dadurch auch für den Hörer. S. H.: Ich denke, es ist ein fundamentaler Unterschied, ob bei deinem Neun-Stunden-Stück jemand den Anfang und das Ende mitbekommt oder nicht. Wer das miterlebt hat, hat die Dauer in seinen Körper eingepflanzt bekommen und nimmt sie überall mit hin. A. B.: Ja, das war sein Tag. Es blieben alle da und verließen nur manchmal den Raum. Aber sie blieben im Konzert. Man hatte überhaupt keinen Grund wegzugehen. S. H.: Ich versuche, Dauer als Material zu denken. Und wenn jemand das Stück so mitgenommen hat, ist er in dieser Dauer selbst drin. A. B.: Er ist in dieser Dauer drin, und so kann man vielleicht auch nur über Dauer reden. Ist für einen Fisch das Wasser, in dem er schwimmt, Material? Oder ist es das Element, in dem er sich bewegt? Ich tue mich schwer, Musik als Zeitkunst zu definieren. Musik spielt sich in der Zeit ab. Eine Dauer etabliert sich. Ich würde Deleuze folgen, dass Dauer ein Kontinuum von wechselnden Intensitäten ist, in dem man sich bewegt, eine Linie mit unterschiedlichen Volumen. Aber es ist nicht das eigentliche Material. Eine überzeitliche Gesamtdauer besagt noch nichts. Die Gesamtdauer ist relativ, aber das Verhältnis des Klingenden zum Stillen ist entscheidend. S. H.: Geht es in deinem Stück lesen, schreiben (spinoza)5 um die Aufhebung von Semantik? A. B.: Es gibt darin noch Semantik, aber darum geht es nicht. Es geht aber auch nicht um Nicht-Semantik. Ich wollte mich der Ethik von Spinoza widmen, indem ich sie vollständig lese, ohne jeden Satz verstehen zu müssen. Deshalb habe ich alle einsilbigen Wörter abgetippt. Ich habe einsilbige Wörter gewählt, weil ich mich von jedem Rhythmus freimachen wollte. Mehrsilbige Wörter hätten einen eigenen 4 5
Morton Feldman: String Quartet Nr. 2, Wien (Universal Edition 17650) 1983. Antoine Beuger: lesen, schreiben (spinoza) für eine(n) sprecher(in)/schreiber(in), Haan (edition wandelweiser ew01.053) 1997.
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Rhythmus hineingebracht. Ich habe so unter dem kraftvollen Text von Spinoza einen weiteren Text entdeckt. Selbst durch die Wörter, die kaum eine Bedeutung haben, spürt man eine Denkbewegung, einen Denkstrom hindurch, auch wenn die Semantik weit weg ist. Es geht nicht darum, der Semantik aus dem Weg zu gehen, sondern eine weitere semantische Ebene zu erschließen. Ich habe die Gegenprobe mit anderen Texten gemacht, und da war das Resultat eher chaotisch und hatte nicht diese zweite Ebene. In einem Stück für die Donaueschinger Tage, das achtundvierzig Stunden dauerte und parallel zum Festival lief, habe ich das Gleiche mit einem Text von Oswald Egger gemacht, und heraus kam etwas Dialogisches. Es war für mich wie eine Leibniz-Welt, drinnen in der Monade. Es wurde in einem abgedunkelten Raum aufgeführt, während das Spinoza-Stück immer in hellen, öffentlichen Räumen aufgeführt wurde, die etwas Durchströmendes hatten. Das war aber nicht vorhersehbar. Ich habe es beobachtet. S. H.: Der französische Schriftsteller Edmond Jabès sprach einmal davon, die Buchstaben auf weißem Papier seien wie Abgründe in ein verborgenes Netzwerk, das unter dem sichtbaren Text liegt. A. B.: Ja, wie ein Unterstrom. S. H.: Vermutlich gibt es sogar mehrere, und eins davon nimmst du nach oben, wie in einem mehrstöckigen Haus. A. B.: Deleuze, der viel über Spinoza geschrieben hat, sagt, es gibt drei Ethiken von Spinoza: Die eine beinhaltet die mathematischen Axiome, die zweite besteht aus den Scholien, und dann gibt es das V. Buch der Ethik, das eine andere Geschwindigkeit hat. Es ist so schnell, dass es fast schon wieder stillsteht, und hat deshalb mit dem Unendlichen zu tun. Ich dachte, es gibt noch einen vierten Strom, nämlich den der einsilbigen Wörter. Wahrscheinlich könnte man in jedem Text mehrere Ströme finden, die durcheinandergehen und gemeinsam die Kraft des Textes und seine Dynamik ausmachen. Bei Oswalds Text überraschte mich das Dialogische, das durch die Einsilbigkeit entstand. Oswald war auch überrascht. S. H.: Strom ist als Begriff interessant, weil er weder einen Anfang noch ein Ende hat. Subtext würde nur eine Struktur bezeichnen. A. B.: calme étendue (spinoza) habe ich einmal ganz, aber nicht am Stück, aufgeführt; täglich sechs bis zehn Stunden, sechsundzwanzig Tage lang. Manchmal waren Leute da, manchmal nicht. Es muss nicht in einem Stück aufgeführt werden. Man muss immer nach praktikablen Lösungen suchen, die Sinn machen. Vielleicht gibt
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es Gesellschaften, in denen man so etwas am Stück machen kann, aber hier sollte man es in den sozialen Kontext einfügen. Die Aufführung von Vexations (Eric Satie, 1883) am Stück ist schwachsinnig, es ist Sport und hat musikalisch keine Bedeutung. Ich habe es einmal in einen Wochenzyklus aufgeteilt und jede Woche siebzig Wiederholungen gespielt, zweieinhalb Stunden, die man auch erleben kann. Man nimmt das mit, und wenn man nächste Woche wieder da ist, geht es weiter, und die Zeit dazwischen ist auf eine Art davon geprägt. Kontinuität mit Unterbrechung und Erinnerung erweist sich auf Dauer als mehr Kontinuität als das Einfach-nur-Weitermachen. Ohne 3 Jahre – 156 musikalische Ereignisse – 1 Skulptur von Carlo Inderhees und Christoph Nicolaus (Berlin, Zionskirche, 1997–1999) wäre ich vielleicht nicht auf die Idee gekommen. Das ist ein sehr grundlegendes Werk. Es geht nicht um die Gesamtdauer. Prousts fünf dicke Bücher lesen bedeutet auch nicht, sie an einem Stück lesen und gucken, wie das ist. Deshalb meine ich, bei Musik geht es gar nicht so sehr um Zeit und Zeit-Erleben. Es spielt sich halt in der Zeit ab, und man muss gucken, wie man das am vernünftigsten in unserem Lebensrhythmus macht. S. H.: Wo genau findet dann bei calme étendue (spinoza) die Entgrenzung statt? Vielleicht, indem ich von der Fläche des Textes durch die Buchstaben in die Tiefe gehe und weitere Ströme darunter entdecke? Ist das der Moment beziehungsweise der Ort der Entgrenzung? A. B.: In Bezug auf den Text auf eine Art ja. In Bezug auf die Sprache und ihre Semantik ist das Gehen auf die einsilbigen Wörter die Entgrenzung. Wie bei einer Wanderung, wo du von Stein zu Stein, von Pfütze zu Pfütze gehst. Damit löst du die Grenzen der Landschaft auf eine Weise auf, und das machst du dann im Text auch. Plötzlich schlägt dir ein anderer Strom entgegen, den du vorher nicht bemerkt hast. Dieses Verfahren gibt dir die Möglichkeit, durch den Text zu gehen, der für mich ansonsten zu undurchdringlich gewesen wäre, weil ich, wie F. Ph. Ingold sagen würde, von einem hermeneutischen Begehren gesteuert gewesen wäre. So habe ich meinen hermeneutischen Zwang ausgetrickst. S. H.: Ich finde interessant, dass du von Landschaft sprichst, denn eine Landschaft ist ein Ort. Wenn man sich den Text als Komposition vorstellt, stellt er einen Ort dar, den du mit deinem Verfahren als Ort auflöst. Das heißt, man könnte von Ortsauflösung statt von Zeitauflösung sprechen. A. B.: Es gibt eine schöne Beschreibung von Jabès: Du stehst vor einem Haus mit einem Haupteingang. Doch du betrittst das Haus nicht über diesen, sondern über einen Seiteneingang, und der führt zu einem Keller. So gehst du und entdeckst ein
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ganz anderes Haus. So, schlägt er vor, sollte man als Leser mit Texten umgehen. So schreibt man selbst ein neues Buch. S. H.: So machst du es ja in calme étendue (spinoza) mit dem Rhythmus, den du den Worten gibst. Der ursprüngliche Text hat ja nicht diesen Rhythmus und die klingenden/stillen Phasen. Wie hast du die Länge der stillen Phasen entschieden? A. B.: Durch ein Zufallsverfahren. Es gibt eine Seite mit Zeitpunkten zwischen null und neun Stunden, die alle durch Acht teilbar sind. Per Zufall wählst du zwei oder drei Zeitpunkte aus, dann hast du die Zeit in drei Teile geteilt und kannst sagen: Der erste Teil ist Reden, der zweite ist Stille, der dritte ist Reden. Du kannst den Text aber auch in fünfundzwanzig Teile zerlegen, und dann ergeben sich sowohl für die klingenden wie für die stillen Phasen unterschiedliche Längen. Dann kann man ausrechnen, für diese Zeit brauche ich sechsundachtzig Wörter, da brauche ich drei, dann habe ich eineinhalb Stunden Stille usw. Das erwürfelt man sich und dann entscheidet man, wie viele Teile man braucht. Genauso ist es auch bei dem ersten Stück aus der calme étendue-Reihe für Posaune. Radu Malfatti (Posaune) hätte nicht ewig spielen können. Mit der notwendigen Anzahl von Unterteilungen und Stillephasen kommt es aber hin. Bei allen instrumentalen Versionen des Stückes gibt es immer drei Sekunden Klang und fünf Sekunden Pause. Drei Sekunden schienen mir gerade lange genug, um da zu sein, und kurz genug, um nicht zu sehr da zu sein. […] Unter dem Gesichtspunkt von Erscheinen und Verschwinden wollte ich immer Klänge, die nicht zu sehr eine Präsenz entwickeln. Daraus habe ich die drei Sekunden/fünf Sekunden-Variante entwickelt. Die Pause sollte ein bisschen länger als der Ton sein. Ich stieß auf die Filme des japanischen Filmemachers Yasujirō Ozu, der immer nur mit Standbildern, nie mit Zoom gearbeitet hat. Seine Bilder sind fast immer acht Sekunden lang, obwohl man es nicht merkt. Die Einstellungen haben diese Regelmäßigkeit und über die Schnitte entsteht die Kontinuität. Das hat mich bei meiner Entscheidung der Längen bestätigt. S. H.: Besitzt die Stille im Fall deiner Komposition keine fernen mehr 6 eine körperhafte Qualität? A. B.: Körperhaft stimmt, denn der Rhythmus meines Körpers bestimmt darüber. Ich kann einen Ton nicht länger machen, als ich pfeifen kann. Auf der CD gibt es einmal einen durch Sampling unnatürlich langen Ton und einmal einen zweistimmigen. Aber das hat niemand bemerkt. Es wirkt vollkommen natürlich. Dieses Stück hat durch die Art des Klanges viel mit Körperhaftigkeit und ihrer Auflösung 6
Antoine Beuger: keine fernen mehr, Haan (edition wandelweiser ew01.145a/b) 2010.
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zu tun. Wenn ich es aufführe, setze ich mich nicht vor das Publikum, sondern irgendwohin und pfeife vor mich hin. Da sitzt dann einer und pfeift, und du hast das Gefühl, das ist einerseits ganz intim und andererseits ganz ungreifbar. Beides ist zugleich da. Man fühlt eine körperliche Nähe, als säße man dem Interpreten auf dem Schoß, und gleichzeitig ist es ganz weit weg. Das hat mich an diesem Ton, an diesem Klang interessiert. Wie ein Penner, der vor sich hinmurmelt. Das kann einem zu nahe sein, und gleichzeitig weiß man, ich komm an den nicht ran. Dadurch kann eine gewisse Würde entstehen. Dieses Pfeifen ist ja nichts, nur ein bisschen Luft. Das Stück ist für eine Freundin entstanden, deren Mutter gestorben war und die mich bat, etwas zu ihrem Gedenken zu schreiben. Ich wollte dann nicht etwas machen, was auf die Mutter Bezug nimmt, sondern etwas, was ihr hilft, an ihre Mutter zu denken. Als meine Mutter gestorben war, hatte ich das Gefühl, sie war noch nie so weit weg und gleichzeitig so nah. Alles, was zwischen uns stehen konnte, war nicht mehr da. Sie war in mir. Dieser Klang entsprach genau dem. Es ist, als hört man eine Stimme von irgendwo her. Gleichzeitig weißt du, das ist sie, das ist ganz nah. Ich wüsste keinen Klang, der das mehr hätte. S. H.: Die Grenzüberschreitung beim Pfeifen besteht darin, dass die Luft deinen Körper verlässt. Gleichzeitig kann man nicht sagen, wo genau der Ton entsteht. Bei anderen Musikinstrumenten kann ich das. Der Klang schwankt deshalb zwischen Ort und Nichtort. Er bringt einen Weg hinter sich. Er bewegt sich zwischen Körper und Nichtkörper. A. B.: Der Klang hat eine ähnliche Intimität wie eine Stimme, aber eine Stimme hat nicht diese Ferne. S. H.: Und die Stimme wird viel stärker mit Kunstfertigkeit assoziiert. Das Pfeifen erweckt diese künstlerische Assoziation nicht. Gleichzeitig ist die Situation der Aufführung eine kunsthafte. Es bewegt sich also auf vielen Grenzen. A. B.: Auch die CD-Aufnahme ist auf eine Art eine Entgrenzung. Der Tonmeister hat lange gebraucht, das Pfeifen vom Grundrauschen des Raumes und des Mikrofons zu separieren. Mir war in einer Zeit der vollkommenen technologischen Perfektionierung etwas so Einfaches wie diese CD-Produktion sehr wichtig. Diese Aufnahme ist für mich ein Statement gegen die Virtuosität und technische Perfektion. Es braucht für die Musik den spielenden Aufführenden. Wenn ich das nicht spüre, ist alles für die Katz´. Es hat eine starke Körperlichkeit und gleichzeitig eine Unerreichbarkeit. S. H.: Ich möchte Körperhaftigkeit auf den Körper des Aufführenden, aber auch auf den Ton beziehen. Wenn der Ton durch den Atem des Aufführenden erzeugt
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wird, lässt sich das Ausklingen schwerer festmachen als bei instrumental erzeugten Klängen. Bei keine fernen mehr hat der Atem auch manchmal etwas Geräuschhaftes. Wird ein Klang körperlos, wenn er geräuschhaft wird? Und bekommt er einen Körper, wenn er tonhaft wird? Bei Schlothauers abregistrieren7 hört man zunächst den Ton und dann minutenlang nur noch das Gebläse. Auf mich wirkt es so, dass ein Klang einen Raum beansprucht, ein Geräusch jedoch eine Fläche. Das Atmen würde ich der körperlosen Fläche zuordnen. Aber sobald es ein Klang wird, bekommt es einen Raum und einen Körper. A. B.: Interessant. Ich tendiere fast zum Umgekehrten. Denn gerade am Geräuschhaften eines Klanges spürt man, was passiert. Wenn du beim Geigenton die Geräusche des Reibens nicht mitbekommst, hast du das Gefühl, das ist ein elektronischer Ton. Das Geräuschhafte ist gerade bei leisen Tönen das Konkretere, das eher einen Körper vermuten lässt, als der bloße Ton. Ich verstehe auch, was du sagst. Ein ausgewachsener Ton hat ein Gewicht. Man kann es mit den Konsonanten und Vokalen einer Sprache vergleichen. Ohne Konsonanten klingen die Vokale nicht. Du verstehst Körper physikalisch. Ja, wenn man von einer Klangfläche redet, redet man eigentlich nie von einem Ton. Beim Erzeugen des Klanges kommt der Körper des Erzeugenden natürlich immer mit zur Geltung. Wenn man aber dem Klang zu einem Eigenleben verhelfen will, versucht man ihn vom Körper frei zu lassen, wie im Chor. Aber man sollte beim Hören eines Klanges immer sehen und hören können, dass Menschen ihn erzeugen. Dieser Aspekt von Körperhaftigkeit führt an interessante Grenzen. Beim Pfeifen wird es fast Wind statt Mensch. Denn der Wind macht manchmal auch solche Geräusche, aber nur fast. Es ist möglich, Wind zu werden… Bei Deleuze ist immer alles Werden. Er würde das Pfeifen wahrscheinlich Windwerden nennen; nicht Windsein, sondern Windwerden eines Menschenkörpers. Alles ist bei ihm Werden statt Sein. Da gehen Welten auf, wenn man das so sieht. Dann gibt es Entgrenzungen, die im Werden stecken. Manchmal bist du am Frauwerden, manchmal am Mannwerden, manchmal am Tierwerden. Windwerden heißt, du gehst aus deiner Haut heraus. S. H.: Könnte man sagen, dass man bei diesem Werden selbst Material wird, Material des Windes zum Beispiel? A. B.: Warum nicht. Ich bevorzuge den Begriff Material nicht. Mein Aufsatz »Grundsätzliche Entscheidungen«8 ist sehr von Badious Aufsatz über Zahlen inspiriert. Es gibt die Frage nach der Materie. Woraus setzt sich Musik zusammen? Ich nenne es extra Materie und nicht Material. Material ist etwas, das vor mir 7 8
Burkhard Schlothauer: abregistrieren, Haan (edition wandelweiser ew07.054a) 1998/2003. Beuger, »Grundsätzliche Entscheidungen«.
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liegt, und ich mache etwas damit. Materie hingegen bedeutet: In welcher Materie findet die Musik statt? Dann stellt sich die Frage nach der Form: Wie passiert das? Materie ist ungeformt und nicht wie Material. S. H.: Ist die Materie Stoff? A. B.: Es ist das, was Stoff zum Stoff macht. Es geht in Richtung Substanz, das, was es ist, was es ausmacht. Wenn man das in ständigem Werden, in ständigem Differenzzustand sieht und auf die Idee kommt, dass die Welt eine Unendlichkeit von Differenzierungen ist, dann gibt es nicht zwei gleiche Töne, und selbst in einem Ton ist ein ständiges Anderswerden. Dann kann es als Komponist nicht meine Aufgabe sein, noch mehr Differenzen zu erfinden und aneinanderzureihen. Das ist der Stoff der Dinge. Die Materie ist ein ständiges Anderswerden. Das ist so subtil, dass ich oft gar nicht darauf komme. Bei allem, worauf du kommen kannst und was du notieren kannst, bist du schon so viele Stufen gröber geworden als das, was es gibt, und du bist nur am Stören in diesem ständigen Differenzprozess. Deine Aufgabe als Komponist ist dann das aufmerksame Zuschauen und nicht das Definieren dessen, was sich ändert, sondern dessen, was gleich bleibt. S. H.: Aber gibt es das dann überhaupt? A. B.: Ja, du kannst sagen, in der Partitur von calme étendue gibt es alle acht Sekunden einen Klang. Diese acht Sekunden werden natürlich etwas differieren. Diese Differenzen bekommt man von der Aufführung geschenkt. Deswegen spiele ich nie mit Stoppuhr. Manfred Werder [Mitglied der Wandelweiser-Komponistengruppe – S. H.] arbeitet hingegen mit einer Stoppuhr. Eine ganz andere Haltung. Wir wissen, dass nichts gleich bleibt, aber das Thema heißt: Was bleibt jetzt eigentlich gleich? Und das zu notieren, reicht. S. H.: Wie erklärt sich deine Motivation zu finden, was gleich bleibt? A. B.: Mein Interesse ist es, eine größtmögliche Subtilität dessen zu ermöglichen, was nicht gleich bleibt. An sich interessieren mich weder drei noch fünf oder acht Sekunden. Aber ich möchte in den Blick bekommen, womit der Spieler sich beschäftigt, seinen Fokus. Wenn ich darüber hinaus spiele, habe ich als Spieler das Gefühl, das ist etwas anderes. Das möchte ich keine neun Stunden machen. Da komm ich immer aus dem Fokus raus. Dann sagst du, okay, es bleiben die drei Sekunden, es werden nie fünf, außer es passiert von selbst. Das heißt, es geht nicht um die Struktur, um drei oder fünf, sondern darum: Was der Spieler macht, bleibt gleich. Denn um alles andere muss ich mich gar nicht kümmern. Sonst verhindere ich alles, was an tollen Sachen passieren kann.
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S. H.: Mir kommt das vor wie ein Raster, das man vor die Wahrnehmung stellt, um der eigenen Wahrnehmung Grenzen zu setzen. Erkennen bedeutet ja nichts anderes, als einen Rahmen zu setzen und für mich einen Begriff für das darin Befindliche zu entwickeln. A. B.: Ja, beim Film hast du vierundzwanzig Bilder pro Sekunde. Es könnten auch dreiundzwanzig sein. Egal, Hauptsache, es sind nicht mal fünfundzwanzig und mal sechzehn. S. H.: Ohne regelmäßige Unterteilung können wir nichts erkennen. A. B.: Genau. Deleuze hat zwei Bücher über den Film geschrieben. Er beschäftigt sich damit, wie das Bewegungsbild erzeugt wird. Das wichtige daran ist die Regelmäßigkeit. Das hat mich zu diesem Regelmaß gebracht und das heißt für mich, wenn ich einmal ein Raster habe, dann bleibt es. Es geht nicht um dieses Raster, sondern darum, dass es da ist. Dann entsteht die Empfindung von Bewegung […]. S. H.: Mit deinem Blick könnte man sagen: Wenn Materie grenzenlos different ist und ich setze diese Brille der Regelmäßigkeit davor, dann ist das die Grenze, die ich setze, um die Grenzenlosigkeit zu sehen. A. B.: Ja, und wie bei einem Mikroskop entsteht durch Vergrößerung nicht Nichts, sondern eine neue Unendlichkeit. Dann gehst du noch eine Ebene tiefer. Man würde ja denken, irgendwann hört das auf, aber es ist nicht so. Es ist immer wieder eine neue Unendlichkeit von Differenzen. Dieser Unendlichkeit kann man sich problemlos überlassen. Da kannst du nicht mithalten. Da gibt es eigentlich nur Verwunderung und Vertrauen […]. Es ist letztlich eine Überheblichkeit, wenn wir uns über diese unendliche Differenzierung stellen und sagen, wir machen mal und gestalten das, und wenn wir nicht merken, dass wir bei allem Machen kaputtmachen. Wir kommen eigentlich viel weiter, wenn wir etwas finden zwischen Machen und Geschehenlassen. Wir gehen so sehr davon aus, dass wir immer machen müssen, sodass, wenn eine Partitur von mir kommt, gleich gesagt wird: Das ist sehr offen. Nein! Der Spieler kann nicht machen, was er will, und das ist auch nicht offen. Das ist ein präzis formulierter Fokus und hat mit »offen« überhaupt nichts zu tun. Auch nicht mit »Gutmensch«, wenn du das politisch weiterdenkst. Für mich geht das durchaus ins Politische. Wie geht man überhaupt miteinander um, angesichts der Tatsache, dass wir alle ständig anders sind und dass wir, wie Judith Butler es nennt, gefährdetes Leben sind.9 Wir gefährden uns die ganze Zeit, und die gleiche
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Butler, Gefährdetes Leben, 2005.
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Hand, die Leben durch eine feine Berührung schenken kann, kann auch Tod bewirken. Wir müssen schon feinfühlig miteinander sein, sonst gefährden wir uns, und das kommt in Musik zum Ausdruck: Wie gehen wir eigentlich miteinander um, oder wie möchten wir miteinander umgehen? S. H.: Die Wahrnehmung, die du beschreibst, hat für mich etwas mit Butlers »dispossession«10 zu tun. Denn wenn du so komponierst, bedeutet das, dass du den Klang nicht besitzt. […] A. B.: Das ist bei manchen Komponisten auch eine Ideologie. Ferneyhough treibt die Spieler so in die Enge, dass sie irgendwelche Sachen machen, um sich zu retten. Das nennt er dann surplus, und das schafft den Ausdruck in der Musik. Wenn ich den Spielern immer eine reinhaue, werden sie irgendwann spontan, aber ich weiß nicht, ob das die Umgangsform ist, die ich möchte. S. H.: Wir haben bereits über Zerdehnungen des musikalischen Zusammenhangs durch lange Dauern gesprochen. Fallen dir noch weitere Möglichkeiten von Zerdehnung ein? A. B.: Ja, in die andere Richtung. Ich weiß nicht, ob das Infinitesimale auch in den Bereich des Erhabenen gehört, das fast Nichts, eine Überstauchung. Das Stück 0’00’ von Cage hat ja eigentlich keine Dauer. Bei Werkdauern, die einen Konzertrahmen überschreiten, könnte man differenzieren, was dieser Konzertrahmen ist. Sind das die neunzig Minuten oder sind das die neun Stunden, die wir bei einem Freund im Hof gemacht haben? Das ist eigentlich eine beliebige Referenz. […] S. H.: Hat bei der Konzeption von 3 Jahre – 156 musikalische Ereignisse – 1 Skulptur (Inderhees/Nicolaus) für die darin erklingenden Stücke eigentlich eine Rolle gespielt, dass nach dem Erklingen immer sieben Tage Ruhe war? Hast du das bei deinen Stücken mitgedacht? A.B.: Nein, aber die Stücke sollten immer nur zehn Minuten dauern, und kein Mensch hat in dieser Zeit zehnminütige Stücke gemacht. Neue-Musik-Stücke waren immer länger. Carlo Inderhees hat natürlich daran gedacht, dass da immer Zeit dazwischen ist, aber wir Komponisten brauchten das nicht, wir haben an die Aufführung gedacht. Meine Stücke waren dann wie eine Reihe, eine Serie, und andere haben das auch gemacht.
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Judith Butler und Athēna Athanasiou: Dispossession: The performative in the political: Conversations with Athēna Athanasiou, Cambridge u.a. 2013.
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S. H.: Deine Stücke waren für dich miteinander als Konzept beziehungsweise als Idee verbunden. Heißt das, das Dazwischen war eine klingende Pause? A. B.: Auf eine Art, ja, vom Stück aus gesehen. Aber andererseits war uns allen auch klar, dass unsere Stücke wie Elemente von Carlos Stück sind. Das war eine total schöne Situation. S. H.: Du warst also damit einverstanden, mit deinen Stücken zum Gesamtkonzept beizutragen, aber für deine Stücke hat das, was dazwischen stattfand, keine Rolle gespielt, weil du dir sicher warst, das ist schon gestaltet. A. B.: Ja. Außerdem ist das Berlin. Da lag für drei Jahre für bestimmte Leute ein Netz über der Stadt. Als es aufhörte, gab es von Leuten, die regelmäßig gekommen waren, Tränen. Die konnten sich gar nicht vorstellen, wie es jetzt weitergeht ohne den Dienstagabend um halb acht in der Zionskirche. Es war wie eine Gemeinschaft geworden. Es gab Menschen, die durchaus so lebten, mit der Zeit. S. H.: Das heißt, die Komposition hatte zu einem neuen Biorhythmus geführt. A. B.: Ja, bei einigen, und dazu trug alles bei. Dass es um halb 8 war und nicht um 8 und dass es nur zehn Minuten waren. Man durfte nicht zu spät sein, sonst hatte man es schon verpasst. Der regelmäßige Kneipengang danach ergab sich. Eine Konzertlänge von einer Stunde wäre etwas völlig anderes gewesen. Es hatte etwas von einer Lebensform. Das hat ganz viele soziale Aspekte für die Spieler und die Zuhörer. Es war echt eine Möglichkeit, anders miteinander umzugehen. S. H.: Dieses Stück steht für mich auch für die Entgrenzung von Kunst und Leben. Ein Kunstrhythmus wird zum Biorhythmus. A. B.: Es ist der Traum jedes Stückes, dass echt etwas passiert ist, dass sich echt etwas getan hat, dass etwas anders geworden ist. Wenn ich diese Hoffnung nicht haben kann, gehe ich erst gar nicht in ein Konzert. Für reinen Kunstgenuss ist mir mein Leben zu kostbar. Eigentlich ist es komisch, dass es getrennt ist und wir immer sagen: Wir wollen die Kunst ins Leben überführen. Ich habe bei unseren Stücken, ob als Aufführender oder Zuhörer, das Gefühl, da lebe ich erst recht. Das ist zugespitztes Leben. Dann entdeckt man, so geht’s doch eigentlich auch. Das kann einen total berühren und mitnehmen. Dafür muss man Grenzen überschreiten. Aber das geht in der Musik. Für diese Zeit setzt du dich über alles Mögliche hinweg. Auch über Vorlieben und Abneigungen; der im Publikum atmet immer…, aber dann kommt man trotzdem damit klar. […] 3 Jahre – 156 musikalische Ereignisse – 1 Skulptur wurde extra nicht mitgeschnitten, weil es um das Ereignis ging. Eine
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Aufnahme hätte es aus dem Strom herausgerissen. Das ist nichts zum Nachhören. […] * * *
Gespräch Jürg Frey – Sonja Heyer, 14.10.2016, Zürich S.H.: Landschaft mit Wörtern11 kommt mir vor wie Miniaturen, aber es scheint mir nicht mit Stille zu arbeiten. J.F.: Doch. Die Partitur ist diese Liste, und dann gibt es unten eine Anweisung, wie man die Liste liest, und eine Dauer. Diese ist zum Teil ziemlich lang, bezogen auf die wenigen Worte, die vorkommen. Manchmal gibt es auch zwei Dauern. S.H.: Je nachdem, für welches Vierteltempo sich jemand entscheidet? J.F.: Zum Beispiel: Sieben Aktionen in sieben Minuten, da gibt es dazwischen einen sehr großen Zeitraum. Und die Interpreten entscheiden sich für eine kurze oder lange Version, in diesem Fall: drei oder sieben Minuten, und nicht irgendetwas dazwischen. Die Wörter müssen irgendwie in diese Dauer rein. S.H.: Wie sind Sie auf diese sieben Minuten gekommen? J.F.: Es sind zwei Überlegungen. Die sieben Minuten haben keine hohe philosophische Idee. Mich hat der Unterschied interessiert. Um es zu einer Miniatur zu machen und trotzdem Zeit zu haben, sind drei Minuten praktisch, und um es zu zerdehnen oder um radikale Lösungen zu machen, in denen zum Beispiel alles in der ersten Minute stattfindet und dann sechs Minuten Pause, dafür sind sieben Minuten gut. Das sind intuitive Entscheidungen. S.H.: Und was in der Sieben-Minuten-Variante zwischen dem Sprechen oder Klingen passiert, ist das eine Pause, Stille oder ein Leervolumen? J.F.: Ja, das könnte sein. Weil es hier so flexibel ist, betrachte ich es eher als Feld, als eine Landschaft. Und dann gibt es Brachland; das ist ein Wort, das ich mag. Dazwischen gibt es ein leeres Feld, nichts darauf, Zeit vergeht. Leervolumen trifft eher zu, wenn ich architektonisch denke. Das trifft auf Landschaft mit Wörtern nicht zu. Für mich liegen da Klänge, Töne, Wörter herum. Es gibt einen Zeitraum und
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Jürg Frey: Landschaft mit Wörtern, Haan (edition wandelweiser ew02.082, 091, 092a/b, 093) 2003–2005.
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darin sind die Elemente verteilt. Als ich das geschrieben habe, ist mir nachher eingefallen, dass es auch eine Art Stillleben sein könnte, ein Stillleben in Zeit. In einem klassischen Stillleben ist alles beisammen und das Format ist so… Ich weiß nicht, ob es das in der zeitgenössischen Malerei gibt, aber man kann ein Stillleben auch so gestalten, dass die Sachen nicht arrangiert, sondern eher aufgelistet sind, und dazwischen ist nichts. Bei manchen Stücken gibt es eine fixe Dauer und dann eine Stille, und es gibt ein Volumen dazwischen, wie ein Platz. Der Begriff von Leervolumen ist für mich mit Architektur verbunden. Landschaft mit Wörtern ist aber flexibel. Es ist eine Möglichkeit, wie das Material erscheinen kann. S.H.: Was zwischen diesen Objekten passiert, ist das etwas, das klingt, oder nicht? J.F.: Das ist für mich die Zeitdauer, die für mich am chaotischsten ist. Einerseits klingt etwas nach, und je länger die Pause ist, umso mehr verschwindet der Klang und der Raum bekommt Präsenz. Ich mag es ja zu sagen, das ist ein Leervolumen, doch die Realität ist natürlich nie so. Es ist wie ein Platz. Der kann vom Architekten auch leer gedacht sein, aber oft ist er belebt. In der Komposition ist so ein Leerraum ein klarer Raum, aber in der Aufführung ist es eben ganz anders. Einerseits klingt etwas nach, andererseits bekommt mit längerer Zeit der Raum Präsenz oder der Innenraum des Zuhörers; seine Gedanken gehen irgendwohin. Und erst, wenn wieder Klang kommt, ist das Stück wieder im Fokus. Manchmal betrachte ich es wie einen Atem, wie formales Atmen. Jetzt sind alle fokussiert, dann gehen wieder alle ihren Gedanken nach, und dann kommt wieder Klang und alle Aufmerksamkeit ist wieder auf dem Spieler. S.H.: Diese Komprimierung von Aufmerksamkeit und das Zerfließen, ist das Atmen? J.F.: Ja, das ist das formale Atmen. S.H.: Mir scheint, dass in Landschaft mit Wörtern der Fokus darauf liegt, wie sich die Interpreten entscheiden, die Objekte in die Landschaft zu setzen, und nicht so sehr, was dazwischen passiert. J.F.: Wenn Sie die Wörter gleichmäßig auf die sieben Minuten verteilen, dann passiert das: Ein Wort, isoliert, man ahnt höchstens einen Zusammenhang. Aber man kann auch alles auf die erste Minute packen und dann sechs Minuten Stille haben. Innerlich und emotional ist das dann chaotisch. Es passiert so viel dort. Man hat Ideen, man vergisst, dass es noch das Stück ist. Man ist immer im Stück, aber man macht andere Sachen. Es gefällt mir, dass man eine Pause hat oder eine Stille, zehn
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Minuten, wo man weiß, alle sind in dem Stück drin, alle machen irgendetwas, aber das Stück geht weiter. S.H.: Für meine Fragestellung würde ich mich gern auf Kompositionen konzentrieren, wo diese Stillen komponiert sind. Also solche mit Leervolumen als architektonischem Element, z.B. One Instrument, Series12 . J.F.: Ja, und Exact Dimension Without Insistence13 , da gibt es Leervolumen in Reinkultur, und auch im WEN-Zyklus14 . Exact Dimension Without Insistence ähnelt One Instrument, Series, nur mit zwei Instrumenten. In Exact Dimension Without Insistence gibt es eine erste Hälfte mit Material für die Instrumente und eine zweite Hälfte mit Zeittafeln. Jede Aufführung ist zwanzig Minuten lang und die Zeittafeln regeln das Erklingen der Töne. Spieler 1 wählt eine Zeittafel und Spieler 2 eine andere. Es ist ein 20-Minuten-Gebäude mit verschieden vielen Zeitpunkten darin. Man kann sich diese zwei Ebenen ganz klar architektonisch vorstellen. Dazwischen sind ganz genaue Pausen. S.H.: Jetzt verstehe ich die genauen Festlegungen der Zeiten auch bei One Instrument, Series. So baut man ein Gebäude. Das hört sich an, als ob Sie am Reißbrett arbeiten und sich überlegen: Wie würde ich ein tatsächliches Gebäude bauen, wo muss ich Stabilität hineinbringen und wo kann möglichst offener Raum entstehen? J.F.: Ja, das ist richtig, ein Gebäude. Es gibt das Material und seine Qualitäten. Ich erinnere mich an ein Buch, das für Architekten geschrieben worden ist. Alles dreht sich um das Material. Womit können Architekten bauen: Stein, Beton, Glas, Eisen, Holz. Dieses Buch hat mich, obwohl es ein bisschen technisch ist, sehr inspiriert. Nur denke ich nicht »Stein« oder »Glas«, sondern zum Beispiel »Zweiklang von Cello«. Hoch oder tief ist auch eine Materialqualität, wie groß, wie lang ist das Stück und wo ist der Zeitraum ohne Material. Das ist ja hier auch so, das Wichtigste ist dort, wo das Material nicht ist. Das sind dann die Leervolumen, die beeinflusst sind von den Klängen. J.F.: Ein Architekt hat einen bestimmten Raum vorgegeben, zum Beispiel 200 Quadratmeter. J.F.: In dem Sinn geht es beim Komponieren nie um Raum, sondern um die Zeit. Ich beschreibe es räumlich, aber es ist zeitlich. 12 13 14
Jürg Frey: One Instrument, Series, Haan (edition wandelweiser ew02.055-059) 1999. Jürg Frey: Exact Dimension without Insistence, Haan (edition wandelweiser ew02.060) 1999. Jürg Frey: WEN, Haan (edition wandelweiser ew02.063) 1999–2004.
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S.H.: Das heißt, die Zeit wird am Anfang festgelegt? J.F.: Teilweise. Man beginnt und entdeckt, welche Dauer vernünftig ist. Im Nachhinein kann ich alles so erklären, dass es logisch klingt, aber Sie müssen sich vorstellen, dass vor zwanzig Jahren irgendetwas war, und dann habe ich mich gefragt: Wie organisiere ich das jetzt und was ist eine gute Zeit dafür? Es gibt ein anderes Stück, Buch der Räume und Zeiten15 , auch für zwei Instrumente, aber fünfundfünfzig Minuten lang. Danach wollte ich etwas machen, das etwas handlicher ist, das heißt etwas kürzer. Wie ich dann auf die zwanzig Minuten kam, war eine Entscheidung, zehn fand ich zu kurz und dreißig zu lang. Bei so langen Stücken macht es keinen Unterschied, ob sie 17’5, 3’ oder 17’55’ lang sind. Also nehme ich eine runde Zahl. Wie baue ich mit meinem Material in der Zeit? Das ist für mich ein sinnliches Vergnügen. Diese Form, dann Pause, dann noch mal das Gleiche, dann etwas Anderes und noch eine Pause, wie ein Architekt im Raum etwas macht. Es gibt in einem Buch über den portugiesischen Architekten Manuel Caetano de Sousa ein Bild mit einer Mauer aus Steinen. Dahinter gibt es ein Gebäude. Um die Mauer kann man herumgehen. Die Mauer ist funktionslos, sie steht einfach da, aber die hat so eine starke Wirkung. Das sind Sachen, die mich inspirieren. So, wie die Mauer da ist, kann ein Klang da sein. Der ist dann einfach da. S.H.: Ich stelle mir die Klänge wie Stützpfeiler vor. Welche Qualität hat das Leervolumen dazwischen? J.F.: Es sind nicht Stützpfeiler. Das ist zu statisch, denn Klänge sind immer noch Klänge. In Bezug auf Architektur ist das nichts. Es ist einfach nur Zeit. Sie stellen sich das zu statisch vor. Es gibt nicht diese Funktionen. Der Klang hat nicht die Funktion, etwas zu stützen. So könnte ich nie denken. Es ist eher wie die Mauer. Sie hat keine Funktion, aber wenn sie fehlen würde, wäre es sehr anders. Es würde alles ändern, aber sie hat architektonisch keinen Zweck. S.H.: Sind die Klänge dann einfach Ausdruck des sinnlichen Vergnügens? J.F.: Das kann so sein. Wenn Sie über einen architektonisch schön gestalteten Platz gehen, der gerade leer ist, dann ist es ein sinnliches Vergnügen, auf diesem Boden zu gehen. S.H.: Da können dann Gegenstände sein, die in dem Moment funktionslos sind, die in dem Moment aber zum sinnlichen Vergnügen beitragen.
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Jürg Frey: Buch der Räume und Zeiten, Haan (edition wandelweiser ew02.043) 1999.
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J.F.: Das ist für mich dann das Material. Für mich ist es die reine Materialqualität, die Sinnlichkeit ausstrahlt und die wir mit den Ohren wahrnehmen. Beim Hören solcher Stücke stehen oder sitzen wir meistens und nehmen über die Ohren wahr. Darum brauche ich so viel Zeit und Aufwand, um die Klänge zu finden. Ein Klavierton ist einfaches Material wie ein Backstein, von denen es auch schönere und weniger schöne gibt. Aber sobald ich Materialien kombiniere, Streichtrio mit Flöte und Schlagzeug, dann liebe ich es, eine recht schöne Materialkombination zu finden, die man sich gern anhört. S.H.: Zum Thema »leeres Material«, Klänge, die unverbraucht sind, wenn ich richtig verstehe. Wenn man das so versteht und als Anspruch an den Klang formuliert, dass er unbelastet sein soll, dann wundert es mich, dass Sie mit konventionellen Instrumenten arbeiten. Bringt ein solcher Klang nicht immer schon eine Geschichte mit? J.F.: Wieder mit Architektur geantwortet: Die Bauleute haben auch nur das Holz, den Stein und den Beton. Ich kann an einer Architektur bewundern, dass sie aus Holz ist. Aber natürlich hat das Holz eine ganze Geschichte. Diese Frage hat sich in meiner Musik in den letzten Jahren sehr akzentuiert, weil ich zum Teil auch tonales Material benutze, und dann wird die Frage noch viel wichtiger. Einerseits geht es für mich darum, ganz präzise zu sein, metaphorisch: Ist es Buche oder Eiche? Ist dieser Klang für Cello, für Geige? Ist die Bratsche die tiefste Stimme? Daran arbeite ich lange und probiere aus. Das ist das Niemandsland. Wenn ich es so mache, wie man es macht, dann wird es auch so klingen, wie man es macht und wie ein Streichtrio klingt. Dann kommt die ganze Tradition hinein und übernimmt die Führung und man hört nicht Material. Ich gehe sorgfältig mit dem Material um. Ich kann nicht sagen, dass ich schon höre, was ich schreiben will. Ich weiß viel mehr, was ich alles nicht schreiben will. Dann suche ich. Ich habe ein Gefühl dafür und muss dieses Gefühl dann in die Notenschrift transferieren. Das ist ein komplexer Prozess, die Sorgfalt des Findens des richtigen Materials. Der zweite Faktor, der die Konvention und Geschichte aushebeln kann, ist die Komposition. Die Zeitgestaltung kommt hinein. Das ist eine Energie, die das Material davon wegbringt, so zu klingen, wie es immer geklungen hat. Diese zwei Aspekte sind für mich ganz wesentlich. Die kompositorische Energie bewirkt, dass konventionelles Material plötzlich anders, neu klingt. S.H.: Diese Energie richtet sich auf das Instrument als Material, aber auch auf die Aufführungssituation. J.F.: Mein Anspruch ist, dass es in der Partitur ersichtlich sein sollte, wie es funktioniert. Das erschließt sich vielleicht nicht aus einem einzelnen Stück, aber wenn
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man einige Stücke von mir kennt, weiß man, in welche Richtung es geht. Es geht in Richtung Präzision des Klanges, aber nicht in Richtung Behauptung des Klanges. Entfaltung und Loslassen des Klanges zusammen mit einer sehr präzisen Vorstellung, wie er sein soll. S.H.: Hat das eher mit dem Machen oder mit dem Finden von Klängen zu tun? J.F.: Ich glaube, eher mit dem Machen. S.H.: Also, der Klang wird leer gemacht und nicht leer gefunden. Es gibt keine leeren Klänge, die man finden kann, sondern man muss sie leer komponieren. Sonst könnte man denken, man kann leere Klänge zum Beispiel in der Natur finden, die noch unbesetzt sind. J.F.: Das macht die Komposition. Unbesetzte Klänge in der Natur sind eine Illusion. Da gibt es vollkommen klare und eindeutige Bilder. Bei mir gibt es zum Beispiel Stücke mit Steinen und die machen Klänge, wie sie in der Natur schon vorkommen. Aber durch die Komposition werden sie erneuert. Man hört schon Stein und Wind und die etwas archaische Bewegung, aber das ist nicht die einzige Assoziation. Die Komposition macht klar, dass die Klänge aus einem Natur-Kontext herausgenommen sind. Der Kontext fällt nicht vollkommen weg, aber er öffnet sich in eine künstlerische Dimension. S.H.: Ist das der Hintergrund für Metal, Stone, Skin, Foliage, Air 16 ? J.F.: Ja, vollkommen unspektakuläre Klänge. Das ist ein gutes Beispiel für Architektur. Und das Stück ist in seiner unspektakulären Art spektakulär. Siebzig Minuten, und als kompositorische Entscheidung: nach vierzig Minuten die erste Pause, und dann ganz lange Große Trommeln. Die erste Pause ist ein Schock, ein Akzent eigentlich. Für alle diese Fragen ist diese Komposition der Prototyp. S.H.: Ich habe das Stück Studenten vorgespielt und die Erfahrung war: Durch die vielen Einzelimpulse und durch die langen Klangflächen findet in der Wahrnehmung eine Aufhebung der Zeit statt. Ist das Ihre Intention? J.F.: Wenn ich ein Interesse an Zeitaufhebung komponieren wollte, hätte ich ein Problem. Ich bin eigentlich daran interessiert, diese Triangeleinzelschläge aneinanderzureihen. Und nicht fünfmal und nicht zwanzigmal, sondern 672-mal. Eine
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Jürg Frey: Metal, Stone, Skin, Foliage, Air, Haan (edition wandelweiser ew02.067) 1996–2001.
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Folge davon ist, dass man das auch Aufhebung der Zeit nennen kann. Aber Zeitaufhebung zu denken, würde mich absolut behindern. Ich stell mir vor, alle diese Töne werden geschrieben und gespielt, das ist ein Vorgang, der ganz an der Basis ist. Das ist für mich wichtig, dass der Vorgang möglichst lange an der Basis bleibt. Es ist immer Backstein und nie tolle Mauer. Natürlich weiß ich, das wird dann eine Mauer sein, aber wenn ich den einen einzelnen Backstein schreibe, dann passt er genau. Wenn ich aber immer an die Mauer denke, wird es langweilig. Deswegen schreibe ich mit der Hand, und wenn ich einen nach dem anderen schreibe, höre ich ihn ja. Ich denke ihn und dann ist er da. Ich mache, was die Spieler machen und was man macht, wenn man etwas baut. Während ich schreibe, höre ich einen nach dem anderen. S.H.: Ist das Schreiben selbst auch ein sinnliches Vergnügen? J.F.: Ja. Schreiben und gleichzeitig der Kontakt mit dem Material, über die Schrift und die Vorstellung. Diese Pünktchen und Striche, das ist ein Vorgang verbunden mit Vorstellung. Das ist für mich ein sinnliches Vergnügen. Eine halbe Note zu schreiben und dann darunter »Trompete« oder »fünf Trompeten« zu notieren, das ist in Bezug auf Material meine Welt. S.H.: Mich interessiert in Bezug auf die Erhabenheit Ihr Begriff von Monumentalität. Selbst wenn ich die Partitur sehe, leuchtet dieser Begriff bereits im Hintergrund aufgrund der langen Klangflächen. Erhabenheit wird oft mit Monumentalität zusammengedacht, aber nicht, wie bei Ihnen, mit Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit, sondern eher mit Ewigkeit und Unantastbarkeit. Wie kann man Monumentalität mit Vergänglichkeit zusammendenken? J.F.: Architektur ist nur eines meiner Interessen. Sie können sich Monumentalität als ein Glashaus vorstellen. Ein Gebäude hat Monumentalität, hat Größe, es hat Autorität, es hat die ganze problematische Potenz dieser Architektur. Man kann sich aber ein riesiges Gebäude auch aus Ästen vorstellen. Auch das kann monumental sein, Größe haben und Ausstrahlung. Vielleicht können Sie sich darin sogar bewegen, aber gleichzeitig ist klar, das kann nichts für die Ewigkeit sein. Es ist zerbrechlich und vergänglich. Mit meinen Klängen gehe ich sehr bewusst der Glasmonumentalität aus dem Weg. Architekturpolitisch steckt darin die Gefahr, dass man die autoritäre Monumentalität zelebriert. Ich glaube, dadurch, dass ich immer an der Basis arbeite, stellt sich das nicht so leicht ein. Wenn ich bewusst Erhabenheit komponieren würde, wäre es vielleicht so. Meine Sachen geben nichts her. Das ist alles armselig. Was ist das schon, auf eine Triangel schlagen, auf Trommeln wischen, ein bisschen mit Laub rascheln. Mein Material eignet sich nicht zur repräsentativen Monumentalität. Aber das Gefühl, das wir haben, wenn wir auf
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einem großen Platz sind… Ich war kürzlich auf der Akropolis und dieses Gebäude hat mit Monumentalität zu tun. Dieses Gefühl möchte ich nicht ausschließen, aber es ist oft missbraucht worden. Es ist für mich zentral, dieses architektonische Gegenüber zu haben. Auch bei dem Stück, über das wir gerade gesprochen haben. Wenn Sie das mal im Konzert gehört haben, vergessen Sie es nie wieder. Wie, wenn Sie die Akropolis gesehen haben, wissen Sie: Das ist das! Diese Art von Monumentalität entsteht mit ganz einfachen Materialien. Dadurch, dass ich mir die Zeit nehme. Das ist ja das Schöne: Die Zeit können sie uns nicht nehmen. S.H.: Zum einen liegt also die Zerbrechlichkeit im Material, zum anderen im Produktionsprozess. Sie könnten ja nach dem dritten Triangelschlag, den Sie aufgeschrieben haben, sagen, das reicht. Auch der Prozess des Sich-Zeit-Nehmens für das lange Aufschreiben ist zerbrechlich. J.F.: Das ist richtig. S.H.: Vergänglichkeit und Zerbrechlichkeit habe ich verstanden. Die Offenheit noch nicht. Inwiefern ist Metal, Stone, Skin, Foliage, Air als Partitur wie als Aufführung offen? J.F.: Das Material sagt Ihnen nicht, was Sie über die Triangel oder die Große Trommel denken sollen. Sie fühlen zwar je nach Instrument anders, aber es sagt Ihnen nicht, was Sie denken und fühlen sollen. Radu Malfatti diskutierte einmal mit mir über ein Stück für Zimbeln; Zimbeln sind für ihn der Inbegriff der katholischen Kirche. Das lehnte er radikal ab, und er konnte nicht begreifen, wie ich so etwas benutzen kann. Für ihn war es undenkbar, so einen Klang zu benutzen. Ich habe lang darüber nachgedacht, ob das wirklich so ist oder ob das nur sein Problem ist. S.H.: Es hat also mit der Leere des Materials zu tun. Ich würde gern über klingende Stille sprechen und welche Qualitäten sie hat. Welche Klangqualitäten hat die Stille, wenn sie komponiert ist? Pausen, die alles zulassen, sind etwas anderes. Was unterscheidet solche Stillen von Klängen? J.F.: Stille bedeutet für mich nicht die Möglichkeit, allen möglichen Geräuschen zu lauschen. Das stört mich. Wenn Stille ist, möchte ich, dass es ganz ruhig ist. Es ist einfach eine Anwesenheit dieses stillen Klangraumes. Meine Klänge sind so flach, inhaltsleer und offen wie möglich. Umso präsenter ist dann die Stille. Die Stille hat eine Präsenz, in der ich nichts anderes hören möchte. Ich mag diese Präsenz. Da ist einfach nichts da. Und es gibt nur Präsenz.
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S.H.: Und diese Präsenz hat keine hörbaren Qualitäten, und die soll sie auch nicht haben. Sondern sie soll einfach da sein. J.F.: Für mich ist das eine emotionale Erfahrung, die ich immer wieder suche. Das können fünf oder zwei oder zehn Minuten sein, in denen einfach nichts da ist. Ich suche diese Erfahrung immer wieder in Konzerten. Klingende Stille ist vielleicht ein Hilfsbegriff. Heute würde ich eher sagen, es gibt eine Art Präsenz der Stille, eine Anwesenheit. Stellen wir uns einen flachen Klang vor, und der hört auf; später kommt ein anderer. Und manchmal kehrt sich das Verhältnis um: Die Stille hat mehr Präsenz als der Klang. * * *
Gespräch Eva-Maria Houben – Sonja Heyer, 13.5.2016, Düsseldorf S.H.: Wie lässt sich Unendlichkeit musikalisch denken? Ist es der Moment oder die Dauer, die die Lebenszeit überschreitet? E.M.H.: Eine kurze Dauer hat dann, wenn sie als punktueller Ausschnitt gedacht wird, natürlich latent die lange Dauer auch in sich, als ein Immer-anders-Sein, wo man ein »Nu« hat, das nie gleich aufgeführt werden kann, und dieses »Nu« bekommt durch die mögliche Wiederholung, die ihn ihm steckt, natürlich ein unendliches Potenzial. S.H.: Was ist ein »Nu«? E.M.H.: Zum Beispiel ein Stück von dreißig Sekunden. Es gibt eine Sammlung von sehr kurzen Stücken. Von mir gibt es ein Stück, das heißt im nu17 . Aber auch andere Komponisten, keine Wandelweiser-Komponisten, haben sehr kurze Stücke für das Duo »Interzone Perceptible« (ein 2000 gegründetes Ensemble für zeitgenössische Musik) geschrieben. Da liegt eine Art Erhabenheit in der Kürze und in der unglaublichen Dichte. Das sprengt auch das übliche Maß. S.H.: Ich möchte auf der Materialseite bleiben und nachschauen, ob ich den Erhabenheitsbegriff material- bzw. produktionsästhetisch verorten kann oder ob ich von »kritischer Leere« spreche. Deswegen frage ich immer nach, was es mit den Dauern und den Stillen auf sich hat. Also: Was wird damit erzeugt? Statt: Wie wird es empfunden? Aus dem bisherigen Material kann ich Leere und Stille ableiten. Meine theoretische Arbeit wird sich darum drehen, ob ich daraus einen kritischen Begriff 17
Eva-Maria Houben: im nu, Haan (edition wandelweiser ew16.039) 2003.
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von Erhabenheit ableiten kann. Deswegen frage ich jetzt Komponisten erst einmal nach den zeitlichen Ebenen in ihren Stücken. E.M.H.: Nun spreche ich zu dir als Komponistin, aber gleichzeitig auch als Wissenschaftlerin. Ich würde dir den Begriff des Raumes sehr ans Herz legen. Denn zur Trias Dauer, Stille und Material gehört als Viertes der Raum. Ich bin der Überzeugung, dass gerade auf der Materialebene mit diesen langen Dauern auch immer bestimmte Räume entstehen. Diese Räume haben etwas Unzerstörbares. An der Stelle gibt es ein semantisches Feld zur Erhabenheit. Die Räume, die da entstehen, haben etwas, das sich der Verfügbarkeit entzieht, und etwas, das nicht zerstört werden kann. Ich habe schon oft erlebt, dass diese Räume einfach da sind, unabhängig von unseren individuellen Empfindungen. Die Musik erschafft in ihrem Wechsel von Klang und Stille einen Raum. Dann spielen Kinder und Fußbälle rumsen an die Tür. All diese anderen Sachen kleben sich so daran, machen aber nichts am Raum, zerstören ihn nicht. Diese Angst: Oh, da muss ich die Fenster zumachen, mein Stück ist dran… Da denk ich immer: Stimmt etwas mit deinem Stück nicht? Manchmal gehört der Klang dazu und manchmal nicht, aber selbst wenn er nicht dazugehört, klebt er sich einfach dran und ist dann auch da. Aber es macht gar nichts. Diesen Aspekt solltest du im Kopf behalten. Unterschiedliche Räume entstehen da. S.H.: Aber diese Räume entstehen im Moment. Was hat das mit der Dauer zu tun? E.M.H.: Die Dauer kannst du nicht auf ein Blatt Papier malen. Die Dauer muss wirklich dauern. S.H.: Aber die kannst du kompositorisch festlegen. E.M.H.: Ja, sie kann in Minuten und Sekunden durch einen äußerlichen Wert festgelegt werden. Aber sie wird erst zur Dauer, wenn sie dauert. Sie muss gemacht werden. Dieses Auf- und Ausführungspotenzial ist nötig. Nur die Partitur sagt ja noch gar nichts. Erst, wenn wir da alle sitzen und es dauert, dann dauert es eben. Oder wir gehen, gehen herum oder raus und rein, wie man sich so einem Werk annähert. Wenn es fünf Stunden dauert, kann man ja auch kommen und gehen. Erst in dieser Dauer und an einem bestimmten Ort kann es sich entfalten. Du wirst immer über bestimmte Situationen schreiben müssen. Auch das Material wird ja erst Material im Zuge der Aufführung. Das ist das Besondere an deinem Thema. Du hast es mit Partituren zu tun, aber du wirst schlecht eine Partituranalyse machen können, die nur beschreibt, was auf dem Notenblatt zu sehen ist.
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S.H.: Ja, ich muss die Partituren und ihre speziellen Aufführungsvorschriften reflektieren. Aber wenn ich an die Erhabenheit heran will, wird es wahrscheinlich eher um die Produktion gehen, also, wie es gemacht wird. Interessant ist, wie eine Partitur, die etwas Überzeitliches vorsieht, umgesetzt wird. Diese Paradoxie steckt im Thema der Erhabenheit. Eine Art von Zeitlosigkeit wird mit den Mitteln der Zeit produziert. Deswegen interessiert es mich, wie das im einzelnen Werk funktioniert. Ich habe mir von dir die Werke dazwischen18 , immer anders19 , orgelinstallation20 und langezeit 21 angesehen. E.M.H.: Leider gibt es von langezeit keine Aufnahme. Es ist schön, dass du die Paradoxie benennst, etwas Überzeitliches im Zeitlichen auszudrücken. Du musst es irgendwie in eine Aufführungssituation hineinbekommen als Komponist. Das, was erklingt, muss ja komponiert und dann auch aufgeführt werden. Wie also löst du diese Paradoxie? Das kann man auch machen, indem ein Stück potenziell unendlich ist, aber natürlich realiter aufhört. Stockhausen hat in seinem Aufsatz »Momentform«22 die schöne Unterscheidung gemacht zwischen Anfang beziehungsweise Beginn und Ende beziehungsweise Schluss. Er sagt, seine Momentformen hätten alle einen Beginn und einen Schluss, aber sie fangen nicht an und hören nicht auf. Das heißt, sie haben irgendwann angefangen und enden gar nicht, sind also unendlich. Unendliche Stücke sind meistens auch unanfänglich. Sie tauchen auf und verschwinden. Dadurch entsteht ein potenziell ewiges Andauern. S.H.: Das bedeutet aber, dass man neben dem akustischen Raum noch einen anderen Raum schaffen muss. E.M.H.: Ja, das ist fast ein virtueller Raum. Schon in der alten Musik gibt es viele Komponisten, die das angestrebt haben. Bei Schumann gibt es zum Beispiel so viele Schlüsse, die ein Stück nicht beenden, sondern öffnen. Quasi ein Fortlauf auf ganz verschiedene Weisen. Das sind alles »Löchlein«: kleine Ausblicke in die Unendlichkeit. S.H.: Bei Schumann könnte man das sicher aus der Harmonielehre seiner Epoche erklären.
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Eva-Maria Houben: dazwischen, Haan (edition wandelweiser ew16.002a/b) 2000/2003. Eva-Maria Houben: immer anders, Haan (edition wandelweiser ew16.016) 2002. Eva-Maria Houben: orgelinstallation I, Haan (edition wandelweiser ew16.061) 2005. Eva-Maria Houben: langezeit, Haan (edition wandelweiser ew16.068) 2005. Siehe Michael Mowitz: Die Form der Unendlichkeit. Aspekte der Momentform und der seriellen Struktur in Karlheinz Stockhausens ›Kontakte‹, Essen 2002.
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E.M.H.: Ja, »Kind im Einschlummern« aus den »Kinderszenen« (Robert Schumann) zum Beispiel. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, durch Tonrepetitionen. Bruckner hat auch solche Stellen, wo ein Raum am Schluss offen bleibt oder wo bei Übergängen wirklich in der Luft hängen bleibt, was jetzt kommt. Ich hab eine große Affinität zur traditionellen Musik und finde, es bereichert mich. Ich denke nicht: Ich konzentriere mich nur auf eigene Stücke, ich möchte ja zeitgenössisch komponieren, sondern ich werde sehr angeregt durch Schubert, Schumann, Bruckner und andere. Da sehe ich, dass sie die lange Dauer auch schon suchen und mit dem Paradoxon schon umgehen. Bei immer anders23 zum Beispiel gibt es verschiedene Luftgeräusche der Orgel: fff, sch, sss, phüü und so weiter, von verschiedener Dauer. Manchmal wird eine Dauer noch mal genommen, die Pausen sind verschieden lang. Warum ist das Stück so lang, wie es lang ist? Die einfachste Antwort wäre: Weil eine CD ein begrenztes Fassungsvermögen hat. Es gibt bildende Kunst, zu der man an dieser Stelle eine Brücke schlagen könnte. Jede Rahmung setzt einen Rahmen – oder verzichtet bewusst darauf. Keine Leinwand ist unbegrenzt lang. Das heißt, aufmachen und schließen sind Entscheidungen. Das Stück hat also diesen potenziell unendlichen Fortlauf in sich. S.H.: Was ist der Unterschied zwischen dem orgelstück und der orgelinstallation? E.M.H.: immer anders würde ich als Stück bezeichnen. Es ist eine Partitur, die die Dauern und die Pausen genau vorschreibt. Die verschiedenen Luftarten muss der Aufführende selbst experimentell an seiner Orgel herausbekommen. Ich weiß ja nicht, welche Orgel er hat. Da muss man erfinderisch sein. Aber durch diese Festlegungen ist das für mich ein Stück. Ich kann aber dieselben oder ähnliche Klänge auch in der Orgelinstallation verwenden. Aber so einen Klang kann man nicht genau notieren. Er hängt von einer minimalen Registereinstellung oder vom Tastendruck ab. Die orgelinstallation ist eine verbale Anweisung, wie man das machen muss. Der Ausführende ist frei darin, die Anweisungen so zu befolgen, dass sich über Stunden hinweg ein Miteinander aus verschiedenen Klängen, Luft- und Windgeräuschen ergibt. Die einzelnen Dauern entscheidet er selbst. Es soll nur insgesamt sehr lange dauern. Ich habe geschrieben: »nicht unter drei Stunden«. Beim »Tag der offenen Kirche« in Essen hab ich es schon einmal sechs Stunden lang bis 24 Uhr aufgeführt. Dann sind die Leute zu mir gekommen und sagten: So kenn ich die Orgel gar nicht. S.H.: Warum ist dir das wichtig, eine Installation mit einer potenziell langen Dauer zu haben? Ist die CD-Einspielung aus der Installation entstanden?
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Houben: immer anders, Haan (edition wandelweiser ew16.016) 2002.
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E.M.H.: Nein, das hat nichts miteinander zu tun. Ich arbeite immer gerne mit Luft. Mittlerweile bin ich Meisterin im Luftspiel. Wenn jemand sagt, das vierte Manual bitte nicht benutzen – die Register sind vielfach kaputt –, dann hole ich da noch »Schätzchen« von Klängen heraus. Ich entlocke der Orgel vielfältige Luftklänge, auch mit variablem Tastendruck, sodass die Klänge in die Teiltöne überspringen; ich arbeite auch mit defekten Tasten, mit variabler Schleifeneinstellung. Und wenn eine Orgel keine Schleifen hat, sondern Wippen, dann stell ich manchmal eine Nadel zwischen die Tasten, sodass es doch geht. Auf jeden Fall bekomme ich jede Orgel zum Atmen. Für meine Orgeltätigkeit ist das wichtig. S.H.: Ich sprach mit Antoine Beuger über seine Flötenkompositionen, die er auch selbst eingespielt hat. So kam ich darauf, dass die Musik eine Art Körperhaftigkeit bekommt, weil sie an den Atem gebunden ist. Der Rhythmus des Stückes ist ganz direkt davon abhängig, wie das Instrument angespielt wird. Ist das beim Atem der Orgel das Gleiche? Anders gesagt: Wenn jemand daraus sieben Stunden macht, dann präsentiert er damit seinen Körper? E.M.H.: Ja und nein. Die Orgel hat einen unendlichen Atem und ist ein Blasinstrument. Wir müssen immer neu Atem holen, aber die Orgel kann ich ja festsetzen. Ich kann ein Bleigewicht auf die Taste legen, ich kann einen Keil ins Pedal schieben, dann macht die Orgel fünf Stunden fffff. Das macht ihr nichts. Sie kann das, solang der Strom fließt. Früher musste man ja treten. Es ist auch dieses Faszinosum des ein bisschen Homunkulusartigen, das mich daran fasziniert. Einerseits die Nähe zum Atem, es ist Luft und erinnert an Atem. Ich spiele sehr körperhaft. Ich spiele auch Bach sehr körperlich, mit Zäsuren, vom Singen her. Ich spiele so, wie ich tanze. Auch in einem Präludium von Bach mache ich Zäsuren. Ich gliedere von meinem eigenen Atem her und umso intensiver, seit ich wieder selbst Gesangsunterricht nehme. Dadurch hat sich noch mal vieles gewandelt in der Komposition. Wenn ich komponiere und hinterher singen will, bin ich eingesungen. Der Körper macht etwas, durch die Vorstellung. Das ist es. Das Atmen ist ganz klar in all meinen Stücken, und auch die latent mitgedachte Stimme. Aber bei der Orgel kommt hinzu, dass sie auch eine Maschine ist. Sie hat etwas Maschinenhaftes, und diese Absurdität fasziniert mich auch. Ich war einmal auf einer Empore und ein Organist reparierte selbst etwas. Er hatte Teile der Orgel in Einzelteile zerlegt und es stand ein ganzes Manual für sich auf der Empore. Tausend Fädchen und Drähtchen. Das hat mich an E. T. A. Hoffmann erinnert. Es hat so etwas romantisch Bizarres. Das ist die Puppe, der Automat. Der macht etwas, was wir nicht können. Da ist etwas Unbegrenztes, eine romantische Sehnsucht nach Unbegrenztheit, die sich im Puppenmann, im Gliedermann erfüllt. Lies zu diesem Thema Kleists »Die Marionette«. Die Marionette kommt oft vor, zum Beispiel in der Oper »Hoffmanns
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Erzählungen«. Sie ist lustig, aber das spielt direkt mit in unsere Gedanken hinein: über sich hinausgehen, Grenzen der Zeitlichkeit überwinden. S.H.: Wie kommt in orgelinstallation I die Entscheidung über Dauern zustande? Bei dazwischen gibt es ja keine Stillen, aber bei immer anders. E.M.H.: Bestimmte Zahlenkombinationen tauchen immer wieder auf. Sie sind ausgerechnet, möglicherweise mittels der Fibonacci-Reihe. Das sind Zahlen, die wir auch gut als Unterschied wahrnehmen können. Zwischen dreißig und einunddreißig Sekunden kann man nicht gut einen Unterschied wahrnehmen, aber acht und dreizehn ist schon ein Unterschied. Es war mir wichtig, dass man die einzelnen Dauern der Klänge, Klanggeräusche und Pausen wahrnehmen kann. Für dieses Stück war es mir wichtig, damit es wie eine Patchworkdecke aus unterschiedlich dicken Flicken im Wechsel zwischen Klang und Stille ist. Die Klangfarben sollten distinguiert sein. Jede Farbe hat ihre Dauer. S.H.: Welche Bedeutung hat in immer anders die Stille? E.M.H.: Bei immer anders trennt die Stille, sie fegt, macht sauber, öffnet für das nächste Klanggeräusch. S.H.: Das wäre eine dienende Rolle. E.M.H.: Ja, eine dienende Rolle, weil ich glaube, mit einer bloßen Polarität zwischen Klang und Stille kommt man nicht weit, denn es können auch Geräusche oder Klänge sein, die Stille erst hervorbringen, erst machen. Stille ist nicht Abwesenheit von Klang. Ich habe öfter mit Studierenden solche Stücke erarbeitet, und es war gar nicht still, während wir still waren. Erst, als ein Cellist einen leisen Celloton spielte und ihn hielt und hielt und hielt, da wurde es immer stiller. Es wurde immer stiller, weil der Ton da war. Das ist doch auch paradox: Wie kann es immer stiller werden, wenn ein Ton da ist? Da ist doch gar keine Stille. Vorher waren wir von draußen hereingekommen und alle waren irgendwie durchgedreht und dann hörten alle die Autobahn. Wir hörten die dann gar nicht mehr oder die klebte wieder an dem Stilleraum des Tones. Das heißt, ich würde Klang und Stille nicht als Antagonisten sehen, beziehungsweise versuchen, wegzukommen von einer dualistischen Betrachtungsweise. Klang kann still da sein und kann als Stille da sein, kann Stille sein. Und es kann still sein, und es ist trotzdem gar nicht still. Stille kann von Stück zu Stück andere Gesichter haben und andere Funktionen.
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S.H.: In deiner Habilitationsschrift24 geht es darum, welch unterschiedliche Perspektiven man auf die Zeit werfen kann. Ich dachte gerade, in Bezug auf Stille könnten sich weitere Perspektiven auf die Zeit als Material ergeben. Hat die Stille in einem Stück wie immer anders andere zeitliche Ebenen als der Klang? E.M.H.: Ich versuche, speziell für das Stück zu antworten. Aber man wird diese Frage gar nicht verallgemeinernd beantworten können. Das ist eine Crux, weil man als Wissenschaftlerin gezwungen ist, Verallgemeinerungen zu treffen. Für immer anders gilt: Wenn wir schon sagen, die Stille hat hier nur dienende Funktion, stimmt das schon wieder gar nicht, denn sie wird gefärbt durch den Klang, der gerade war. Der Nachhall ist noch darin. Sie hat natürlich ihre eigene Qualität, die nach einem kurzen, eher hellen ffff anders ist als nach einem langen wuuuuu. Das heißt, da greifen viele Komponenten ineinander. Insgesamt ist es nicht die Stille, die die Möglichkeit der Entgrenzung hervorruft, sondern dieser Wechsel von Klang und Stille, der in einer bestimmten Weise geordnet und komponiert wurde, aber natürlich so und immer auch ganz anders sein könnte und in den nächsten fünfundvierzig Minuten wieder anders sein könnte und sich in diesem Immer-anders-Sein selbst perpetuiert. Darin steckt, dass das Stück kein Ende hat, obwohl es irgendwann aufhört. S.H.: Das wäre ein starkes Argument dafür zu sagen, es erklärt sich nicht aus dem Material, sondern es wird produziert. Stille produziert nicht das und das, sondern durch den Wechsel von Klang und Stille wird so etwas produziert. E.M.H.: Dies gilt für diesen Fall. S.H.: Meine Vermutung war eine andere, nämlich: Ein Klang produziert eine lineare Zeitvorstellung, Stille hingegen führt uns, mit Gebser25 gesprochen, zur Aperspektivität. E.M.H.: Das glaube ich nicht. Klang kann auch nichtlinear sein. Wenn ich den langen Celloton oder den Orgelton höre… Ich umreiße mal die Situation: Wir sind in Weingarten, die Orgel hat einen 32-Fuß, das ist ziemlich tief im Register, ich nehme das tiefe C, da hörst du fast gar keinen Ton mehr, da hörst du nur uuuuu, und du merkst richtig, wie körperhaft das ist. Da ist keine Linearität, da ist Raum.
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Eva-Maria Houben: Die Aufhebung der Zeit: Zur Utopie unbegrenzter Gegenwart in der Musik des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1992. Gebser, Ursprung und Gegenwart.
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S.H.: Ist nicht gerade durch die Frequenz ein Rhythmus hörbar und damit auch Linearität? E.M.H.: Ja, aber das ist nicht zielgerichtet, nicht teleologisch, da wird ein Zustand evoziert. Und dann bist du in dem Raum und hast das Gewummer. Da entsteht ein Raum, eine vertikale Ebene, und gerade die Situation mit dem langen Celloton, der brachte Stille hervor. S.H.: Der brachte in der Wahrnehmung Stille hervor… E.M.H.: Ja, es wurde immer stiller. S.H.: Die Zuhörer wurden immer stiller? E.M.H.: Der Ort wurde immer stiller, der Klang blieb natürlich so. Du willst und kannst ja nicht über Wahrnehmung schreiben. Aber: Ein Klang kann es immer stiller werden lassen. Zum Beispiel kann das der unendliche Atem einer Orgel durch die überdimensionale Dauer, die wir alle nicht haben können. Wir gehen nach Hause und am nächsten Tag ist der Keil immer noch drin und es atmet immer noch. Das ist eine unglaubliche Stille. S.H.: Was ist notwendig, damit sich diese Situation von konzeptioneller Überzeitlichkeit tatsächlich einstellt? Gleichförmigkeit? Gemacht werden muss es natürlich immer, aber wie geschieht das konzeptionell? E.M.H.: Nach meiner Erfahrung ist dafür ein ganz bewusster Umgang mit dem diffizilen Verhältnis von Klang und Stille notwendig. Ich glaube, viele Werke, die ich kenne, haben eine gewisse Abstraktion von Bedeutungen und von »Ich muss euch mal was sagen«. Ich glaube, es ist sehr abstrakt. In dem Buch »MusikDenken« gibt es diesen schönen Aufsatz von Burkhard Schlothauer »Abstrakte Musik«26 . Eine Musik, die keine Anleihen macht bei der Tanzbewegung, keine Anleihen beim Wort, weder Verkündigung noch Mitteilung, noch Botschaft sein will, sondern einfach nur Stille und Klang da sein lässt. S.H.: Und Komponieren heißt dann, diese Stille, diesen Klang zu zeigen. E.M.H.: …dieses Verhältnis durch vielfältige Facetten zu zeigen. Bei einer Installation von Jürg Frey zum Beispiel sitzt du in dem Raum, und es gibt ganz kurze
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Schlothauer in: Houben (Hg.), MusikDenken, S. 34-49.
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Klänge, die sich aber unterscheiden und was machen, und das ist auch ein Verhältnis von Klang und Stille. Dann ist die Stille natürlich riesenlang und die Klänge sind ganz kurz. Ich glaube, es kommt nicht so sehr darauf an, wie lang die Stille im Verhältnis zu den Klängen ist und umgekehrt, sondern wie jemand mit diesem ganz vielfältigen Verhältnis von Klang und Stille umgeht und das gestaltet. Das hast du auch bei Schubert, wenn du die große B-Dur-Sonate von den drei letzten Sonaten nimmst. Wie macht der Pianist das und wie ein anderer? Da entsteht schon so ein Loch als Ausblick in die Unendlichkeit hinein. Das entsteht nur durch den tiefen Triller, durch den Klang. Das macht die Stille von alleine nicht. Stille allein gibt es ja gar nicht, die entsteht ja, die machst du, indem ein Klang aufhört. S.H.: Ich hatte in deiner Habilitationsschrift zwei interessante Begriffe gelesen: Zeitfülle und Zeitfreiheit. Wie passt das zu dem, was du komponiert hast? Spielt das beim Komponieren eine Rolle? E.M.H.: Konkret vergesse ich beim Komponieren die Zeit. Ich kann am besten komponieren, wenn ich mich befreie vom normalen Ablauf. Das kann im Alltag sein und ist dann schon so ein wenig »zeitfrei«. Dann macht es einem auch nichts aus, wenn man lange im Wartezimmer hockt, denn im Kopf kann man ja über bestimmte Klänge nachdenken, und schon katapultiert man sich in einen anderen Raum. Das hat vielleicht mit Gebser zu tun… S.H.: Ich meinte »Zeitfreiheit« und »Zeitfülle« bezogen auf das kompositorische Material. Komponierst du das? E.M.H.: Das ist wieder ein Paradox. Jürg Frey hat einen Aufsatz über »Material«27 geschrieben. Das ist das Material, das möglichst nicht voll beladen ist, alles mit sich führt und konnotiert ist. Die Fülle kannst du nicht machen, die passiert wirklich. Ich glaube nicht, dass man sie komponieren kann. Es gibt die Suche nach dem Material, das die Zeit für Augenblicke vergessen lässt und uns ins Fliegen bringt. Das kannst du finden, aber es ist eine Gratwanderung, die Jürg Frey gut beschrieben hat. Schon wenn du einen Celloton komponierst, hat der einen sagenhaften historischen Background. Es ist ja alles schon da. Dass du einen Klang nimmst, der möglichst wenig verändert, gebogen, gedreht wird. Bei Antoine Beuger gibt es auch dieses ziemlich nackte Material. Da gibt es einen Zusammenhang. Dann kann nämlich viel zwischen den Klängen passieren. Das musst du natürlich komponieren, aber das, was dann passiert, ist nicht immer genau festzulegen. Zum Beispiel lass ich zwei Leute spielen und komponiere unglaublich komplexe Rhythmen. Die müssen zehn Tage üben. Aber eine Beziehung zwischen den beiden, auch eine volle 27
Frey, Material.
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und in Nuancen abweichende, bekomme ich auch mit ganz einfachen Vorschriften in der Partitur hin. Dann ist die Vorschrift ganz einfach und die Partitur sieht aus wie nichts. Aber was passiert, ist dermaßen komplex, dass ich das gar nicht in Septolen, Nonolen ausdrücken kann. Da passiert so etwas von Fülle, weil es einmalig ist, nicht wiederholbar, weil es eine Beziehung zwischen den Aufführenden ist – und die kann ich nicht komponieren. Ich kann ihnen das Material geben und dann passiert etwas. S.H.: Du kannst eine bestimmte Unschärfe darin lassen. E.M.H.: Unschärfe, ja, durch die Art der Anweisung. Und einer von außen guckt sich das an und sagt: Das ist doch nichts, drei Töne. Deswegen: Das einfache Partiturstudium sagt noch nichts, und das ist auch mit »Zeitfreiheit« gemeint. So ein Material ermöglicht eine freie Beziehung zwischen den Aufführenden. Das hat viel mit Praxis zu tun. Das betrifft die Ausführung. S.H.: Welche Idee steckt in Stücken mit langen Dauern? Soll die lange Dauer für Stasis sorgen oder für unendliche Bewegung? Mich interessiert, welche Qualitäten in der Dauer stecken. E.M.H.: Bei langezeit wäre es so, dass dieser Orgelpunkt, der die ganze Zeit bleibt, eine Stasis suggeriert, die gar nicht da ist, weil die anderen Stimmen alle etwas machen. Aber die sind eben ganz frei – und da bist du wieder bei der »Zeitfreiheit« – wann sie einsetzen. Die bewegen sich in diesem – jetzt sag ich doch – Raum, den der Orgelpunkt hervorbringt. Da kommt das Moment der Bewegung mit hinein und beides ist gleichzeitig da: die Statik des bloßen Andauerns. Und selbst wenn die Stimmen alle fertig sind und der Drone-Spieler würde weitermachen, ginge das Stück ja weiter. Gebser sprach von »Zeitfreiheit«, das heißt, du brauchst keine Uhr und kein Metrum für das Stück. Du spielst deine Melodie: Und wenn der Orgelpunkt aufhört, dann kannst du sie eben nicht ganz spielen. Dann hätte es potenziell ganz lang oder fünf Stunden dauern können. Aber in der Aufführung kann man es eben kürzer machen. Und je nachdem, welchen Mut die Ausführenden haben, können sie sagen: Wir verabreden nichts. Oder: Ich weiß nicht, ob ich den Orgelpunkt wirklich höre, mir ist nicht wohl ohne Absprache. Dann verabreden sie vielleicht doch etwas. Aber das geht mich dann nichts mehr an. Es steckt in dem Stück drin, dass man sich eine Ausführung ohne Absprachen trauen könnte. S.H.: Das spricht dafür, den drone als Stasis zu verstehen. Aber eigentlich kann man ihn doch gar nicht anders begreifen als eine Frequenz, und dann ist da immer Bewegung drin. Es gibt viele Stücke, die mit etwas lange Durchgehendem arbeiten. Eigentlich muss man einen solchen Klang immer als lineare Bewegung verstehen.
Komponistengespräche
Gleichzeitig suggeriert er Unendlichkeit und Stasis. Ich möchte die Suggestion und die Metapher vom realen Klang differenzieren. Würdest du tatsächlich sagen: Dieser Orgelpunkt steht für Stasis? E.M.H.: Nein, der steht, wenn du mich nach den Begriffen fragst, im Unterschied zu dem anderen Klingenden für Stasis, aber ich benutze dieses da/da gar nicht. Deshalb habe ich dir gesagt, sei vorsichtig mit Klang/Stille und Statik/Bewegung. Gebser hat bereits vor dreißig Jahren vor Dualismen gewarnt. Ich habe gerade ein neues Buch herausgebracht mit Zelenka, »and/or«28 , weil die Dualismen eigentlich nicht klappen. Doch wir brauchen sie in der Sprache; wenn du ein Stück beschreiben willst, dann sagst du, es ist eher statisch, oder: Hier ist die Bewegung. Natürlich ist der Ton nicht statisch, und natürlich hast du, wenn du einen langen Celloton nimmst, ganz viele Instabilitäten. Das Haar frisst und lässt los und frisst und lässt los. Das sind ständig kleine Einschwingvorgänge, weil der Bogen ja schon uneben ist und in die Seite fressen muss. Unterm Mikroskop zerfällt sowieso alles und ich frag mich zum Schluss: Sehe ich den Punkt durch die Löcher oder die Löcher durch den Punkt? Das ist es und das sind auch Schwierigkeiten der Sprache. S.H.: Das ist ein guter Hinweis: Man kann einerseits absolut über etwas sprechen beziehungsweise denken und andererseits in Relation zu… wieder anders. E.M.H.: Ich glaube, du kannst nicht mehr denken. Eigentlich müssen wir alles infrage stellen beim Komponieren. Und das meinte ich vorhin mit dann ist man zeitfrei, man fällt in die Sprachlosigkeit, und man muss auch keine Sprache haben. Ich bin ja dann keine Wissenschaftlerin, und das ist gut und dann genügt es, dass die Welt in Milliarden Nuancen zerfällt. Aber als Wissenschaftler musst du aus der Sprachlosigkeit heraus. Und dann kannst du nicht mal »Zeitraum« als Metapher sagen, weil du Klarheit brauchst. Deswegen warne ich vor Fallen. Es sind alles keine realen, wirklichen Gegensätze, sondern wir nehmen die Sprache, die Begriffe und drücken es so aus: Ist das jetzt im Vergleich zu… statischer oder eher statisch, damit du überhaupt sprechen kannst. S.H.: Der entscheidende Punkt beim Sprechen ist, aus welcher Perspektive ich auf etwas gucke. Versuche ich, absolute Begriffe zu schaffen, oder spreche ich über ein Werk? Dann muss ich die Begriffe zueinander ins Verhältnis setzen. E.M.H.: So ist es. Du näherst dich dem Phänomen natürlich im Sprechen über Werke, die unterschiedlich beschaffen sind, und wir stellen fest, dass du dann die Begriffe auch anders füllst. Aber nur so geht es. 28
Eva-Maria Houben und István Zelenka: und/oder – 1 Sammlung, Haan 2016.
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S.H.: Die orgelinstallation I besitzt noch einen weiteren Aspekt mit dieser Computereinspielung als Mehrkanalversion, bei der unterschiedliche konkrete Orgelklänge in zufälligen Zeitintervallen über acht Lautsprecher abgespielt werden. E.M.H.: Das ist eine andere Version. Die kannst du ewig abspielen, ganze Tage, ein Loop, bei dem der Computer per Zufallsverfahren auswählt, welche Klänge er nimmt, und davon gibt es viele. Dann gehst du durch die Kirche, und da und dort kommt etwas ganz zufällig heraus. Diese Version ist nicht ortsspezifisch entstanden und an verschiedenen Orten abspielbar. Sie gehörte ursprünglich zum Oratorium im siebten stockwerk der geduld29 . Karl-Oskar Stimmler hatte mit der Vorlage des Buches Hiob das Libretto »im siebten Stockwerk der Geduld« geschrieben. Darin kommt wiederholt der Satz vor: »im siebten stockwerk der geduld halt ich dich ausgetrocknet aus«. Dies spricht Hiob. Stimmlers Dichtung hat mich angesprochen – dann habe ich dieses Kammeroratorium für Chor, Orgel und Sprecher komponiert; es wurde mehrfach aufgeführt. Die Installation kam zur Orgel hinzu. Dann wollte ich die Installation verselbstständigen, weil sich das lohnt. S.H.: Warum ist das interessant für dich, dass ein Programm über die Zeitdauern entscheidet, das ja quasi den Interpreten ersetzt? E.M.H.: Du brauchst dann keinen Interpreten mehr. Das hat zwei Seiten. Ich finde, bei der orgelinstallation merkt man, dass ich als lebender Mensch mit im Raum bin. Ich agiere, man merkt das, die Orgelbank knarrt, und das gibt dem Raum eine andere Aura. Wenn das nicht existiert, wird alles weiter in die Ferne gerückt, entrückter. Ich möchte das nicht werten. Es sind unterschiedliche Umgangsweisen mit diesen Klängen. Bei der Live-Orgelinstallation entscheide ich über jeden Ton. Ich kann mir vorher ein Konzept machen, aber davon abweichen, kann sogar, wenn die Tasten fixiert sind, zwischendurch zur Toilette gehen oder bei einer Aufführungsdauer von fünf Stunden eine Banane essen, aber es bleibt so ein individueller Producer. Bei der Installation ist das weg. S.H.: Das heißt, bei der Installation nimmst du die Körperlichkeit heraus. E.M.H.: …heraus, aber sie bleibt erhalten im Atem der Aufnahmen. Der Fokus ist vollkommen auf dem Material und dem »Wie ist das?«. Die Klänge stammen von verschiedenen Orgeln, ich bin durch die Kirchen gegangen, ich habe bestimmt Tau-
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Eva-Maria Houben: im siebten stockwerk der geduld, Kammeroratorium für Mezzosopran, Sprecher, Flöte, Oboe, Klarinette, Viola, Schlaginstrumente und Orgel auf einen Text von KarlOskar Stimmler, Haan (edition wandelweiser ew16.129) 1992.
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sende von Luftgeräuschen aufgenommen… ewige Nuancen. Sie werden ein- und ausgefaded. S.H.: Wie eine Ethnografie des Orgelklangs. E.M.H.: Du hörst Orgel, du kannst es auch identifizieren, es hat auch Klanganteile, nicht nur Luft, manchmal auch Ton, aber es klingt wie eine Äolsharfe. Die Dauern sind unterschiedlich. Bei der Aufführung von »Hiob« haben wir es so eingestellt, dass das Programm eine Stunde vor der Aufführung schon begann. Der Computer sollte zuerst nur zwei Klänge pro Minute nehmen und dann fünf und dann acht, und dann wurde es immer dichter. Ich hab eine Aufnahme vom »Hiob«. S.H.: Ein Zitat von dir lautet, dass in einem sakralen Raum Hörfreiheit entsteht. Warum ausgerechnet dort? Bringt nicht gerade ein sakraler Raum viele Assoziationen mit, die das Hören überlagern und richten? E.M.H.: Ich wollte den Raum öffnen und weiten, indem nicht der typische Orgelklang kommt, wie man ihn kennt. Ich habe auch schon sehr Negatives gehört, zum Beispiel, ich würde den Orgelklang zerstören. Ich fragte zurück: Warum? Die Orgel ist doch ein Blasinstrument und kommt voll zum Zug. In der Vorstellung vieler ist ein Orgelklang sehr geeicht, nämlich prächtig und pompös und nie schwach. Mit dem Atemgeräusch der Orgel wird Schwäche verbunden oder Zerstörung, weil der Klang in seine Bestandteile zerfällt. Dadurch wird er sehr verändert. Es geht darum, der Sakralität eine andere Möglichkeit zu geben. Das Leise, nicht Pompöse, nicht Auftrumpfende erscheint. Jetzt nehme ich wieder Begriffe, ich wollte ja eigentlich keine Begriffe benutzen, aber das ist das Dilemma. S.H.: Ist das dein Ziel, beim Komponieren für Orgel Sakralität neu zu besetzen? E.M.H.: Ich denke, Ziel beim Komponieren für jedes Instrument ist es, das Instrument ganz genau zu kennen und zur vollen Entfaltung zu bringen. Das ist mein persönliches Credo. Dafür muss man sich mit dem Instrument sehr gut auskennen. Ich halte nichts von Leuten, die sagen, Hauptsache ich habe richtige oder falsche Töne, sondern es geht darum, das Instrument in seinen Möglichkeiten strahlen zu lassen. Es können ganz leise Töne sein. Das hat mit Dynamik nichts zu tun. Was ist eine Orgel? Das muss ich mich fragen, wenn ich für Orgel komponiere. Wenn mir dann einer sagt: Ist doch egal, in welcher Oktave, Hauptsache ein B, dann sag ich: Nein, das eingestrichene b auf dem Klavier braucht nicht ein Drittel so lang zum Verklingen, wie das Subkontra-B. Dann erwidert er: Ich setz mich doch nicht hin und hör mir an, wie lange die Töne verklingen. Da denk ich, dann musst du auch nicht komponieren. Das ist das Material. Und ich meine, das Instrument
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zur Entfaltung bringen heißt doch auch, darüber Bescheid zu wissen, wie lange die Töne verklingen. Beim Klavier rutschen mir die Klänge immer weg und bei der Orgel nicht. Da habe ich ein ganz anderes Verhältnis zur Zeit. Das Instrument und die Klänge, die es macht, sind das Material. Und das Material beeinflusst natürlich meine Artikulation und meinen Umgang damit. S.H.: Ist Zeit auch Material? E.M.H.: Nein, Zeit ist ein Ordnungsfaktor bei der Zurichtung des Materials. Wenn ich am Klavier schreibe »Klang verklingen lassen« und schreibe ein Subkontra-A, den tiefsten Ton, den das Klavier hat und schreibe darüber, »10’ bis zum Verklingen«, dann hab ich keine Ahnung, denn der Flügel braucht viel länger. Also muss ich Bescheid wissen über Dauern, die das Material fordert. S.H.: Würdest du Cage zustimmen, bei Dauer von klingender Weltzeit zu reden? Wenn wir an die Räume denken, an die sich noch mehr koppelt, nicht nur der Ton, und wenn du so komponierst und verschiedene Räume dabei denkst, ist dann Dauer klingende Weltzeit? E.M.H.: Die Komposition ist während der Dauer der Aufführung immer Bestandteil der klingenden Weltzeit, ganz gleich, welches Stück man aufführt. Alle Klänge gehören mit dazu, gehen ein in das, was überhaupt da ist. S.H.: Könnte man dann im Umkehrschluss sagen, wenn du eine Stille komponierst, dann lädst du die Weltzeit ein, darin zu klingen? E.M.H.: Die ist ja immer da. Die hörst du dann ja auch, du hörst dich ja auch atmen. Du sitzt da ja auch und lebst. S.H.: Ist das eine bewusste Entscheidung, diese Art von klingender Stille mit hineinzuholen, wenn du komponierst, wenn du sagst, hier komponiere ich keinen Klang, sondern ich lade das ein zu klingen, was ohnehin da ist? E.M.H.: Ja, es ist eine bewusste Entscheidung, ob du das zulassen willst, weil du damit gleichzeitig auch den Unterschied zwischen Klängen und Geräuschen nivellierst. Was ich mit der Atmung der Orgelklänge mache, die ja Klangbestandteile haben, ist eigentlich auch schon ein Aufweichen der Unterschiedlichkeiten entweder/oder. Wenn ich eine Schubert-Sonate am Klavier spiele, klingt die Weltzeit ja auch mit. Die macht ja weiter und meine Interpretation geht ein in den Fundus unserer Welt. Sie gehört mit dazu, auch wenn es nicht aufgenommen worden ist.
Komponistengespräche
Aber es ist jetzt verklungen, und damit war es mal da und bleibt da. Das ist meine Ansicht. S.H.: Es wäre ja noch einmal eine andere Entscheidung, zu sagen: Hier lasse ich Platz für das, was ohnehin klingt, und hier besetze ich den Raum, als zu sagen: Ich komponiere, und es ist sowieso immer Teil dessen, was klingt. Dann ist es eher ein Nebeneinander oder mischt sich. Aber wenn ich ganz bewusst diese Zeiten lasse, in denen anderes klingen kann, ist es ein Miteinander. Dann verbinde ich es miteinander in der Komposition. Die Frage ist, wie du Stillen komponierst. E.M.H.: Aber ich glaube, was du jetzt fragst, ist eine Möglichkeit, die zutreffend sein kann. Ich glaube, dass jeder Komponist, jede Komponistin unterschiedliche Möglichkeiten realisiert. Ich würde mir Cages Ausspruch teilweise zu eigen machen, würde dann aber sagen, es gibt in meinen Stücken auch ganz andere Erscheinungsweisen von Stille. S.H.: Und diese Erscheinungsweisen interessieren mich. E.M.H.: Es gibt ganz andere Erscheinungsweisen, und etwas zu besetzen, das trau ich mir gar nicht zu. Der Aufführungsraum ist ja schon ganz begrenzt und nebenan verkauft jemand Hähnchen. Ich kann nichts besetzen. Die Simultanität der Geschichten, die hier überall ablaufen, ist so gigantisch. Ich würde mir nicht vorgaukeln, irgendetwas besetzen zu können. S.H.: Aber du kannst etwas offen lassen. E.M.H.: Ja. S.H.: Und das ist eine bewusste Einladung… E.M.H.: Das hat Cage mit 4’33’ gemacht, indem er das bewusst offen gelassen hat. S.H.: Trifft das auf Stücke von dir zu? E.M.H.: Ja, das ist auch mit dabei. S.H.: Zum Beispiel bei immer anders? E.M.H.: Nein, da eben nicht. Schöner Vergleich. Da ist nicht: Wir lassen jetzt mal bewusst offen, sondern da sind die Pausen, weil du sonst die Klänge nicht differenzie-
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ren würdest. Die Pausen wirken wie Radiergummis, oder wenn du eine Weinprobe machst und du nimmst ein Stück Weißbrot, bevor du einen neuen Wein probierst. S.H.: Sie sind also ganz klar auf die Klänge bezogen. E.M.H.: …auf die Klänge bezogen, kriegen aber von den Klängen eine eigene Qualität und wirken in ihrer unterschiedlichen Dauer. Es sind unterschiedliche Stillen, je nachdem, welche Klänge vorher und nachher waren. S.H.: Das wäre ein gutes Beispiel für klingende Stille. E.M.H.: Ja. S.H.: Und gibt es ein anderes Stück, wo du ganz bewusst einen Cut machst und das hineinholst, was da klingt? E.M.H.: Ja, das gibt es auch, zum Beispiel in ich vertraue meinem garten30 für Ensemble. langezeit wieder nicht, weil da der drone das Stück weiterführt. S.H.: Ich bin über den Begriff der Überzeitlichkeit zur Entgrenzung gekommen. Ist das ein wichtiger Begriff für deine Kompositionspraxis? E.M.H.: Das Komponieren ist eine eigene Sache, da denke ich nicht über Entgrenzung nach. S.H.: Ist es im Sprechen über deine eigenen Werke ein Begriff? E.M.H.: Nein, eigentlich nicht. Oft wird bei mir gesagt: Es war meditativ. Wir hatten jetzt eine Aufführung in Nürnberg, und mein Stück für Horn und Orgel fiel aus dem Rahmen. Es gab keine einzige Pause, es hatte keine Stille, aber es war still. Die Orgel sackte so ab. Klänge wanderten über die Tastatur, bis die Tasten zu Ende waren. Da war die Begrenzung, da bist du beim Material: Wo fängt es an, wo hört es auf? Es war ein bestimmter Akkord, der in seinen Bestandteilen abwärtswanderte. Sonst war da nichts. Das Horn hat hineingespielt und beide konnten aufeinander reagieren. Wenn das Horn ein h spielt und die Orgel spielt ein ais, dann kann man diese Reibung zulassen und ein bisschen herauskitzeln, oder man kommt zu einem Dominantseptakkord, der natürlich die Funktionen nicht mehr hat, aber dann setzt sich das Horn satt hinein. Das kann man auch forcieren. Ich hatte nebenbei die Partitur vom Horn, und das konnte spielen, wann es wollte. In 30
Eva-Maria Houben: ich vertraue meinem garten, Haan (edition wandelweiser ew16.020) 2002.
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dem riesigen Raum, den die Orgel evoziert, kann das Horn frei wandern. Da entstanden sehr freie Klänge – dann sagten später Zuhörer: Ihr Stück, da hab ich mich so wohlgefühlt. Ein anderer sagte: Das war so meditativ. Das freut mich, aber Meditation ist kein Begriff für mich. Ich möchte nicht meditative Musik schreiben, wie man meditativ gemeinhin meint, wenn man im Wellnesscenter in der Fangopackung liegt. Statt Entgrenzung ist für mich so eine somnambule Aufmerksamkeit oder aufmerksames Träumen wichtig, so ein Zwischenzustand zwischen sich Sichhingeben und Wachsein. Die Aufmerksamkeit ist ein Begriff, mit dem ich viel anfangen kann. Beim Aufmerksam-in-der Welt-Sein, beim In-der-WeltzeitSein als eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung, die ich als Komponist, als Ausführender und als Zuhörer leiste, wenn ich mich einlasse auf Klang und Stille, da treffe ich mich mit Cage. Wichtig für mich wäre dieses Sich-Einlassen auf die Flüchtigkeit des Daseins und auf dessen Kostbarkeit sowie meine Annahme von Da-Sein. Das würde ich mit Weltzeit bezeichnen, und das ist etwas, was ich mit komponieren will. Ich möchte liebevolle Aufmerksamkeit dem Material und den Dingen gegenüber und den Menschen gegenüber haben und finde die Begegnung mit ihnen wichtig. Diese Aufmerksamkeit hat für mich politische Bedeutung. Als Jürg Frey und ich in Chicago waren, wurde er gefragt, ob seine Musik oder die von Wandelweiser politisch ist. Jürg Frey verhielt sich eher zurückhaltend, während für mich ein wichtiges Stichwort gefallen war. Ich sagte etwa (was ich heute noch sagen könnte): Meine Musik ist politisch auf unpolitische Weise. Sie hat keine Botschaft und sie sagt auch nicht: Ihr müsst die Grünen oder die SPD oder CSU wählen. Sie gibt keinerlei Handlungsanweisungen. Sie ist weder für noch gegen irgendetwas Bestimmtes, sondern sie fordert ein aufmerksames In-der-Welt-Sein. Ich glaube, das ist etwas Wichtiges, und das kann sehr leicht gerade Musik erreichen, die das Material so strukturiert in der Zeit, dass sie das Verhältnis von Klang und Stille immer neu austariert. In einer Welt, die zunehmend unaufmerksamer wird, geht es um eine Annahme des Hier und Jetzt und um eine Aufdeckung des utopischen Potenzials. S.H.: Und auch um ein Konstatieren. E.M.H.: Ja, so ist es jetzt, so war es, so könnte es (auch) sein. S.H.: Ich verstehe, dass das politisch ist. * * *
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Gespräch Marcus Kaiser – Sonja Heyer, 14.5.2016, Düsseldorf S.H.: Welche zeitlichen Ebenen siehst du in an einem ort – an einem anderen ort 31 im Vergleich zu UNTERHOLZ/(spinozawucherung)32 ? Du hast geschrieben, das eine ist linear fortschreitend und das andere nicht. M.K.: an einem ort – an einem anderen ort ist von der Konzeption her relativ klar. Das Ganze wird im Prinzip immer überschrieben. Es könnte theoretisch mal eine Abzweigung entstehen. Die letzte Aufführung war vor einem Monat in Tianjin in China. Wenn ich jetzt weitermache, und jemand aus China tut das auch, dann gäbe es plötzlich zwei Stränge. Das gibt’s bis jetzt noch nicht. Strukturell gäbe es dann praktisch keine Möglichkeit mehr, diese neuen Stränge zusammenzubringen. Das wäre so, als wenn sich in der Evolution etwas geteilt hat und zwischen beiden keine fortpflanzungsfähigen Nachkommen mehr möglich sind. Dann sind sie für immer getrennt. Bei UNTERHOLZ entsteht eine immer größer werdende Materialsammlung an Stimmen beziehungsweise Partituren, inzwischen fast einhundertvierzig Blatt, die sich immer weiter vermischen, kreuzen, teilen und vermehren. Da wuchert alles kontinuierlich, sowohl die Tonaufzeichnungen als auch das Videomaterial, und wie das dann zusammengeschnitten und -gestellt wird, das entsteht, wenn ich eine konkrete Aufführungsmöglichkeit, einen konkreten Ort vor Augen habe. Das ist auch von der zeitlichen Ausdehnung her nicht so klar. Es kann konzertant eine Stunde aufgeführt werden, aber auch als Installation eine Woche lang stehen. Das Video läuft und dann hat man einen Pool an Instrumentalisten, und die kommen und gehen, wie sie wollen, und manchmal spielen sie und manchmal nicht. Dann macht man Ton- und Videoaufnahmen, arbeitet sie ein. Oft sind dann die Unzulänglichkeiten, die »Fehler«, das Interessante und bestimmen, wie ich das Material in die nächsten Schichten einarbeite. S.H.: UNTERHOLZ hat also nicht die klare Sukzession von an einem ort – an einem anderen ort. M.K.: Genau, an einem ort – an einem anderen ort ist wie ein Schneepflug, der immer den kompletten Schnee des Weges mit sich führt. An den Rändern wirft er aber Haufen auf, »verliert« Material, sonst würde er durch die immer größer werdende Schneemasse bald zum Stillstand kommen. Im Stück geschieht das durch die jeweilige Raumakustik, in der aufgenommen und abgespielt wird, die das Stück filtert und in der sich Frequenzen in einem Hintergrundrauschen verflüchtigen, 31 32
Kaiser: an einem ort – an einem anderen ort, Haan (edition wandelweiser ew15.007) 2000. Kaiser: UNTERHOLZ/(spinoza wucherung), Haan (edition wandelweiser ew15.014.01-) 2005/ 06–.
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sowie durch das technische Equipment. Durch die immer verschiedenen Räume – Filter – wird vermieden, dass sich einzelne Frequenzen wie in einer Rückkopplungsschleife zu stark verstärken. S.H.: Und die Aufeinanderfolge funktioniert wie bei einem Domino. M.K.: Das ist so beim Video. Das ist eine andere Ebene und entsteht in der räumlichen Gleichzeitigkeit von allen Aufzeichnungen. Theoretisch könnte ich alle Videos, die ich inzwischen davon habe, zeitgleich über Monitore laufen lassen. Das sieht ein wenig aus wie beim Domino, weil auf jedem Video immer die letzte Version und die Schicht davor mit ein wenig Überblendung drauf ist. Das ist wie die »Unendliche Säule« von Constantin Brâncuși [Die endlose Säule, 1937 − S. H.] als »unendlicher« Zeithorizont. S.H.: Für UNTERHOLZ wäre das Rhizom ein Modell. M.K.: Genau. Das wächst in verschiedenen Ebenen immer weiter und die Ordnung dazwischen ist offen. Das sind alles Stimmen, aus denen man spielen kann, die mit jeder Aufführung entstanden sind. Hier ist die Nummer 1 und das war eine ganz einfache Übertragung des Anfangs von Spinozas Ethik. Das müsste »de deo« heißen. Die Überschrift ist durch eine Fermate markiert, definitiones.33 Ich habe mir ein Verfahren ausgedacht, wie ich das in acht Oktaven und eine Zusatzstimme übersetze, die für mich einen Möglichkeitsraum in die Zukunft eröffnet, quasi der Kompost für einen zukünftigen Garten. S.H.: Du hast also die Ethik von Spinoza genommen… M.K.: …nur die ersten drei Seiten! S.H.: Was hast du mit den Konsonanten gemacht? M.K.: Ich habe einfach ein System entworfen, wie zum Beispiel der Buchstabe a ist gleich dem Ton c und so weiter, ganz banal, und die Idee war, es harmonisch anzuordnen, also ein Wort in übereinanderliegenden Tönen. Ganz einfache Entscheidungen. Ich habe immer oben angefangen, deshalb hängt die erste Partitur in den Höhen, ist also nicht vom Bass her aufgebaut. Für mich ist es das Bild, wie man einen Garten anpflanzt. Man pflanzt am Anfang etwas an. Bei der ersten Aufführung habe ich diese Partitur in Sinustönen umgesetzt, und die Instrumentalisten konnten Stimmen aus demselben Material dazu spielen. Sehr frei, aber durch 33
Siehe Anhang: Partiturauszüge.
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Stoppuhren konnten sie sich auch recht genau mit dem Zuspielband, den Sinustönen, synchronisieren. Es war ein bisschen, wie wenn man durch eine Landschaft geht, ab und zu entdeckt man etwas, verweilt, verliert sich, und um sich wieder zurechtzufinden oder um wieder die Gruppe zu finden, hat man einen Kompass oder eine Karte… Die Sinustöne sind wie eine erste reale Skizze, wie wenn man in einem Brachland Schnüre spannt und ein paar Pflöcke in den Boden rammt, um sich bestimmte Dimensionen, Sichtachsen für einen Garten vorzustellen. Entlang dieser Konstruktion wächst dann durch das Spiel der Musiker das Stück. Inzwischen ist von dieser Sinustonschicht kaum mehr etwas zu hören. S.H.: Muss man das nicht zu mehreren spielen, oder kann man die Töne auch nacheinander spielen? M.K.: Nein, man kann das allein auch in vertikaler Richtung spielen. Die Partitur ist insgesamt ein Vorschlag. Man kann beziehungsweise muss auch viele Töne weglassen. Deshalb entstehen neue Stimmen, die neue Möglichkeiten eröffnen, mit dem Material umzugehen. Für mich ist es inzwischen kein »Garten« mehr, sondern ein »Wald«, und jede Aufführung ist irgendwie ein Weg durch das Material. Jeder »Gang durch den Wald« verändert und verdichtet dieses Material aber auch. Es wächst in jede Richtung und ist nicht mehr zu überblicken… S.H.: Hat dich eigentlich Antoine Beuger mit seinem Spinoza-Stück inspiriert? M.K.: Michael Pisaro [Mitglied der Komponistengruppe Wandelweiser − S. H.] hat auch ein Spinoza-Stück geschrieben. Es gab mal die Idee, dass fünf Wandelweiser-Komponisten je ein Stück zu einem der fünf Bücher der »Ethik« von Spinoza schreiben… Aber das war eine Idee in den späten 90er-Jahren, die nie wirklich umgesetzt wurde. Ich fing dann an und wusste noch nicht, was das wird, und dann gab es plötzlich diese Kombination mit dem Video. Daraus wurde dann UNTERHOLZ34 mit seiner Schichtung, sowohl akustisch wie auch visuell. Es entsteht über die Zeit ein virtuelles Orchester. Ich nehme ja immer mit der Videokamera auf. Dann sitze ich plötzlich hinter mir, oder es sieht aus, als ob ich in China mit Johnny Chang [Mitglied der Komponistengruppe Wandelweiser – S. H.] aus Berlin gespielt hätte. Auftauchen und Verschwinden, darum geht es eigentlich in UNTERHOLZ, ein Verwobensein. Die spinoza wucherung [opernfraktal Konkretion 2015 in Trier] ist für mich eine klarere, geordnetere Form mit demselben Material. Heutzutage gibt es bei Nationalparks öfter eine Zone um den eigentlichen Park, die intensiv bewirtschaftet wird. Da ist die strukturierende Hand des Menschen noch stärker vorhan34
Marcus Kaiser: UNTERHOLZ/(spinoza wucherung), Haan (edition wandelweiser ew15.014.01-) 2005–.
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den, als wenn man ein Gebiet komplett sich selbst überlässt. Und trotzdem hängt das mit der Kernzone zusammen. So in etwa würde ich die Beziehung zwischen spinoza wucherung und UNTERHOLZ charakterisieren. S.H.: Das eine wäre ein Prozess, den man sich selbst überlässt, und den anderen gestaltet man. M.K.: Letztendlich gestalte ich natürlich auf eine Art beides oder es bearbeitet sich selber. Die spinoza wucherung hat eine klarer nachvollziehbare Struktur, die dann jeweils mehr oder weniger das ganze Stück bestimmt. Die UNTERHOLZ-Situation, wenn das Video läuft und man spielt dazu, das ist schon ein sehr offener Zustand, obwohl es ganz eindeutig dieses Stück ist. Es hat eine klare Charakteristik und trotzdem kann es sich ändern. Wie ich das Material zusammenstelle, hat nicht direkt mit Cages Zufallsverfahren zu tun, aber durch den komplexen Zustand der einzelnen Teile und der Aufführungssituationen ist so unglaublich viel außerhalb der Kontrolle, das reicht an nicht Vorhersehbarem. Es kommen ja auch noch die Hintergrundgeräusche dazu, das Kommen und Gehen der Leute… S.H.: Zurück zu an einem ort – an einem anderen ort: Du sprichst von einem Fließgleichgewicht. War das dein Konzept oder ist es aus der Arbeit entstanden? M.K.: Das war von vornherein ein Verfahren. Stellen wir uns vor, dieser Tisch wäre eine Fläche, die man bepflanzen würde, dann hätte man in den ersten Jahren unheimliche Wachstumsraten. Irgendwann ist es ein ausgewachsener Wald. Wenn man die Pflanzen sich selbst überlässt, hören sie zwar nicht auf zu wachsen, aber ab einem bestimmten Punkt gibt es, bezogen auf das Ganze, keinen Volumenzuwachs mehr. Dann entsteht ein Fließgleichgewicht zwischen dem, was nachwächst, und dem, was abstirbt und verrottet, und das interessiert mich. Das interessiert mich auch in Bezug auf unsere Politik des ständigen Wachstums. Es wird meines Erachtens zu wenig von asymptotischem Wachstum gesprochen, ein Wachstum, das sich einem Grenzwert annähert und dann nur noch in sich wächst, kein neues Territorium benötigt. Bezogen auf einen Wald ist die Wachstumsgeschwindigkeit durch Sonnenenergie, Wasserversorgung, Nährstoffe, Sauerstoff und CO2 bestimmt. Der tropische Regenwald ist ein extremeres Beispiel, weil er ein fast kompletter Kreislauf ist. Die wichtigen Nährstoffe sind in der Biomasse des Waldes und nicht wie bei uns, im Boden, gespeichert. So wachsen auf dem ausgewaschenen Gestein des Guiana Shield in Südamerika eine der artenreichsten Wälder unserer Erde. Ausgerechnet dort, wo ein großer Mangel an frei verfügbaren Nährstoffen herrscht, existiert eine unfassbare Diversität! Die Natur hat Modelle, die interessant für die Kunst sind, weil ein Minimalismus auf einen Maximalismus trifft. In der Kunst finde ich rein ästhetische Leeren völlig egal. Es gibt eine Ästhetik des Reinen und
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Weißen und Leeren, die ich ziemlich dekadent finde. Darum ging es aber bei Cage und anderen nie, sondern darum, dass man, auch wenn man keine Klänge produziert, eine unglaubliche Vielfalt von Klängen vorfindet, selbst im schalltoten Raum. Man findet also immer etwas im Regenwald. Es kann ein einfaches Biotop wie in der Wüste sein, aber es ist immer etwas da, und wenn man das in Ruhe lässt, ist es umso vielfältiger. S.H.: Ich wusste noch nicht von diesen Böden. Das würde ja bedeuten, dass die Asymptote, von der du sprichst, auf einem kargen Boden eher erreicht wird, weil es sich immer wieder reproduzieren muss, denn es kommt nichts Neues dazu. Dieses System wird dort schneller erreicht als hier, wo immer wieder neuer Nährstoff eingespeist wird und alles immer weiter in die Höhe gehen und maximiert werden kann, auch wenn wir da an Grenzen stoßen oder sie zumindest erahnen. M.K.: Ich glaube, es ist ein ganz anders funktionierendes System und es ist über sehr lange Zeit entstanden. Aber vielleicht hat diese Möglichkeit, Böden unabhängig von ihrem natürlichen Eingebundensein auszubeuten – diese scheinbare Verschiebung des Grenzwertes ins Unendliche – mit zu unserer aggressiven eurozentrisch-westlichen Ausbeutungskultur beigetragen, und deshalb setze ich auch so viel auf die Tropen, dass wir über die tropischen Kulturen, die das Recycling vorgeben, auf ganz andere Ideen kommen. […] Bei uns gibt es immer den Winter, die Leere auf dem Acker, und danach wächst wieder etwas. In den Tropen ist es genau andersherum, wenn da mal alles erodiert ist, ist es vorbei. Daher auch bei uns die Angst des Schriftstellers vor der leeren Seite, die Angst des Malers vor der leeren Leinwand, alles aus unserer nordwestlichen Kultur heraus gedachte Ängste. Da wird durch minimalistische Kunst etwas aufgenommen, wo die Leinwand an sich schon etwas ist. Die Stille setzt für mich genau an dieser Stelle an. Da gibt es für mich eine Verbindung. S.H.: Zum opernfraktal (Kaiser, seit 2003): Im Prinzip stecken darin alle zeitlichen Modelle. M.K.: Das ist das übergeordnete System. Wie kann ich das sagen, ich weiß nicht, ob das meine Lebenszeit ist. Das ist auf jeden Fall nicht Zeit im abstrakten Sinne, sondern auf ein Individuum bezogen. Diese Zeit wird zum Grund, wird zur »Fläche«, auf der die Sachen abgebildet werden, in Beziehung treten. Wie in einem traditionellen Bild die verschiedenen Farben aufgetragen werden, so werden dabei die verschiedenen Medien und unterschiedlichen Konstellationen abgebildet. S.H.: Verstehst du unter »Biom«, dass dein Werk deinen Lebensrhythmus widerspiegelt?
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M.K.: Das Biom ist der Großlebensraum. Das Biotop ist noch enger gefasst. S.H.: Das Biom ist also ein Ökosystem? M.K.: Ich weiß nicht, wie das die Biologie genau definiert. Ich weiß nicht, wo da exakt die Grenze gezogen wird, und die Grenzen sind ja immer besonders interessant. Jüngst hat man festgestellt, dass der Amazonasregenwald von der Sahara gedüngt wird. Die Sandstürme werden über den Atlantik geweht. Trotzdem betrachtet man den Regenwald als ein eigenes, von der Wüste getrenntes Biom, und die einzelnen Ökosysteme sind dann die Terra-firme-Wälder, Várzea-Wälder, Mangrovenwälder und so weiter. S.H.: Und inwiefern ist dann opernfraktal ein Biom? M.K.: Das ist für mich der weitest gefasste Rahmen meiner Arbeit, und metaphorisch könnte man an einem ort – an einem anderen ort und UNTERHOLZ sowie die Serie mit den grünen bildern oder die parallel bücher 35 als Ökosysteme darin verstehen. All das sind Untersysteme, die sich dann im Großlebensraum miteinander verzahnen und aufeinander Einfluss ausüben. Sie stehen dann nicht nebeneinander, sondern haben Einfluss aufeinander. S.H.: Könntest du beschreiben, wie innerhalb von opernfraktal ein Werk auf ein anderes Einfluss nimmt? M.K.: Bei UNTERHOLZ hab ich eines von den grünen bildern während der Herstellung zwei Mal abfotografiert. Das ist eine große Arbeit, an der ich lange, also zwei, drei Jahre gearbeitet habe. Verschiedene Zustände des Bildes habe ich fotografiert und übereinandergelegt. Dann habe ich es mit einem Foto aus dem australischen Regenwald überlagert. Daraus habe ich ein Video produziert. Es wurde bei der allerersten Aufführung von UNTERHOLZ zum Untergrundvideo. Da gibt es also schon eine unmittelbare Verzahnung zwischen Arbeiten, die sonst nichts miteinander zu tun haben. Das Bild an der Wand kann man komplett unabhängig davon betrachten. Auch bei anderen Arbeiten entstehen immer wieder diese Querverbindungen, und dann passiert es, dass ein paar davon in das unterholz-Video kommen. Das sind rein ästhetische Entscheidungen, weil ich noch etwas brauche bei der Suche. Das Irre an der Natur ist ja, dass sie diese unglaubliche Diversität aufrecht-
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Marcus Kaiser: grüne bilder, seit 1995, siehe URL: http://marcus-kaiser.net/gruene_bilder/i ndex.html [Abruf 15.06.2021]; Marcus Kaiser: parallel buch 1–, Haan (edition wandelweiser ew15.004) seit 1999. Siehe auch URL: http://marcus-kaiser.net/parallel_buecher.html [Abruf 15.06.2021].
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erhält. Es passiert in intakten Systemen nicht das, was in geschädigten Systemen passiert, nämlich, dass eine Art alles dominiert und alles überwuchert. Das finde ich besonders spannend: Wie erhält die Natur Diversität aufrecht? Deshalb ist für mich die Musik – Dauer – so wichtig, denn das ist ja nur fassbar, wenn man zeitlich denkt. Denn ich habe immer noch den Eindruck, dass wir viel zu statisch denken, obwohl uns klar ist, dass alles immer in Bewegung ist. Unser Denken, die Wissenschaft und Philosophie sind in einzelne Bilder zerfallen, und die Gesamtbewegung wird unterschätzt oder nicht begriffen. S.H.: Zu opernfraktal: Du sprichst von Konkretionen, und dann gibt es zu bestimmten Zeiten Konzerte. M.K.: Das war beim ersten Mal, bei opernfraktal21tage im Jahr 2003 im KUNSTRAUM Düsseldorf so. S.H.: Das heißt ja, dass du eine ganz starke zeitliche Struktur in die Aufführung hineingibst und das nicht vor sich hinwuchern lässt. Du hast von Anfang an eine genaue Idee, wann etwas erklingen soll, und wenn du etwas erklingen lässt, wie es klingt. Das spiegelt sich auch in der architektonischen Gestaltung der Räume wider, in der Rasterung. Das hat mich verwirrt: Rein begrifflich ist ja ein Raster von einer Wucherung so weit entfernt, wie man sich das nur vorstellen kann. M.K.: Bei der Aufführung im Jahr 2003 im KUNSTRAUM Düsseldorf wurde dieser Zusammenhang hergestellt. Manche Zuschauer waren explizit enttäuscht, weil sie sich viel mehr Wucherung vorgestellt hatten. Ich glaube, dass auch eine Wucherung ohne Struktur nicht zu denken ist. Sie überwuchert eine Struktur. Die Struktur von intakter Natur mit ihrer Vielseitigkeit zu fassen, ist viel schwieriger, als wenn etwas dominiert. Eine normale, klar strukturierte Fichtenpflanzung würde ich unter Umständen auch als Wucherung bezeichnen. Der Begriff der Wucherung hat für mich zwei verschiedene Richtungen: Einmal ist sie krankhaft wie bei einem Krebsgeschwür; andererseits verwende ich es gern als Kraft, die jenseits unserer Kontrolle ist. Vielleicht bedeutet Raster und Wucherung zusammengedacht Wachstum; das Raster beeinflusst die Wucherung und die Wucherung verändert das Raster. S.H.: Hängt das mit der sich selbst vervielfältigenden Struktur des Fraktals zusammen? M.K.: Genau. Im Prinzip ist der Maßstab oder das Raster immer eine bewusste Entscheidung, sich im Fraktal in einer bestimmten Dimension zu platzieren. Wenn ich ständig in allen möglichen Dimensionen herumhuschen würde, was wohl
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nur theoretisch möglich wäre, dann wäre das praktisch gar keine richtige Daseinsform. Dann wäre ich wie ein Astronaut, der hinaus ins Weltall geschleudert wird. Das Raster ergibt sich also immer in dem Augenblick, wo ich eine konkrete Situation in einem konkreten Raum vorfinde. Deshalb ist es immer auf die eigene Lebenszeit bezogen. Meine situative, konkrete Entscheidung legt den Maßstab, die Rastergröße, fest, die sich aber verschiebt, wenn ich ein einzelnes Stück betrachte. Stellen wir uns vor, jemand hat in das Stück, das ich um 18 Uhr gespielt habe, hineingehört, hat dann das Konzert in der Installation betrachtet, danach durch die Spiegelungen in den großen Fensterfronten die Installation in der Architektur wahrgenommen und ist vielleicht kurz einer vorbeilaufenden Frau mit Hund gefolgt… das ist für mich Melodie. Man bewegt sich einerseits immer in demselben und ist andererseits immer woanders. Dafür ist das Fraktal für mich die schönste Metapher. Es ist kein Fragment. Es ist zwar immer unvollständig, aber ein Fragment wäre für mich etwas Lineares. Das fängt hier an und hört dort auf. Doch ein Fraktal ist in jeder Dimension vollständig und trotzdem gleichzeitig unvollständig, weil es in alle Richtungen weitergeht. Das finde ich formal ein wunderbares Bild. Es hat für mich viel mit der Metapher des Rhizoms bei Deleuze zu tun. S.H.: Du schreibst, es gibt immer ein Doppelsystem und stellst folgende gegenüber: Umwelt/Innenwelt, Evolution/Koevolution, Modell/Situation, Präsenz/Aufzeichnung. Mir geht es um die zeitlichen Ebenen von Werken und darum, wie es gelingen kann, mit den Mitteln der komponierten Zeit die Zeit aufzuheben. Was bedeutet dieses Doppelsystem für die Zeit? Welche zeitlichen Ebenen beinhaltet zum Beispiel Umwelt versus Innenwelt? Bei Präsenz/Aufzeichnung betrifft es ja direkt das Material, mit dem du umgehst. Sowohl bei an einem ort – an einem anderen ort als auch bei UNTERHOLZ arbeitest du ja mit verschiedenen Zeitebenen. Es gibt etwas, das präsent ist, und etwas, das aufgezeichnet wird, aber die Aufzeichnung wird dann wieder präsent… M.K.: Ich muss nachdenken… Ich weiß nicht, ob es verschiedene Zeitebenen gibt. Das Interessante für mich ist, wie für den Regenwald vorhin beschrieben, die Erzeugung von Diversität. Wenn ich das aus einer anderen, existenziellen Perspektive betrachte, zum Beispiel der von persönlichem Glück oder erfülltem Leben, dann würde ich auch auf so ähnliche Begriffe kommen, nämlich eine Existenzweise zu finden, die möglichst viel Raum für Mannigfaltigkeit lässt. Gerade in unserer unglaublich komplexen Zeit mit den Problemen der Begegnung verschiedener Kulturen ist das wichtig. Das heißt, da ist man in einem ähnlichen Problem, wie zum Beispiel gerade in Deutschland: Die einen fühlen sich nur bedroht, weil sich nämlich etwas ändert, und ich hingegen bin heilfroh, dass sich überhaupt etwas ändern kann, denn für mich ist Kultur permanente Veränderung. Dabei muss aber irgendwie ein »Biotop« erzeugt werden, denn die Sahara in den Regenwald oder Seerosen
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in die Wüste zu setzen, das ist auch kein lebensermöglichendes System, sondern ein lebenszerstörendes. Das ist für mich die große kulturelle Auseinandersetzung. Da muss man, auch nonverbal, auf künstlerischer Ebene, im permanenten Dialog bleiben. Was ist unsere Vorstellung von Welt und Kultur? Wie können wir einen möglichst vielfältigen Raum für Leben ermöglichen beziehungsweise erhalten? S.H.: Das ist ein Plädoyer für Diversität. M.K.: Genau. Wenn ich überhaupt einen Beurteilungsmaßstab an Kulturen anlege, dann wäre mir diejenige Kultur die interessantere, die ein größtmögliches Maß an Diversität ermöglicht. Deshalb setze ich mich als Künstler damit auseinander. Diese Diversität kann man zeitlich als Chronotektur bezeichnen. Damit meine ich eine Art artifizielle Homöostase oder Homöodynamik, aber weniger als Beschreibung, sondern eher als Tätigkeitsfeld. Ein nicht uninteressanter Begriff, um über Diversität nachzudenken. Verschiedene Kulturen befinden sich ja auch in verschiedenen zeitlichen Vorstellungen. Diese Mannigfaltigkeit muss also auch verschiedene zeitliche Zustände ermöglichen. Das ist meines Erachtens schon im Individuum vorhanden. Als Kind hatte man ja komplett andere zeitliche Vorstellungen. Überhaupt verändert sich als Erwachsener die Vorstellung von Raum und Zeit stark. Die Kunst fordert ja auch, wieder ein Kind zu werden, in diese Unendlichkeitsräume einzutreten, die man zum Beispiel beim Spielen erlebt. Ständig findet man in sich selbst verschiedene Zeitsysteme. Alltag, Uhrzeit, Termine, mystische Zeit, Traumzeit. Man muss es zulassen, diese Zustände in sich zu finden. S.H.: Du hast immer wieder mit langen Dauern gearbeitet, zum Beispiel in der Installation, die über einundzwanzig Tage ging. Warum einundzwanzig Tage und warum überhaupt Tag und Nacht, also eine normale Aufführungsdauer überschreitend, und warum so offen, dass Besucher hineinkommen können und darin machen können, was sie wollen? Letzteres könnte ich am ehesten mit Diversität zusammenbringen, aber warum diese Dauer? M.K.: Die Dauer ganz einfach, weil ganz viele Bereiche aus der Kunst oft ausgeschlossen werden, zum Beispiel das Kochen, das Schlafen, das Auf-die-ToiletteGehen. Wobei das teilweise richtig ist, es auszuschließen, denn in eine Beethoven-Sinfonie muss man das meines Erachtens wirklich nicht integrieren. Es gab die Tendenz, dass die Sachen immer länger wurden. Dann kommt man in den Bereich, wo man anfangen muss zu tricksen, sodass man bestimmte Dinge wie Trinken, Aufs-Klo-Gehen noch halbwegs außerhalb des Kunstwerks hält. Das kann man vielleicht bis auf vierundzwanzig Stunden ausdehnen, sodass es noch diesen homogenen Kunstcharakter hat. Für mich ist es interessant, darüber hinauszugehen und diese Homogenität immer wieder infrage zu stellen, sodass ich anfangen
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muss, diese Sachen als Teil von einem Ganzen zu betrachten. Zu sagen, das und das ist auch Teil von »Musik« – das ist jetzt innerhalb des Rahmens, des Rasters –, ist eigentlich auch eine Konsequenz von Cages 4’33’. In der realen Ausstellungssituation ist das unheimlich interessant und gleichzeitig wirklich nicht einfach zu bewerkstelligen, denn wenn man darin lebt, merkt man den Unterschied zwischen dem Alltäglichen und der Kunstsituation sehr genau. S.H.: Cage sagt ja, die Dauer eines Werkes ist klingende Weltzeit. Könntest du dich damit einverstanden erklären? Aber dann unterbrichst du ja diese klingende Weltzeit, du setzt ja Grenzen. Um 6 und 12 Uhr gab es immer Konzerte. Das heißt, du gehst zwischen der Zeit der Kunst und der Zeit der Welt hin und her. M.K.: Da wär ich jetzt gar nicht so sicher. Vielleicht eher ein Verwobensein in die klingende Weltzeit. Ich würde das wie in einem klassischen Stück als das Ende einer Note betrachten. Das Ende einer Note ist auch immer eine Unterbrechung, es kommt jetzt etwas anderes, wie in einer Melodie. Der Übergang von einem Stück dahin, dass man kocht, ist eine Art übergeordnete Melodie. Das Entscheidende ist, dass das Klingen nicht unterbrochen wird. Aber der Zustand des Einzelnen verändert sich und dadurch vielleicht auch diese Zeitebene, denn bei einem Musikstück, wenn ich mich entschieden habe zuzuhören, bin ich doch in einer anderen Konzentration, als wenn man danach kocht. Das war auch das Schöne und es hat relativ gut funktioniert. Um 12 Uhr nachts gab es immer ein relativ kurzes Stück von 15’. Man hat dann öfter abends gekocht und saß gemütlich zusammen, und dann kam diese »Unterbrechung«, die in ihrer Leichtigkeit ganz woandershin geführt hat. Das kennt man ja von bildenden Künstlern, immer nur am Tisch sitzen und trinken, und dann ist es etwas anderes und die Melodie geht woanders hin, wie eine Modulation im übergeordneten Sinn. S.H.: Zum einen scheint mir das etwas mit Entgrenzung, mit dem Aufweichen der Grenze zwischen Kunst und Leben zu tun zu haben. Zum anderen hat es mit Grenzsetzung zu tun, denn wenn eine Melodie aus mehreren Noten besteht, muss sie ja anfangen und aufhören und auch komponiert sein. M.K.: Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, das Entscheidende und Einzige, was man als Künstler macht, ist Grenzen zu setzen und zu verschieben. Das Dazwischen ist komplett austauschbar, aber man entscheidet immer über bestimmte Grenzen und über einen bestimmten Maßstab. Durch die Grenzen entscheidet man über bestimmte Relationen. Deshalb ist mir die Struktur wichtig, denn die Struktur hat mit diesen Grenzen zu tun. Die ist zwar nie etwas Endgültiges, und trotzdem ist sie notwendig, denn man braucht doch einen Widerstand oder Standpunkt. Sonst wäre man in der Situation, dass man in Lichtgeschwindigkeit unendlich durch dieses
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Fraktal rauscht. Das unglaublich Komplizierte und Wichtige ist, diesen Standpunkt auf bewegtem Terrain zu setzen, gleichzeitig seinen Standpunkt vertreten zu können und zu wissen, dass er in Bewegung ist. Das ist auch schwierig im Gespräch, wenn sich die Perspektive, die Verhältnisse fast unmerklich, aber kontinuierlich verschieben und die Aussagen anfangen, sich anscheinend zu widersprechen. S.H.: Waren bei opernfraktal 2003 nicht auch Pflanzen beteiligt? Das impliziert auch Entgrenzung und verschiedene Zeitebenen, denn das vegetative Ökosystem hat ein ganz anderes Tempo als du selbst. Die Pflanzen, die du als Komponist mit hineinnimmst, ticken ja anders. M.K.: Die ticken anders. Wobei ich das als Komponist schon immer als Leitbild hatte: Wir müssen ein bisschen mehr lernen, wie Pflanzen zu empfinden. Wir haben uns viel mit dem Tier auseinandergesetzt, aber vielleicht zu wenig mit der Pflanze. Vielleicht muss das aber kommen, dass man sich dieses Vegetative und dieses Langsame aneignet. Es ist ja unbestreitbar absolut fundamental – Sauerstoff! S.H.: Spielt es für dich eine Rolle, dass du es dabei mit Lebewesen zu tun hast, die deine Lebenszeit wahrscheinlich überschreiten werden? Eine Perspektive, die deinen Körper überschreitet? M.K.: Natürlich, das spielt bei Pflanzen immer eine Rolle. Es ist so ein innerlicher Kampf von mir, dass die Pflanzen in meinem System gerade durch den Winter im Moment noch zu sehr von mir abhängig sind. Das ist auch für Ausstellungen ein Problem. Ein Pflanzentransport ist etwas völlig anderes als ein Kunsttransport. Bei feindtönung (opernfraktal Konkretion 2014 in München-Thalkirchen) habe ich fast alle Pflanzen aus meinem Hof mit dabeigehabt, und das war im Winter. Allein die Planung war schwierig, denn bei Temperaturen unter 0 Grad hätte ich den ganzen Transport nicht mit ihnen machen können. Dann war die Halle nicht beheizt, ich musste also vor Ort für eine geeignete Temperatur sorgen. Die Installation hatte also auch die Funktion, die Temperatur im Plusbereich zu halten. Das kriegt alles eine Dimension, die über das rein Ästhetische hinausgeht. Größtenteils haben wir ja eine wohltemperierte Kultur, 20 Grad Museumstemperatur und entsprechende Luftfeuchtigkeit. Ich weiß nicht, ob es eine Zeitdimension ist, aber es kommt eine ganz andere Dimension mit hinein. Es ist wie früher bei einem Bauer, wenn er die Ernte reinbringt. Er muss nach dem Wetter gucken, denn rein nach der Uhr geht das nicht. Der kann nicht Termine nur nach der Uhrzeit und dem Kalender machen, sondern muss das Wetter beachten. Diese Dimension kommt mit den Pflanzen ganz stark hinein. Das ist eine unheimlich tolle Dimension.
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S.H.: Das Rhizom diente bereits vor einigen Jahrzehnten als Vorlage für alternative philosophische Modelle politischen Handelns. Es kommt ursprünglich aus der Botanik und soll Herrschaftsfreiheit abbilden. Ich habe mich mit dem Rhizom näher beschäftigt, und ich glaube, man muss genau hinsehen, was das in der Botanik wirklich bedeutet. Rhizom bedeutet nicht, dass alles aus dem Nichts kommt und ins Nichts geht, sondern es gibt sehr wohl eine Richtung, und in dieser Richtung verzweigt es sich, kann nach oben und unten wachsen, aber es hat immer eine Richtung. Es geht nicht in alle Richtungen. M.K.: Man kann immer die Richtung nachvollziehen. Von einer wächst es plötzlich in alle Richtungen und dann kann es sein, dass eine Verbindung wieder gekappt wird und den Kontakt verliert und sich dann wieder sternförmig ausbreitet. Aber im Kleinen hat es immer eine lineare Struktur, das darf man nicht vergessen. Die Baumstruktur ist immer auch vorhanden, nur in die Horizontale geklappt. S.H.: Ja, in die Horizontale geklappt, aber das ist ja nur eine Frage der Perspektive, weil wir Horizontale dazu sagen. Ich hatte den Eindruck, dass bei der Übersetzung des Rhizoms von der Botanik in die Philosophie der Wunsch der Vater des Gedankens war. Der Wunsch, hierarchiefreie politische Verhältnisse herzuleiten, sorgte für das Zitieren dieser Metapher, doch eigentlich funktioniert es so nicht. Das Rhizom kann man nicht als Modell für Hierarchiefreiheit heranziehen. M.K.: Ich finde Rhizom immer noch eine unglaublich tolle Metapher. Ich glaube, es hinkt in der Kombination mit Politik. Es kam auch aus einer Auseinandersetzung und Abgrenzung zur Psychoanalyse. Ich versteh es aber eigentlich nicht. Sie schreiben aber, dass man die Teile nehmen soll, mit denen man etwas anfangen kann,36 und das mache ich, denn das ist dann rhizomatisch. Wo der nächste Bambusspross rauskommt, weiß man nicht. Mit der linken, politischen Theorie hab ich mich immer schwergetan. Ich kann nicht ganz nachvollziehen, wie sie Welt – Sprache – Kultur in Relation setzt. Die Wucht der Welt wird unterschätzt, der Wespenstich. S.H.: Unabhängig davon, ob man daran glaubt, fand ich interessant, dass damit eine Analogie entworfen wurde, die, wenn man genau hinguckt, so in der Botanik nicht beschrieben wird. Ich sage das nur deshalb, weil es immer wieder auch als Kompositionsmodell auftaucht, und ich es aber wichtig finde, zurückzugucken, was die Dinge wirklich bedeutet haben, bevor man es in eine andere Sphäre übersetzt und eine Riesenidee daraus macht. Dann finde ich nämlich das, was du über das Fraktal sagst, überzeugender. Ein Rhizom hat immer einen Hauptstrang, von dem verschiedene Nebenstränge abgehen. 36
Deleuze und Guattari, Rhizom.
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M.K.: Das stimmt nicht ganz. Wenn ich den Bambus nehme, könnte ich jeden einzelnen Bambus abschneiden und getrennt in einen Topf packen. Der Bambus ist die explizite Pflanze, an der man es sieht, wenn man ihn ausgräbt. Ein Rhizomstrang kann zu mehreren werden und dann gibt es eben keine Hauptachse mehr. Aber es wird zu oft eine Theorie daraus gemacht. Bei Deleuze und Guattari ist das aber offen. Es ist schon eine andere Struktur als ein Stamm. Das kann sich dann wieder auflösen und absterben. Das find ich das Interessante, und so ein Stück wie UNTERHOLZ funktioniert genauso. Da gibt es immer wieder in sich logische Strukturen. Aber ich kann irgendwann so einen Teil herausnehmen und mit etwas anderem kombinieren. Das geht bei an einem ort – an einem anderen ort in der Weise nicht, da verfolge ich – im Bilde gesprochen – einen einzelnen Rhizomstrang. Ein Trieb kommt raus, das bleibt dann nur als Video oder Aufzeichnung da, aber es gibt nicht diese Verzweigung, bei der Abschnitte unter Umständen völlig den Kontakt untereinander verlieren und neu kombiniert werden müssen. S.H.: Welche Bedeutung hat die Aufzeichnung? M.K.: Die Aufzeichnung ist notwendigerweise Teil vom Stück. S.H.: Sonst könntest du den einen Raum nicht in einen anderen transportieren. M.K.: Klassisch betrachtet ist das die Begleitung durch den Klavierpart oder das Orchester. Es ist praktisch immer ein Instrument mit Begleitstimme. Wichtig finde ich daran auch, dass es die Idee einer objektiven Abbildbarkeit damit nicht mehr gibt. Dieses Stück funktioniert nur mit diesem elektronischen Aufnahmemedium. Trotzdem ist es etwas anderes, als ob man eine CD produziert. Zwar weiß man, dass man nie eine hundertprozentige Aufnahme machen kann, aber normalerweise haben die Stücke eine größere Selbstständigkeit gegenüber der Aufnahme. Doch in diesem Fall ist das Stück unmittelbar mit der Aufnahme verknüpft. S.H.: Ich denke wieder an die zeitliche Ebene und denke, du nimmst also in jede Gegenwart ein Stück Vergangenheit mit hinein. Ein ständiges Überlappen von Vergangenheit und Gegenwart. M.K.: Am Anfang dachte ich beim Nachdenken darüber, wie Erinnerung funktioniert, sogar an das Überschreiben. Ich glaube, unsere Erinnerung erinnert sich oft mehr an die Erinnerung als an das Ursprungsereignis. Man erzeugt oft nur ein blasses Bild und hat mehr Kontakt zur Erinnerung selbst. So ähnlich ist es auch mit dem Stück.
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S.H.: Du schreibst in Bezug auf opernfraktal37 von »selbstähnlichen Dimensionssprüngen« und »unterschiedlichen Unendlichkeiten zwischen den Zeichen und Dingen«. Was sind diese unterschiedlichen Unendlichkeiten? M.K.: Als Kind denkt man Unendlichkeit mehr als das, was war, und das, was sein wird. Zumindest, als ich als Kind über Religion nachdachte, war das so. Schopenhauer hat bemerkt, wenn wir Angst vor dem Tod, vor der Zeit haben, in der wir nicht mehr sein werden, dann müssten wir genauso erschrocken über die Zeit sein, in der wir noch nicht waren. Eigentlich müsste das ja das Gleiche sein. Das wäre auf einen Zeitstrahl bezogen +unendlich und –unendlich. Aber in dieser Dimension findet unser Leben nicht statt. S.H.: Das wäre linear gedacht. M.K.: Zum Beispiel schneidet man eine Linie in drei Teile, löscht den mittleren Teil und macht mit den übrig gebliebenen zwei Teilen dasselbe und so weiter. Dann bekommt man quasi eine Unendlichkeit an Unendlichkeiten. Das ist für mich ein Bild. An diesem Punkt dringt man ganz ins Jetzt vor. Bezogen auf die Existenz verliert man sich da nicht in diesem Plus und Minus, sondern da geht man ganz in die Unendlichkeit. S.H.: Man geht in die Tiefe. M.K.: …in die Tiefe auf eine Art… S.H.: Das ist eine Tiefe des Moments. M.K.: Oder man könnte auch sagen: komplette Oberflächlichkeit. Denn die Tiefe ist manchmal auch zu tief. Die Tiefe erzeugt manchmal eine Art Vergangenheitsoder Zukunftsersatz. S.H.: Es sieht aus, als wenn du einen Zoom für den Moment benutzt. M.K.: Genau. Und das ist es, was ein mathematisches Fraktal macht. Man kann an jedem Punkt unendlich reinzoomen und an jedem Punkt kann man mit dem Raster vergrößern und hat wieder eine Unendlichkeit. S.H.: Gut, dann kann ich das auf den Moment beziehen.
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E-Mail-Korrespondenz Marcus Kaiser–Sonja Heyer, 25.07.2016.
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M.K.: Das Fraktal sieht als Bild immer wie ein Raum beziehungsweise wie ein Muster aus, aber es ist nur zeitlich zu betrachten und deshalb immer Musik für mich. Wenn man sie erfährt, sind das alles zeitliche Prozesse. Ich glaube, Dauer und Klingen sind fast Synonyme. Alles, was dauert, klingt und weil alles dauert, klingt alles, und deshalb ist auf eine Art alles Musik. Ich werde oft gefragt, ob ich Musik oder bildende Kunst mache. Aber für mich gibt es den Widerspruch nicht. Deswegen finde ich den Begriff Klangkunst schwierig, weil sich damit wieder etwas abspaltet, eine neue Etikette, ein neues Produkt. S.H.: Aber dieses Produkt kommt ja nicht von den Künstlern… Zurück zu den Begriffen: »opernfraktal ist ein zustand/eine bewegung«38 . Geht es um den Unterschied zwischen beidem? M.K.: Eigentlich schreibe ich so etwas, weil ich nicht weiß, was es ist. Zustand denken wir normalerweise räumlich und statisch. Aber wenn man einen Zustand begreifen und denken will, ist er immer eine Bewegung. Ich drücke damit aus, dass es auf eine Art dasselbe ist. Ein Homöostat. Die unterschiedlichen Begriffe kommen daher, weil ich mich dem gleichen Ding in zwei Dimensionen nähere. Wenn ich, innerhalb des Fraktals gedacht, einen bestimmten Abstand habe, ist es ein Zustand, betrachte ich es in einem anderen Kontext, ist es eine Bewegung. S.H.: Das geschieht also durch eine Perspektivänderung. M.K.: Die Doppelsysteme beruhen nur auf verschiedenen Standpunkten, auf verschiedenen Rastergrößen. S.H.: »Abgesehen von Grundelementen, ist der Zustand offen«39 . Welches sind die Grundelemente von opernfraktal? M.K.: »(D)ie Situation ist immer eine belebte«40 , doch das ist banal, denn eine andere Situation können wir uns ja nicht vorstellen. Ich sage das explizit, weil Situationen im Museum manchmal anders vorgestellt werden. Aber auch wenn da ein Picasso hängt, nehme ich es ja immer als belebte Situation wahr. Es steht jemand davor, ich gehe darauf zu…
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Siehe URL: https://www.opernfraktal.de/21tage/index.html [Abruf: 02.10.2019]. Ebd. Ebd.
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S.H.: Die Vermittlungssituation ist also wichtig. »Menschen übernehmen entsprechend ihrem Charakter […] bestimmte Aufgaben«41 . Wer gibt wem welche Aufgaben? M.K.: Dieser Text gilt für die erste Aufführung im Jahr 2003. Ich hatte vier Künstler eingeladen. Frank Eickhoff übernahm computertechnisch die Aufnahmen und die Schichtungen. Die Fotografin In Sook Kim fotografierte. In der Ausstellung wucherten ihre Fotos in Boxen. Bernd Glaser zeichnete und generierte kleine Videos, hatte aber keine genauer präzisierte Aufgabe. Ich spielte die jeweils vier Konzerte pro Tag. Diese Aufgaben habe ich anstelle einer Partitur vergeben. Aber darüber hinaus waren alle sehr frei. S.H.: Wie man ein Quartett besetzt. M.K.: Ja. Da kommen wieder ganz klassische Hierarchien zur Geltung. S.H.: Du besetzt als Komponist. M.K.: Es war nicht wie in einer üblichen Gruppenausstellung. Ich habe so etwas auch schon erlebt, und war unzufrieden mit Zeit und Dauer. Man kommt in so einer klassischen Gruppensituation nicht dahin, Dauer gemeinsam zu gestalten. Da braucht es irgendetwas Übergeordnetes. S.H.: »Raum und Zeit werden durch Raster geordnet«42 , das heißt, es werden bestimmte Aufmerksamkeitsfelder geschaffen. M.K.: Genau. S.H.: »Die Besucher« konnten sich beteiligen. Wie wurde das genutzt? M.K.: Damals hatte der KUNSTRAUM Düsseldorf noch große offene Fensterfronten. Man hatte den Blick nach hinten auf das Café. Es war eine klassische Situation, fast wie auf einer Opernbühne. Manchmal kam vorn jemand herein, während ich hinten gespielt habe. Manchmal kamen Kinder herein. Wenige haben dort übernachtet, meist nur wir Künstler. Ich habe es rein materiell nicht geschafft, noch mehr von diesen Kuben zu bauen. Es gab zwei mit je zwei Ebenen, also für vier Leute. Da wurden wir von der Realität eingeholt. Dieser Ort war in Düsseldorf ein sozialer Brennpunkt, in dem viele Kinder mit ausländischem Hintergrund leben. 41 42
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Bald merkten wir, dass sich drinnen in den »Kisten« 10- bis 13-jährige Mädels trafen, um heimlich zu rauchen. Diese Mädchengang hat dann zu aller Überraschung während der Finissage spontan einen Song gesungen. Die Idee war ja auch, dass man sich sozial auseinandersetzt und eine bestimmte, andere Aufmerksamkeit erzeugt. Das ist in meinem Text »wenn ich etwas zu meiner kunst sagen sollte«43 ausgedrückt. Die Raster sind also offen. In ihnen bildet sich Bewegung ab. Der Raum der Ausstellung selbst ist ein Raster, auch der Zeitraum. S.H.: Was meinst du mit »angewiesen auf das darüber Hinausliegende«44 ? M.K.: Das bedeutet, ein Garten wäre ein toter Ort, wenn nicht ein Vogel oder ein Fuchs von draußen käme. S.H.: …also auf Austausch angewiesen… M.K.: Draußen ist sogar immer mehr als drinnen. Das entspricht meiner Vorstellung von Kunst: Die Wirklichkeit ist immer mehr als die Kunst. Es geht also nicht um die Erhabenheit der Kunst, sondern der Garten ist im Idealfall ein Standpunkt, um in die Landschaft zu sehen. S.H.: Du sagst, »ein garten ist lange zeit«45 . Deshalb frage ich nach den Zeitdimensionen, denn einige deiner Materialien sind Ökosysteme, die deine und unsere Lebenszeit überschreiten. Willst du damit eine Zeitdimension aufmachen, die unsere Lebenszeit überschreitet? Dann sind wir beim Thema der Erhabenheit. M.K.: Ich habe darüber nachgedacht. Bei mir wäre Erhabenheit dann nicht, was in der Kunst ist, aber man kann einen Blick darauf kriegen. S.H.: Das ist die klassische Situation des Erhabenen: Wir erhaschen einen Blick darauf. M.K.: Ich würde nie das Erhabene in die Kunst hineinholen wollen, wie ein Placebo für Erhabenes. Im Idealfall gestattet ein Garten einen Blick aufs Gebirge oder aufs Meer, auch im übertragenen Sinn. Man darf auch nicht ausblenden, dass die offene Situation eines Gartens immer zerstört werden kann.
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Siehe URL: https://www.opernfraktal.de/text-presse.html [Abruf: 02.10.2019]. Ebd. Ebd.
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S.H.: Lässt das Konzept von opernfraktal statt der einundzwanzig Tage auch zweihundertzehn oder zweitausendeinhundert Tage zu? Ist es deine Idee, dass sich so ein Stück endlos fortsetzen kann? M.K.: Das kann sich so endlos fortsetzen, wie sich auch ein Garten fortsetzen kann. Wenn die Person, die ihn pflegt, nicht mehr da ist, verwildert er. Man hat auch in den Regenwäldern festgestellt, dass der Mensch viel mehr Einfluss hat, als gedacht. Ein relativ kurzer Einfluss kann lange nachwirken. Der Garten bleibt unter Umständen nicht in seiner Form erhalten. Auch bei an einem ort – an einem anderen ort stellt sich die Frage, hört das auf oder macht das jemand weiter? Meine Arbeit »der rand der tage« [noch nicht editiert – S. H.] hört definitiv auf. Ich mach das erst seit vier Jahren, morgens auf der einen Seite des Blattes Wasserfarbe mit einem dünnen Pinsel aufzutragen. Ich beginne an einer Stelle und mache kleine Striche über den Rand. Wenn ich den Strich nicht mehr sehen kann, wird der Pinsel noch einmal mit einer anderen Farbe gesättigt und das Ganze fortgesetzt, bis die Farbe nicht mehr zu sehen ist. Das gleiche auf der Rückseite abends. Immer mit zwei Farben, die ich täglich wähle. Dadurch entsteht eine einfache Struktur, die nicht mehr ganz unter meiner Kontrolle ist und das nach Möglichkeit jeden Tag. So entsteht mit der Zeit durch das Übereinanderlegen der Blätter eine Zeichnung am Rand des Stapels. Ich habe gemerkt, das ist die Arbeit, bei der für mich am extremsten das Phänomen Zeit auftritt. Man kann das ja hochrechnen, wenn ich achtzig, neunzig Jahre alt werde, dann ist das zweieinhalb Meter hoch. Und immer, wenn man das macht, denkt man, irgendwann ist das die letzte Zeichnung. Die bleibt dann oben liegen. Und wenn mal ein Klecks beim Zeichnen passiert – »ein schlechter Tag« – macht das in der Seitenansicht nichts aus. Die eigentliche Qualität entsteht also auf einer ganz anderen Ebene. S.H.: Hier bestimmst du den Endzustand des Materials selbst. Das Material selbst wird sich kaum verändern. Doch bei den Werken, wo Pflanzen involviert sind, bekommt es eine Eigendynamik, die sich nach unser aller Leben weiter verändern wird. M.K.: Das gilt aber auch bei an einem ort – an einem anderen ort, wenn es andere Leute machen. Die Textpartitur hat eine große Offenheit. Ähnlich wie bei den Pflanzen, aber noch viel schneller, kann es sich verändern. S.H.: Ist das eine Überlegung von dir, dass es so weitergehen könnte? M.K.: Es gibt immer wieder Leute bei Aufführungen, denen diese Dimension klar wird. Ich selbst weiß es nicht. Es hängt ja auch nicht an mir. Ich werde niemanden beauftragen, es weiterzuführen. Vielleicht sage ich auch irgendwann Schluss.
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S.H.: Noch eine Frage zur Textpartitur: »Die streng quadratische Aufstellung wurde in einem Architekturmodell […] inszeniert […].«46 Was heißt »inszeniert«? M.K.: Das gehört für mich zu den Möglichkeiten einer Oper. Das sind PhotoshopSachen, Fotografien vom Modell. Hier ist ein Foto vom Modell, aber dahinein ist eine Situation von der Ausstellung gebaut. Im Gesamtpanorama sieht man die zwei Bilder hinter der Säule. Die Idee ist die einer klassischen Geschichte, wie ein Comic. Ich könnte da drinnen richtig klassische Geschichten inszenieren und weiterentwickeln. Diese Dimension wäre noch möglich – eine weitere Dimension, ein Seitenzweig des Fraktals, aber mit dem anderen verknüpft – und kann wieder Teil einer Ausstellung werden. S.H.: »eine computergenerierte klanginstallation, die alle 5minuten eine minute aufzeichnet und am folgenden tag zur selben zeit wiedergibt führt zu verschiebung von klangmaterial in den einzelnen stücken infolge der nicht präzisen anfangszeiten der konzerte.«47 Ist die Funktion dieser zeitlichen Verschiebung die einer stetigen Überlagerung? M.K.: Einerseits Überlagerung. So hat sich regelmäßig eine Schwelle ergeben, wo sich der Klang überlappte. Zum Beispiel gab es um 18 Uhr das Stück, das aufgenommen und am nächsten Tag abgespielt wurde. Da wir es aber nicht geschafft haben, immer präzise um 18 Uhr anzufangen, wurde in einem Stück Material hin und her verschoben. In der Biologie nennt man das virale Transduktion, wenn Viren teilweise in der Lage sind, DNA direkt in einen anderen Organismus einzubauen. Ein DNA-Austausch, der jenseits der geschlechtlichen Fortpflanzung und über Artgrenzen hinaus funktioniert. S.H.: Ist das eine Störung, eine Bereicherung oder eine Erweiterung von Differenz? M.K.: Größtenteils wird es eine Störung sein, weil es die lebenserfüllenden Funktionen schwächt, aber… S.H.: …es kann zu Mutationen führen… M.K.: …sodass etwas überlebensfähiger ist. In Bezug auf die Installation war es jedenfalls eine Bereicherung.
46 47
Siehe URL: https://www.opernfraktal.de/21tage/index.html [Abruf: 02.10.2019]. Ebd.
Komponistengespräche
S.H.: Habt ihr die Unschärfen bestimmter Elemente, wie zum Beispiel Unpünktlichkeit, bewusst zugelassen? M.K.: Das passiert durch das Alltägliche. Da kommt gerade noch jemand und man wartet noch etwas oder der Computer hat noch nicht alles hochgeladen – damals waren die Kapazitäten ja noch ganz andere. Ich muss die Diversität gar nicht erfinden. Ich muss nur das Raster erfinden, das mit dieser Diversität umgeht. In früheren Stücken habe ich noch mit Stoppuhr gearbeitet. Hier dient die Stoppuhr nur noch als Kompass, den man einsetzt, wenn man ihn braucht. Inzwischen finde ich es schöner, wenn man sich komplett frei bewegen kann. Auch als Interpret ist das Spielen nach Stoppuhr nicht das, was mir vorschwebt. Die letzten 24 Stunden des großen Rasters kann man im Netz unter »opernfraktal 21 tage« (www.opernfraktal.de) finden, allerdings ohne die jeweils vierminütige Pause zwischen den einzelnen Abschnitten. Unter »die tage« findet man ein paar Zustände von den Stücken und wie sie sich von Tag zu Tag entwickelt haben. Die vier Stücke waren so angelegt, dass sie am Ende collagenartig übereinandergelegt werden konnten: Um 18 Uhr war das längste Stück; hier sieht man das Nachtstück, ein sehr tiefes Stück von nur 15’; hier das Mittagsstück von 30’; da wurden die vorangegangenen Aufnahmen immer um etwa eine Oktave gepitcht; und ein Stück mit der Stimme; das wurde zerschnitten und in 6 Abschnitten über die Gesamtdauer verteilt. Mit der Zeit wird alles ziemlich dicht. Diese Dichte ist, wenn man sie mit klassischen Wandelweiser-Werken vergleicht, eine Eigenheit von mir. Auch an einem ort – an einem anderen ort hat relativ viel Sound. Wenn man aber bedenkt, dass es im Jahr 2000 angefangen hat und man die ganze leere Zeit dazwischen mitrechnet… Es kommt darauf an, wie man es betrachtet, welchen Maßstab man anlegt. Wenn man nur die Aufführung betrachtet, ist es unglaublich viel Sound. Das Video wurde aus den überlagerten Fotos der Fotografin produziert. An einem ort – an einem anderen ort war vom Konzept her klar, und die Erfahrung hat wenig geändert. Bei UNTERHOLZ ist es viel mehr möglich, auch das Konzept zu verändern und es trotzdem als Fortentwicklung eines übergeordneten Konzepts zu verstehen. Es stellt sich die gleiche Frage wie in der Natur: Wie entwickelt man ein Konzept, bei dem die Fortentwicklung auch das Konzept verändern können muss? Eine Konzeptkunst, die nicht bereit ist, das Konzept zu verändern, finde ich zu statisch gedacht. Dann hat auch das Sich-in-der-Zeit-Bewegen keinen Sinn. Das wäre zutiefst unmusikalisch und unzeithaft.
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Partiturauszüge
Antoine Beuger: silent understanding, Haan (edition wandelweiser ew01.009) 1991 Auszüge aus der Textpartitur
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Partiturauszüge
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Partiturauszüge
Antoine Beuger: silences (für Mundharmonika), Haan (edition wandelweiser ew01.016) 1992 Auszüge aus der Textpartitur
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Partiturauszüge
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Partiturauszüge
Antoine Beuger: first music for marcia hafif, Haan (edition wandelweiser ew01.032) 1994 Auszüge aus der Textpartitur
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Partiturauszüge
Antoine Beuger: calme étendue (oboe), Haan (edition wandelweiser ew01.044b) 1996 Auszüge aus der Textpartitur
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Partiturauszüge
Aus dem »Blatt mit Zeitpunkten«
Aus dem »Buch mit Klängen«
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Eva-Maria Houben: orgelinstallation I, Haan (edition wandelweiser ew16.061) 2005. Textpartitur alle klänge sind sehr leise und lang bis sehr lang. die meisten klänge sind mehr oder weniger stark mit luftstrom gefärbt. ab und zu ist ein (sehr leiser) klang klar – ohne luftanteil. je nach größe der orgel gibt es a. mehrere ruhige liegeklänge mit luftstromanteilen – in der 16ʼ- und (überwiegend) in der 8ʼ-lage, eher tief; b. äußerst wenige, am ehesten nur einen einzigen sehr leisen liegeklang ohne luftstromanteil, tief (im bereich der großen oktave und tiefer); c. ein sehr hohes, lang andauerndes luftiges rauschen (sehr hoher luftstromanteil); d. einen in sich bewegten, fluktuierenden klang im tiefen bereich (8ʼ; große oktave*); e. einen in sich bewegten, fluktuierenden klang in einer mixturmischung (kleine bis eingestrichene oktave*).
*angegeben ist der klangcharakter; die absolute tonhöhe kann variieren. die klänge a) und c) ergeben sich durch variable schleifenstellung: die registerzüge werden nur zum teil gezogen; unterschiedliche registereinstellungen ergeben unterschiedlich hohe anteile von luftstrom, unterschiedliche klangfärbungen. viele orgeln verfügen nicht über mechanische registerzüge, so dass sich die schleifen nicht variabel einstellen lassen. in diesem fall sind vor der installation verschiedene kleine papierbälge zu falten (»ziehharmonika« aus papier). diese papierbälge lassen sich zwischen taste und anschlagsort der taste schieben, so dass die taste weder ganz gedrückt noch ganz entspannt ist. auf diese weise lassen sich – je nach variabler ausrichtung, die sogar während des klingens noch weiter nuanciert werden kann – klänge unterschiedlicher färbung und mit unterschiedlichem luftanteil hervorbringen. – einstellung: zunächst register noch nicht ziehen; zuerst das papier legen, die taste hochziehen und an das papier drücken, damit der ton noch nicht erklingt; erst jetzt das register ziehen und die taste regulieren.
Partiturauszüge
bei den lang andauernden klängen a), b) und c) können gewichte oder keile zum feststellen benutzt werden. die klänge d) und e) werden durch variablen tastendruck hervorgebracht. eine hand stützt die taste ab, mit der anderen hand wird gerade eben der druckpunkt umspielt. der klang fluktuiert, ist in sich bewegt, teiltöne tauchen auf und verschwinden wieder. diese klänge a) bis e) werden in der folge wie in der gleichzeitigkeit miteinander kombiniert. – weite einsatzabstände, weite entfernungen bis zum ausblenden eines klangs, weite leeren zwischen den klängen. es ist gut möglich, dass an einer stelle der installation alle klangtypen gleichzeitig präsentiert sind; ebenso gut ist es möglich, dass nur ein einziger klangtyp präsentiert ist – und dass es zwischen einem verschwinden und einem neuerlichen auftauchen dieses klangtyps lange zeit still bleibt.
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Marcus Kaiser: opernfraktal21tage, Haan (edition wandelweiser ew15.012.01-04) 2003. Textpartitur OPERNFRAKTAL (t/x/y) »opernfraktal« ist ein zustand/eine bewegung eingebunden in architektur/installation und tätigkeit/handlung und dauer/klang im sinne von CHRONOTEKTUR. wie ein vivarium ausschnitthaft ungenügend ein stück tanganjikasee oder amazonasregenwald nachbildet und einen wirklichen lebensraum bietet. ausgehend von einigen grundelementen ist der zustand offen und kann sich verschiedenen gegebenheiten anpassen, wie einer galerie/ausstellungssituation, dem öffentlichen raum oder extremsituationen wie einer installation im pantanal oder dem ruwenzorimassiv. die situation ist immer eine belebte und erzeugt ihre eigene geschichte mit den dingen und den menschen. die einzelnen individuen übernehmen ihrem charakter und ihren fähigkeiten entsprechende aufgaben (der beobachter, die schöne frau…), gehen aber auch ihren eigenen tätigkeiten nach, die mit der zeit zu einer veränderung und verdichtung der situation führen. die raum und zeitstruktur wird durch raster geordnet, die sich im konkreten hier und jetzt füllen und verdichten. rahmen und raumraster für die evokation der veränderung und für die verschiedenen lebens und tätigkeits bereiche; zeitraster als regelmäßige wiederholungsmuster über größere zeiträume und als zyklische aufnahme und wiedergabe muster. erste konkretion opernfraktal21tage 6° 46’ 49,” east 51° 11’ 55,” north vom 3/8/2003 – 23/8/2003 wurde der kunstraum düsseldorf von In Sook Kim, Bernd Glaser, Frank Eickhoff und Marcus Kaiser bewohnt. sie übernahmen spezifische aufgaben (fotographie, computeranimierte zeichnung, programmierung/tontechnik, instrumentalmusik), gingen aber auch ihren eigenen tätigkeiten nach. der raum war tag und nacht geöffnet und besucher konnten im rahmen der möglichkeiten dort essen und trinken, arbeiten und auch übernachten.
Partiturauszüge
vier metallwinkel-kuben (je 150cm/150cm/280cm) waren für die verschiedenen tätigkeitsbereiche bestückt: küche/bar – kommunikation/modell – elektronik/arbeit – intuition/klang. die streng quadratische aufstellung wurde in einem architekturmodell, ausgehend von kuben derselben proportion, aufgenommen. mittels foto und computer wurden dort situationen der ausstellung inszeniert. die während der ausstellung entstandenen fotos breiteten sich zunehmend in speziellen boxen auf dem boden aus. für die nacht standen zwei schlafboxen (je 200cm/200cm/200cm) mit insgesamt vier doppelplätzen zur verfügung. täglich gab es vier konzerte, alle 6 stunden: um 0uhr (of1): 15 minuten cello und sinustongenerator um 6uhr (of2): 30 minuten stimme und elektronik* um 12uhr (of3): 30 minuten cello und elektronik* um 18uhr (of4): 60 minuten cello und elektronik* (*die konzerte wurden jeweils aufgezeichnet, teils einfach verändert, und am nächsten tag zum selben konzert zugespielt). eine computergenerierte klanginstallation, die alle 5minuten eine minute aufzeichnet und am folgenden tag zur selben zeit wiedergibt führt zu verschiebung von klangmaterial in den einzelnen stücken infolge der nicht präzisen anfangszeiten der konzerte. am 21tag nach dem letzten konzert wurden alle vier konzerte mit ihren jeweils 21 konkretionen collagenartig übereinandergelegt und sind als CD/DVD verfügbar.
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Markus Kaiser: an einem ort – an einem anderen ort, Haan (edition wandelweiser ew15.007) 2000. Textpartitur
Grafiken
Für die folgenden drei Grafiken gilt diese Legende:
Marcus Kaiser: opernfraktal21tage (2003)
Sonja Heyer
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Marcus Kaiser: feindtönung – opernfraktal (2014)
Sonja Heyer
Grafiken
Marcus Kaiser: opernfraktal/spinozawucherung (2015)
Sonja Heyer
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Das Beziehungsmodell Klang − Stille
Sonja Heyer
Grafiken
Historisch-systematische Analyse KLANGRAUM Düsseldorf 1994–2016
Sonja Heyer
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Anhang
Quellen
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Grafiken
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UNTERHOLZ, ew15.014 1-, 2005/06–. spinoza wucherung, ew15.014.13, 2012.
(4) Jürg Frey, Haan, edition wandelweiser • WEN, ew02.063 1–59, 1999−2007. • pianist alone, ew02.087, 1998–2004. • three instruments series I-XVIII, ew02.055, 1998/99. • circular music, ew02.135.1-7, 2011–16. (5) Eva-Maria Houben, Haan, edition wandelweiser • à l’unisson I-VII, ew16.041a-g, 2004. • klang-landschaften, ew16.104, 2004. • sonata 3-6 aus: 6 sonaten für klavier, ew16.155.3-6, 2011. • sonatinen XI-XVII aus: 17 sonatinen, ew16.159, 2011. • keyboard music 2, ew16.015b, 2002. • this place/another place, ew16.258, 2016. (6) Überzeitliche Aufführungen • Gegenwendig, Installation im Februar/Mai/August/November 2000 im Kunstraum Düsseldorf, Marcus Kaiser (Komposition), Frank Eickhoff (E-BowGitarre, Sinustongenerator), André O. Möller (E-Bow-Gitarre), Burkhart Zeller (Cello), Marcus Kaiser (Cello, Sinustongenerator). • Garonne (24) für sich, 12.7.–4.8.2001 täglich eine Stunde, Carlo Inderhees (Komposition), Christoph Nicolaus (Videoinstallation). • Raumklang. Bodeninstallation, 22.7.–29.7.2002, Jürg Frey: »buch der träume und weiten« (elektronische Musik), Mauser: »fußbodeninstallation«. • opernfraktal21tage, 3.8.–23.8.2003 durchgängig, Markus Kaiser (ew15.012.0104), mit In Sook Kim, Bernd Glaser, Frank Eickhoff und Marcus Kaiser. • Interferenzen Wellenspiele, 25.7.–15.8.2004 täglich 4,5 Stunden, André O. Möller (Komposition, Gesang), Markus Grolle (Choreographie, Tanz), Barbara Siebert (Video, Regie). • The Remarkable Absent, 24.7.–7.8.2005, täglich 10–19 Uhr, Els van Riel (Videoinstallation), fünf Konzerte im Rahmen der Installation: Burkhard Schlothauer »Walking, Standing«, Radu Malfatti »Düsseldorf Solo (2)«. • Lichtgesänge, Rauminstallation, 2.7.–16.7.2006, täglich 14 und 18 Uhr, Mauser (Lichtfresken), Antoine Beuger (Spectral Canticles). • Ein Tisch. Ein Stuhl. Ein Fahrrad, 15.7.–19.7.2009, durchgängig, Jürg Frey (Komponist), Christoph Nicolaus (bildender Künstler), Sylvia Alexandra Schimag (Lesung, Autorin), Ary Strien (Dichter, bildender Künstler), Chiyoko Szlavnics (Komponistin), Els van Riel (Filmemacherin), Manfred Werder (Komponist).
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Durch die Nacht, 24.1.2009 (23:21 Uhr) bis 25.1.2009 (10:51 Uhr), John Cage »Empty Words I–IV«, Antoine Beuger »first music for marcia hafif«. arranging, rearranging and rearranging things – listening, 1.8.–20.8.2011, Tobias Liebezeit (Schlaginstrumente). a place to stay, 14.7.–22.7.2011, Christoph Nicolaus (Ausstellung), tägliche Konzerte, Mitwirkende: Carlo Inderhees, Marcus Kaiser, Emmanuelle Waeckerle, André O. Möller, Antoine Beuger, Sylvia Alexandra Schimag, Joep Dorren (Theaterperformance). Tableau Vivant Musical, 21.7.–25.7.2014, Konzertinstallation, Oliver Schmidt (Konzeption), Mitwirkende: Ole Schmidt, Chris Weinheimer, Antoine Beuger, Jorge Gomez Abrante, Jens Brülls, Ralph Beerkircher. Lear lesen, 16. und 17.7.2014, Mitwirkende: Antoine Beuger, Joep Dorren, Nora Franzmeier, Roshanak Morrowatian, Els van Riel. Series invisible, 22.7.2015, 11–17 und 20–22 Uhr, Christoph Korn und Lasse-Marc Riek (Komposition), Mitwirkende: Antoine Beuger, Swen Buckner, Axel Ganz, Christoph Korn, Claas Morgenroth, Lasse-Marc Riek, Sabine Waffender, Sylvia Alexandra Schimag, Anne Wissmann, Hannah Wissmann, Paula Wissmann. Grenzeröffnung – Grenzauflösung, 16.7.–20.8.2016, Anna-Karin Engdahl (Installation), Rigoletto Mettach und Freunde (Musik), Sylvia Alexandra Schimag (Lesung), Anna-Karin und Jörgen Engdahl (Performance).
Literaturverzeichnis
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Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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Musical Practice as a Form of Life How Making Music Can be Meaningful and Real 2019, 240 p., pb., ill. 44,99 € (DE), 978-3-8376-4573-6 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4573-0
Marianne Steffen-Wittek, Dorothea Weise, Dierk Zaiser (Hg.)
Rhythmik – Musik und Bewegung Transdisziplinäre Perspektiven 2019, 446 S., kart., 13 Farbabbildungen, 37 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4371-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4371-2
Johannes Müske, Golo Föllmer, Thomas Hengartner (verst.), Walter Leimgruber (Hg.)
Radio und Identitätspolitiken Kulturwissenschaftliche Perspektiven
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