Die großen Themen des christlichen Glaubens [2 ed.] 3534262573, 9783534262571

In allgemein verständlicher Weise und didaktisch aufbereitet behandelt Norbert Scholl für ein breites Publikum die zentr

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German Pages 374 [373] Year 2014

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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur zweiten Auflage
Zur Einführung
I. Glauben – wie geht das?
1. Gestalten des Glaubens
a) Verschiedene Arten von „glauben“
b) Das biblische Verständnis von „glauben“
c) „glauben“ in indogermanischen Sprachen
2. Ich glaube
3. Wir glauben
4. Glaube und Vernunft
5. Glaube und Zweifel
6. Glaube und Unglaube
7. Das bleibende „Vielleicht …“
II. Die Anfänge des Kosmos und der Menschheit
1. Ein konfliktreiches Feld: Kirche und Naturwissenschaften
a) Kopernikus und die Folgen
b) Grundsätzliche Aspekte für das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie
2. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde …“: Die Bibel und die Entstehung der Welt
a) Der jüngere Schöpfungstext
b) Der ältere Schöpfungstext
c) Theologie der Schöpfung
3. Geheimnis Mensch: Zufall oder „planvolle Freiheit“?
a) Die Anfänge
b) Das Leben
c) Der Mensch
III. Die Frage nach Gott
1. Ein Blick in die Religionsgeschichte
a) Archaische Formen von „Religion“
b) „Gott“ als Tremendum und Fascinosum
c) Der Mensch – „unheilbar religiös“
2. Kann man die Existenz Gottes beweisen?
a) Anselm von Canterbury (1033–1109)
b) Thomas von Aquin (1215–1274)
c) Immanuel Kant (1724–1804)
d) Würdigung und Kritik der „Gottesbeweise“
3. „Gotteskrise“ in den westlichen Industrienationen
a) Vielfältige Ursachen
b) Umfrageergebnisse
c) „Stellvertretung des abwesenden Gottes“
4. „Gott“ in einigen der großen Weltreligionen
a) Buddhismus
b) Hinduismus
c) Islam
5. Gott – der Angerufene
IV. „Unser Gott ist ein Nomade“ – Gotteserfahrungen im Alten Israel
1. Die Vielfalt der Erfahrungen
2. Der lange Weg zum Monotheismus
3. Jahwe – der Einzige und Einsame
4. „Einen Bund habe ich geschlossen“
5. Die Propheten
6. Gewalt und Gewaltkritik
V. Wie glaubwürdig ist die Bibel?
1. Das Alte Testament
a) Ein langer Entstehungsprozess
b) Ein „Kanon“ für die Christen
c) Die Tora
2. Das Neue Testament
a) Die Evangelien
b) Die Apostelgeschichte
c) Die Briefe
d) Die Offenbarung des Johannes
3. Die Bibel: „Offenbarung“ oder Menschenwort?
4. Welche Bibelübersetzung kaufen?
5. Wie man die Bibel heute richtig lesen und verstehen kann
a) historisch- kritisch
b) kanonisch
c) psychologisch
d) meditativ
e) im Zusammenspiel von Elementen verschiedener Ansätze
VI. Was wir über Jesus wissen
1. Israel zur Zeitenwende
a) Die politische Situation
b) Die sozialen Verhältnisse
c) Religiöse Gruppierungen
2. Die Vorgeschichte
a) Die „Kindheitsevangelien“
b) „Menschwerdung Gottes“
c) „Empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau“?
3. Das öffentlicheWirken
a) Die gesellschaftliche und politische Situation in Nazaret
b) Taufe durch Johannes
c) Die Botschaft
d) Hat Jesus Wunder gewirkt?
4. Leiden und Tod
5. „Auferweckt von den Toten“
a) Osterbekenntnisse
b) Ostererzählungen
c) Die Frage nach der Historizität des Geschehens
d) War das Grab leer?
VII. Die Kirche des Anfangs
1. Israel und die Kirche
2. Gemeindeleben
3. Von Kulthandlungen wollte die Urkirche nichts wissen
a) Taufe
b) Herrenmahl
c) Versöhnung
d) Leitungsdienst
e) Petrus – der erste Papst?
f) Diakonie
VIII. Ein Gott in drei Personen?
1. Vom verkündigenden Jesus zum verkündigten Christus
a) Die „christologische Karriere“ des Jesus von Nazaret
b) Hellenisierung des Christentums?
c) Aufgaben heutiger Christologie
d) „Erlösung“
2. Der Geist Gottes
a) Gottes Geist im Alten und Neuen Testament
b) Von der Erfahrung des Gottesgeistes zur Lehre vom Heiligen Geist als göttlicher Person
3. Der drei-eine Gott
a) Die Symbolik der Dreizahl
b) Biblische Grundlagen?
c) Ein problematischer Übergang
d) „Person“ und „Wesen“
e) Vorschläge für neue Sprachregelungen
IX. Kirchengeschichte: Eine „Kriminalgeschichte“?
1. Kaiser Konstantin – Heil oder Unheil für die Kirche?
2. Finsteres Mittelalter?
3. Die Reformation
4. Die Neuzeit
5. Das zwanzigste Jahrhundert
6. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965)
7. Ende einer Kirchenepoche?
X. Kirche heute – Skandal oder Heilszeichen?
1. Kirche– wozu?
2. Fragwürdige Strukturen
a) Das kirchliche Amt
b) Orden und ordensähnliche Gemeinschaften
c) Die „Laien“
3. Sind Dogmen noch zeitgemäß?
a) Glaubensbekenntnis
b) Glaubenssätze
4. Spiritualität und Gebet
a) Elemente christlicher Spiritualität
b) Gebet
5. Sakramente und Symbole
a) Symbole
b) Sakramente im Volk Israel
c) Historische Entwicklungslinien der christlichen Sakramente
6. Taufe und Eucharistie
a) Taufe
b) Eucharistie
7. Firmung und Konfirmation
a) Ursprünge und Bedeutung
b) Firmung
c) Konfirmation
8. Schuld und Rechtfertigung
a) Gibt es überhaupt Schuldige?
b) Sind Adam und Eva an allem schuld?
c) Sich entschuldigen oder um Entschuldigung bitten?
d) Kann die Kirche Schuld vergeben?
e) Die Rechtfertigung des Sünders
9. Engel und Teufel
a) Engel
b) Teufel
10. Ehe und Familie
a) Wandel im Eheverständnis
b) Was haben die Kirchen mit der Ehe zu tun?
c) Homosexualität und „eingetragene Lebenspartnerschaften“
d) Alleinerziehende Mütter und Väter
e) Pränatale Diagnostik
11. Krankheit und Leiden
a) Strafe oder Auserwählung Gottes?
b) Die Solidarität Gottes mit dem Leid der Menschen
c) Ist Organspende Christenpflicht?
12. Die Heiligen
a) Heilige
b) Maria
XI. Auf dem Weg zur Ökumene
1. Ökumene der christlichen Kirchen
2. Ökumene der Weltreligionen
a) Mission
b) Neue Akzente im Heilsverständnis
c) Vielzahl der Religionen
XII. Ewiges Leben?
1. In Würde sterben
2. Einblicke ins Jenseits?
3. Die Schwierigkeit der Rede von den „Letzten Dingen“
4. Der Glaube an die Auferweckung der Toten
5. Das große Gericht
6. Fegefeuer und Hölle
7. Können Christen an die Reinkarnation glauben?
8. Ein neuer Himmel und eine neue Erde
Schlusswort
Anmerkungen
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Die großen Themen des christlichen Glaubens [2 ed.]
 3534262573, 9783534262571

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Norbert Scholl

Die großen Themen des christlichen Glaubens

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage 2013 © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: SatzWeise, Föhren Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Einbandabbildung: 3 Kreuze am Hügel bei Sonnenuntergang © styleuneed – Fotolia.com Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26257-1

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73791-8 eBook (epub): 978-3-534-73792-5

Inhaltsverzeichnis Vorwort zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

12

I.

II.

III.

Glauben – wie geht das? . . . . . . . . . . . . . 1. Gestalten des Glaubens . . . . . . . . . . . a) Verschiedene Arten von „glauben“ . . . b) Das biblische Verständnis von „glauben“ c) „glauben“ in indogermanischen Sprachen 2. Ich glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wir glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Glaube und Vernunft . . . . . . . . . . . . 5. Glaube und Zweifel . . . . . . . . . . . . . 6. Glaube und Unglaube . . . . . . . . . . . . 7. Das bleibende „Vielleicht …“ . . . . . . . .

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Die Welt als Schöpfung Gottes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein konfliktreiches Feld: Kirche und Naturwissenschaften . . . . . . a) Kopernikus und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundsätzliche Aspekte für das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde …“: Die Bibel und die Entstehung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der jüngere Schöpfungstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der ältere Schöpfungstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Theologie der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geheimnis Mensch: Zufall oder „planvolle Freiheit“? . . . . . . . . a) Die Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Frage nach Gott . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein Blick in die Religionsgeschichte . . . a) Archaische Formen von „Religion“ . . b) „Gott“ als Tremendum und Fascinosum c) Der Mensch – „unheilbar religiös“ . .

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Inhalt

2. Kann man die Existenz Gottes beweisen? . . . . . a) Anselm von Canterbury (1033–1109) . . . . . b) Thomas von Aquin (1215–1274) . . . . . . . c) Immanuel Kant (1724–1804) . . . . . . . . . d) Würdigung und Kritik der „Gottesbeweise“ . . 3. „Gotteskrise“ in den westlichen Industrienationen a) Vielfältige Ursachen . . . . . . . . . . . . . . b) Umfrageergebnisse . . . . . . . . . . . . . . c) „Stellvertretung des abwesenden Gottes“ . . . 4. „Gott“ in einigen der großen Weltreligionen . . . a) Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hinduismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gott – der Angerufene . . . . . . . . . . . . . .

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IV.

„Unser Gott ist ein Nomade“ – Gotteserfahrungen im Alten Israel 1. Die Vielfalt der Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der lange Weg zum Monotheismus . . . . . . . . . . . . . . 3. Jahwe – der Einzige und Einsame . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Einen Bund habe ich geschlossen“ . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Gewalt und Gewaltkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

Wie glaubwürdig ist die Bibel? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Alte Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ein langer Entstehungsprozess . . . . . . . . . . . . . . b) Ein „Kanon“ für die Christen . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Tora . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Neue Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Evangelien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Offenbarung des Johannes . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Bibel: „Offenbarung“ oder Menschenwort? . . . . . . . 4. Welche Bibelübersetzung kaufen? . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wie man die Bibel heute richtig lesen und verstehen kann . . a) historisch-kritisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) kanonisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) psychologisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) meditativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) im Zusammenspiel von Elementen verschiedener Ansätze

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Inhalt

VI.

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Was wir über Jesus wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Israel zur Zeitenwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die politische Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die sozialen Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Religiöse Gruppierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die „Kindheitsevangelien“ . . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Menschwerdung Gottes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) „Empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau“? 3. Das öffentliche Wirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die gesellschaftliche und politische Situation in Nazaret . . b) Taufe durch Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Hat Jesus Wunder gewirkt? . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Leiden und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. „Auferweckt von den Toten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Osterbekenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ostererzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Frage nach der Historizität des Geschehens . . . . . . . d) War das Grab leer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII. Die Kirche des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Israel und die Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemeindeleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Von Kulthandlungen wollte die Urkirche nichts wissen a) Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Herrenmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Leitungsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Petrus – der erste Papst? . . . . . . . . . . . . . . . f) Diakonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII. Ein Gott in drei Personen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vom verkündigenden Jesus zum verkündigten Christus . . . . . . . . a) Die „christologische Karriere“ des Jesus von Nazaret . . . . . . . . b) Hellenisierung des Christentums? . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aufgaben heutiger Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) „Erlösung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Geist Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gottes Geist im Alten und Neuen Testament . . . . . . . . . . . . b) Von der Erfahrung des Gottesgeistes zur Lehre vom Heiligen Geist als göttlicher Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3. Der drei-eine Gott . . . . . . . . . . . . a) Die Symbolik der Dreizahl . . . . . . b) Biblische Grundlagen? . . . . . . . . . c) Ein problematischer Übergang . . . . d) „Person“ und „Wesen“ . . . . . . . . e) Vorschläge für neue Sprachregelungen

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IX.

Kirchengeschichte: Eine „Kriminalgeschichte“? . . . . . 1. Kaiser Konstantin – Heil oder Unheil für die Kirche? 2. Finsteres Mittelalter? . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das zwanzigste Jahrhundert . . . . . . . . . . . . 6. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) . . . . 7. Ende einer Kirchenepoche? . . . . . . . . . . . . .

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X.

Kirche heute – Skandal oder Heilszeichen? . . . . . . . . . . . . . 1. Kirche – wozu? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Fragwürdige Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das kirchliche Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Orden und ordensähnliche Gemeinschaften . . . . . . . . c) Die „Laien“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sind Dogmen noch zeitgemäß? . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Glaubensbekenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Glaubenssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Spiritualität und Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Elemente christlicher Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . b) Gebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sakramente und Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Symbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sakramente im Volk Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Historische Entwicklungslinien der christlichen Sakramente 6. Taufe und Eucharistie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Taufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eucharistie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Firmung und Konfirmation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ursprünge und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Firmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konfirmation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Schuld und Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gibt es überhaupt Schuldige? . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sind Adam und Eva an allem schuld? . . . . . . . . . . . . c) Sich entschuldigen oder um Entschuldigung bitten? . . . .

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Inhalt

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d) Kann die Kirche Schuld vergeben? . . . . . . . . . . . . . e) Die Rechtfertigung des Sünders . . . . . . . . . . . . . . . Engel und Teufel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Engel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Teufel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wandel im Eheverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Was haben die Kirchen mit der Ehe zu tun? . . . . . . . . . c) Homosexualität und „eingetragene Lebenspartnerschaften“ d) Alleinerziehende Mütter und Väter . . . . . . . . . . . . . e) Pränatale Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krankheit und Leiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Strafe oder Auserwählung Gottes? . . . . . . . . . . . . . . b) Die Solidarität Gottes mit dem Leid der Menschen . . . . . c) Ist Organspende Christenpflicht? . . . . . . . . . . . . . . Die Heiligen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Heilige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Maria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XII. Ewiges Leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. In Würde sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einblicke ins Jenseits? . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Schwierigkeit der Rede von den „Letzten Dingen“ 4. Der Glaube an die Auferweckung der Toten . . . . . 5. Das große Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fegefeuer und Hölle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Können Christen an die Reinkarnation glauben? . . . 8. Ein neuer Himmel und eine neue Erde . . . . . . . .

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Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XI.

Auf dem Weg zur Ökumene . . . . . . . . 1. Ökumene der christlichen Kirchen . . 2. Ökumene der Weltreligionen . . . . . a) Mission . . . . . . . . . . . . . . b) Neue Akzente im Heilsverständnis c) Vielzahl der Religionen . . . . . .

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Vorwort zur zweiten Auflage Nach wie vor stoßen die großen Themen des christlichen Glaubens auf Interesse. Sonst wäre wohl eine zweite Auflage nicht erforderlich geworden. Aber es haben sich neue Fragen zu den alten hinzugesellt. Darum erscheint eine erhebliche Erweiterung des Buches als sinnvoll. Dem Ganzen wurde ein eigenes Kapitel über Gestalten und Formen des Glaubens vorangestellt. Die weiteren Kapitel wurden zum Teil erweitert oder ergänzt. Das betrifft vor allem die Ausführungen über die Frage nach Gott, über die Auferweckung Jesu und über ethische Probleme im Hinblick auf Familie, Homosexualität, pränatale Diagnostik und Organtransplantation. Ich danke der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft und insbesondere der Lektorin Cana Nurtsch für die freundliche Förderung und für manche hilfreiche Anregungen. Im Juni 2013

Norbert Scholl

Zur Einführung Fundament aller Theologie ist die jüdisch-christliche Glaubenstradition. „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus“ (1 Kor 3,11). Auf diesem Boden haben die Theologen im Laufe der Jahrhunderte ein gewaltiges Gebäude errichtet. Stein um Stein haben sie hinzugefügt. Immer neue Räume wurden dem Gebäude angegliedert. Denn es ist uralte kirchliche Auffassung, dass es einen theologischen Fortschritt gibt. Das gilt für die Kirche insgesamt und für den einzelnen Gläubigen. Doch was früheren Generationen als Fortschritt galt, wirkt heute nicht selten überholt. Der Zahn der Zeit hat am Gemäuer genagt. Manches ist morsch geworden. Einiges droht einzustürzen. Man hatte die Tragfähigkeit überschätzt. Obendrein sind einige Räume mit Mobiliar einer längst vergangenen Zeit ausgestattet, haben Staub angesetzt und sind mit Firnis überzogen. Darum arbeiten viele Theologen an der Renovierung. Sie haben dafür genauere Messinstrumente zur Verfügung und wenden neue Methoden an. Auch besitzen sie häufig bessere und solidere Materialien. Das vorliegende Kompendium der großen Fragen des christlichen Glaubens möchte interessierte und aufgeschlossene Leserinnen und Leser durch das mächtige und Gebäude der Theologie führen, wie es sich zu Beginn des dritten Jahrtausends darstellt. Bei diesem Rundgang können nur die wichtigsten der vielen Räume besichtigt werden. Und auch die nicht in allen Einzelheiten. Bei manchen von ihnen lässt sich leicht erkennen, dass sie dringend renovierungsbedürftig sind. Andere wird der Besucher, der vielleicht früher einmal Bilder davon gesehen hat, kaum wieder erkennen, so sehr haben sie sich verändert. Einige werden die Prachtgemächer des ihnen aus Kindheitstagen vertrauten „Hauses voll Glorie“ vermissen. Aber es wird auch viele Menschen geben, die den Umbau schon lange herbeigesehnt haben und die sich nun freuen werden über das, was schon erreicht wurde. Einiges in dem alten Gebäude wird ihnen erstaunlich modern vorkommen. Große Fenster lassen viel Licht herein. Die Räume sind gut gelüftet. Die hier und da angebrachten Erklärungen sind in verständlicher Sprache abgefasst. Einige vermoderte Wände wurden durch tragfähige, solide Konstruktionen ersetzt. Kurz: Die Besucher werden ein Haus vorfinden, in dem es sich (wieder) wohnen lässt. In dem man sich (wieder) wohl fühlen kann. Ich lade Sie ein, sich nun selbst ein Urteil zu bilden Norbert Scholl

I. Glauben – wie geht das? 1.

Gestalten des Glaubens

a) Verschiedene Arten von „glauben“

Im heutigen Sprachgebrauch begegnet „glauben“ in verschiedener Bedeutung:  Ich glaube etwas (… dass das Wetter heute schön bleibt).  Ich glaube jemandem etwas (… auch wenn für mich die Sache selbst nicht nachprüfbar ist).  Ich glaube dir (… die Sache steht nicht zur Debatte, weil du für mich eine glaubund vertrauenswürdige Person bist).  Ich glaube an dich (… es geht überhaupt nicht mehr um eine Sache, auch nicht um die Glaubwürdigkeit einer Person, sondern allein um die Person selbst, um das angesprochene „Du“). Das christliche Glaubensbekenntnis beginnt: „Ich glaube an Gott“. Das bedeutet: Es geht nicht primär um irgendeine „Sache“ oder um (Glaubens-)Wahrheiten. Vielmehr wird mit dieser Form des Bekennens ein personaler Bezug eröffnet, eine Ich-Du-Beziehung. „Ich glaube an …“ drückt eine Haltung, eine Einstellung, eine Gesinnung und Entscheidung aus. „Ich glaube an dich“ gehört einem anderen Sprachspiel an als „ich glaube etwas“ oder auch „ich glaube dir etwas“. Der Satz „Ich glaube an …“ bringt zum Ausdruck, dass es primär um einen Person-Bezug geht und erst sekundär um Inhalte, um ein „etwas“. Das Bekenntnis „Ich glaube an Gott“ besagt: Beim Sprechenden ist eine personale Entscheidung vorausgegangen. Er hat eine für ihn bedeutsame Erfahrung gemacht. Er ist zu einer ihn ganz persönlich betreffenden und betroffen machenden Einsicht gelangt. Dieses Widerfahrnis hat eine Beziehung zu einem Du aufkommen lassen, das ihm nun als unbedingt und unumstößlich glaub-würdig erscheint, für das er sich mit seinem ganzen Lebensentwurf entschieden hat, das ihn zu einer tiefen inneren Sicherheit aufgrund persönlichen Vertrauens und Zutrauens führte. Dieser Glaube ist nicht Ausdruck mangelnden Wissens oder unzureichend begründbarer Annahmen. „Glaube“ besagt hier unbeirrbare Festigkeit der Zustimmung. Er nährt sich aus dem unbedingten Ja zu einer Person, auf die ich mich ganz und gar verlassen kann und der ich rückhaltlos vertraue. Der Glaube liegt so als eigene und einzigartige Verhaltensweise des Menschen gleichsam am Schnittpunkt von Wissen und Wollen. Er liegt näher bei der personalen, existentiellen Entscheidung als beim bloßen verstandesmäßigen „Für-wahr-halten“ einer vorgelegten (Glaubens-)Lehre.

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Glauben

b) Das biblische Verständnis von „glauben“

In diesem Zusammenhang kann es hilfreich sein, sich an das zu erinnern, was die jüdisch-christliche Tradition unter „glauben“ versteht. Das Alte Testament kennt eine größere Anzahl von Wörtern und Wortstämmen, die jeweils Teilaspekte dessen wiedergeben, was mit „glauben“ gemeint ist: amán (fest, sicher), batáh (trauen), qiwwáh (hoffen), hikkáh (harren), hasáh (sich bergen). Für den Einzelnen wie für das gesamte Volk gilt, dass Glaube die Existenzform des an Jahwe gebundenen Menschen meint. Es geht nicht um die Annahme von bestimmten Glaubenssätzen, nicht einmal um formale Zustimmung zu einem bestimmten Gottesbild, sondern um Antwort auf den sich in der Geschichte mitteilenden Gott: „Abraham glaubte dem (Wort des) Herrn, und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an“ (Gen 15,6). Glaube ist Zutritt und Bleiben in einem Raum gottgewirkter Zuversicht: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ (Jes 7,9). Darin findet der Mensch einen festen Stand, um sein Leben hoffend und vertrauend in die Hand zu nehmen. Es ist ein Sich-Bergen in Jahwe, bei dem der Mensch aber nicht aus seiner eigenen Verantwortung entlassen wird. Glaube wird zur Ermöglichung menschlicher Existenz überhaupt. Auch im Judentum bedeutet „glauben“ nicht mehr und nicht weniger als Vertrauen auf Gott, und es ist unabhängig von Glaubensinhalten oder Dogmen. Glaube bezieht sich als umfassendes Programm auf alle Bereiche des Lebens (Politik, Kultur, soziale und ethische Werte, Gottesdienst). 1 In diesem weit gefassten Verständnis des Glaubens liegen allerdings Gefahren, die offenkundig werden, wenn es um die Anwendung und Durchsetzung bestimmter Glaubensfragen in Staat und Gesellschaft geht. Hier stoßen nicht selten Interessengegensätze und Interpretationsfragen aufeinander, die zu heftigen Auseinandersetzungen und Verwerfungen führen können und deren Durchsetzung sich schließlich daran entscheidet, wer über die nötigen Machtmittel verfügt. Manche Vorgänge im heutigen Staat Israel zeigen das. Das Glaubensverständnis im Neuen Testament liegt genau auf der vom Alten Testament vorgezeichneten Linie. Glaube ist die umfassende und grundlegende Antwort des Menschen auf das Heilshandeln Gottes, wie es nun vor allem im Wort und in der Tat Jesu erfahrbar und durch die Evangelien weitererzählt wird. c)

„glauben“ in indogermanischen Sprachen

Nicht uninteressant ist ein Blick in die Sprachwissenschaft. Die deutsche Sprache umfasst mit dem einen Verbum „glauben“ zwei sehr unterschiedliche Bewusstseinszustände. Der Komiker Otto Waalkes hat sie treffend aufgespießt im Bonmot: „Ich habe eine Glaubenskrise; ich glaube, ich muss noch einen trinken.“ Im Griechischen, Lateinischen und Englischen unterscheidet man zwischen pístis und dóxa, fides und opinio bzw. zwischen faith und belief. Die Ausdrücke pístis/fides/faith bezeichnen im Unterschied zu dóxa/opinio/belief in der Regel keine Vorstufen des Wissens, sondern eine subjektive Haltung gegenüber dem Geglaubten, die man am Besten als Vertrauen oder Sich-darauf-Verlassen beschreibt. 2 Etymologisch sind das deutsche Wort „glauben“ und das englische „to believe“

Ich glaube

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(dieses mit anderer Vorsilbe: be- statt g-) zurückzuführen auf das germanische ga-laubjan „für lieb halten, gutheißen“. Beide Verben gehören damit zu der weit verzweigten Wortgruppe von „lieb“. Schon bei den noch nicht christianisierten Germanen bezog sich „glauben“ also auf das freundschaftliche Vertrauen eines Menschen zur Gottheit. Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt: Auch das deutsche Wort „loben“ gehört in diese Wortgruppe. In der lateinischen Sprache wird für „glauben“ das Wort „credere“ verwendet, das wahrscheinlich abgeleitet ist von „cor dare“ (= das Herz geben). Im griechischen „pisteuein“ schließlich steckt das indogermanische „pasto“ (= fest). „Glauben“ hat hier die ursprüngliche Bedeutung „(sich) fest machen“. Addiert man die Bedeutungsvarianten aller drei Sprachen zusammen, so ergeben sich interessante und aufschlussreiche Hinweise für das, was mit „Glauben“ gemeint ist: Wer glaubt, der gibt sein Herz an etwas, das er für liebenswert hält und zu dem er deshalb fest und treu steht. 3

2. Ich glaube Wer oder was ist eigentlich dieses „Ich“, das da von seinem Glauben spricht? Ist es die „Seele“, die sich der menschlichen Sprachorgane als Werkzeug bedient? Ist es der „Geist“, der sich hörbar Ausdruck verschafft? Ist das „Ich“ der ganze Mensch – Leib, Geist und Seele? Wie kommt das Ich-Bewusstsein überhaupt zustande? Verschiedene Antwortversuche sind im Laufe der menschlichen Geistesgeschichte auf die Frage nach dem Ich gegeben worden 4:  Das Ich ist Ausdruck des Bewusstseins seiner selbst: ich zweifle, ich denke, ich entscheide, ich handle – und ich bin mir dessen bewusst.  Das seiner selbst bewusste Ich erkennt sich als bezogen auf anderes, vor allem auf ein menschliches, aber auch auf ein transzendentes, jenseitiges Du. Der Mensch wird am Du zum Ich (Martin Buber). Der Mensch ist eine „offene Person“, ein dialogisches Wesen.  Das menschliche Ich ist nicht plötzlich von einem Augenblick auf den anderen dagewesen. Es hat sich vielmehr in einem „sehr allmählichen Übergang“ aus dem Stadium des unbewussten Existierens (Embryo, Kleinkind) zum seiner selbst bewussten Ich entwickelt. Der Mensch ist Person-in-Evolution, Person-im-Werden.  Das Ich ist nicht „Herr im eigenen Haus“ (Sigmund Freud). Es ist bestimmten Ansprüchen und Anforderungen aus seinem Inneren, aus dem Unterbewusstsein („Es“), und von außen („Über-Ich“) ausgesetzt. Diese muss es miteinander versöhnen und in Einklang zu bringen suchen („Was ‚Es‘ ist, soll ‚Ich‘ werden“).  Im Bekenntnis des Glaubens schwingen alle diese Aspekte mit.  „Ich“ spreche ein bewusstes Ja zu den darin niedergelegten Glaubensaussagen. Mein Verstand hat das aufgenommen und kritisch geprüft, was „ich“ im Bekenntnis als Glaubensinhalte benenne. „Ich“ allein bin verantwortlich für meine mit vollem Bewusstsein gesprochenen Aussagen.

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Glauben

„Ich“ bekenne meinen Glauben nicht nur für mich selbst im stillen Kämmerlein, sondern auch in der Öffentlichkeit. „Ich“ lege damit Zeugnis ab vor anderen Menschen und für andere Menschen, die diese Worte hören und die so zur Stellungnahme herausgefordert werden. Sie können sich dem An-Spruch meines Bekenntnisses öffnen oder verschließen. Sie können meine gläubig-bekennenden Worte überhören oder ignorieren, kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen oder brüsk ablehnen, nachdenklich erwägen oder freudig annehmen.  „Ich“ bekenne meinen Glauben aber auch vor Gott. „Ich“ bezeuge antwortend meine Dankbarkeit für das in der Geschichte auf vielfache Weise ergangene und erfahrbar gewordene Gotteswort. „Ich“ bekunde mein Verwundern und Staunen über die machtvolle Schöpfungstat Gottes, über seine Zuwendung zu den Menschen in Jesus von Nazaret, über das heilbringende Wirken des Gottesgeistes in Zeit und Welt.  „Ich“ lebe in der langen Tradition des allmählichen Erwachens von Religion. „Ich“ weiß mich verbunden mit den Uranfängen der Menschheit, in denen geschaffene Wesen tastend suchend und dunkel ahnend in ihren Bestattungsriten zum Ausdruck brachten, dass ihre Hoffnungen über das irdische Leben hinausreichen. „Ich“ weiß mich wegen der allmählichen Entwicklung des Menschen aus dem Tierreich, ja aus der materiellen Welt überhaupt, verbunden mit allen Geschöpfen dieser Welt. Darum kann und darf „ich“ mich nicht zum absoluten Herrscher über Tiere und Pflanzen, über Rohstoffe und Ressourcen, über Wasser und Ackerboden aufspielen und sie nach Gutdünken ausbeuten und zerstören. Wenn „ich“ vor Gott und Menschen meinen Glauben an Gott, den „Schöpfer des Himmels und der Erde“, bezeuge, kann „ich“ mir nicht absolute Verfügungsgewalt über „Himmel und Erde“ anmaßen.  „Ich“ bin in meiner inneren Freiheit und Selbstbestimmung eingeschränkt und ständig gefährdet. „Ich“ weiß darum, dass Glaube und religiöse Erfahrung auch unbewusste Voraussetzungen haben und dass deswegen in die Äußerungen des Glaubens neurotische Störungen und Ängste, irrationale Wünsche und Strebungen, Elternbindung und Kindheitsfixierungen, psychodynamische Mechanismen und Gewohnheiten einfließen können, die gar nicht immer sofort als solche zu erkennen sind. Weil das Ich des Menschen ein derart komplexes und vielschichtiges Gebilde darstellt, ist zu erwarten, dass die unterschiedlichen Komponenten nicht immer im richtigen Verhältnis auszubalancieren sind. Es kann und wird vorkommen, dass der eine oder andere Aspekt entweder ständig dominiert oder zumindest in gewissen Situationen, zu bestimmten Zeiten, bei gegebenen Anlässen die Oberhand gewinnt. Das geschieht nicht nur aufgrund der individuellen Verfassung des einzelnen, sondern auch aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht, zu einem Beruf oder in Abhängigkeit von einer modischen Zeitströmung. Meine Erlebnisse und Erfahrungen, meine gewordene und gewachsene Persönlichkeit fließen, ob ich es will oder nicht, in meine bewusste Auseinandersetzung mit dem Glauben ein. Das mag ich begrüßen oder bedauern. Es bleibt eine Tatsache. Das Glaubensbekenntnis der Kirche ist immer und überall mein höchst individuelles, ureigenes, durch mein Ich begrenztes und eingefärbtes Bekenntnis.

Wir glauben

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3. Wir glauben Das Apostolische Glaubensbekenntnis war ursprünglich ein Bekenntnis, das der Neugetaufte abzulegen hatte. Daher erklärt sich die Singular-Form „Ich glaube“. Das Nicaeno-konstantinopolitanische Bekenntnis hat zwar auch seinen Ursprung in einem Taufbekenntnis, es wurde aber in der uns heute vorliegenden Form im Wesentlichen auf dem sogenannten Zweiten Ökumenischen Konzil von Konstantinopel (381) verabschiedet. Dieses Konzil hatte es sich zur Aufgabe gestellt, die Glaubenseinheit nach den Wirren des Arianismus wiederherzustellen und den christlichen Glauben gegenüber erneut aufkommenden Irrlehren abzugrenzen, zu „definieren“ (lat. finis = Ende, Grenze). Das Bekenntnis diente also der Festigung der Einheit nach innen und der Abgrenzung nach außen. In einer solchen Situation sind nicht der Einzelne und sein Glaube gefragt, sondern der Glaube aller. Dazu erscheinen „Wir-Gefühl“ und Zusammenschluss erforderlich. Wer als einzelner sagt: „Wir glauben“, bekundet seine Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft. Er bekennt nicht zuerst seine persönliche Glaubensüberzeugung, sondern die Überzeugung einer Gruppe, der er sich angeschlossen und deren Glauben er sich zu Eigen gemacht hat.  „Wir glauben“ – das kann dem Einzelnen Mut machen: Du bist nicht allein. Viele teilen deine Überzeugung. Sie werden dich stützen, wenn du zu wanken oder zu fallen drohst. Sie werden sich um dich kümmern, wenn du in Anfechtungen gerätst. Sie werden dich durch Zweifel und Unsicherheiten hindurchtragen. Hab darum keine Angst!  „Wir glauben“ – das kann den Einzelnen aber auch in Gewissensqualen stürzen, wenn er glaubt, dieses Bekenntnis nicht mehr aus Überzeugung mitsprechen zu können, es aber gleichzeitig nicht wagt, seinen inneren Konflikt innerhalb dieser Glaubensgemeinschaft aufzudecken: Was werden die anderen sagen? Werden sie mich verstehen? Oder werden sie mich als Zweifler oder gar als Abtrünnigen abstempeln? Vor allem aber ist das „Wir“-Bekenntnis an Außenstehende gerichtet. Es kann besagen:  „Wir (Christen, Katholiken, Protestanten …) glauben“ – alle sollen hören, mit wem sie es zu tun haben. Wir haben uns nicht zu verstecken. Wir halten mit unserer Überzeugung nicht hinter dem Berge, sondern legen offen, was uns umtreibt, was uns wichtig ist. Ihr könnt uns daran messen. Ihr könnt nachprüfen, ob wir das, was wir sagen, auch tun. Wir stellen unser Licht nicht unter den Scheffel, sondern auf den Leuchter, damit es alle sehen und sich daran orientieren können, wenn sie es wollen. Wir laden euch ein zum fairen Dialog und, wenn es sein muss, auch zum Streitgespräch.  „Wir (Christen, Katholiken, Protestanten …) glauben“ – wir haben eine Überzeugung, aber wir sind lernbereit. Wir wissen, dass unser Glaube gewachsen ist. Wir wissen auch, dass wir noch tiefer in diesen Glauben eindringen müssen. Wir haben das Geheimnis unseres Glaubens, der uns als Gabe und Aufgabe geschenkt ist, noch nicht ausgeschöpft. Wir sind noch immer unterwegs zur „Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes“ (Röm 11,33). Wir laden euch ein,

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Glauben

uns eure Erfahrungen mitzuteilen, uns von euren Wegen zu berichten und von eurer Gemeinschaft zu erzählen. „Wir (Christen, Katholiken, Protestanten …) glauben“ – so haben schon Generationen vor uns gesprochen. Dieser Glaube ist gegründet auf dem Fundament der Apostel. Er ist geheiligt durch die lange Tradition, auch in seinem Wortlaut, auch in seinen Begriffen – mögen auch manche Formulierungen heute etwas anderes aussagen als damals zur Zeit ihrer Entstehung. Daran halten wir unerschütterlich fest. Niemand darf es wagen, daran zu rütteln. Niemand darf den Versuch machen, den alten Glauben in neue Worte zu fassen! „Wir (Christen, Katholiken, Protestanten …) glauben“ – wir sind von unserer Sache so überzeugt, dass wir alle anderen Glaubensüberzeugungen nicht gelten lassen. Denn wir sind im Besitz des einzig wahren Glaubens. Die katholische Kirche ist die allein seligmachende. Wir allein sind durch Gottes Gnade gerechtfertigt. Wenn ihr da draußen das nicht akzeptieren wollt, werdet ihr sehen, wo ihr noch landet. Den Glauben können wir euch nur vorlegen. Darüber zu diskutieren, kommt nicht in Frage. Entweder ihr nehmt ihn an, oder ihr lasst es bleiben. Die Wahrheit kann nicht durch Mehrheitsbeschluss ermittelt werden.

4. Glaube und Vernunft Christlicher Glaube und Vernunft gehören zusammen. Glaube und Vernunft stehen in einem korrelativen Bezug zueinander. Weil es sich hier um etwas eminent Wichtiges und den Personkern zutiefst Betreffendes und Bestimmendes handelt, darf der Glaube nicht blind und unvernünftig sein. Weder darf die Liebe blind machen, noch darf es der Glaube. Auch die Beziehung zu einer Person – und erschiene sie auf den ersten Blick noch so glaubhaft und vertrauenswürdig – bedarf kritischer Überprüfung und abwägender Reflexion. Das zeigen schon die ersten schriftlichen Zeugnisse über die Gestalt des Jesus von Nazaret, die Evangelien. Sie sind keine „Berichte“, sondern eine Sammlung von Gedanken und Reflexionen, die sich Anhänger der Jesusbewegung vier, fünf oder sechs Jahrzehnte nach dem Auftreten dieses Mannes gemacht haben. Sie zeigen uns in beeindruckender Weise ein „Nach-Denken“ über Jesus. Dazu verwendeten sie bereits kursierende Überlieferungen, die sie zuvor gesammelt hatten, ordneten sie nach einem bestimmten Schema und unter einem bestimmten, ihnen und ihren Gemeinden wichtig erscheinenden Aspekt an. Bei dieser Arbeit scheuten sie nicht davor zurück, die Texte mit eigenen Überlegungen, Interpretationen und weiterführenden Gedanken zu ergänzen und anzureichern. Sie gingen sogar so weit, Reden und Taten des historischen Jesus, so wie sie ihnen von Zeitzeugen tradiert worden waren, umzuformulieren oder sogar neu zu erfinden. Dabei waren sie – wie etwa der Evangelist Johannes – geleitet von der Intention, die „Sache“ des Juden Jesus so von ihrem Hintergrund zu lösen und in die griechische Denk- und Sprechwelt zu übertragen, dass sie auch Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund akzeptabel und vernünftig erscheinen konnte. Als das Christentum bereits im Römischen Imperium Fuß gefasst hatte, bemühten

Glaube und Zweifel

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sich die christlichen Apologeten, es gegen Angriffe nicht christlicher Philosophen rational zu begründen. Das bekannteste Beispiel dafür sind die 8 Bücher „Contra Celsum“. Sie entstanden um 250 nach Christus und richteten sich gegen die einige Jahrzehnte zuvor veröffentlichte Polemik des Philosophen Celsus. Ihr Verfasser ist Origenes († 253/54). Er schreibt im Vorwort: „Ich habe […] den Versuch gemacht, jeder der von Celsus aufgestellten Behauptungen, die keinen Gläubigen in seiner Überzeugung wankend machen können, eine nach meiner Meinung geeignete Widerlegung entgegenzusetzen […] Paulus wusste, […] dass sich in den Lehren der Weltweisheit eine gewisse Größe zeigt. […] Von der Schrift des Celsus aber wird (das) wohl kein vernünftiger Mensch behaupten.“ 5 Der christliche Glaube geht „dem Besten des griechischen Denkens von inner her entgegen zu einer gegenseitigen Berührung, wie sie sich dann besondern in der späteren Weisheits-Literatur vollzogen hat […] Die Grundentscheidungen, die den Zusammenhang des Glaubens mit dem Suchen der menschlichen Vernunft betreffen, die gehören zu diesem Glauben selbst und sind seine ihm gemäße Entfaltung.“ Das hob Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Vorlesung im Jahr 2006 besonders hervor. 6 Die mittelalterliche Theologie verlangte, der christliche Glaube müsse die Vernunft befragen, er müsse zu verstehen versuchen; er müsse um Erkenntnis und Einsicht ringen. „Fides quaerens intellectum“ („Glaube, der nach Einsicht sucht“) formulierte Anselm von Canterbury (1033–1109).

5. Glaube und Zweifel Denken und Nachdenken schließt den Zweifel mit ein. Denn bei fortschreitendem Erkenntnisgewinn und beim Reflektieren des Erkannten stellen sich Fragen ein: Habe ich die Beobachtung und die Erfahrung richtig interpretiert? Habe ich etwas übersehen? Waren meine Schlussfolgerungen richtig? Der Zweifel ist geradezu kennzeichnend für das Wesen des Menschen. Bei René Descartes findet sich die Forderung, „sich einmal im Leben zu entschließen, an allem zu zweifeln, worin man auch nur den geringsten Verdacht der Ungewissheit trifft.“ 7 Mit dieser Forderung geht es Descartes nicht um den Zweifel um des Zweifelns willen. Es geht ihm im Gegenteil darum, „festen Halt für etwas Unerschütterliches und Bleibendes in den Wissenschaften“ zu gewinnen. 8 Der Zweifel besitzt im Glaubensleben und -bekennen eine heilsame Funktion. Er kann meinen unkritischen Enthusiasmus ent-täuschen. Er kann desillusionieren. Er kann Irrungen aufzeigen. Der ernsthaft glaubende und denkende Mensch darf das Nachdenken über Glaubensfragen nicht den Profis überlassen, sondern muss selbst seinen ihm gegebenen Verstand einsetzen, um „alles zu prüfen“ und das Gute zu behalten (vgl. 1 Thess 5,21). Die Einbindung des Zweifels in das Nachdenken über Gott und seine Botschaft an die Welt gehört darum zur Aufgabe der Theologen und aller, die sich ernsthaft mit dem tradierten Glaubensgut befassen. Theologie definiert sich seit alters her als gläubige und zugleich vernünftige „Rede von Gott“. „Fides quaerens intellectum“ (der Glaube sucht den Verstand), so formulierte es Anselm von Canterbury

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Glauben

(1033–1109). Glaube soll sein ein „obsequium rationabile“, ein von der Vernunft getragener sittlicher Akt, so sahen es die mittelalterlichen Theologen. Jede gläubige Christin und jeder gläubige Christ haben das Recht zu zweifeln an dem, was ihr und ihm an christlichem Glaubensgut überliefert ist. Ein lebendiger und gereifter Glaube darf nicht blind und unvernünftig sein. Der Zweifel ist ein Zeichen dafür, dass etwas anziehend und interessant auf mich wirkt, dass mir etwas nicht gleichgültig erscheint. Ich beginne, darüber nachzudenken. Ich fühle mich genötigt, meinen bisherigen Standpunkt zu verlassen und auf die Sache zuzugehen, mich in eine Auseinandersetzung mit ihr einzulassen. Weil mir die Sache wichtig ist, beginne ich sie zu untersuchen, zu prüfen. Der Zweifel regt mich zu einer intensiveren Beschäftigung an. „Glaube ist Ungewissheit und Wagnis“, hat der Philosoph Peter Wust gesagt. 9 Weil ich mitten im Leben stehe, habe ich das Recht, unsicher zu sein. Auf alles eine Antwort zu haben, heißt meistens Antworten zu haben, die zu keinen Fragen wirklich passen. Der Zweifel ist kein Feind des Glaubens, sondern sein Schutz:  Der Zweifel schützt davor, Geltungsansprüchen oder Heilsversprechungen zu schnell und leichtfertig Glauben zu schenken.  Er schützt davor, Aussagen ungeprüft zu übernehmen und schlechte Argumente mit guten zu verwechseln.  Er schützt vor allzu forschem Auftreten und vor übertriebener Selbstsicherheit, denn er lehrt mich, dass sich dahinter nicht selten Unsicherheit oder gar gähnende Leere verbergen. Der Zweifel muss ein Hausrecht beanspruchen dürfen in unserem Glauben, in den Gemeinden, in der Kirche. Der Zweifel ist in seinem Element, wenn der Glaube durch mangelhafte geistige Anstrengung und Denkfaulheit am Leben gehalten wird. Wir dürfen ihn nicht aussperren, weil er uns unbequem erscheint, weil er unsere Selbstgewissheit durchkreuzt, weil er uns in unserer Scheinsicherheit verunsichert. Allerdings ist auch zu beachten: Auch am Zweifel muss ich immer wieder zweifeln. Denn auch der Zweifel „glaubt nur“.

6. Glaube und Unglaube In vielen Teilen der Welt ist der Glaube an einen persönlichen Gott, ja an „Gott“ überhaupt im Schwinden. Er verdunstet gleichsam. Man braucht den Gottesglauben gar nicht argumentativ zu bekämpfen, schon gar nicht mit nackter Gewalt, wie das in früheren Zeiten manchmal geschah. (Allerdings meinten auch manche Vertreter des Glaubens an einen persönlichen Gott, diesen mit Gewalt propagieren, verteidigen und die Leugner verfolgen zu müssen). „Gott“ kommt außerhalb der Kirchen und in manch wohlfeiler politischer Rede kaum noch vor in dieser Welt. Man hat sich ohne ihn arrangiert. Und man kann gut damit leben. Gott ist zu einer Marginalie geworden. Der „Fehl Gottes“ (M. Heidegger 10) schmerzt nicht. Für viele gläubige Menschen, die es von Kindheit an gewohnt waren, wie selbstverständlich von Gott zu reden, ist dieses fast lautlose Verschwinden Gottes ein Rätsel

Glaube und Unglaube

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und eine Anfechtung zugleich. Sie stellen sich die Frage: Wie konnte das geschehen? Wie lässt sich das erklären? Die Zeiten eines politisch motivierten Unglaubens sind wohl vorbei. Mit dem erklärten Ziel, durch die Überwindung der Religion eine neue Stufe in der Entwicklung des menschlichen Geistes herbeizuführen. Atheistische Propaganda wurde in der unverhohlenen Absicht betrieben, die Religion aus dem Leben der Menschen und aus der Geschichte zu eliminieren – manchmal auch unter Zuhilfenahme politischer Macht und polizeilicher Gewalt. Ganz überwunden ist diese Mentalität freilich noch nicht. Erst in jüngster Zeit haben einige Veröffentlichungen Aufsehen erregt, die den Glauben an Gott als unvernünftig und hinterwäldlerisch diffamieren. Religion und Glaube sollen im Namen der Wissenschaft und Humanität endgültig ausgetrieben werden. Religiöser Glaube wird als ein Gift dargestellt, das Gewalt, Terror und Unfreiheit unter den Menschen verbreitet habe. Ein Beispiel für diese Einstellung liefert ein Kinderbuch mit dem Titel: „Wo bitte geht’s zu Gott? fragte das kleine Ferkel“ 11. Es trägt den bezeichnenden Untertitel: „Ein Buch für alle, die sich nichts vormachen lassen.“ Darin werden, bunt illustriert, das Judentum, das Christentum und der Islam einem kleinen Ferkel vorgeführt und dabei lächerlich gemacht – das Judentum in der Gestalt eines gereizten und aggressiven Rabbi, das Christentum durch einen feisten Bischof, der Islam durch einen nicht minder primitiven Imam. Weite Verbreitung fand das 2007 in Deutschland erschienene Buch „Der Gotteswahn“ 12 des Evolutionsbiologen Richard Dawkins. Schon der Buch-Titel möchte offenbar deutlich machen: Wer an Gott glaubt, leidet unter Wahnvorstellungen. Gottgläubige können gemeingefährlich werden. Sie brauchen dringend Hilfe, um von ihrer Neurose befreit zu werden. Leider ist der Stil des Buches alles andere als nüchtern-aufklärerisch. Dawkins schreibt nicht als einer, der die abendländische Geistesgeschichte abwägend betrachtet, sondern als eifernder, manchmal geradezu geifernder Propagandist des Atheismus. Er gefällt sich darin, den christlichen Glauben zu dämonisieren und alles Große und Wegbereitende an dessen Geschichte konsequent zu verschweigen. Es gab eine lange Zeit, in der ein Atheismus nahezu undenkbar schien. In der Bibel begegnen uns Texte, die ein beredtes Zeugnis davon ablegen, dass die Menschen durchaus mit Gott haderten, dass sie ihm Vorwürfe machten, ja dass sie ihn verwünschten. Aber das Dasein Gottes zu bestreiten erschien undenkbar. Das allgemein bekannte Beispiel dafür ist das Buch Ijob. Auch im gesamten Mittelalter war es geradezu eine Selbstverständlichkeit, an Gott zu glauben. Erst in der Neuzeit begann sich vor allem der praktische Atheismus mehr und mehr auszubreiten. Dafür gibt es mehrere Gründe:  Für den Menschen war bisher die Begegnung mit der Schöpfungswirklichkeit aufgrund ihrer Durchsichtigkeit zum Schöpfer hin eine Quelle religiöser Erfahrung. Der Aufschwung der Naturwissenschaften führte dazu, dass vieles von dem, was man bisher einem „göttlichen“ Wirken zuschrieb, durchaus mit den schlichten Mitteln des Verstandes erklärbar wurde. Die Natur verlor weithin ihren Geheimnischarakter. Damit hatte sich auch die Möglichkeit der religiösen Erfahrung ent-

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Glauben

scheidend geändert. Die Welt wurde ohne ihn verständlich und auch immer mehr beherrschbar. „Gott“ musste sich immer weiter an den Rand zurückziehen. Es machte sich eine Tendenz breit, allein das empirisch Nachweisbare als das im Wissen Feststellbare und im Handeln Verfügbare zu betrachten. Methodisch wurde in Technik und Wissenschaft so vorgegangen, als ob es Gott gar nicht gäbe. Wenn aber der Raum für „Gott“ immer enger und immer schmaler wird, bleibt auch das Fragen nach ihm aus.  Die Geisteswissenschaften bemühten sich darum, eine Welt- und Geschichtserklärung vorzulegen, die den Gottesgedanken ausschließt und die Hintergründe für das Entstehen der Gottesidee aufzeigt. „Gott“ wurde als Bezeichnung für etwas betrachtet, welches unter das „Unsagbare“ fällt (L. Wittgenstein) oder für dessen Entstehen uns die „seinsgeschichtlichen“ Voraussetzungen fehlen (M. Heidegger).  Das aufkommende Industriezeitalter nahm vor allem die arbeitende Bevölkerung derart in Beschlag, dass die Gottesfrage durch den Kampf ums tägliche Überleben völlig in den Hintergrund gedrängt wurde. Ein Industriearbeiter, der 10 oder 12 Stunden am Tag arbeiten muss, fragt nicht mehr nach Gott. Oder er verzweifelt an einem Gott, der von der Not der Menschen, von ihrer Ausbeutung und Unterdrückung keine Notiz zu nehmen scheint. Aber auch der Atheist kann der Versuchung zum Glauben nicht ganz entrinnen. Verantwortlicher Atheismus ist alles andere als bequem. Denn er weiß nicht, ob er seinen eigenen Einsichten in allen Lebenslagen gewachsen sein wird. Ob ihn nicht doch die „Gottbedürftigkeit“ des Menschen in extremen Situationen einholen und zum vielleicht unausgesprochenen und uneingestandenen Glauben bringen wird. Wie einer unter den unerträglichen Qualen der Folter seine Liebsten verraten kann, ohne dass sie ihm deswegen plötzlich weniger lieb wären, so könnten im Leid manche Überzeugungen oder Einsichten schwinden, ohne dass deren Inhalte selbst weniger überzeugend oder einsichtig werden. „Der Glaubende wie der Ungläubige haben, jeder auf seine Weise, am Zweifel und am Glauben Anteil, wenn sie sich nicht vor sich selbst verbergen und vor der Wahrheit ihres Seins. Keiner kann dem Zweifel ganz, keiner kann dem Glauben ganz entrinnen; für den einen wird der Glaube gegen den Zweifel, für den anderen durch den Zweifel und in der Form des Zweifels anwesend. Es ist die Grundgestalt menschlichen Geschicks, nur in dieser unbeendbaren Rivalität von Zweifel und Glaube, von Anfechtung und Gewissheit die Endgültigkeit seines Daseins finden zu dürfen.“ 13

7. Das bleibende „Vielleicht …“ Eine jüdische Geschichte, die Martin Buber aufgezeichnet hat, veranschaulicht das Dilemma des Menschseins zwischen Glaube, Zweifel und Unglaube: „Einer der Aufklärer, ein sehr gelehrter Mann, der vom Berditschewer gehört hatte, suchte ihn auf, um auch mit ihm, wie er’s gewohnt war, zu disputieren und seine rückständigen Beweisgründe für die Wahrheit seines Glaubens zuschanden zu machen. Als er die Stube des Zaddiks betrat, sah er ihn mit einem Buch in der Hand in begeistertem Nachden-

Das bleibende „Vielleicht …“

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ken auf und ab gehen. Des Ankömmlings achtete er nicht. Schließlich blieb er stehen, sah ihn flüchtig an und sagte: ‚Vielleicht ist es aber wahr‘. Der Gelehrte nahm vergebens all sein Selbstgefühl zusammen – ihm schlotterten die Knie, so furchtbar war der Zaddik anzusehen, so furchtbar sein schlichter Spruch zu hören. Rabbi Levi Jizchak aber wandte sich ihm nun völlig zu und sprach ihn gelassen an: ‚Mein Sohn, die Großen der Thora, mit denen du gestritten hast, haben ihre Worte an dich verschwendet, du hast, als du gingst, darüber gelacht. Sie haben dir Gott und sein Reich nicht auf den Tisch legen können, und auch ich kann es nicht. Aber, mein Sohn, bedenke, vielleicht ist es wahr‘. Der Aufklärer bot seine innerste Kraft zur Entgegnung auf; aber dieses furchtbare ‚Vielleicht‘, das ihm da Mal um Mal entgegenscholl, brach seinen Widerstand.“ 14 Dieses „Vielleicht“ ist die unentrinnbare Anfechtung, der sich niemand entziehen kann – nach der einen wie nach der anderen Seite hin. Joseph Ratzinger hat es vor Jahren so ausgedrückt: „So wie der Gläubige sich fortwährend durch den Unglauben bedroht weiß, ihn als eine beständige Versuchung empfinden muss, so bleibt dem Ungläubigen der Glaube Bedrohung und Versuchung seiner scheinbar ein für allemal geschlossenen Welt. Mit einem Wort – es gibt keine Flucht aus dem Dilemma des Menschsein, wer der Ungewissheit des Glaubens entfliehen will, wird die Ungewissheit des Unglaubens erfahren müssen, der seinerseits doch nie endgültig gewiss sagen kann, ob nicht doch der Glaube die Wahrheit sei.“ 15

II. Die Welt als Schöpfung Gottes? 1.

Ein konfliktreiches Feld: Kirche und Naturwissenschaften

a) Kopernikus und die Folgen

Seit alters hat den Menschen die Frage bewegt, wie und warum die Welt entstanden sein könnte. Warum ist eigentlich etwas und nicht nichts? Ist der Kosmos das Produkt von „Zufall und Notwendigkeit“ (Jaques Monod) oder stellt er die geniale Inszenierung eines göttlichen Schöpfers dar? Die Wurzeln von Kosmologie und Schöpfungstheologie führen interessanterweise etwa in die gleiche Zeit zurück – ins 6. vorchristliche Jahrhundert.  Damals betrachteten in Süditalien Pythagoras (ca. 580–500 v. Chr.) und seine ordensähnliche Schülergemeinschaft den Sternenhimmel als Beweis für die Existenz eines harmonischen Weltganzen und entwarfen ein geometrisches Kosmosmodell.  Während der Zeit des jüdischen Exils (597–538 v. Chr.) wurde im Zweistromland Babylonien in einer Priesterschule der Text des biblischen Schöpfungshymnus (Gen 1–2,4a) verfasst, der zur Grundlage jüdisch-christlicher Schöpfungstheologie wurde. Die Pythagoreer begründeten mit ihrer Auffassung von den sich um die Erde drehenden himmlischen Sphären die Kosmologie. Zur Artikulation ihrer Vorstellung von einer mathematisch strengen Weltordnung benötigten sie eine sprachliche Chiffre, die sie in dem griechischen Wort „Kosmos“ fanden, das ursprünglich Ordnung, Schönheit und Zierde bedeutete. In einer ähnlichen Situation befanden sich die jüdischen Priester. Sie mussten für die Schöpfer-Tätigkeit Gottes eine angemessene Sprachregelung finden. Auch ihre Darstellung vom Entstehen der Welt zeichnet sich durch eine Hervorhebung der darin anzutreffenden Ordnung und Harmonie aus. Im 2. Jh. n. Chr. fand die antike Kosmologie in Alexandria unter Claudius Ptolemäus ihre strengste mathematische Form: Das Himmelsgewölbe hat Kugelgestalt und dreht sich wie eine Kugel; ihrer Gestalt nach ist die Erde für die sinnliche Wahrnehmung, als Ganzes betrachtet, gleichfalls kugelförmig; ihrer Lage nach nimmt sie, einem Zentrum vergleichbar, die Mitte des ganzen Himmelsgewölbes ein; sie bewegt sich nicht und hat keinerlei Ortsveränderung. Diese Vorstellung übernahm weitgehend auch die christliche Theologie. Sie begnügte sich bis ins Hochmittelalter hinein mit einer Vorstellung vom Kosmos, die aus der wörtlichen Interpretation der ersten biblischen Schöpfungserzählung (Gen 1–2,4a) hervorging. Das änderte sich mit der Gründung der ersten Universitäten im 12. Jahrhundert, an denen sich eine der vier Fakultäten, die Artistenfakultät, besonders dem Studium antiker Mathematik, Astronomie und Naturphilosophie widmete. Der griechische Phi-

Kirche und Naturwissenschaften

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losoph Aristoteles (384–322 v. Chr.) wurde „wiederentdeckt“ und intensiv diskutiert. Sein Postulat der unerschaffbaren und unzerstörbaren Welt, die einzig und ewig ist (so in seinem Buch „Über den Himmel“) und die gängige theologische Interpretation der Schöpfung führten im 13. Jh. zum Konflikt, der seinen Höhepunkt an der führenden Pariser Universität, der Sorbonne, erreichte. Auf kirchlich-theologischer Seite kam nämlich die Furcht auf, dass die säkulare Naturphilosophie den Glauben gefährden könnte. Andererseits gab es auf beiden Seiten Bestrebungen, Theologie und Naturphilosophie miteinander in Einklang zu bringen. Die Auseinandersetzungen endeten mit einer Art von Kompromiss. Dabei kam ein ganzheitliches, antike Kosmologie und christliches Welt- und Gottesverständnis umfassendes Weltbild zustande, das rund drei Jahrhunderte in seinen Grundlagen unangefochten blieb. Der endliche Kosmos zu Füßen des göttlichen Thrones war sphärischsymmetrisch um die Erde angeordnet. Außerhalb der Fixsternsphäre, welche die natürliche Welt begrenzte, war ausreichend Raum für Gott und seine Engelwelt vorhanden. Die göttliche Allmacht war der Garant einer Weltordnung, in der alles für alle Zeiten seinen festen Platz hatte. Eine entscheidende Wende brachte das 17. Jahrhundert. Astronomen und Physiker gelangten zu dem Schluss, dass die ptolemäische Astronomie und die aristotelische Kosmologie nicht mehr haltbar seien, weil sie nur den Augenschein, nicht aber die zu Grunde liegende Wirklichkeit beschrieben. Nikolaus Kopernikus (1473–1543) beobachtete, dass die Bewegung der Himmelskörper auf keine gleichförmige Kreisbewegung zurückzuführen ist. Die von Physikern und Mathematikern vorgenommenen komplizierten „Rettungsversuche“ des geozentrischen Weltbildes konnten ihn nicht überzeugen. Er fand die einfachere Erklärung und Lösung in der Tatsache, dass sich die Erde und die anderen Planeten um die Sonne drehen („heliozentrisches Weltbild“). Für die meisten seiner Zeitgenossen war eine Bewegung der Erde allerdings schwer vorstellbar. Sie stand außerdem im Widerspruch zu wörtlich interpretierten Bibelaussagen (z. B. Josua 10,12–14 [„… die Sonne blieb stehen“] und Psalm 104,19 [„… die Sonne weiß, wann sie untergeht“]). Auch erschien ihnen die „Abwertung“ der Erde zu einem Planeten unter anderen theologisch problematisch. Nicht nur die päpstlichen Instanzen und Inquisitionstribunale, auch namhafte Männer der Reformation stellten sich unter Berufung auf die Bibel gegen die neue Lehre. Martin Luther hielt das Weltsystem des Kopernikus für schriftwidrig, und Melanchthon schrieb: „Es ist eine Schande und ein Ärgernis, so unsinnige Meinungen der Öffentlichkeit zu unterbreiten.“ Die Überlegenheit der heliozentrischen Theorie wurde jedoch deutlich erkennbar, nachdem Johannes Kepler (1571–1630) endgültig mit den antiken Vorstellungsmustern gebrochen hatte. Doch die römische Kirchenleitung gab sich noch nicht geschlagen. Sie sah ihr Wahrheitsmonopol bedroht. Sie hatte schon durch die Reformation erheblich an Einfluss verloren. Darum versuchte sie, durch den Einsatz all ihrer Machtmittel die neue „Irrlehre“ zu bekämpfen. An Galileo Galilei (1564–1642) wurde ein Exempel statuiert. Papst Paul V. verurteilte ihn 1616 zum ersten Mal wegen seines Eintretens für das Kopernikanische Weltbild. Eine zweite Verurteilung folgte 1633 durch Papst Urban VIII., der Galilei dazu nötigte, seinem angeblichen Irrtum abzuschwören. Die römische Kir-

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che hatte einen Pyrrhus-Sieg errungen, der für lange Zeit die völlige Entfremdung zwischen Naturwissenschaft und Theologie zur Folge hatte. Ob Galilei auf dem Totenbett widerrufen hat („Und sie bewegt sich doch“), ist historisch nicht nachweisbar. Erst 1992 wurde er durch Papst Johannes Paul II. rehabilitiert. Die Wirkungsgeschichte dieses unseligen Konflikts ist bis heute spürbar, obwohl die Kirche inzwischen erkannt hat, dass sie nicht mit der Bibel gegen die Naturwissenschaften operieren kann, weil die Bibel nicht die Aufgabe hat, Menschen über naturwissenschaftliche Fakten aufzuklären. Die Theologie hat gelernt, unwiderlegbare naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse zu respektieren, auch wenn dies manche Wandlungen in der Gottesvorstellung und im Menschenbild zur Folge hat. Andererseits hat sich auch bei den Naturwissenschaften die Erkenntnis durchgesetzt, dass sie die Antwort auf letzte Fragen nach dem Warum und Wozu des Kosmos, nach dem Woher und Wohin der Evolution, nach Sinn und Ziel menschlicher Existenz nicht zu geben vermag. b) Grundsätzliche Aspekte für das Verhältnis von Naturwissenschaft und Theologie

Naturwissenschaft und Theologie haben mit menschlichen Erfahrungen zu tun. Die empirisch arbeitenden Naturwissenschaften sind Erfahrungswissenschaften insofern, als sie die vorgefundene und vorfindbare Wirklichkeit experimentell zu erfahren suchen und aus den erfahrenen Beobachtungen Gesetzmäßigkeiten für die Vorgänge in der Natur ableiten. Die vorgegebene Realität selbst, das „Ding an sich“, kann allerdings nicht direkt erkannt werden, vor allem im subatomaren Bereich. Um dennoch eine Vorstellung des Unvorstellbaren zu vermitteln, behilft man sich mit Modellen. So können beispielsweise die unterschiedlichen Atommodelle nicht die Realität „Atom“ sichtbar machen, sie sind aber als Symbole und Modelle dennoch mehr als nichtssagend. Sie stehen für etwas, was sie selbst nicht sind. Dass hinter den symbolischen Begriffen ein „Etwas“, eine nur indirekt erfahrbare Realität, steckt, ist nicht ein Erkenntniswissen, sondern ist ein „Glaube“ daran, dass es diese Realität wirklich gibt. Aufgabe der Theologie ist es, religiöse Erfahrungen, die Menschen gemacht haben und die unmittelbar mit dem persönlichen Lebensgang verbunden sind, systematisch zu erfassen, reflektierend zu deuten und in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen. Das von Menschen Erfahrene, Gott, kann nicht direkt und unmittelbar erkannt werden. Zu erkennen sind nur „Spuren“ und „Zeichen“ einer „hinter“ den vorgegebenen Realitäten vermuteten (= geglaubten) letzten und eigentlichen Wirklichkeit. Zwischen Theologie und Naturwissenschaft gibt es letztlich keinen grundlegenden Dissens, solange jeder sich der Reichweite seiner wissenschaftlichen Forschung auf seinem spezifischen Gebiet bewusst bleibt. 1937 hatte Max Planck in einem Vortrag über „Religion und Naturwissenschaft“ 1 angemerkt, die heutige Quantenphysik lege nahe, dass sich sowohl die Theologen als auch die naturwissenschaftlichen Empiriker getäuscht haben: Die Theologen, sofern sie Gott für eine objektivierbare geistige Realität hielten, die man sozusagen auf den philosophischen und theologischen Seziertisch legen und wie andere Objekte menschlichen

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Interesses untersuchen könne; die modernen Empiriker, sofern sie in ihrem ebenso naiven Wissenschaftsglauben behaupten konnten, dass nur das wirklich existiere, was man im Experiment messen und mathematisch beschreiben könne. 2 „Beide Seiten haben erkannt, dass die Symbole, in denen die Religion Wahrheit ausdrückt, auf einer anderen Ebene liegen als wissenschaftliche Feststellungen über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von natürlichen Objekten. Die Religion der Zukunft wird frei sein von dem sinnlos gewordenen Konflikt zwischen Glauben und Wissen.“ 3 Wenn nun ein Stephen W. Hawking behauptet, es ließe sich seitens der Physik eine Antwort finden auf die Frage, „warum es uns und das Universum gibt“ und wenn er in dieser Antwort den „endgültigen Triumph der menschlichen Vernunft – denn dann würden wir Gottes Plan kennen –“ 4 zu sehen glaubt, dann hat er damit nicht nur seine Kompetenz als Physiker überschritten, sondern letztlich auch der Glaubwürdigkeit und Korrektheit naturwissenschaftlichen Denkens einen schlechten Dienst erwiesen. Theologie und Naturwissenschaft dürfen bei aller notwendigen Spezialisierung den Blick auf das Ganze und auf den Gesamtzusammenhang nicht verlieren. Angesichts der Fülle des angehäuften Wissens und der daraus resultierenden immer neuen und immer stärker ins Detail gehenden Fragestellungen wird – so widersprüchlich das auf den ersten Blick erscheinen mag – der Wissenshorizont immer mehr eingeschränkt. Der Schweizer Physiker und Wissenschaftsjournalist Eduard Kaeser veröffentlichte vor einigen Jahren einen Essay, in dem er darauf hinweist, dass die „Naturwissenschaft (heute) ohne Natur“ operiere, da sie gar keinen Zugang mehr zur konkret erfahrbaren, „begreifbaren“ Natur habe: „Das Qualitative der Materie – ihre Anfühlbarkeit, Anschaubarkeit, ihr Geruch, Geschmack, ihre Färbung, Textur, ihr Klang – verblasst im scharfen analytischen Blick der Quantenchemie zur entbehrlichen Draperie einer tiefer liegenden quantitativen Struktur.“ 5 Hier ist ein Prozess der „Enteignung“ der Natur durch die (Natur)Wissenschaft in Gang gekommen. 6 Die Beschränkung auf das im Sinne der empirischen Wissenschaften rein objektiv und instrumental Datierbare und die nochmalige Begrenzung auf die pure Abstraktion oder Simulation der Natur in den EDV-Anlagen haben den Menschen mehr und mehr einer umfassenden Begegnung mit der konkret vorgegebenen Natur entfremdet. Problematisch wird es, so der Wissenschaftstheoretiker Hans Julius Schneider, „wenn das eingeschränkte Bild für das ‚eigentliche Wesen‘ gehalten wird, für den ‚harten Kern‘ der Wirklichkeit, den erst die so verstandene Wissenschaft aus einem Gespinst von Vorurteilen und Aberglauben behutsam herauspräpariert habe.“ 7 Ähnliches ist auch von der Theologie als Wissenschaft zu sagen. Sie hat – um ein Beispiel zu nennen – in Bezug auf die Bibel so viel Detail-Wissen angehäuft, dass nur allzu leicht die Besinnung auf das Eigentliche, auf die Botschaft und das Zeugnis, verloren zu gehen droht. Die Wissenschaften müssen sich dessen bewusst sein. Sie sollten sich daher (auch) bemühen um die Wiedergewinnung eines weiteren und tieferen Erkenntnishorizontes und um einen dem Menschen als denkendes und fühlendes, wahrnehmendes und reflektierendes Wesen angemessenen Zugang zur Natur und zu dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Es geht um die Korrektur einer Praxis reiner Rationalität

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und eines allein empirisch bestimmten wissenschaftlichen Umgangs. Letztlich entkommt niemand, der ernsthaft über Welt und Wirklichkeit nachdenkt, der Frage, welchen Sinn das alles macht, was er oder sie da erforscht. Es gibt keine Aussage in Theologie und Naturwissenschaft, die nicht zugleich etwas mitbedeutet für das jeweils denkende und forschende Subjekt. Albert Einstein, der Erfinder der höchst abstrakten und unanschaulichen Relativitätstheorie, nimmt mit fast kindlichem Staunen die großartige Ordnung der Natur wahr und fühlt sich darin aufgehoben: „Der Anblick des Meeres ist unbeschreiblich großartig, besonders wenn Sonne darauf fällt. Man ist wie aufgelöst in die Natur. Man fühlt die Belanglosigkeit des Einzelgeschöpfes noch mehr als sonst und ist froh dabei.“ 8 Religiosität, so bekennt er, sei die stärkste Triebfeder wissenschaftlicher Forschung: „Welch ein tiefer Glaube an die Vernunft des Weltenbaues und welche Sehnsucht nach dem Begreifen wenn auch nur eines geringen Abglanzes der in dieser Welt geoffenbarten Vernunft musste in Kepler und Newton lebendig sein, dass sie den Mechanismus der Himmelsmechanik in der einsamen Arbeit vieler Jahre entwirren konnten. […] Nur wer sein Leben ähnlichen Zielen hingegeben hat, besitzt eine lebendige Vorstellung davon, was diese Menschen beseelt und ihnen Kraft gegeben hat, trotz unzähliger Misserfolge dem Ziel treu zu bleiben. Es ist die kosmische Religiosität, die solche Kräfte spendet. Ein Zeitgenosse hat nicht mit Unrecht gesagt, dass die ernsthaften Forscher in unserer im allgemeinen materialistisch eingestellten Zeit die einzigen tief religiösen Menschen seien.“ 9 Es gibt keine vorurteilsfreie und rein abstrakte Wissenschaft. Jeder Mensch, auch der Mathematiker und Physiker, hat Vorverständnisse, die über die Wege, die Art und Weise und auch die wissenschaftlichen Methoden mitentscheiden, die er oder sie wählt, um die Wirklichkeit zu erforschen und zu begreifen. Eine völlig voraussetzungslose Wissenschaft gibt es nicht, und dies gilt für alle Versuche, die Welt zu erklären, ob wir dazu die Physik oder Metaphysik, die Mathematik oder die Theologie bemühen. Im Folgenden soll in aller Kürze der heutige Stand biblischer Theologie und naturwissenschaftlicher Theorie über die Entstehung der Welt referiert werden.

2. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde …“: Die Bibel und die Entstehung der Welt Die ältesten literarischen Überlieferungen Israels, die unter den Königen David und Salomo in der Zeit zwischen etwa 1000–950 v. Chr. verfasst wurden, schildern die Berufung Abrahams auf den von Gott gezeigten Weg und verfolgen ihn bis in die Gegenwart. Um die Macht dieses Gottes und seine Universalität noch stärker herauszuheben, verfolgen sowohl die biblischen Schriftsteller der salomonischen Epoche als auch die Verfasser der rund 500 Jahre später entstandenen sogenannten Priesterschrift die Geschichte in einer rückwärts gerichteten prophetischen Schau bis an die Uranfänge der

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Welt zurück. So kommt es, dass in der heutigen Bibel die sogenannte „Urgeschichte“ (Gen 1–11) der Abrahamerzählung (ab Gen 12) vorangeht. a) Der jüngere Schöpfungstext

Nach dem priesterschriftlichen, ersten Schöpfungstext (Gen 1–2,4a) geht das schöpferische Handeln Gottes von einer durch und durch ungeordneten, chaotischen Wasserwüste aus. 10 Gott „schafft“, indem er das Chaos zum Kosmos ordnet und die lebensfördernden Elemente von den lebensgefährdenden trennt. Das geschieht – im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen orientalischen Schöpfungsmythen – völlig kampflos: Gott ist der souveräne Herrscher, der es nicht nötig hat, am Anfang des Kosmos einen Kampf gegen die Mächte des Chaos, gegen Finsternis und Wasserfluten zu führen. Kunstvoll wird, den Interessen der priesterschaftlichen Verfasser am Kult und an der Heilighaltung des Sabbat folgend, das Sieben-Tage-Schema in die Kosmogenese eingearbeitet: ein einleitendes Wort vom Schaffen Gottes und vom Schweben des Geistes über der Urflut (Gen 1,1.2) und ein feierliches Schlusswort vom Ruhen Gottes am siebten Tag (Gen 2,1–4a) umrahmen das göttliche Sechstagewerk, das seinerseits wieder in ein streng parallel geführtes Dreier-Schema gegliedert ist: I. Einleitende Worte II. Werke der Trennung und Ordnung 1. Licht/Finsternis 2. Obere/untere Wasser 3. Trockenes Land/Meer

Werke der Ausschmückung 4. Die Leuchten am Himmel: Sonne, Mond, Sterne 5.Wassertiere, Vögel 6. Landtiere, Mensch

III. Schlusswort: Gottes Ruhen am 7. Tag (Sabbat) und Schlusssatz Von besonderer Bedeutung ist die Erschaffung des Menschen am 6. Tag (Gen 1,26–28). Der Mensch wird von Gott als „unser Abbild, uns ähnlich“ geschaffen. Er soll also das tun, was Gott getan hat: die lebensfördernden Elemente von den lebensgefährdenden trennen; er soll Leben und nicht Chaos schaffen; er soll ordnen und nicht zerstreuen. Den biblischen Schriftstellern geht es nicht um irgendwelche Aussagen über eine metaphysische Qualität des Menschen, sondern um seine Funktion, die er im Hinblick auf die Schöpfung wahrzunehmen hat: „Tretet auf die Erde und beherrscht sie“ (Gen 1,28; in der Einheitsübersetzung leider missverständlich mit „unterwerfen“ wiedergegeben). Herrschaft im biblischen Sinn besagt: Verantwortung übernehmen, Sorge für das umfassende Wohlergehen der „Beherrschten“ tragen, sich um das Anvertraute hegend und pflegend kümmern. Keinesfalls versteht die Bibel unter dem „Beherrschen“ eine Ausbeutung der lebensdienlichen Elemente dieser Erde, eine Vergewaltigung der Tierwelt oder eine Herrschaft von Menschen über Menschen.

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b) Der ältere Schöpfungstext

Der ältere Text über die Schöpfung findet sich in Gen 2,4b-25. Er ist auffälligerweise dem jüngeren, priesterschriftlichen nachgeordnet und steht inhaltlich in deutlicher Spannung zu diesem. Schon diese Tatsache beweist, dass es den biblischen Schriftstellern weder um historische Genauigkeit noch um die Darlegung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse ging. Sie ließen sich vielmehr von theologischen Prinzipien leiten. Der Text schildert die Welt unter dem Bild eines Gartens, in den „Adam“ (hebr. „Erdling“ von adamáh = Erde) gesetzt ist. „Adam“ ist also kein Eigenname des ersten Menschen, sondern ein Kollektivbegriff für die Menschheit überhaupt. Der Garten ist vermutlich eine metaphorische und idealtypische Übersetzung dessen, was die Verfasser sich unter den königlichen Palastanlagen in Jerusalem vorstellten (vgl. 1 Kön 7,1–12). „Adam“ hat den Auftrag, diesen Garten zu „bebauen“ und zu „hüten“ (Gen 2,15). Ihm kommt also prinzipiell eine ähnliche Aufgabe zu wie dem Menschen nach dem ersten Schöpfungstext. Während dieser sich damit begnügt, die Erschaffung des Menschen als Mann und Frau zu erwähnen, widmet der zweite Text der Erschaffung der Frau und dem damit im Zusammenhang stehenden ersten Sündenfall des Menschen einen eigenen, größeren Abschnitt (Gen 2,18–25; 3,1–24). Die Erzählung von der Erschaffung der Frau war wohl ursprünglich eine eigene, selbstständige Einheit, die später hier eingefügt wurde. Möglicherweise bietet der Text Überlieferungsgut aus matriarchalischer Zeit, weil vom Mann ausgesagt wird, dass er Vater und Mutter verlassen und seiner Frau anhangen wird (Gen 2,24), während dies in späterer Zeit, unter patriarchalischen Verhältnissen, umgekehrt war (vgl. Dtn 24,2). Beachtenswert erscheint auch die positive Würdigung der Nacktheit des Menschen (Gen 2,25), die eine in altorientalischen Religionen häufig anzutreffende Dämonisierung der Geschlechtlichkeit im Rahmen der Fruchtbarkeitsreligionen aufhebt. Die Erzählung vom Sündenfall, in der die Frau als „Ursprung allen Übels“ dargestellt wird, dürfte einen sehr konkreten Anlass haben.11 Der zur Zeit des Salomo lebende Verfasser nimmt Anstoß an der Heirat des Königs mit einer ägyptischen Königstochter, die als erste Dame am königlichen Hof offenbar großen Einfluss ausübte (vgl. 1 Kön 3,1). „Der Autor sieht darin eine Gefährdung, in der (fremden) Frau eine Verführerin Salomos […]. Diesen zeitgeschichtlichen Vorgang typisiert der Verfasser, indem er die Frau so negativ herausstellt, was die Zeitgenossen sicher richtig verstanden, die späteren aber als generelles Urteil über die Frau missverstanden haben […]. Die Wirkungsgeschichte gerade dieses Textes hat nur zu deutlich gemacht, was im Namen einer missverstandenen Interpretation geschehen kann und noch immer geschieht.“ 12 Wenn die hier vorgelegte Deutung zutrifft, erklärt sich auch das Bild der Schlange. Es ist damit jene Hausgöttin gemeint, die in jedem ägyptischen Haushalt geläufig war und die später mit der berühmten Isis gleichgesetzt wurde. In einem anderen Buch der Bibel werden die Heiligtümer erwähnt, die Salomo für seine ausländischen Frauen auf der später als „Berg des Ärgernisses“ bezeichneten Anhöhe östlich von Jerusalem errichten ließ (1 Kön 11,1–8). Nur so ist auch der Fluch über die Schlange zu verstehen:

Die Bibel und die Entstehung der Welt

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„Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen“ (Gen 3,14). Was ist das schon Besonderes? Die Schlange kriecht sowieso auf dem Bauch und muss Staub fressen. Darstellungen der ägyptischen Schlange, der Kobra, zeigen sie mit erhobenem Kopf – aggressiv und schützend zugleich. Die ägyptischen Pharaonen trugen die Stirnschlange am Kopf als Zeichen ihrer Macht, die gleichzeitig eine ständige Bedrohung für Israel darstellte. Der Fluch soll dieses Symbol der Hybris brechen. Auch der folgende Vers (Gen 3,15 [„… Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er wird dir nach dem Kopf treten, und du wirst ihm nach der Ferse schnappen“]) ist leichter zu erklären, wenn der zeitgeschichtliche Hintergrund berücksichtigt wird. Zu denken ist an die Zeit des Königs Hiskija (728–699), der sich um eine Koalition mit Ägypten bemühte, um der Assyrergefahr zu begegnen (vgl. Jes 30,1–17). Andererseits hatte sich Hiskija bemüht, die religiöse Beeinflussung durch Ägypten zurückzudrängen. Der biblische Erzähler unterzieht diese „Schaukelpolitik“ einer deutlichen Kritik, die er freilich sehr geschickt zu verkleiden weiß. Hiskija trifft einerseits im Hinblick auf den Kult die (ägyptische) Schlange am Kopf, kann sie aber wegen seiner politischen Liaisonsbemühungen nicht gänzlich abschütteln. Darüber wird er schließlich zu Fall kommen (vgl. 2 Kön 20,12–21). Es geht in den Schöpfungstexten um Theologie, die in einem erkennbaren zeitgeschichtlichen Kontext steht und die perspektivisch dargestellt wird. Die biblischen Autoren interpretieren ihre Zeit. Sie versuchen, das Hin und Her, an dem der Mensch zu leiden hat, illustrierend zu begründen. Sie verfolgen kein dogmatisch-spekulatives Interesse, sondern sind eher handlungsorientiert und -interessiert. Sie zeigen exemplarisch Folgen und Konsequenzen menschlichen Handelns auf, erinnern aber auch immer wieder an die grundsätzliche Verwiesenheit Israels und jedes Menschen auf Gott, seinen Schöpfer. c)

Theologie der Schöpfung

Auf der Grundlage der biblischen Texte über die Schöpfung entwickelte die christliche Theologie eine eigene Schöpfungslehre. Das Bekenntnis zu Gott, dem „Schöpfer des Himmels und der Erde“, steht am Anfang jedes Glaubensbekenntnisses. Ähnlich beginnt auch die Bibel: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“ (Gen 1,1). Das kirchliche Credo spricht von Gott als „Schöpfer Himmels und der Erde“ – losgelöst von allen näheren Bestimmungen über die Art dieser Schöpfung (in sechs Tagen oder in einem „Urknall“) oder über ein mögliches Vorher oder Nachher. Die Bibel sagt, Gott habe „am Anfang“ oder „im Anfang“ – je nach der gewählten Übersetzung – den Himmel und die Erde erschaffen. Genau hier liegen die Probleme. 13 Ist mit „Anfang“ der Beginn einer späteren Zeitenfolge gemeint oder nur der Beginn des sich über sechs Tage erstreckenden Schöpfungswerks? Handelt es sich überhaupt um eine Zeitbestimmung oder soll damit nur gesagt werden, dass die Schöpfung „am Anfang“ des in den folgenden Büchern geschilderten Prozesses der Annäherung Gottes an die Menschen steht, dass sie gleichsam die Voraussetzung für das göttliche Heilswerk darstellt?

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Die Welt als Schöpfung Gottes?

Der im Credo lapidar vorgelegte Glaube an den Schöpfer lässt diese Fragen offen. Von einer wie immer gearteten Terminierung des Schöpfungsbeginns und des gesamten folgenden Schöpfungswerkes ist ebenso wenig die Rede wie von einer möglichen Evolution. Christlicher Glaube ist an naturwissenschaftlichen Fragen nur zweitrangig interessiert. Im engen Zusammenhang damit steht auch die Rede von der „Schöpfung aus dem Nichts“. Es handelt sich hier nicht um ein Dogma. Eine Schöpfung „aus Nichts“ ist altorientalischer und israelitischer Vorstellung fremd. Die oft als biblische Begründung herangezogenen Stellen (2 Makk 7,28 [„Ich bitte dich, mein Kind, schau dir den Himmel und die Erde an; sieh alles, was es da gibt, und erkenne: Gott hat das aus dem Nichts erschaffen, und so entstehen auch die Menschen“] und Weish 11,17 [„Für deine allmächtige Hand, die aus ungeformtem Stoff die Welt gestaltet hat …“]) können dafür nicht in Anspruch genommen werden. Schon der große mittelalterliche Theologe Thomas von Aquin konnte sich durchaus eine von Ewigkeit her bestehende Welt vorstellen und hielt sie mit dem Glauben an Gott den Schöpfer vereinbar. 14 Christlicher Schöpfungsglaube geht von einem eigenartigen Phänomen aus. Der in einer endlich-begrenzten Welt lebende und selbst endlich-begrenzte Mensch tritt dem Ganzen, dem er selbst zugehört und dessen Teil er ist, fragend-verwundert gegenüber. Wie aber kann „die Natur“ ein Wesen hervorbringen, das über sie hinausfragt? Solches Fragen und Verwundern lässt den „Verdacht“ aufkommen, dass „hinter“ dem vordergründig Wahrnehmbaren noch eine letzte, tiefste und alles gründende Wirklichkeit besteht. Die Annahme macht Sinn, dass der Kosmos, so gewaltig und riesenhaft er auch sein mag, ein „Woher“ besitzt. Der „Verdacht“ erscheint nicht unbegründet, dass diese Welt, so rätselhaft und widersprüchlich sie auch sein mag, einen Ursprung hat, der dem Ganzen Sinn und Ziel eingab. Die Vermutung, dass die Welt von einem dieser Welt nicht selbst zugehörigen Schöpfer geschaffen wurde, erscheint zumindest nicht weniger vernünftig, als die Behauptung, sie sei „durch Zufall und Notwendigkeit“ (J. Monod) geworden. Die schöpferische Macht Gottes liegt allem Endlichen voraus. Sie ist das ursprüngliche Prinzip für alles, was ist, und führt es seiner Bestimmung entgegen. „Der Gedanke der Weltschöpfung durch Gott ist ein Symbol, kein Wissen. Im Weltschöpfungsgedanken wird der Abgrund offen, in den wir mit all unserem Weltwissen und Welttun verschlungen werden und zugleich uns geborgen wissen“ (Karl Jaspers) Schöpfung ist aber nicht in einer mythologischen Zeit geschehen, als andere Regeln galten. Vorstellungen über die Schöpfung des Kosmos müssen sich heute auf das beziehen, was sich im Universum sichtbar und hörbar abgespielt hat. Das heute von den Naturwissenschaften erarbeitete und vorgelegte Weltbild verlangt, dass sich der theologische Begriff der Schöpfung auf heutige Verhältnisse beziehen lässt. Wenn auch heute noch Neues entsteht, muss Schöpfung auch heute, hier und jetzt und unter den Augen der Naturwissenschaftler stattfinden.

Geheimnis Mensch

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3. Geheimnis Mensch: Zufall oder „planvolle Freiheit“? Weil der theologische Schöpfungsglaube gleichsam „offen“ und keiner bestimmten naturphilosophischen Option unterworfen ist, die mit den neueren Forschungsergebnissen der Naturwissenschaften in Konflikt geraten könnte, ist es nun umso leichter, sich unbefangen diesen Erkenntnissen zuzuwenden. Die heutigen Vorstellungen von der Entstehung des Universums haben sich im Rahmen der naturwissenschaftlichen Gesetze entwickelt und stellen ein im Wesentlichen widerspruchsfreies Modell dar, das sich aus dem Dialog zwischen experimenteller Beobachtung und theoretischer Voraussage ergeben hat. Dieses Modell wird als Evolutionstheorie bezeichnet. Es besagt, dass sich das Leben auf der Erde aus primitivsten Anfängen allmählich entwickelt hat. Der Genetiker Carsten Bresch bekennt: „Wenn man die Geschichte der Evolution naturwissenschaftlich sehr intensiv studiert und durch die Jahrmillionen verfolgt und sieht, wieviel Wunderbares in dieser Natur vorhanden ist, dann bekommt man eine Ehrfurcht vor Vollkommenheit. Und diese Ehrfurcht vor Vollkommenheit ist etwas, das ich sehr nahe an einem religiösen Gefühl ansiedeln würde. Und wenn man diesen Glauben an eine Vollkommenheit gewinnt, erwartet man auch, dass diese Vollkommenheit nicht plötzlich zusammenbricht, ebensowenig wie man erwarten würde, dass die Naturgesetze, die über Jahrmillionen im Universum Bestand gehabt haben, jetzt plötzlich ungültig würden.“ 15 a) Die Anfänge

Die seit der Entdeckung der „Rotverschiebung“ des Lichtes festgestellte Expansion des Kosmos legte den Gedanken nahe, dass der Anfang dieser Bewegung in einem relativ kleinen Raum durch eine Art von übergewaltiger „Explosion“ begonnen habe. Ein „Urknall“ (englisch: big bang) in einem Raumvolumen (nahe) Null wird heute von den meisten Wissenschaftlern als Anfang des Kosmos (vor 10–15 Milliarden Jahren) angenommen. Man kann ihn sich vorstellen als einen „Anfangszustand von chaotischem, ungeordnetem Charakter. […] Die heutige Kosmologie steht daher vor einem Rätsel, wie aus diesem Zustand […] sich ein Zustand höherer Ordnung gebildet haben kann, der eine ausgesprochene Struktur aufweist, nämlich die Zusammenballung von Materie und Energie zu Galaxien.“ 16 Diese Vorstellung wird durch neuere Forschungsergebnisse in Frage gestellt. So wartet der Potsdamer Astrophysiker Martin Bojowald mit einer höchst phantastischen Theorie auf. Er meint, dass unser Universum bereits vor dem Urknall existiert habe, und zwar als inverse, als umgekehrte Kopie seiner selbst, sozusagen als „Spiegeluniversum“ in einer umgestülpten Zeitdimension, ähnlich etwa einem pulsierenden Weltall, das sich ausdehnt und wieder zusammenzieht. Bojowald sieht im Urknall nur eine Übergangsphase. Was im Einzelnen davor passierte, bleibt unklar. Sicher ist für ihn nur, dass der „Big Bang“ nicht den Beginn von allem markiert. 17 Andere Astrophysiker wie Arnold Benz gehen nicht so weit. Sie gehen von der Beobachtung aus, dass zurzeit ungefähr eine Trillion (10 18) Sterne am Entstehen ist. Dieses Entstehen dauert bei einem Stern mittlerer Größe etwa eine Million Jahre.

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„Demnach werden im Universum rund 30.000 Sterne pro Sekunde geboren und vielleicht ebenso viele Planeten. Bei der Entstehung des Universums sollte man daher nicht nur vom Urknall reden. Keines der Dinge im heutigen Universum ist im Urknall entstanden. Selbst die Materie, die chemischen Elemente, alle Galaxien, und natürlich Sonne, Planeten und Lebewesen haben sich erst im Laufe der 13,7 Milliarden Jahre seit dem Urknall gebildet.“ 18 Das Entstehen von Sternen liefert exemplarische Hinweise auf das Werden von etwas Neuem im Universum. Kein Astronom zweifelt daran, dass auch heute noch in einem Millionen von Jahren dauernden Prozess Sterne entstehen. Die Entwicklung verläuft nicht geradlinig, weil äußere Einflüsse wie Nachbarsterne, Sternwinde oder Ultraviolett-Bestrahlung den Vorgang stören können. Wie Planeten von der Größe der Erde wachsen und welche Zeit sie dafür genau benötigen, ist daher nicht bekannt. Wahrscheinlich stören sie sich beim Entstehen in ihren Bahnen, werden abgelenkt, prallen aufeinander, versinken wieder in ihrem Ausgangsstern oder werden ganz aus dem Planetensystem hinaus geworfen. „Die vielen Vorgänge machen es äußerst schwierig, im Detail zu verstehen, wie das Sonnensystem entstand. Selbst wenn wir eines Tages einmal alle einzelnen Vorgänge kennen, bliebe ihr Zusammenspiel ein Rätsel.“ 19 Das Universum als Ganzes hat sich seit dem Urknall deutlich verändert. Vieles ist entstanden, hat sich entwickelt und ist wieder zerfallen. Und noch immer bildet sich völlig Neues. Aber alles, was sich gebildet hat, wird auch vergehen. „In Billionen von Jahren wird im ganzen Sonnensystem Weltraumkälte herrschen. Sonne, Erde und vielleicht auch das Leben werden ein Ende haben. Die kosmische Entwicklung weckt nicht nur Staunen, sie kann auch erschrecken.“ 20 Es ist auffällig, welche Rolle der „Zufall“ in der gesamten Evolution spielt. Konrad Lorenz bezeichnete daher Zufall und Selektion als die „beiden Konstrukteure“ der Evolution. Der Zufall ist zu einer der großen Erklärungskategorien der Naturwissenschaft geworden. „Zufall“ wird verstanden als das „Zusammentreffen vieler voneinander unabhängiger Ereignisketten, die zur Bildung jener organischen Substanzen führte, ohne die das Leben vermutlich nicht entstanden wäre. […] Zufälle sind Ereignisse ohne Zielursache, ohne Teleologie.“ 21 Dennoch verlaufen bei einem zufälligen Zusammentreffen verschiedener Wirkursachen die daraus möglicherweise resultierenden chemischen, physikalischen oder biologischen Prozesse ihrerseits nicht „zufällig“, sondern durchaus gesetzmäßig ab – und zwar unumkehrbar. Man kann das beim Würfeln beobachten. Wer 1000 Mal würfelt und alle gewürfelten Zahlen zusammenzählt, erhält als Ergebnis 3500 ( 2 %). Bei vielen Würfen befolgt der Zufall ein statistisches Durchschnittsgesetz. Völlig willkürlichen „Zufall“ gibt es nur bei einem einzigen Wurf. Der „Zufall“ lässt sich als Wahrscheinlichkeitsprozess formulieren und mathematisch beschreiben. Die Vorgänge, die scheinbar „zufällig“ und chaotisch zu Neuem im Universum führen, befolgen eine strenge Gesetzmäßigkeit. Dabei herrscht in der Natur ein eigenartiges „Streben“ danach, Ordnung zu schaffen und aus zunächst kleinen Elementarteilchen über viele Entwicklungsstufen hinweg immer komplexere Strukturen und Muster zu bilden. „Das Musterwachstum ist das Grundprinzip aller Evolution.“ 22 Es kann Jahrmillionen dauern, bis diese (wenn auch

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manchmal nur vorläufige) Ordnung erreicht ist: Für jede in unserer Zeit lebende Art hat es in der Vergangenheit „Vorläufer“ gegeben – Tausende von Arten, die ausgestorben sind. b) Das Leben

In der Frühphase war die Erde in eine Atmosphäre aus Methan, Ammonium und Wasserdampf gehüllt, die sich im kosmischen Staub gebildet hatten oder in chemischen Prozessen an der Erdoberfläche freigesetzt wurden. Bei der weiteren Abkühlung kondensierte der Wasserdampf zu den Wassermassen der Ozeane. Gleichzeitig entstanden aus Methan, Ammonium und Wasser immer kompliziertere organische Verbindungen: Methanol, Methylamin und schließlich die Aminosäuren, die sich durch verschiedene Seitenketten voneinander unterschieden. Die zentrale Bedeutung der Aminosäuren für die nächste Entwicklungsphase, die biologische Evolution, ist ihre Fähigkeit, durch Entzug von Wasser lange Ketten zu bilden, nämlich Polypeptide, die kleinen Eiweißmolekülen (Proteinen) ähnlich sind. Im Rahmen der äußeren Bedingungen, die damals auf der Erde herrschten, formten sich aus den bereits entstandenen organischen Molekülen schließlich die Nukleinsäuren als Träger der genetischen Information, die den Beginn des Lebens signalisieren. „Alles Leben basiert auf dem chemischen Wechselspiel von Proteinen und Nukleinsäuren, und in allem wird die Erbinformation durch die DNS (= Desoxyribonukleinsäure) weitergegeben; in den Zellen aller Organismen dient als Produzent und Speicher von Energie für biochemische Reaktionen die Verbindung Adenosintriphosphat (ATP).“ 23 Man kennt also die Lebensgrundlagen. Aber was „Leben“ eigentlich ist und vor allem, wie es zustande kommt, kann auch die moderne Naturwissenschaft (noch) nicht sagen. Leben differenziert sich im Folgenden durch Anpassung an die Umweltbedingungen. Insbesondere entstehen im Urozean die ersten zur Photosynthese befähigten Organismen, die durch Wasserspaltung mit Hilfe von Licht Sauerstoff erzeugen und im Verlauf von ca. 1,5 Milliarden Jahren die Erdatmosphäre in ihrer heutigen Zusammensetzung (20 % Sauerstoff, 80 % Stickstoff) hervorbringen. Parallel dazu entfaltet sich das Leben auf unserem Planeten: Aus subzellaren Mikroorganismen werden erst einzellige, dann mehrzellige Kleinstlebewesen; die Sexualität erweist sich als besonders effizientes und zuverlässiges Reproduktionsverfahren; die Vielfalt der Arten und die Größe und Komplexität der Organismen nehmen zu. Die fossilen Energievorräte, Kohle und Erdöl, werden über die Photosynthese aus dem Sonnenlicht gebildet und im Verlauf von einigen hundert Millionen Jahren akkumuliert. Der geniale Theologe und Naturwissenschaftler Pierre Teilhard de Chardin hat dieses eigenartige „Streben nach Ordnung“ theologisch zu deuten versucht. Für ihn wohnt den Dingen ein merkwürdiger Drang nach Einigung, nach Einssein inne – ein „Drang“ freilich, der es nicht eilig hat. Die Evolution zeigt unendlich viel „Geduld“, die Entwicklung des Chaos zum Kosmos verläuft in unvorstellbar großen Zeiträumen. Aber je weiter sie fortschreitet, desto deutlicher wird im ungeordneten Sein der Drang nach Einheit erkennbar. Innerhalb der geschaffenen Dinge ist der Mensch, das am

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weitesten fortgeschrittene Produkt der Evolution, stärker davon geprägt als die Pflanze, die Pflanze aber wiederum mehr als der Stein. Auf den ersten Blick erscheint es geradezu paradox: Je komplexer, je vielfältiger das Sein eines Seienden sich darstellt, desto mehr ist es geeint. Das Zerfallen der „Einheit“, die ein Stein darstellt, ist keine so große Katastrophe wie das Zerfallen der Einheit „Mensch“. Höchste Einheit zeichnet sich aus durch höchste Vielfalt. Das am höchsten entwickelte Sein, der Mensch, ist zugleich das komplexeste und das geeinteste Sein. c)

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Am Ende einer Entwicklung von 2 Milliarden Jahren, die unter dem Zwang der Anpassung an sich ändernde Umweltbedingungen und unter dem dramatischen Einfluss globaler geologischer und klimatischer Katastrophen das vielfältige Leben auf unserer Erde hervorbrachte, erscheint der Mensch. Er ist ganz in die Geschichte der Entwicklung des Lebens eingebunden. Nur Wasserstoff und Helium, die beiden ersten Elemente des periodischen Systems sind während der Frühphasen unseres Kosmos entstanden. „Alle weiteren Elemente wurden und werden von Sternen erzeugt. Drei Minuten nach seinem Anfang war das Universum zu kalt geworden für jede weitere Elementsynthese. Alle weiteren Elemente wurden und werden in Sternen erzeugt.“ 24 Das geschieht beim Kollabieren der Sterne in einer gewaltigen Explosion, durch die das mit schweren Elementen angereicherte Material der Sternenhülle hinaus in den Kosmos geschleudert wird. Im Laufe von Jahrmillionen kühlen die heißen Gaswolken ab und werden zu neuen Sternen, die nun bereits schwere Elemente enthalten. So entstehen die Planeten. Fast alle Atome schwerer Elemente, die auf dem Planeten Erde vorhanden sind, stammen aus einer solchen Explosion. „Um es genauer zu sagen: rund 750.000 Jahre, bevor das Sonnensystem entstand, ist mehr als ein Stern mit mehr als zwanzig Sonnenmassen explodiert, der seine Elementfracht in eine Gaswolke hineingepresst hat, in der unsere Sonne und das Sonnensystem entstanden sind. Mit anderen Worten: unsere Atome haben sich schon einmal gesehen. Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes Kinder des Kosmos. […] Astrophysik ist Ahnenforschung auf allerhöchstem Niveau.“ 25 Der Mensch ist ein Konglomerat aus Atomen und Molekülen. Nun sind die Atome aber nicht nur viel kleiner als der Mensch, sie kennen auch keine Eigenschaften, wie sie das Verhalten des Menschen kennzeichnen. „In der atomaren und molekularen Welt gibt es keine Gefühle, Launen, Ziele, Visionen oder Hoffnungen. Atome kennen weder Sympathie oder Liebe noch Hass oder Lust. Atome verbinden sich nicht miteinander, weil sie sich mögen, sondern weil eine Verbindung einen günstigeren Energiezustand darstellt. Verbindungen von Atomen haben keinen Zweck, sie träumen auch nicht davon, einmal zu größeren Molekülen anzuwachsen. Atome vermehren sich nicht, ethisches Handeln ist dort genau so unbekannt wie Religion oder Philosophie.“ 26 Atome haben keinerlei Individualität. Sie werden allein regiert von den geltenden Naturgesetzen. Auf der elementaren Ebene verhält sich die Natur völlig unpersönlich. Erstaunlich ist nun, dass sich ab einer gewissen Ordnungsstruktur, nämlich in Lebewesen und hier nochmals in erhöhtem Maße in intelligenten Lebewesen, das alles plötzlich ändert.

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Die Menschwerdung des Menschen Bis heute kann die Naturwissenschaft auf die Frage, ab wann unsere (tierischen) Vorfahren als Menschen zu gelten haben, keine schlüssige und befriedigende Antwort geben. „Nichts in der Evolution ist schwerer zu bestimmen als die Schwelle zur Menschwerdung“ 27. In jedem Fall hat es sich dabei nach heutigen Vorstellungen um einen sehr komplexen und lang andauernden Prozess gehandelt. Auch scheint es in der Evolution so etwas wie eine „planvolle Freiheit“ zu geben. Was aus der einen Perspektive wie Zufall aussieht, kann sich aus einer anderen durchaus als ein zielgerichteter „Drang“ der Natur (Pierre Teilhard de Chardin) darstellen. Gewaltige Zeiträume waren zu durchschreiten, ehe sich das Leben auf der Erde entwickelte und schließlich der Mensch auftrat. Astrophysiker sprechen von einer „Feinabstimmung“ der fundamentalen Naturkonstanten im frühen Universum. Wären diese auch nur geringfügig anders gewesen, hätte sich kein Leben und erst recht kein menschliches Leben entwickeln können. Die Wahrscheinlichkeit des Zusammenkommens dieser, die Menschwerdung ermöglichenden Faktoren wird mit 10 –80 angegeben. Manche Physiker sprechen hier vom „anthropischen“ (gr. = auf den Menschen bezogen) Prinzip. 28 Vor allem amerikanische und britische Wissenschaftler haben eine Reihe von eigenartigen „Zufälligkeiten“ entdeckt, bei denen die rätselhafte Zahl 10 40 im physikalischen Aufbau der Welt als Vorbedingung für die Existenz jeder Lebensform eine Rolle spielt: „Wenn wir ins Universum hinausblicken und erkennen, wieviel Zufälle zu unserem Wohle zusammengearbeitet haben, dann scheint es fast, als habe das Universum in gewissem Sinn gewusst, dass wir kommen“ (F. Dyson 29). Einige Wissenschaftler gehen noch weiter und vertreten die Ansicht, dass die Naturgesetze sich so, wie sie sind, entwickelt haben einzig und allein zu dem Zweck, dass menschliches Leben auf der Erde entstehen konnte. Der Mensch sei von Anfang an das Ziel aller kosmischen und terrestrischen Evolution gewesen. Manches geht freilich über den Rahmen einer vagen, wenn auch interessanten Hypothese nicht hinaus. Die Gefahr einer anthropozentrischen Denkweise und einer letztlich teleologischen Deutung der Evolution liegt nahe. Aufgrund neuerer Fossilienfunde in den Hochebenen von Tansania und Kenia wird das Alter der Menschheit auf 4 oder gar 6 Millionen Jahre geschätzt. Die Evolution des Lebens, auch des menschlichen Lebens, stand unter dem Gesetz des „survival of the fittest“. 30 Überlebensfähig war nur, wer sich so gut auf die sein Leben gefährdenden oder fördernden Umstände eingestellt hatte, dass er der lebensbedrohenden Gefahr auszuweichen oder sie zu bestehen vermochte und dass er das Lebensförderliche aufsuchen und ausnutzen konnte. Das seiner Umwelt am besten angepasste und in ihr am ehesten überlebensfähige Lebewesen war aber dann bedroht, wenn sich die Umwelt, an die es sich optimal angepasst hatte, zu verändern begann. Das konnte so rasch geschehen, dass eine hochspezialisierte Spezies nicht schnell genug zu reagieren vermochte und damit zum Aussterben verurteilt war. Evolutionsbiologen vertreten heute die Ansicht, dass der Mensch seine Entstehung mittelbar einer gigantischen Katastrophe zu verdanken hat. Wahrscheinlich führte der Einschlag eines Asteroiden von 10 Kilometer Durchmesser vor 65 Millionen Jahren zum größten bekannten Massensterben auf unserem Planeten. Das Geschoss aus dem

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Weltraum bohrte sich tief in die Erdkruste ein, löste Erdbeben, Vulkanausbrüche und Flutwellen aus und ließ eine Art nuklearen Winter anbrechen, in dem nahezu alle Pflanzen verdorrten. Damals verschwanden nicht nur die Dinosaurier, nachdem sie rund 140 Millionen Jahre die Erde beherrscht hatten. Mit ihnen gingen auch, so schätzt man, 60 bis 80 Prozent aller Arten zu Grunde. Vermutlich war der nicht auf einen bestimmten Lebensraum fixierte und spezialisierte (Ur-) „Mensch“ umweltunabhängiger als andere inzwischen ausgestorbene Artgenossen. Dennoch stand (und steht) auch er unter dem Selektionsdruck, sich anpassen zu müssen, um überleben zu können. Doch im Unterschied zu anderen Lebewesen passte er sich der Umwelt nicht dadurch an, dass sich seine Erbinformationen und damit seine körperliche Beschaffenheit änderten, sondern er benutzte Gegenstände aus seiner Umwelt und verfertigte sie zu Werkzeugen, um damit seine mangelhafte Spezialisierung auszugleichen. So paradox es klingen mag: Gerade die Tatsache, dass der Mensch ein „Mängelwesen“ (Arnold Gehlen) ist, bewahrte ihn vor dem Aussterben. Die fehlenden Krallen oder die im Vergleich zu Raubtiergebissen unterentwickelten Zähne ersetzte er durch Steinwerkzeuge zum Schneiden, Schaben und Schlagen oder durch hölzerne, bald schon im Feuer gehärtete Speere und knöcherne Stachel. Für das fehlende Haarkleid hängte er sich die Felle erbeuteter oder gefundener Tiere um. Offenbar lernte es der „Mensch“, Werkzeuge immer differenzierter zu fertigen und überlegt einzusetzen. Diese Sammler, Jäger oder Wildbeuter-Menschen waren also genötigt, sich wie andere Lebewesen den (wechselnden) Erfordernissen der Umwelt anzupassen; sie taten das aber mit anderen Mitteln: Sie halfen sich mit eigens dafür hergestellten Werkzeugen. Ihr Wissen und ihre Fertigkeit wurden von ihren Kindern übernommen und nachgeahmt. Carsten Bresch sieht im Nachahmungstrieb eine wesentliche Voraussetzung der Menschwerdung. Durch Nachahmung entsteht Lebenserfahrung, Übertragung von Tradition von einer Generation zur anderen.31 Diese Situation änderte sich grundlegend erst vor etwa 10.000 Jahren. In einem sich über Jahrtausende hinziehenden Prozess, für den sich erste Ansätze auch wieder über Tausende von Jahren zurückverfolgen lassen, wurde der Mensch sesshaft. Er begann, Ackerbau und Tierhaltung zu entwickeln. Das Neuartige an dieser Einstellung zur Welt bestand darin, dass der Mensch nun nicht länger versuchte, sich der Umwelt anzupassen, sondern dass er zunehmend dazu überging, in umgekehrter Weise die Umwelt sich anzupassen. Im Laufe der Jahrtausende begann er, über das bloße Beobachten und Reagieren hinaus selbst zu experimentieren. Er versuchte, die beobachteten Prozesse und Zustände selber herbeizuführen oder herzustellen und die Ergebnisse seines Forschens und Experimentierens anderen mitzuteilen. Schrift und Wissenschaft begannen, sich zu entwickeln. Das Unterscheidend-Menschliche Der Blick auf die Menschheitsgeschichte und die neueren Ergebnisse der Verhaltensforschung zeigen, dass es Mühe macht, ein trennscharfes Kriterium zwischen Tier und Mensch zu finden. Meist werden heute folgende Kriterien genannt:  Werkzeuggebrauch. Doch inzwischen haben Experimente mit Affen ergeben, dass sie längere Kausalitätsketten überblicken können und geschickt Hilfsmittel be-

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nutzen, um ans Ziel zu gelangen. Bei Darwinfinken konnte beobachtet werden, dass sie künstlich ihren Schnabel mit einem gefundenen bzw. gesuchten Hölzchen verlängern, um an die Nahrung heranzukommen. Werkzeugherstellung. Auch Anfänge einer Werkzeugherstellung konnten bei Schimpansen festgestellt werden: Sie spitzen Zweige zu, um mit ihrer Hilfe Termiten zur Nahrung aus ihrem Bau herauszuholen. Sprache. Eine sehr differenzierte Informationsweitergabe kennen die Bienen. Versuche, in Kommunikation mit Schimpansen zu treten, haben ergeben, dass sie in der Lage sind, etwa 150 bis 200 „Wörter“ zu behalten und sie sinngemäß und richtig zu „beantworten“. Sie verstehen den Konditionalsatz: „Wenn du die Banane auf den Teller legst, dann kriegst du eine Tafel Schokolade.“ Aus ihren Reaktionen ist ersichtlich, dass sie auch in der Lage sind, Abstraktionen zu verstehen wie: „Dieses ist ein Symbol für …“ Was ihnen freilich (noch?) fehlt, ist die wirkliche Sprache, die Lautbildung, die der Mensch durch eine Veränderung des Kehlkopfes erreichen konnte. Bewusstsein. Tiere besitzen durchaus ein Bewusstsein („Ich“ weiß), wenn auch kein reflexes Selbstbewusstsein („Ich“ weiß, dass ich weiß). Ichbewusstsein. Auch hier haben Versuche mit Affen ergeben, dass sie in der Lage sind, sich in einem Spiegel nach längerem Hinsehen wiederzuerkennen. Es ist also zumindest ein optisches Ichbewusstsein anzunehmen. Geist und/oder Instinkt. Hier ist wohl das deutlichste Unterscheidungsmerkmal zu sehen. Doch ist auch hier Vorsicht geboten. Denn was ist eigentlich „Geist“? Und besitzt der Mensch keine Instinkte? Hat ein Affe nicht mehr „Geist“ als ein Spulwurm? Und ist nicht auch unter Menschen die „Geisthaftigkeit“ keineswegs einheitlich und gleichmäßig ausgeprägt? Religiöse Aspekte. In jüngster Zeit werden vor allem (anfängliche) religiöse Aspekte als Kriterien herangezogen. So verraten bestimmte Bestattungsriten (etwa beim Neandertaler, 70.000–80.000 v. Chr.), dass offenbar ein Transzendenzbewusstsein (oder vielleicht genauer: der Glaube an ein nach-todliches Weiterleben) zwar bei Menschen, nicht aber bei Tieren feststellbar ist: Der Tote wird nach der aufgehenden Sonne ausgerichtet, Bärenschädel und Nahrungsbeigaben werden um den Toten herum gelegt, Steinabgrenzungen markieren das Grab, selbst Blumen werden aufs Grab gelegt.

Leib-Seele-Einheit Weder das Alte noch das Neue Testament kennen eine Zweiteilung des Menschen in einen sterblichen Leib und eine unsterbliche Seele. Das in deutschen Übersetzungen mit „Seele“ wiedergegebene hebräische Wort „nefesh“ kommt von einem Stamm nfs (= blasen, Atem holen), und bedeutet ursprünglich Kehle, Gurgel. Im übertragenen Sinne wird es verwendet als Träger der Gedanken und Empfindungen. Nie wird im Alten Testament „Seele“ getrennt vom Körper gesehen. „Seele“ ist der ganze Mensch (Gen 2,7), das Ich des Menschen (Ps 103,1). Deshalb ist die „Seele“ sterblich, sie kann „verwelken“ (Jer 15,9), „dahingerafft werden mit den Sündern“ (Ps 26,1), „sterben“ (Num 23,10). Israel sieht den Menschen als Ganzes, ohne die Spur einer Zweiteilung.

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Alttestamentliches Denken fragt nicht nach den „Komponenten“ menschlichen Seins, sondern es interessiert sich dafür, wie dieser Mensch sich als geschichtlich Handelnder erweist. Und da ist er sowohl „Staub“ (Gen 3,19) – sünde- und todverfallen – wie auch „Geist“ – „nur wenig geringer als Gott, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt“ (Ps 8,6). Die neutestamentlichen Aussagen knüpfen bei dieser Vorstellung an. Die „Seele“ verlieren bedeutet: Das Leben verlieren (Mk 8,34–37). Das Jesus-Wort bei Matthäus „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet vielmehr den, der Seele und Leib verderben kann“ (Mt 10,28) braucht keineswegs, wie das oft geschieht, so verstanden zu werden, als sei darin die Unsterblichkeit der Seele vorausgesetzt und ausgesprochen. Auch hier ist unter „Seele“ das Leben gemeint, vielleicht zur Verdeutlichung mit einer Akzentuierung auf dem Artikel „das“ (von Gott geschenkte neue) Leben. Auch Paulus weiß nichts von einer Unsterblichkeit der Seele – zumindest übernimmt er solche Vorstellungen nicht in seine Theologie. Psyche und pneuma, Seele und Geist, stehen für ihn gleichbedeutend mit Leben, mit menschlicher Person schlechthin. „Jedermann (wörtlich: jede Seele) sei den vorgesetzten Obrigkeiten untertan“ (Röm 13,1); „Grüßet (…) meine Mitarbeiter in Christus Jesus, die für meine Seele ihren Hals dargeboten haben“ (Röm 16,3 f.); „Ich will sehr gern Opfer bringen und mich aufopfern für eure Seelen“ (2 Kor 12,15). Die Schrift beider Testamente sieht den Menschen als Ganzheit, als Leib-SeeleGeist-Einheit. Der Mensch ist als Ganzer hinfällig, gebrechlich, sterblich. Es gibt in ihm nichts von Natur aus Unsterbliches. Ein Leben über den Tod hinaus liegt allein in Gottes Hand. „Die Seele (ist) keine unsterbliche Göttin, sondern nur eine Einstellung auf Gott (…) Das ewige Leben (wird) dem Menschen zwar geschenkt, aber es ist nicht des Menschen, sondern nur Gottes. Die Gewissheit des Jenseits beruht auf dem Erlebnis der göttlichen Liebe.“ 32 Der Glaube an eine (von Gott eigens geschaffene, individuelle) unsterbliche GeistSeele kam erst durch das Zusammentreffen mit dem hellenistischen Denken auf. Für Platon (427–347 v. Chr.) kommt die Seele von außen, von „oben“, in diese sichtbare, materielle Welt. Die Seele ist von einem Demiurgen (griech. = Handwerker, Baumeister), einem Zwischenwesen zwischen Göttern und Menschen, erschaffen. Jede Seele besitzt einen eigenen Stern als ihre Heimat, muss aber in einer ewigen Reihe von Wiedergeburten in menschliche Leiber eingehen. Dazwischen kann sie Ruhepausen auf „ihrem“ Stern einlegen. Auch Platons Schüler Aristoteles (384–322 v. Chr.) sah die Geist-Seele als etwas Ungeschaffenes, Präexistentes und Unsterbliches; sie ist göttlicher Abstammung und kommt in diese Welt von außen „zur Tür herein“. 33 Die Geist-Seele ist nach hellenistischer Vorstellung das eigentlich Menschliche, der materielle Leib aber das Niedrige, die Seele in ihrer Entfaltung Hemmende und Versklavende. Er ist das Gefängnis der Seele. Die Lebensaufgabe des Menschen kann nur darin bestehen, sich von der Materie, vom Leib, zu befreien, um in das Reich des Geistes zurückzukehren. Um beim Volk auf Akzeptanz zu stoßen, musste diese im gesamten Römischen Reich verbreitete Auffassung vom Christentum in die Verkündigungstätigkeit „eingearbeitet“ werden. Im Gefolge dieser Vorstellung wurde das biblische Verständnis von „Seele“ gegen seinen ursprünglichen Aussageinhalt umgedeutet und damit missver-

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standen. Dass der Mensch einen Leib und eine unsterbliche Geistseele besitzt, wurde als Bestandteil der biblischen Offenbarung gesehen und sogar zur offiziellen kirchlichen Lehre erhoben.34 Erst die moderne Exegese hat aufgewiesen, dass diese dualistische Vorstellung vom Menschen nicht genuin biblisch ist, sondern von außen, von griechischem Denken beeinflusst, in das Christentum eindrang. Allerdings erfolgte dabei dennoch eine wesentliche Veränderung der hellenistischen Vorstellung: die Hoffnung auf eine naturale Wiederherstellung des gesamten Menschen, mit Seele und Leib, war dem Hellenismus fremd. Hier setzte sich das biblische Ganzheitsdenken durch. Denken als geistige Fähigkeit und Erdgebundenheit als Hinweis auf die materielle Konstitution kennzeichnen die polare Schichtung des einen Wesens „Mensch“. Der Leib des Menschen ist aus „Erde“, aus den Stoffen des organischen und anorganischen Bereichs gebildet. Als geistiges Wesen übersteigt der Mensch das bloß Materielle, wenngleich der Geist ohne die Materie, ohne die „Gehirnmasse“, sich nicht entfalten kann. Was das „Geist-Sein“ des Menschen freilich genau bedeutet, ist nicht exakt auszumachen. Es kann nur durch die konkreten Äußerungen des „Geistes“ umschrieben werden: Denken, Verstand, Gemüt, Gefühl, Wille. Beide Konstitutiva, Leib und Geist-Seele, sind in einer unlösbaren Einheit miteinander verbunden. Nur der beseelte, geistgeformte Leib des Menschen ist lebensfähig; aber die Zerstörung des materiellen Lebens bewirkt auch die Vernichtung dessen, was wir als „Geist“ bezeichnen. Es gibt kein leibloses geistiges Leben, aber es gibt auch kein geistloses, leibliches Leben. Geistiges und Leibliches sind unlösbar auf einander verwiesen und sind Ausdrucksformen einer einzigen untrennbaren Einheit. Der Mensch ist nicht aus zwei Teilen zusammengesetzt, die Leib und Seele heißen. Er ist vielmehr wesentlich Einheit von Leib und Geist-Seele. In jüngster Zeit wurden die Gedanken Platons von der „Unsterblichkeit“ der Seele wieder aufgegriffen und neu zu deuten versucht. Der evangelische Theologe Jürgen Moltmann beruft sich dabei auf die biblische Aussage von der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,27). Wenn Menschen zum Bild Gottes auf Erden geschaffen werden, so heißt das: „Gott setzt sich zu diesen Geschöpfen in eine solche Beziehung, in der sie zum Spiegel, zum Abglanz und zur Antwort Gottes werden. Gottes Beziehung zu seinem menschlichen Bild kann weder durch den Widerspruch noch durch den Tod der Menschen zerstört werden […]. Nur Gott selbst kann die Beziehung, die er zu seinen Geschöpfen eingegangen ist, auflösen.“ 35 Ein anderer Theologe, der katholische Dogmatiker Gisbert Greshake umschreibt unter Berufung auf das biblische Wort „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, mein bist du!“ (Jes 43,1) die menschliche „Seele“ als „jene tiefste Mitte meines Menschseins, die mich unausweichlich in die Beziehung zu Gott, in die Gemeinschaft mit ihm, stellt und mich deshalb zur Person macht. Diese Beziehung kann verdrängt, geleugnet, in ihr Gegenteil verkehrt werden – dann wird sie dem Menschen zum Gericht –, aber sie kann durch nichts in der Welt und damit auch nicht durch den Tod dementiert werden, weil der Ruf Gottes, der mich in die Beziehung zu ihm stellt, unwiderruflich ist.“ 36 Solches Bleiben in der Gottesbeziehung bezeichnen die amerikanischen Prozesstheologen Alfred North Whitehead und Charles Hartshome als „objektive Unsterblichkeit“. Gott wirkt nicht nur auf alle Dinge, alle Dinge wirken auch auf Gott. „Menschen werden nicht nur von Gott geschaffen,

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sondern machen auch ihrerseits einen Eindruck auf Gott. Nicht nur wir erfahren Gott, Gott ‚erfährt‘ auch uns. Die ‚Erfahrung‘, die Gott mit uns macht, bleibt in Gott bestehen, auch wenn wir vergehen. Unser Leben ist vergänglich in der Zeit, aber wir haben eine ewige Gegenwart, in Gott.“ 37 Der Tod bringt zwar das Ende unseres Lebens, nicht aber das Ende der Beziehung Gottes zu uns. In ihr ist der Tod nur eine Durchgangsstufe, eine Wandlung auf unserer Seite. Die anrufende und letztlich befreiende und erlösende Beziehung Gottes zu uns bleibt. Person-Sein In der abendländischen Philosophie und Theologie wird die Eigenart der leib-geistigen Existenz des Menschen als „Person-Sein“ bezeichnet. Was ist damit genau gemeint? „Auf die Frage: ‚Was ist deine Person?‘ – kann ich nicht antworten – ‚mein Körper, meine Seele, mein Verstand, mein Wille, meine Freiheit, mein Geist‘. Das alles ist noch nicht Person, sondern gleichsam erst deren Stoff. […] Person wird als die Tatsache bestimmt, dass der Mensch in sich stehe, aus sich handle, für sich verantwortlich und in Würde Zweck seiner selbst sei.“ (Romano Guardini 38) Das Wort „Person“ kommt vermutlich vom etruskischen „phersu“ und bedeutet Maske. Der Ursprung des Maskentragens wird wohl darin zu suchen sein, dass die alten Jäger sich als Tiere verkleideten, um Beute anzulocken oder Feinde zu verscheuchen. Häufig wird – in späterer Zeit – die Maske zu Kulttänzen oder Dämonenaustreibungen verwendet. Sie identifiziert den Träger mit einem anderen (höheren) Wesen. Sie löscht die Existenz des Maskierten aus und lässt ihn zu dem werden, dessen Maske er trägt. Der Maskenträger spielt nicht, er wird verwandelt. Weil in der antiken Tragödie die Mimen darum grundsätzlich Masken vor dem Gesicht trugen, durch deren Mundöffnung sie „hindurchtönten“, wird „persona“ häufig, aber etymologisch nicht zutreffend, von dem lateinischen Wort „per-sonare“ (= hindurchtönen) abgeleitet. Das entsprechende griechische Wort für Person heißt „prósopon“ (wörtlich: das, dem man sich gegenübersieht). Es kann die Bedeutung Maske oder auch Gesicht haben. In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments wurde „prósopon“ häufig verwendet, um das „Antlitz Gottes“ zu bezeichnen (vgl. dazu etwa den bekannten aaronitischen Priestersegen: „Der Herr lasse dein Antlitz über dir leuchten und sei dir gnädig! Der Herr erhebe sein Antlitz auf dich und gebe dir Frieden!“; [Num 6,24–26]). Etwa im 3. Jahrhundert tritt im griechisch sprechenden Osten des Römischen Reiches an die Seite von „prósopon“ ein anderer Begriff, der mehr das Statische, Grundsätzliche betont: „hypóstasis“ (wörtlich: das sich unterhalb Aufstellende; lateinisch: substantia). Im klassischen Griechisch besagt das Wort nichts anderes als die Wirklichkeit im Unterschied zum Scheinbaren. Mehr und mehr nimmt dieser Begriff die Bedeutung an: „konkrete, individuelle, unabhängige Wirklichkeit“. 39 Die erste formalontologische Definition des Personbegriffs, die wir besitzen und die weithin auch noch für das neuzeitliche Denken bestimmend ist, stammt von Boë thius (ca. 480–524): „Persona est naturae rationalis individua substantia“ (Person ist die unteilbar-ganze Wirklichkeit einer geistbegabten Natur). 40 Für die Neuzeit wurden jene Bestimmungen des Personbegriffs maßgebend, die Immanuel Kant (1724–1804) eingeführt hat: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen

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Handlungen einer Zurechnung fähig sind“. 41 Das macht die Person zum unbedingten „Gegenstand der Achtung“, zum „Zweck an sich selbst“, so dass Kant seinen viel zitierten, individuell gefassten „kategorischen Imperativ“ im Hinblick auf das Person-Sein des Menschen zu der Forderung umformuliert: „Handle so, dass du die Menschheit, in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit als Zweck und niemals bloß als Mittel gebrauchst.“ 42 Person-Sein zeichnet sich aus durch Ich-Bewusstsein, Selbstbejahung und freie Selbstbestimmung. Person ist das zu Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung fähige Wesen. 43 Angesichts der enormen Fortschritte in der Medizin und einer zunehmenden Industrialisierung des Umgangs mit Tieren (und inzwischen auch mit „embryonalen Stammzellen“) hat eine Antwort auf die Frage nach dem Person-Sein des Menschen und die damit verbundene Begründung des Anspruchs auf Achtung und Schutz des Lebens einen wichtigen und brisanten Stellenwert erhalten. Es sind heftige Kontroversen darüber entbrannt, wer als Person zu gelten habe und wieweit Person-Sein mit dem Besitz bestimmter, empirisch feststellbarer Eigenschaften gleichgesetzt werden könne. Die jeweilige Antwort auf diese Fragen hat unmittelbare Auswirkungen darauf, welches ethische Verhalten in Konflikt- und Grenzfällen geboten ist (Abtreibung, EmbryonenForschung, medizinische Experimente, Hirntod, [aktive] Sterbehilfe, Schwerstbehinderung u. a.). Wann aber wird der Mensch Person in diesem vollen Sinn? Als Antwort auf diese Frage werden in der heutigen Diskussion vor allem drei Positionen vertreten: Die strengste Auffassung geht davon aus, dass menschliches Leben im umfassenden Sinne schon ab dem Augenblick der Zeugung, also mit der Befruchtung gegeben ist. Was von Menschen gezeugt ist, gehört zur Gattung Mensch. Der Embryo ist daher von der Empfängnis an wie eine Person zu behandeln.44 Zunehmend wird vor allem von Naturwissenschaftlern die Ansicht vertreten, dass erst mit dem Augenblick der Nidation der befruchteten Eizelle in der Gebärmutterschleimhaut von menschlichem Person-Sein gesprochen werden kann. Verhältnismäßig viele befruchtete menschliche Eizellen gelangen nämlich überhaupt nicht zur Nidation, und es stellt sich damit die Frage, ob auch diese Zellen vollgültiges menschliches Leben, also Person, sein sollen. Eine dritte Position geht noch weiter. Sie setzt bei der Diskussion um den „Gehirntod“ an und projiziert diesen auf den Beginn menschlichen Lebens zurück. Der Mensch wird als leib-geistiges Wesen definiert. Die Möglichkeitsbedingungen geistigen Verhaltens liegen in der Großhirnrinde. Ohne ein funktionstüchtiges Gehirn ist Geistigkeit nicht nachweisbar. Wenn ein Mensch, dessen Gehirn nicht mehr funktioniert, als tot zu gelten hat, so kann auch ein Mensch, dessen Gehirn noch nicht funktioniert, nicht im Vollsinn als menschliche Person betrachtet werden. Die erste dieser drei Positionen klammert den Aspekt des Werdens völlig aus. Selbstverständlich liegt schon in der befruchteten Eizelle die volle Potentialität zu menschlicher Existenz. Doch darf man so weit gehen, das Leben eines „Zellhaufens“, einer Zygote, ab dem ersten Tag schon als „berufen zur Auferstehung“ zu betrachten? Diese Frage ist auch der zweiten der oben angeführten Positionen zu stellen. Ist die befruchtete und eingenistete Eizelle nicht vielmehr nur als gattungsspezifisch mensch-

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liches Leben zu werten, das erst in der Folgezeit der Entwicklung zum personalen Wesen wird? Sicher entwickelt sich der Mensch nicht zum Menschen, sondern er entwickelt sich als Mensch. Aber sind „unentwickelter“ und „entwickelter“ Mensch in gleicher Weise als „personales Wesen“ anzusprechen? Richtig ist ohne Zweifel, dass menschliches Person-Sein nicht allein von der Aktualität und Aktualisierung der oben genannten Kriterien des Person-Seins (Ich-Bewusstsein, Selbstbejahung, Selbstbestimmung) definiert werden darf, sondern auch von der Potentialität her, d. h. von der realen Möglichkeit, sich zu einer bewussten und verantwortungsfähigen Existenz zu entwickeln. Bewusstsein und Verantwortungsfähigkeit bilden sich heraus, indem die Mutter oder andere Bezugspersonen das Baby, vielleicht sogar schon den vorgeburtlichen Embryo, so behandeln, „als ob“ er bereits bewusst und verantwortungsfähig wäre. „Die Voraussetzung und Bedingung dafür, dass menschliches Leben als bewusste und verantwortungsfähige Person erscheint, ist, anders gesagt, diese, dass andere mit ihm von Anfang an so umgehen, als sei es eine Person […]. Diese Potentialität im Sinne eines Angelegtseins ist entschieden mehr als die Potentialität im Sinne eines bloßen Offenseins für die Möglichkeit.“ 45 Jede menschliche Person beginnt ihre Existenz unentfaltet. Sie ist von Anfang an nicht „fertig und abgeschlossen“, sondern Person-im-Werden, in der Entwicklung. Man könnte wohl auch sagen: Person-in-Evolution. Denn sie evolviert ihr PersonSein erst allmählich aus dem Stadium des gänzlich unbewussten Existierens zum IchBewusstsein. Einen mehr oder minder gewichtigen Rest von Unbewusstem schleppt jeder Mensch zeitlebens mit sich herum. Menschliches Person-Sein entfaltet sich langsam zur Selbstbejahung und zur freien Selbstbestimmung. Nicht wenige Personen leiden vorübergehend oder auf Dauer unter einem erheblichen Mangel oder unter starker Eingeschränktheit dieser Merkmale der menschlichen Person. Es ist aber unzulässig, daraus die Folgerung zu ziehen: Wenn ein menschliches Wesen nicht in der Lage ist, die genannten Kriterien der Personalität wahrzunehmen und die Indikatoren der Personalität aktiv und aktuell zu vollziehen, dann ist ein solches Wesen auch keine Person. 46 Menschliches Leben ist definiert durch lebenslanges Werden und Verändern. Die Kriterien des Personalen (Ich-Bewusstsein, Selbstbejahung und freie Selbstbestimmung) sind ebenso Abstraktionen wie „der“ Mensch und „das“ Leben, und sie werden in der Konkretheit der wirklichen Lebensverläufe keineswegs einheitlich realisiert – teils mehr, teils weniger, teils nur in bescheidenen Ansätzen (die für Außenstehende gar nicht immer wahrnehmbar sein müssen), teils deutlich erkennbar. Es gibt im wirklichen Leben kaum je scharfe, für jedermann klar ersichtliche Einschnitte zwischen ihrem (Schon-)Vorhandensein und ihrem (Noch-) Nichtvorhandensein. Stets sind die Übergänge fließend, oder es handelt sich um Mischverhältnisse (ein Kriterium ist erkennbar, ein anderes nicht). Wenn also der Spezies „Mensch“ das Person-Sein zeitlebens grundsätzlich eignet, dürfen Glieder dieser Spezies, denen die Kriterien des Person-Seins aus irgendwelchen äußeren oder inneren Gründen ganz oder teilweise, auf Dauer oder vorübergehend abgehen, nicht anders behandelt werden als jene Individuen, die die Kriterien aktiviert haben und sie aktualisieren. Sonst wären allein schon ein Schlafender oder ein Ohn-

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mächtiger im Hinblick auf ihr Person-Sein anders zu behandeln als ein Wacher und seiner Sinne Mächtiger. Soziale Determinanten Die oben zitierten Definitionen des Menschseins als Person klammern den Aspekt der Gemeinschaft und der Geschichte aus. Nun geschieht aber die Entfaltung menschlicher Personalität nicht im Vakuum, sondern in einem raum-zeitlich gebundenen, geschichtlich wie gesellschaftlich bestimmten Kulturraum, der den Menschen prägt, den er aber auch seinerseits wieder mitgestaltet. Der Mensch ist ein „animal sociale“, ein Sozial-Wesen. Und er ist als solches hineingestellt in die gesamte Vergangenheit der Menschheit und ihrer Geschichte. Er trägt die Spuren der Evolution an seinem Leib. Und er ist erst recht geprägt von seiner Umwelt (Familie, Schule, Arbeitswelt, Milieu, Kultur, Kirche, Staat). Er findet sich vor in einem bestimmten Denk- und Sprachraum, der seinerseits wieder sein Denken und Sprechen maßgebend beeinflusst. Er ist hineingeboren in ein Volk mit einer bestimmten Geschichte, mit einem historischen Erbe, mit bestimmten gewachsenen oder auch über Nacht von außen aufgezwungenen gesellschaftlichen Strukturen. Zur Entfaltung seines Person-Seins bedarf er der Mitmenschen. Die Eltern, insbesondere die Mutter, sind sein „Schicksal“ und können sein gesamtes späteres Leben weitgehend vorprägen und vorbestimmen. Die politische Öffnung der christlichen Anthropologie stellt eine wichtige Zukunftsaufgabe dar, denn der Einfluss wirtschaftlicher Faktoren auf die Politik und damit auf die gesellschaftliche Struktur des Zusammenlebens ist unverkennbar und wird immer stärker. Es gibt „sündhafte Strukturen“, die Dasein und Verhalten des Menschen ganz wesentlich beeinflussen. Strukturveränderung bedeutet nicht selten Bewusstseinsveränderung. Und wie nachhaltig sich ein bestimmtes Gesellschaftssystem auf die gesamte menschliche Denk- und Verhaltensweise auswirken kann, zeigen die leidvollen Erfahrungen im Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten, deren Menschen lange Zeit in unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen lebten bzw. leben mussten. In der gegenwärtigen anthropologischen Diskussion treten auch biologische und (tiefen-) psychologische Determinanten ins Blickfeld. 47  In der Biologie haben Gestalt-, Ursachen- und Verhaltensforschung die soziale Bedingtheit des Menschen noch deutlicher ins Bewusstsein gerufen. Die Unspezialisiertheit der menschlichen Organe hat das Verständnis des Menschen als eines „unfertigen“ Wesens bestätigt: Der Mensch bestimmt sich als Individuum und im Kollektiv als weltoffen, weltgestaltend und kulturschaffend. Selektion, Mutation und Domestikation als Faktoren der „Menschwerdung“ üben einen entscheidenden Einfluss auf das Daseins-Bewusstsein des modernen Menschen aus. Nichts in der Welt kann ohne Konflikt, sprunghafte Änderungen, Anpassung und Absonderung vorankommen.  Die (Tiefen-)Psychologie hat den Blick auf das Unbewusste im Menschen gelenkt und der Frage nach Freiheit und Verantwortung, Schuld und Schuldfähigkeit neue Dimensionen eröffnet: Inwieweit sind freie, personale Entscheidungen wirklich „frei“? Wie stark bestimmt das Unterbewusste unser Bewusstsein – ohne dass wir es im Einzelnen immer merken?

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Offene Fragen Im November 2001 wurde gemeldet, dass in den USA zum ersten Mal ein menschlicher Embryo geklont, d. h. ungeschlechtlich „hergestellt“ wurde – nicht aus der Verschmelzung einer männlichen Samen- mit einer weiblichen Eizelle, sondern aus einer einzigen Hautzelle. Sie wurde in eine vom Erbgut befreite „entkernte“ Eizelle eingespritzt und zur Teilung angeregt. Der „Erfolg“ war zwar publizistisch mächtig übertrieben. Denn von den 71 Eizellen verbrauchten Eizellen schafften nur zwei ein zweimalige Teilung und eine einzige bildete gerade mal sechs Tochterzellen, bevor auch sie starb. 48 „Wir wissen“, so gibt ein Kommentator in der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“ angesichts dieser Experimente zu denken, „bei genauerem Hinsehen nicht, worüber wir mehr erschrecken: Über die moralische Bedenkenlosigkeit, mit der solche Experimente unternommen wurden – oder darüber, dass Gott in der Schöpfung Dinge angelegt hat, die nur noch nicht entdeckt sind. Nach den Schocks von Galilei, Darwin und Freud werden wir wieder einmal aus unserer Mitte gerissen, aus ‚sicheren‘ Ansichten über Kosmos, Leben, Bewusstsein. Wieder einmal erweist sich die fest gegründete Schöpfungsordnung als fließend, werdend, evolutiv. Nicht die Sexualität, diese tiefe Kraft unserer Seele und unseres Leibes, macht menschliche Reproduktivität aus. Jede Körperzelle ist potentiell neuer Mensch, neue Menschen! Das ist der eigentliche Schrecken, der gewohnte Seinsvorstellungen über den Haufen wirft – und damit auch das, was wir über die Grenzen zwischen Materie und Geist, unbelebtem und belebtem Leben zu wissen meinten. Wo, wann beginnt der Mensch? Wie tritt die Seele ins Dasein? Wie wird ein Individuum zum Individuum, eine Person zur Person, Einzigartiges zu Einzigartigem? Gott hat jeden Einzelnen bei seinem Namen gerufen. Das glauben wir. […] Aber welcher Einzelne ist der Einzelne vor Gott? Wo geschieht Schöpfung, Erlösung? Was erlöst die Milliarden verschmolzener Ei- und Samenzellen des Laufs der Menschheitsgeschichte, jene Embryonen des Anfangs, die gezeugt und geschaffen wurden, um vor der Zeit zu sterben, weil sie sich selbst auf natürliche Weise zu 75 Prozent nie in einer Gebärmutter einnisten konnten? Wir spüren: Die Maßlosigkeit des vermeintlich Unnatürlichen ist nur die Begleiterscheinung der Maßlosigkeit des vermeintlich Natürlichen. Je tiefer wir in die Wahrheiten eindringen, um so mehr weitet sich ‚die‘ Wahrheit übers bisher Einsichtige hinaus. Auch als gläubige Menschen müssen wir anders lernen, was wir über Schöpfung, Leben, Erlösung, Gott schon zu wissen meinten. Bekanntes löst sich auf, hinein ins neue Rätsel, Mysterium Gott. Glauben mit den Tatsachen, nicht gegen die Tatsachen. Wir stehen am Rande unseres Denkvermögens. Das macht es nicht nur schwerer, an Gott zu glauben. Noch schwerer wird es, nicht an ihn zu glauben.“ 49 Eine der Äußerungen der menschlichen Person wird nun näher zu bedenken sein. Es handelt sich um jene empirisch fassbare Fähigkeit des Menschen, die ihn eklatant vom Tier unterscheidet: die Fähigkeit, über seine Umwelt, seine Welt und sich selbst hinauszufragen und sich somit gleichsam selbst zu überschreiten, zu transzendieren. Das jenseitige Gegenüber dieser personalen und kollektiven Selbsttranszendenz nennen wir „Gott“. Der Mensch ist, zumindest nach christlicher Überzeugung, in der Lage, „Gott“ zu erfahren und zu erkennen.

III. Die Frage nach Gott 1.

Ein Blick in die Religionsgeschichte

a) Archaische Formen von „Religion“

Einigermaßen sichere Schlüsse auf das Vorhandensein religiöser Vorstellungen und Riten erlauben die Grabstätten. Lage der Skelettfunde und Grabbeigaben lassen auf das Bewusstsein von Sterblichkeit und auf die Vorstellung bzw. Hoffnung eines Weiterlebens nach dem Tod schließen. Noch deutlicher belegen unterirdische Kultstätten, die sich in der Zeit zwischen 30.000 und 80.000 v. Chr. finden lassen, dass es bei den Menschen dieser Zeit (Vor-)Formen von „Religion“ gegeben hat. Eines der aufregendsten und wichtigsten Zeugnisse dafür ist die unterirdische Höhle von Lascaux in Südwestfrankreich – etwa 30 Meter lang und 10 Meter breit. Die Wände sind mit Tiergestalten bemalt: Stiere, Kühe, Steinböcke, Hirsche, Pferde. Ganz im Hintergrund erscheint die schematische Zeichnung eines toten Mannes, der noch sein Jagdgerät bei sich hat und der von einem wütenden Büffel, dessen Eingeweide aus einer schrecklichen Wunde heraushängen, angegriffen worden ist. Um die Höhle vor dem Verfall durch Licht, Staub und Atemluft zu bewahren, ist sie heute nicht mehr allgemein zugänglich. Wer das Glück hat, sie betreten zu dürfen, wird von einem eigenartigen Schauer erfasst. Vor zehn-, zwanzig-, oder dreißigtausend Jahren versammelten sich hier Menschen, um für ihre Jagd Erfolg und Schutz zu erflehen von einer Macht, der sie offenbar mehr Kraft und mehr Vermögen zutrauten. Ihrer Gunst wollten sie sich versichern. Aus Angst und Furcht mag der Wunsch nach Überlegenheit, nach mehr Mächtigkeit erwachsen sein. Wer selbst voller Angst ist, möchte anderen Angst einjagen und so Macht über sie gewinnen. Solches Verlangen führt zu Zauberei, Magie, Beschwörung. Ob die Tiere vielleicht deswegen an die Wände gemalt wurden, um sie zu bannen, zu entmachten? Ob der tote Führer deswegen an der Wand „festgehalten“ wurde, damit sein Geist auf die Überlebenden keinen Einfluss mehr ausüben, damit er den neuen Führer nicht stören kann? Das Gefühl menschlicher Ohnmacht und Abhängigkeit, auf paradoxe Weise verbunden mit dem von magischer Kraft und Stärke, ist nahe verwandt mit dem religiösen Gefühl von Furcht und Faszination, von Ohnmacht und Anbetung. Aber was veranlasste die Menschen damals, auf langen, feuchten und glitschigen Wegen bei spärlicher Beleuchtung ins Innere der Erde zu kriechen? Flüchteten sie sich in den Mutterschoß der Erde, in den Urgrund allen Lebens, um aus ihm wieder wie neugeboren und mit neuen Lebenskräften gestärkt hervortreten zu können? Suchten sie die unheimliche Geborgenheit des Dunkels, um so dem Geheimnis ihres Lebens

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näher zu kommen? Glaubten sie, hier im Schweigen der Tiefe das Unaussprechliche ansprechen oder vielleicht sogar seinen Anruf vernehmen zu dürfen? In späterer Zeit fand dieses dunkle Tasten und Ahnen seinen Niederschlag in Mythen, die von Generation zu Generation mündlich weitergegeben und dabei ausgeschmückt, verändert, erweitert, aktualisiert wurden. In zahllosen Variationen erzählen sie von der Entstehung der Götter, der Welt und der Menschen. Mit dem Aufkommen der Schreibkunst konnten sie schließlich schriftlich fixiert werden. b) „Gott“ als Tremendum und Fascinosum

Schon in den frühesten Zeugnissen von Religion wird das Göttliche als Tremendum und Fascinosum erfahren, als ein zugleich erschreckendes und wohltuendes, abweisendes und anziehendes, Angst einflößendes und in Bann schlagendes Geheimnis. So stellt, wahrscheinlich auf uralten Traditionen fußend, Lao-tse (um 800 oder um 600 v. Chr.), der legendenumwobene Begründer des Taoismus, in seinem Buch Taoteh-king einen abstrakten Begriff „Tao“ als Urgrund der Welt dar. Tao ist zugleich geistig und ewig ruhend; es bringt alle Dinge der Welt, auch die Materie, hervor, ohne seine Ruhe aufgeben zu müssen. Zugleich besitzt Tao die höchsten ethischen Eigenschaften, die auch als Norm für das menschliche Handeln zu gelten haben. Das Tao soll durch Nachahmung, nicht durch Kultakte verehrt werden. Es arbeitet im stillen Wirken der Natur ohne Hast und Leidenschaft. Selbst Unrecht soll nach der Lehre des Lao-tse mit Güte vergolten werden. Das Tao ist auch die den Gegensätzen in der Natur, dem Yin und dem Yang, übergeordnete einigende Kraft. Manchen aufgeklärten Zeitgenossen ist es kaum noch bewusst, dass die archaische Denkweise auch im modernen Menschen keineswegs erstorben ist. Die Symbole verschwinden nie aus der psychischen Aktualität. Wohl aber können sie ihre Erscheinungsform ändern. Insbesondere psychisches Leiden kann Menschen auf jene Ursprungssituationen religiösen Denkens zurückwerfen. Psychosen und Neurosen lassen die verschütteten Tiefen der Seele aufbrechen; sie offenbaren nicht aufgearbeitete Konflikte, nicht integrierte Urerlebnisse. So gründet die Platzangst vielleicht letztlich in der Scheu, den Bannkreis eines heiligen Ortes zu betreten. Der Waschzwang könnte eine Urerinnerung an die Unreinheit und an die heilende und reinigende Kraft des Wassers darstellen. Der Wiederholungszwang mag ein Grundgesetz kultischer Riten, Beschwörungen und Zauberformeln enthüllen. Depressionen mögen die tiefe Verstörung über menschliches Unvermögen und Versagen, über Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein offenbaren. Der Fetischismus kann Ausdruck des Glaubens an eine Macht sein, die leblosen Gegenständen innewohnt und die man sich für ein bestimmtes Ziel dienstbar machen möchte. c)

Der Mensch – „unheilbar religiös“

Weil „Religion“ in den Tiefenschichten der menschlichen Psyche verankert ist, erklärt sich, dass auch mit zunehmender Bewusstwerdung dieses Phänomen nicht verschwindet, dass auch intensive atheistische Aufklärungsarbeit die Religiosität des Menschen

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nicht auslöschen kann. Der Mensch ist „unheilbar religiös“, mögen die Ausdrucksformen wechseln, mag sich Religion in Verzerrungen und Entstellungen, in vielerlei Variationen und Erscheinungsformen äußern, mag sie über weite Zeitläufe verschüttet und wie tot erscheinen. Ein langer und verschlungener Weg mit vielen Abwegen, Irrwegen und Sackgassen verläuft von den Uranfängen der Religion bis hinein in unsere Gegenwart. Das darf nicht verwundern. Denn woher soll der Mensch das Wissen nehmen, wie er in rechter Weise jene geheimnisvolle Macht ansprechen soll, die ihn ins Leben ruft, die ihn durchs Leben trägt, die ihn führt und beschützt, ihn aber auch bedroht und ängstigt und die ihn schließlich wieder in den Schoß der Erde zurücksinken lässt? Ist es eine einzige Macht oder sind es viele, vielleicht gute und böse Mächte? Wo wird dieses Geheimnis in besonderer Weise erfahrbar, wo kann man ihm begegnen? Wie kann man dieser Macht oder diesen Mächten Wünsche und Sorgen, Hoffnungen und Befürchtungen, Dank und Bitte vortragen? Wie soll das Unsagbare benannt werden? Hat es einen Namen, oder ist es vielleicht namenlos?

2. Kann man die Existenz Gottes beweisen? Die tastende, dunkel ahnende Gottsuche der Vorzeit und die Gotteserfahrungen der Nomaden und Sesshaften im Volk Israel, auf die noch näher einzugehen ist, wollten spätere Generationen in anderen Kulturräumen nicht einfach übernehmen. So bemühten sie sich, kompetente neue und zeitgemäße Wege der Gottsuche und Gottbegegnung zu finden. Vor allem aber musste man versuchen, den eigenen Glauben denkerisch zu rechtfertigen und zu begründen. „Fides quaerens intellectum“ – der Glaube sucht den Verstand –, so lautete das Bemühen frühchristlicher und mittelalterlicher Denker. a) Anselm von Canterbury

Einer von ihnen hat auf das gesamte abendländische Bemühen, die Gottesfrage denkerisch zu bewältigen, nachhaltigen Einfluss ausgeübt: Anselm von Canterbury (1033– 1109). Er stammte aus Aosta/Piemont und wurde von König Wilhelm II. von England 1093 zum Erzbischof von Canterbury berufen. Sein „ontologischer Gottesbeweis“ (diese Bezeichnung stammt von Immanuel Kant) lautet: „Herr, der du dem Glauben Einsicht verleihst, gib mir also die Einsicht, so weit du sie mir schenken kannst, dass du bist, wie wir glauben, und dass du so bist, wie wir dich glauben. Wir glauben aber, dass du das Größte bist, was gedacht werden kann. Oder sollte es etwa kein Wesen dieser Art geben, da der Tor in seinem Herzen spricht, es gibt keinen Gott? Aber gewiss ist, dass auch der Tor beim Anhören dieser meiner Worte sich unter dem Größten, was gedacht werden kann, etwas denkt, wenn er es hört. Und das, was er denkt, ist in seinem Intellekt auch dann, wenn er nicht einsieht, dass es existiert. Denn freilich ist es etwas anderes, dass etwas im Intellekt vorhanden sei, und etwas anderes die Einsicht, dass dasselbe in Wirklichkeit existiere. Denn wenn ein Maler überlegt, was er tun will, so

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hat er das Bild im Intellekt, aber er weiß auch, dass das Bild noch nicht existiert, das er noch nicht gemalt hat. Nachdem er es aber gemalt hat, hat er es im Intellekt und weiß auch, dass das Bild existiert, welches er gemalt hat. Auch der Tor also ist genötigt einzugestehen, dass wenigstens in seinem Intellekt das Größte, was gedacht werden kann, vorhanden ist; denn wenn er dieses hört, so versteht er es; was aber verstanden wird, ist im Intellekt vorhanden. Nun kann aber sicherlich das Größte, das überhaupt denkbar ist, nicht allein im Intellekt sein (non potest esse in intellectu solo); denn wenn es allein im Intellekt wäre, so könnte noch hinzugedacht werden, dass es auch in Wirklichkeit existierte; das wäre noch größer. Wenn also das Größte, das denkbar ist, im Intellekt allein existiert, so wäre noch etwas Größeres denkbar als das Größte, das denkbar ist. Das ist aber sicher nicht möglich. Also existiert zweifellos das Größte, das gedacht werden kann, sowohl im Intellekt als auch in Wirklichkeit (…) (et in intellectu et in re). Es existiert nun so wirklich, dass es als nichtseiend gar nicht gedacht werden kann. Denn es ist ein Sein denkbar, das als Nichtsein undenkbar ist; und das ist größer als das, was man als Nichtsein denken kann. Wenn darum das Größte, das denkbar ist, als nichtseiend gedacht werden könnte, dann wäre wiederum das größte Denkbare nicht das Größte, das man denken kann; und das kann nicht sein. So gibt es also wirklich etwas so Großes, dass nichts Größeres gedacht werden kann (quo majus cogitari non potest), ja, dass es überhaupt nicht als Nichtsein gedacht werden kann: und das bist du, Herr unser Gott!“ (Proslogion, Kap. 2 und 3). Um Form und Intention des „Beweises“ verstehen und würdigen zu können, ist zu beachten:  Anselm leitet seine philosophischen Darlegungen mit einem Gebet zu Gott ein, in dem er um Einsicht bittet. Gott ist für ihn selbst gewiss. Was ihm aber bereits feste Glaubensüberzeugung ist, sucht er unabhängig davon durch den Verstand nachzuweisen. Es handelt sich also nicht um einen philosophischen Kurzschluss, der das Vorausgesetzte nachträglich erst beweisen möchte. Anselm geht es vielmehr darum, ein Argument für das Dasein Gottes im rein philosophischen Bereich zu erarbeiten, das auch für den „Toren“, d. h. für den Ungläubigen, eindrucksvoll ist.  Anselm will einen Beweis führen, der einerseits so wenig wie möglich voraussetzt. Anderseits soll aus einem einzigen Beweis eine umfassende Gotteslehre abgeleitet werden können.  Der (nach Anselms Ansicht) beweiskräftige Gedanke lautet: „Gott ist etwas, zu dem nichts Größeres denkbar ist“ (quo majus cogitari non potest). Immerhin spricht für die philosophische Sauberkeit seiner Position, dass Anselm sagt: „Nichts Größeres denkbar“, nicht aber: „Nichts Größeres ist“.  Erst danach setzt Anselm als typisch platonisch-augustinischer Realist und als gläubiger Philosoph zum Überschritt an vom Denken zur Wirklichkeit, vom Begriff Gottes im menschlichen Intellekt zur Existenz Gottes als vom menschlichen Denken unabhängiger Wirklichkeit. Gott ist das Größte, das gedacht werden kann im Intellekt wie auch in der Wirklichkeit (et in intellectu et in re). Anselm wurde und wird zu Recht der Vorwurf gemacht, dass auch aus dem höchsten und größten denkbaren Begriff nicht dessen Wirklichkeit folgen muss. Dennoch geht vom „ontologischen Gottesbeweis“ eine gewisse Faszination aus. Hans Küng fragt:

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„Soll es nur Flüchtiges ohne alle Notwendigkeit geben? […] Macht nicht der Gedanke eines Wesens, das größer gar nicht gedacht werden kann, das in aller Flüchtigkeit das schlechthin Notwendige ist, deutlich, dass es hier um die Erkenntnis eines ganz Anderen geht?“ 1 b) Thomas von Aquin

Der älteste Weg einer natürlichen Gotteserkenntnis ist wohl der über den Kosmos. Bereits die frühen griechischen Naturphilosophen schließen von der Harmonie und der Ordnung der Welt auf das welttranszendente Prinzip eines denkenden, vernünftigen und allmächtigen, aber unpersönlich gedachten Weltgeistes. Nicht durch Zufall, sondern durch ein Weltgesetz ist aus dem einen Urgrund die Vielfalt des Daseins entstanden: „Anfang und Ursprung aller Dinge ist das Apeiron (das Unbegrenzte). Das Apeiron ist ohne Alter. Das Apeiron ist ohne Tod und ohne Verderben“ (Anaximander, ca. 611–545 v. Chr.). Die abendländische Theologie hat diese Gedankengänge aufgenommen. Bekannt sind die „Fünf Wege“ des Thomas von Aquin (1215–1274), die er in Anlehnung an den griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.) formuliert hat. Alle gehen von der Wahrnehmung dieser Welt aus, leiten davon einen allgemeinen Grundsatz ab und folgern im Überschreiten die Existenz Gottes.  Der erste Weg geht von der Bewegung aus: Alles Bewegte wird von einem anderen bewegt. Am Anfang aller Bewegung steht ein erster unbewegter Beweger.  Der zweite Weg geht von der erfahrbaren Ursachenverknüpfung aus: Alles, was geschieht, hat eine Ursache. Am Anfang steht eine Ursache, die selbst nicht mehr verursacht ist.  Der dritte Weg geht aus vom Unterschied des bloß möglichen zum notwendigen Sein: Allem Erfahrbaren kommt das Sein nicht notwendig zu; das setzt ein Notwendiges als Anfang voraus.  Der vierte Weg geht aus von den Gradunterschieden in den Dingen: Alle besitzen eine nur teilweise Vollkommenheit. Erst bei weiterem Zurückgehen stößt man auf das vollkommene Ganze.  Der fünfte Weg geht von der Zielgerichtetheit der Dinge aus: Alle Ordnung muss einen letzten Grund haben. 2 Man hat Thomas wegen der Form dieser „Wege“ vorgeworfen, er sei ein Intellektualist, der Gott vor allem mit dem Verstand, weniger aber mit dem Herzen suche. Das mag hinsichtlich der reichlich formalen Konstruktionsweise seiner „Wege“ zutreffen. Freilich ist zu bedenken, dass Thomas sich zu diesem Aufweis Gottes aus der Vernunft genötigt sah durch die Herausforderung der zu seiner Zeit stark aufkommenden arabischen Philosophie griechischer Prägung (Averroes von Cordoba, 1126–1198). c)

Immanuel Kant

Noch ein dritter großer Denker sei hier genannt, der sich darum bemüht hat, das Dasein Gottes zu „demonstrieren.“ 3 Immanuel Kant, der Königsberger Philosoph

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(1724–1804), lehnt allerdings eine „Beweisführung“ im Stile des Anselm oder des Thomas von Aquin ab: „Alle unsere Schlüsse, die uns über das Feld möglicher Erfahrung hinausführen wollen“, seien „trügerisch und grundlos.“ 4 Gottesbeweise sind nicht möglich. „Gott“ ist für Kant daher kein „Postulat“ der reinen, sondern der „praktischen“ Vernunft (neben der menschlichen Freiheit und der Unsterblichkeit der Seele). Postulate sind für Kant nicht Ergebnisse einer zwingenden Beweisführung. Aber sie sind auch keine willkürlichen Setzungen. Vielmehr handelt es sich um eine Art von notwendigen Bedürfnissen der auf die Praxis des Handelns ausgerichteten Vernunft, auf die er seine gesamte Ethik aufbaut. Und die nötigt ihn zu dem Bekenntnis: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und immer zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ 5 d) Würdigung und Kritik der „Gottesbeweise“

Hans Küng, der in seinem monumentalen Werk „Existiert Gott?“ die „Gottesbeweise“ ausführlich referiert und würdigt, kommt zu folgendem Ergebnis:  „Gott kann nicht wie ein uns vorgegebenes Gegenständliches erkannt werden. Es kann nicht allgemein überzeugend bewiesen werden, dass Gott existiert. Es kann aber noch weniger allgemein überzeugend bewiesen werden, dass Gott nicht existiert. Für die reine Vernunft, die nach Beweisen verlangt, scheint Gott nicht mehr als eine Idee ohne Realität, ein Gedanke ohne Wirklichkeit zu sein.  Unmöglich erscheint also eine deduktive Ableitung Gottes aus dieser erfahrenen Wirklichkeit von Welt und Mensch durch die theoretische Vernunft, um seine Wirklichkeit in logischen Schlussfolgerungen zu demonstrieren.  Nicht unmöglich erscheint hingegen eine induktive Anleitung, welche die einem jeden zugängliche Erfahrung der fraglichen Wirklichkeit auszuleuchten versucht, um so – gleichsam auf der Linie der praktischen Vernunft, des ‚Sollens‘, besser des ‚ganzen Menschen‘ – den denkenden und handelnden Menschen vor eine rational verantwortbare Entscheidung zu stellen, die über die reine Vernunft hinaus den ganzen Menschen beansprucht. Also – so soll der letzte Satz erläutert werden – keine rein theoretische, sondern eine durchaus praktische, ‚existentielle‘, ganzheitliche Aufgabe der Vernunft, des vernünftigen Menschen: eine die konkrete Erfahrung der Wirklichkeit begleitende, aufschlüsselnde, ausleuchtende, nach-denkliche Reflexion mit praktischer Absicht.“ 6

3. „Gotteskrise“ in den westlichen Industrienationen Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschwört in seiner Präambel die Verantwortung „vor Gott und den Menschen“. Aber de facto ist Gott zu einem Fremdling geworden. Längst hat sich Ernst Blochs Prophetie von einem „Atheismus im Christentum“ 7 (und einem Christentum im Atheismus) bewahrheitet. Selbst unter

„Gotteskrise“ in den westlichen Industrienationen

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den Kirchenmitgliedern verwischen sich die christlich-biblischen Gottesvorstellungen, verdunsten sie bis zur Unkenntlichkeit. Im Jahr 1994 warf der Theologe Johann Baptist Metz in einem „Versuch zur ‚geistigen Situation der Zeit‘“ die Frage auf, ob wir uns nicht in einer tiefen „Gotteskrise“ befinden.8 Er vertrat die Ansicht, dass es zwar auch eine Kirchenkrise gäbe, entscheidender sei aber die Gotteskrise. Wenig später kam der Sozialwissenschaftler Michael Ebertz zu dem gleichen Ergebnis: Alle einschlägigen sozialwissenschaftlichen Erhebungen belegen „eine Beschleunigung der Erosion des Gottesbegriffs als einer Grundkonsensformel in der Bevölkerung, eine Pluralisierung der Gottesbilder und vor allem, dass spezifisch christentümliche Gottesvorstellungen immer weniger einen gesellschaftlichen Grundkonsens abgeben können, da sie in Ostdeutschland massivst – mit Zweidrittelmehrheit – abgelehnt, aber auch in Westdeutschland nur noch von einer Minderheit mit Zustimmung akzeptiert werden.“ 9 Und nicht zuletzt betonte auch der Mainzer Kardinal Karl Lehmann bei einem Vortrag in Leipzig: „Bald nach dem Konzil wurde deutlich, dass die Gottesfrage in eine grundlegende Krise kam. Das Konzil konnte noch relativ beruhigt von Gott reden und das Bekenntnis an ihn voraussetzen. Inzwischen sind alle Selbstverständlichkeiten, wenn sie es je waren, in diesem Bereich Vergangenheit. Eine schleichende Säkularisierung, die sich steigert, aber keineswegs unumkehrbar sein muss, hat auch radikal und tief das religiöse Bewusstsein erfasst. Alles kommt darauf an, stets wieder von neuem das Antlitz des lebendigen Gottes zu suchen. Darum steht eine Erneuerung der Frage nach Gott an erster Stelle aller Aktivitäten.“ 10 Drei gewichtige Aussagen, die alle das gleiche Problem benennen. a) Vielfältige Ursachen

Die Ursachen für diese „Gotteskrise“ sind vielfältig. Sie kommen von „außen“ und von „innen“.





Philosophie 1851 hatte Ludwig Feuerbach (1804–1872) die These aufgestellt, dass die Gottesvorstellung entstanden sei aus dem Wunschdenken des Menschen: Er stelle sich Gott als ein Wesen vor, in dem er alle Mängel, an denen er selbst leidet, aufgehoben sieht, das Gegenteil dieser Mängel projiziere er in die Vorstellung Gottes: „Was er selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen Göttern als seiend vor; […] ein Gott ist der in der Phantasie befriedigte Glückseligkeitstrieb des Menschen. Hätte der Mensch keine Wünsche, so hätte er keine Religion, keine Götter.“ 11 Oder: „Was der Mensch nicht wirklich ist, aber zu sein wünscht, das macht er zu seinem Gotte oder das ist sein Gott.“ Eine ähnliche These stellte 50 Jahre später Sigmund Freud (1856–1939) auf, indem er die Ansicht vertritt, Religion sei nichts anderes als die Projektion innerer seelischer Symbole und Gestalten auf die äußere Welt. 12 Drei Jahre danach beschreibt er in einer skizzenhaft angelegten, kurzen Studie die Religion als „universelle Zwangsneurose“. 13 Und noch später meint er in einer Abhandlung, dass „der persönliche Gott psychologisch nichts anderes ist als ein erhöhter Vater. (Das) führt

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uns täglich vor Augen, wie jugendliche Personen den religiösen Glauben verlieren, sobald die Autorität des Vaters bei ihnen zusammenbricht.“ 14 Naturwissenschaften Zuerst sind wohl die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften zu nennen. Zeitgemäßer Gottesglaube kann an ihnen nicht einfach vorbeigehen.



Hirnforschung: Es ist eine legitime Hypothese, Hirnleistungen als Basis unseres Fühlens, Denkens und Handelns zu bezeichnen. Mit den entsprechenden Apparaten lässt sich feststellen, in welchen Regionen des Gehirns sich religiöse Erlebnisse vornehmlich abspielen. – So konnte der kanadische Neurobiologe Michael A. Persinger 15 durch Stimulationen des Schläfenlappens intensive religiöse Erlebnisse erzeugen. Die Probanden erlebten bei gleicher Stimulation ganz Unterschiedliches. So hatten die einen „Gotteserscheinungen“, andere die Erscheinung von „Außerirdischen“ durch „Ufos“. Er deutete dies als Beweis dafür, dass alle Inhalte religiöser Erlebnisse nur „Hirnprodukte“ und Illusionen seien. Persinger ging von der „Projektionstheorie“ der psychologischen Religionskritik aus, wonach Menschen nur deshalb an einen allwissenden und allmächtigen Gott glaubten, weil sie als Säuglinge und Kleinkinder ihre Mütter als allwissend und allmächtig erlebt hätten. Die Erlebnisse wurden offenbar mit Inhalten gefüllt, die bereits im Gehirn gespeichert waren und die kulturell bedingt sind. Würde man solche Stimulationen an Gehirnen vornehmen, die „leer“ sind, in denen also noch keine kulturell vermittelten Gedächtnisinhalte vorhanden sind, könnten die Erlebnisse nicht „gefüllt“ und gedeutet werden. Wenn die „Existenz“ Gottes von vornherein geleugnet wird, ist es nur allzu verständlich, dass man die Ergebnisse so deuten muss, wie Persinger es tut. – Andere Neurophysiologen mit anderem weltanschaulichen Hintergrund deuten ihre Experimente gänzlich anders und vertreten die Meinung, dass das Gehirn zur Wahrnehmung transempirischer Wirklichkeiten fähig ist. So sind der Neuroradiologe und Religionswissenschaftler Andrew Newberg und der Psychiater Eugene D’Aquili 16 der Ansicht, dass im Gehirn eine „transzendente Wirklichkeit“ wahrgenommen werde. Im Gehirn seien „Anlagen“ entwickelt, um transzendente Wirklichkeiten wahrzunehmen. Die Religion habe mithin eine neurophysiologische „Basis“, die sicher stelle, dass es mystisch-religiöse Erfahrungen gibt, so lange es Lebewesen mit derartigen Hirnstrukturen gibt. Die „Gehirnmaschinerie“ sei zugleich eine „Transzendenzmaschinerie“, die ein „Fenster“ zur transzendenten Wirklichkeit, ja zum „Göttlichen“ eröffne. Der Neurologe Vilayanur S. Ramachandran 17 will sogar ein eigenes „Gottesmodul“ im Gehirn entdeckt haben. Er „begründete“ diese kühne These mit der Beobachtung, dass Menschen mit epileptischen Anfällen, die im Bereich des Schläfenlappens lokalisiert werden können, besonders häufig „spirituelle Visionen“ haben. Als Fazit bleibt die Tatsache, dass sich zwar „neuronale Korrelationen“

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zu bestimmten Vorstellungen und Vorgängen im Gehirn finden lassen, dass damit aber (zumindest bis jetzt) noch keine Erklärung für deren grundsätzliches Zustandekommen geliefert wird. Nach wie vor bleibt rätselhaft, wie ein messbarer materieller Vorgang in den Gehirnregionen (Schaltungen, Vernetzungen, funktionelle Verknüpfungen) in einer ganz anderen Dimension als (Transzendenz-)Bewusstsein erlebt werden kann. Evolution: Die Vorstellung, dass die Naturgesetze jederzeit durch ein Prinzip, das außerhalb der Welt liege, aus den Angeln gehoben werden könnten, ist für das moderne Denken nicht (mehr) akzeptabel. Kann man sich Gott noch vorstellen als ein jenseitiges Wesen, das nach Belieben in die Welt eingreift oder eben auch nicht? Mensch und Kosmos sind keine Handpuppen in einem göttlichen Marionettentheater. Außerdem wäre ein solcher Gott ein Willkürgott

Industrielle Welt In einer industriellen Welt können Menschen einen ländlich-bäuerlich geprägten Gott, wie er sich in der Bibel darstellt, nicht mehr erleben. Mit einem aufgeklärten Bewusstsein, das geprägt ist von elektronischen Medien aller Art, von Auto und Flugzeug, von Fast Food und Massentierhaltung, kann man nicht mehr spontan in archaische Mythen und Lebensweisen eintauchen. Räumlich und zeitlich weit entfernt von nomadischen Völkern, kann der urbane Mensch keinen Wüstengott erfahren. An einen geschichtsmäßigen Gott, von dem die Autoren der biblischen Schriften erzählen, lässt sich angesichts einer willkürlichen, oft brutalen und menschenverachtenden Weltgeschichte nicht mehr glauben. Dazu braucht es einer Übersetzungsarbeit und Transferleistung, die von den schlicht Glaubenden nicht erbracht werden kann. Doch auch die Kirchenführer sind dazu kaum in der Lage, zwischen damals und heute eine tragfähige und gangbare Brücke zu bauen. Gängige christliche Verkündigung Nicht zuletzt kommen noch Probleme hinzu, die aus der Art und Weise der kirchlichen Gottesverkündigung und dem „christentümlichen“ Gottesbild selbst erwachsen. Nur zwei seien hier besonders hervorgehoben. Die Rede vom „allmächtigen“ Herrscher-Gott Viele Gläubige stellten (und stellen) sich Gott vor als absoluten Herrscher, „der alles so herrlich regieret.“ Der alles kann, was er will, und der alles regiert und beherrscht, wie es ihm gefällt; Gott ist „allmächtig“. Diese göttliche „Eigenschaft“ wird bezeichnenderweise als einzige im Glaubensbekenntnis erwähnt, und das gleich zweimal. Es hat den Anschein, als ob das Wichtigste von dem, was die Bibel von Gott zu erzählen weiß, seine (All-)Macht wäre. Das mag vielleicht für manche Abschnitte der Schrift zutreffen – etwa für die Erzählungen von der machtvollen Errettung des Volkes aus ägyptischer Knechtschaft oder für die Bezeugung der Hoffnung auf den endgültigen Sieg Gottes über alle widergöttlichen Mächte in der Offenbarung des Johannes. 18 Dieses herrschaftliche Gottesbild trägt unverkennbar Züge, die frühere Generationen ihrem eigenen Erfahrungsbereich über den Umgang mit Kaisern und Königen entlehnt haben.

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Heute, unter anderen politischen Umständen und in einer anderen, demokratischen Gesellschaftsordnung ist diese Gottesvorstellung im Verschwinden begriffen. Solange es noch Könige und Kaiser, Despoten und Monarchen jeder Art gab, forderten diese Herren eine Projektion ihres Herrschergebarens auf Gott geradezu heraus. Wenn Menschen einen (absolutistischen) Monarchen erlebten, der ihr Leben bis ins Detail bestimmte und nahezu uneingeschränkte Verfügungsmacht, ja sogar Leibeigenschaft über sie besaß, so konnten sie sich den obersten aller Herren, den Herr der Herren, nur unter jenem Bild vorstellen, nun aber nochmals gesteigert als „allmächtiger“ Herrscher. Ängste und Hoffnungen, Befürchtungen und Erwartungen, die Menschen gegenüber weltlichen Alleinherrschern hegten, übertrugen sie auf den „Allerhöchsten“. Geschichtskundige Menschen erinnern sich noch, dass in einer noch gar nicht so lange zurückliegenden Vergangenheit manche weltlichen und geistlichen Herrscher ihre Stellung als „gott-gegeben“ betrachteten, dass sie sich unter dem besonderen Schutz der (göttlichen) „Vorsehung“ wähnten. Gottesbild und Herrscherbild samt den daraus abgeleiteten Praktiken beeinflussten und verstärkten sich gegenseitig. Der Psychologe von Gagern äußert den „Verdacht, dass das Pochen auf die Allmacht Gottes, wie wir das so gelernt haben, an Seinem Wesen vorbeidenkt. Was wäre denn, wenn wir verzichten würden auf diese Hilfskonstruktionen eines Allmächtigen? Ist Gott nicht der ganz Einfache? Ganz einfachen, schlichten Herzen zugänglich? Er ist in allem Guten gegenwärtig und erfahrbar. Ist denn das nicht richtig, wenn wir singen: ‚Wo die Güte, wo die Liebe, da ist Gott‘ ? Ja, da geschieht Gott. Da kann Er sein und wirken. Wenn wir gut sind, dann machen wir Raum für Ihn. In uns.“ 19 Die christlichen Kirchen sollten sich wieder mehr auf die biblische Rede von Gott besinnen und auf die „Eigenschaften“, die ihm dort zugeschrieben werden. Gott wird im Alten wie im Neuen Testament mit einem gütigen Vater verglichen (Ps 106,1; 107,1; 118,29; Jer 33,11 / Mt 20,15; Lk 6,35). Die Menschen werden aufgerufen, barmherzig zu sein, wie auch Gott barmherzig ist (Ex 34,6 / Lk 6,36). Die Liebe Gottes zu seinem Volk wird erwähnt (Dtn 33,3 / 1 Joh 4,8). Seine Gerechtigkeit wird gepriesen (Ps 9,9; Tob 3,2 / Joh 17,25). Seine Weisheit wird bewundert (Ps 104,24 / Röm 16,27). Warum finden diese biblischen Attribute Gottes in der Liturgie und in kirchlichen Dokumenten keine oder nur wenig Verwendung? Warum werden sie nicht ins Credo aufgenommen? Einen Versuch, den Begriff „Allmacht“ zu rechtfertigen bzw. neu zu justieren, macht der Bonner Theologe Hans-Joachim Höhn. Freilich unterscheidet auch er zuerst Gott und Welt strikt voneinander. „Wir müssen Gott mit einer Welt zusammen denken, die ohne Gott gedacht werden will“, lautet seine paradox anmutende Schlussfolgerung. Das kann geschehen, wenn man der Frage nachgeht: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts? Dass es die Welt und den Menschen gibt, ist nicht einfach selbstverständlich. Das Nichts kann das Dasein nicht begründen – „aus nichts wird nichts“. Darum muss es ein Prinzip geben, das den Unterschied von Sein und Nichts zugunsten des Daseins begründet: Gott. Denn die Welt selbst kann wegen ihrer grundsätzlichen Endlichkeit nicht der Grund für ihr eigenes Dasein sein. Höhn glaubt, damit die „Allmacht“ Gottes retten zu können: Indem Gott zwischen Sein und Nichts zugunsten des Daseins unterscheidet und die Welt in ihre Freiheit freigibt, zeigt sich seine

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Allmacht, so Höhn. Ansonsten aber kann – und muss – die Welt völlig aus sich selbst heraus verstanden werden. Es geht in einem aufgeklärten und zeitgemäßen Glauben darum, Gott um seiner selbst willen anzuerkennen – ohne jede andere Notwendigkeit. 20 Die Rede vom Schöpfer-Gott Weniger neurotisierend, sondern wohl eher die intellektuelle Redlichkeit in Frage stellend ist das Bild des kosmologischen Schöpfer-Gottes. Sein Zustandekommen hängt mit unserem Naturerleben zusammen. Die Natur gibt dem Menschen Rätsel auf, die er nicht zu lösen vermag. In Naturkatastrophen, aber auch in weniger spektakulären Ereignissen (Missernten, Gewitter, Frost, Erdbeben, Überflutungen u. a.) erfährt der Mensch sein Unvermögen trotz aller technischen Fortschritte. Um sich die Natur wenigstens einigermaßen griffig zu machen, begannen die Menschen in früheren Zeiten, menschliche Eigenschaften in sie hineinzuprojizieren, die sie aber gleichzeitig so überhöhten, dass der Natur übermenschliche (= göttliche) Kräfte zukamen. Sigmund Freud schildert diesen Vorgang und die daraus resultierenden Konsequenzen: „An die unpersönlichen Kräfte und Schicksale kann man nicht heran, sie bleiben ewig fremd. Aber wenn in den Elementen Leidenschaften toben wie in der eigenen Seele, wenn selbst der Tod nichts Spontanes ist, sondern die Gewalttat eines bösen Willens, wenn man überall in der Natur Wesen um sich hat, wie man sie aus der eigenen Gesellschaft kennt, dann atmet man auf, fühlt sich heimisch im Unheimlichen, kann seine sinnlose Angst psychisch bearbeiten. Man ist vielleicht noch wehrlos, aber nicht mehr hilflos gelähmt, man kann zum mindesten reagieren, ja vielleicht ist man nicht einmal wehrlos, man kann gegen diese gewalttätigen Übermenschen draußen die selben Mittel in Anwendung bringen, deren man sich in seiner Gesellschaft bedient, kann versuchen, sie zu beschwören, beschwichtigen, bestechen, raubt ihnen durch solche Beeinflussung einen Teil ihrer Macht … (Allerdings) macht der Mensch die Naturkräfte nicht einfach zu Menschen, mit denen er wie mit seinesgleichen verkehren kann, das würde auch dem überwältigenden Eindruck nicht gerecht werden, den er von ihnen hat, sondern er gibt ihnen Vatercharakter, macht sie zu Göttern.“ 21 In unseren Breiten kommt heute sicher niemand mehr auf die Idee, die Natur zu vergöttlichen. Die moderne Naturwissenschaft hat den Menschen heute ein anderes Verhältnis zur Natur gegeben. Die fortschreitende Technisierung hat manche Probleme bewältigt und sie befähigt, die Naturkräfte zu zähmen und sich dienstbar zu machen. Die kosmologische Gottesvorstellung verliert innerhalb der christlichen Kirchen mehr und mehr an Bedeutung – wenigstens theoretisch. Denn noch immer halten sich, von den Kirchen durchaus gefördert, Reste von Brauchtümern, die auf diesem Gottesbild beruhen. Karl Rahner, einer der bedeutendsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts (1903–1983), sagte in seinem letzten berühmten Vortrag über die „Erfahrungen eines katholischen Theologen“ wenige Wochen vor seinem Tod: „Wir reden von Gott, von seiner Existenz, von seiner Persönlichkeit, von drei Personen in Gott, von seiner Freiheit, seinem uns verpflichtenden Willen und so fort. […] Aber bei diesen Reden vergessen wir dann meistens, dass eine solche Zusage immer nur

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dann einigermaßen legitim von Gott ausgesagt werden kann, wenn wir sie gleichzeitig auch immer wieder zurücknehmen, die unheimliche Schwebe zwischen Ja und Nein als den wahren und einzigen festen Punkt unseres Erkennens aushalten und so unsere Aussagen immer auch hineinfallen lassen in die schweigende Unbegreiflichkeit Gottes selber.“ 22 b) Umfrageergebnisse

Forsa und Emnid In scheinbarem Widerspruch zu dieser diagnostizierten „Gotteskrise“ zeigen Umfrageergebnisse, dass Deutschland offensichtlich doch kein gänzlich gott-loses Land ist. Zwei Drittel der Deutschen sind angeblich „mittelmäßig“, ziemlich“ oder „sehr“ davon überzeugt, dass es ein göttliches Wesen gibt. 23 Gerade einmal 20 Prozent sagen, dass sie gar nicht an Gott oder etwas Göttliches glauben. Zwischen den Altersgruppen lassen sich keine wesentlichen Unterschiede feststellen: Junge sind nicht weniger gottgläubig als die Älteren. Als „ungläubigste“ Altersgruppe zeigen sich die 40- bis 50-Jährigen. Dort sagt jeder Vierte, dass er gar nicht an Gott glaube. Allerdings zeigen sich große Diskrepanzen im Antwortverhalten zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland. Nur ein Zehntel der Westdeutschen sagen von sich, dass sie nicht an ein transzendentes Wesen glauben. In Ostdeutschland beantworten rund 65 Prozent die Frage nach ihrem Glauben an Gott mit „Nein“, 31 % mit „Ja“ und 4 % haben keine Antwort. 24 Werden die konfessionellen Orientierungen in den Blick genommen, so fällt auf, dass 94 Prozent der Katholiken und 90 Prozent der Protestanten zumindest von der Existenz Gottes überzeugt sind. Interessant ist, dass zwar 54 Prozent der Konfessionslosen gar nicht an die Existenz eines Gottes glauben, jeder Vierte das aber für mittelmäßig bis sehr wahrscheinlich hält. Aufschlussreich ist der Blick auf die religiösen Gefühle. Was empfinden die sich als religiös bezeichnenden Menschen, wenn sie an Gott denken? Vorherrschend ist ein positives Gottesbild: Dankbarkeit, Hoffnung, Liebe und Freude sind die am meisten genannten Begriffe. Dagegen werden am seltensten die Begriffe Zorn, Befreiung von einer bösen Macht, Verzweiflung oder Angst mit Gott verbunden. Rund die Hälfte der Deutschen glauben, dass Gott oder das Göttliche ihnen etwas sagen oder zeigen will oder in das persönliche Leben eingreift. Und etwa ebenso viele sind davon überzeugt, dass die Menschen zu Gott sprechen können; nur 16 Prozent teilen diese Ansicht überhaupt nicht. Uneinheitlich sind die Antworten im Hinblick auf einen als Person verstandenen Gott, der sich mit jedem Menschen individuell befasst. Gerade einmal 37 Prozent stimmen dieser Aussage zu. 41 Prozent halten das für unwahrscheinlich, und jeder Fünfte hat dazu keine klare Meinung. Klaus-Peter Jörns Aufschlussreicher, weil differenzierender sind die Ergebnisse einer schon etwas länger zurück liegenden Untersuchung von Klaus-Peter Jörns über „die neuen Gesichter Gottes“. 25 Jörns unterscheidet in jenem Teil der Umfrage, der sich auf die Beziehungen zur

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Transzendenz („Gott“) bezieht, vier Typen von Glauben: Gottgläubige, Transzendenzgläubige (also Gläubige an ein nicht durch einen persönlichen Gott bestimmtes „Jenseits“), Unentschiedene, Atheisten. 39 Prozent der Befragten (von fast 2000) glauben an einen persönlichen Gott, 15 Prozent sind transzendenzgläubig, ein Fünftel ist unentschieden, 27 Prozent verstehen sich als Atheisten. 21 Prozent der Religionslosen, 20 Prozent der Evangelischen, 14 Prozent der Katholiken und zehn Prozent der nichtchristlich Gläubigen sind gegenüber einer Gottesvorstellung unentschieden. Junge und ältere Single-Männer gehören häufiger dieser Gruppe an als Verheiratete. Jeder zweite der Religionslosen, elf Prozent der Evangelischen, jeder zehnte Angehörige einer nichtchristlichen Religion (etwa Muslime) und acht Prozent der Katholiken verstehen sich als Atheisten. Es mag überraschen, dass ungefähr ein Zehntel der Zugehörigen zu Religionsgemeinschaften bekennt, nicht eigentlich an Gott zu glauben. Unter den Gläubigen ist der Anteil der Frauen höher als jener der Männer. Auffallend zugenommen hat eine unbestimmte Transzendenzgläubigkeit bei jungen Menschen, bei Frauen in einer festen Partnerschaft und jungen allein lebenden Frauen. Eine ausgeprägte atheistische Haltung findet sich in Berlin-Mitte am häufigsten. Sehr interessant sind die Wesenszüge (Eigenschaften) und Wirkungsbereiche, die gottgläubige ihrem Gott zusprechen. Sie nennen Gott mehrheitlich streng und liebevoll zugleich (35 Prozent), liebevoll (31 Prozent), gütig-vergebend (21 Prozent), schöpferisch (57 Prozent), väterlich und mütterlich zugleich (42 Prozent), väterlich (21 Prozent), allmächtig (55 Prozent). Jeder zweite glaubt, dass er zugleich für Arme und Reiche da ist. 23 Prozent wissen nicht, ob Gott sexfreundlich oder sexfeindlich ist. Die gleiche Zahl hält ihn für sexfreundlich. Wie viele ihn für sexfeindlich halten, wird nicht ersichtlich. Die Tätigkeit Gottes empfinden tröstend-nah 45 Prozent, befreiend 40 Prozent, beruhigend und befreiend zugleich 50 Prozent. Eine kleinere Gruppe nennt Gott einengend und befreiend zugleich (20 Prozent), ängstigend und beruhigend zugleich (17 Prozent). Die Beziehung zu Gott wirkt für die meisten tröstend, befreiend, beruhigend. Ihr Gott ist den Menschen liebevoll zugewandt (23 Prozent). Unter denen, die sich Gott streng, einengend, ängstigend vorstellen, meint Jörns mehr solche zu erkennen, die am traditionell dogmatischen und sündenbewussten Glauben festhalten. Während die Zustimmungsquoten zu Lebensgestaltung und Verantwortung hoch liegen (41 Prozent), fallen die Voten für Heil und Jüngstes Gericht merklich ab. Positiv fällt auf, dass Gottgläubige sich weit stärker für ihre Mitmenschen und die Mitwelt engagieren. Ausdrücklich beachtet wird der Glaube an Erlösung und ein Leben nach dem Tod. Transzendenzgläubige, Unentschiedene und Atheisten leugnen, dass Menschen der Erlösung bedürfen. An die Erlösung von unserem sündigen Wesen glauben auch von den Gottgläubigen nur 14 Prozent, weit mehr aber an die Erlösungsbedürftigkeit von unheilbaren Krankheiten, Unfriede, Hunger in der Welt, von Unvermögen, Süchten, Machtstreben. Von den in den Basisbezirken Berlins Befragten glauben 38 Prozent, dass es ein Leben nach dem Tod gibt; knapp ein Drittel denkt, dass mit dem Tod alles aus ist, die anderen wollten dazu keine Angaben machen. Verteilt auf die Glaubenstypen glauben zwei Drittel der Gottgläubigen, fast die Hälfte der Transzendenzgläubigen, knapp ein Viertel der Unentschiedenen und sieben Prozent der Atheisten an ein Leben nach dem Tode.

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Zusammenfassend meint Jörns feststellen zu können, dass sich die Gesichter Gottes bei den vier unterschiedenen Glaubenstypen merklich unterscheiden. Der Gott der Gottgläubigen hat überwiegend dogmatische Züge, wie sie der Katechismus lehrt. Die Auswertung versucht nicht nur zu erörtern, was noch, sondern auch, was nicht mehr geglaubt wird. Auch für die Gottgläubigen gibt es Bereiche, für die sie Gott nicht, wohl aber die Verantwortung der Menschen für zuständig halten. Damit verschiebt sich die traditionelle Theodizeefrage, wer für das Böse in der Welt und Geschichte verantwortlich ist. Schwere Einbußen hinnehmen muss der Glaube an die Dreieinigkeit/Dreifaltigkeit Gottes. Der Glaube an die Gottheit Jesu Christi wird nur noch von einer Minderheit getragen. Insgesamt kann man von einer Ent-Dogmatisierung und Ent-Institutionalisierung des Glaubens sprechen. Der Glaube an den Schöpfergott trägt deistische Züge 26, der Christusglaube arianische. 27 Die Ergebnisse machen auch deutlich, dass die alten Grundfragen des Gottes- und Jesusverständnisses nicht abgeschlossen sind, nachdem sie als Dogmen verbindlich erklärt wurden. Sie tauchen neu auf, wenn man die Menschen nicht einfach nach dem kirchlich-dogmatischen Lehrwissen fragt, sondern nach dem, was sie persönlich glauben. Gerade Denkfähige und Denkwillige ordnen sich nicht mehr fraglos den von einem Lehramt verordneten Glaubensformeln unter. Der persönliche Glaube als Übereinstimmung mit Lehrsätzen ist heute schwieriger geworden, weil der bewusster gewordene Mensch kritisch fragt. Die mündig Gewordenen sprechen ihr persönliches Erfahren, ihr Begreifen und ihr Fragen aus. Das lässt Rückschlüsse auf frühere Generationen zu: Offenbar kann in ihrem schweigenden Glaubensgehorsam nicht schon ein Beweis dafür gesehen werden, dass ihre persönlichen Glaubensüberzeugungen und -wertungen mit den „objektiv“ gelehrten Glaubenssätzen übereinstimmten. Für den, der weniger denkt und weiß, ist Glaubensgehorsam leichter als für jemanden, der sein ganzes Wissen und die Lebenserfahrungen einbringen will. Glaube ist ein unerhört lebendiger, höchst vielfältiger, den Menschen belebender und erregender Prozess, der nie zu Ende kommt – und sich deshalb nie auf ein „fundamentalistisches“ Faulbett legen kann. Die bequemen Fundamentalisten verweigern das Denken, die aggressiven den Dialog, verklemmte den aufrichtigen Prozess ihrer Menschwerdung. Naturgemäß spielen heute, wo das religiöse Grundlagenwissen schwächer wurde und Teilkenntnisse anderer Religionen verbreitet sind, Eklektizismus und Synkretismus (also ein Auswahlwissen und Vorstellungen, die aus vielerlei Lehren selbst gebildet und „zusammengewürfelt“ sind) eine größere Rolle als früher. Jörns meint, dass man diese abwertend besetzten Begriffe nicht nur negativ beurteilen sollte. Auswählen, Zusammenfügen, Werten von Glaubens- und Kultelementen gehören nach seiner Ansicht schon immer zur Theologie und auch zum Christentum. Begegnungen mit anderen Religionen sind in unserer Zeit religiöser Nachbarschaften und eines Weltbewusstseins nicht nur unvermeidbar, sie sind wünschenswert und eröffnen Chancen des Denkens wie des Gesprächs. Sie bringen Theologen neue Denkarbeit; von Pfarrern und Religionslehrern verlangen sie einen erweiterten Wahrnehmungs- und Glaubenshorizont. Seit die Menschen nicht mehr in einer religiös geschlossenen Gesellschaft leben, hat sich die Situation der Glaubenden verändert. Der „Kompetenzverlust der Kirchen

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hat auch einen Kompetenzverlust Gottes mit sich gebracht,“ schreibt Jörns. Der Glaube ist offener, ausgefranster und unsicherer, aber bei vielen auch intensiver, eindringlicher, integrierter, bewusster geworden. Die Glaubensfragen verlangen vom modernen Menschen eindringliche Denk- und Bewusstseinsarbeit. Und Jörns vermutet, dass bereits in der „reformatorischen Zumutung an den Einzelnen“ etwas von der modernen Subjektivität steckte, die den Anspruch erhebt, in Glaubenssachen ohne verbindliche Lehre auszukommen. „Sinus“ Milieustudie Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen die beiden Studien des Marktforschungsinstituts „Sinus“. Hier wurde m Jahr 2005 von der katholischen Kirche in Deutschland eine Milieustudie über die religiöse und kirchliche Orientierung der Katholiken in Auftrag gegeben. 2013 folgte ein „Update“. Die erste und noch viel stärker die zweite Studie zeigen: Viele Befragte verstehen sich nicht (mehr) als gläubig im traditionellen Sinn und suchen auch nicht aktiv nach einer Beziehung zu Gott. Insbesondere in den jungen und unterschichtigen Milieus spielen Glaube und Religion im Alltag häufig gar keine Rolle mehr. Bei vielen Befragten ist der Glaube individualisiert – und nicht an Religion und Kirche gebunden. Viele bezeichnen sich zwar als religiös, definieren aber den Inhalt ihres Glaubens ebenso wie ihre Vorstellungen von Gott eher diffus. 28 Beim Blick in die verschiedenen Milieus wird deutlich, wie groß die Sprachlosigkeit über die eigene Religiosität jenseits kirchlicher Formeln ist und wie wenig Kompetenz der Institution Kirche für die eigene Auseinandersetzung mit Gott zugesprochen wird. „Das trifft ins Mark (…) Wer ernsthaft glaubt, Gott hinter der Tür im dritten Stock des heruntergekommenen Wohnblocks, im zweiten Satz einer Klaviersonate Beethovens oder in einem flauschigen Sessel in der vierzehnten Reihe eines Kinosaals neu kennen zu lernen, der wird diese Orte anders betreten und den Leuten dort anders begegnen.“ 29 Die Diagnose fordert die Theologen heraus. Sie müssen lernen, die Theologie der Milieus zu „lesen“. Sie müssen sich den Fragen stellen: Welches Gottesbild besitzt (noch) Relevanz für ihr Leben? Welche verborgene Facette Gottes nehmen Menschen in bestimmten Milieus wahr? Zu welchem Gott bekennen sich Menschen in bestimmten Milieus? Bedeutet ihnen Gott überhaupt noch etwas? In welchen Situationen wird die Gottesfrage für sie (noch) virulent? Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen oder das hilflos-resignierende, achselzuckende Schweigen können zu einer Bereicherung und Vertiefung des Gottesglaubens und des Gottesbildes führen. Sie können aber auch bisher dominierende Theologien und Glaubenssätze in Frage stellen. In jedem Fall sollten sie das Fundament bilden für intensives Neu-Denken der Gottesfrage und für ein verändertes, behutsameres Sprechen von Gott bei denjenigen, die im Namen Gottes und seiner Kirche auftreten. „Diejenigen haben Recht, die von der Verdunstung des Glaubens sprechen. Der Glaube hat in der Spätmoderne seinen Aggregatzustand verändert. Er ist von einem festen, in kirchlichen Formeln und Formen fassbaren Zustand in einen fluiden oder gar gasförmigen übergegangen. Der verdunstete Glaube liegt buchstäblich in der Luft.“ 30

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„Stellvertretung des abwesenden Gottes“

Der Soziologe Hubertus Knoblauch stellt in seinem Buch „Populäre Religion“ einen grundlegenden Wandel der Religion fest, eine „Transformation der Religion“. Das religiöse Bedürfnis des Einzelnen bleibe bestehen, aber es sei privatisiert, nutzorientiert, individualisiert. Der gesellschaftliche Fluchtpunkt dieses Wandels ist das aufgewertete Subjekt und seine individuelle Sinnsuche. Allein die spirituelle Erfahrung ist entscheidend und wird zum Gradmesser für die individuelle Sinnsuche.31 Ähnlich sieht es auch der spanische Theologe Juan A. Estrada in einem Aufsatz in der Zeitschrift der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie. 32 Das Wesentliche an der Religion ist für ihn nicht die theoretische Frage nach Gott, sondern die Suche nach einer lebendigen Beziehung mit der Gottheit. „Heute mehr denn je ist der Glaube eine persönliche Option, die sich nicht auf einen vorteilhaften kulturellen Kontext stützen kann. Er ist nichts, was man, wie in früheren Epochen, durch Sozialisierung erhält, sondern vielmehr etwas, das sich als eine Gegenkultur herausbildet. Von daher gesehen muss die gläubige Selbstbestimmung nicht in Widerspruch stehen zu den Zweifeln, zur Ratlosigkeit und zu den Fragen, die wahrscheinlich in einem kritischen, reflektierenden und bewussten Christentum unausweichlich sind.“ Übrig bleibt ein Glaube, der „beinahe nackt“ ist, entblößt von vielen institutionellen und soziokulturellen Rückhalten, verurteilt zu einer instabilen Personalisierung, die nur im Rahmen des Respekts vor dem Gewissen jedes einzelnen möglich ist. Der italienische Autor Franco Ferrucci lässt an einer Stelle seines Romans „Die Schöpfung. Das Leben Gottes von ihm selbst erzählt“ seinen „Gott“ sagen: „Schon längst misstraute ich jedem, der meinen Namen gebrauchte, und hatte ihn im Verdacht der Manipulation und der Herrschsucht. Wer mich kennt, spricht von mir, ohne mich beim Namen zu nennen, weil er weiß, dass ich auch für mich selbst das noch zu enthüllende Geheimnis bin. […] Ich bin das Leben in seinen unzähligen Formen.“ 33 Für einen suchenden und fragenden Menschen kann es auch heute möglich sein, den „abwesenden Gott“ in diesen „unzähligen Formen“ gleichsam stellvertretend zu entdecken und zu erfahren. Der Mensch Bei der Verleihung des Romano-Guardini-Preises der Kath. Akademie in Bayern hat sich der tschechische katholische Religionsphilosoph Tomásˇ Halík mit der von vielen Menschen erlebten „Abwesenheit Gottes“ beschäftigt. 34 Er kam dabei zu einem überraschenden Schluss: „In einer Zeit, in der Gottes Abwesenheit den Menschen besonders bedrängt, kann der Mensch dem Ruf Folge leisten, Gott in der Welt zu repräsentieren.“ Dies bedeute nicht, „Gott zu spielen“, eine „God like position“ anzunehmen. Es verlange vielmehr, „wie Gott zu sein“, der in seiner großzügigen, bedingungslosen Liebe alle Grenzen überschreitet (er lässt die Sonne scheinen und den Regen fallen über Gute wie Böse). Es bedeutet, an Gott zu erinnern, wie ein Zeichen zu leben, das eigene Leben in eine „Erinnerung“ zu verwandeln, in eine vergegenwärtigende Erinnerung, in ein Zeugnis für Gott und eine Bezeugung Gottes.“ Halík erinnerte in seinem Vortrag an ein Wort von Benedikt XVI.: Jene, die nicht

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fähig sind, den Weg zur Annahme Gottes zu finden, sollten versuchen, so zu leben, „als ob es Gott gäbe.“ Für Halík bedeutet das, „als wirklich freier Mensch zu leben – das heißt, die Freiheit auch für sich zu behaupten, in der Freiheit zu stehen und sich nicht von Neuem das Joch der Knechtschaft auflegen zu lassen –, es bedeutet dreierlei: nicht abhängig zu sein (Abhängigkeit loszuwerden) und nicht eigenwillig (Eigenwillen loszuwerden) und vor allem verantwortlich zu sein. Ein solches Leben „impliziert Gott“: das eigene Leben so zu leben und auszurichten bedeutet de facto, „es auf die Anwesenheit Gottes zu öffnen“; im Leben eines so lebenden Menschen „lebt“ immer auch Gott – die Freiheit ist sozusagen die eigentlichste Biosphäre Gottes, sein Lebensraum.“ Auf ähnliche Gedanken treffen wir auch bei Gotthold Hasenhüttl: „Wo ein Mensch sich den anderen erschließt, wo er offen ist für neue Möglichkeiten und den anderen in seiner Annahme aufatmen lässt, da wird Gott gegenwärtig, weil Liebe geschieht. Im Ereignis der Liebe wird die letzte Wirklichkeit sichtbar. So kann man beinahe sagen, dass Gott in den ‚Banalitäten‘ des Lebens zur Sprache, zum Vollzug kommen kann. Im Schluck Wasser, im Krankenbesuch, im Dienst am Nächsten, in menschlicher Zuneigung, in der Hingabe des Lebens – überall kann Gott Ereignis werden. Gott ist den Menschen unendlich nahe, wenn der eine dem anderen hilft. In diesem Ereignis, das erfahrbar ist, kann Gott geschehen, wird Gott in unserer Mitte gegenwärtig.“ 35 Jeder kann vielleicht solche Begegnungen mit Menschen nennen, die eigentlich Gottesbegegnungen sind. Situationen, in denen sich Gott ereignete, in denen der Mensch zum Ort der Gottesbegegnung wurde. „Ich sehe Gott überall an unserer Seite, wenn wir Unrecht beim Namen nennen und uns über Gewalt empören. Ich sehe ihn handeln, wenn wir uns dagegen auflehnen und für gequälte Menschen einstehen. Ich sehe Gott am Krankenbett, wenn einer nur die Hand hält oder ein gutes Wort sagt. Ich sehe ihn handeln, wenn Ärzte heilen und Forscher Krankheiten bekämpfen. Ich sehe Gott, wenn Menschen sich ein Lächeln schenken und einander Kraft geben in schweren Zeiten, wenn wir uns vom Leid berühren lassen, weinen und trösten zur rechten Zeit, wenn wir aushaken und aufbegehren. Ich sehe Gott in jedem Gesicht, das sucht und hofft, und in jeder Antwort, die Hoffnung gibt und Geborgenheit schenkt. Ich sehe Gott in jedem Funken Liebe, der in dieser Welt flackert. Und sollte einmal der letzte dieser Funken in eisiger Nacht verlöschen, sehe ich Gott in seiner Schöpfung brennen, um erneut Licht und Liebe zu entzünden für eine Welt, die sich nichts sehnlicher wünscht als Vertrauen in einen guten Sinn, den ihr niemand streitig machen kann.“ 36 Transparenz des Alltags Auch der Alltag, der gewöhnliche und banale Alltag, kann transparent werden im Hinblick auf das Geheimnis „Gott“. So ist für den mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart (ca. 1260–1328), der heute geradezu wieder „neu“ entdeckt wird, „jegliche Kreatur Gottes voll. […] Wenn sich Gott einen Augenblick von allen Kreaturen abkehrte, so würden sie zunichte.“ 37 Das Leben Gottes selber entfaltet sich in den Dingen. Wer die Geschöpfe kennt, braucht keine Predigt, denn jedes Geschöpf ist ein von Gott beschriebenes Buch. 38 Die Dinge „schmecken“ nach Gott. „Alle Dinge“ sind für Eckhart „reiner Gott.“ 39 Es liegt nur am Menschen, dieses Geheimnis der Dinge zu entdecken und ihm gemäß zu leben. Die

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Hinwendung zur Kreatur ist für Eckhart weder ein Abweg noch ein Irrweg, sondern vielmehr ein Weg zu Gott. Das Sein der Dinge entspringt, davon ist Eckhart überzeugt, ganz und gar aus Gott. Von Immanuel Kant stammt das bekannte Wort: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und immer zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ 40 Auch ein anderer Großer des Geistes, Albert Einstein, bekennt, dass er die wundervolle Ordnung der Natur stets voll Staunen und Verwunderung wahrnimmt und dass er sich in der Harmonie des Seienden aufgehoben fühlt: „Der Anblick des Meeres ist unbeschreiblich großartig, besonders wenn Sonne darauf fällt. Man ist wie aufgelöst in die Natur. Man fühlt die Belanglosigkeit des Einzelgeschöpfes noch mehr als sonst und ist froh dabei.“ 41 Religiosität, so meint er, sei die stärkste Triebfeder wissenschaftlicher Forschung. Er beschreibt sie so: „Das Erlebnis des Geheimnisvollen, wenn auch mit Furcht gemischt, hat auch die Religion gezeigt.“ 42 Und schließlich dürfen in diesem Zusammenhang auch noch die zwei erst unlängst ausgezeichneten deutschen Nobelpreisträger Gerhard Ertl und Peter Grünberg erwähnt werden. Sie antworteten auf die Frage „Können Sie als aufgeklärte Naturwissenschaftler eigentlich an Gott glauben?“: „Ja, aber sicher! (…) Das Leben ist ein gewaltiges Wunder, wir nähern uns wissenschaftlich den Erklärungen an, aber eine Frage bleibt doch immer bestehen: Warum das alles? Hier glaube ich an Gott!“ (Gerhard Ertl), „Aber ja, es ist mehr da, als wir in der materiellen Welt sehen und erfassen können“ (Peter Grünberg). 43 „Geduld mit Gott“ Von dem schon oben erwähnten Theologen Tomásˇ Halík erschien 2010 ein Buch, das von der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie als das „beste theologische Buch Europas 2011“ ausgezeichnet wurde: „Geduld mit Gott“ 44. Halík schreibt darin, er habe von seinen atheistischen Gesprächspartnern gelernt (!), was es heißt gleichsam „atheistisch“ – ohne fix und fertige Gottesbilder – an Gott zu glauben. Es geht um einen Glauben „in dem es mehr Beben als Festigkeit, immer mehr Fragen als Antworten, mehr Zweifel als Gewissheiten“ gibt (245). „Der Glaube ist gerade für jene Zeiten der Dämmerung, der Vieldeutigkeit des Lebens und der Welt wie auch für die Nacht und den Winter des Schweigens Gottes da. Er ist nicht (nur) dazu da, um unseren Durst nach Gewissheit und Sicherheit zu stillen, sondern um uns zu lehren, mit dem Geheimnis zu leben (…)“ (11). „Selten weist etwas auf Gott so stark hin und ruft so dringend nach Gott, wie gerade das Erleben und Erleiden seiner Abwesenheit“ (14). Tomásˇ Halík übt Kritik an beiden: Es ist die Ungeduld mit Gott, die ein leichtfertiger Atheismus mit einem leichtgläubigen religiösen Enthusiasmus gemein hat. „Ja den Hauptunterschied zwischen dem Glauben und dem Atheismus sehe ich in der Geduld. Der Atheismus und der religiöse Fundamentalismus sind sich auffallend ähnlich in dem, wie sie so schnell fertig sind mit dem Geheimnis, das wir Gott nennen“ (9). Diese Erfahrung der Abwesenheit und des Schweigens Gottes teilen Gläubige mit den Ungläubigen: „Den Atheisten sage ich eben nicht, sie hätten Unrecht; ich sage nur,

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dass es ihnen an Geduld mangelt; ich behaupte, ihre Wahrheit ist eine nicht zu Ende gesprochene“ (15). Wer glaubt oder wer glauben will, muss große Geduld haben können: „Ein reifer Glaube ist ein geduldiges Ausharren in der Nacht des Geheimnisses“ Gottes (141). Wir müssen Gott sein Geheimnis lassen, so wie auch Jesus sich letztlich IHM ergeben hat. Und so heißt es schließlich in diesem Buch „Geduld mit Gott“: „Christlicher Glaube (…) ist der auferstandene Glaube, ein Glaube, der am Kreuz sterben, begraben werden und auferstehen muss – und zwar in neuer (!) Gestalt“ (67). Die verbreitete Gotteskrise kann zur Chance der Erneuerung des Glaubens an Gott und der Rede von Gott werden. Viele Menschen sind dabei, aus ihren erlernten religiösen Konventionen auszubrechen und jene Gottesbilder abzustreifen, die dem Denken und der Praxis ihres Alltags nicht mehr standhalten. „Es geht um Gotteskritik um des wahren Gottes willen“ (Hermann Häring). Gott ist dort abwesend, wo die Menschen ihn allzu sehr zu kennen glauben und meinen, über ihn verfügen zu können. Karl Rahner ist überzeugt, dass „das unreflektiert Unverfügbare letztlich vertrauenswürdiger ist als das, was wir wissend zu durchschauen meinen.“ Und der Kirchenlehrer Augustinus meint: „Wenn du ihn begriffen hast, kann es nicht Gott gewesen sein.“ Zeitgemäße, glaubwürdige Rede von Gott sollte wieder Ausdruck sein eines ahnungsvollen, vorsichtigen Tastens im Ungewissen, im Unbeschreiblichen, im Unfassbaren.

4. „Gott“ in einigen der großen Weltreligionen Es soll hier noch kurz auf die Gottesfrage und ihre Beantwortung in einigen der großen Weltreligionen und auf die breite Palette ihrer Gottesvorstellungen eingegangen werden. a) Buddhismus

Auf die Frage nach Gott hat Buddha keine Antwort gegeben. Dennoch kennt der Buddhismus eine letzte, tiefste, allumfassende Wirklichkeit, ein Absolutes. Dieses ist freilich jenseits aller Begriffe und Worte. Weil menschliches Reden und Beschreiben immer in irgendeiner Weise zu irdischen Vorstellungen in Beziehung steht, muss das Absolute „leer“ sein. Alle Bestimmung würde es eingrenzen, jede Begriffsbildung würde es einschnüren. Nur das Unbestimmte ist offen. Nur das Unbegriffene ist unbegreiflich. „Der Buddhist ist kein Nihilist; nur, er widersteht allen Versuchen zu bestimmen, was das wesentlich Unbestimmte ist. Das Absolute kann nicht einmal identifiziert werden mit Sein oder Bewusstsein, da dies seine Natur als den unbedingten Grund der Erscheinungen kompromittieren würde. Die letzte Wirklichkeit wird (…) angenommen als die Wirklichkeit aller Dinge, ihre wesentliche Natur. Sie ist oft einförmig und universal, weder abnehmend noch zunehmend, weder entstehend noch vergehend. Das Absolute allein ist in ihm selbst“ (Tirupattur R. V. Murti 45). Erkennbar ist das Absolute nur in der Intuition, in der Versenkung, im Eins-Werden mit ihm. Dieses ist erreicht, wenn der Mensch zu vollem Gleichklang mit dem Absoluten gelangt, wenn er nicht mehr mit dem Ich denkt, plant oder handelt, sondern in Harmonie mit dem Kosmos.

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Die Frage nach Gott

Dieser Zustand kann als Nirvana bezeichnet werden – als Auslöschung und Vollendung. Freilich muss zwischen Nirvana in diesem Leben und im Leben nach dem Tode unterschieden werden. Für dieses Leben gelten die vier erhabenen Wahrheiten:  Der Mensch bleibt dem Leid und der Not der Welt unterworfen;  die Ursache dafür liegt im Verlangen und Begehren;  Verlangen und Begehren können ausgelöscht werden;  dazu gibt es einen Weg. Im Nirvana nach dem Tode gibt es kein Leiden mehr, weil dann alles Verlangen und Begehren erloschen (oder erfüllt?) ist. Der Buddhist glaubt, dass „Nirvana“ ewig sei, beständig, unvergänglich, unbeweglich. „Weder dem Altern noch dem Tode unterworfen, ungeboren und ungeworden, dass es Macht, Segen und Seligkeit bedeute, ein rechter Zufluchtsort sei, ein Obdach und ein Platz unangreifbarer Sicherheit; die wirkliche Wahrheit und die höchste Wirklichkeit; dass es das Gute sei, das höchste Ziel und die einzige Erfüllung unseres Lebens, ewiger, verborgener und unbegreiflicher Frieden“ (E. Conze46). Das Zweite Vatikanische Konzil beschreibt in seiner „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ den Buddhismus sehr kurz und treffend: „In den verschiedenen Formen des Buddhismus wird das radikale Ungenügen der veränderlichen Welt anerkannt und ein Weg gelehrt, auf dem die Menschen mit frommem und vertrauendem Sinn entweder den Zustand vollkommener Befreiung zu erreichen oder – sei es durch eigene Bemühung, sei es vermittels höherer Hilfe – zur höchsten Erleuchtung zu gelangen vermögen.“ 47 Ein mit dem theologischen Sprachgebrauch vertrauter Leser wird leicht manche Berührungspunkte zwischen der Nirvana-Vorstellung und dem christlichen Gottesbild erkennen. Vielleicht befremdet ihn nur, dass dieses Nirvana ein unpersönliches, fernes Es ist. Aber ist Gott wirklich ein „Du“, das auf einer Linie mit dem menschlichen Du gedacht und erfahren werden kann? Gerade die in der Nirvana-Vorstellung angedeutete Unterbrechung kann den Abstand deutlich machen. Gott ist nicht nur der Nahe, er ist auch der Ferne. Er ist nicht nur der Vertraute, sondern auch der Unbekannte, der ganz Andere. Christliche Rede von Gott läuft nicht selten Gefahr, allzu genau über ihn Bescheidwissen zu wollen. Theologie bedenkt oft zu wenig, dass all ihre klugen und wohldurchdachten Aussagen von Gott unendlich hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. Vielleicht sind die tiefe Ehrfurcht vor dem Geheimnis Gottes und die Angst vor schneller Geschwätzigkeit (auch) ein Grund, warum Buddha auf die Frage nach Gott mit Schweigen antwortete. Schweigen kann dialogischen Charakter haben. Wir sprechen von „beredtem Schweigen“ oder von einer „schweigenden Begegnung“. Solches Schweigen übersteigt das Wort, ist gefeit gegen die Gefahr missverständlicher Formulierung, falscher Deutung. So gibt es auch eine schweigende Offenbarung des Heiligen, des Mysteriums. Nur im Schweigen des Menschen kann Gottes Wort vernommen werden. Aus schweigender Begegnung erwachsen Anbetung, religiöse Hingabe und Nachfolge.

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b) Hinduismus

Im 15. Jahrhundert v. Chr. drangen arische Hirtenstämme in Nordindien ein und unterwarfen die dort ansässige Bevölkerung. Aus der Vermischung einer schon hoch entwickelten Stadtkultur der Besiegten mit der Naturreligion der Sieger entwickelte sich allmählich die vedische Religion. So kennt der Hinduismus keinen Stifter. Die wichtigsten religiösen Anschauungen sind langsam aus menschlicher Erfahrung herausgewachsen. Sie sind in vier Sammlungen von Schriften, den Veden, enthalten. Die weitere Entwicklung des Hinduismus ist gekennzeichnet durch die ständige Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Umwelt, zur Antwort auf die historischen Gegebenheiten und auf die Herausforderung durch andere religiöse Strömungen und Bewegungen. Diese Offenheit führte zu einer für den Außenstehenden unübersehbaren Vielfalt von religiösen Anschauungen, Formen und Riten. Feste dogmatische Lehraussagen gibt es im Hinduismus nicht. Daher sind die unterschiedlichsten Formen der Gottesverehrung anzutreffen. Neben primitiver Vielgötterei und orgiastischen Ritualen finden sich strenge Askese, mystische Versenkung und hochentwickelte Philosophie. Bereits in den ältesten Texten der Veden wird vereinzelt nach dem göttlichen Urgrund aller Dinge gefragt. Aber erst in den philosophischen Schriften der Upanishaden (ca. 8.–6. Jh. v. Chr.) wird diese Frage zum Hauptthema gemacht. Die erfahrbare Wirklichkeit des Lebens, Freude und Liebe, Reichtum und Macht, Erfolg und Genuss, werden als trügerischer Schein und als Quelle von Leiden entlarvt, dem man nur durch Verzicht und meditative Einkehr oder durch Askese entkommen kann. Ein vollkommenes Entrinnen gelingt nur, wenn das „Atman“, das innerste Selbst des Menschen, in das „Brahman“, in den Urgrund der Welt, hinüberfließt. Die Verschmelzung von Atman und Brahman, das Einswerden des Selbst mit dem All, ist höchstes und letztes Ziel alles religiösen Strebens und Bemühens. Die Frage, ob man sich Brahman als personhaftes Gegenüber oder als unpersönlichen Urgrund alles Seienden vorstellen muss, wird offen gelassen. In neuerer Zeit taucht im Hinduismus verschiedentlich der Gedanke auf, ob nicht die vielen Götter nur unterschiedliche Sichtweisen des Einen darstellen. So vertrat der Svami (= Mönch) Ramakrishna (1836–1886) Ansichten, welche die Unterschiede zwischen den vielfältigen Religionssystemen überschritten: Viele Wege führen zu Gott; viele Namen hat Gott; aber nur Einer ist Gott. 48 Mit solchen Überlegungen schloss Ramakrishna den Hinduismus insbesondere für den Gedankenaustausch mit dem Christentum auf. c)

Islam

Das arabische Wort „Islam“ ist abgeleitet aus der gemeinsemitischen Wortwurzel s-l-m (salam, shalom) und bedeutet soviel wie „Hingabe, völlige Ergebung, Frieden“. Gemeint ist in diesem Zusammenhang die Hingabe des Menschen an Gott, an Allah. Allah aber will seine Ergebenen, seine Muslime, nicht knechtisch niederhalten, sondern sie zu Glück und Erfüllung führen. „Wer meiner rechten Leitung folgt, geht nicht in die Irre und wird nicht unglücklich“ (Sure 20,123). Der Islam ebnet den Weg zu dem

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Leben, für das die Menschen geschaffen sind. „Ihr Gläubigen, hört auf Allah und seinen Gesandten, wenn er euch zu etwas ruft, was euch Leben verleiht“ (Sure 8, 24). In der Hingabe an Gott findet der Mensch Frieden und ewige Erfüllung. Allah ist der alleinige Herr. Er hat keine Götter neben sich. Mohammed wird nicht müde, auf diesen Kernpunkt seiner Lehre immer wieder hinzuweisen: Es gibt nur einen einzigen Gott; ihm andere Götter beizugesellen, ist die schwerste Sünde, die man sich denken kann. Allah hat durch Profeten (Adam, Noach, Abraham, Mose, Jesus, Mohammed) zu den Menschen gesprochen und ihnen seinen Willen kundgetan. Er verlangt, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. Zwei Eigenschaften zeichnen Gott nach islamischer Vorstellung in besonderer Weise aus: Güte und Gerechtigkeit. Gottes Güte hat dem Menschen die Natur zur Verfügung geschenkt. Die Schöpfung und das ganze Geschehen in der Welt sollen seinem Wohlergehen dienen. Der Mensch muss für diese Wohltaten Gottes dankbar sein. Undankbarkeit zeugt von Unglaube (im Arabischen wird interessanterweise für Undankbarkeit und Unglaube ein und dasselbe Wort verwendet: kufr). Der gütige Gott ist aber auch der gerechte. Nur die Gläubigen – die Dankbaren – werden nach dem strengen Gericht in das Paradies eingehen; Ungläubige – Undankbare – kommen in die Hölle, deren Qualen in ebenso drastischen Farben geschildert werden wie auf der anderen Seite die Freuden des Paradieses. Der gläubige Muslim lebt so in einem dauernden Nebeneinander von Verlangen nach den Freuden des Paradieses und Furcht vor den Qualen der Hölle, in einem Zwiespalt zwischen Hoffnung und Angst. „Ruft Allah nur mit Furcht und in Hoffnung an; denn nahe ist seine Gnade denen, die Gutes tun“ (Sure 7,57). Das Gottesbild des Islam weist bei allen Unterschieden doch im Wesentlichen eine Übereinstimmung mit der jüdisch-christlichen Glaubenstradition auf. Das mag auch daher rühren, dass Mohammed für seine Lehre manche Anleihe bei Juden und Christen gemacht hat. Gott ist eine einzige, zugleich gütige und gerechte Macht, die auch mit vielen Namen nicht annähernd fassbar und begreifbar ist. Nach einer alten islamischen Legende hat Allah 999 Namen; aber der eigentliche ist den Menschen verborgen. Es ist noch nicht allzu lange her, da galt der Islam als eine Religion, deren Anhänger im „christlichen Abendland“ kaum anzutreffen waren. Die Muslime lebten in weiter Ferne. Inzwischen hat sich die Situation dramatisch verändert. Nicht wenige empfinden heute den Islam als eine angsteinflößende Bedrohung, vor allem angesichts der jüngsten, von so genannten „Islamisten“ ausgehenden Terroranschläge. Die eigentliche Triebkraft der Idee eines umfassenden islamischen „Gottesstaates“ sind vor allem die Fundamentalisten. Sie vertreten die Ansicht, dass der Djihad zur Ausbreitung des Islam besser sei als die Ausbeutung und Menschenverachtung des westlichen Kolonialismus. Djihad wird meist mit „Heiliger Krieg“ übersetzt. Das ist aber falsch. Denn Djihad meint „Anstrengung, um zu Gott zu gelangen.“ Diese Anstrengung kann verschiedene Formen annehmen – Gebet, gute Taten und als letztes Mittel, wenn der Glaube, das persönliche Leben oder das Wohlergehen der Gemeinde bedroht sind, auch Kampf. Genau diese Bedrohung sehen die islamistischen Fundamentalisten gegeben. Sie weisen dabei auf den quasi-totalen Zusammenbruch westlicher Sitte und Moral hin,

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vor allem auf die Gefahren, denen die Institution Familie im Westen ausgesetzt ist. Dabei berufen sie sich auf die Anweisungen des Koran im Hinblick auf die Pflicht zum Kampf gegen die Feinde des Islam. Die Muslime, so der Koran, sollen in den Kampf ziehen und für ihr Leben, für ihren Glauben und für die Einheit ihrer Gemeinschaft streiten. Wer durch die Beteiligung am Kampf seine Glaubenstreue unter Beweis gestellt hat, wird den Lohn Gottes erlangen (Sure 4,75), gleich ob er „tötet oder getötet wird“ (Sure 9,111). Allerdings wird den Kämpfern eingeschärft, „nicht maßlos im Töten“ zu sein (Sure 17,34). Ältere Menschen, Frauen und Kinder, sowie Nichtbeteiligte an den Kampfhandlungen dürfen auf keinen Fall Ziel von Angriffen sein. Niemand soll indes zum Glauben gezwungen werden, „da die wahre Lehre vom Irrglauben ja deutlich zu unterscheiden ist“ (Sure 2,257). Jene, die bereit sind, Frieden zu schließen, sollen auch mit friedvollem Verhalten von Seiten der Muslime behandelt werden: „Wenn sie sich von euch fernhalten und nicht gegen euch kämpfen und euch Frieden anbieten, dann erlaubt euch Gott nicht, gegen sie vorzugehen“ (Sure 4,91). Endziel allen Kampfes ist die Oberherrschaft des Islam über alle übrigen Religionen und Gemeinschaften (Suren 9,33; 48,29). 49 Kenner des Islam vertreten die Ansicht, dass die militant-aggressive Form des Islam eher eine Durchgangsphase darstelle – hin zu einer Form des muslimischen Denkens und Lebens, das sich als Partner einer kulturell und religiös pluralistischen, weltweiten Gemeinschaft der Menschen versteht. In beeindruckender Weise hat einmal der in der islamischen Welt wie in den westlichen Ländern angesehene Gelehrte des Islam, der frühere Dekan der Theologischen Fakultät der Azhar-Universität und jetzige Minister für Religiöse Stiftungen in Kairo, Professor Mahmoud Zakzouk, diee Überzeugung zum Ausdruck gebracht: „Der Islam will den Frieden. Und der Weg zum Frieden ist auch der Friede“ 50. In seinem Verhältnis zum Christentum wird der Islam von Gefühlen der Anziehung wie der Ablehnung hin- und hergerissen. Anziehung durch die Einheit und Organisation der Kirchen, durch ihre erzieherischen und sozialen Dienste, durch ihr moralisches, politisches und diplomatisches Gewicht, das sie international haben, durch die karitativen und sozialen Leistungen. Aber viel stärker und tiefgreifender als diese Anziehung scheint die Ablehnung zu sein. In der islamischen Welt wird das Christentum oft mit der „westlichen Welt“ identifiziert. Der Westen – und damit auch die christliche Kirche – sei für die Kreuzzüge, den Kolonialismus, den Kapitalismus, den Marxismus und die verbreitete Zerrüttung der Familie und Moral zumindest mitverantwortlich. Auch werden die Kirchen immer wieder kritisiert, weil sie mit Israel und dem Zionismus im Einverständnis seien. Es bleibt die Frage: Wenn es theologisch so substanzielle Entsprechungen gibt – wie den Glauben an den Gott Abrahams, die Sicht des Menschen als Geschöpf Gottes, die Annahme eines geoffenbarten göttlichen Gesetzes, die Gründung der Gesellschaft auf göttliche Ordnung und die Erwartung einer endzeitlichen Vergeltung in Gott – warum besteht dann diese enorme Schwierigkeit für den Islam, sich dem auf diesen Fundamenten von der Kirche angebotenen Dialog zu öffnen? „Der eigentliche Grund scheint zu sein: Die großen, dem Christentum und Islam gemeinsamen religiösen Prinzipien und deren ethisch-soziale Implikationen werden

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nicht auf dieselbe Weise im täglichen Leben interpretiert und verstanden, weil die beiden Religionen verschiedene religiöse Wurzeln haben: Jesus Christus und Muhammad. Wie die ganze spirituelle Wirklichkeit des Christentums von der geschichtlichen Gestalt Jesu durchdrungen ist, oder, anders gesagt, sich immer wieder am Grundmodell von Jesu Leben und Lehre messen lassen muss, so ist die Wirklichkeit der islamischen Glaubenslehre und -praxis geprägt vom Grundmodell des Lebens und der Lehre des Muhammad. Die geschichtlichen Vermittlungen in Jesus und Muhammad drücken auf ihre Weise sowohl dem Islam als auch dem Christentum tiefgehend verschiedene Merkmale auf, trotz der gemeinsamen Themen in der Lehre und des grundsätzlichen Übereinkommens im Ideal des Islam als Totalhingabe an Gott im religiösen Grundvollzug. Es handelt sich um Unterschiede, die besonders spürbar werden, wenn es sich um die Konkretisierung des Glaubens im täglichen Leben und in der Politik handelt. Heute, nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der intensiven Belehrung der letzten Päpste, den Aufrufen vieler Bischofskonferenzen, christlich-ökumenischer Gremien und christlich-muslimischer Gruppen, scheint es mir für einen Christen nicht mehr legitim, sich geistlich vom Islam zu trennen, den Islam in seiner geschichtlichreligiösen Dimension zu ignorieren oder gar zu den alten Positionen des Kampfes und der Polemik zurückzuführen. Der Geist des Evangeliums verlangt von uns, auf die Muslime mit Achtung und Sympathie zu schauen und geduldig alle Wege zu suchen, um sie besser kennen zu lernen, mit ihnen in Kommunikation zu treten und, wo immer möglich, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Das verlangt gleichzeitig die Entwicklung von Klugheit und eines kritischen Unterscheidungsvermögens. Dort, wo Ziele und Formen des Vorgehens als islamisch (oder christlich) ausgegeben werden, die dem Zusammenleben und der Würde aller Menschen in einer weltweiten Gemeinschaft zuwiderlaufen, müssen sie deutlich als schädlich und inadäquat aufgezeigt werden“ 51. Noch erscheint es keineswegs sicher, ob beide Seiten, Christen wie Muslime, die Herausforderung und Chance zur gegenseitigen Annäherung und zur weltweiten Zusammenarbeit wahrnehmen, und ob Christen und Muslime bereit sind, „das Vergangene beiseite zu lassen, sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen und gemeinsam einzutreten für Schutz und Förderung der sozialen Gerechtigkeit, der sittlichen Güter und nicht zuletzt des Friedens und der Freiheit für alle Menschen“ 52.

5. Gott – der Angerufene Es ließe sich noch weiterwandern zu anderen nichtchristlichen Religionen. Das Ergebnis wäre immer ähnlich: Von den ersten empirisch fassbaren Anfängen menschlicher Religiosität bis zu den vielfältigen religiösen Erscheinungsformen der Gegenwart, von mehr gefühlsmäßigen, irrationalen Erfahrungen zu den Versuchen, Gott in streng rationaler Gedankenführung zu „beweisen“, stehen die „Anbetung des Mysterium und die Hingabe an dieses“ (Friedrich Heiler) im Zentrum des Bemühens. Das Mysterium mag einen Namen haben oder viele, es mag namenlos sein oder „leer“, immer verbirgt sich dahinter jenes transzendente, alle menschliche Erfahrung

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übersteigende und doch voller Sehnsucht geahnte und gesuchte Geheimnis, das der Mensch in vielfacher Weise anzurufen wagt und dem er sich anbetend hingibt. Etymologisch verbirgt sich im deutschen Wort „Gott“ vielleicht eine indogermanische Wortwurzel ghu-to’m = (an)rufen. Die Mannigfaltigkeit der Religionen zeigt, dass Anbetung und Verehrung Gottes nicht Sache des Einzelnen ist und bleibt, sondern dass sie nach Gemeinschaft drängt, dass sie ein gesellschaftliches Phänomen darstellt. Kult und Ritus, von vielen begangen, gehören wesentlich zum Erscheinungsbild der Religion. Man wird sogar mit Karl Rahner sagen dürfen, dass man „Religion nur dann habe, wenn man sie in einer gesellschaftlichen Form hat […] Die Eingebettetheit der individuellen Religionsausübung in eine gesellschaftliche, religiöse Ordnung gehört zu den Wesenszügen wahrer, konkreter Religion.“ 53 Der gemeinsame Urgrund und die gesellschaftlich geöffnete Form von Religion machen es möglich, dass sich nach Überwindung anfänglicher Berührungsängste heute die Religionen nicht mehr voreinander abschotten, sondern in vielfacher Weise die Zusammenarbeit suchen und damit beginnen. Gottes Geist wirkt in allen Religionen. Er schafft Neues. „Er legt durch die Wüste einen Weg und Ströme durch die Einöde“ (Jes 43,19).

IV. „Unser Gott ist ein Nomade“ – Gotteserfahrungen im Alten Israel 1.

Die Vielfalt der Erfahrungen

Die jüdisch-christliche Glaubenstradition, von der ein gutes Drittel der heutigen Menschheit geprägt ist, nahm ihren Anfang in den Gotteserfahrungen einer Gruppe von Fronarbeitern, denen um etwa 1200 v. Chr. die waghalsige Flucht aus Ägypten gelungen war und die danach in einem lang anhaltenden Verschmelzungsprozess mit der sesshaften Bevölkerung Kanaans zu einem Volk zusammenwuchs. Man kann sich fragen, warum dieses kleine, politisch unbedeutende Volk einen derart tiefgreifenden Einfluss mit einer so nachhaltigen und Wirkungsgeschichte ausgeübt hat. Es gab andere, weit mächtigere und kulturell höher stehende Völker in jener Zeit – zuerst die Ägypter, später die Griechen und die Römer. Auch sie hatten ihre hochentwickelte Religion, ihren Kult, ihre Glaubenserfahrungen. Aber das alles ist heute Historie – eindrucksvoll in ihren Stein gewordenen Glaubenszeugnissen, staunenswert in ihren Kult-Monumenten, aber tot. Die Glaubenszeugnisse Israels sind weit weniger eindrucksvoll und staunenswert, sie bestehen fast ausschließlich im Schrift gewordenen Wort. Und das ist lebendig geblieben. Kaum ein Volk der Antike besitzt über einen Zeitraum von rund 1000 Jahren eine derartige Fülle von Schriftzeugnissen. Allenfalls die Griechen. Aber hier ist zu fragen, ob nicht viele ihrer philosophischen Schriften nur im Schlepptau der jüdisch-christlichen Tradition ihre Geltung bekamen und behielten. Das Schrifttum des Volkes Israel (und danach des beginnenden Christentums) legt nach eigenem Bekunden Zeugnis von der Erfahrung ab, dass Gott „gesprochen“ hat „zu vielen Malen und auf vielerlei Weise“ (Hebr 1,1). Dieses über viele Generationen hinweg, in immer wieder unterschiedlichen und neuen Situationen vernommene „Wort“ Gottes ist aufgezeichnet worden – nach Menschenart unvollkommen, manchmal widersprüchlich, bruchstückhaft, keineswegs immer in literarisch vollendeter Form. Und dennoch hat es etwas „bewirkt“ und „erreicht“ (vgl. Jes 55,11). Die israelitisch-jüdische Glaubenstradition hat einen neuen Aspekt der Gotteserkenntnis und -verehrung eröffnet. Gott erscheint nicht mehr nur als der Angerufene. Er ist auch der Anrufende. „Und Gott sprach …“ so beginnt die Heilige Schrift des Volkes Israel (Gen 1,1). Gott schweigt nicht mehr, sondern er spricht den Menschen an. Er ist nicht mehr nur der geheimnisvolle Urgrund des Seins, sondern greift handelnd und verwandelnd in diese Welt ein. Er teilt sich selbst den Menschen mit. Nicht irgendetwas, nicht besondere Geschenke oder Privilegien fürseine Anhängerschaft, sondern sich selbst. Seine lebendige und Leben schaffende Wirklichkeit. Israelitisch-jüdische Gotteserfahrung ist geprägt von der Nomadenzeit und von der Begegnung mit kanaanäischen Lokalgottheiten. Der Widerspruch zwischen den

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religiösen Vorstellungen und Riten der Nomaden und denen der sesshaften Bevölkerung führt in Israel zu Auseinandersetzungen, die in dramatischem Ringen eine Gotteserkenntnis von einzigartiger Bestimmtheit und Widerstandskraft heranreifen lassen.  Der Gott der Nomaden kann nicht an einen Ort gebunden sein. Er wandert mit seiner Gemeinde; und sie erwartet, dass er immer für sie da ist. Der Glaube der Nomaden lebt aus der Hoffnung, dass Gott sich zur rechten Zeit zeigen werde. Das ganze Dasein ist provisorisch, vorläufig, nach vorn ausgerichtet. Es haftet nicht am Gegenwärtigen; die Erwartung richtet sich auf die Zukunft. Der Nomade findet ständig neue Situationen vor, denen er sich anpassen muss, die ihn herausfordern, die ihn vor Probleme stellen. Er wandert einer Hoffnung entgegen Diese Perspektive lässt die Vergänglichkeit und Bedingtheit des Gegenwärtigen tiefer erfahren als das geruhsame Dasein einer sesshaften Lebensweise. Das Gegenwärtige wird im Nomadendasein als nach vorn gerichtet, noch nicht abgeschlossen erfahren. Aber auch das Vergangene hat seine Bedeutung; es markiert einen Punkt auf dem Wanderweg des Glaubens in die Zukunft. Die Erinnerung an Vergangenes lässt den Zusammenhang von Verheißung und Hoffnung erkennen, zeigt vorläufige Erfüllungen und Erfahrungen auf und macht Mut zum Weitergehen in die Zukunft. In den Religionen der Umwelt Israels ging diese Struktur des Verheißungsglaubens nach der Nomadenzeit völlig unter, während sie sich in Israel im Ringen mit dem Offenbarungsverständnis des sesshaften Agrarlebens immer wieder durchgesetzt hat.  Die Gotteserfahrung der sesshaften Ackerbauern und Viehzüchter wird nicht durch die Verheißung einer zukünftigen Erfüllung, sondern ganz durch die gegenwärtigen Erscheinungen Gottes bestimmt. Der Sesshafte lebt in einer gewissen Erfülltheit und Ruhe, nicht ständig auf Zukunft hin unterwegs. Gott erscheint ihm an bestimmten Orten, die dadurch zu heiligen Orten werden. Menschen siedeln sich in der Nähe dieser Orte an und werden zu Wohngenossen der Götter. Der Heiligung der Orte entspricht eine Heiligung der Zeit; sie wird nicht als nach vorn offenes Geschehen, als Geschichte erfahren, sondern in ihrem Ablauf geordnet. Die Erscheinung Gottes wird zu periodischen, heiligen Festzeiten gefeiert. Die Religion des Sesshaften kreist beruhigt im Zyklus der heiligen Jahreszeiten um den an heilige Orte gebundenen Gott. Die Offenbarung Gottes ist geschichtslos. In Israel erweist sich in der Auseinandersetzung zwischen der Religion der Sesshaften und jener der Nomaden der in die Zukunft blickende Verheißungsglaube als die stärkere Macht. Der Gott Israels ist ein Weg-Gott, ein Führungs-Gott, ein Gott, der im Aufbruch begegnet. „Gott erkennen, heißt ihn wiedererkennen. Ihn wiedererkennen aber heißt, ihn in seiner geschichtlichen Treue zu seinen Verheißungen erkennen, ihn darin als denselben und darum ihn selbst erkennen“1 (Jürgen Moltmann).

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Gotteserfahrungen im Alten Israel

2. Der lange Weg zum Monotheismus Häufig ist die Meinung anzutreffen, der Monotheismus sei von Anfang an charakteristisch für Israel. Bei genauerem Studium der alttestamentlichen Überlieferung ergibt sich ein ganz anderes Bild. Der jüdische Monotheismus war nicht mit einem Schlag und unvermittelt da. Er hatte vielmehr eine lange und wechselvolle Vorgeschichte, in der verschiedene Kräfte am Werk waren.2 Die älteste Religion Israels, sofern man überhaupt schon von „Israel“ sprechen kann, ist – wie die der übrigen Völker des vorderorientalischen Milieus – polytheistisch. Man verehrt eine Vielzahl von Göttinnen und Göttern. Weder die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob noch Mose sind als Vertreter einer monotheistischen oder auch nur monotheismus-ähnlichen Religion zu betrachten. An dieser Situation ändert sich auch in den beiden israelitischen Monarchien (ca. 1020–586 v. Chr.) nicht viel. Zwar erscheint die Stellung Jahwes als Nationalgott in der Königszeit ausgebaut und gefestigt. Daneben aber verehren die Israeliten – angefangen vom König bis hinunter zu Unfreien und Sklaven – ihren je „persönlichen Schutzgott, der besonders für Gesundheit und Familie zuständig ist. […] Frauen richten ihr Gebet auch gerne an die ‚Himmelskönigin‘ ; sie wird mit Räucherwerk, Trankopfern und besonderen Kuchen geehrt und ist offenbar eine besondere Helferin“ (vgl. Jer 7,18; 44,25). 3 Auch die Erschaffung der Welt ist – zumindest für das ältere Israel – nicht das Werk Jahwes, sondern des mächtigen Gottes El (vgl. Gen 14,19). Als im 9. Jahrhundert v. Chr. Anhänger des Fruchtbarkeitsgottes Baal versuchten, ihre Gottheit anstelle Jahwes zum Nationalgott des Nordreiches Israel zu machen, begann der Kampf um die absolute Alleinherrschaft Jahwes, in dem besonders der Prophet Elija (hebr. = mein Gott ist Jahwe!) eine führende Rolle übernahm (vgl. 1 Kön 18). Doch erst nach dem babylonischen Exil (586–538 v. Chr.) bekennt sich die zurückgekehrte politische und religiöse Elite des Judentums zum streng monotheistischen Glauben.4 Allerdings wird auch dieser Monotheismus Israels häufig missverstanden. Das Grundbekenntnis Israels – das einzige „Dogma“ des Judentums – lautet: „Höre Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig“ (Dtn 6,4). Dieses „Shemá“ (hebr.: höre!) ist Hauptteil des jüdischen Morgen- und Abendgebets. Die jüdischen Martyrer aller Zeiten sind mit diesem Bekenntnis auf den Lippen in den Tod gegangen. Bei der Betonung der Einzigartigkeit Jahwes handelt es sich aber nicht um eine mathematische oder quantitative Einheit, etwa weil „zwei oder mehr nicht absolut sein“ können. Vielmehr ist die Einzigartigkeit Jahwes qualitativ zu verstehen5: Jahwe ist unvergleichlich groß (Ps 77,14), heilig (1 Sam 2,2) und machtvoll in seiner Hilfe (2 Chr 14,10) und Wunderkraft (Ex 15,11). Da aber der Mensch den einzig(artig)en Gott im Spiegelbild der Welt und ihrer Geschichte immer nur gebrochen und in sehr unterschiedlichen, manchmal auch widersprüchlichen Erfahrungen wahrnehmen kann (so dass er geneigt ist, auf eine Mehrzahl von Göttern und Göttinnen als Wirkursache zu schließen), muss er selbst an der Einheit Gottes „mitarbeiten“. Das Bekenntnis zur Einzigartigkeit und Einheit Gottes nennt der gläubige Jude darum „Gott einigen“. Dieses „Einigen“ geschieht auf dem

Der lange Weg zum Monotheismus

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Hintergrund der Geschichte des Volkes Israel, das sich erst nach einem langen und schmerzlichen Erkenntnisweg zum Bekenntnis des einen und einzigen Gottes durchgerungen hat. Die historischen Geschehnisse und die in ihrer Deutung nicht selten weit auseinandergehenden individuellen Erfahrungen der suchenden und nachdenklichen Menschen jener Zeit wurden gerade dadurch zu einer Einheit zusammengefügt, dass sie bei allem Wandel und bei aller Verschiedenheit das durchgängige Wirken eines einzigen, aber immer wieder anders erfahrenen und sich erfahrbar machenden Gottes zu erkennen glaubten. Der altttestamentliche Fromme musste sich jede einzelne seiner Erfahrungen neu durchbuchstabieren und sie auf ihren letzten und eigentlichen Hintergrund hin befragen. Im Nachdenken, im Gebet, im Ringen mit diesen unterschiedlichen Gotteserfahrungen geschah die „Einigung Gottes“. „Gott einigen“ bedeutet also, dass der Jude (und mit ihm jeder Gott suchende Mensch) lernen muss, in der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Erfahrungen mit dem Göttlichen, mit dem Transzendenten dennoch nur den einen und einzigen Gott am Werk zu sehen und mit seinen bisherigen Erfahrungen in „Ein“-Klang zu bringen.  Da ist der Gott der Patriarchen, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der in besonderer Weise einer Sippe oder einem einzelnen Stammvater verbunden ist. Mit diesem Gott kann man sprechen, kann man Umgang haben; auf ihn kann man vertrauen. Er ist wie ein Mitglied der Großfamilie. Darum besitzt er auch keine feste Bleibe, keinen Altar, keine Kultstätte. Er geht mit, wenn die Zelte abgebrochen und die Herden zu neuen Weideplätzen geführt werden.  Da ist der Gott vom Sinai, der die Berge zerreißt, der im Sturmwind daherfährt, der die Blitze zucken und den Donner rollen lässt. Diese Gotteserfahrung spiegelt Erlebnisse in der Wüste und im Bergland wider. Die eigentliche „Heimat“ dieses Gottes ist das Gebiet zwischen dem Toten Meer und dem Golf von Aqaba, dem Roten Meer.  Da ist der Befreier-Gott, der es nicht duldet, dass Menschen durch Menschen unterdrückt werden, und der das Volk, das bereit ist, sich ihm anzuschließen und ihm nachzufolgen, aus der Knechtschaft heraus führt. In allen Gefahren, in aller Drangsal und Not ist auf ihn Verlass, ist er Hilfe und Beistand.  Da ist der Gott der Fruchtbarkeit, der Gott der Sesshaften, der Ackerbauern. Er besitzt eine Kultstätte, an der ihm alle Jahre im gleichen, immer wiederkehrenden Rhythmus in drei Erntefesten (Mazzoth-, Pfingst- und Laubhüttenfest) der geschuldete Dank erwiesen wird.  Da ist schließlich auch der Kriegs- Gott, der sein Volk zum Sieg führt und die Feinde unterwirft (vgl. Ex 15,3). Dieses Gottesbild ist für uns Heutige wohl das anstößigste. Es verliert nur dadurch etwas von seiner Problematik, wenn wir bedenken, dass nach Vorstellung der alten Völker des Orients jeder Krieg letztlich ein Kampf zwischen den Göttern der beteiligten Völker oder Sippen darstellte. Bis in unsere Tage sind solche Gedanken noch lebendig, wenn auch meist in säkularisierter Form als Ringen zwischen „guten“ und „bösen“ Weltanschauungen und Ideologien. (Nicht nur) Israel musste in den Katastrophen, die das Reich vernichteten und die Führungsschichten auslöschten oder ins Exil trieben, die schmerzliche,

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aber heilsame Erfahrung machen, dass Gott nicht auf Seiten der stärkeren Bataillone steht, sondern auf der Seite der Unterdrückten und Entrechteten. Erfolg ist keiner der Namen Gottes. In einem langen Verschmelzungsprozess hat Israel diese fünf Ursprungssituationen seiner Gotteserfahrung in dem einen „Ich-bin-da“, in Jahwe, zusammengefasst. Damit aber blieb das Gottesbild widersprüchlich und kontrastreich. Israel hielt diese Spannung durch. Es erlag nicht der Versuchung, die unterschiedlichen Erfahrungen als Offenbarungen verschiedener Götter zu interpretieren und so in Polytheismus zu verfallen. Aber es blendete auch nicht widerständige und sperrige Erfahrungen aus, um so seinen Ein-Gott-Glauben möglichst problemlos zu gestalten.

3. Jahwe – der Einzige und Einsame Der „Name“ des Gottes, der schließlich nach einem langen Ringen zum einzigen Gott Israels aufstieg, war „Jahwe“. In der deutschen Einheitsübersetzung der Bibel wird er mit „Ich-bin-da“ wiedergegeben (vgl. Ex 3,14). In der hebräischen Sprache, im Urtext der Bibel, besteht dieser „Name“ eigentlich aus drei Wörtern und ist nicht in der ersten, sondern in der dritten Person Singular gefasst: „’ehjé ‘ashér ‘ehjéh“. Eine genaue Übersetzung erweist sich als schwierig. Das in der Einheitsübersetzung gewählte „Ich-binda“ ist wenig aussagekräftig; es wirkt zu statisch, unlebendig und unbeweglich. Bei der hebräischen Satzkonstruktion handelt es sich um eine „tatkräftige Verbalform im Futurum“ (Pinchas Lapide 6). Eine Wiedergabe mit „Ich bin, der ich bin“, wie sie in älteren Bibelübersetzungen zu finden war, ist daher völlig unzutreffend und irreführend. Neuere Exegeten ziehen deshalb eine umschreibende und beschreibende, sinngemäße Übertragung vor. So übersetzt Alfons Deißler den Gottesnamen „Jahwe“ mit: „Ich bin da und werde da sein als dein helfender und heilvoller Gott, was auch geschehe.“7 Und Erich Zenger verwendet, dem hebräischen Original entsprechend, sogar die dritte Person: „Er ist da und er will da sein so, wie er von seinem tiefsten Wesen her da sein will: nämlich als der, der befreit und vom Tod zum Leben hinüberführen kann und will.“ 8 Durch solche Versuche gewinnt der Gottes-„Name“ (eigentlich besser: die GottesAussage oder -Ansage) eine überraschende Dynamik: „Ein Wirksam-Sein, ein Quicklebendig-Sein, ein Mit-Sein und ein Sich-Erweisen […], die allesamt als ein pausenloser Werdegang erfahren werden. […] Es gehört zu Gottes dynamischem Wesen, dass es im Werden ist und sich im innerweltlichen Wirken äußert.“ 9 Der Jahwe-Name Gottes ist ein Aufruf, immer wieder in den unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungssituationen nach dem sich darin offenbarenden Gott zu forschen. „Jahwe“ ist eine Aufforderung zum Suchen: „Wenn ihr mich sucht, so sollt ihr mich finden; wenn ihr nach mir fragt von ganzem Herzen, so werde ich mich von euch finden lassen, spricht der Herr“ (Jer 29,13 f.). Wer meint, den Namen Gottes gefunden zu haben und ihn nun in Besitz nehmen zu können, verfehlt Gott; er verehrt nur sein eigenes Bildwerk, das er sich von Gott gemacht hat; er trifft auf sein eigenes Phantasiegebilde. Neuere sprachwissenschaftliche Untersuchungen sehen allerdings in der hebräi-

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schen Deutung des Gottesnamens „Jahwe“, wie sie Ex 3,14 vornimmt („’ehjéh ‘ashér ‘ehjéh“), schon einen Erklärungsversuch des biblischen Redaktors aus späterer (nachjahwistischer) Zeit. So glaubt Ernst Axel Knauf, in den vier Buchstaben des Gottesnamens JHWH (die hebräische Schrift kennt keine Vokale) eine Verbform der arabischen Basis HWY (= „wehen“) identifizieren zu können, die auch in den Schriften des Alten Testaments unter den Bedeutungen „fallen“ (Schnee: Ijob 37,6) oder aber „über jemand herfallen“ (2 Sam 11,2) anzutreffen ist. 10 Sollte dies tatsächlich die ursprüngliche Bedeutung des dem Gottesnamen zugrunde liegenden Verbums sein, so spiegelt sich darin offenbar die Erfahrung überraschender Manifestationen einer Wirklichkeit wider, deren Dynamik nicht vorauszuberechnen ist. Jahwe wäre dann als ein Gott, der unsichtbar „weht“ wie der Wind, der aber auch „plötzlich herabkommt“ und in eine Menschenmenge „einbricht“ – schützend oder schlagend. 11 Der Gottesname (Jahwe) wurde und wird von gläubigen Juden nicht ausgesprochen. In biblischer Zeit durfte ihn der Hohepriester einmal im Jahr am Versöhnungstag (Yom Kippur) im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels in den Mund nehmen. Nach gemeinorientalischer Vorstellung bedeutet den Namen eines Menschen und erst recht den Namen Gottes zu kennen und auszusprechen, die Versuchung, Macht über diesen Menschen oder über Gott auszuüben. Durch das Verbot, den göttlichen Namen auszusprechen, wurde Israel wohl auch daran erinnert, dass nicht selten eine beträchtliche Gefahr für die Religion und für die religiöse Praxis gerade von jenen Menschen ausgeht, die meinen, Gott genau zu kennen und über sein innerstes Wesen bestens informiert zu sein. Denn dieser scheinbar so gut bekannte „Gott“ lässt den begründeten Verdacht aufkommen, nur Gebild von Menschenhand zu sein.

4. „Einen Bund habe ich geschlossen“ Charakteristisch für den Glauben Israels ist der Gedanke, dass Jahwe mit dem Volk einen Bund geschlossen habe. Eine ausgebaute „Bundestheologie“ findet sich in der sehr komplexen und vielfach ineinander verschachtelten Sinaiperikope (Ex 19–34). Die „Verfassung“ dieses Bundes zeigt deutliche Parallelen zu bestimmten „Souveränitätsverträgen“ zwischen dem Großkönig und seinen Vasallen, wie sie bei den Hethitern üblich waren.12 Für den Ablauf dieses Bundesschlusses war ein genau detailliertes Abschlussformular zu beobachten. Zuerst stellt sich der Souverän selbst vor. Dann zählt er die am Vasallen geübten Wohltaten und Gunsterweise auf. Darauf folgt die Verpflichtung zur Gefolgschaftstreue, eine Aufzählung von Einzelbedingungen und eine Zeugenliste. Den Abschluss bilden Segen- und Fluchformeln, die bei Einhaltung oder Nichtbeachtung des Bundes zur Auswirkung kommen sollten. Die Bundesurkunde wird schließlich im Heiligtum hinterlegt. Die Erzählung vom Bundesschluss Jahwes mit seinem Volk folgt genau diesem Schema. Die Initiative geht von Jahwe aus; das Volk ist als Empfänger gedacht, das von Gott in Pflicht genommen wird (Ex 19,1–6). Die Sinaierzählung schildert das machtvolle Auftreten Jahwes unter kosmischen Begleiterscheinungen (Ex 19,14–19). Der Vertrag beginnt mit einer Präambel, die den Namen und Titel des Großkönigs

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angibt („Ich bin Jahwe, dein Gott“, Ex 20,2a), und einem Prolog, in dem der König seine Vasallen an sein Wohlwollen erinnert, das sie zu ewiger Dankbarkeit verpflichte („… der ich dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Sklavenhause, herausgeführt habe“, Ex 20,2b). Präambel und Prolog sind in der Form einer direkten Anrede gehalten. Es folgen Bestimmungen, in denen die den Vasallen auferlegten Pflichten festgelegt werden (Ex 20,1–17). Ein typisches Merkmal ist auch das Verbot, zu fremden Ländern außerhalb des Hethiterreiches Beziehungen aufzunehmen oder in Feindschaft mit anderen Vasallen des Königs zu leben (vgl. die beiden Teile des Dekalogs: Ex 20, 2–11 und 20,12–17). Die Bundesurkunde wird schließlich dem Bundesmittler Mose in Form steinerner Gesetzestafeln übergeben (Dekalog, „Zehn Gebote“: Ex 24,12) und im Heiligtum, in der Bundeslade, hinterlegt (Ex 30,26), um bei bestimmten Anlässen öffentlich vorgelesen zu werden (vgl. Dtn 10,5; 31, 9–13). Der Bundesabschluss erfolgt entsprechend den profanrechtlichen Gebräuchen in Art einer Opferhandlung. Opferblut wird auf die beiden Vertragspartner gesprengt, auf den Altar, der Gott vertritt, und auf das Volk (Ex 24,4–8). In den hethitischen Verträgen werden noch verschiedene Götter als Zeugen angerufen, was natürlich in der Bibel fehlt (vgl. aber Jos 24,22.27, wo das Volk selbst und die heiligen Steine den Bund bezeugen). Die Strafbestimmungen in diesen Verträgen sind gewöhnlich durch eine Reihe von Segensverheißungen und Flüchen ergänzt (vgl. Dtn 27; 28). Im Bund erkannte Israel Jahwes Oberhoheit an. Vom Bundesgedanken her nahm auch die Vorstellung der Herrschaft Gottes über sein Volk, des Königtums Gottes, die für das Alte wie das Neue Testament so grundlegend ist, ihren Ausgang. Dieser Gedanke mag im Lauf der Jahrhunderte manche Wandlung erfahren haben, doch es handelt sich hier nicht um eine späte Idee, die sich erst nach Entstehung der Monarchie in Israel entwickelt hat. Der israelitische Zwölfstämmebund war selbst eine Theokratie unter der Königsherrschaft Jahwes. Die ältesten Kultgegenstände waren Symbole dieses Königtums: Die Bundeslade war Jahwes Thron (vgl. Num 10, 35 f.), der Stab des Mose war sein Zepter (vgl. Ex 10,13 mit Mi 7,14), die heiligen Lose waren seine Weisungen (vgl. 1 Sam 28,6). Durch diesen auf die Initiative Jahwes zurückgehenden Bund sah Israel sich in besonderer Weise auserwählt. Freilich wird diese „Auserwählung“ nirgends mit irgendeinem Verdienst in Verbindung gebracht, sondern stets mit der unverdienten Gunst Jahwes. Gerade die ältesten Erzählungen stellen Israel immer wieder als feige, undankbar und widerspenstig hin. Doch es fühlt sich als das Volk, das Jahwe „aus allen Völkern, die auf Erden sind, für sich erwählt“ (Dtn 7,6) und dazu berufen hat, dass „die ganze Erde der Herrlichkeit des Herrn voll werde“ (Num 14,21). Nur so ist auch zu verstehen, dass Jahwe als ein „eifersüchtiger“ Gott geschildert wird, als einer, der keine anderen Götter neben sich duldet, weil das „Gebilde von Menschenhand sind“ (Ex 20,4 f.), und der es auch nicht zulässt, dass Israel Göttern nachläuft, die der „Scheuche im Gurkenfeld gleichen“ (Jer 10,5). Die (positive) Kehrseite der Eifersucht ist die Liebe. Von der Liebe Gottes zu seinem Volk ist in einer Reihe von Texten des Alten Testaments die Rede. Am ergreifendsten schildert sie der Prophet Hosea, wenn er Gott sprechen lässt: „Als Israel jung war, gewann ich es lieb; aus Ägypten rief ich meinen Sohn […] Ich war es doch, der

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Ephraim gehen gelehrt, der sie auf die Arme genommen. Aber sie wollten nicht erkennen, dass ich sie heilte, sie an mich zog mit Banden der Huld, mit Seilen der Liebe“ (11,1–4). Der Glaube an Erwählung und Bund hatte seine Wurzeln in einer Rückbesinnung auf geschichtliche Ereignisse, die von den Augenzeugen – dem eigentlichen Kern Israels – weiter überliefert worden waren. Die Einzelheiten der biblischen Erzählungen lassen sich nicht mehr nachprüfen. Doch sie beruhen fraglos auf geschichtlichen Vorgängen. 13 Es besteht kein Grund zu zweifeln, dass hebräische Sklaven auf ungewöhnliche Weise unter der Führerschaft von Mose aus Ägypten entflohen waren und dass sie ihre Befreiung als das rettende Einschreiten Jahwes verstanden, in dessen Namen Mose zu ihnen gekommen war. Diese Menschen erkannten Jahwe als ihren Bundesgenossen und verpflichteten sich, „sein Volk“ zu sein. Damit war eine Gemeinschaft gegründet, die nicht auf Zugehörigkeit zu einer Sippe oder einem Stamm beruhte, sondern auf gemeinsamer geschichtlicher Erfahrung und sittlicher Entscheidung. Was in den „Zehn Geboten“ niedergelegt ist, findet sich in ähnlicher Weise auch in Mesopotamien und Ägypten. Es ist uralte Menschenweisheit, die hier aufgeschrieben wurde. Es sind althergebrachte, weit verbreitete Erfahrungen über ein geregeltes menschliches Zusammenleben. Einmalig ist allerdings, dass diese Regeln in Zusammenhang gebracht werden mit einer ganz konkreten geschichtlichen Gotteserfahrung, ja dass sie sogar aus ihr abgeleitet werden:  Weil Gott sein Volk aus der Knechtschaft errettet und in die Freiheit geführt hat, deshalb darf der Mensch nicht mehr den Menschen knechten und in Unfreiheit halten.  Weil Gott die Würde des Volkes Israel wiederhergestellt hat, deshalb darf der Mensch nicht die Würde anderer Menschen missachten.  Weil Gott das Wohl des Volkes bewirkt hat, deshalb muss der Mensch auf das Wohl der Mitmenschen bedacht sein und sich nach Kräften dafür einsetzen. Die vertikale Linie der Gottesvorstellung wird unlösbar verbunden mit der horizontalen Linie der Mitmenschlichkeit und Solidarität. Gottesrecht wird zu Menschenrecht. Und auch umgekehrt: Menschenrecht wird zu Gottesrecht. Das Ethos wird hineingenommen in den Kern der Religion. „Im biblischen Offenbarungsraum ist die Rückbindung des Menschen an Gott nur verwirklicht, wenn sie zugleich über den Mitmenschen geht“ (Alfons Deißler14). Israel hat das Angebot Gottes, seine Freundschaft und Treue und die dadurch bedingte Freundschaft und Treue untereinander, nicht durchgestanden. Das schildern die auf das Buch Exodus folgenden Schriften des Alten Testaments zu wiederholten Malen. Die strikte Beachtung der gegenseitigen Verschränkung und Überschneidung von Menschenrecht und Gottesrecht, von Ethos und Religion, von Mitmenschlichkeit und Gottesverehrung, von Zuwendung zu den Menschen und Hinwendung zu Gott überforderte die Gemeinschaft. Es kam zu einer Kette von „Bundes-Brüchen“, die den „Zorn“ Jahwes herausforderten und die Unheil und Fluch über das Volk brachten. Aus diesem Grund verkündigte der Prophet Jeremia, Gott werde einen neuen, unvergänglichen Bund schließen, der den Menschen ins Herz geschrieben werden wird (Jer 31,31). Ezechiel redet von einem „ewigen Friedensbund“ Gottes mit Israel (Ez 37,26).

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Doch erst der „Gottesknecht“, der „die Sünden der vielen“ trägt, der „ihre Schuld auf sich lädt“, wird „die vielen“ endgültig gerecht machen (Jes 53,10–12). Die literarische Gestaltung des Bundesgedankens dürfte wohl erst im Babylonischen Exil (597/587/582–538 v. Chr.) erfolgt sein, als der Glaube an den mitgehenden und helfenden „Ich-bin-da“ in eine tiefe Krise geriet und die religiöse und politische Führungsschicht des Volkes sich genötigt sah, nach einer neuen tragfähigen Identität zu suchen. Israel hält auch nach der Zerstörung des Tempels, nach dem Zusammenbruch des Königtums und nach dem Verlust der staatlichen Unabhängigkeit an seinem Gott fest. Jahwe ist mit seinem Volk, auch wenn Jerusalem in Trümmern liegt. Es werden Idealbiografien entworfen: Abraham als Zeuge eines unerschütterlichen Glaubens, Mose als von Gott berufener und gesandter Prophet und als Vermittler der göttlichen Weisungen (10 Gebote), König David, der vom Bandenführer zum Idealkönig aufsteigt und im Laufe seines Lebens immer frömmer wird. All diese Geschichten sollen dazu dienen, den Glauben an die verlässliche Treue Gottes zu seinem Volk und an den „Bund“, den er mit ihm geschlossen hat, neu zu beleben und zu festigen. Das Neue Testament nimmt die alttestamentliche Redeweise vom „Bund“ auf. Analog zu Mose erscheint Jesus als der „Mittler des neuen Bundes“ (Hebr 12, 24). Im Gottesknecht, der sein Leben für die vielen dahingab, erblickt die Urgemeinde den gekreuzigten Jesus, der ebenfalls sein Blut „für die vielen zur Vergebung der Sünden vergossen“ (vgl. Mt 26,28) und damit den vom Propheten Jeremia verheißenen „Neuen Bund“ gestiftet hat (1 Kor 11,25; Lk 22,20). Dieser „Neue Bund“ bedeutet allerdings nicht eine Ablösung des „Alten Bundes“, sondern lediglich so etwas wie eine „Renovierung“. Der „Alte Bund“ ist nicht gekündigt.

5. Die Propheten Ein charakteristisches Merkmal alttestamentlicher Glaubensgeschichte stellt das Prophetentum dar. Freilich verstehen Christen, vom volkstümlichen Sprachgebrauch unterstützt, das Prophetische an Israels Religion oft dahingehend, dass diese Männer (und Frauen, z. B. Hulda, Mirjam, Debora) nur die eine Aufgabe hatten, in die Zukunft zu blicken, Heil und (vornehmlich) Unheil anzusagen und vor allem den Messias Jesus anzukündigen. Diese völlig falsche Vorstellung wird schon dem ursprünglichen griechischen Wort „Prophet“ nicht gerecht. Das meint nämlich soviel wie „Sprecher vor (dem Volk)“. Erst recht trifft es nicht die Bedeutung des hebräischen Wortes „nabí“, das zugleich aktivisch und passivisch verstanden werden kann. Es meint (aktivisch) einen im Auftrag Jahwes „Rufenden“, weil er (passivisch) dazu von Jahwe eigens „berufen“ wurde. Alfons Deißler übersetzt „nabí“ daher treffend mit „berufener Rufer“ (= bevollmächtigter Ausrufer des Gotteswillens). Vornehmste und wichtigste Aufgabe der großen Prophetengestalten wie Jesaja, Jeremia, Amos, Ezechiel war es, in nicht selten drastisch-beißender Schärfe in die Gegenwart hinein zu sprechen, sich einzumischen und engagiert auf Missstände hinzuweisen. Propheten galten für viele als Provokateure, als Utopisten, als Miesmacher und als unbarmherzige Kritiker. Sie forderten ihr Publikum heraus, Sie scheuten sich nicht,

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den Mächtigen und Reichen, den Superfrommen und Scheingläubigen ins Gewissen zu reden. Sie prangerten den charakterlosen Opportunismus der Jerusalemer Priesterschaft an. Sie wagen es sogar, den König zu kritisieren (vgl. Jer 22,1–9). Selbst vor dem Tempel und der Tora machen sie nicht Halt, wenn eine zur Schau gestellte Frömmigkeit nur dazu dient, die Befolgung der Gebote der Nächstenliebe zu kaschieren (vgl. Jer 7,1–15). Der brauchbare und domestizierte Gott ist nicht der Gott der Propheten. Götzendienst und die Verehrung Jahwes unterscheiden sich grundlegend. Der Prophet, der sich selbst immer von Jahwe herausgefordert weiß, fordert seinerseits heraus. So übt der Prophet Amos (um 750 v. Chr.) massive Kritik am sozialen und kultischen Verhalten: „Ihr liegt auf Betten aus Elfenbein und faulenzt auf euren Polstern. Zum Essen holt ihr euch Lämmer aus der Herde und Mastkälber aus dem Stall. Ihr grölt zum Klang der Harfe, ihr wollt Lieder erfinden wie David. Ihr trinkt Wein aus großen Humpen, ihr salbt euch mit dem feinsten Öl. […] Das Fest der Faulenzer ist nun vorbei“ und „Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe kein Gefallen an euren Gaben, und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen“ (Am 6,4–7; 5,21–22). Ähnlich harsche Worte findet Jesaja, der über die sozialkritische Redetätigkeit hinaus insbesondere ein falsches Sicherheitsdenken anprangert: „Weh den trotzigen Söhnen – Spruch des Herrn –, die einen Plan ausführen, der nicht von mir ist, und ein Bündnis schließen, das nicht nach meinem Sinn ist; sie häufen Sünde auf Sünde. Sie machen sich auf den Weg nach Ägypten, ohne meinen Mund zu befragen. Sie suchen beim Pharao Zuflucht und Schutz und flüchten in den Schatten Ägyptens. Doch der Schutz des Pharao bringt euch nur Schande“ (Jes 30,1–3). In ähnlicher Weise wendet sich Jeremia gegen eine falsche Koalitionspolitik. Es ist geradezu ein Kennzeichen der Zeit zwischen 9. und 8. Jahrhundert v. Chr., dass man sich radikal gegenüber Bestrebungen zur Wehr setzt, Gott und Zukunft in den Griff zu bekommen. Dass es sich bei der prophetischen Berufung nicht um bloß subjektives Erleben handelte, sondern um die echte Erfahrung eines von außen her Einbrechenden, zeigen die so genannten „Bekenntnisse“ des Jeremia: „Du hast mich betört, o Herr, und ich ließ mich betören; du hast mich gepackt und überwältigt. […] Sagte ich aber: ‚Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen sprechen‘, so war es mir, als brenne in meinem Herzen Feuer, eingeschlossen in meinem Innern. Ich quälte mich, es auszuhalten, und konnte nicht“ (Jer 20,7.9). Der Prophet ist von einer außer ihm lebendigen, heiligen Macht gedrängt, das Wort zu sagen, und kann sich dem nicht entziehen. Nicht selten haben die Propheten ihre ohnehin schon bildreichen Worte mit Zeichenhandlungen begleitet. Jesaja geht nackt in der Öffentlichkeit umher, um zu zeigen, dass Juda von Assur bis aufs Hemd ausgezogen werden wird (Jes 20,1–6). Jeremia zerbricht einen Tonkrug (Jer 19) und geht unter einem Joch einher, das er sich hat auflegen lassen, um deutlich zu machen, dass der König von Babylon dem Volk Israel seine Knechtschaft aufzwingen wird (Jer 27–28). Ezechiel lässt sich das Haupthaar scheren und tritt in den Hungerstreik, um falsche Hoffnungen zu diskreditieren (Ez 5). Es wäre aber einseitig, nur die sozial- und kultkritische Seite der Propheten und ihre Androhung kommenden Unheils herauszustellen. Zu den schönsten und beein-

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druckendsten Texten in ihrem Schrifttum gehören die großartigen Visionen eines Jesaja über das messianische Reich des Friedens und der Gewaltlosigkeit. Der messianische Heilsbringer erhält Prädikate, wie sie sonst im Alten Testament nirgends vorkommen und die ihn damit über die gewöhnlichen Sterblichen hinausheben: Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friedens-Fürst (Jes 9,5). Er „schlägt die Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes. […] Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib. Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen nebeneinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind steckt seine Hand in die Höhle der Schlange. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist“ (Jes 11,4b.5–9). Gleich zweimal findet sich im Prophetischen Schrifttum das Bild vom Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen und der Schwerter zu Winzermessern (Jes 2,4; Mich 4,3). Jesaja lässt jeden Soldatenstiefel und jeden blutbefleckten Mantel zu einem „Fraß des Feuers“ werden (Jes 9,4). Auch Jeremia erwartet einen „gerechten Spross aus David; er wird als König herrschen und weise handeln und Recht und Gerechtigkeit üben im Lande“ (Jer 23,5). Er ist es schließlich, der von einem neuen Bund spricht: „Seht, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn –, in denen ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen werde, nicht wie der Bund war, den ich mit euren Vätern geschlossen habe, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägypten herauszuführen. […] Ich lege mein Gesetz in sie hinein und schreibe es auf ihr Herz. Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. Keiner wird mehr den anderen belehren, man wird nicht zueinander sagen: Erkennt den Herrn!, sondern sie alle, klein und groß, werden mich erkennen“ (Jer 31,31–34).

6. Gewalt und Gewaltkritik Nicht wenige Christinnen und Christen verbinden mit dem Alten Testament die Vorstellung von Gewalt, von blutrünstigen Eroberungen, vom Abschlachten der Feinde und von einem Gott der Rache. Dem stellen sie dann das Neue Testament gegenüber als Botschaft von der Gewaltlosigkeit, von der Feindesliebe und von einem Gott der Vergebung und Liebe. Es lässt sich nicht leugnen: Der erste Eindruck, den die Bibel uns liefert, ist fatal. Da gibt es nichts zu beschönigen. Nun ist die Bibel aber keine Quelle, die uns verlässliche historische Tatsachenberichte liefert. Sie ist vielmehr ein Buch, das aus einer bestimmten politischen und religiösen Situation heraus die geschichtliche Überlieferung des Volkes deutet und überarbeitet. Wer die „Gewalttexte“ in der Bibel richtig verstehen will, kann das nur über eine ausreichende Erforschung der Texte selbst, ihrer Hintergründe und Zusammenhänge und der daraus sich ergebenden Interpretation erreichen. 1. Grundsätzlich gilt: Die Bibel ist kein historisches Werk, das zuverlässig und

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detailliert über Ereignisse berichtet, die sich so und nicht anders zugetragen haben. Das Alte Testament entstand in einer sehr wechselvollen Geschichte in einem Zeitraum von etwa acht Jahrhunderten. „Theologumena kamen und gingen; das Scheitern leitender theologischer Konzeptionen und ehemals bedeutsamer Gottesbilder, so auch das Scheitern mancher theologischer Theorien über das unverschuldete Leiden wurden erkannt und ausformuliert; und dies ging in Gestalt jüngerer Texte wiederum in das Alte Testament ein, erhöhte seine Komplexität, bewahrte seine Lebensnähe.“15 2. Die Bibel ist auch kein frommes Erbauungsbuch, das einfältig eine heile Welt vorgaukelt und alles Unheile – wie Gewalt, Krieg, Mord, Ungerechtigkeit, Zerstörung – außen vor lässt. „Sie ist vielmehr ein spannungsreiches Buch, das auf die Suche nach der gelebten Gotteswahrheit schickt. Es steckt dafür einen Rahmen und einen Horizont ab, innerhalb dessen das Lebensexperiment gewagt werden muss – in permanenter Auseinandersetzung mit den vielfältigen Vorgaben der Überlieferung.“ 16 3. Die biblischen Texte sind nicht „als zeitlose Wahrheit formuliert worden, sondern in ganz spezifischen gesellschaftlichen und religionsgeschichtlichen Kontexten. Nur wenn die ursprünglichen und heutigen Kontexte mitreflektiert werden, können biblische Texte überhaupt erst verstanden werden.“ 17 4. Das Alte Testament stellt die Gewalt in vielfacher Form und in erschreckender Häufigkeit dar. Es verschweigt sie nicht. Es versteckt sie nicht. In dieser Hinsicht ist die Bibel „wie ein Spiegel, in dem die Gewalttätigkeit der ganzen Welt und aller Zeiten aufscheint.“ 33 5. Einige Texte stellen ganz unverblümt und illusionslos dar, dass Gewalt grundsätzlich zum Schicksal des menschlichen Daseins gehört: „Die Erde war in Gottes Augen verdorben, denn sie war voll von Gewalttat“ (Gen 6,11). 6. Ein gut Teil der drastischen Gewaltschilderungen „geht auf das Konto altorientalischer Kriegsphraseologie. Die massiven Vernichtungsstrategien in den Erzählungen zur Landnahme sind zum Teil von nationalistischen Autoren in Szene gesetzt, die es zeitgenössischen Kriegsberichterstattern gleichtun möchten.“ 18 Vor allem die im Buch Josua geschilderten Gewalttaten aus vergangener Zeit dienen der ideologischen Untermauerung der rigorosen Kultreform des Königs Joschija (640–609) und der aktuellen Kriegs-Propaganda samt der dazu notwendigen moralischen Aufrüstung. 7. Andere Texte, die von Gewalt handeln, zeigen deren schlimme Folgen auf (Kain und Abel, Sintflutgeschichte). Sie sind insofern eher als gewaltkritisch zu werten. „Gerade in dieser unverblümten Aufdeckung all dessen, was zur Gewalt führt und wie sich Gewalt artikuliert, (geht) die Bibel einen Schritt über die Gewalt hinaus, insofern sie ausdrücklich die inneren Gesetze und Befindlichkeiten von Gemeinschaften skizziert, die ohne Gewalt auskommen oder zumindest mit ihr leben und überleben können.“ 19 8. Eine weitere Gruppe von „Gewalttexten“ (z. B. die „Fluchpsalmen“) sind, wie eine historisch-kritische Analyse zeigt, „fast ausschließlich als Texte der Angst und der Ohnmacht entstanden.“ 20 9. Von besonderer Brisanz ist allerdings die Verquickung des Gottesbildes mit der Gewalt. „Jahwe ist ein Krieger“ (Ex 15,3), so steht es im sogenannten Siegeslied am Schilfmeer. Israel folgt hier einer gemein-orientalischen Tradition, nach der jede kriegerische Auseinandersetzung letztlich ein Krieg zwischen den Göttern der beteiligten

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Gotteserfahrungen im Alten Israel

Kontrahenten darstellt und jeder Sieg der eigenen Partei als ein Sieg des „eigenen“ Gottes über den fremden Gott oder die fremden Götter interpretiert wird. Ein genau gegenteiliges Gottesbild findet sich in Jes 7,1–9; 30,15 f.; 31,1.3. Hier wird in pointierter Zuspitzung jedes kriegerische Handeln ausgeschlossen. Nur wer „Stille und Vertrauen“ bewahrt und „nicht auf die Menge der (Kriegs-) Wagen und auf die zahlreichen Reiter“ setzt, darf auf Jahwes helfendes Eingreifen zählen. Die Erfahrungen Israels mit „seinem“ Gott Jahwe sind ganz offensichtlich von Anfang an höchst ambivalent, um nicht zu sagen widersprüchlich. Aber es wird nicht der Versuch unternommen, sie zu harmonisieren oder gar zu vertuschen. Beide Gottesbilder – das des kriegerischen und das des kriegsverabscheuenden Gottes – stehen hart und unvermittelt nebeneinander.  Da wird Jahwe einerseits dargestellt als einer, der Väter und Söhne, Feinde und Könige „zerschmettert“ (Jes 13,14; Ps 68,22; 110,5), der sich in einen regelrechten Blutrausch steigert: er „zerstampft“ die Völker in seinem Grimm, „ihr Blut spritzt auf“ und „befleckt“ seine „Kleider“ (Jes 63,1–6); andererseits erscheint Jahwe als einer, der wie „Eltern“ ist, die den Säugling auf die Arme nehmen und an ihre Wange heben (Hos 11,3 f.).  Da tritt Jahwe auf als einer, der befiehlt, „die Völker auszurotten“ (Ps 106,34); andererseits ist er wie ein Hirte, der seine Schafe sucht und sich selber um sie kümmert (Ez 34,11).  Einerseits tritt Jahwe wie einer auf, dessen „Schwert sich ins Fleisch frisst“ (Dtn 32,42); andererseits wird er dargestellt als Heiliger, der in der Höhe wohnt, der aber auch bei den Zerschlagenen und Bedrückten ist, um den Geist der Bedrückten wieder aufleben zu lassen (Jes 57,5).  Jahwe wird erfahren als einer, der seine Rechte „glühen lässt wie einen feurigen Ofen“ und seine Feinde im Zorn verschlingt (Ps 21,10); aber auch als einer, der eben diesen „glühenden Zorn“ nicht vollstrecken kann, weil sein Herz sich gegen ihn wendet und Mitleid auflodern lässt (Hos 11,8 f.)  Besonderen Anstoß erregen jene Texte, in denen Jahwe direkt die Tötung von Menschen befiehlt. Am bekanntesten ist die Aufforderung an Abraham, seinen Sohn zu opfern (Gen 22). Weiter sind zu nennen: die Duldung des Tochter-Opfers von Jiftach (Rich 11,29–40), die Tötung der Erstgeburt der Ägypter (Ex 12,12 f.), die Vernichtung der ägyptischen Verfolgertruppe (Ex 14;15), der Tod von Davids Kind mit Batseba als Strafe (2 Sam 12,15–23), die Tötung der Baals-Priester auf dem Karmel (1 Kön 18) und der blutige Sturz der Omriden-Dynastie (1 Kön 18; 2 Kön 9–11). 21  Ehrliche und sachgerechte Bibelauslegung darf weder die eine noch die andere Gotteserfahrung ausblenden. Beides gehört dazu: das Rätselhafte, Dunkle, Erschreckende, das Tremendum der Gotteserfahrung und das Lichte, Beseligende, Beglückende, das Fascinosum. Es gibt nichts zu vertuschen: Das Alte Testament enthält Texte, die die Anwendung von brutaler Gewalt schildern. Aber – das darf ebenso wenig unterschlagen werden – es gibt auch Passagen, die deutliche Kritik an Gewalt und Gewaltanwendung üben oder die sogar eine ausgesprochen pazifistische Tendenz enthalten. Erich Zenger sieht diesen

Gewalt und Gewaltkritik

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Aspekt sogar schwerpunktmäßig vertreten: „Das Alte Testament ist eindeutig gewaltkritisch.“ Und das in dreifacher Hinsicht: „Erstens haben wir es in ihnen (den Texten des AT, N. S.) mit Aufdeckung der Gewalt zu tun. Zweitens wird klar gesagt: Gewalt ist widergöttlich; Gewalt ist Sünde. Und drittens bringen viele Texte die Vision einer gewaltfreien Zukunft zum Ausdruck.“ 22  Schon auf den ersten Seiten der Bibel, in der priesterschriftlichen Schöpfungsgeschichte, ist die Vision eines gewaltfreien Zusammenlebens von Mensch und Tier angesprochen, indem ihnen ausschließlich pflanzliche Nahrung zugewiesen wird (Gen 1,29–30).  Diese Vision findet sich auch schon 200 Jahre vorher beim Propheten Jesaja. Er entwirft in der bekannten Ankündigung des messianischen Reiches eine grandiose Utopie von Frieden und Gewaltlosigkeit: Der messianische Heilsbringer „schlägt die Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes. Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib. Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen nebeneinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind steckt seine Hand in die Höhle der Schlange. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist“ (Jes 11,4b.5–9).  Gleich dreimal wird das Bild vom Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen in die Bibel aufgenommen (Jes 2,4; Mich 4,3; Joël 4,10), und Jesaja lässt jeden Soldatenstiefel und jeden blutbefleckten Mantel zu einem „Fraß des Feuers“ werden (Jes 9,4).  Die Propheten werden nicht müde, die vielfältigen Formen von Gewalt zu verurteilen, die sich im Volk breitgemacht haben: Ausbeutung der Armen und Wehrlosen, Unterdrückung der Witwen und Waisen, Vergießen unschuldigen Blutes, Unrecht und Betrug (vgl. Jer 6,7; 7,5–7; 20,8; 21,12).  Die Priesterschrift endlich bemüht sich, die Wurzel aller Gewalt aufzuzeigen: die Sünde. Sie ist die eigentliche „Gewalt“ (hebr.: hamás; vgl. Gen 6,11). Die Textbeispiele machen deutlich genug, dass es leicht möglich ist und leider immer wieder praktiziert wird, die Bibel gegen die Bibel auszuspielen. Wer nur die gewaltkritischen Texte des Alten Testaments auswählt, kann daraus ein gänzlich anderes Buch machen als jener, der nur die Texte herauspickt, die (scheinbar!) die Gewalt verherrlichen. Die biblischen Texte stehen in einem ganz bestimmten gesellschaftlichen, kulturellen, nationalen und religionsgeschichtlichen Kontext, von dem sie nicht einfach losgelöst werden dürfen. Darum ist zum richtigen Verständnis der Bibel „genau“ zu achten „auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen, die zur Zeit des Verfassers herrschten. Die Schrift (muss) in dem Geist gelesen und ausgelegt werden, in dem sie geschrieben wurde.“ 23

V. Wie glaubwürdig ist die Bibel? Die Bibel erzählt von den Ursprungssituationen der jüdisch-christlichen Überlieferung. Man darf sie als „Gründungsurkunde des christlichen Glaubens“ bezeichnen. Wer die Bibel richtig verstehen will, darf ihr nicht das heutige Welt- und Menschenverständnis überstülpen. 1 Wer meint, hier seien Augen- und Ohrenzeugen am Werk gewesen, die nichts anderes zu tun hatten, als das, was sie sahen und hörten, möglichst genau und objektiv auf dem schnellsten Wege zu Papier zu bringen. Sie ließen sich von ihren „Leitmotiven“ steuern und verfolgten – bewußt oder unbewusst – bestimmte Ideen und Ziele. Sie ist keine Reportage von spektakulären Ereignissen, die sich vor langer, langer Zeit im Vorderen Orient einmal zugetragen haben sollen. Die Schriften des Alten und des Neuen Testaments verfolgen eine ganz andere Absicht: Sie erzählen von Erfahrungen, die Menschen in ihrem Leben mit dem gemacht haben, was wir „Gott“ nennen und was die Juden damals „Jahwe“ oder „El“ oder „Abba“ nannten. Diese Menschen hatten etwas „gehört“ und „gesehen“, was sie zutiefst betroffen machte und was sie darum auch für andere mitteilenswert hielten. In ihren Geschichten zeigen sie, wie ein Leben vor Gott, ein „Wandern vor dem Herrn“ (Gen 17,1), gelingen kann und wie es scheitert. Viele Jahre später haben sich andere Menschen, die sich in diesen Erzählungen und Bekenntnissen wiederfanden, diese Geschichten aufgeschrieben. Aber sie haben die Erzählungen auch weiter gedacht und ihre eigenen Erfahrungen wieder darin einfließen lassen. So entstand ein buntes Gemisch von „Dichtung und Wahrheit“. Die Bibel muss darum „von unten“ gelesen werden, von der Welt, von den Menschen her. Sie ist ein Werk, geschaffen „durch Menschen nach Menschenart.“ Deshalb ist es zum richtigen Verständnis notwendig, „genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen zu achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren.“ 2 Wir sind es den Menschen, die uns die Texte der Bibel aufgeschrieben haben, schuldig, uns ernsthaft und ehrlich um ein richtiges Verständnis der Texte zu bemühen. Der Respekt gegenüber den biblischen Autoren gebietet uns, sorgfältig nach dem zu fragen, was sie damals tatsächlich mitteilen wollten. Wir besitzen kein Recht, aus der Bibel etwas ganz anderes heraus zu lesen als das, was die Menschen damals in sie hinein geschrieben haben. Eine genaue Prüfung der Bibel und ihrer Aussagen, ihrer überlieferten, vermeintlich oder tatsächlich historischen Tatsachen, ihrer Denk- und Vorstellungsformen ist unerlässlich. Das vom Griechischen abgeleitete Wort „Bibel“ bezeichnet die im Altertum übliche Buchrolle. Bereits in vorchristlicher Zeit wurden unter diesem Begriff die damals bekannten Teile unserer heutigen Bibel zusammengefasst: „Die Bücher“ (Dan 9,2), „die heiligen Bücher“ (1 Makk 12,9), „das heilige Buch“ (2 Makk 8,23). Wenn Jesus und seine jüdischen Zeitgenossen einen Abschnitt aus der Bibel zitierten, dann taten sie es meist mit einer Einführungsformel: „Er (= Gott) sagt“, „Es steht geschrieben“, und

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zwar bald mit, bald ohne nähere Bezeichnung des betreffenden Teiles der Bibel („… beim Propheten“). In den östlichen, griechischen Kirchen setzte sich im 5. Jahrhundert allmählich der Ausdruck „ta biblia“ als Titel für die ganze Heilige Schrift durch. Er wurde von den westlichen, römischen Theologen des Frühmittelalters in der latinisierten Form „biblia“ übernommen. So gelangte er als Lehnwort in die deutsche Sprache. Daneben haben sich aber auch die Bezeichnungen „die Schrift“ oder „die Heilige Schrift“ nicht nur im Deutschen, sondern auch in vielen anderen Kultursprachen erhalten. Schon die genannten Titel weisen darauf hin, dass es sich bei diesem Buch nicht um irgendein Buch, sondern um „das Buch“, um „die Schrift“ schlechthin handelt. Um ein Buch also, das beansprucht, alle anderen Bücher und Literaturwerke an Ansehen und Bedeutung zu überragen. Um ein Buch, dem Juden und Christen eine entscheidende Autorität in religiösen Fragen zuerkennen. Die beiden nach Umfang und Inhalt sehr verschiedenen Hauptteile der Bibel werden meist mit „Altes Testament“ und „Neues Testament“ bezeichnet. Ursprünglich waren mit „Testament“ aber nicht Bücher, sondern die beiden Heilsordnungen gemeint, nämlich die „alte“ für das Volk Israel und die „neue“ für die Christen in der Nachfolge Jesu, des jüdischen Mannes aus Nazaret, für „die Kirche“. Es ist allerdings eine offene Frage, wie das gegenseitige Verhältnis dieser zwei Teile der christlichen Bibel zu bestimmen ist und welche Konsequenzen dies für die konkrete Textinterpretation hat. Denn selbst wenn das Wortpaar „Alt – Neu“ nicht als Opposition, sondern als Korrelation verstanden wird, holt es die Dimension des Fundaments nicht ein, das der erste Teil unserer Bibel nun einmal darstellt. Genau diesen Aspekt möchten manche Theologen besser und klarer herausstellen. Sie schlagen daher vor, lieber vom „Ersten“ bzw. „Zweiten Testament“ zu sprechen. Solche Rede kann stutzig machen und zu weiterem Nachdenken anstoßen. Sie kann Unruhe auslösen über manche vermeintlich sicheren Rang- und Zuordnungen. Und sie kann schließlich dazu beitragen, einen noch immer (versteckt) vorhandenen Antijudaismus abzubauen. Da sich diese veränderte Kennzeichnung aber kaum durchgesetzt hat und in den meisten Bibelausgaben weiter vom Alten bzw. Neuen Testament gesprochen wird, soll diese bisherige Bezeichnung hier beibehalten werden. Das deutsche Wort „Testament“ gibt das lateinische „testamentum“ und das griechische „diathäkä“ wieder. Das letztere bedeutet zwar vereinzelt auch in der Bibel die letztwillige Verfügung, also das „Testament“ eines Sterbenden (vgl. Hebr 9,16 f). In der Regel entspricht es aber dem hebräischen „berít“, das den von Gott dem Volk Israel gewährten „Bund“ meint. Schon in 4 Kön 23,2.21 und 1 Makk 1,57 ist darum von einem „Buch des Bundes“, also von einer Urkunde, die Rede, welche die Weisungen dieses Bundes enthält. In diesem Sinn nennt Paulus in 2 Kor 3,14 das schriftlich niedergelegte religiös-sittliche „Gesetz“ des vorchristlichen Bundesvolkes die „palaia diathäkä“, „das alte Testament“. Diesem Sprachgebrauch folgten die frühchristlichen Schriftsteller und sprachen seit dem 2. Jahrhundert vom „Alten Testament“, wenn sie an die aus vorchristlicher Zeit stammenden Offenbarungsurkunden dachten, und vom „Neuen Testament“, wenn sie die von den Aposteln und Apostelschülern stammenden Urkunden meinten, die in den zweiten Teil der Bibel aufgenommen wurden.

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Die Bibel insgesamt besteht aus einer Anzahl von ursprünglich selbstständigen Büchern, die wieder jeweils eigene Titel tragen. Es gibt darunter Bücher von verhältnismäßig großem Umfang (wie z. B. das Buch Jesaja, das Buch der Psalmen oder die Evangelien) und andere von so geringem Umfang, dass sie in unseren gedruckten Ausgaben kaum eine Seite füllen (das „Buch“ Obadja oder der zweite und der dritte Johannesbrief). Andere Bücher der Schrift können selbst wieder in einzelne literarische Einheiten aufgelöst werden. So ist z. B. das Buch der Psalmen einfach eine Sammlung von in sich abgeschlossenen, selbstständigen Liedern. Beim Alten Testament handelt es sich um eine bruchstückhafte Sammlung von Literatur, die während eines Zeitraums von etwa 800–1000 Jahren entstanden ist. Die vorliegende Endgestalt der einzelnen Schriften ist auf einem zum Teil sehr langen und komplizierten Weg erreicht worden. Auf diesem Weg sind vielfach kleinere literarische Sammlungen in größere Textvorlagen und Zusammenhänge eingearbeitet worden. Für die ältere Prosa ist vor ihrer schriftlichen Fixierung mit einer mündlichen Überlieferung zu rechnen. Innerhalb der Schriftensammlung des Alte Testaments herrscht ein den Bibelleser häufig verwirrendes Durcheinander. Der Wirrwarr in der Anordnung der einzelnen Bücher kommt daher, dass die hebräische Bibel der palästinischen Juden, die griechische Bibel der Diasporajuden und der östlichen Christen und die lateinische Bibelübersetzung der westlichen, römischen Kirche je ihre eigene Anordnung der alttestamentlichen Bücher hatten und dass sich die heutigen Bibelausgaben bald an die eine, bald an die andere Reihenfolge halten. Die jüdischen Schriftgelehrten teilten die Bücher des Alten Testaments in 3 Gruppen ein: Fünf Bücher des Gesetzes (torá); die Propheten (nebiím), die wieder unterteilt sind in die „früheren Propheten“, nämlich Josua, Richter, Samuel und Könige, und die „späteren Propheten“, zu denen Jesaja, Jeremia, Ezechiel und das „Zwölf Prophetenbuch“ gezählt werden; die Schriften (ketubim), zu denen die Bücher Psalmen, Job und Sprüche, die je an einem Fest gelesenen „Fünf Festrollen“ (Rut, Hoheslied, Kohelet, Klagelieder und Ester) sowie die Bücher Daniel, Esra und Chronik gehören. So erhält man ein Verzeichnis von 24 Büchern. Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus Flavius zählte nur 22 Bücher, weil er das Buch Rut mit dem Richterbuch und das Buch der Klagelieder mit dem Jeremiabuch als eine Einheit auffasste. Die modernen Druckausgaben der hebräischen Bibel haben aber bei einigen der genannten Bücher, nämlich bei Samuel, Könige, Chronik und Esra, die Zweiteilung (1 u. 2 Sam, 1 und 2 Kön, 1 u. 2 Chr, Esra und Nehemia) und beim Zwölfprophetenbuch die Aufteilung in 12 Bücher aus den christlichen Bibelausgaben übernommen. Die Bibel ist also eine Sammlung von Büchern, genauer sogar: eine „Sammlung von Sammlungen“. Das Alte Testament umfasst religiöse Literatur aus einem Zeitraum von etwa 1000 bis 50 v. Chr. Das Neue Testament enthält eine Sammlung von Büchern und Briefen, die nur etwas mehr als ein halbes Jahrhundert, nämlich die Zeit von der Mitte des 1. bis zum Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr., umspannen.

Das Alte Testament

1.

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Das Alte Testament

a) Ein langer Entstehungsprozess

Die Geschichte Israels ist untrennbar verbunden mit dem Werdeprozess seines reichen religiösen Schrifttums. Das Volk sieht seine Geschichte als Gottesgeschichte. Politik und Theologie bilden eine Symbiose. Für die Entstehung des Alten Testaments sind vor allem fünf Phasen von Bedeutung: 1. Als erste Periode der Sammlung alter Überlieferungen und zeitgenössischer Zeugnisse ist die frühe Königszeit anzusetzen (ca. 900–800 v. Chr.). Die älteste Schicht bildet die „jahwistische Quelle“ (so genannt wegen des dort durchgängig verwendeten Gottesnamens „Jahwe“); sie ist etwa um 900 entstanden. Fast gleichaltrig ist die „elohistische Quelle“ (Gottesname hier: „Elohim“). Daneben werden Überlieferungen aus der Zeit Sauls und Davids gesammelt. 2. Eine zweite Periode beginnt im 8. Jahrhundert v. Chr. Es ist die Zeit der Propheten (Amos, Hosea, Jesaja u. a.). 3. Im 7. Jahrhundert v. Chr. entsteht der Grundstock des Buches Deuteronomium (König Joschija 641–609). Darüber hinaus wird die bisherige Überlieferung unter dieser Perspektive neu gesichtet und überarbeitet. 4. Nach dem Babylonischen Exil, in der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr., veranlassen priesterliche Kreise nochmals eine Sammlung, Überarbeitung und Interpretation alter Überlieferungen; der „Pentateuch“, die „Fünf Bücher Mose“, entsteht. Um 400 v. Chr. ist mit dem Abschluss der hebräischen Bibel zu rechnen. Doch erst die jüdische Synode von Jamnia (um 100 n. Chr.) setzt den Kanon der hebräischen Bibel mit 39 Büchern fest:  das „Gesetz“ (Torá): Pentateuch,  die „Propheten“ (nebiím): Bücher Josua, Richter, 1 und 2 Samuel, 1 und 2 Könige, Jeremia, Jesaja, Ezechiel und die zwölf „kleinen“ Propheten“,  die „Schriften“ (ketubím): Bücher Rut, Psalmen, Ijob, Sprichwörter, Prediger, Hoheslied, Klagelieder, Daniel, Ester, Esra, Nehemia, 1 und 2 Chronik. 5. In der Zeit der griechischen Besatzung bis in neutestamentliche Zeit hinein entstehen die vorwiegend in griechischer Sprache verfassten (nicht in den hebräischen Kanon aufgenommenen) „Spätschriften“ (Buch der Weisheit, Jesus Sirach, Tobit, Judit, Makkabäerbücher), sowie manche, für das richtige Verständnis etwa der Messias-Vorstellung zur Zeit Jesu hochbedeutsame apokryphe (= „versteckte“, nicht autorisierte) Schriften (Psalmen Salomos). b) Ein „Kanon“ für die Christen

In der christlichen Bibel sind die Schriften des Alten Testaments anders geordnet:  Fünf Bücher Mose: Buch Genesis (Gen), Buch Exodus (Ex), Buch Levitikus (Lev), Buch Numeri (Num), Buch Deuteronomium (Dtn); oder (vor allem in der evangelischen Kirche): Erstes, Zweites, Drittes, Viertes, Fünftes Buch Mose (1,2,3,4,5 Mose),

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Bücher der Geschichte des Volkes Israel: Buch Josua (Jos), Buch der Richter (Ri), Erstes und Zweites Buch Samuel (1 und 2 Sam), Erstes und Zweites Buch der Könige (1und 2 Kön), Erstes und Zweites Buch der Chronik (1 und 2 Chron), Buch Esra (Esr), Buch Nehemia (Neh), Buch Tobit (Tob), Buch Judit (Jud), Buch Ester (Est), Erstes und Zweites Buch der Makkabäer (1 und 2 Makk), Bücher der Lehrweisheit und die Psalmen: Buch Ijob, Buch der Psalmen (Ps), Buch der Sprichwörter (Spr), Buch Kohelet (Koh) oder auch Buch Prediger (Pred), Hoheslied (Hld), Buch der Weisheit (Weis), Buch Jesus Sirach (Sir), Bücher der Propheten: Buch Jesaja (Jes), Buch Jeremia (Jer), Klagelieder (Klgl), Buch Baruch (Bar), Buch Ezechiel (Ez), Buch Daniel (Dan), Buch Hosea (Hos), Buch Joël (Joel), Buch Amos (Am), Buch Obadja (Obd), Buch Jona (Jona), Buch Micha (Mi), Buch Nahum (Nah), Buch Habakuk (Hab), Buch Zefanja (Zef), Buch Haggai (Hag), Buch Sacharja (Sach), Buch Maleachi (Mal). c)

Die Tora

Die Juden (und immer mehr auch die Christen) nennen die „Fünf Bücher Mose“ die „torá“ – Weisung, Gesetz. In der griechischen Übersetzung des Alten Testaments erhielt das Werk die Bezeichnung „Pentateuch“ („pénte“ ist das griechische Wort für „fünf“; „teúchos“ bedeutet Gefäß und meint im jüdischen Bereich den Behälter, in dem die Schriftrollen aufbewahrt werden). Es umfasst die Bücher Genesis, Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium. Die Tora enthält die wesentlichen Themen des israelitischen Glaubenszeugnisses:  Herausführung aus Ägypten,  Einzug ins Kulturland,  Verheißung an die Väter,  Wüstenwanderung,  Sinaioffenbarung mit Bundesschluss. Die ältesten literarischen Überlieferungen Israels (Quelle J = Jahwist, wegen des dort meist verwendeten Gottesnamens Jahwe) schildern den zielstrebig von Gott eingeleiteten Weg des Volkes, angefangen von Abraham bis in die damalige geschichtliche Gegenwart. Sie stehen immer wieder staunend und lobend vor der Machtfülle des sich ihnen offenbarenden Gottes. Um die Größe und Herrlichkeit dieses „ihres“ Gottes Jahwe zu untermauern, unternehmen sie es, in einer Art von rückwärts gerichteter Prophetischer Schau das göttliche Wirken bis an die Uranfänge zurückzuverfolgen und dabei auch Antworten zu geben auf die drängenden Fragen nach der Entstehung des Menschen, nach dessen Schuld und Todverfallenheit, nach dem Ursprung des Bösen in der Welt und dem „Sinn“ von Katastrophen. Die Urgeschichte (priesterschriftliche und jahwistische Erzählungen über die Schöpfung, Kain und Abel, Noach und die Sintflut, Bund mit Noach, Turmbau zu Babel; Gen 1,1–11,9) ist daher den Erzählungen über die Väterverheißungen (Abraham, Isaak, Jakob) vorgebaut. Der ältere Schöpfungstext (Quelle J) befindet sich in Gen 2,4b-25. Die Tatsache, dass ihn die Pentateuch-Redaktoren dem weit jüngeren, priesterschriftlichen Text (Gen 1,1–2,4a) nachgeordnet haben, zeigt, dass sie sich dabei nicht in erster Linie von his-

Das Neue Testament

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torischen oder chronologischen Interessen leiten ließen, sondern dass vor allem theologische Aspekte im Vordergrund standen. Die Unterschiede in der Darstellung der beiden Erzählungen sind unverkennbar. Nach Gen 1 ist der Ausgang des schöpferischen Handelns Gottes eine durch und durch ungeordnete chaotische Wasserwüste. Dagegen setzt die zweite Erzählung mit der Beschreibung einer wasser- und vegetationslosen Steppe ein. Gen 1 schildert das Entstehen der einzelnen Schöpfungsbereiche nach Art des Anstiegs einer Pyramide, an deren Spitze die „Krone der Schöpfung“, der Mensch, steht. Dagegen wird in Gen 2 zuerst die Behebung der Wasserlosigkeit durch das Aufsteigen der Feuchtigkeit erwähnt; als erstes Geschöpf entsteht dann der (männliche) Mensch, um den herum (wie um das Zentrum eines Kreises) die übrige Welt aufgebaut wird. In Gen 3 und 4 versucht die jahwistische Quellschrift, eine Erklärung zu geben, warum die Sünde in die Welt gekommen ist und welche Folgen daraus für die Menschen erwuchsen. Nach dem abrupten Abbruch der jahwistischen Erzählung mit Gen 4,26 bringt die Priesterschrift in Gen 5 eine neue „Liste der Geschlechterfolge nach Adam“, in der jedoch Abel und Kain (vgl. Gen 4) überhaupt nicht mehr vorkommen. In jüngster Zeit wendet sich die Forschung wieder mehr dem Pentateuch als Ganzem zu, seiner Endgestalt und seiner geistigen Einheit. Das schließt freilich nicht aus, dass sich darin eine Vielfalt von zeit- und umweltgeschichtlich bedingten Theologien versammelt findet. Zu diesen neueren Hypothesen gehört das „Erzählkranz-Modell“ (Chr. Frevel). Es geht davon aus, dass die Verschriftlichung mündlicher Erzählformen nicht auf einen Schlag und auch nicht gestützt auf einen „Ur-Text“ erfolgte, sondern in einem allmählichen Prozess. Mehrere Traditionsbausteine wurden dabei von verschiedenen Redaktoren zu einem einheitlichen Geschichtswerk zusammengebunden. Das konnte nicht ohne innere Brüche – Doppelungen, Widersprüche, Ungereimtheiten – vonstatten gehen. Dieser Prozess dürfte in der Zeit des rund zwei Generationen währenden babylonischen Exils der politischen und religiösen Führungsschicht des Volkes Israel (597/587/582–538 v. Chr.) geschehen sein, als man sich neu auf die religiösen Wurzeln und Ursprungssituationen zu besinnen suchte. Die Tora in ihrer heutigen Form entstand also in Babylon.

2. Das Neue Testament a) Die Evangelien

Die Evangelien erzählen keine lückenlose Geschichte des Lebens Jesu. Sie beschränken sich auf Details seines öffentlichen Wirkens, die den jeweiligen Verfassern bedeutsam erschienen. Sie vereinen Bericht und Verkündigung, Historie und Interpretation. Im Grunde sind sie eine „Passionsgeschichte mit verlängerter Einleitung“ (E. Käsemann). Das Neue Testament enthält vier Evangelien (nach Markus, Matthäus, Lukas, Johannes), von denen die ersten drei in Aufbau und Inhalt sehr eng zusammenhängen und teilweise sogar im Wortlaut übereinstimmen. Sie können „zusammengeschaut“

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werden (griech.: synóptein = zusammenschauen); deshalb nennt man sie auch „Synoptiker“. Die Exegese erklärt ihren engen Zusammenhang mit der „Zwei-Quellen-Hypothese“: Markus verfasste als erster „sein“ Evangelium. Er stützte sich dabei auf mündliche und schriftliche Überlieferungen (z. B. Passion). Er ordnete und akzentuierte das ihm vorliegende Material im Hinblick auf sein christologisches Interesse und auf die Situation seiner Gemeinde(n). Ihm folgten Matthäus und Lukas, die zusätzlich eine verloren gegangene Logienschrift (Redegut, „Bergpredigt“ bzw. „Feldrede“) und weiteres „Sondergut“ (Mt: Kindermord, Magier aus dem Osten, Worte an Petrus u. a.; Lk: Vorgeschichte des Täufers, Verkündigung der Engel, Gleichnis vom barmherzigen Samariter u. a.) einarbeiteten. Auch ihre Evangelien sind „Tendenzschriften“: Sie sind verfasst im Hinblick auf eine bestimmte Gemeinde und haben eine je eigene Verkündigungsabsicht. Das folgende Schaubild versucht, den komplizierten Werdegang deutlich zu machen (vgl. S. 93). Das Evangelium nach Markus Markus, der Verfasser des Evangeliums, ist weder der Begleiter des Petrus (vgl. 1 Petr 5,13) noch der Reisegefährte des Paulus (vgl. Apg 12,25; Phlm 24), sondern vielmehr ein unbekannter orientalischer Heidenchrist, der weder Augen- noch Ohrenzeuge des Jesusgeschehens war und Israel nur sehr schlecht kannte. Er ist abhängig von der Überlieferung (Wundergeschichten, Streitgespräche, Gleichnisse, Passion) seiner (vorwiegend heidenchristlichen, vermutlich syrischen) Gemeinde(n). Allerdings ist er nicht nur Sammler der Tradition, sondern er gestaltet sie nach seinen Vorstellungen und Intentionen. Insbesondere umgibt er die Messianität Jesu mit einem Geheimnis, vielleicht um deutlich zu machen, dass die wahre Bedeutung Jesu nur im Glauben zu erkennen ist, den der (römische?) Hauptmann bei der Kreuzigung Jesu bezeugt (Mk 15,39). Das Evangelium wurde wahrscheinlich um 70 n. Chr. verfasst. Das Evangelium nach Matthäus Verfasser ist nicht der (Jude und) Apostel Matthäus (vgl. die von Mk 2,14 abweichende Nennung in Mt 9,9). Gegen dessen Verfasserschaft spricht: die Abhängigkeit vom griechisch geschriebenen Markus und von der ebenfalls in griechischer Sprache verfassten Logienquelle, die Benutzung der griechischen Übersetzung des AT, der Septuaginta, die Fortentwicklung der Gemeindeverhältnisse und der Gemeindetheologie (gegenüber Markus). Für Matthäus ist Jesus der vom Alten Testament vielfach angekündigte Messias. Das versucht er in verschiedenen Reflexions- und Erfüllungszitaten aufzuzeigen (… damit sich erfülle …). Matthäus betont die Alleinschuld Israels am Tod Jesu (und wird dadurch mitverantwortlich für die unheilvolle Geschichte der Judenverfolgungen). In kunstvoller Weise hat er die Logienschrift und zerstreut überliefertes Spruchgut zur „Bergpredigt“ komponiert. Die Zerstörung des Tempels öffnet den Weg zur Völkermission. Das Evangelium ist längere Zeit nach 70 (Zerstörung des Tempels) geschrieben, vermutlich für eine heidenchristliche Gemeinde, die in Auseinandersetzung mit dem sich konsolidierenden Judentum stand.

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Der historische Jesus Sein Anspruch in Verhalten und Verkündigung, seine Machttaten, sein Tod, seine Auferweckung

Erzählungen von ihm*)

Erzählungen über ihm*)

Mündliche Überlieferung der Augenzeugen Erzählungen der juden- und heidenchristlichen Gemeinden („Gemeindetheologie“, „Sitz im Leben“) Apostolische Predigt – vor Juden, – vor Heiden

*) Echtheitskriterien: 3  Kriterium der doppelten Unreduzierbarkeit („Ein Logion, Worte oder Taten Jesu als von christlichen Gemeinden berichtet, haben größere Aussicht, wirklich von Jesus zu stammen, wenn in der ältesten Schicht, die wir erreichen können, diese Einzigartigkeit und dieser Unterschied sowohl gegenüber dem damaligen Judentum als auch gegenüber der alten Kirche sichtbar wird;“ 4 (z. B. sein Anspruch, seine betonte Zuwendung zu „öffentlichen Sündern“),  Kriterium inhaltlicher Konsistenz (Die Teile beleuchten das Ganze, das selbst wieder die Teile durchsichtig macht. Zusammenhang zwischen Wort und Tat; z. B. Zuwendung zu „öffentlichen Sündern“ und seine Gleichnisse über die Vergebungsbereitschaft [Lk 15]),  Kriterium der vielfachen Bezeugung, der „Cross-Section“ (Berichte über Worte und Taten Jesu, die in verschiedenen, literarisch unabhängigen Traditionen vorkommen; z. B. sein Umgang mit Zöllnern und Sündern wird in vier literarisch voneinander unabhängigen Traditionen erwähnt: Mk 2,17; Lk 15,4–10 [Q]; Lk 7,36–47 [lukanisches Sondergut]; Mt 10,6 [matthäisches Sondergut]),  Kriterium „störender Überlieferung“ (Material, das nicht besonders gut in die christologische und theologische Gesamtkonzeption passt; (z. B. die Taufe des sündenlosen Jesus durch den Bußprediger Johannes den Täufer) Allerdings sind diese (durchaus nicht allgemein akzeptierten) methodischen Leitlinien äußerst behutsam anzuwenden. Auch ein nur singulär bezeugtes Jesuswort kann historisch zuverlässig überliefert und damit authentisch sein.

Erste Sammlungen (Passion, Gleichnisse)

Verlorene Spruchsammlung (Logienquelle=Q)

Sondergut (Kindheits- und Beispielererzählungen)

Adressatenkreis, Gemeindetheologie („Sitz im Leben“), Intention der Evangelisten

Markus

Matthäus

Lukas

Johannes

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Wie glaubwürdig ist die Bibel?

Das Evangelium nach Lukas Die altchristliche Überlieferung sieht in Lukas einen (Maler-)Arzt, der auch Reisebegleiter des Paulus (vgl. Phlm 24; Kol 4,10 ff.) gewesen sein soll. Doch ist der Verfasser des Lukasevangeliums weder medizinisch besonders gebildet, noch kennt er sich in der Theologie des Paulus aus (von den Paulusbriefen abweichende Charakteristik des Paulus, seines Amtes und seiner Theologie). Lukas will eine bessere Darstellung des Lebens und Wirkens Jesu als seine Vorgänger bieten. Da er aber weder Augen- noch Ohrenzeuge war, bleibt er von den ihm zur Verfügung stehenden Quellen abhängig. Es ist ihm offenbar ein besonderes Anliegen, die Liebe Jesu zu Sündern, zu Armen und Verachteten (Frauen!) und zu Kranken herauszustellen. Auffällig ist eine rigorose Ablehnung des Reichtums. Lukas ist ein unbekannter, gebildeter Heidenchrist der ersten nachapostolischen Generation (1,1 ff.). Er schrieb sein Evangelium zusammen mit der Apostelgeschichte (vgl. Apg 1,1) gegen Ende des 1. Jahrhunderts. Das Evangelium nach Johannes Auch der Verfasser des Johannesevangeliums ist unbekannt. Er ist weder der „Lieblingsjünger“ (Joh 13,23) noch ein Augenzeuge (Joh 19,35; 21,24 sind spätere Einschübe) noch der (früh verstorbene?) Zebedäussohn Johannes (vgl. Mk 10,39) oder der „Älteste“ Johannes (vgl. 2 Joh 1). Wahrscheinlich hat ein unbekannter Heidenchrist der nachapostolischen Generation das Evangelium am Ende des 1. Jahrhunderts im syrischen Raum (Damaskus?) verfasst. Vermutlich hat er zumindest eines der synoptischen Evangelien (Lukas?) gekannt. Er hat aber auch Sondergut verwendet („Zeichenbuch“ mit Hochzeit von Kana: Joh 2,1–12), das den Synoptikern unbekannt war. Auch finden sich in seinem Evangelium einige sonst nirgends erwähnte historische Informationen; gleichzeitig aber entfernt es sich am weitesten von historischer Authentizität: Die Jesusreden sind in der vorliegenden, hellenisierenden Gestalt Bildung des Verfassers oder seiner Gemeinde. Der ursprüngliche Text des Evangeliums ist vielfach überarbeitet worden. Es wurden (z. T. störende) Zwischenbemerkungen (Joh 3,24; 4,2; 18,9.32), Anspielungen auf das Abendmahl (Joh 6,51b-58) und – vermutlich – die Hinweise auf das zukünftige Endgericht (5,28 f.; 6,39b.40b.44b.54b; 12,48b) eingefügt. Das Kapitel 21 wurde an den ursprünglichen Schluss (Joh 20,30 f.) angehängt, und die Reihenfolge des uns erhaltenen Textes wurde (durch Blattvertauschung?) geändert (Joh 14 stand ursprünglich sicher hinter Joh 15–17, sowie Joh 5 hinter Joh 6). Das Evangelium ist von jüdischem und hellenistischem Denken geprägt. Es gehört wohl in die synkretistische Welt des Hellenismus und steht in Fragestellung und Sprache der verbreiteten gnostischen Philosophie näher als der Ethik der Pharisäer und der Apokalyptik. Darum wendet es sich gegen ein fixiertes Starren auf das in der Zukunft erwartete Gericht und mahnt, die Gegenwart ernst zu nehmen. Denn in ihr geschieht bereits das Gericht (Joh 5,24). Christsein vollzieht sich im Hören des Wortes, das zu einem Handeln in Liebe führt (Joh 13,34). Jesus gilt als Beispiel dieser Liebe (Joh 13,1.15; 15,18). Das Evangelium enthält eine bereits weit fortgeschrittene Christologie (vgl. Joh 6,35; 8,12; 10,12 f.; 11,25–27). Am Kreuz offenbart sich Jesus als der erhöhte und verherrlichte Menschensohn (Joh 3,14 f.; 8,28; 12,23 f.34; 13,31 f.).

Das Neue Testament

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b) Die Apostelgeschichte

Ihr Verfasser ist der Evangelist Lukas, der mit diesem zweiten Werk sein Evangelium fortsetzt – „angefangen von Jerusalem über ganz Judäa und Samaria bis an die Grenzen der Erde“ (vgl. Apg 1,8). Allerdings ist die (nicht von Lukas stammende) Bezeichnung „Apostelgeschichte“ in doppelter Hinsicht irreführend: Es handelt sich weder um eine Geschichte der (= aller) Apostel noch um Geschichtsschreibung im strengen Sinn oder um eine Reportage. Eher könnte man die Apostelgeschichte als „antiken historischen Roman“ (R. I. Pervo) bezeichnen. Sie enthält eine anschaulich gestaltete Theologie des Weges der Kirche von den bescheidenen Anfängen in Jerusalem (vgl. Lk 12,32: „Fürchte dich nicht, du kleine Herde“) bis zur Tätigkeit des Paulus in der Hauptstadt des römischen Weltreiches. Im Hinblick auf die Historizität der dargestellten Ereignisse herrscht unter den Exegeten eher Skepsis. Lukas tröstet die Christen in der Verfolgung, warnt vor Irrlehrern (Apg 20,17–38), begründet die Mission und wirbt zugleich unter den Nicht-Juden für das Christentum. Er stellt das Evangelium und die apostolische Predigt als unpolitisch dar (vgl. Apg 23,29; 25,8; 26,31) und beansprucht die Gleichstellung mit der jüdischen, vom römischen Staat zugelassenen Religion. Vor allem versucht Lukas aufzuzeigen, dass die Jetzt-Zeit durch die Ausgießung des Geistes (Apg 2,1–13) in Kontinuität mit der (scheinbar) abgeschlossenen, vergangenen Heilszeit des Lebens Jesu steht: Petrus und Paulus verleihen den von Jesus verheißenen Heiligen Geist durch Handauflegung (Lk 11,13; Apg 8,14–17; 19,6 f.). Lukas bemüht sich darüber hinaus, das Verhältnis von Juden und Heiden zur Kirche zu klären: Er gruppiert seine Aussagen in auffälliger Parallelität zunächst um den unter Juden wirkenden Petrus und danach um den „Völkerapostel“ und bezieht das Wirken beider zurück auf die Tätigkeit Jesu, die er in seinem Evangelium geschildert hatte. Vielleicht möchte er damit (im Hinblick auf eine beginnende Dominanz der Gestalt des Petrus?) die „Gleichberechtigung“ von Petrus und Paulus deutlich machen. Jesus

Petrus

Paulus

Totenerweckung: Jüngling von Nain

Totenerweckung: Tabitha (Apg 9,36–43) Gelähmtenheilung (Apg 3,1–11) Dämonenaustreibung (Apg 5,16) Sammelbericht über Krankenheilungen (Apg 5,12–16)

Totenerweckung: Jüngling Eutychos (Ap 20,7–10) Gelähmtenheilung (Apg 14,8–20) Dämonenaustreibung (Apg 16,16) Sammelbericht über Krankenheilungen (Apg 19,12)

(Lk 7,11–17; Sondergut) Gelähmtenheilung (Lk 5,17–26) Dämonenaustreibung (Lk 4,31–37) Sammelbericht über Krankenheilungen (Lk 6,17–19)

Für Petrus und Paulus setzt Lukas ungefähr gleich viele Reden ein. Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um Protokolle, sondern um kunstvolle, nach einem jeweils unterschiedlichen Schema für Juden und für Heiden komponierte Werke des Lukas. 5

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Wie glaubwürdig ist die Bibel?

Die vielfach unter Berufung auf die sogenannten „Wir-Berichte“ (Apg 16,10–17; 20,5–15; 21,1–18; 27,1–28,16) geäußerte These, dass Lukas zeitweise der Reisebegleiter des Paulus gewesen sei, wird heute kaum noch aufrecht erhalten. Paulus vertritt in seinen Briefen in vieler Hinsicht eine andere Theologie. In der Apostelgeschichte fehlen vor allem Hinweise auf die Naherwartung (vgl. 1 Thess 4,17) und auf die Heilsbedeutung des Kreuzes (Röm 3,24 f.). Auch sonst sind manche Widersprüche zwischen der Darstellung des Paulus und der Apostelgeschichte zu beobachten:  Streit mit Petrus in Antiochia (Gal 2,11–13) „Ein Herz und eine Seele“ (Apg 4,32);  Paulus war nur einmal vor dem Apostelkonzil in Jerusalem (Gal 1,22) die Apostelgeschichte legt einen mehrmaligen Aufenthalt nahe (Apg 9,26).  Jerusalem als Ort der Christenverfolgung des Paulus lässt sich mit dem Galaterbrief schwer übereinstimmen. Dafür kommt eher Damaskus in Frage.  Auch die Heroisierung der Gestalt des Paulus in der Apostelgeschichte entspricht kaum seiner Selbstdarstellung in den Briefen.6 Was für das richtige Verständnis der Evangelien zu gelten hat, trifft auch für die Apostelgeschichte zu: Sie ist Zeugnis des Glaubens und Verkündigung, die Glauben wecken möchte. Lukas schildert in ihr die Entwicklung der „Kirche“ von einer jüdischen Sekte zur weltweit missionierenden Gemeinde. Das ist nicht Menschenwerk. Vielmehr soll Kirche erscheinen als geleitet vom auferweckten Christus durch sein Wort und vom Geist Gottes durch seine Kraft. Predigt und Wundertaten der Apostel geben davon Zeugnis. c)

Die Briefe

Die Paulusbriefe bilden den ältesten Teil des Neuen Testaments. Sieben von ihnen (der Erste Brief an die Gemeinde von Thessaloniki, die Briefe an die Gemeinden in Galatien, in Rom, in Korinth [2], in Philippi und an Philemon) hat Paulus selbst geschrieben oder diktiert („Protopaulinen“). Es handelt sich bei allen Briefen um Gelegenheitsschriften. Paulus entfaltet darin seine Theologie und Christologie, oder er nimmt Stellung zu akuten pastoralen Problemen. Zu den nicht von Paulus stammenden Briefen („Deuteropaulinen“) zählen die Briefe an die Gemeinde in Ephesus und Kolossä und der Zweite Brief an die Gemeinde von Thessaloniki. Sie führen paulinische Gedankengänge weiter und stellen sich deshalb unter die Autorität seines Namens – eine Praxis, die in der Antike häufig angewendet und als durchaus legitim empfunden wurde (vgl. auch die „Fünf Bücher Mose“). Die ebenfalls unter dem Namen des Paulus verbreiteten, aber sicher nicht von ihm verfassten „Pastoralbriefe“ (Erster und Zweiter Brief an Timotheus, Brief an Titus) heben sich durch ihre theologische Eigenart von den übrigen Briefen stark ab. Sie sind (fiktiv) an zwei Mitarbeiter des Paulus gerichtet; in Wirklichkeit waren die Adressaten vermutlich kirchliche Amtsträger zu Beginn des 2. Jahrhunderts. Im Vordergrund stehen Ämter, die es (in der hier skizzierten Form) zur Zeit des Paulus noch gar nicht gab (Episkopen = Aufseher, später „Bischöfe“). Darüber hinaus enthalten sie Anweisungen zur Gemeindeleitung. Aufgrund der fortgeschrittenen Verfestigung der Gemeindeordnung sind die Briefe kaum vor 100 n. Chr. geschrieben, vermutlich in Kleinasien.

„Offenbarung“ oder Menschenwort?

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Die Adresse des Briefes „an die Hebräer“ ist wahrscheinlich später wegen der in diesem Brief durchgängig geführten Auseinandersetzung mit dem israelitisch-jüdischen Kult hinzugefügt worden. Der Brief ist zwischen 80 und 90 n. Chr. verfasst worden. Zu den übrigen Briefen zählen: Der Brief des Jakobus, die zwei Briefe des Petrus, die drei Briefe des Johannes und der Brief des Judas. Diese Briefe haben sich in langsamer Entwicklung formiert. Sie sind – anders als die paulinischen Schriften – nach dem jeweiligen Absender genannt und an keine konkrete Gemeinde gerichtet, sondern an die „Allgemeinheit“ (griech. katholisch = allgemein). Darum werden sie auch als „katholische“ Briefe bezeichnet. Sie sind zwischen 100 n. Chr. und 150 (2 Petr) entstanden. d) Die Offenbarung des Johannes

Die Schrift ist entstanden auf der Insel Patmos während einer Verfolgung der Christen unter Kaiser Domitian (90–95 n. Chr.). Der Verfasser, ein vermutlich judenchristlicher „Prophet“ (vgl. 1 Kor 12,28; Eph 3,5), befand sich hier im Exil und versuchte, mit seiner „Offenbarung“ über das, „was bald geschehen wird“ (1,1–3), die Gemeinden zu trösten und ihnen Mut zuzusprechen. Nach der großartigen Schilderung einer Christusvision (1,9–20) enthält der Brief Mahnschreiben an sieben kleinasiatische Gemeinden. An sie schließt sich der apokalyptische Hauptteil mit seinen grandiosen Visionsreihen über das Gericht Gottes und den himmlischen Gottesdienst an. Dabei werden dem siegreichen Christus göttliche Eigenschaften zugeschrieben: Er heißt „Herr“ (11,8; 14,13; 22,20 f.), die Geschöpfe beten ihn an (5,13). Die Schrift gab bis heute immer wieder Anlass zu vordergründiger Interpretation (Zornesschalen als Atombomben u. a.). Eine sachgerechte Auslegung hat davon auszugehen, dass der Verfasser keine „Voraussagen“ über den Lauf der Weltgeschichte machen und irgendwelche Endzeitvisionen darlegen wollte. Sein Anliegen war es vielmehr, mit traditionellen und seinen judenchristlichen Lesern durchaus vertrauten Bildern, symbolischen Zahlen und Szenen das Vertrauen auf Gottes sieghafte Kraft zu wecken und die Gemeinden zum Ausharren in der Verfolgung zu ermahnen.

3. Die Bibel: „Offenbarung“ oder Menschenwort? Die Schriften der Bibel gelten nach christlichem Verständnis als „Heilige Schrift“, als „Offenbarung“ Gottes. Sie haben „Gott zum Urheber“7. Natürlich wird sich das heute niemand mehr so vorstellen, wie es auf manchen mittelalterlichen Gemälden zu sehen ist, als habe Gott (oder der Heilige Geist) den biblischen Schriftstellern die Worte gleichsam ins Ohr geflüstert. Dennoch findet sich in einem Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils der Satz: „Zur Abfassung der Heiligen Bücher hat Gott Menschen erwählt, die ihm durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollten, all das und nur das, was er – in ihnen und durch sie wirksam – geschrieben haben wollte, als echte Verfasser schriftlich zu überliefern.“ 8

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Wie glaubwürdig ist die Bibel?

Wie kann man sich das vorstellen? Der evangelische Theologe Paul Tillich (1886– 1965) beschreibt den Werdegang einer Offenbarung in drei Schritten:  Als erstes erfährt der Mensch bei irgendeinem Ereignis, das ihm widerfährt, eine merkwürdige Beunruhigung, die nicht aus einem bestimmten innerweltlich-bekannten Grund entsteht, sondern aus einer existentiellen Unruhe aufsteigt. Diese Beunruhigung erleben alle Menschen immer wieder. Schon Augustinus brachte sie zum Ausdruck: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir, Gott.“ Der Mensch fühlt sich herausgefordert, infrage gestellt. Nichts kann von dieser Unruhe ablenken.  Dieses Widerfahrnis führt zum Verwundern, zum Staunen, zur Faszination. Vielleicht auch zum Erschrecken, zur Irritation. In jedem Fall zu einer Durchbrechung der vertrauten Alltagsgewohnheiten. Der Theologe Johann Baptist Metz sieht in dieser „Unterbrechung“ die kürzeste Definition von Religion. 9  Daraus resultiert eine dritte Stufe: das Zurückgeworfen-Werden auf mein Eigenstes, „auf das Unbedingt-Eigene, auf die uns tragende Wurzel unseres Seins, auf den sinngebenden Grund unseres Geistes – auf unseren Ursprung.“ 10 Der Mensch erlebt etwas, das ihn unbedingt angeht. Es ist das in seinen Schriften immer wieder variierte Anliegen Paul Tillichs, die christliche Botschaft und menschliche Grundsituationen so aufeinander zu beziehen, dass die christliche Botschaft als Antwort auf existentielle menschliche Fragen verständlich erscheint. Auch der katholische Theologe Karl Rahner (1904–1984) sieht es ähnlich: „Es gibt nur eine aposteriorische Erkenntnis Gottes aus und durch die Begegnung mit der Welt, zu der wir natürlich auch selber gehören … Darum ist es sehr leicht, Gott zu übersehen.“11 Die Bibel ist „Urkunde des Glaubens von Menschen an Gottes Offenbarung“. 12 Die Schriften des Alten und Neuen Testaments gelten als „inspiriert“, als „unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet.“ 13 Zur Abfassung wurden von „Gott Menschen erwählt, die ihm durch den Gebrauch ihrer eigenen Fähigkeiten und Kräfte dazu dienen sollten, all das und nur das, was er – in ihnen und durch sie wirksam – geschrieben haben wollte, als echte Verfasser schriftlich zu überliefern.“ 14 Man wird sich die „Inspiration“ wohl so vorstellen dürfen, dass die Schriften „von unten“ her im Gespräch der Glaubenden über ihre Erfahrungen gewachsen sind und allmählich klarere Konturen angenommen haben. Die Erzähl- und Zeugnisgemeinschaft fand darin ihren eigenen Glauben, ihre Überzeugung und Deutung, ihre Wertung und Vorstellung der Ereignisse ausgesprochen. Es kam so etwas wie eine „Konsens-Ökumene der Glaubenden“ zustande (Ulrich Becker). Und weil sie sich in ihrem gesamten Lebens- und Glaubensprozess vom Geist Gottes getragen („inspiriert“) sah, konnte sie auch das gemeinsam Erkannte und nun zur Schrift Gewordene als „Wort Gottes“, als „theopneústos“ (griech. = gottgehaucht; lat. = divinitus inspirata; vgl. 2 Tim 3,16) betrachten. Im Verlauf der Geschichte wurde allerdings im Zuge einer sich immer mehr verstärkenden Hierarchisierung eine andere Vorstellung von Offenbarung dominant, die für das Verhältnis der Kirche zu Andersgläubigen und Andersdenkenden fatale Auswirkungen hatte und leider noch immer hat: „Offenbarung“ wurde (miss)verstanden als ein System von unfehlbaren Sätzen, das den Kirchenführern zum Bewahren anvertraut war. Sie hatten den „Offenbarungsschatz“ zu hüten. Sie maßten sich an, über das

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„geoffenbarte Wort Gottes“ allein zu verfügen und autoritativ zu entscheiden, was der „Wille Gottes“ sei. Sie sahen sich im Besitz der von Gott geoffenbarten „absoluten Wahrheit“. 15 Dem „Laien“ wird jede Verantwortung für sein eigenes Glaubensverständnis abgesprochen. Offenbarung wird zum Diktat „von oben“, das auf das Gegenüber „unten“ keine Rücksicht nimmt. So ist die Geschichte des Christentums leider auch zu einer Geschichte vielfacher Intoleranz geworden. Der Anspruch, im Besitz der „absoluten Wahrheit“ zu sein, hat durch die Jahrhunderte zu einem höchst unchristlichen Überheblichkeitsgefühl gegenüber dem Suchen anderer Religionen geführt und damit zu Ausrottung und Unterwerfung ganzer Völker, zu „Ketzerjagd“ und Glaubensspaltungen, die bis heute nicht überwunden sind. Im Protestantismus sprach sich vor allem Karl Barth gegen Toleranz aus: „Kein gefährlicherer, kein revolutionärerer Satz als dieser: dass Gott Einer, dass Keiner ihm gleich ist! (…) Gerade das, was die Neuzeit Toleranz nennt, kann dann gar keinen Raum mehr haben. Neben Gott gibt es nur noch seine Geschöpfe oder eben falsche Götter und also neben dem Glauben an ihn Religionen nur als Religionen des Aberglaubens, des Irrglaubens und letztlich des Unglaubens.“ 16 Immerhin besaß Dietrich Bonhoeffer den Mut, diese Auffassung deutlich zu kritisieren: „Barth hat als erster Theologe – und das bleibt sein ganz großes Verdienst – die Kritik der Religion begonnen, aber er hat dann an ihre Stelle eine positivistische Offenbarungslehre gesetzt, wo es dann heißt: ‚friss, Vogel, oder stirb‘ ; ob es nun Jungfrauengeburt, Trinität oder was immer ist, jedes ist ein gleichbedeutsames und -notwendiges Stück des Ganzen, das eben als Ganzes geschluckt werden muss oder gar nicht. Das ist nicht biblisch.“ 17 In der katholischen Kirche wurde 1965 durch das Zweite Vatikanische Konzil im Hinblick auf die Weltreligionen bekundet, dass die Kirche „nichts von alledem ab(lehnt), was in diesen Religionen wahr und heilig ist.“ 18 Und es wurde auch feierlich erklärt, dass „die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat.“ 19

4. Welche Bibelübersetzung kaufen? 20 Die deutschen Bibelübersetzungen unterscheiden sich v. a. durch zwei Aspekte: Einmal durch die Zielgruppe, für die sie hergestellt wurden. Und zum anderen durch die Prinzipien, nach denen übersetzt wurde. Beide Kriterien sind jeweils wichtig für eine Beurteilung. Kirchliche Bibelübersetzungen Den größten Anteil am Markt haben die „kirchlichen“ Bibelübersetzungen: für die römisch-katholische Kirche die „Einheitsübersetzung“ (1980), für die „Lutheraner“ die „Lutherübersetzung“ (1984) und für die Zürcher Reformierten die kirchenamtliche Neufassung der Zürcher Bibel von 1931, die neue „Zürcher Bibel“ (2007). Alle diese Bibeln zeichnen sich durch eine „gehobene Sprache“ aus, weil sie auch für die Verkündigung in den Gottesdiensten tauglich sein sollen. Bei den protestantischen Bibelübersetzungen kommt noch hinzu, dass sie die Tradition ihrer „Erstübersetzer“ Luther und Zwingli nicht verleugnen können (und wollen) und deshalb manchmal ein wenig „alt-

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väterlich“ daherkommen. Dieses Problem hat die Einheitsübersetzung nicht, weil sie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil von einem großen Kollektiv katholischer und evangelischer Exegetinnen und Exegeten quasi ganz „neu“ übersetzt wurde. Die „Zürcher Bibel“ hat momentan den Vorteil, dass sie auf dem neuesten Stand heutiger Exegese ist, während die Einheitsübersetzung als älteste der drei gerade überarbeitet und erst in einigen Jahren erscheinen wird. Eine „Bibel in heutigem Deutsch“ Eine Bibel, die bewusst frei von kirchlichen Sprachtraditionen übersetzt wurde, ist die so genannte „Gute Nachricht Bibel“. Sie wurde gemeinsam vom Evangelischen und Katholischen Bibelwerk erarbeitet und erschien erstmals 1984 als „Bibel in heutigem Deutsch“. Die „Gute Nachricht“ überträgt den griechischen oder hebräischen Urtext nicht einfach „wörtlich“, sondern so, wie man ihn heute (vermutlich) ausdrücken würde. Wo es zum Verständnis nötig ist, wird eine Textaussage auch einmal in freier, aber sinntreuer Weise neu formuliert. Die „Gute Nachricht“ ist gerade für Menschen, die nicht in kirchlicher Sprachtradition aufgewachsen sind, die ideale „Einsteigerbibel“. Urtextnahe Übersetzungen Die urtextnahen Übersetzungen übertragen Wort für Wort aus dem Urtext, manchmal auch auf Kosten der Verständlichkeit. Zu nennen sind hier das „Münchener Neue Testament“ (1988) und für das Alte Testament die so genannte „Interlinearübersetzung“ (seit 1993). Zwei weitere sehr urtextnahe Übersetzungen wurden von Übersetzern gefertigt, die auch „sprachschöpferisch“ tätig waren: Für das Alte Testament ist dies die Übersetzung von Martin Buber (zusammen mit Franz Rosenzweig), die „Buber-Übersetzung“ (1962). Das christliche Pendant dazu bietet „Das Neue Testament“ (1989) von Fridolin Stier. Eine „mittlere Linie“ verfolgt die „Elberfelder Bibel“ (1992). Die BasisBibel Mit der „BasisBibel“ (seit 2006) hat die Deutsche Bibelgesellschaft eine erste Bibelübersetzung speziell für die neuen Medien geschaffen (bisher: NT und Psalmen). Was als Erstes auffällt, ist das Druckbild in klar gegliederten kurzen Sinneinheiten. Außerdem gibt es neben dem Bibeltext noch weitere Informationen. So sind bestimmte Worte im Text farblich abgesetzt und in einer Randspalte erklärt. Ein wirkliches Plus aber sind die Informationen, die sich im Internet finden: Die BasisBibel ist nämlich gleichzeitig auch im Internet zu finden und zwar unter: www. basisbihel.de. Darüber hinaus hat die BasisBibel auch eine interaktive Seite: Über das Internetportal www.basisbibel.de können Leserinnen und Leser Rückmeldungen zu dieser Übersetzung geben. Die Bibel in gerechter Sprache In den letzten Jahren hat die „Bibel in gerechter Sprache“ (2006) viel Aufsehen erregt. Der Name rührt daher, dass sie Vielem gleichzeitig „gerecht werden“ will: dem Urtext,

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den Geschlechtern, dem Judentum und den sozial Schwachen. Schon an diesem Anspruch wird klar, dass das nicht ohne Abstriche gehen kann. Dennoch ist sie ein äußerst interessanter und innovativer Versuch, noch einmal ganz neu anzusetzen. Bildschirm-Bibeln Wer am Bildschirm Bibel lesen möchte, findet zwar die Einheitsübersetzung auf der Homepage des Bibelwerks www.bibelverk.de, eine weitaus breitere Palette von Bibelübersetzungen bietet aber die Deutsche Bibelgesellschaft. Unter www.die-bibel.de/ online-bibeln ist ein guter Zugriff auf verschiedenste gängige Bibeln zu finden (Lutherbibel, Gute Nachricht Bibel, BasisBibel, Menge-Bibel, Einheitsübersetzung, Zürcher Bibel, Elberfelder Bibel, Neue Genfer Übersetzung, Schlachter Bibel, Neues Leben). Hat man seine Übersetzung gewählt, landet man am Bibelanfang und kann dann die entsprechend gesuchte Bibelstelle eingeben. Wer rasch eine Bibelstelle nachschlagen möchte, hat einen schnelleren Direktzugriff auf www.bibelwissenschaft.de, wo er die entsprechende Bibelstelle eingeben und die gewünschte Übersetzung wählen kann. Ein weiterer Tipp: www.bibleserver.com. Dort haben sich mehrere Bibeltextanbieter zusammengetan und ermöglichen das Nachschlagen in vielen weiteren, auch fremdsprachigen, Bibelausgaben. Man kann durch den Eintrag in ein Suchfenster auch nach bestimmten Begriffen in einer Bibelausgabe suchen. Bibelschätze im Internet Immer interessanter werden die digitalisierten Schätze mit Reproduktionen jener Werke, deren Copyright schon abgelaufen ist, zum Beispiel auf www.archive.org. Dort finden sich etwa die Ausgabe einer gotischen Bibel als digitalisiertes Buch, die deutsche Übersetzung des Alten Testaments durch den jüdischen Gelehrten Leopold Zunz von 1848 oder die Übersetzung der Psalmen von Samson Raphael Hirsch. Auch Faksimileausgaben wertvoller Bilderhandschriftenfinden sich dort. Eine erste Zusammenstellung findet sich auf www.bibelwerk.de/bibelschaetze.

5. Wie man die Bibel heute richtig lesen und verstehen kann a) historisch-kritisch

Das Zweite Vatikanische Konzil hat Hinweise zum richtigen Verständnis und zur sachgerechten Interpretation biblischer Texte gegeben, die von jedem zu beachten sind, der sich ernsthaft mit der Schrift befassen will: „Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte. Um die Aussageabsicht der biblischen Schriftsteller zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten; denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrückt in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, Prophetischer oder

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dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. Weiterhin hat der Erklärer nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der biblische Schriftsteller den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend – mit Hilfe der damals üblichen literarischen Gattungen – hat ausdrücken wollen und wirklich zum Ausdruck gebracht hat. Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muss man schließlich genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren. Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, dass man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens. Aufgabe der Gesamtkirche ist es, nach diesen Regeln auf eine tiefere Erfassung und Auslegung des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit so gleichsam auf Grund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reift.“ 21 Diese Worte lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Allerdings ist es nicht einfach, ihrem Anspruch auch nur einigermaßen gerecht zu werden. Es ist Aufgabe der Exegese, diese Arbeit zu leisten. Sie hat mit historisch-kritischen Methoden die geschichtlichen Ursprünge des Christentums zu bedenken und die ältesten und wichtigsten Urkunden auszulegen. Damit kommt ihr eine provokatorische und innovatorische Funktion innerhalb der Theologie zu. Es kann nämlich durchaus geschehen, dass eine kritische Befragung der alt- und neutestamentlichen Schriften zu Erkenntnissen kommt, die in der überkommenen lehramtlichen Theologie übersehen oder verdrängt wurden oder die – etwa aufgrund neuerer archäologischer Funde – überhaupt erst jetzt möglich sind. Nicht selten sind dann Kurskorrekturen hinsichtlich des Verständnisses mancher biblischer Texte erforderlich. Das alles kann zu Verunsicherungen führen. Korrekturen brauchen meist längere Zeit, um sich durchzusetzen. Denn aufgrund der früheren Volksbildung und Glaubenserziehung ist ein „wortwörtliches“ Verständnis der Bibel noch immer weit verbreitet und in seinen Nachwirkungen spürbar. Es ist daher eine wichtige Aufgabe kirchlicher Verkündigung in Religionsunterricht, Predigt und Erwachsenenbildung, die gesicherten Erkenntnisse der neueren Exegese zu verbreiten und auch den „schlichten“ Gläubigen auf „schonende“ Weise zugänglich zu machen. Die Exegese muss sich darauf konzentrieren, auf der Basis einer genauen philologischen Analyse die ursprünglichen theologischen Aussagen und das Verkündigungsanliegen der biblischen Schriftsteller (das „Kerygma“) herauszuarbeiten. Darüber hinaus muss sie nach theologischen Grundlinien suchen, wie sie sich etwa in bestimmten größeren Texteinheiten erkennen lassen. Sie muss im Rahmen der Theologie des altbzw. neutestamentlichen Schrifttums den inneren Zusammenhang der biblischen Glaubenszeugnisse suchen, ohne deren Vielfalt zu harmonisieren. Die Exegese kommt dabei nicht umhin, um ihres Dienstes am Evangelium willen ihre Forschungsergebnisse, ihre Methoden und Intentionen immer wieder selbst kritisch zu reflektieren und gegebenenfalls zu korrigieren

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Trotz dieser Einschränkungen hat die historisch-kritische Exegese wichtige, nicht mehr rückgängig zu machende Erkenntnisse gebracht. Sie haben gezeigt, dass die Bibel als zeitgeschichtliches Dokument zu lesen ist, dass in ihr kein Lehrbuch der Dogmatik oder Ethik zu sehen ist und dass sie deshalb auch nicht als Steinbruch zur Untermauerung kirchlicher Lehraussagen missbraucht werden darf, dass die Bibel in erster Linie als Glaubenszeugnis verstanden werden muss, als Zeugnis von Menschen, die von ihrem Glauben ergriffen waren, und die diesen Glauben weitertragen wollten, dass die Auslegung der biblischen Texte nicht nach Belieben und der jeweiligen Interessenlage entsprechend geschehen darf. Der historisch-kritische Ansatz war ursprünglich ein Kind der Aufklärung und hat auf manchen Ab- und Umwegen den Umgang mit der Bibel auf eine neue Basis gestellt. Diese Form der Auslegung berücksichtigt, dass der Leser/die Leserin heute in vielfacher Weise vom Erstleser der biblischen Texte unterschieden ist: Das Weltbild ist anders geworden, die (natur-) wissenschaftlichen Kenntnisse sind erweitert und verändert, die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen und damit auch die drängenden Probleme der Welt haben sich gewandelt, die geistige Situation ist insofern anders, als der Mensch heute direkt oder indirekt von der jahrhundertealten jüdisch-christlichen Kulturgeschichte (Architektur, Musik, Malerei, Wertvorstellungen …) beeinflusst ist. Dieser historisch-kritische Ansatz bedient sich verschiedener Methoden:  Untersuchung der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der biblischen Texte (in der jeweiligen Ursprache),  Textkritik (Bemühen um Herstellung des ursprünglichen Wortlauts),  Literarkritik (Versuch, die Verfasserschaft und Entstehungszeit, den geistigen Hintergrund,  den „Sitz im Leben“ und die besonderen theologischen Intentionen des Verfassers/ der Verfasser zu ermitteln),  Formkritik (beschäftigt sich v. a. mit vorliterarischer Überlieferung der biblischen Texte),  Gattungskritik (Fragen nach der literarischen Gattung des Textes: Psalm, Erzählung, Märchen …),  Redaktionskritik (Überarbeitungen der Texte durch spätere Redaktoren, Rahmung, Zusammenstellung von Überlieferungsstücken, Aufbau von Sammelwerken). b) „kanonisch“

Die in den USA entwickelte „Kanonische“ Exegese, die uns heute in vielfältigen Formen begegnet, ist der Versuch, die literarhistorischen Besonderheiten der biblischen Literatur mit ihren theologiegeschichtlichen in Verbindung zu bringen. 22 Sie ist entstanden als eine Art von Reaktion auf die Forschungsmethoden und auf die von manchen als wenig hilfreich empfundenen Ergebnisse der historisch-kritischen Bibelexegese. Denn es sind auch nach mehr als einem Jahrhundert der entsprechenden Forschung viele Fragen offen geblieben.

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Wie glaubwürdig ist die Bibel?

Die kanonische Exegese wählt eine geänderte Perspektive im Umgang mit der Bibel. An die Stelle eines an der historischen Fragestellung orientierten, kritischen Zugangs zu den Texten tritt eine Betrachtungsweise, die sich stärker der theologischen Fragestellung verpflichtet weiß und aus dieser Sicht versucht, die Bibel zu interpretieren. Die gesamte Bibel wird bewusst als die Glaubensurkunde verstanden und als theologisch qualifiziertes Dokument in die Exegese des Einzeltextes einbezogen. Allerdings stellen sich auch bei dieser Methode schwer wiegende Fragen:  Der biblische „Kanon“ ist in den verschiedenen Rezeptionsgemeinschaften nicht einheitlich. Katholiken haben einen anderen Kanon als Protestanten und Juden.  Die Methode lässt außer acht, dass erst nach der Entstehung der verschiedenen Schriften der Prozess einer Kanonisierung eingesetzt hat. Dies gilt sowohl für den Kanon der Jüdischen Bibel wie für das Neue Testament und für den gesamten christlichen Kanon. Ein Kanon war nicht vorgegeben, sondern ist als Sammlung von „Kompromissdokumenten“ erst allmählich geworden.  Einheitlichkeit im Verständnis und in der Anwendung der Methode sowie in ihrer Nomenklatur ist bisher nicht in Sicht.  Es erscheint problematisch, die Frage nach der historischen Einordnung und nach dem geschichtlichen Entstehungsprozess von Texten auszuklammern.  Für Personen, „die sich während der letzten Jahrzehnte nicht zu einer Auseinandersetzung mit (oder gar Aneignung von) historisch-kritischen methodischen Kenntnissen durchringen konnten, sondern konsequent versucht haben, historisierende Tendenzen in der Bibelauslegung beizubehalten, bietet ein kanonisch orientierter Zugang zur Bibel eine willkommene Legitimationsmöglichkeit für die eigene Position. Diese macht es mit einem Schlag unnötig, eine Konfrontation mit dem Anspruch der historischen Kritik durchzustehen und bietet überdies einen hoffähigen Rückhalt für eine Haltung. (…) Es entstehen Satzperioden wie die folgende, die in einem Jesusbuch mit Millionenauflage zu lesen ist: „Jesus versteht sich selbst als die Tora – als das Wort Gottes in Person. Der gewaltige Prolog des JohannesEvangeliums ‚Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott‘ sagt nichts anderes, als was der Jesus der Bergpredigt und der Jesus der synoptischen Evangelien sagt. Der Jesus des vierten Evangeliums und der Jesus der Synoptiker ist ein und derselbe: der wahre ‚historische‘ Jesus.“ Die kanonische Exegese spielt einer kirchenpolitischen Richtung in die Hände, die nur zu gerne die theologische Dimension der historisch-kritischen Exegese in Frage stellt und sie – ungeachtet der diesbezüglichen Aussagen des letzten Grossen Konzils – lieber heute als gestern verabschiedet sähe.“ 23 Eine gesunde Skepsis erscheint gegenüber der kanonischen Bibelauslegung angebracht. c)

psychologisch

Er ist in jüngster Zeit durch die Arbeiten von Eugen Drewermann verstärkt in den Vordergrund gerückt worden. Er möchte in besonderer Weise die Tiefenschichten des Menschen – Gemüt, Einfühlungsvermögen, wechselnde Befindlichkeit – ins Spiel bringen. Die psychologischen Methoden setzen daher bei dem an, was den Bibelleser heute

Die Bibel heute richtig lesen und verstehen

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bewegt: Bei seinen Problemen, Fragen, Ängsten, Hoffnungen, Empfindungen, Tagund Nachtträumen, Einstellungen, Wertvorstellungen. Sie möchten einerseits diese Erfahrungen auf dem Hintergrund der Bibel (beruhigend, heilend, bestärkend) besprechen und andererseits die biblischen Texte auf das „eigentlich“ und „im Hintergrund“ Gesagte abhören und dem Leser ins Bewusstsein rufen. Dabei werden verschiedene tiefenpsychologische Schulen und ihr Instrumentarium eingesetzt (z. B. S. Freud: Unbewusstes, Verdrängtes; C. G. Jung: Archetypen; E. Berne: Transaktionsanalyse; R. Cohn: Themenzentrierte Interaktion). Folgende Arbeitsschritte können angewendet werden:  Sich-bewusst-Werden unmittelbarer Gefühle und Eindrücke beim Lesen des Textes,  Suche nach Auffälligkeiten und Besonderheiten,  Beachten des Anfangs,  Feststellung einer inneren Entwicklung,  Vorsichtige Deutung der Symbole,  Vergleich mit eigenen Erfahrungen. d) meditativ

Elemente einer meditativen Schriftauslegung hat es zu allen Zeiten in der Gemeinschaft der betenden und glaubenden Kirche gegeben: Langes Verweilen beim Wort der Schrift, durch alle Vordergründigkeit hindurch tiefer eindringen, Hingabe an das Wort, Versuch eines bewussten Lebens mit diesem Wort. Eine Methode meditativer Schriftauslegung in Gemeinschaft ist das „Bibel-Teilen“. Dabei sind 7 Schritte zu beachten:  Wir laden den Herrn zu uns ein.  Wir lesen den Text.  Wir verweilen beim Text. Wir suchen Worte und Sätze heaus, die uns wichtig sind. Wir lesen den Text noch einmal.  Wir lassen Gott zu uns sprechen  Wir teilen (mit), was uns berührt. Keine „Predigt“, keine Diskussion!  Wir besprechen, was der Herr von uns will.  Wir beten. e)

im Zusammenspiel von Elementen verschiedener Ansätze

Als eine Hilfe, die Elemente verschiedener Ansätze vereint, haben sich auch die folgenden Schritte bei der Erschließung eines biblischen Textes bewährt: Literarisches 1. Lies den Text und vergleiche den gelesenen Text mit einer anderen Übersetzung. 2. Welcher literarischen Gattung ist der vorliegende Text zuzuordnen? a) Einzelwort, Redestück, Bericht, Gleichnis, Legende, Dialog, Wundererzählung, Casus … ?

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Wie glaubwürdig ist die Bibel?

b) Wie ist der Text gegliedert? (Ablauf des Berichts, des Gedankengangs – Brüche) c) Wo wird so gesprochen wie im Text (Sitz im Leben)? d) Welches Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit signalisiert das Stück? (Ein Protokoll steht in einem anderen Verhältnis zur Wirklichkeit als eine Legende, als ein Erfahrungen mit der Wirklichkeit in einem Satz raffendes Sprichwort oder ein lyrisches Gedicht) 3. (Nur für synoptische Texte) Synoptischer Vergleich – Geschichte der Tradition. 4. In welchem Zusammenhang steht der Text? Historisches 1. Wer spricht im Text zu wem? 2. Gibt es im Text Züge, die unserem Wirklichkeitsverständnis widersprechen? (s. I. 2, d) 3. Welche sachlichen Klärungen sind zum Verständnis des Textes notwendig? (geographische, religionsgeschichtliche, soziologische) 4. Ist eine Rückfrage hinter den Text nach dem dahinterliegenden Ereignis möglich und zweckdienlich? Theologisches Welches ist die Absicht des Verfassers mit diesem Text? Ist Gesagtes und Gemeintes eines oder muss zwischen Gesagtem und Gemeintem unterschieden werden? 3. Die Botschaft des Textes (das im Text lautwerdende Selbstverständnis – die verkündigende Deutung eines Ereignisses). 4. Wie kann das im Text Gemeinte heute zur Sprache gebracht werden? 1. 2.

VI. Was wir über Jesus wissen 1.

Israel zur Zeitenwende

a) Die politische Situation

Im Jahr 37 v. Chr. wurde Herodes vom römischen Senat als König von Judäa eingesetzt. Herodes war Angehöriger des Stammes der Edomiter, die erst knapp 100 Jahre zuvor von den Makkabäern zwangsjudaisisert worden waren. Die Regierungszeit des Herodes zeichnete sich durch eine glanzvolle Bautätigkeit aus. Er gründete eine Reihe neuer Städte und schmückte schon bestehende mit großartigen Bauten. Er ließ in Jerusalem die Burg Antonia und den Königspalast errichten und begann eine großzügige Erneuerung des Tempels. Aus Angst um seinen Thron rottete er die Dynastie der Hasmonäer aus, die bisher die Herrschaft innegehabt hatte. Auch seine Frau Mariamne, die aus diesem Hause stammte, und die beiden Söhne, die er mit ihr hatte, ließ er umbringen. So ist es nicht verwunderlich, dass er wegen seines Privatlebens, wegen der durch die Bautätigkeit bedingten hohen Steuern und wegen seiner Förderung griechischer kultureller Einflüsse beim Volk unbeliebt war. Herodes ließ mehrere Festungen errrichten (Machärus, Masada), die ihm wohl auch als Zufluchtsort bei Putschversuchen dienen sollten. Eine davon ist das Herodion, etwa 6 km südöstlich von Betlehem gelegen. Hier wurde er auch begraben. Nach dem Tod des Herodes (4 v. Chr.) reisten die drei in seinem Testament genannten erbberechtigten Söhne Archelaus, (Herodes) Antipas und Philippus nach Rom, um sich von Kaiser Augustus (30 v.–14 n. Chr.) als Nachfolger bestätigen zu lassen. Gleichzeitig begab sich eine starke jüdische Delegation von Jerusalem nach Rom, um vom Kaiser die Abschaffung der verhassten Herodianerherrschaft zu erreichen. Judäa sollte unmittelbar unter römische Verwaltung gestellt werden. Rom zögerte zunächst, dem Wunsch der jüdischen Delegation zu entsprechen, und teilte das Land, dem Testament des Herodes entsprechend, unter die drei Söhne auf: (Herodes) Antipas (4 v.–39 n. Chr.) erhielt den Titel „Ethnarch“ (= Volksherrscher, Fürst) und bekam Galiläa und Peräa, Philippus (4 v.–34 n. Chr.) wurde ebenfalls „Ethnarch“ über die transjordanisch-syrischen Gebiete und Archelaos wurde „Tetrarch“ (= Vierfürst; Verwalter des vierten Teils eines Gebietes, nicht König!) von Judäa (4 v.–6 n. Chr.). Archelaos wurde nach zehnjähriger Regentschaft auf Bitten der Juden hin von den Römern abgesetzt; sein Gebiet wurde der direkten Aufsicht eines römischen Statthalters unterstellt. Von 26–36 n. Chr. bekleidete Pontius Pilatus dieses Amt. Die römischen Statthalter residierten in Caesarea am Meer und legten sich im Allgemeinen Zurückhaltung in ihrer Amtsführung auf. Nur gelegentlich, vor allem zu den hohen jüdischen Festen, begaben sie sich nach Jerusalem, um möglichen Ausschreitungen sofort begegnen zu können. Die Juden durften ihre inneren Angelegen-

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Was wir über Jesus wissen

heiten weitgehend selbst regeln. Die höchste gesetzgebende und richterliche Gewalt besaßen der Hohepriester und das von ihm präsidierte Synedrion (= Sanhedrin, Hoher Rat) mit seinen 70 Mitgliedern (in Analogie zu den „70 Ältesten“ in Ex 24,1.9; Num 11,16). In der Zeit Jesu waren als Hohepriester Hannas (6–15 n. Chr.) und sein Schwiegersohn Kajaphas (18–36 n. Chr.) tätig. Um alle notwendigen Unterlagen für eine Besteuerung der Bevölkerung zu erhalten, führten die Römer von Zeit zu Zeit in den einzelnen Gebieten des Römischen Reiches eine Registrierung durch (Census, „Volkszählung“), bei der alle Einwohner unter Angabe ihrer Heimatzugehörigkeit und ihrer Vermögensverhältnisse erfasst wurden. Ein solcher Census ist für Syrien und Judäa aus dem Jahr 6 n. Chr. belegt, als Archelaos abgesetzt und das Land unter römische Verwaltung genommen wurde. Ein Census, wie ihn Lukas (2,1) für das Jahr der Geburt Jesu (ca. 6/7 v. d. Zeitenwende) erwähnt, ist in profanen Quellen nicht bekannt. b) Die sozialen Verhältnisse

Die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Israel in der Zeit Jesu waren ähnlich wie in den anderen Gebieten rund ums Mittelmeer. Es gab zwei Bevölkerungsschichten: eine reiche Oberschicht, welche die Macht ausübte und in hohem Ansehen stand (Großgrundbesitzer, Senatoren, Ritter, „Freie“; insgesamt etwa 1–5 % der Bevölkerung) und eine stark gegliederte Unterschicht, die kaum politische Macht besaß (Kleinbauern, Sklaven, Handwerker, Kaufleute, Lehrer, Tagelöhner). Das einfache Volk hatte ums nackte Überleben zu kämpfen. Nach dem Tod des Herodes und der danach folgenden weitgehenden Einstellung der Bautätigkeit gab es eine große Zahl von Arbeitslosen. Flavius Josephus berichtet, dass allein in Jerusalem nach Beendigung der von ihm maßlos betriebenen Bauarbeiten am Tempel im Jahr 10 n. Chr. für 18.000 Arbeitslose Notstandsarbeiten ausgeschrieben wurden. Nicht weniger bedrückend war die Situation in der Provinz. Das Land gehörte meist Großgrundbesitzern, die ihre Untertanen auf skrupellose Weise ausbeuteten. Den spärlichen Lebensunterhalt verdiente sich das Volk durch Landwirtschaft, Handwerk und Kleinhandel. Das karge Gebiet von Judäa ermöglichte nur eine bescheidene Vieh- und Weidewirtschaft. Manche Berufe waren verachtet – vor allem die Zollpächter. Sie standen im Dienst der römischen Macht und waren durch den unvermeidlichen Kontakt mit den „Heiden“ einer dauernden kultischen Verunreinigung ausgesetzt. Darüber hinaus benutzten sie ihre Stellung häufig zu persönlicher Bereicherung, indem sie die von den Römern festgelegten Zolltarife eigenmächtig heraufsetzten und die Mehreinnahmen für sich behielten. Die verbreitete Arbeitslosigkeit zwang viele zum Betteln. Die Bibel fordert zum Almosengeben auf (Dtn 15,11; Spr 3,27) und berichtet von Beispielen dieser Armenfürsorge. Sie sieht darin einen zutiefst religiösen Akt, der dem Opfer gleichwertig ist (Tob 4,11).

Israel zur Zeitenwende

c)

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Religiöse Gruppierungen

Es gab in der Zeit Jesu eine Vielzahl religiöser Gruppierungen. Zu den wichtigsten zählen Sadduzäer, Samaritaner, Pharisäer, Essener und Zeloten. Sadduzäer Ihr Name rührt wohl von Sadok her, der zunächst unter David, später unter Salomo vornehmster Priester in Jerusalem war (2 Sam 8,17; 15,24–36; 1 Kön 1,32–40). Sein Priestergeschlecht, die Sadokiden, verband in nachexilischer Zeit die priesterliche Funktion mit einer politischen Führungsrolle (Ez 44,15–31). Unter Herodes hatten sie stark an Einfluss gewonnen. Ihre Anhänger waren in Kreisen des Jerusalemer Adels und der Priesterfamilien zu suchen. Sie vertraten eine eher konservative Richtung und sahen ihre Hauptaufgabe im Bewahren der überkommenen Tradition. Darum lehnten sie alle innerjüdischen Weiterentwicklungen der Lehre zur Anpassung an die Zeiterfordernisse und die Annahme einer mündlichen Tradition vehement ab. So verneinten sie eine Auferstehung der Toten, weil darüber in der Tora nichts geschrieben steht. Ihre religiöse Bedeutung im Judentum war allerdings gering. Weit stärkeren Einfluss übten sie im Hohen Rat aus, in dem sie durch eine kleine, aber rührige Gruppe vertreten waren. Samaritaner Wahrscheinlich haben Rivalitäten innerhalb der zadokidischen Priesterschaft im 3. Jahrhundert v. Chr. zur Abwanderung einiger Priester und ihrer Familien auf den Berg Gerisim, südlich der von Herodes prunkvoll ausgebauten Provinzhauptstadt Samaria, geführt (damals von ihm zu Ehren des Kaisers Augustus in „Sebaste“ umbenannt; heute Nablus). Sie erbauten dort einen eigenen Tempel. Nachdem der Makkabäer Hyrkan I. im Jahre 128 v. Chr., der in der Jerusalemer Kultzentralisation ein Machtmittel im Kampf gegen die Fremdherrschaft der griechischen Seleukiden sah, diesen Tempel zerstören ließ, wuchsen die separatistischen Tendenzen unter den Samaritanern. Sie führten schließlich zum völligen Bruch mit Jerusalem. Die Samaritaner galten seitdem als Heiden und ihr Kult als illegitim. Im Hinblick auf die Lehre vertraten sie ähnliche Ansichten wie die Sadduzäer: Heilige Schrift ist für sie nur die Tora, der sogenannte „samaritanische Pentateuch“ (mit erheblichen Varianten zur jüdischen Tora); alle übrigen Bücher und spätere Lehren der jüdischen Tradition werden nicht anerkannt. In der Zeit Jesu bestand zwischen dem Jerusalemer Judentum und den Samaritanern ein feindschaftliches Verhältnis; die Bezeichnung „Samaritaner“ wurde als Schimpfwort verwendet (Joh 4,48). Pharisäer Eine besondere Rolle spielt in den Evangelien – vor allem bei Matthäus – die Auseinandersetzung Jesu mit den „Schriftgelehrten und Pharisäern“. Es gehört zu den in der gesamten Christenheit am weitesten verbreiteten und sich hartnäckig haltenden Vorurteilen, dass sie die eigentlichen Gegner Jesu waren, dass sie ihn mit List und Tücke in die Falle zu locken versuchten und schließlich die Hauptschuld an seinem Tod trugen.

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Was wir über Jesus wissen

„Pharisäisch“ gilt noch heute als Schimpfwort und bezeichnet eine Geisteshaltung, die geprägt ist von Selbstgerechtigkeit und Heuchelei. Wir wissen heute aus zahlreichen zeitgenössischen jüdischen Quellen, dass Jesus selbst mit der Mehrheit der damaligen palästinischen Juden ein Anhänger der pharisäischen Glaubenslehren und der pharisäischen Gesetzesauslegung war. Er bekennt sich mit ihnen zur leiblichen Auferstehung; er praktiziert weitgehend ihre Frömmigkeitsformen, die vor allem in Wohltätigkeit, Gebet und Fasten bestehen (Mt 6,1–18); er teilt die liturgische Gewohnheit, sich an Gott als Vater zu wenden, und er betont den Vorrang der Gottes- und der Nächstenliebe. In der christlichen Schriftauslegung beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass die große Rede gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten bis hin zu den Weherufen (Mt 23,13–31) weniger eine Abrechnung mit dem Pharisäismus (als der prägenden Kraft des Judentums zur Abfassungszeit des Matthäusevangeliums) als vielmehr eine Mahn- und Warnrede nach innen, also an christliche Schriftgelehrte darstellt. 1 Die in den Evangelien geschilderte Feindschaft der Pharisäer gegen Jesus ist weitgehend ein Produkt nachösterlicher Polemik. Die Pharisäer waren eine zur Zeit Jesu etwa 6.000 Mitglieder umfassende jüdische Volksbewegung, die am Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. entstanden ist. Vermutlich bildeten sie eine Art von Bruderschaft, die aus mannigfachen Strömungen zusammengesetzt war. Beim einfachen Volk standen sie in hohem Ansehen. In der Zeit Jesu engagierten sie sich gegen die selbstherrliche Regierung und gegen den wuchernden Klerikalismus der herrschenden Sadduzäer-Klasse. Sie galten wohl wegen ihres ernsthaften Bemühens, den Willen Gottes zu erfüllen, und wegen der Strenge ihrer Gesetzesbefolgung als die Gerechten im Lande. Dabei waren sie keineswegs so konservativ-reaktionär, wie man es nach der Darstellung in den Evangelien vermuten möchte. Sie wandten sich nämlich gegen eine griesgrämige, unzeitgemäße Religion, indem sie den Mut aufbrachten, das in Jahrhunderten geschriebene Gotteswort für ihre Zeit weiter zu entwickeln. Sie bemühten sich, das Gesetz nicht nur zu bewahren und es verbindlich auszulegen. Sie wollten es auch für die Gegenwart lebbar machen und Möglichkeiten aufzeigen, es in allen Situationen des Alltags konkret zu verwirklichen. Sie kamen damit einem weit verbreiteten Bedürfnis des Volkes entgegen, das nach Orientierung und Weisung verlangte. Die Auslegepraxis führte dann allerdings nicht selten zu eigenartigen Spitzfindigkeiten: Wie weit darf man sich am Sabbat bewegen? Darf man sich am Sabbat verloben? Darf man eine ärztliche Tätigkeit ausüben, wenn der Kranke nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt? Es ist unschwer einzusehen, dass solche Überlegungen leicht zu einem Formalismus führen konnten und auch tatsächlich führten, der das Gesetz und damit den Willen Gottes völlig verrechtlichte. Dieser Gefahr waren sich die Pharisäer durchaus bewusst. Essener Keine religiöse Gruppierung des antiken Judentums kennen wir heute so genau wie die Essener. 2 Es gab in der Zeit Jesu etwa 4.000 Essener, die vor allem in Jerusalem und seinem judäischen Umland lebten. Im Jahr 167 v. Chr. hatte der Seleukidenherrscher Antiochus IV. Epiphanes den Jahwe-Kult im Tempel durch den Kult des Zeus Olympi-

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kos ersetzen lassen. Damit war für die Essener der Tempelkult in Jerusalem nicht mehr legitim. Als dann auch noch der traditionelle priesterliche 364-Tage-Sonnen-Kalender durch den bis heute im Judentum üblichen, ursprünglich babylonischen 354-TageMond-Kalender des Seleukidenreiches abgelöst wurde, war für viele Essener das Maß voll. Sie zogen von Jerusalem fort. Eine der neuen Siedlungen, die sie gründeten, war Khirbet Qumran am Nordwestufer des Toten Meeres. Quantitativ war die Union der Essener die mächtigste religiöse Elitegruppe des Judentums in der Zeit Jesu. Wer Mitglied dieser Gruppe werden wollte, musste sich einer mindestens dreijährigen Aufnahmeprozedur unterziehen. Besonders wichtig war, dass er die Tora auswendig lernte. Wer es geschafft hatte, Vollmitglied zu werden, übereignete bei seiner endgültigen Aufnahme sein gesamtes Eigentum, seine Arbeitskraft und all sein Wissen der Gemeinschaft. Diese war streng hierarchisch gegliedert: An der Spitze standen die Priester, gefolgt von den Leviten, den gebürtigen Juden und den vom Heidentum zum Judentum übergetretenen Proselyten. Die Ehe galt als eine Art Pflichtdienst der Männer für Gott. Allerdings durfte jeder Mann nur einmal heiraten. Da die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen damals bei etwa 30 Jahren lag, dürfte vermutlich die Hälfte der männlichen Mitglieder faktisch ehelos gelebt haben. Die Essener erwarteten, dass Gott möglichst bald einen der Nachkommen Davids zum triumphalen königlichen Messias machen werde. Er sollte Israel von der Fremdherrschaft befreien, alle Juden wieder im Heiligen Land vereinen und ein Staatswesen nach dem glanzvollen Vorbild Davids und Salomos wiedererrichten. 1947 wurden in einer Höhle in der Nähe der Siedlung Khirbet Qumran Schriftrollen gefunden. Eine davon ist die komplette Wiedergabe des Buches Jesaja, eine andere die berühmte „Tempelrolle“. Im Hinblick auf die Jesus-Bewegung verändern die Textfunde in Qumran nichts Grundsätzliches am neutestamentlichen Bild Jesu. Sie offenbaren vielmehr gravierende Unterschiede zur Jesusbewegung: Für Jesus und die Urgemeinde gibt es keinen Gesetzesrigorismus, keine monastische Lebensgemeinschaft, keine Absonderung von den Sündern und Gottlosen, keine Erwartung eines Heiligen Krieges, kein Hoffen auf einen priesterlichen und einen königlichen Messias, keine Restituierung des Tempelkultes und keine Errichtung eines Tempelstaates. Jesus selbst dürfte kaum Kontakt zu den Essenern gehabt haben, weil in Galiläa keine lebten. Zeloten Sadduzäer und Pharisäer waren gemeinsam bemüht, mit der römischen Besatzungsmacht auszukommen, die Essener waren in die Emigration gegangen. Lediglich die „Zeloten“ (griech. = Eiferer) hatten sich, getrieben von einem politisch gefärbten Messianismus, den bewaffneten Widerstand zur Aufgabe gemacht („Dolchmänner“: Apg 21,38). Besonders verbreitet war diese Gruppe in Galiläa (vgl. Apg 5,37). Ihr Ziel war die Befreiung von der Römerherrschaft. Wie zeitgenössischen Quellen zu entnehmen ist, traten manche Führer solcher Aufstände mit messianischen Ansprüchen auf. Für jüdische Realpolitiker und natürlich insbesondere für die römische Besatzungsmacht galten sie als lästige und gefährliche Unruhestifter, die so rasch wie möglich zu beseitigen waren, falls man ihrer habhaft wurde.

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Was wir über Jesus wissen

2. Die Vorgeschichte a) Die „Kindheitsevangelien“

Über die Zeit bis zum öffentlichen Auftreten Jesu wissen wir so gut wie nichts. Was die Evangelien, vor allem Lukas und Matthäus, davon erzählen, ist theologisch hoch befrachtet, aber historisch kaum gesichert und für eine exakte Darstellung der Kindheit Jesu irrelevant. Jesus ist geboren in der Regierungszeit Herodes’ I., des Großen, wahrscheinlich im Jahre 7 oder 6 vor der Zeitenwende. Herodes regierte von 37–4 v. d. Z. Als Geburtsort ist Nazaret anzusehen. Denn Jesus wird in den Evangelien immer als der „Mann aus Nazaret“ bezeichnet. Betlehem wird nur in den ersten beiden Kapiteln des Matthäus- und Lukasevangeliums erwähnt und ist vor allem als „theologischer“ Geburtsort zu werten (Davidsstadt: Lk 2,4; Mt 2,4–6; vgl. aber Joh 7,40–43; Lk 4,24). Die Kapitel 1 und 2 bei Lukas und Matthäus werden als „Kindheitsevangelien“ bezeichnet, weil sie nahezu ausschließlich theologische Aussagen über die Vorgeschichte Jesu enthalten, entstanden aus dem Glauben der Gemeinde an ihn als ihren Herrn und Retter. Matthäus Im Zentrum des matthäischen Kindheitsevangeliums steht die Verkündigung Jesu als des im Alten Testament verheißenen Messias, an dem sich das Schicksal des alttestamentlichen Gottesvolkes erfüllt und in dessen früher Kindheit sich sein späteres Schicksal (Verfolgung und Kreuzigung) und das der christlichen Gemeinde schon andeutet (Ablehnung durch „die Juden“, Annahme des Evangeliums unter den Heiden im „Osten“). Matthäus gliedert seinen Text in drei Abschnitte: Stammbaum (Mt 1,1–17), Geburt Jesu (Mt 1,18–25; 2,1a) und Erzählung vom Besuch der Magier aus dem Osten und seinen Folgen (Mt 2,1b-23). Der Stammbaum ist kunstvoll gegliedert in 3 mal 14 Generationen. Für einen Juden verbarg sich in der Zahl 14 der Name „David“. Das Hebräische kennt nämlich kein eigenes Zahlensystem; jeder Konsonant (Vokale wurden ursprünglich nicht geschrieben) hat auch einen Zahlenwert. So bedeutet D die 4, und W entspricht der 6; für D-W-D (David) ergibt sich somit bei der Addition der Wert 14. Die Geburt Jesu wird nur kurz, genau genommen in einem Nebensatz erwähnt: „Als Jesus in den Tagen des Königs Herodes geboren war, kamen Magier …“ (Mt 2,1a). Sehr ausführlich wird der Besuch der Magier samt seinen Folgen geschildert. Es handelt sich hier wohl um eine ursprünglich selbstständige Einheit ohne jeden Anspruch auf Historizität – das gilt für den Stern, für die Magier, für den Kindermord und für die Flucht nach Ägypten. Im Vordergrund steht die Verkündigungsabsicht:  Jesus ist der verheißene Messias (vgl. Mt 2,6 und 2 Sam 5,2),  Jesus ist der neue Mose (Mt 2,13–15)  Jesus ist der verheißene Stern, der über Jakob aufgeht (vgl. Num 24,17)  Jesus wird von „ganz Jerusalem“ abgelehnt (vgl. Mt 26,1–4)  Wer an Jesus glaubt, muss sich auf Verfolgungen gefasst machen (vgl. Jer 31,15–16; Mt 5,11–12; 10, 23; 23,34).

Die Vorgeschichte

 

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Zu Jesus pilgern die Heiden (vgl. Jes 60,3–8; Ps 72,10) Die Heiden, deren Repräsentanten die Magier sind, hoffen auf das Evangelium (Mt 12,18–21).

Lukas Die Verkündigungsabsicht des lukanischen Kindheitsevangeliums wird erkennbar in der kunstvollen Gestaltung einer überbietenden Parallele zwischen der Vorgeschichte Johannes’ des Täufers und Jesu:??abb?? Johannes

Jesus

Ankündigung der Geburt im Tempel zu Jerusalem Der Engel Gabriel als Gottesbote Empfänger der Botschaft: ein Mann, der Priester Zacharias = der Vater Elisabeth aus dem Haus Aaron Name (Johannes) von Gott bestimmt Der Vater soll das Kind benennen Johannes wird groß sein vor Gott

Ankündigung der Geburt in der Provinz-„Stadt“ Nazaret Der Engel Gabriel als Gottesbote Empfänger der Botschaft: eine (Jung-)Frau, Maria = die Mutter Josef aus dem Haus Davids Name (Jesus) von Gott bestimmt Die Mutter soll das Kind benennen Jesus wird Sohn des Höchsten genannt werden Gott wird Jesus den (Königs-)Thron (Davids) geben

Johannes wird dem Herrn vorausgehen

Die Begegnung der beiden Mütter und der (noch ungeborenen) Kinder. Lobpreis Marias. Geburt

Geburt

Ortsname nicht angegeben Zeit nicht angegeben

Zu Betlehem, in der Stadt Davids Als Augustus Kaiser und Quirinius Statthalter waren (die beiden als Repräsentamten der irdischen Welt) Gewaltige Engelerscheinung (Engel als Repräsentanten der „himmlischen“ Welt) Lobgesang der Engel Hirtenbesuche (Hirten als Repräsentanten der Führungs- und der Unterschicht in Israel)

Lobgesang des Zacharias Nachbarnbesuche

Eine komplexe Bildergeschichte 3 Die beiden Kindheitsevangelien nach Matthäus und Lukas sind keine Tatsachenberichte, sondern mehr oder minder frei erfundene Bildergeschichten. Hinter dem vordergründig Erzählten verbergen sich eine gute Portion Gesellschafts- und Sozialkritik und theologische Aussagen. Jeder Satz, ja fast jedes Wort besitzt eine Tiefendimension, die

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Was wir über Jesus wissen

sich erst bei genauerem Hinsehen erschließt und die auch etwas Hintergrundwissen voraussetzt.













Gesellschafts- und sozialkritische Aspekte Die Evangelisten haben eine Antigeschichte zu den damals umlaufenden gloriosen und fantastischen Kindheitsgeschichten der politischen Größen ihrer Zeit geschrieben. Jesus ist genau das Gegenteil von dem, was man von einer historisch bedeutsamen Gestalt erwartet. Er kommt nicht in einem Palast zur Welt, sondern irgendwo „draußen“; seine Wiege ist kein Himmelbett, sondern eine Futterkrippe; er wird nicht von der Staatsmacht gehegt und gepflegt, sondern muss schon bald nach seiner Geburt im Ausland in Sicherheit gebracht werden. Matthäus berührt in seiner Erzählung von den Weisen aus dem Osten die Heuchelei und die ungezügelte, brutale Machtausübung karrieresüchtiger Despoten, die auch vor einem Mord an unbeteiligten Kindern nicht zurückschrecken, um ihren Machterhalt zu sichern. Wer sich etwas in der Geschichte auskennt, weiß freilich, dass derartige „Herren“ – wie hier der König Herodes – letztlich meist kläglich enden. Er weiß um die Ohnmacht der Mächtigen und die Macht der Ohnmächtigen. Matthäus lässt in seinem Kindheitsevangelium Männer, die als besonders weise und wissenschaftlich qualifiziert galten, vor dem unmündigen Kind erscheinen und ihm huldigen. Das Große, Bedeutende, Hochangesehene und Geachtete fällt auf die Knie vor dem Kleinen, Unbedeutenden, Unansehnlichen und Nichtbeachteten Lukas verknüpft die Geburt Jesu mit der Geschichte der damals bekannten Welt. Was in einem kleinen Winkel des großen römischen Imperiums geschieht, steht nicht im Abseits, ist nicht unbedeutend. Hier geschieht das eigentliche Ereignis der Weltgeschichte. Durch die Geburt des Messias wird Betlehem zum eigentlichen Mittelpunkt der Welt. Das Heil ist nicht vom damals regierenden Kaiser Augustus, sondern vom Kind in der Krippe zu erwarten. Lukas lässt die Engel auf den Feldern von Betlehem die Geburt des Heilands, des Retters, des Friedensbringers verkünden. In ihrer Botschaft verbirgt sich ein erstaunliches Sendungs- und Selbstbewusstsein der christlichen Gemeinden. Diese spielten ja zu der Zeit, als Lukas sein Evangelium schrieb, eine politisch völlig unbedeutende Rolle. Lukas deckt in seiner Erzählung von der Geburt Jesu die gesellschaftlich-sozialen Aspekte vor allem durch seine kontrastierende Darstellungsweise auf. – Da ist der Kaiser auf der einen und da sind die kleinen Leute auf der anderen Seite. – Da ist die Metropole Rom als Zentrum der Macht und der Weltherrschaft einerseits und da sind die Felder des Provinzdorfes Betlehem andererseits. – Da ist der von Menschen zu einem „Gott“ gemachte „Retter“ und „Heiland“ Augustus, und da ist der von Gott zu den Menschen gesandte Retter, der „unten“, am Rande der Gesellschaft geboren wird. – Da sind die Mächtigen in ihren Palästen, die zum Zweck der Steuererhebung selbst Hochschwangere auf die Reise schicken, und da sind die Menschen, die

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gehorchen und sich auf den Weg machen müssen, ohne Gewissheit, irgendwo in einer Herberge unterkommen zu können. Da ist ein Kind in einem Stall, das von armen Hirten besucht und verehrt wird und das von den Reichen und Mächtigen der Welt unbeachtet bleibt. Aber dieses Kind wird (zwei Kapitel später im Lukasevangelium) als erwachsener Mann erklären, es habe die Aufgabe, „den Armen die frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen Befreiung, den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen zu befreien“ (Lk 4,18).

Theologisch-christologische Aspekte Matthäus Jesus ist in den Schriften des Alten Testaments in vielfacher Weise angekündigt worden. Man muss nur genau hinschauen, um das zu erkennen. Man muss die versteckten Anspielungen der Propheten richtig deuten. Jesus ist zutiefst im Volk Israel beheimatet. In seinem Stammbaum spiegeln sich Höhen und Tiefen der Geschichte des Volkes, Menschlich-Allzumenschliches und Heroisches. Jesus ist der neue Mose. Er rettet sein Volk aus aller Knechtschaft und Unterdrückung und führt es in die Freiheit der Kinder Gottes. Jesus ist von einer „Jungfrau“ geboren: Menschliche Fruchtbarkeit allein hätte so etwas wie ihn nicht schaffen können. Hier war Gott am Werk. Jesus ist das Werk Gottes. Er ist das Geschenk Gottes an die Menschen. Jesus hat nicht nur eine Bedeutung für die Juden, sondern auch für die Heiden, ja für alle Menschen. Die Aufgeschlossensten unter ihnen haben ihn erkannt. Ihnen ist ein Licht aufgegangen. Sie sind dem Stern gefolgt. Sie haben Jesus aufgesucht, ihm gehuldigt und ihre Gaben dargebracht. Jesus erregt den Neid und die Missgunst der Mächtigen. Er wird kein ruhiges, bequemes Leben führen können. Sein gewaltsamer Tod zeichnet sich schon jetzt ab. Auch alle, die sich zu ihm bekennen, sind vor Verfolgung nicht sicher. Jesus und sein Schicksal ist in die Hände von Menschen gegeben. Sie müssen ihn in Sicherheit bringen. Später wird es die Aufgabe von Menschen sein, seine Botschaft zu hüten, sein neues Leben weiterzugeben.

Lukas Jesus ist eine „große Freude für das ganze Volk“. Die Botschaft, die er zu bringen hat, ist ein „Evangelium“, eine Botschaft überschwänglicher Freude. Lukas legt dem Engel die Worte in den Mund: „euangelízomai hymín charán megálän“ (wörtlich: „ich frohbotschafte euch eine große Freude“).  Jesus ist der „Retter“, der gekommen ist, „um zu suchen und zu retten, was verloren ist“.  Jesus ist vor allem gesandt zu den Armen und zu jenen, die keine besondere Wertschätzung im Volk erfahren. Die Hirten galten als Betrüger und zählten auch nicht zu den Frommen, weil sie bei ihrer Berufsausübung den gesetzlichen Reinheitsvorschriften nicht nachkamen.

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Jesus ist der „Sohn Davids“, in dem sich die Verheißungen und Erwartungen des Volkes Israel erfüllen.  Jesus ist der eigentliche Friedensbringer, weil Friede nur möglich ist, wenn Gott ihn schenkt.  Jesus ist nicht ein König, der mit Macht und Glanz daherkommt, sondern ein armer und heimatloser „Menschensohn“. Als nüchternes historisches Faktum der Vorgeschichte Jesu ist nur so viel festzuhalten: Jesus ist geboren in der Zeit der Regierung Herodes’ I., des Großen, wahrscheinlich im Jahre 7 oder 6 vor der Zeitenwende (Herodes regierte von 37 bis 4 vor der Zeitenwende). In dieser Zeit herrschte Kaiser Augustus über das gesamte römische Imperium. Quirinius war sein Statthalter in Syrien. Jesu Mutter heißt Maria, sein Vater Josef. Ihr ständiger Wohnsitz war Nazaret. b) „Menschwerdung Gottes“

Für nicht wenige Christen bedeutet die Botschaft von der Menschwerdung Gottes eine intellektuelle Zumutung: Wie soll man sich das vorstellen können – Gott wird Mensch in einer konkreten Person der Geschichte, in Jesus von Nazaret? Die römische und griechische Antike kennt zahlreiche Mythen, in denen Götter in Menschengestalt erschienen sind. Aber „dass der Ewige, der entfernte und unsichtbare Gott Israels, der stets sein Antlitz in den Wolken oder hinter einem Gebüsch verbirgt, dessen Stimme man höchstens vernimmt […], in der Welt einen irdischen Körper oder Leib auf sich nehmen soll, um darin die Qual eines schändlichen Todes zu erleiden, wie er den Verbrechern und Sklaven vorbehalten war – dies ist letztendlich für einen gelehrten Rabbi ebenso absurd wie für einen Weisen der heidnischen Antike.“ 4 In der Tat – absurd! Beim Evangelisten Johannes lesen wir lapidar: „Das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14). Fleisch geworden! Das ist geradezu Ärgernis erregend. Hier wird offensichtlich in drastischer Weise die Grenze zwischen Göttlichem und Menschlichem durchbrochen. Der Schöpfer der Welt, der eine und einzige Gott, macht sich zu einem endlichen Dasein, zu einem individuellen Menschen mit einer konkreten Lebensgeschichte. Gott versteckt sich nicht in dem Menschen Jesus von Nazaret, in dessen Leiblichkeit und Materialität. Gott teilt auch nicht (nur) „etwas“ von sich mit. Er wird selbst dieser Mensch. Vielleicht wollte Johannes mit diesem krassen und für Viele sicher geradezu anstößig wirkenden Wort allen Spekulationen entgegentreten, nach denen Jesus nur einen Scheinleib gehabt habe und in Wirklichkeit gar nicht wahrhaft ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen sei. Gott wird damit erfahrbar „als ein Gott der Welt, nicht der ‚Hinterwelt‘ ; als ein Gott des Fleisches, nicht allein des Geistes, nicht als der ferne, entzogene, erhabene, gleichermaßen Faszination wie Furcht auslösende deus absconditus, sondern als der Gott, der sich schon im Anfang für seine Schöpfung entschieden hat, sich an sie gebunden hat, der ihr bleibend nahe sein und sie zur Vollendung führen will.“ 5 Gott wird Mensch in Jesus von Nazaret. Und der ist kein Kaiser oder König, kein großer Gelehrter oder Superman, kein Reicher oder Schöner, sondern einer „von un-

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ten“, von „ganz unten“, einer, der als Verbrecher am Kreuz endet. „Darin, dass sich Gott entschließt, ‚im Fleische‘ Jesu zur Erscheinung zu kommen, zeigt sich schon, wer Gott ist, nämlich unbedingte Liebe zum Anderen seiner selbst, das er geschaffen hat. Zugleich zeigt sich in diesem Handeln, eben weil es das Handeln eines Menschen ist, wozu ein Mensch fähig sein kann, der sich selbst zum unbedingten Bild dieser göttlichen Liebe bestimmt hat: fähig zu einem Einsatz für Andere, der bis zum Äußersten geht, nämlich zum Einsatz seiner selbst als Zeichen des verheißenen Heiles für alle.“ 6 In einem bemerkenswerten Aufsatz hat unlängst der Pastoraltheologe Herbert Haslinger bewusst zweideutig Jesus als „Nicht-Schönen“ und „Heruntergekommenen“ bezeichnet. 7 Jesus ist „vom Himmel herab- / heruntergekommen“ (descendit de caelo). wie es im christlichen Credo heißt, und er ist der „Heruntergekommene“ im umgangssprachlichen Sinn. Gerade unter diesem Aspekt gewinnt die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazaret eine für die heutige Zeit und für die gesellschaftliche Situation der Gegenwart eine überraschende Relevanz. „Ist es nicht gerade das Unschöne, Irritierende und Verstörende am christlichen Glauben, darunter das Bild des geknechteten und erniedrigten Gottessohnes, mit dem dieser Glaube heute Relevanz erreichen und Eingang in den allgemeinen Diskurs der Gesellschaft finden kann – weil er damit den Menschen einen Ort und ein Artikulationsmedium für Erfahrungen bietet, die unweigerlich zu ihrem Leben gehören, die aber im ständigen Wettlauf der gesellschaftlichen Kräfte um das schönste, erfolgreichste Sich-Präsentieren keinen Platz und keine Geltung mehr zugesprochen bekommen?“ 8 Mit der Besinnung auf das „Nicht-Schöne“ an der Gestalt Jesus und an seinem Schicksal, auf das Dramatische und Erschreckende, das nach menschlichen Maßstäben als Scheitern zu gelten hat, rückt das Zentrum der biblischen Jesusgeschichte, die „Erniedrigung bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,7), verstärkt ins Blickfeld. Haslinger vertritt die Ansicht, dass insbesondere unter diesem Aspekt, als „Herunter-Gekommener“, Jesus als Identifikations- und Hoffnungsgestalt der „Heruntergekommenen“ in der Gesellschaft taugt. Es geht hier „um den zentralen Inhalt unseres Glaubens: Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden, zu uns Menschen heruntergekommen. […] Im griechischen Text (Phil 2,5–8; N. S.) findet sich als Ausdruck der Niedrigkeit der Begriff ‚tapeinós‘. Er bedeutet ‚gering‘, ‚unbedeutend‘, ‚schwach‘, beschreibt mithin die Haltung der sozial deklassierten, gering geschätzten Leute. Gott hat sich in die Niedrigkeit ihres Daseins hineinbegeben; er hat sich solidarisch mit ihnen der Wirklichkeit ihres alltäglichen Lebens ausgesetzt: der Ohnmacht, dem Verachtetwerden, dem Leiden, der Unvollkommenheit.“ 9 Gott verleiblicht sich in einem einzelnen Menschen. Damit erhalten auch der Leib des Menschen und der leibliche Vollzug der menschlichen Existenz eine herausragende Würde. Der Leib einer konkreten Person der Geschichte wird zum herausragenden Ort der Gegenwart Gottes und damit zum eigentlichen „Tempel“ Gottes. Jesus predigt und heilt mittels des Leibes, durch leibliche Anwesenheit. Von hier führt ein direkter Weg zu der bekannten Gerichtsrede im Matthäusevangelium (Mt 25,31–46). Der matthäische Jesus identifiziert sich mit den Hungernden und Obdachlosen, den „Heruntergekommenen“ und Leidenden, den Eingekerkerten und Diskriminierten. Einige Exegeten vertreten die Ansicht, dass die Rede in ihrer Grundgestalt auf eine judenchristliche Tradition zurückgeht, in der nicht der „Men-

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schensohn“ (= der zum Endgericht wiedergekommene Jesus), sondern Gott selbst als Richter verkündet wurde, der sich mit den Geringsten gleichsetzt. „Gott im Bruder“ sei die Botschaft dieses Textes gewesen.10 Und noch ein weiterer Aspekt: Gott wird „Mensch“. Er wird nicht explizit und ausschließlich „Mann“. (Nicht nur) feministische Theologinnen insistieren darauf, Frauen in die Lehre von der Menschwerdung Gottes einzubeziehen, indem sie das Menschsein Jesu und das gemeinsame Menschsein von Männern und Frauen betonen. Das hat – leider – seinen guten Grund: Die Lehre von der Inkarnation Gottes in Jesus Christus wurde von der Kirche jahrhundertelang dazu missbraucht, um die männliche Herrschaft in Kirche und Gesellschaft religiös zu rechtfertigen und zu untermauern. In der katholischen Kirche werden noch immer Frauen von der Christus-Repräsentation, vom priesterlichen Dienst ausgeschlossen mit der Begründung, sie könnten nicht Abbild Christi sein, denn Christus war ein Mann. 11 Der Gedanke von einem Gott, der Mensch wird, wirft ein neues Licht auf das gesamte Gottesbild. Wenn es einen Gott gibt, dann muss er so sein wie dieser Mensch Jesus von Nazaret – annehmend, vergebend, liebend und bis zur völligen Selbstverleugnung sich für andere hingebend. Die Rede von der Menschwerdung Gottes schafft aber auch ein neues Verständnis vom Menschen. Denn er verleiht der menschlichen Existenz eine besondere Bedeutung und Würde. „Die Menschwerdung ist ein Bild. Gott will im Menschen wohnen von Geburt bis zum Grab, vom ersten Schrei bis zum letzten Atemzug, in Glück und Leid, in Erfolg und Scheitern. Der Mensch hat unendlichen Wert wenn Gott bereit ist, Wohnung in ihm zu nehmen. Wenn die Theologen der Alten Kirche jede scheinbare Menschwerdung ablehnten, kämpften sie für ihre Menschwerdung, dafür, dass Gott ihr Leben wirklich und nicht nur zum Schein durchdringt.“ 12 Die einmalige und exklusive „Fleisch-“ und Menschwerdung Gottes in dem Mann aus Nazaret wirft heute in der Zeit der Globalisierung und des interreligiösen Dialogs noch andere Fragen auf.  So berichtet der Missionswissenschaftler Walbert Bühlmann von einem Hindu, der als Arzt in einem katholischen Missionskrankenhaus in Indien arbeitet und der seine Auffassung über die Menschwerdung Gottes in Jesus so umschreibt: „Meine persönliche Philosophie ist gegründet in der Universalität aller Religionen. Ich glaube, dass Christus, Krischna, Zoroaster, Buddha, Mohammed ein und dieselbe

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Person waren, die in verschiedenen Zeiten Fleisch angenommen und die ein und dieselbe Botschaft verkündet haben mit den Unterschieden, die von den verschiedenen Kulturen und Zeiten abhingen.“ 13  Der indische Jesuit Sebastian Painadath sieht es so: „Christus ist eine universale Gestalt, eine universale Kraft des Göttlichen. Wir müssen in der Zukunft lernen, Christus aus dem engen Kirchendenken zu befreien. Gott offenbart sich in verschiedenen Formen, in verschiedenen Sprachen. Der eine Gott öffnet sich in verschiedenen Stufen, und in einer entscheidenden Stufe in Gottes Offenbarung ist Jesus Christus gekommen. Als Christ begegne ich Gott durch die historische Person Jesus von Nazaret, aber der Gott, der sich durch Jesus Christus geoffenbart hat, das ist der Gott, der mich auch durch die hinduistischen Schriften anspricht.“ 14 Solche Gedanken mögen überraschen. Sie scheinen dem christlichen Dogma von der Menschwerdung Gottes in dem einen Menschen Jesus Christus zu widersprechen. Aber man sollte die Überlegungen nicht voreilig für „nicht rechtgläubig“ erklären, sondern sich erst einmal ernsthaft fragen, ob jener Gott, der nach christlicher Überzeugung das Heil aller will, tatsächlich nur diesen einen einzigen Jesus von Nazaret als authentischen und autorisierten Künder der Heilsbotschaft berufen hat – für alle Menschen zu allen Zeiten. Der britische Theologe John Hick denkt ähnlich: „Jesus war ‚totus deus‘, ‚ganz Gott‘ in dem Sinne, dass seine Liebe genuin die auf Erden wirksame Liebe Gottes war, aber er war nicht ‚totum dei‘, das Ganze Gottes in dem Sinne, dass die göttliche Liebe ausgeteilt worden wäre ohne Rückhalt in jeder oder gar in der Summe seiner Taten.“ 15 c)

„Empfangen vom Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau“?

Im Matthäus- und im Lukasevangelium ist davon die Rede, dass Jesus von einer „Jungfrau“ geboren sei (Lk 1,27 und Mt 1,23). Ein Blick in das Neue Testament zeigt jedoch, dass das älteste Evangelium (nach Markus) von einer Jungfrauengeburt nichts zu erzählen weiß. Johannes, der jüngste Evangelist, kennt Jesus nur als den Sohn Josephs (1,45; 6,42). In den ältesten Schriften des Neuen Testaments, in den Paulusbriefen, steht ebenfalls nichts von einer Jungfrauengeburt. Im Römerbrief zitiert Paulus einen alten urchristlichen Hymnus: „… dem Fleische nach geboren als Nachkomme Davids, dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt als Sohn Gottes in Macht“ (Röm 1,3 f.), und im Galaterbrief spricht er davon, dass, „als die Zeit erfüllt war“, Gott seinen Sohn sandte, „geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt“ (Gal 4,4). Über eine Jungfrauengeburt reflektiert er nicht. Nur im Matthäus- und Lukasevangelium ist von der Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria die Rede (Lk 1,27 und Mt 1,23). Immerhin bezeichnen Matthäus und Lukas an anderer Stelle Jesus als „den Sohn des Zimmermanns“ (Mt 13,55) bzw. als „einen Sohn Josephs“ (Lk 4,22). In der katholischen Tradition werden bis in die Gegenwart hinein aus dogmatischen Gründen die Brüder und Schwestern Jesu als seine Vettern und Basen ausgegeben u. a. mit der Begründung, die hebräische und aramäische Sprache habe kein eigenes Wort für Vettern und Basen. Die Evangelien sind aber ursprünglich weder in hebräischer noch in aramäischer, sondern in griechischer Sprache abgefasst. Und da gibt es

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Was wir über Jesus wissen

sehr wohl ein eigenes Wort für Vetter und Base (anepsiós bzw. anepsiá). Außerdem kennt der Kirchenschriftsteller Eusebius († 339) neben dem Herrenbruder Jakobus auch Judas als „leiblichen Bruder unseres Erlösers“ und Symeon, den Sohn des Klopas, „eines Onkels des Herrn“, also einen „Vetter des Herrn“. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache zu beachten, dass nach hellenistischer und römischer Mythologie die Könige und die Großen der Geschichte immer von einer „Jungfrau“ geboren werden. Von Sargon, dem König von Babylon, wird das ebenso erzählt wie vom Kaiser Augustus. In der altägyptischen Königs-Ideologie gilt der König als „Sohn der Götter“, weil ein „göttlicher Geist sich einer Frau nähert und ein paar Keime des Werdens in sie hineinlegt“ (Plutarch, vit. par., Numa 4). Im Text „Segnungen des Gottes Ptach für Ramses II.“ heißt es: „Ich (= Ptach) bin dein Vater, ich erzeugte dich, so dass dein ganzer Körper göttlicher Natur ist. Denn ich verwandelte meine Gestalt in die des Bockes von Mendes und wohnte deiner Mutter bei.“ 16 Matthäus und Lukas wollen mit der „Jungfrauengeburt“ eine theologische und christologische Aussage machen. Sie wollen mit Hilfe alttestamentlicher Texte und gängiger antiker Bild- und Symbolsprache verkünden, wer Jesus für sie ist, warum sie an ihn glauben und welche Bedeutung er auch für andere haben könnte. Wenn nicht nur Juden, sondern auch Ägypter, Griechen und Römer an Jesus, den König und Retter, glauben sollen, muss darum auch er von einer „Jungfrau“ geboren sein. „Jungfrauengeburt“ will besagen: Der Jude Jesus ist der Höhepunkt all der bedeutenden Männer in Israel, die als erflehte und erbetete Kinder dargestellt werden (Simson, Samuel, Johannes der Täufer). In ihm findet die Sehnsucht der Völker nach unlösbarer Verbindung des Göttlichen mit dem Menschlichen ihre Erfüllung. Jesus ist das Geschenk Gottes an die Menschheit. Er ist tatsächlich „Sohn“ Gottes. Denn so etwas konnten Menschen aus sich heraus nicht zustande bringen. Hier musste der Gottesgeist selbst tätig werden. Deshalb „muss“ Maria, die Mutter Jesu, „Jungfrau“ sein. Jungfrau sein bedeutet nämlich: In Erwartung sein, frei für das Leben, offen für das Empfangen. Es gibt nichts im Schoß der Menschheit, nichts in der menschlichen Fruchtbarkeit, das diesen Jesus hätte hervorbringen können.

3. Das öffentliche Wirken a) Die gesellschaftliche und politische Situation in Nazaret

Jesus wuchs in Nazaret auf, einem Ort etwa 30 km südwestlich vom See Gennesaret. Dieses Nazaret war ein völlig unbedeutender Ort, der in keiner alttestamentlichen Schrift Erwähnung findet. Die Bevölkerung mag wohl hauptsächlich aus Handwerkern und Kleinbauern bestanden haben. Eine Stunde von Nazaret entfernt lag Sepphoris, die damalige Provinzhauptstadt von Galiläa, mit ihrem griechischen Theater und dem Gymnasium für sportliche Veranstaltungen. Kurz nach dem Tod Herodes’ des Großen im Jahre 4 vor der Zeitenwende (Jesus könnte damals 2 oder 3 Jahre alt gewesen sein) war es dort zu einem Putschversuch der jüdischen Widerstandsbewegung gegen die Herrschaft der Römer und ihrer jüdischen Vasallen gekommen. Aber der damalige

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römische Statthalter von Syrien, Quintilius Varus, der später im Teutoburger Wald im Kampf gegen die Germanen den Tod fand, war mit 2 Legionen von Antiochien angerückt und hatte Sepphoris in Schutt und Asche gelegt. Erst heute beginnt man, die Stadt mühsam auszugraben. 17 Dass die römischen Legionäre auch das nur 6 km entfernte Nazaret nicht gänzlich ungeschoren ließen, darf man vermuten. Danach herrschte zunächst einmal Ruhe – Friedhofsruhe. Die Allgegenwart der römischen Besatzer sorgte dafür. Auch die Amtstätigkeit des ab 26 nach der Zeitenwende regierenden römischen Präfekten Pontius Pilatus trug dazu bei. „Bestechungen, Gewaltakte, Ausplünderungen, Misshandlungen, Provokationen, unaufhörliche Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, willkürliche brutalste Grausamkeiten“ waren an der Tagesordnung, so berichtet ein Zeitgenosse, der den Prokurator persönlich kannte.18 In einem politisch derart aufgeheizten Klima gediehen Korruption, Opportunismus und Radikalismus. Die einen suchten ihr Heil in einer mehr oder minder offenkundigen Zusammenarbeit mit den Römern und handelten sich damit die Verachtung weiter Kreise der jüdischen Bevölkerung ein. Andere zogen sich in den Untergrund zurück; vor allem Galiläa wird als Schlupfwinkel für Widerstandskämpfer erwähnt. Die Zeloten, die „Eiferer“, und die Sikarier, die „Dolchmänner“, fanden Anhang. Wieder andere zogen sich vom öffentlichen Leben ganz zurück in die Religion oder in allerlei Formen von Aberglauben. Kein Zweifel: Jesus wuchs in einer politisch unruhigen und wirtschaftlich schwierigen Zeit auf. Was er erlebte, muss eine tiefe Abneigung gegen Gewalt und Unterdrückung, gegen hemmungslose Machtausübung und Missachtung der Menschenwürde in ihm wachgerufen haben. Gleichzeitig mag auch sein Mitleid mit den Ärmsten der Armen, mit den Ausgebeuteten, den Tagelöhnern, den Kranken und mit den (Krieger-)Witwen und Waisen gewachsen sein. Jesus war voll und ganz ein Mensch seiner Zeit und seines jüdisch-palästinischen Milieus, dessen Hoffnungen und Ängste er teilte. Er brachte „von seiner jüdischen Herkunft her ein reiches geistliches Erbe aus den religiösen Überlieferungen seines Volkes in die christliche Völkerwelt ein.“ 19 Jesus war ein Mensch, der sich Sorgen machte um sein Volk, um die Zukunft, um das Heil, um Gott und sein kommendes Reich. Denn als Jude hatte Jesus einen geschichtlich handelnden Gott vor Augen. Und im geschichtlichen Handeln, in der Hinwendung an seine Umwelt, an die heilsbedürftigen Menschen seiner Zeit macht darum auch Jesus Gott erfahrbar. Wir wissen nicht, was ihn bewog, seinen Beruf als Bauhandwerker aufzugeben und sich einem Leben als Wanderprediger zu widmen. Vielleicht war es eine innere Stimme, die ihn dazu antrieb. Vielleicht die Suche nach dem unausgeschöpften „Mehr“ im Leben. Vielleicht eine unstillbare Sehnsucht nach dem letzten und tiefsten Geheimnis seines Lebens, nach dem Gott der Väter, nach dem mitgehenden und sich immer wieder in neuen und anderen Situationen offenbarenden „Ich-bin-da“. Offensichtlich erwartete er von Johannes eine Antwort auf Fragen, die ihn bewegten. b) Taufe durch Johannes

Die Taufe Jesu, die von allen 4 Evangelisten berichtet wird, ist ein sicheres historisches Faktum. Denn welches Interesse sollte die christliche Gemeinde gehabt haben, eine

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Taufe Jesu durch Johannes zu erfinden, wenn diese Taufe „zur Vergebung der Sünden“ geschieht (vgl. Mk 1,4)? Damit musste Jesus, der nach 2 Kor 5,21 als „ohne Sünde“ vorgestellt wird, in ein schiefes Licht geraten. Anders stellt sich die Frage nach der Historizität der Details. Die Evangelien geben hier kein einheitliches Bild. Markus schildert die Taufe so: „In jenen Tagen kam Jesus aus Nazaret in Galiläa und ließ sich von Johannes im Jordan taufen. Und als er aus dem Wasser stieg, sah er, dass der Himmel sich öffnete und der Geist wie eine Taube auf ihn herabkam. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden“ (Mk 1,9–11). Die meisten Exegeten sehen in diesem Text ein kleines Kompendium urkirchlicher Christologie. Es erzählt, wie der Gottesgeist aus dem Himmel auf Jesus herabkam, wie Jesus von Gott als „geliebter Sohn“ proklamiert und danach vom Geist in die Wüste getrieben wurde. Dort verbrachte er die heilige Zeit von 40 Tagen mit den „Tieren“, und „die Engel“ bedienten ihn. Der Täufer Johannes wird gern mit der jüdischen Siedlung Khirbet Qumran am Nordwestufer des Toten Meeres in Verbindung gebracht. Dort hat man mehrere Einrichtungen für Tauchbäder gefunden. Auch meint man, Aussagen der Qumrantexte würden Anklänge zeigen an das, was in den Evangelien über Jesus zu lesen ist, und außerdem sei die Taufstelle am Jordan von Qumran nicht allzu weit entfernt. Die Forschungen haben allerdings ergeben, dass eine Zulassung zu den Tauchbädern erst nach mindestens einjährigem Tora-Studium und einer anschließenden Prüfung erfolgte, dass diese Tauchbäder – wie im ganzen Judentum bis heute üblich – jeder für sich und an sich selbst durchführte und dass schließlich Johannes nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums nicht am Westufer des Jordan (an dem Qumran liegt), sondern am Ostufer taufte (Joh 1,28). 20 Vielleicht war die Taufe durch Johannes die erste prophetische Symbolhandlung, mit der Jesus sein öffentliches Wirken begann. Er unterstrich damit, dass der Täufer Recht hat, wenn er von ganz Israel Umkehr und Hinwendung zu Gott verlangt. Niemand darf sich davon ausnehmen. Solidarisches Handeln ist gefordert. Freilich: Jesus riskiert damit, in den Augen jener, die Augenzeugen seiner Taufe werden, als Sünder und der Umkehr Bedürftiger zu erscheinen. Offenbar erlaubte aber der Ernst der Situation es nicht, persönliche Bedenken und Rücksichtnahmen in den Vordergrund zu stellen. „Wie eine Taube“ schwebt der Geist Gottes auf Jesus herab (Mk 1,10 parr.). Die Taube als Symbol des Geistes Gottes ist im Alten Testament nicht bekannt, wohl aber als Metapher für Schönheit, Reinheit, Liebe und als Bild für Liebende (vgl. Hld 4,1; 6,9). Im vorderorientalischen Raum galt die Taube als Lieblingsvogel und als Bote der jeweiligen Mutter-, Fruchtbarkeits- und Liebesgöttin. Offenbar lassen die Evangelisten in die Erzählung von der Taufe Jesu das Symbol der Taube einfließen, um damit ein Liebesverhältnis anzudeuten, das zwischen Jesus und Gott, seinem Vater, besteht und das auch verbal in Worten aus dem Alten Testament zum Ausdruck gebracht wird. (Ps 2,7: „Er sprach zu mir: Mein Sohn bist du. Heute habe ich dich gezeugt“; Jes 42,1: „Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze; das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen“). 21 Vielleicht klingt auch das von der (jahwistischen) Noach-Geschichte her bekannte Bild der Taube mit dem Ölzweig im Schnabel an, die davon Kunde gibt, dass

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die Erde wieder bewohnbar (Gen 8,8.11.12) und der Fluch von ihr genommen ist (Gen 8,22). So kann Jesus sein öffentliches Wirken beginnen, „erfüllt von der Kraft des Geistes“ (Lk 4,14). c)

Die Botschaft

Das Programm Markus fasst am Anfang seines Evangeliums programmatisch die wesentlichen Punkte der Predigt Jesu zusammen: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15). „Kehrt um!“ Das von Markus verwendete griechische Wort lautet: „Metanoeíte!“ – Denkt um, ändert euren Sinn, schlagt eine andere Denkrichtung ein, erwerbt euch ein neues Bewusstsein. Das hatten auch vor Jesus schon die Propheten immer wieder angemahnt. Das im Alten Testament verwendete hebr. Wort „schub“ heißt nicht nur Um-Denken, sondern regelrecht Um –kehren, eine Kehrtwende machen, eine andere Richtung einschlagen. Der Mensch soll nicht nur eine intellektuelle und geistige Kehrtwende vollziehen, sondern in seinem ganzen Menschsein sich wandeln, in seinem Denken und Fühlen, in seinem Reden und Tun. Die griechische Präposition „metá“ kann aber auch heißen: danach, dahinter, hinter. Es ist daher möglich, „metanoeíte“ auch mit „dahinterdenken“, „hinterfragen“ zu übersetzen. Dann wäre mit „metanoeíte“ gemeint: Gebt euch nicht mit dem Vordergründigen zufrieden! Hinterfragt das angeblich Selbstverständliche! Schaut hinter die Dinge! Diese Aufforderung zum Umdenken oder zum „Hinterfragen“ zieht sich wie ein roter Faden durch die Verkündigungstätigkeit Jesu. Die Begründung dafür liefert er im folgenden Satz: „Das Reich Gottes ist nahe“ Das Motiv befindet sich bereits in der jüdischen Apokalyptik: „Zur Zeit jener Könige (die am Ende eines längeren Zeitraumes auf Nebukadnezzar folgen werden, N. S.) wird der Gott des Himmels sein Reich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht; dieses Reich wird er keinem anderen Volk überlassen. Er wird alle jene Reiche zermalmen und endgültig vernichten; es selbst aber wird in alle Ewigkeit bestehen“ (Dan 2,44). Die Herrschaft über dieses Reich wird dem „Menschensohn“ übertragen werden (Dan 7,14). Die überkommene Vorstellung vom „Reich Gottes“ besitzt also einen stark politisch und apokalyptisch gefärbten Charakter. In der Zeit Jesu verband man damit vor allem die Hoffnung auf Befreiung von der römischen Besatzungsherrschaft und die Wiedererrichtung der davidischen Dynastie (vgl. PsSal 17; Mt 17,20; 20,21; Lk 19,11; Apg 1,6). Die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu setzt andere Akzente. Zunächst verknüpft Jesus den Anbruch des Gottesreiches mit seiner Person und seinem Handeln (Lk 11,20). Darum fordert er konsequente Nachfolge (Mk 10,17–23) und ein neues Verhalten – Bereitschaft zur Vergebung (Mt 18,21–35), zur selbstlosen Hilfe für die in Not

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Geratenen (Mt 25,31–46; Lk 10,25–37), ja sogar Feindesliebe (Lk 6,27; Mt 5,43–47). Das Reich Gottes ist nicht Menschenwerk, sondern Geschenk Gottes (Mt 11,4; Lk 7,18–23; Mk 4,1–9.26–29), dem man sich aber tatkräftig zuwenden muss (Mt 18,21– 35; 25,31–46; Lk 6,27; 10,25–37). Im Alten Testament ist es angekündigt (Jes 61,1; 58,6; Lev 25,10). Der Anbruch des Gottesreiches bewirkt Heil (Lk 4,18 f.; Mt 4,23). Predigt vom Reich Gottes und Heilung gehören zusammen (Mt 4,23; 9,35; Lk 10,9). Als „Reich-Gottes-Gebet“ kann das Vaterunser verstanden werden (Mt 6,9–13; Lk 11,2–4). Eigenartig ist die Spannung zwischen dem „schon jetzt“ und dem „noch nicht“ dieses Reiches:  Es ist schon gekommen und mitten unter den Menschen (Lk 11,20; 17,21)  gleichzeitig steht es aber in seiner Vollendung noch aus: „Dein Reich komme“ (Lk 11,2; Mt 6,10).  Es ist diesseitig und besteht in realen gesellschaftlichen Veränderungen (vgl. Lk 7,36–50; 19,8. 22, 25 f.; Mk 1,40), in der Behebung auch des physischen Leidens (Krankenheilungen) und des Hungers (Mt 14,13–21).  Und es ist jenseitig (Mk 9,1; 14,25). Was Reich Gottes in der Botschaft Jesu meint, lässt sich nur umschreiben. Es bedeutet:  „die Nähe Gottes selbst, und zwar eine den Menschen annehmende, vergebende und damit aufrichtende Nähe;  Heilung und Befreiung des Menschen von allem, was ihn quält und was ihn hindert, Mensch zu sein: von Krankheiten, von verunmenschlichenden Mächten, von Mutlosigkeit, von der Unfähigkeit zur Kommunikation (Taubheit, Stummheit, Blindheit) und von der quälenden Sorge um das Morgen;  ein neues Verhalten der Menschen zueinander: Ende allen ungerechten Umgangs mit anderen, Geschwisterlichkeit statt Herrschaft, Zusammenführung bislang Verfeindeter, Friede, der aus Versöhnung erwächst, kurz: Liebe als der Weg, auf dem die Verwandlung der Welt geschieht;  Fülle des Lebens; Brot und Wein in Überfluss und für alle;  Befreiung von der Herrschaft des Todes. Ein klassisches Symbol für das Reich Gottes, von Jesus oft praktiziert und in seinen Gleichnissen als Bild für das Reich Gottes verwendet, ist das Festmahl, ein für seine Zeitgenossen leicht verständliches Bild: Reich Gottes bedeutet Freude, Gemeinschaft, Teilen, Sattwerden, Verbundenheit mit Gott.“ 22 Der Umgang mit den Menschen Jesus sympathisiert mit Zöllnern und Sündern, mit Dirnen und Ausgestoßenen, mit Armen und Habenichtsen, weil sie ganz einfach Menschen sind, „Söhne und Töchter Abrahams“ (Lk 19,9). Sie haben zuerst ein Recht auf Zuwendung. Sie sind die „verlorenen Schafe des Hauses Israel“ (Mt 15,24), ihnen geht er nach und lässt die vielen braven Lämmer in ihrem wohlbehüteten Pferch zurück (Lk 15,1–7). Er sprengt damit festgefahrene Strukturen und Verhaltensschemata. Freilich kümmert er sich auch um die „Wohlanständigen“ (Joh 3), um die Etablierten (Lk 7,36–50) und um die Reichen (Lk 19,2). Er geht ins Gericht mit jenen, die um einer zur Schau getragenen Frömmigkeit willen die Unterhaltspflicht für die Eltern vernachlässigen (Mk 7,9–13). Er macht

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sich kultisch unrein und riskiert darüber hinaus noch eine Ansteckung, weil er einen Aussätzigen berührt, der wie alle seine Leidensgenossen von der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen ist (Mk 1, 41). Er deckt die Heuchelei und das falsche Bewusstsein jener Buchhalter und Verwalter der Religion auf, die es zu allen Zeiten gibt und die das „Reich der Himmel vor den Menschen verschließen“ (Mt 23,13). Er zerbricht das uralte Freund-Feind-Schema, weil er im Mitmenschen, auch im Oppositionellen, nicht den Gegner und Rivalen sieht, sondern den möglichen Partner und Mitarbeiter, den Hausgenossen im Reiche Gottes (Mt 5,43–48). Besonders auffällig mag für seine Zeitgenossen seine Liebe zu denen gewesen sein, die als Sünder abgestempelt waren. Jesus weiß: „Niemand ist gut außer Gott allein“ (Mk 10,18). Und darum räumt er niemandem das Recht ein, sich über andere zu erheben und sich selbst für besser einzustufen. Nicht mehr das Festgenageltsein auf eine manchmal problematische und vielleicht auch schuldbeladene Vergangenheit bestimmt das Verhältnis zum Mitmenschen, sondern die Hoffnung auf die Zukunft, auf den neuen Anfang. Jeder soll zuerst den Balken im eigenen Auge herausziehen, bevor er sich über den Splitter im Auge des anderen aufregt (Mt 7,3). Versöhnung ist angezeigt, nicht nur „siebenmal“, sondern „siebzigmal siebenmal“ – ohne Einschränkung, ohne Begrenzung (Mt 18,21). Denn Gott ist ein Gott der Barmherzigkeit. Jesus erfüllt mit seinem Handeln den Traum und die Hoffnung vieler Menschen, die sich in ihrem Leben verrannt haben, die in einer Sackgasse gelandet sind, die nicht mehr aus noch ein wissen. Er zeigt ihnen, dass es für einen Neu-Anfang nie zu spät ist. Er macht ihnen Mut zur Umkehr. Er lehrt sie, vorwärts zu schauen – in die Zukunft. Er hilft ihnen beim Aufstehen, wenn sie gestrauchelt sind. Er weist ihnen den Weg, wenn sie sich verirrt haben. Nicht das Alte, das Gewesene gilt mehr, sondern die „neue Lehre voll Macht“ (Mk 1,27). Diese gelebte Versöhnung ist Zeichen für die Vergebung der Sünden durch Gott selbst. An zwei Stellen in den Evangelien ist davon die Rede, dass Jesus ausdrücklich zu Menschen sagt: „Deine Sünden sind dir vergeben“ (Mk 2,9 parr.; Lk 7,48). Nicht wenige Exegeten stellen heute allerdings in Frage, ob Jesus wirklich so gesprochen hat. Denn die urkirchliche Verkündigung bringt die Vergebung der Sünden erst mit dem Tod Jesu in Verbindung. So sagt Paulus: „(Jesus) ist gestorben für unsere Sünden“ (1 Kor 15,3; Gal 1,4). Doch „ob Jesus selbst Sündenvergebung ausdrücklich zugesprochen hat oder nicht, ist weit weniger wichtig, als dass er in seinem Handeln tatsächlich Sündenvergebung gebracht hat.“ 23 Durch die menschlich-offene Art, wie Jesus, der vom Vater gesandte „Sohn“, mit schuldig Gewordenen und als Sünder Abgestempelten umging, vollzog sich für alle sichtbar Vergebung. Weil das Handeln Jesu für die Augenund Ohrenzeugen so „ganz anders“ und souverän erschien, konnten sie darin die „theologische Verdichtung der in Jesu Gegenwart erfahrenen Nähe und Zuwendung Gottes sehen“ 24. Wiederholt erzählen die Evangelien davon, dass Jesus mit Menschen Mahl gehalten hat oder dass er von anderen dazu eingeladen wurde. Er praktiziert damit eine gute Gewohnheit der Orientalen. Den jüdischen Tischgenossen Jesu war der Gleichnis- und Symbolcharakter solchen Mahlhaltens durchaus bewusst. Gemeinsames Essen und Trinken ist Ausdruck für Gemeinschaft. Und Jesus hat das wohl auch gelegentlich

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eigens zum Ausdruck gebracht. Jedenfalls überliefert der Evangelist Lukas die Bemerkung eines Gastes, der zusammen mit Jesus zu einem Festessen bei einem führenden Pharisäer eingeladen war: „Selig, wer im Reich Gottes am Mahl teilnehmen darf“ (Lk 14,15). Doch Jesus feiert nicht nur mit jenen, die sich schon jetzt ihres Platzes beim himmlischen Mahl sicher wähnen. Er lädt alle zur Teilnahme ein, Zöllner und Sünder, Neugierige und Suchende, Satte und Hungrige, Reiche und Arme, Freunde und Feinde. Diese offene Tischgemeinschaft ist kein zufälliges, durch die Situation bedingtes Handeln. Sie ist auch kein aus caritativ-humanen Überlegungen und Impulsen gespeistes Unternehmen. Sie gehört vielmehr zum festen Programm der Verkündigung Jesu. Sie ist demonstratives Zeichen für die Nähe der alle Menschen umfassenden und alle angehenden Gottesherrschaft. Sie ist Signal dafür, dass Gottes Heilswille sich den Ausgestoßenen und Verachteten ebenso zuwendet wie den Getreuen und Frommen. Sie ist ein erstes Aufleuchten des anbrechenden Gottesreiches: „Viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tische sitzen“ (Mt 8,11). So mag Jesus noch im Angesicht des Todes seine engsten Vertrauten zu einem letzten Abschiedsmahl versammelt haben. Die Evangelien berichten davon, dass Jesus in dem Geschick des Brotes und Weines, im Zerrissen- und Verschüttet-, im Gekautund Getrunkenwerden sein eigenes Schicksal symbolisch abgebildet sah: „Das ist mein Leib – dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut“ (1 Kor 11,23–26; Mk 14,22–25 parr). Vielleicht darf man annehmen, dass Jesus mit dem „neuen Bund“ die Verheißung des Propheten Jeremia vor Augen hatte. „In jenen Tagen werde ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen“ (Jer 31,31). Dann wollte er damit sagen: Er, der gegenüber dem äußerlich-formalen Gesetzesgehorsam immer den lebendigen, ursprünglichen Gotteswillen dargelegt und kämpfend vertreten hatte, sieht nun jenen Bund nahe, den Jahwe „ins Herz schreiben“ will (Jer 31,33). Wer aus diesem Becher trinkt, wird gezeichnet sein als einer, der dabei sein wird, wenn der Neue Bund in Kraft tritt. Er wird teilhaben am Mahl, das ein Bild des Heils bei Gott ist. Der engste Freundeskreis Als charismatischer Wanderprediger ohne berufliche oder familiäre Verpflichtungen führt Jesus ein wohnsitzloses Leben, das nur vor dem Hintergrund der hochgespannten eschatologischen Naherwartung seiner Zeit verständlich erscheint. Eine größere Gruppe von Frauen und Männern schließt sich ihm an. Diese Menschen begleiten ihn auf seinen Wanderungen „von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf“ (Lk 8,1). Sie werden Zeugen seiner Machttaten. Ihnen vertraut er das „Geheimnis des Reiches Gottes“ an (Mk 4,11 parr.). Dass Frauen zu den ständigen Begleiterinnen Jesu gehörten, bezeugt der Evangelist Lukas; er nennt sogar Namen (Lk 8,1–3). Es sind Angehörige aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten: „Maria Magdalena, aus der sieben Dämonen ausgefahren waren, Johanna, die Frau des Chuzas, eines Beamten des Herodes, Susanna und viele andere“ (Lk 8,2 f.). Diese Frauen „haben von Anfang an entscheidend dazu beigetragen, dass das Christentum sich nicht als eine reine ‚Männerreligion‘ etablierte.“ 25

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Daneben gab es die ortsansässigen „Sympathisantinnen“, bei denen Jesus gelegentlich zu Gast war (Mt 8,14; Lk 10,38–42). Unter den von Jesus Geheilten gibt es zahlreiche Frauen (Mk 1,29–31; 5,22–24.35–43; 5,25–42; 7,24–30; Lk 13,10–17). Und schließlich mögen vielleicht auch einige Ehefrauen seiner männlichen Begleiter dazu gehört haben. Für beide Geschlechter gilt der gleiche Maßstab. 26 Das einzig Entscheidende ist der Glaube. Auffällig ist, dass in den überlieferten Jesusworten häufig den Themen mit „männerspezifischen“ Inhalten solche mit „frauenspezifischem“ Inhalt gegenüber gestellt werden. Man könnte das als „geschlechtssymmetrische Paarbildungen“ bezeichnen (vgl. Lk 15,3–7.8–10; Mt 6,25–28 [„säen, ernten“ – „spinnen“]). 27 In den Evangelien werden die Frauen und Männer, die Jesus – zunächst im ganz wörtlichen Sinn – nachfolgten, als „Jünger“ bezeichnet. Richtiger müsste man von „Jüngerinnen“ und „Jüngern“ sprechen. Lukas weiß von 70 bzw. 72 solcher „Jüngerinnen“ und „Jünger“ zu berichten (Lk 10,1.17 28), eine Zahl die wohl eher symbolisch zu verstehen ist im Hinblick auf die von Mose erwählten 70 Ältesten des Volkes Israel (Num 11,16). Wer sich Jesus anschließen und ihm nachfolgen will, muss es sich gut überlegen. Nach Lukas stellt Jesus harte, geradezu unmenschlich klingende Forderungen, die in dieser Form allerdings kaum auf Jesus selbst zurück gehen, sondern spätere Gemeindebildungen sind (z. B. „Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein“ (Lk 14,26 f.). Gerd Theißen bezeichnet diese Lebensweise als „Wanderradikalismus“. Glaubwürdig konnte dieses Ethos nur von Außenseitern der Gesellschaft gelebt und weitergegeben werden, darum hätten sich auch viele Außenseiter der Jesusbewegung angeschlossen. 29 Aufgabe der Jüngerinnen und Jünger ist es, den Anbruch der Gottesreiches in Wort und Tat zu verkünden. Dazu werden sie von Jesus als Vorboten „in alle Städte und Ortschaften“ gesandt, „in die er selbst gehen wollte“ (Lk 10,1). Und auch hierbei ist Jesus mit seinen Anforderungen nicht zimperlich. Sie sollen keinen Geldbeutel, keine Vorratstasche und nicht einmal Schuhe mitnehmen. Es geht so radikal um Gott und seine Heilsbotschaft, dass jede menschliche Ausrüstung eher hinderlich als förderlich wäre und die Eindeutigkeit des Unternehmens nur gefährden könnte (vgl. Mk 6,7–13). Jesus sendet sie „wie Schafe mitten unter die Wölfe“ (Lk 10,3), denn nach seiner Vorstellung bricht jetzt die vom Propheten Jesaja erwartete Heilszeit an, in der der „Wolf beim Lamm wohnt, der Panther beim Böcklein liegt, Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten“ (Jes 11,6). Die Jüngerinnen und Jünger sollen nicht allein auftreten, sondern zu zweit – als Zeugen der Sache Gottes; denn „erst auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen darf eine Sache Recht bekommen“ (Dtn 19,15). Der Auftrag, den Jesus den Jüngerinnen und Jüngern gibt, ist eindeutig: „Heilt die Kranken und sagt den Leuten: Das Reich Gottes ist euch nahe“ (Lk 10,9). Zuerst geht es um das unmittelbare, existentielle Wohl und Heil der Menschen. Nur physisch und psychisch Gesunde sind wirklich aufnahmefähig für eine Verkündigung, die auf ihr seelisch-geistiges Heil abzielt. In der Heilung geschieht der Anbruch des Gottesreiches. Jüngerin oder Jünger Jesu zu sein bedeutet: „Indienstnahme für seine Sache, die Ver-

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kündigung der nahen Gottesherrschaft, Mitarbeit an dem, was Jesus als seine Aufgabe ansieht, Proklamation des Kommens Gottes in Güte und Vergebung, Aufruf zur Umkehr, Demonstration der geschehenden Ankunft Gottes in Worten und Taten.“ 30 Aus den Jüngern wählt Jesus zwölf aus. Sie sollen die Gründungsväter und die endzeitlichen Repräsentanten des neuen Zwölf-Stämme-Volkes Israel sein: „Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten“ (Mt 19,28). Die Zwölf sind zwar von Jesus erwählt (Lk 6,13–16), doch geht ihre Auswahl letztlich auf den Willen des Vaters zurück, von dem auch Jesus selbst sich gesandt weiß: „Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat“ (Mt 10,40). Ihre Aufgabe ist es, zu predigen und im Namen Jesu die Dämonen auszutreiben (Mk 3,14 f.). Ein Führungsprivileg kommt ihnen nicht zu. Im Gegenteil! Jesus lehnt alles Herrschen von Menschen über Menschen strikt ab: „Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Alte sein will, soll der Sklave aller sein“ (Mk 10,42 f.). Von einer „Hierarchie“, einer geistlichen Herrschaft, als Stiftung Jesu kann keine Rede sein. 31 Auch spezielle kultische Aufgaben kommen den Zwölfen nicht zu. Jesus selbst nahm dem Kult gegenüber eine eher distanziert-kritische Haltung ein: Gehorsam gegenüber Gott und seinem Wort ist mehr wert als alle Opfer (Mk 12,32–34); Versöhnung mit dem Bruder hat Vorrang vor dem Dienst am Altar (Mt 5,23 f.); einen bevorzugten Ort oder eine bestimmte Zeit für das Gebet kennt er nicht (vgl. Mt 6,5 f.). Jesus schafft den Unterschied zwischen Sakral und Profan ab und wendet sich damit gegen das verbreitete Denken der Antike und auch des Judentums. Die neue Beziehung zu Gott, die Jesus begründet, bedeutet das Ende jedes kultischen Opfer- und TempelPriestertums. „Deshalb hat Jesus keinen sakralen Raum mehr nötig; er bewegt sich frei zwischen den Menschen in ihrer eigenen Situation: die Schöpfung selbst ist der Ort des göttlichen Handelns.“ 32 Die „Zwölf“ als direkte Zeugen des Handelns Jesu konnten keine „Nachfolger“ haben. Ihre Funktion war einmalig. Wohl aber gab es sehr bald in nachösterlicher Zeit Menschen („Jüngerinnen“ und „Jünger“), die bereit waren, die Aufgaben missionarischer Verkündigungspraxis, wie sie Jesus den „Zwölf“ gestellt hatte, zu übernehmen. Für die besonders Herausragenden unter ihnen kommt die Bezeichnung „Apostel“ (Gesandte) auf, die im nachhinein auch auf die „Zwölf“ übertragen wird. Unter diesen Aposteln finden sich Männer wie Paulus, Barnabas (1 Kor 9,6) und der Herrenbruder Jakobus (Gal 1,19; 1 Kor 15,7), aber auch (zumindest) eine Frau wie Junia (Röm 16,7). 33 Die Predigt Gleichnisse Die Botschaft Jesu ist nicht in abstrakt-theologischer Redeweise überliefert, sondern anschaulich-konkret. Er bevorzugt für seine Verkündigung die literarische Form der

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Gleichnisse. Sie zu verstehen setzt kein langjähriges Studium voraus. Jedermann kann begreifen, was sie aussagen wollen. Die Themen sind Gott und sein Handeln, der Mensch, sein Verhalten, sein Ziel, das Volk Gottes, Satan, Sünde, Tod und Gericht, Auferstehung und Heil. Immer geht es in ihnen in irgendeiner Weise um das Kommen des Reiches Gottes. Die Gleichnisse haben eine lange Auslegungsgeschichte. Sie beginnt schon nach Ostern, als man anfing, die Reden Jesu zu sammeln und sie auf konkrete Gegebenheiten und Bedürfnisse der jeweiligen Gemeinden zu beziehen. Man nahm sich diese Freiheit zur Veränderung und Anpassung in der Überzeugung, dass der Auferweckte bei seinen Gemeinden ist, dass er in ihrer Mitte lebt (vgl. Mt 18,20) und dass er darum zu ihnen sprechen und ganz konkret auf ihre Bedürfnisse eingehen würde, wenn er leibhaftig unter ihnen sein könnte. Dieser Adaptationsprozess führte dazu, dass in manchen Gleichnissen bestimmte bildhafte Züge im Hinblick auf die Situation einer Gemeinde allegorisch verdeutlicht wurden (vgl. Lk 14,16–24 mit Mt 22,1–14). Andere Gleichnisse, die ursprünglich an die Gegner Jesu gerichtet waren, finden neue Adressaten in den „Jüngern“, d. h. in den Gliedern der jungen Kirche (vgl. Lk 15,3–7 mit Mt 18,1.12–14). Wieder andere erhalten durch die Einordnung in einen bestimmten Kontext des jeweiligen Evangeliums einen je spezifischen, nicht selten anderen „Sitz im Leben“ (vgl. Mk 13 mit Mt 24; Lk 21). Die Gleichnisse und Beispielerzählungen laden Zuhörerinnen und Zuhörer ein, zu Jesu Person und seiner Sendung Stellung zu nehmen. Sie stellen eine Herausforderung dar, Alltag und Umwelt anders sehen zu lernen. Sie erzählen von Gott und seiner Gerechtigkeit, indem sie von Menschen und ihrer Gerechtigkeit (oder auch Ungerechtigkeit) sprechen. Sie öffnen die Augen für die Welt Gottes, indem sie den Blick auf die Umwelt des Menschen richten. Sie verweisen auf die Güte und Barmherzigkeit, auf die Liebe und Treue Gottes, indem sie das Augenmerk auf die Güte und Barmherzigkeit, auf die Liebe und Treue der Menschen lenken. Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf werden in Wechselbeziehung gebracht. Jesus eröffnet den Zugang zu Gott, indem er den Zugang zu Welt und Umwelt erschließt. Bergpredigt Eine besondere Stellung in der Botschaft Jesu nimmt die „Bergpredigt“ im Matthäusbzw. die „Feldrede“ im Lukasevangelium ein (Mt 5–7; Lk 6,20–49). Die Bergpredigt bedeutet seit eh und je eine ungeheure Herausforderung. Und gerade heute sind manche ihrer Forderungen höchst aktuell und viel diskutiert. 34 Ungelöst ist (und wird wohl auch bleiben) die Frage, wie diese Forderungen zu verstehen und zu erfüllen sind. Haben sie nur als „Gesinnungsethik“ zu gelten? Sollen sie den Menschen einen Spiegel vorhalten, um zu zeigen, welch ein schlechtes und unchristliches Leben sie führen? Gelten sie nur für besondere Gruppen von Christen – Mönche oder Nonnen? Jeder Lösungsversuch enthält sicher ein Körnchen Wahrheit. Doch wie jemand sich von der Bergpredigt herausfordern lassen möchte und wieweit er bereit ist, sich ihre Handlungsmaximen zu eigen zu machen, wird er wohl mit seinem Gewissen selbst ausmachen müssen. Jesu Botschaft ist ein Programm neuen, aufbauenden menschlichen Verhaltens in

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der konkreten Welt. Die Forderungen der Bergpredigt gelten darum für alle. Sie sind der Aufruf, dem Reich Gottes schon hier und heute Gestalt zu geben. Sie sind der Appell, sich ernsthaft auf den Weg zu einer wirklich besseren, gerechteren und humaneren Welt zu machen. Dieses Ziel ist wohl nur zu erreichen über eine sittlich möglichst hochstehende Haltung jedes einzelnen Menschen und sein davon motiviertes Handeln. Die schwierige Liebe gegenüber allen Arten von Feinden, die anspruchsvolle Moral einer richtig verstandenen aktiven Gewaltlosigkeit, die Option für die Armen, Entrechteten, Verfolgten und Unterdrückten, der lebenslange Kampf gegen die innere Gespaltenheit, anders zu handeln als zu reden, und die radikale Ernstnahme des Gebotes der Nächstenliebe – das alles sind Themen von höchster und allgemein gültiger Aktualität. Zur Verwirklichung braucht es beides: Geist und Praxis, und zwar gleichermaßen auf der individuellen Ebene wie auf der Ebene des wirtschaftlichen, sozialen, nationalen und internationalen Lebens. Im Folgenden soll der Versuch einer gegenwartsbezogenen Übersetzung der „Seligpreisungen“ (Mt 5,3–12; Lk 6,20b-23) vorgelegt werden:  Glücklich alle, die wissen, dass ihr Leben ganz und gar ein Geschenk Gottes ist, die das Brot der Schmerzen, der Not und der Armut teilen wollen. Ihnen gehört die Zukunft einer geschwisterlichen Welt.  Glücklich alle, die weinen über ihre alte Sicherheit, die Trauer aushalten über Ihren Reichtum und ihren Ehrgeiz, die bereit sind, alles, was sie sind und haben, in den Dienst der anderen zu stellen. In ihrem Leben wird Gottes Gegenwart spürbar. Er gibt ihnen Kraft, Mut und Freude.  Glücklich alle, die sanft leben, die ihre Charakterstärke zum Vergeben einsetzen und nicht zur Rache, die nicht ihr Recht um jeden Preis durchsetzen, die lieber Unrecht leiden als Unrecht anderen anzutun. Ihnen wird der Gott der demütigen und der Gedemütigten nahe sein und wird sie aus ihren Sorgen befreien.  Glücklich alle, die beten und kämpfen für die Gerechtigkeit: Brot für die Hungrigen, Freiheit für die Unterdrückten, Heimat für die Ausländer, Barmherzigkeit für die Gestrauchelten, Gott wird mit ihnen und durch sie den Lebenden Vorrang geben.  Glücklich alle, die Gottes Liebe empfangen haben, die weder urteilen noch verdammen, die verzeihen und jedem die Möglichkeit zu einem neuen Anfang einräumen. Gott wird ihnen sein barmherziges Herz zuwenden.  Glücklich alle, die Gott und ihren Brüdern und Schwestern dienen, die nicht nach Lohn fragen, die keine Frömmigkeit heucheln, die weder Ehre noch Anerkennung suchen: Ihnen wird das Geheimnis des Lebens aufgehen. Sie werden mit reicher Einsicht beschenkt.  Glücklich alle, die Frieden stiften im Kleinen wie im Großen, in ihrer Familie, in ihrer Stadt, in ihrem Dorf, in ihrer Kirche, in der Welt. Sie werden zu den Söhnen und Töchtern des Friedensfürsten gezählt.  Glücklich alle, die man verhöhnt um ihre Treue und ihres Gehorsams willen, verächtlich gemacht wegen ihres aufmerksamen Herzens und ihrer ausgestreckten Hand, die beleidigt werden wegen ihres Einsatzes für Frieden und Gerechtigkeit. Gott wird ihnen Macht geben, glücklich zu sein und aus Freude und Hoffnung zu leben.35

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Einstellung zur Ehe Die Einstellung Jesu zur Ehe war von der mosaischen Tradition bestimmt. Schon der älteste, jahwistische Schöpfungstext (um 900 v. Chr.) lässt den Ehebund in der liebenden Zuwendung Gottes verankert erscheinen: „Dann sprach Gott, der Herr: Es ist nicht gut, dass der Mensch (Adam) allein bleibt. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht“ (Gen 2,18). Der hebräische Urtext lautet genauer: „… eine Hilfe wie sein Gegenüber.“ Darin sind die Aspekte der Gleichartigkeit wie der Ergänzung enthalten. 36 Menschsein ist also auf ein gleichartiges, gleichberechtigtes, gleichwesentliches Gegenüber angelegt. In dieser eigenartigen Zwei-Einheit sieht der jüngere, priesterschriftliche Schöpfungstext (um 450 v. Chr.) eine Abbildhaftigkeit Gottes: „Dann sprach Gott: Lasst uns den Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich; […] Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie“ (Gen 1, 26–28). Der Mensch ist also grundsätzlich partnerschaftlich, auf ein Gegenüber hin angelegt. Er ist von der Bibel „als ein Gemeinschaftswesen, als ein zu zweit Existierender gesehen, und so etwas wie Menschlichkeit kann es dann auch nur bezogen auf den zu zweit existierenden Menschen geben“ 37. Im Alltag des Volkes Israel wurde diese Abbildhaftigkeit allerdings vielfach getrübt. Das Deuteronomium gestattet die Ausstellung einer Scheidungsurkunde, wenn der Mann sich von seiner Frau trennen möchte, weil er an ihr „etwas Anstößiges entdeckt“ hat (Dtn 24,1). Grundsätzlich steht dieses Recht nur dem Mann zu. Und es wird nicht einmal gesagt, was mit dem „Anstößigen“ genau gemeint ist. Unter den Männern der einzelnen Rabbinen-Schulen werden sehr verschiedenartige Gründe genannt, die von einer „schweren sittlichen Verfehlung“ bis zum „Anbrennenlassen einer Speise“ oder zu der Tatsache reichen, dass der Mann eine Frau gefunden hat, die schöner ist. 38 Als Jesus nach seinem Standpunkt zu diesem Verhalten gefragt wird, entlarvt er zunächst die verkehrte Absicht der Fragenden. Sie wollen wissen, ob es (dem Manne) erlaubt sei, seine Frau aus der Ehe zu entlassen (Mk 10,2). Wer nach einer Erlaubnis fragt, will etwas für sich gewinnen, will seinen Aktionsradius ausweiten. Die lapidare Antwort Jesu lautet: „Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“ (Mk 10,9). „Jesu Gegenfrage reißt eine Kluft zwischen verschiedenen menschlichen Haltungen auf“ 39. Die Zwei-Einheit des Menschen ist Gottes Setzung. Sie ist Geschenk des Schöpfers an das Geschöpf. Sie macht den Menschen zum Abbild Gottes. Jesu Antwort bringt die in den Schöpfungstexten ausgesagte Würde und Gleichberechtigung der Frau in Erinnerung. Er gesteht dem Mann keine Privilegien mehr zu. Seine Antwort ist kein juristischer Bescheid, sie hat andere Qualität. Sie hebt die ganze Diskussion auf eine höhere Ebene. „Sie appelliert an den freien Gehorsam des Menschen als des Geschöpfes Gottes: Die Ehe ist auf Bindung und Haftung hin geschaffen, auf Einheit hin; wer sich mit einer ‚Erlaubnis‘ solcher Bindung und Haftung entziehen will, wer die Ehescheidung gesetzlich erlaubt, handelt wider Gottes Willen, handelt unmenschlich“ 40. Weil es Jesus nicht um eine formale Rechtssetzung geht, sondern um „freie Treue“, versteht auch jener die Antwort falsch, der daraus ein gesetzliches Verbot der Ehescheidung ableitet. Denn er begibt sich damit genau auf jene Stufe, die Jesus mit dem Hinweis auf das Gebotene überschritten hat. „Gesetze sind für Jesus keine brauchbaren (unheiligen) Mittel zum Zweck (der Einheit der Ehe), vielmehr heiligen für ihn die

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Mittel (die freie Treue) den Zweck. Die von Jesus gewollte Gemeinschaft sollte nicht durch Gesetze eingeengt, sie sollte im unaufhaltsamen Vormarsch im unermesslichen Raum des Guten sein […] So wie man zwei Menschen nicht zwingen kann, einander zu lieben, und wie es gegen die Würde des Menschen verstößt, ihn zur Ehe mit einem bestimmten Partner zu verpflichten, so widerspräche es auch dem Geist des Evangeliums, moralische oder gar physische Zwangsmittel anzuwenden, um die Erfüllung der Worte Jesu durchzusetzen.“41 d) Hat Jesus Wunder gewirkt?

Missverständnisse Häufig erzählen die Evangelien von Wundern, die im Zusammenhang mit dem Auftreten Jesu geschehen sind. Der Zugang zu diesen Erzählungen wurde und wird erschwert durch ein Verständnis, das in ihnen außergewöhnliche und unerklärliche, die Gesetze der Natur objektiv durchbrechende und darum, wenn überhaupt, nur von Gott allein zu bewirkende Geschehnisse sieht. Für die Menschen der Bibel stellen sich jedoch die Zusammenhänge anders dar. Kennzeichnend für ihren Zugang zum „Wunder“ ist die persönliche, existentielle Betroffenheit angesichts einer unerwarteten Errettung aus Not und Gefahr, aus Hunger und Krankheit. Ein solches Ereignis wird verstanden als Zeichen der Zuwendung und Offenbarung der Macht Gottes. Dabei kann es sich durchaus um ein alltägliches, „gewöhnliches“ Geschehen handeln, das auch auf natürliche Weise zu erklären ist. Allein die Art und Weise des Zustandekommens hier und jetzt macht es zu einem „Zeichen“ göttlicher Heilszuwendung (Mt 16,1–4; Mk 16,17; Joh 2,18), zu etwas „Erstaunlichem“ (Mt 21,15). Um diese Heilszuwendung zu erkennen, bedarf es der Bereitschaft, sich auf Gott einzulassen und für sein Heilshandeln in der Welt zu öffnen. Wo diese Bereitschaft nicht gegeben ist, können keine „Wunder“ geschehen (Mk 6,5; Lk 4,16–30). Doch die „Wunder“ Jesu sind nichts Singuläres. Antike Quellen berichten davon, dass auch andere Männer Ähnliches vollbracht haben (über Frauen ist bis heute nichts bekannt). Da wird von einem „Gottesmann“ Apollonius von Tyana (1. Jh. n. Chr.) berichtet, er habe Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben. Da werden dem römischen Kaiser Vespasian (69–79 n. Chr.) wunderbare Heilungen zugeschrieben. Da erfahren wir, dass im Wallfahrtsort Epidauros, dem Lourdes der Antike, Lahme, Stumme und Blinde gesund wurden. Auch aus dem Judentum in der Zeit Jesu sind Wundertaten bezeugt. Eine gängige literarische Form: antike Wundergeschichten Die Erzählungen über Krankenheilungen und Dämonenbannungen Jesu werden von den Evangelisten in ein damals verbreitetes und gängiges literarisches Formschema gekleidet. Zuerst erfolgt die Darstellung der Art des Leidens, die Ernsthaftigkeit und Dauer der Krankheit und die bisherigen erfolglosen Bemühungen der Ärzte. Als zweiter Punkt kommt die Schilderung des heilenden Eingriffs mit einem Heilungs-Gestus – wie Handauflegen, Handausstrecken, Berühren – und des Heilungs-Worts: Befehl, Beschwörungsformel, fremde, unverständliche Laute. Schließlich folgt die Beschreibung

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der Feststellung des Heilerfolges: Wieder-Gebrauch des kranken Organs, Vorweisen des entfernten Fremdkörpers. Dazu kommt häufig noch ein viertes Element: ein „Chorschluss“, in dem Zeugen „wie im Chor“ die Größe der Machttat und des Wundertäters bestätigen (vgl. Mk 1,27–28; 2,12;4,41 u. ö.). Die weitaus meisten der biblischen Wundergeschichten sind nach diesem Schema strukturiert. Die Frage nach der Historizität Für den heutigen Leser der Wundererzählungen stellt sich besonders eindringlich die Frage nach deren Historizität. Handelt es sich bei den in den Evangelien erzählten Geschehnissen um Tatsachenberichte oder um Legenden? Dass Jesus Wunder gewirkt hat (also, ganz vorsichtig gesagt, Taten vollbracht hat, die den Menschen seiner Zeit als Wunder erschienen sind), lässt sich nicht ernsthaft bestreiten. Zu viele Indizien sprechen dafür. In allen Evangelien ist von ihnen die Rede und in den verschiedensten Traditionen: in der vormarkinischen Überlieferung nicht anders als in der Spruchquelle (Q) und im matthäischen wie im lukanischen Sondergut. Schwerer wiegt, dass in den Evangelien von Wundertaten Jesu nicht nur erzählt, sondern dass auch von Dritten über sie gesprochen wird. Wenn Jesus vorgeworfen wird, in Teufels Namen die Dämonen auszutreiben (Mk 3,20–30), werden ganz offensichtlich „Teufelsaustreibungen“ (Exorzismen) vorausgesetzt. Es wird nicht darüber diskutiert, ob Jesus böse Geister verjagt hat oder nicht, sondern ob er im Auftrag Gottes oder Satans gehandelt hat. Jesu Prophetisches Gerichtswort, das er an die Adresse der unbußfertigen Städte Chorazin und Bethsaida richtet – „Weh dir, Chorazin! Weh dir, Bethsaida! Wenn in Tyros und Sidon die Wunder geschehen wären wie bei dir – die Menschen wären längst in Sack und Asche gegangen!“ (Mt 11,21 par. Lk 10,13) –, wäre wirkungslos verpufft, wenn es nicht Wunder gegeben hätte, die Jesus gewirkt hat. Jesu Wort „Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, ist die Herrschaft Gottes zu euch vorgestoßen!“ (Lk 11,20 par. Mt 12,28), wäre auf pures Unverständnis gestoßen, wenn man sich nicht an Exorzismen Jesu hätte erinnern können. 42 Manche dieser Heilungen oder Exorzismen lassen sich wohl dem „Zauber der Persönlichkeit Jesu“ 43, dem „natürlichen Ausstrahlungsvermögen der Person Jesu zuschreiben, einer Erklärung, die im Lichte der modernen psychosomatischen Medizin immer mehr an Wahrscheinlichkeit gewinnt“ 44. Das wird man aber im Prinzip auch dem Wirken des Asklepios oder des Apollonius oder des Rabbi Chanina ben Dosa zuerkennen müssen. Etwas Einmaliges stellen die Wunder Jesu nicht dar. „Das historisch Erweisbare führt nicht über den Bereich auch anderswo bezeugter psychischsomatischer Heilwirkung hinaus.“ 45 Die Psychopathologie kennt „traumatische Organ-Neurosen“, die sich im Anschluss an eine schwere körperliche oder seelische plötzliche Schockwirkung entwickelt haben und die durch eine starke psychische Erregung ebenso plötzlich wieder verschwinden können. „Der Erfolg (eines Heilungsvorgangs, N. S.) ist umso größer, je stärker die suggestive Kraft des Heilers, je intensiver die durch ihn ausgelöste Hoffnung ist […] Die Realisierung der Erwartung (geheilt zu werden, N. S.) ist umso wahrscheinlicher, je leichter der Prozess, der sich bessern soll, vom Nervensystem her zu beeinflussen ist“ 46.

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Schwierig gestaltet sich allerdings die Antwort auf die Frage nach dem genauen Hergang der Heilungen und nach der Krankheitsdiagnose. Die neutestamentlichen Wundergeschichten liefern keine medizinischen Diagnosen im modernen Wortsinn. Die Krankheiten und die Heilungen stehen im Kontext einer anderen Kultur als der unsrigen. Bei nicht wenigen Krankheiten – wie Fieber (vgl. Mk l,29 ff.), Epilepsie (vgl. Mk 9,14–29), Schizophrenie (vgl. Mk 5,1–20), Menstruationsbeschwerden (vgl. Mk 5,25–34), Muskelatrophie (vgl. Mk3,1–6), Lähmungen (vgl. Mk 2,1–12; Joh 5), Neurodermitis und andere Hautkrankheiten (Mk 1,40–45), Taubheit, Stummheit (Mk 7,31–37), Blindheit (vgl. Mk 8,22–26; 10, 46–52; Joh 9) – können allerdings auch heutige Ärzte von einzelnen Fällen spontaner und charismatischer Heilung berichten, wenn nicht auf Dauer, so doch auf Zeit. Totenerweckungen sind in den Evangelien als gesteigerte Heilungswunder erzählt; Spekulationen, ob ein heutiger Mediziner den Tod hätte feststellen können, sind müßig. Für Jairus war seine Tochter (Mk 5,21–24.35– 42), für die Witwe von Nain ihr Sohn (Lk 7,11–17), für Maria und Marta ihr Bruder Lazarus tot (Joh 11) – und Jesus hat sie ins Leben zurückgerufen. Eine neutestamentliche Wundergeschichte kann durchaus „wirklich Passiertes“ wiedergeben, sie kann aber auch „Erdachtes oder Unmögliches“ 47 erzählen. Die Wundertaten erscheinen so, historisch gesehen, „ganz sicher, sicher, leicht zu sichern, wahrscheinlich, unwahrscheinlich oder auch völlig unwahrscheinlich.“ 48 Wer sich die Mühe macht, zu vergleichen, wie die einzelnen Evangelisten von ein und derselben Wundertat erzählen, der wird feststellen können, wie unterschiedlich sie überliefert wird und welche erzählerische Freiheit die Evangelisten sich dabei herausnehmen. Die nutzen sie aber weniger, um das Wunderbare zu steigern, sondern eher, um im Hinblick auf ihre jeweiligen Adressaten Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Angesichts der fortgeschrittenen und gesicherten Erkenntnisse der historisch-kritischen Exegese und einer daraus resultierenden differenzierten Beurteilung der Wundererzählungen in den Evangelien wird man sagen müssen, dass demjenigen die Beweislast zufällt, der heute noch in diesen Erzählungen reine „Tatsachenberichte“ über so und nicht anders Geschehenes sieht. Die entscheidende Frage ist nicht, ob die erzählten Wunder wirklich geschehen sind. Entscheidend ist die Intention ihrer Aussage. Sie sind Zeichen dafür, dass mit Jesus das Reich Gottes anbricht. Und dass damit den physisch oder psychisch Kranken Heil widerfährt, dass die Ausgestoßenen, die „Aussätzigen“, nicht mehr „draußen“ bleiben und „unrein, unrein“ rufen müssen, dass die Besessenen, die nicht mehr Herr über sich selbst sind, wieder ungeschmälert sie selbst sein dürfen, dass die Menschen das wenige Brot, das ihnen zur Verfügung steht, miteinander teilen, so dass alle satt werden, dass sie keine Angst zu haben brauchen vor Sturm und Wellen, vor Mächten und Gewalten, die ihr Leben bedrohen, weil Jesus mit ihnen in einem Boot sitzt, dass ihnen schließlich sogar der Tod nichts anhaben kann, weil Jesus von den Toten erweckt wurde. „Jesu Machttaten sind ‚Illustrationen‘ seiner Botschaft, die Wundergeschichten ‚Illustrationen‘ der urkirchlichen Christologie. Jesu Leben und Botschaft ist der unmittelbare Horizont zum Verständnis seiner Machttaten.“ 49

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Wie Jesus selbst seine Machttaten interpretierte Jesus hat es nach dem einhelligen Zeugnis der Evangelien strikt abgelehnt, Demonstrations- oder Schauwunder zu wirken: „Da kamen die Pharisäer und begannen ein Streitgespräch mit ihm; sie forderten von ihm ein Zeichen vom Himmel, um ihn auf die Probe zu stellen. Da seufzte er tief auf und sagte: ‚Was fordert diese Generation ein Zeichen? Amen, das sage ich euch: dieser Generation wird niemals ein Zeichen gegeben werden‘. Und er verließ sie, stieg in ein Boot und fuhr an das andere Ufer“ (Mk 8,11–13 par.). Es ging Jesus nicht zuerst um seine Person, sondern um den Anbruch der Gottesherrschaft. Das sollten seine Exorzismen verdeutlichen: „Wenn ich die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon zu euch gekommen“ (Lk 11,20). In den gleichen Zusammenhang stellt er auch die Krankenheilung. Auf die Frage Johannes’ des Täufers, ob er der erwartete Messias sei, antwortet er: „Geht und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet“ (Lk 7,22; Mt 11,5). Der Gebrauch des sogenannten „passivum divinum“ („Aussätzige werden rein“, nicht: „Ich mache Aussätzige rein“) zeigt an, dass sich Jesu selbst gar nicht als Wundertäter versteht, sondern nur als Interpret dessen, was im Zusammenhang mit seiner Verkündigung von der nahegekommenen Gottesherrschaft geschieht. Jesus selbst duldet es – im Gegensatz zu seinen Jüngern keineswegs zähneknirschend –, dass ein Fremder in seinem Namen Dämonen austreibt: „Hindert ihn nicht! Keiner, der in meinem Namen Wunder tut, kann so leicht schlecht von mir reden. Denn wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ (Mk 9,38–40). Lukas, der diese Episode von Markus übernimmt, formuliert das Jesuswort anders: „Hindert ihn nicht! Denn wer nicht gegen euch ist, der ist für euch“ (Lk 9,50). Die ausführliche Begründung, die Jesus nach Markus gibt, wird verkürzt, gleichzeitig aber zu einer Aufforderung an die Gemeinde des Lukas („euch“) umgewandelt: Seid nicht intolerant! Wenn außerhalb eurer Gemeinde „Wunderbares“ geschieht, wenn (von Heiden) Dämonen ausgetrieben oder Kranke geheilt werden, so hindert die Leute nicht daran, das zu tun – es sei denn, sie arbeiten direkt gegen euch und den Anbruch der Gottesherrschaft. Was Jesus begonnen hat, sollen seine Jünger weiterführen. Sie sollen den Anbruch der Gottesherrschaft verkünden und ihn mit machtvollen Zeichen und Taten illustrieren. So gibt er den Jüngern, die er „zu zweit in alle Städte und Ortschaften sendet, in die er selbst gehen will“, den Auftrag: „Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!“ (Mt 10,7 f. par.). Jesus reserviert das Heils- und Heilungshandeln nicht für sich, sondern beauftragt andere (bei Matthäus und Markus „Die Zwölf“, bei Lukas „Die Jünger“), so handeln wie er. In der Apostelgeschichte macht Lukas deutlich, dass „Jünger“ nicht nur jene Frauen und Männer sind, die den historischen Jesus begleiteten, sondern auch jene, die sich in der nachösterlichen Zeit zum Auferweckten bekannten: Jünger sind die Mitglieder der christlichen Gemeinden (vgl. Apg 6,1; 11,26). Jesus ist also gar kein „Wundertäter“ im exklusiven Sinn, wie es in der antiken Welt zahlreiche gab. Vielmehr ist er ein Prophet, der die Zeichen deutet, die im Zusammenhang mit seinem Auftreten geschehen. Als solchen, nicht als Wundertäter, haben ihn

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auch die Leute verstanden (vgl. Lk 7,16). Nicht Jesus wirkt die Wunder, sondern Gott. Die Wunder sind (nur) ein augenfälliger Hinweis auf die mit Jesus anbrechende Gottesherrschaft. Nicht in der Tatsache, dass im Zusammenhang mit seinem Auftreten Wunder geschehen sind (wie immer hier die genauen historischen Umstände gewesen sein mögen), liegt das Erstaunliche und Ver-„wunder“-liche, sondern darin, dass Jesus diese Geschehnisse als Anbruch der Gottesherrschaft proklamierte und diesen Anbruch mit seinem Auftreten in unlösbare Beziehung setzte. Das ist einmalig in der Religionsgeschichte. Das hat keiner der antiken Wundertäter vor ihm oder nach ihm getan. Jesus weiß sich als authentischer Interpret des mit seiner Verkündigung offenbar werdenden Heils- und Heilungsgeschehens. Er zeigt den Zusammenhang auf, in den all diese staunenswerten Ereignisse zu stellen sind. Das Heilshandeln Gottes, das sich schon jetzt episodenhaft in Zeichen und Wundern äußert, wie sie durch Jesus, aber auch durch seine Jünger geschehen, ist Hinweis auf das unvergängliche und universale Heil der Zukunft. Gott erweist sich als Hilfe, als Befreier, als Retter, als Jahwe, als „Ich-bin-für-euch.da“.

4. Leiden und Tod Das öffentliche Wirken Jesu endete nach menschlichem Ermessen in einer Katastrophe. Jesus hat den Tod sicher nicht gesucht, aber er lag in der Konsequenz seines Handelns. Er musste bei der Kompromisslosigkeit seiner Reden damit rechnen, dass seine jüdischen Gegner, die wohl vor allem unter den Sadduzäern zu suchen sind, ihn nicht einfach gewähren lassen würden. Vor allem aber war es die römische Besatzungsmacht, die jeden Aufruhr und jede (vermutete) Vorbereitung dazu sofort im Keim erstickte. Jesus hatte unter Teilen der Bevölkerung Galiläas die Erwartung geweckt, dass er vielleicht der heiß ersehnte politische Messias, der Befreier Israels aus der Unterdrückung durch die römischen Besatzer sein könnte. Und solche Hoffnungen mussten über kurz oder lang zu Unruhen unter der Bevölkerung führen. Römische wie jüdische Kreise hatten also Gründe genug, ihn bei passender Gelegenheit möglichst rasch und unauffällig zu beseitigen. Angesichts dieser Situation entschloss sich Jesus offenbar, die Flucht nach vorn anzutreten und die Entscheidung in Jerusalem zu suchen. Anlässlich des Osterfestes (wahrscheinlich im Jahr 30 unserer Zeitrechnung) provozierte er im Vorhof des Tempels seine jüdischen Gegner mit einer symbolischen Handlung (Umstoßen der Tische der Geldwechsler und der Taubenhändler) provozierte er seine jüdischen Gegner und erregte die Aufmerksamkeit der argwöhnischen Römer (Mk 11,15–19 parr.). Für die Juden bedeutete sein Vorgehen eine Störung des offiziell verordneten Ablaufs des Tempelkultes und damit indirekt eine Kritik am Tempel überhaupt. Einen größeren Aufruhr scheint es aber nicht gegeben zu haben. Sonst wären wohl die jüdische Tempelpolizei oder gar römische Soldaten aus der unmittelbar an den Tempel grenzenden Burg Antonia eingeschritten. Jedenfalls konnte Jesus nach der Aktion ungehindert im Tempelbezirk mit Gesetzeslehrern diskutieren (Mk 11,19 par.). Hierbei oder schon zuvor bei der Aktion gegen die Händler könnte Jesus ein rät-

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selhaftes Wort gesprochen haben. Er habe, so wird später in seinem Verhör von Zeugen behauptet, vom Abreißen des Tempels und vom Aufbauen eines neuen geredet (Mk 14,57–61 par.). Die Gegner Jesu könnten darin einen indirekten Messiasanspruch gesehen und sie dazu veranlasst haben, der römischen Besatzungsmacht zu signalisieren, dass dieser Mann eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle und dass man ihn schleunigst zum Schweigen bringen müsste. Angesichts der Sympathien, die viele Festbesucher für Jesus hegten, könnte eine heimliche Festnahme verabredet worden sein, Diese erfolgte in der darauf folgenden Nacht durch die jüdische Tempelwacht oder durch ein römisches Kommando. An der Verhaftung war Judas beteiligt. Die Vorgeschichte seines Schrittes bleibt im Dunkeln. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er tatsächlich durch einen Kuss der Truppe zeigte, wen sie festzunehmen hatte. Was nun geschah, wird sich nie genau aufklären lassen. Den Evangelisten liegt merkwürdigerweise nichts daran, das Geschehen möglichst genau wiederzugeben. Das zeigt die unterschiedliche Darstellung der Evangelisten sehr deutlich. Historisch gesichert ist allein, dass Jesus nach nur kurzer öffentlicher Wirksamkeit vom Repräsentanten der römischen Besatzungsmacht in Judäa, dem Präfekten Pontius Pilatus (26–36 n. Chr.), zum Tod am Kreuz verurteilt und (wahrscheinlich am 24. Nisan [= 7. April] des Jahres 30) hingerichtet wurde. Der Kreuzigung könnten vorausgegangen sein: Verhaftung durch ein Kommando des Hohenpriesters am Ölberg (mit Hilfe eines Verräters aus dem Kreis der Jünger?), Vernehmung durch die jüdischen Autoritäten (allerdings wird von manchen Exegeten die Frage aufgeworfen, ob eine Beteiligung des Jerusalemer Synhedrions überhaupt denkbar ist, weil Pilatus möglicherweise gar kein halbwegs reguläres Gerichtsverfahren gegen Jesus durchführte, sondern „kurzen Prozess“ mit ihm machte 50), Übergabe an Pilatus mit der Anklage des messianischen Aufruhrs, Verurteilung, Auspeitschung (die meist mit der Kreuzigung verbunden war), Gang zur Richtstätte Golgota (vielleicht wird von Simon von Kyrene der Kreuzesquerbalken für Jesus getragen), Kreuzigung zusammen mit anderen Aufrührern, (naheliegend) Verspottung durch Vorübergehende, relativ schnell eingetretener Tod. 51 Der für alle seine Jünger und erst recht für die Adressaten der apostolischen Predigt unbegreifliche, weil schmähliche Tod Jesu verlangte nach Deutung. Darum versuchen die Evangelisten, in ihrer Darstellung der Kreuzigung eine Interpretation der ihnen überlieferten Fakten zu geben. Sie verfolgen also kein strikt historisches, sondern eher ein theologisches und christologisches Interesse. Schon bei oberflächlicher Lektüre der Evangelien-Texte wird erkennbar, dass die einzelnen Darstellungen nicht in allen Punkten übereinstimmen und dass sie jeweils unterschiedliche Deutungen vorlegen. Den heutigen Texten liegt vermutlich ein sehr komplexer, mehrstufiger Überlieferungsprozess zugrunde: 1. „Urbericht“ (einiger Augenzeugen?), 2. Bearbeitungen in der (mündlichen) Überlieferung vor den Evangelien, 3. Rezeption dieser Überlieferungen durch Markus (um 70), möglicherweise auch durch Johannes (um 100), 4. Überarbeitung der Markusfassung durch Matthäus und durch Lukas (zwischen 80 und 100), 5. Rezeption mündlicher Einzeltraditionen auf allen Stufen der Überlieferung. 52 Beim Evangelisten Markus ist eine ausgeprägte antijüdische Tendenz erkennbar: Die Hohenpriester, die Schriftgelehrten (Mk 11,18; 14,1), die Ältesten (Mk 1,27) wol-

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len Jesus beseitigen, das Volk aber scheint Jesus (zunächst) zu achten und muss erst gegen ihn durch die Hohenpriester aufgehetzt werden (Mk 15,11). Wer dieses Szenario liest, wird sich kaum einer aufkommenden Abneigung gegen die religiösen Führer Israels und darüber hinaus gegen das durch sie aufgewiegelte Volk entziehen können. Markus ist es aber auch, der durch das Einbringen theologischer Motive das Passions-Geschehen zu deuten versucht. Am deutlichsten ist dies festzustellen im Ruf des Gekreuzigten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34). Jesus wird hier der erste Vers des Psalms 22 in den Mund gelegt (übrigens ist dieser Psalm durchzogen von einem großen Gottvertrauen). Der Psalm erscheint überhaupt wie ein Art Textbuch der Passion und ihrer Auslegung – so die Verlosung der Kleider (V. 17–19), die Verspottung des Gekreuzigten (V. 7 f.), das Motiv des Durstes (V. 16). Auch Ps 69,21 f. (Essig für den Durst als Trank) und Jes 53,12 (Hinrichtung mit anderen Übeltätern) fließen in die Passionsdarstellung ein. Der leidende Jesus wird damit „in die lange Reihe leidender, verfolgter Menschen gestellt. Ihr Elend und ihre Gottverlassenheit, aber auch ihr Vertrauen und ihre Hoffnung kommen in der Klage dieser Texte zu Sprache“ 53. Ein weiteres Motiv ist die Tempelkritik: Der Vorhang zerreißt, das Allerheiligste wird profaniert (Mk 15,38). Der Tod Jesu bedeutet den Bruch mit jeglicher Form kultischer Religiosität. Der Opferdienst von Kultpriestern gehört endgültig der Vergangenheit an. Der „Ort“ Gottes ist von jetzt an „draußen“ (vgl. Hebr 13,12: „Deshalb hat Jesus […] außerhalb des Tores gelitten“). Es ist die geschwisterliche Gemeinschaft der Glaubenden, die in der Nachfolge Jesu in einer von Liebe bestimmten Existenz den wahren Gottesdienst vollzieht (vgl. Röm 12,1: „Ich ermahne euch, euch selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt; das ist der wahre Gottesdienst“). Ein drittes Motiv ist die Antwort auf die Messias-Frage. Das Markusevangelium ist durchzogen von dem eigenartigen Schweigegebot über das Messias-Geheimis Jesu: „Er verbot ihnen, mit jemand über ihn zu sprechen“ (Mk 8,30). Erst am Kreuz darf es durch einen Heiden gelüftet werden (Mk 15,39). Hier endlich, im leidenden Menschensohn, der den Verbrecher- und Sklaventod am Kreuz stirbt, erschließt sich das Wesen von Jesu Messias- und Gottessohn-Würde – nicht in großartigen Wundertaten oder weltweitem Herrschertum, sondern in der todesbereiten Hingabe an Gott. Matthäus verstärkt die antijüdischen Tendenzen des Markusevangeliums. Während bei Markus die „Schuld“ am Tod Jesu noch etwa gleichgewichtig auf Pilatus und den Hohen Rat verteilt wird, akzentuiert Matthäus: Der Heide Pilatus und seine Frau erklären Jesus für unschuldig bzw. gerecht, das „ganze Volk“ (!) Israel nimmt dagegen die Verantwortung für seinen Tod auf sich. Vor allem das Wort: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ (Mt 27,19.24 f.) hatte verheerende Folgen, die Matthäus freilich nicht ahnen konnte. „Nach der Shoa gibt es schlechterdings nur noch Scham und Erschecken über die furchtbare Wirkungsgeschichte dieses Satzes. […] Diese Szene hat nie so stattgefunden; niemals in seiner Geschichte hat ‚das‘ jüdische Volk sich so verhalten“ 54. Lukas weicht erheblich von der markinischen Vorlage ab. Statt mit dem (An-)Klageruf „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ stirbt Jesus mit Worten

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aus dem Psalm 31,6: „Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist.“ Der Hauptmann sieht in Jesus nicht den „Sohn Gottes“, sondern (nur) einen „gerechten Menschen“. Offenbar möchte Lukas mit dieser Darstellung des Todes Jesu christlichen Blutzeugen ein Beispiel geben, wie sie den Martyrertod bestehen können (vgl. dazu Apg 7,59 f. und Lk 23,24). Geradezu unwirklich erscheint das Passionsgeschehen bei Johannes: Jesus weiß schon vor seinem Tod, „dass alles vollbracht war“. Er spricht „Mich dürstet“ (nur), „damit sich die Schrift erfülle“ – in Wirklichkeit, so wird dem Leser nahe gelegt, hat er selbstverständlich gar keinen Durst (Joh 19,28). Er „spricht: Es ist vollbracht!“ (Joh 19,20) – ein (nach klinischem Befund des Kreuzigungstodes) dem Ersticken Naher kann nicht einmal einen lauten Schrei (Mk 15,37) von sich geben, er kann nur röcheln. Und wie soll man sich vorstellen, dass Jesus unter rasenden Schmerzen noch die Fähigkeit besaß, sein Haupt zu neigen und seinen Geist aufzugeben (Joh 19,30)? Das Johannesevangelium will deutlich machen: Jesus, der Gottessohn, ist bis zum Ende Herr der Lage und bestimmt souverän den Ablauf des Geschehens (vgl. dazu auch Joh 18,20 f. 36; 19,11.19–21; vorher: 6,6). Auch die Übergabe seiner Mutter an den Lieblingsjünger ist eine „ideale Szene“, die dem Leser des Evangeliums deutlich machen soll, dass Jesus selbst den Johannes zu seinem „Stellvertreter“ ernannte (vgl. Joh 19,35; 21,24). Auch die Durchbohrung der Seite Jesu ist als symbolischer Akt zu sehen: Das Blut verweist auf das Blut des Herrenmahles (Joh 6,52–58), das Wasser auf den durch Jesus vermittelten Geist (Joh 7,38 f.). Mit seiner idealisierten und theologisch überfrachteten Darstellung läuft der Evangelist Gefahr, der Kreuzigung ihre Brutalität und letztendlich auch ihre Realität zu nehmen. Es bleibt noch zu fragen, ob und wie der Tod Jesu als stellvertretender Sühnetod zu verstehen ist. 55 Die alttestamentlichen Aussagen dazu sind ganz erheblich von neutestamentlichen, vor allem kultischen Vorstellungen beeinflusst. Für das biblische Denken ist Sünde eine konkrete, fast dingliche Wirklichkeit, weniger eine Beleidigung Gottes als vielmehr eine Störung der menschlichen Lebenssphäre. Sie kommt erst „zur Ruhe“, wenn sie sich im Sinne des Tun-Ergehen-Zusammenhangs auf den Täter selbst ausgewirkt hat. Unter dieser Perspektive wird auch der biblische Sühnegedanke verständlich: Die todbringende Wirkung der Sünde kann stellvertretend von einem anderen aufgefangen werden. Am Kreuz Christi ist „die Sünde der Welt“ in all ihrer schrecklichen Wirklichkeit zu Ende gekommen, weil sich am Gekreuzigten alle Tat-Wirklichkeit der Sünde höchst konkret und fürchterlich ausgewirkt hat.

5. „Auferweckt von den Toten“ Im Jahr 2011 führte das Meinungsforschungsinstitut EMNID eine Umfrage durch, ob die Deutschen noch an die Auferstehung Jesu glauben. 56 Von 1000 Befragten gaben 62 % an, dass sie nicht an die Ostererzählungen glauben. Im Osten Deutschlands sind es lediglich 9 %, im Westen 39 %, die noch glauben. Am gläubigsten zeigten sich die Anhänger von CDU und CSU mit 46 %, gefolgt von den Anhängern der FDP mit 39 %, den Grünen mit 37 % und der SPD mit 31 %. Anhänger der Linkspartei glauben ledig-

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lich zu 8 % an die Auferstehung Jesu. Nun sind solche Aussagen immer mit Vorsicht zu genießen, denn es wurde ja nicht gefragt, was die Einzelnen unter „glauben“ verstehen und ob sie sich das Ostergeschehen etwa im Stil des bekannten Bildes von Matthias Grünewald vorstellen. Vielleicht wäre dann der Prozentsatz etwas anders – höher oder niedriger – ausgefallen. Wie dem auch sei: Viele Christen, Katholiken wie Protestanten, wissen mit der zentralen Botschaft der Bibel nicht mehr viel anzufangen. Die Schwierigkeiten beginnen beim Osterbekenntnis und enden mit der Unbestimmtheit der Hoffnung auf ein „ewiges Leben“. Christen können sich nicht oder nicht mehr vorstellen, dass der Gekreuzigte von Gott am dritten Tag aus seinem Grab zu ewigem Leben erweckt wurde. Sie sehen hierin ein Mirakel, das ihrem aufgeklärten Verstand zu viel abverlangt. Sie verabschieden sich lautlos vom Osterglauben bzw. von dem, was sie dafür halten. Und auch die Bischöfe und die Prediger lassen sie in ihrer österlichen Verkündigung meist allein. Entweder tun sie so, als ob alles selbstverständlich sei und für sie selbst nicht der geringste Anlass zum Zweifel bestünde. Oder sie umgehen die Osterbotschaft und flüchten sich in Allgemeinplätze oder in irgendwelche mehr oder minder gelungene gesellschaftliche oder politische Vergleiche und Aktualisierungen. Das gesamte Neue Testament bezeugt einmütig, dass Jesus vom Tode erweckt wurde. Allerdings, und das ist schon bemerkenswert, in erstaunlicher Mehrstimmigkeit, aus unterschiedlicher Perspektive und im Resonanzraum je eigener Erfahrungen, die in den Ostergeschichten ihren Niederschlag gefunden haben. Und, auch das ist bemerkenswert, immer wieder ist auch mehr oder minder deutlich von Zweifeln und Anfechtungen die Rede, denen schon die Protagonisten ausgesetzt waren und die auch den biblischen Erzählern und ihren Adressaten nicht fremd sind. Die Auferstehung selbst wird freilich in keinem der vier Evangelien beschrieben. Das eigentliche Osterzeugnis begegnet in zweierlei Form: in Osterbekenntnissen und in Ostererzählungen. a) Osterbekenntnisse

Der älteste Beleg des Auferstehungsglaubens findet sich in der bis in die Anfänge der Urgemeinde zurückreichenden Wendung: „Gott hat Jesus von den Toten auferweckt.“ 57 Paulus begründet diese Überzeugung mit dem Glauben an die allgemeine Auferstehung der Toten: „Wenn verkündet wird, dass Christus von den Toten auferweckt worden ist, wie können dann einige von euch sagen: Eine Auferstehung der Toten gibt es nicht? Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, dass ist auch Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos (…) Er (Gott) hat ihn nicht auferweckt, wenn Tote nicht auferweckt werden.“ Und jetzt erst folgt der Satz, der häufig allein ohne den Kontext zitiert wird: „Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos“ (1 Kor 15,12–13.16 f.). Paulus argumentiert also mit der allgemeinen Totenerweckung für die Auferweckung Jesu – nicht umgekehrt. Das wird leider immer wieder übersehen. Nachdem Paulus in 15,12–19 dargelegt hat, dass der Glaube an die allgemeine

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Auferweckung der Toten unerlässlich ist, will man nicht die Auferweckung Jesu Christi leugnen, kommt er nun genauer auf Jesus Christus als „Erstling der Entschlafenen“ zu sprechen (1 Kor 15,20–22): „Christus ist auferweckt worden als der Erste (Erstling) der Entschlafenen. Da nämlich durch einen Menschen der Tod gekommen ist, kommt durch einen Menschen auch die Auferstehung der Toten. Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.“ Den Hintergrund der Bezeichnung „Erstling der Entschlafenen“ bildet die alttestamentliche Vorschrift, die ersten Früchte der Ernte und die ersten Abkömmlinge des Viehs Gott als Erstlingsgabe darzubringen (vgl. Lev 23,9–14 u. a.). Die Auferweckten gehören zur endzeitlichen „Ernte“, von der Jesus der „Erstling“ ist und Gott dargebracht wurde. 58 Ein schon etwas ausgestaltetes Zeugnis enthält der Erste Brief des Apostels Paulus an die Christengemeinde von Korinth (etwa 54 n. Chr.): „Vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten sind entschlafen. Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln. Als letztem von allen erschien er auch mir, dem Unerwarteten, der ‚Missgeburt‘.“ 59 Bemerkenswert bei den Osterbekenntnissen sind die beiden Wendungen „auferweckt“ und „auferstanden“. In den ältesten Texten verwendet Paulus „… ist auferweckt worden“ (1 Kor 15,4) oder „… den er (Gott) auferweckt hat“ (1 Thess 1,10). Tätig ist also Gott. In späteren Texten wird neben „auferweckt“ (vgl. Petrusrede der Apg 3,15) auch „auferstanden“ verwendet (Joh 20,9). Wenn Paulus von allen Toten spricht, nimmt er „Auferstehung“ (1 Kor 15,21). Das klingt im Deutschen eher aktivisch. Wenn man freilich den Zusammenhang beachtet, dann ist auch bei der allgemeinen Auferstehung Gott am Werk, und Auferstehung eher passivisch zu verstehen. Die Texte des Neuen Testaments sehen also die Auferstehung bzw. Auferweckung aller Toten und die Auferweckung bzw. Auferstehung Jesu in gleicher Weise als Werk Gottes. b) Ostererzählungen

Die Ostererzählungen sind spätere Versuche einer narrativen Veranschaulichung der wenig anschaulichen Osterbekenntnisse. Darum werden sie erzählt mit erkennbarem Bezug auf die jeweilige Gemeindesituation. Sie dienen einer theologischen Vertiefung und einer christologischen Entfaltung des Osterbekenntnisses. Trotz aller Unterschiede in der Überlieferung der Evangelien stimmen sie in einem Punkt überein: Sie vertreten einhellig die feste Überzeugung, dass Jesus nicht im Tod verblieben ist. Er ist durch Gottes rettende Tat aus dem Tod erweckt worden und in seiner Gemeinde verborgen gegenwärtig. Auffällig ist, dass bei einem Vergleich der Formel von 1 Kor 15,3–5 (bzw. 7) mit den Osterbekenntnissen und den Ostererzählungen der Evangelien hier nur Männer erwähnt werden. Das hängt wohl zusammen mit dem Dtn 19,15 erwähnten Zeugenrecht: „Wenn es um ein Verbrechen oder ein Vergehen geht, darf ein einzelner Belas-

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Was wir über Jesus wissen

tungszeuge nicht Recht bekommen … Erst auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen darf seine Sache Recht bekommen.“ Der jüdische Historiker und Philosoph Josephus Flavius (38–100 n. Chr.) kommentiert das so: „Ein einziger Zeuge soll nicht gelten, sondern es sollen deren drei oder wenigstens zwei sein, deren Wahrheitsliebe durch ihren Lebenswandel verbürgt wird. Auch soll das Zeugnis der Frauen nicht zulässig sein, wegen der ihrem Geschlecht eigenen Leichtfertigkeit und Dreistigkeit.“ 60 Michael Theobald vertritt die Ansicht, dass es sich bei diesem Text um eine „vorpaulinische Formel“ handelt, „die dem Bedürfnis der Legitimation der Autoritäten in der ‚Urgemeinde‘ entsprach.“ 61 Denkbar wäre, dass die in den Evangelien erwähnten Frauen den in der Formel ebenfalls erwähnten „Aposteln“ zugezählt wurden. Denn Paulus erwähnt im Römerbrief das Ehepaar Andronikos und Junia als „unter den Aposteln herausragend“ (Röm 16,7). Auch Maria von Magdala könnte er dazu gezählt haben.62 Der dritte Tag Paulus erwähnt den „dritten Tag“ als Tag der Auferweckung. 63 Die Dreizahl hat auch ins christliche Glaubensbekenntnis Einzug gehalten. Bei dieser (scheinbaren) Zeitangabe handelt es sich „keineswegs um eine eindeutige chronologische Angabe. […] Der dritte Tag bringt eine gute Wende. Es ist schwer zu sagen, ob hier jeweils eine ‚Minderzahl‘, eine ‚Runde Zahl‘ oder ein ‚Symbolwert‘ verwendet ist. Die Bedeutungen gehen wohl ineinander über.“ 64 Legt man ein symbolisches Verständnis der Dreizahl zugrunde, so könnte „auferweckt am dritten Tag“ etwa so umschrieben werden: Schon nach kurzer Zeit hat Gott die Katastrophe des Kreuzestodes Jesu zum Guten gewendet. Eine derartige Formulierung erscheint theologisch aussagekräftiger als eine chronologische Festlegung – am dritten Tag, nicht früher und nicht später. c)

Die Frage nach der Historizität des Geschehens

Unter den resignierten und in ihrem Glauben an Jesus zutiefst erschütterten Jüngerinnen und Jüngern breitete sich ziemlich plötzlich und unerwartet die Gewissheit aus: Jesus lebt, er ist nicht tot, Gott hat ihn auferweckt. Einziger historisch fassbarer und aus den Schriften des Neuen Testaments ablesbarer Grund dafür waren die „Erscheinungen“ Jesu. „Erscheinungen“ Das im griechisch geschriebenen Neuen Testament für die Erscheinungen verwendete Wort „óphtä“ müsste eigentlich übersetzt werden mit „er wurde gesehen“, „er wurde gezeigt“, „er ließ sich sehen“. Auch in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments taucht dieses Wort auf, wenn von einer Gotteserscheinung die Rede ist. 65 Für den mit den Schriften des Alten Bundes vertrauten Adressaten der Osterbotschaft wird damit klar: Auch hier ist Gott am Werk. Er ist es, der den als Verbrecher gekreuzigten Jesus als den wahren Gottesboten „gezeigt“ hat.

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Die Art der Wahrnehmung des Auferweckten Jesus ist nicht ins frühere Leben zurückgekehrt. Der Auferweckte war „keine wiederbelebte Leiche, sondern ein von Gott her neu und für immer Lebender.“ 66 Die Auferweckung Jesu und seine Erscheinungen sind keine Ereignisse, die von einem neutralen und distanzierten Beobachter hätten wahrgenommen werden können. Dass „er“ es ist, erschließt sich nur dem Glaubenden.67 Gottes Offenbarung geschieht nicht derart, dass man ihn mit den Augen sehen und mit den Händen greifen kann. „Niemand hat Gott je gesehen.“ 68 Das gilt auch für die „Erscheinungen“ des vom Tode auferweckten und an die Seite Gottes erhobenen Jesus. Paulus, dem Jesus „als letztem von allen erschien“ 69, beschreibt im Brief an die Gemeinden in Galatien diese Erscheinung: „(Gott) offenbarte seinen Sohn (in) mir.“ 70 So steht es jedenfalls im griechischen Urtext („en emoí“). Philologisch gesehen ist damit der Dativ umschrieben: mir (offenbarte Gott seinen Sohn). Die lateinische Bibelübersetzung, die Vulgata, gibt „en emoí“ aber mit „in me“ (= in mir) wieder. 71 Offenbar scheinen also schon die damaligen Übersetzer das Geschehen als einen inneren, für Außenstehende nicht wahrnehmbaren Vorgang verstanden zu haben, aus dem Paulus die Gewissheit entnehmen konnte, dass der von ihm bisher verachtete und verfolgte Jesus von Nazaret ihn vom Himmel her als Messias anspricht und ihn in seinen besonderen Dienst beruft. 72 Visionen Die neuere Exegese kennzeichnet diese Form von Erscheinungen deshalb als Visionen. Damit „wird ein subjektives bildhaftes Erleben von etwas sinnlich nicht Wahrnehmbarem bezeichnet, das aber dem Erlebenden (dem Visionär) als real erscheint und von ihm auf die Einwirkung einer jenseitigen Macht zurückgeführt wird. (…) Im religiösen Kontext wird eine Vision auf einen realen äußeren Verursacher zurückgeführt. Dabei handelt es sich bei positiver Interpretation des Erlebnisses um eine Gottheit. (…) Eine solche religiöse Deutung eines Visionserlebnisses wird oft damit begründet, dass in der Vision eine Botschaft übermittelt worden sei, deren außergewöhnlicher und außerordentlich beeindruckender Inhalt den Wissensstand und Alltagshorizont des Visionärs übersteige und kaum auf normale Weise erklärbar sei, was für die Authentizität spreche. Außerdem beschreiben Visionäre die Art der Wahrnehmung während der Vision als so mitreißend, ergreifend und erschütternd, dass aus ihrer Sicht als Urheber nur eine Macht mit übermenschlichen Fähigkeiten in Betracht kommt … Berichte über Visionen dienen oft der Legitimierung oder Bestätigung religiöser Weltbilder oder der Beglaubigung und Bekräftigung einzelner religiöser Lehraussagen und Anweisungen.“ 73 Der katholische Exeget Ingo Broer sagt dazu: „Solche Visionen können sich nach Aussagen von Psychologen im Bereich des Normalen ereignen, sind also nicht pathologisch, werden mit Verben der Wahrnehmung beschrieben und stehen in Zusammenhang mit der Lebensgeschichte. den kognitiven Strukturen sowie der jeweiligen Kultur des Empfängers. Hinsichtlich der Realität der Visionen ist zu sagen, dass der Beobachter von außen deren Realität nicht feststellen kann, dass aber in vielen Fällen dennoch ein intersubjektiver Konsens über die Realität hergestellt werden kann. Daraus ergibt

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Was wir über Jesus wissen

sich, dass es sich bei solchen Erscheinungen um innere Wahrnehmungen handelt. Zahlreiche empirische Untersuchungen sprechen dafür, dass solche Visionen besonders der Bewältigung belastender Ereignisse dienen, ohne dass dadurch andere Auslösungsfaktoren ausgeschlossen werden müssen. Als Beispiel wird in der Literatur die Bewältigung von Trauerprozessen genannt.“ 74 Mit einer solchen psychologischen Erklärung der Visionen muss man nicht an ein besonderes Wunder glauben. Die Entstehung des Osterglaubens erscheint für uns in gewisser Weise nachvollziehbar und verstehbar. Halluzinationen Manche Exegeten sind geneigt, die Erscheinungen des Auferweckten psychologisch als Halluzinationen zu deuten. „Unter Halluzination versteht man eine Wahrnehmung eines Sinnesgebietes, ohne dass eine nachweisbare Reizgrundlage vorliegt. Das bedeutet zum Beispiel, dass physikalisch nicht nachweisbare Objekte gesehen werden oder Stimmen gehört, ohne dass jemand spricht. Halluzinationen können alle Sinnesgebiete betreffen. Bei einer Illusion hingegen wird ein real vorhandener Sachverhalt verändert wahrgenommen: Ein tatsächlich vorhandener feststehender Gegenstand scheint sich zu bewegen oder in irregulären Mustern werden scheinbar Gesichter erkennbar. Eine Halluzination hat per definitionem für den Halluzinierenden Realitätscharakter bzw. kann nicht von der Realität unterschieden werden.“ 75 Ähnlich sieht es auch der britische Neurologe Oliver Sacks. 76 Für ihn sind Halluzinationen ein „positives Phänomen“. Halluzinationen „gaukeln reale Erlebnisse vor, die dann früher, später oder manchmal gar nicht als Fiktion entlarvt werden.“ Sie können „jeden betreffen und haben fast jeden schon einmal überfallen. Dass sie weder Anomalien noch Krankheiten, sondern eigenmächtige Formationen aus dem Urgrund des Seins sind und dabei demonstrieren, dass das eigene Ich tatsächlich nicht Herr im eigenen Hause ist, macht sie geradezu sympathisch.“ Bereits 1968 hat der Schwede Johannes Lindblom Halluzinationen in Bezug auf die Ostererscheinungen angenommen und sie so beschrieben: „Charakteristisch für die Halluzinationen ist, dass sich hier alles auf der irdischen Ebene bewegt, dass das Geschaute stark realistisch und konkret bzw. anthropomorphistisch aufgefasst wird, dass die psychischen Voraussetzungen nicht mit Verzückung im eigentlichen Sinne zu tun haben und dass der Halluzinierende selbst meint, er sehe das von ihm Geschaute mit dem normalen Sehvermögen. Eben diese Züge sind auch für die Christusepiphanien, wie sie in den Evangelien geschildert werden, typisch.“ 77 Das zentrale Gesamtbewusstsein schränkt seine gewöhnliche Ich-Aktivität und Realitätsprüfung ein und lässt ein Subsystem der Psyche eigenständig und dissoziiert Informationen verarbeiten. So lassen sich Visionen, Auditionen oder Halluzinationen als dissoziative Weisen einer Bewusstwerdung und Verarbeitung von Gefühlen und Gedanken auffassen. Sie variieren sowohl nach der emotionalen Situation als auch nach dem weltanschaulichen Bezugsrahmen des Betreffenden.78 Ein erhöhtes Auftreten von Halluzinationen ist nach den empirisch gesicherten Ergebnissen der Psychologie vor allem bei krisenhaften Lebensereignissen („life events“) zu beobachten – etwa beim Verlust einer nahestehenden Person, bei schwerer

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Krankheit oder bei Kriegserlebnissen. „Halluzinationen können so als eine intrapsychische Bewältigungsform stressreicher Ereignisse verstanden werden“ – im Fall der Ostererscheinungen als „intrapsychischer Bewältigungsmechanismus eines durch den Tod Jesu als kritisches Lebensereignis […] ausgelösten Bewältigungsprozesses.“ 79 Es wäre durchaus vorstellbar, dass auch die Erscheinungen vor den Frauen und den Jüngern sich psychologisch so erklären ließen. Bei Prozessen tief aufwühlender und den ganzen Menschen erschütternder Trauer sind häufig Wahrnehmungsveränderungen im Zusammenhang mit dem Verlust des Liebesobjektes zu beobachten. Hintergrund Visionen und Halluzinationen haben einen Hintergrund, auf dem sie aufbauen und in dessen Rahmen sie sich einfügen. Das würde auch für die Erscheinungen zu gelten haben, wenn wir sie als Visionen oder Halluzinationen sehen. Ihr Hintergrund ist die faszinierende Gestalt des Nazareners, sein Reden und Handeln, seine Botschaft von der mit ihm anbrechenden Gottesherrschaft. Dieser „Rahmen“ könnte sich im engsten Freundeskreis Jesu und in seiner Anhängerschaft so verfestigt haben, dass der schmachvolle Kreuzestod zwar zu einer starken Irritation führte, nicht aber zum totalen Zusammenbruch der auf Jesus gesetzten Hoffnungen. Aus historisch-kritischer Sicht waren die Erscheinungs-Visionen oder -Halluzinationen also „keine unvermittelten ‚Widerfahrnisse‘, die ihre unumstößliche Deutung gleichsam selbst mitlieferten, sondern waren ‚vorbereitet‘ bzw. eingebunden in einen uns entzogenen Prozess der Verarbeitung von Traumata. Aus der Innensicht der Zeugen freilich boten sie […] nichts weniger als den Erkenntnisgrund des Auferstehungsbekenntnisses, waren also derart, dass sie ‚den vorher nur als Möglichkeit gedachten Glauben an Jesu Auferweckung zur gewissen Überzeugung‘ transformierten.“ 80 Ob nun Halluzination oder Vision – wer das Neue Testament richtig auslegen und verstehen will, „muss bereit sein, sich nach allen Dimensionen auf die Geschichtlichkeit und Menschlichkeit der in der Geschichte Jesu erfolgten Offenbarung Gottes einzulassen. Das an die Person Jesu geknüpfte Offenbarungsgeschehen war ein echt geschichtlicher Vorgang, in den die ‚Zweitursachen‘ (= causae secundae), also die Menschen mit ihrem Denken und ihren Reaktionen voll integriert waren.“ 81 Für alle, die die Auferweckung Jesu bekunden, muss das, was sie erlebt und erfahren haben, überzeugend gewesen sein. Es muss freilich auch irgendwie auf der Linie ihres bisherigen Glaubens gelegen haben. Sonst hätten sie wohl nicht übereinstimmend sagen können: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt. Und ein gewisses Vorverständnis über Tod und Auferweckung mussten sie auch bei ihren Hörerinnen und Hörern voraussetzen können. Man kann einen Menschen nicht überzeugen, wenn man nicht an etwas bereits Vorhandenes anknüpfen kann. Glaube fällt nicht vom Himmel. Er setzt Erfahrungen voraus, die er vertieft und erweitert und für die er neue Perspektiven eröffnet.

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Was wir über Jesus wissen

d) War das Grab leer?

Die Überlieferung Die Erwähnung eines leeren Grabes (Mk 16,1–8; Mt 28,1–15; Lk 24,1–12; Joh 20,1–18; findet sich nicht in der ältesten Tradition (Paulusbriefe). Erst die vier Evangelisten sprechen davon (Mk 16,1–8; Mt 28,1–15; Lk 24,1–12; Joh 20,1–18). Freilich ist sich zumindest Matthäus darüber im Klaren, dass ein leeres Grab keinerlei Beweiskraft für die Tatsächlichkeit der Auferstehung Jesu besitzt (vgl. Mt 27,62–66). Warum nimmt der Evangelist Markus eine offenbar im frühen Christentum vorhandene, für Paulus aber offenbar unwichtige oder ihm nicht bekannte Tradition von einem leeren Grab auf? Welche Absichten verbindet er damit? Auffällig ist, dass der „junge Mann in weißen Kleidern“ gar nicht darauf hinweist, dass das Grab leer sei, sondern dass er sagt: „Hier ist der Ort, wo man ihn hingelegt hat“ (Mk 16,6). Diese Worte „decken sich fast mit einer stehenden Redewendung der christlichen Pilgerliteratur. Die Formel ‚Dies ist der Ort, wo …‘ oder Variationen dieser Formel sind besonders häufig und scheinen in den Mund von Mönchen, Priestern und Bischöfen zu gehören, die an den heiligen Plätzen den Besuchern die Erklärungen geben.“ 82 Es war in jener Zeit häufig üblich, zu den Gräbern der Heiligen Israels zu pilgern. Diesen Brauch könnten jüdische Christen übernommen haben und zum Grab Jesu gepilgert sein. 83 Es wäre also denkbar, dass „christliche Pilger schon recht früh das Grab Jesu besuchten, wie jüdische Pilger die Gräber der Patriarchen und anderer heiliger Männer und Frauen besuchten. Beim Grab wurde den Pilgern die Geschichte erzählt, die von Markus in 16,1–8 verarbeitet worden ist […] Die Erzählung unterscheidet sich allerdings bedeutend von vergleichbaren Orts-Traditionen, weil sie die Bedeutung des betreffenden Ortes ganz und gar relativiert. Es ist zwar der Platz, wo Jesus beigesetzt wurde, aber ‚Er ist nicht hier‘. Er ist nicht gegenwärtig, wie andere Tote in ihren Gräbern gegenwärtig sind, weil er auferstanden ist. So werden die Pilger vom Grab weg gewiesen und müssen sich mit der Osterbotschaft ‚begnügen‘ : ‚Er ist auferstanden; er ist nicht hier‘“ 84. Vor einigen Jahren hat eine Veröffentlichung für Irritationen gesorgt, die die Auferweckung Jesu damit widerlegen wollte, dass sie behauptete: „Das Grab war voll“ 85. Dazu ist zunächst einzuräumen, dass es eine objektive, historisch gesicherte Bestätigung für die Auferweckung Jesu – und damit für ein evtl. leeres Grab – nicht gibt. Die Auferweckung Jesu und seine Erscheinungen sind keine Ereignisse, die von einem neutralen und distanzierten Beobachter hätten wahrgenommen werden können. Jesus ist nicht mit seinem „alten“ irdischen Leib auf wunderbare Weise durch verschlossene Türen hindurch gekommen (was übrigens im Evangelium gar nicht behauptet wird; vgl. Joh 20,19. Und außerdem: Warum hätte dann eigentlich der Stein weggewälzt werden müssen, wenn der Auferweckte ohnehin durch verschlossene Türen hindurch kommen kann?; vgl. Mk 16,4). Der Leichnam Jesu ist nicht wiederbelebt worden und ins irdische Leben zurückgekehrt, sondern „Gott hat ihn auferweckt.“ Jesus ist nicht wieder der „alte“, sterbliche Mensch geworden, der er vor seiner Kreuzigung war, sondern er ist als „Alter der Entschlafenen“ zu einem „zweiten Menschen“ geworden

„Auferweckt von den Toten“

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(1 Kor 15,20.47). Die Leiblichkeit des Auferweckten ist eine andere: „Gesät wird ein irdischer Leib, auferweckt ein überirdischer Leib“ (1 Kor 15,44). Ein „volles“ Grab spricht demnach nicht gegen und ein „leeres“ Grab nicht für die Auferweckung Jesu. Das war schon dem Evangelisten Matthäus bewusst (vgl. Mt 27,62–66). Dass Jesus auferweckt wurde, erschloss sich nur den Glaubenden (vgl. Lk 24,13–28 mit Lk 24,29–35). Das aber heißt im Klartext: Die Erzählung vom (leeren?) Grab Jesu kann nicht als Information über ein nachweisbar vorhandenes und eindeutig als das Grab Jesu identifizierbares Faktum behandelt werden. „Für den Versuch einer Erklärung der Entstehung des Osterglaubens dürfte es sich jedenfalls empfehlen, das Wissen, und zwar das frühe Wissen um das Leersein des Grabes Jesu als eher unwahrscheinliche denn wahrscheinliche Möglichkeit in Rechnung zu stellen.“86 Aufgabe und Bedeutung dieser Erzählung liegt allein in der Verkündigung und Bekräftigung der Osterbotschaft. Dogmatisches Postulat? Bis in die Gegenwart hinein wird das Vorhandensein eines leeren Grabes häufig mit dogmatischen Argumenten postuliert. 87 Demgegenüber könnte man sich (rein hypothetisch) einmal fragen, was geschehen wäre, wenn die Römer den Leichnam Jesu, wie damals üblich, hätten am Kreuz hängen lassen als Fraß für die Vögel oder für wilde Tiere. 88 Was, wenn sie ihn nach der Abnahme vom Kreuz in einem Massengrab an unbekanntem Ort verscharrt oder verbrannt hätten? Hätte die Nichtauffindbarkeit oder gar die völlige Zerstörung der Leiche die Auferweckung Jesu unmöglich gemacht? Gäbe es dann kein Christentum, weil unser Glaube damit „sinnlos“ wäre? Ist dann nicht aber auch grundsätzlich jeglicher Glaube an eine Auferweckung der Toten sinnlos, wenn die Leichname erst einmal verwest und aufgelöst sind? Oder auch umgekehrt: Wenn heute das Grab Jesu und Überreste seiner Knochen gefunden würden, die sich als echt erweisen sollten, würde das die Auferstehungsbotschaft hinfällig machen? In einer vor kurzem vorgelegten Publikation kommt Jürgen Becker aufgrund der Untersuchung einer Fülle von frühjüdischen Texten zu dem Ergebnis, dass die weitverbreitete Ansicht, „das Frühjudentum habe sich die Auferstehungswirklichkeit nur leiblich vorstellen können und zum Auferstehungsvorgang eigentlich ganz selbstverständlich immer an die Öffnung der Gräber gedacht, (…) „durch die Quellen eindeutig widerlegt“ sei. 89 Nur eine schmale Tradition in der Auslegungsgeschichte von Ez 37,1–14 kennt eine leibliche Auferstehung („Wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole, dann werdet ihr erkennen, dass ich der Herr bin“; V. 13). „In jedem Fall spielen die Gräber dabei keine Rolle, weil die Auffassung herrscht, dass der irdische Leib endgültig vergeht, und Gott an seiner Stelle Neues schafft. Das ständig ungeprüft wiederholte Argument, Christen könnten in Jerusalem Jesu Auferstehung nicht verkündigt haben, ohne Jesu leeres Grab vorzuzeigen, besitzt am frühjüdischen Textbefund keinen Anhalt.“ Becker räumt durchaus ein, dass damit „nicht die historische Frage entschieden (ist), wie es möglicherweise um das Jesu Grab bestellt war. Doch ist die Argumentation zugunsten eines leer gefundenen Grabes Jesu

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Was wir über Jesus wissen

erheblich erschwert. Denn nichts weniger als die bisherige Basis für solche Argumentation ist zerbrochen.“ Martin Ebner rät deshalb: „Für den Versuch einer Erklärung der Entstehung des Osterglaubens dürfte es sich jedenfalls empfehlen, das Wissen, und zwar das frühe Wissen um das Leersein des Grabes Jesu als eher unwahrscheinliche denn wahrscheinliche Möglichkeit in Rechnung zu stellen.“ 90 Ob leeres oder volles Grab – „Zur Auferstehung Jesu haben wir keinen Zugang, der außerhalb des Kreises von Glaube und Hoffnung liegen könnte.“ 91

VII. Die Kirche des Anfangs 1.

Israel und die Kirche

Die Wurzeln der Kirche reichen bis zu jenen Gestalten des Glaubens, die – nach jüdisch-christlicher Überzeugung – von Gott als Initiatoren seines Heils- und Freiheitshandelns herausgerufen wurden. Herausrufen heißt auf griechisch „ek-kaléo“; davon leitet sich ab das Substantiv „ekklesía“ (lat. ecclesia, frz. église). Die eigentliche und wahre Wurzel der Kirche ist Israel (vgl. Röm 11,16 f.). Herausgerufen waren Abraham und Mose (Gen 12,1; Ex 3,4); herausgerufen waren die Führer und Könige des Volkes Israel (Num 1,16; 1 Sam 3,4–8); herausgerufen waren die Propheten (Jes 6,4–8; Jer 1,4–10); herausgerufen war schließlich das Volk Israel als Ganzes (Hos 11,1; Jes 40,9; 49,1). Diese Berufungen geschahen nicht im Sinne einer willkürlichen Bevorzugung, sondern im Sinne einer Indienstnahme für andere. Auserwählung berechtigt nicht zu Überheblichkeit und Dünkel, sondern bedeutet Beauftragung und Zuweisung vermehrter Pflichten. So hat sich Israel als das „auserwählte“, von Gott herausgerufene Volk verstanden. Die Grundlage für eine derartige Auserwählung sieht Israel in der Idee des Menschen, der als Abbild Gottes geschaffen ist (Gen 1,27). Inmitten der von Gott aus Knechtschaft und Unterdrückung befreiten Menschen nimmt er selbst Wohnung und schließt mit ihnen einen Bund (Ex 19,1–25). So wird der Weg frei zu einem Gemeindebewusstsein, einem „Wir“ vor Gott (Ex 33,7; Num 2,2). Nach christlicher Überzeugung entstand durch das Jesusgeschehen eine neue Situation. Jesus fühlte sich als Gesandter Gottes „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (Mt 15,24). „In voller Anerkennung des heilsgeschichtlichen Unterschieds zwischen den Völkern und Israel, dem Eigentumsvolk Gottes, hat sich […] Jesus mit seinen eigenen und seiner Jünger missionarischen Bemühungen grundsätzlich an Israel und nur an dieses gewandt.“ 1 In seiner Gesamtheit versagte sich Israel diesem Ruf Gottes. Die erwarteten „Früchte der Umkehr“ (Mt 3,8) hat es nicht erbracht. Als in besonderer Weise „erwählt“ (Joh 15,16) fühlte sich nun jene kleine Schar, die Jesus treu blieb, die an seine Sendung glaubte und die sich durch die Auferweckung Jesu von Gott in ihrem Glauben bestätigt sah. Freilich war in der Konsequenz dieser Auffassung nicht schon an eine Trennung von der Wurzel Israel gedacht. Denn „Jesus war Jude und ist es immer geblieben“2. In seiner Apostelgeschichte setzt Lukas an den Anfang der Jerusalemer Gemeinde die Herabkunft des Geistes am Pfingstfest unter Sturm und Feuer (Apg 2,1–42). Die Bibelwissenschaftler sind allerdings der Ansicht, dass es ein derart spektakuläres Ereignis nicht gegeben hat. Denn „fragt man, welches Geschehen dem Pfingstbericht zugrunde liegt und was Lukas mit dem Bericht aussagen will, dann wird man antworten müssen: Der Verfasser will nicht historische Einzelheiten mitteilen, die an einem be-

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stimmten Tag unter der Augenzeugenschaft Tausender in Jerusalem geschehen sind. Der Text ist vielmehr als gezielte theologische Aussage verfasst. Ausgangspunkt des Berichtes ist die gläubige Überzeugung der Urchristenheit, dass ihr vom auferstandenen und erhöhten Herrn die Gabe des Heiligen Geistes zuteil geworden ist. Auf ihn führte man Leben, Leitung und Wachstum der Kirche zurück. Das Zustandekommen dieser Überzeugung setzt Geschehnisse voraus, in denen den Urchristen die Gegenwart des Heiligen Geistes bewusst wurde. Zu diesen Erfahrungen gehörten ekstatische Erlebnisse, wie beispielsweise geistbegabtes Zungenreden. Ob darüber hinaus die von Lukas verarbeitete Tradition in einem Einzelgeschehen wurzelt, das am jüdischen Pfingstfest in Jerusalem stattfand und die Apostel betraf […], ist nicht mehr mit Sicherheit zu erkennen, aber aufgrund der Quellenlage eher unwahrscheinlich.“ 3 Ludger Schenke erwähnt in seiner groß angelegten Studie über die Urgemeinde 4 das Pfingstgeschehen nur beiläufig (82); im Schriftstellenverzeichnis erscheint nicht einmal die über das Ereignis in der Apostelgeschichte erzählende Stelle Apg 2,1–13. Die Mitglieder der kleinen Jerusalemer Gemeinde nahmen weiterhin am Gottesdienst im Tempel teil (Apg 2,46). Von Verfolgungen seitens gegnerischer jüdischer Kreise ist zunächst nicht die Rede, denn die Apostelgeschichte berichtet, dass „die Gemeinde in ganz Judäa, Galiläa und Samarien Frieden hatte“ (Apg 9,31). Die Anhänger des Mannes aus Nazaret galten als Mitglieder einer der zahlreichen jüdischen Sekten jener Zeit. Sie wurden „Nazarener“ genannt (Apg 24,5). Sogar „einige aus dem Kreis der Pharisäer“ gehörten zu ihr (Apg 15,5). Insgesamt ist festzustellen, dass zumindest bis zur Zerstörung des Tempels im Jahre 70, also bis etwa 40 Jahre nach dem Tod Jesu, die hebräisch und aramäisch sprechende Jerusalemer Gemeinde der Religion ihrer Väter treu blieb, auch wenn sie in der Nachfolge Jesu einen besonderen Weg eingeschlagen hatte. Erst mit Paulus trat eine Wende ein. Dieser junge Phariäser (Phil 3,5), der aus Tarsus an der Südküste der heutigen Türkei stammte und etwa zehn Jahre jünger als Jesus war, besaß ein feines Gespür für religiöse Entwicklungstendenzen und dazu noch einen scharfen Verstand. So hatte er in der neuen Sekte der Nazarener mit ihrem unerhörten Anspruch bald eine zwar noch latente, aber in ihren Konsequenzen für das Judentum existenzbedrohende Gefahr erkannt und darum die „Anhänger des neuen Weges“ (Apg 9,2) verfolgt. Dann aber kam seine „Damaskusstunde“: „Gott offenbarte mir seinen Sohn, damit ich ihn unter den Heiden verkündige.“ Paulus sieht darin eine „Auserwählung“ (Gal 1,13–16). Nach etwa dreijähriger Vorbereitungs- und Meditationszeit in der Einsamkeit (Gal 1,17) nimmt er seine einzigartige Missionstätigkeit auf. In Kleinasien und Griechenland predigt er mit beachtlichem Erfolg die „neue Lehre“ (Apg 17,19). In den Zentren damaliger Zivilisation und Kultur gründet er eine stattliche Anzahl von Gemeinden, schreibt Briefe von hoher theologischer Dichte und verdient sich dazu noch selber seinen Lebensunterhalt als Zeltweber. Die Nazarenersekte wurde nun mehr und mehr zur ernsthaften Herausforderung für das Judentum. Einmal waren es historisch-politische Gründe, die zu Spannungen führten. Judenchristen hatten sich am Freiheitskampf gegen Rom nicht beteiligt und wurden deshalb von national-zelotischen und von national-konservativen Kreisen als

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Verräter betrachtet. Die Bevorzugung der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta, tat ein Übriges, weil für Juden die Besinnung auf die hebräische Bibel zu einem deutlichen nationalen Zeichen des rabbinischen Judentums wurde. Weiterhin führte auch die zunehmende Christologisierung zu wachsenden Differenzen: In christlichen Kreisen begann man, Jesus als „Kyrios“, als „Herr“, zu bezeichnen (das vermutlich älteste Bekenntnis lautet: Maran ata, Komm Herr [Apk 22,20]); mit „Kyrios“ wurde in der Septuaginta auch der hebräische Gottesname Jahwe umschrieben. Schließlich und endlich machte der Erfolg der Missionstätigkeit unter Juden und später auch unter Griechen und Römern aus der zunächst innerjüdischen Streitfrage, welcher religiöse Stellenwert dem Mann aus Nazaret einzuräumen sei, eine spannungsgeladene Grundsatzfrage. Zwar ließen es beide Seiten nicht zu einer formellen „Exkommunikation“ kommen, aber der Rivalitätskampf wurde mit harten Bandagen geführt. Die Schärfe des Tons ist wohl nur zu verstehen aus dem Legitimationszwang, unter dem die junge Gemeinde stand, die jetzt als „Christen“ bezeichnet wurde (Apg 11,26). Sie musste ihr Abweichlertum nach innen und außen rechtfertigen. Und sie musste obendrein noch der ihr mit wachsendem Interesse begegnenden Heidenwelt deutlich machen, worin die Unterschiede zum Judentum nun eigentlich bestehen und warum sie sich mehr und mehr vom Judentum abgelöst hatte (vgl. Mt 27,25; Joh 8,43 f.). Trotz dieser harschen Distanzierungsversuche wird nirgends in den Schriften des Neuen Testaments gesagt, dass an die Stelle des „auserwählten Volkes“ der Juden nun das auserwählte Volk der Christen getreten sei. Paulus hatte sich sogar nach den heftigen verbalen Distanzierungs-Attacken, wie sie sich in seinem frühen Schrifttum finden lassen (vgl. 1 Thess 2,14–16), in späterer Zeit wieder stärker dem Judentum zugewandt. Er hielt daran fest, dass der von Gott gepflanzte „Ölbaum Israel“ die Lebensgrundlage und die Legitimationsbasis auch für die christlichen Gemeinden bleibt. Christen sind „eingepfropfte Zweige“; sie haben keinen Grund, sich über andere Zweige und schon gar nicht über die „Wurzel“ zu erheben. Denn „nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ (Röm 11,18.). Die (christliche) Kirche ist nicht die Gründung Jesu, sondern das Werk Gottes selbst (vgl. 1 Kor 10,32; 12,28; 1 Tim 3,15). Ihre Anfänge reichen zurück bis in die Anfänge der Geschichte des Volkes Israel. Kirche ist über viele Stufen und Phasen hinweg geworden – in einem langen Prozess, in dem Jesus zweifellos eine gewichtige Rolle gespielt hat und spielt. Die christliche Kirche als Volk Gottes hat nicht das von Gott zuerst auserwählte Volk Gottes, Israel, abgelöst. Der „Alte“ Bund ist nicht aufgehoben, der „Neue“ Bund ist nur eine andere Art der Verwirklichung des einen Bundes Gottes mit den Menschen. Judentum und Christentum sind zwei Teile eines einzigen Gottesvolkes. „Die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten (vgl. Röm 11,29) Alten Bundes und dem des Neuen Bundes ist zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und dem zweiten Teil ihrer Bibel.“ 5

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2. Gemeindeleben Jene Menschen, die das Evangelium angenommen hatten und Jesus in ihrem Leben nachgefolgt waren, verstanden sich als eine Gemeinschaft, in deren Mitte der Auferweckte gegenwärtig ist: „Wenn zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, dann bin ich mitten unter ihen“ (Mt 18,20). Sie trafen sich zum Gottesdienst und nannten dieses Zusammenkommen „ekklesía“ (1 Kor 11,18; 14,4.19). Auch die Hausgemeinden, die Paulus in einigen seiner Briefe erwähnt, sehen sich als „ekklesía“ (Röm 16,5; 1 Kor 16,19; Kol 4,15; Phlm 2). Und schließlich ist „ekklesía“ auch die Gesamtgemeinde aller Christen (Eph 5,23–27). „ekklesía“ – Gemeinschaft von Menschen als Gemeinde Gottes, als „Gemeinde des Herrn (griech: kyriaké ekklesía) – ist ein unverzichtbares Merkmal christlicher Lebens- und Daseinsform. Ein Christ ist kein Christ. Die christliche Gemeinde mit ihren vielfältigen Tätigkeiten und Aufgaben stellt sich dar als eine Veranschaulichung des vielfältigen Heilswirkens Jesu: „Alles, was an Jesus sichtbar war, ist übergegangen in die Kirche“ (Leo I., † 461). Die Kirche ist „der Leib Christi“ (Eph 5,23). Damit wird ein hoher Anspruch erhoben. Die urchristlichen Gemeinden haben sich redlich Mühe gegeben, ihn einzulösen. In der Apostelgeschichte zeichnet Lukas ein (sicher kräftig geschöntes) Idealbild: „Alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem soviel, wie er nötig hatte. Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens. Sie lobten Gott und waren beim ganzen Volk beliebt. Und der Herr fügte täglich ihrer Gemeinschaft die hinzu, die gerettet werden sollten. […] Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. Mit großer Kraft legten die Apostel Zeugnis ab von der Auferstehung Jesu, des Herrn, und reiche Gnade ruhte auf ihnen allen. Es gab auch keinen unter ihnen, der Not litt“ (Apg 2,44–47; 4,32–34). Eine wichtige Voraussetzung für das innere Wachstum der Gemeinden war die Aufhebung sozialer Schranken. Die Geschichte Israels kennt einen Gott, der eindeutig Partei ergreift für die Schwachen und Unterdrückten. Auch Jesus hatte nicht auf Seiten der Mächtigen gestanden, sondern den Armen die befreiende Botschaft von der entgegenkommenden Liebe Gottes verkündet (Lk 7,22). In der Folge dieser Befreiungsbewegung sahen die jungen Gemeinden ihre Aufgabe darin, die Grenzen zwischen Arm und Reich, zwischen Herr und Knecht, zwischen Freien und Sklaven zu überwinden. Paulus glaubt, dass die bisherige Gesellschafts- und Lebensordnung durch den neuen Weg Jesu geradezu auf den Kopf gestellt ist: „Das Törichte, das Schwache, das Niedrige und das Verachtete, das, was nichts ist, hat Gott erwählt, um das, was etwas ist, zu vernichten“ (1 Kor 1,27 f.). Die Rollen sind jetzt vertauscht: „Wer im Herrn als Sklave berufen wurde, ist Freigelassener des Herrn. Ebenso ist einer, der als Freier berufen wurde, Sklave Christi“ (1 Kor 7,22). Freilich konnte das frühe Christentum angesichts seiner zahlenmäßigen Unterlegenheit und des daraus sich ergebenden Mangels an politischer und sozialer Durchsetzungsfähigkeit eine generelle Freilassung der Sklaven

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nicht zum Programm erheben. Aber es bedeutet schon eine Provokation, wenn sich zum Abendmahl Freie und Sklaven gemeinsam an einen Tisch setzen (1 Kor 11,17–22). Und Paulus legt Wert darauf, dass jedes Gemeindemitglied sich am Aufbau der Gemeinde beteiligen und sich im Leben der Gemeinde wiederfinden kann (vgl. 1 Kor 12,28). Auch im Hinblick auf die Stellung der Frau zeigt die Urgemeinde ähnliche emanzipatorische Impulse. So wie Jesus Frauen in seinem Gefolge hatte (Lk 8,2–3; Mk 15,40 f.), waren am Aufbau der Gemeinden Frauen in vielfältiger Weise beteiligt. Die christliche Gemeinde versteht sich als eine Gemeinde von Schwestern und Brüdern. Weil Jesus der „Erstgeborene unter vielen Brüdern“ war (Röm 8,29), müssen alle, die sich auf seinen Namen berufen und in seiner Nachfolge leben, wie Brüder und Schwestern leben. „Bruder“ ist in der Apostelgeschichte, in den apostolischen Briefen und in der Offenbarung des Johannes die gängige Bezeichnung für die Christen untereinander. „Bruder“ ist eine Anrede, die verpflichtet (vgl. Phlm 16) und die auch von Außenstehenden respektiert wird (vgl. Apg 2,47). Nicht Väterlichkeit und Mütterlichkeit sind Leitbild der Autorität und des Zusammenlebens, sondern Brüderlichkeit – oder – richtiger und besser – Geschwisterlichkeit. Nun muss man sich nach neueren Forschungen allerdings davor hüten, das Bild der urchristlichen Gemeinden allzu ideal zu zeichnen. Angehörige der Oberschicht fanden nur selten Zugang zu den Gemeinden. Ein Drittel (oder mehr) der Gemeinde von Korinth dürfte gegen Ende des ersten Jahrhunderts Sklaven gewesen sein. Paulus selber muss einräumen, dass „nicht viele“ Weise, Mächtige, Edle in den Gemeinden anzutreffen seien (1 Kor 1,26). Wenn es aber der Fall war, hatten sie meist auch Führungsrollen inne. Gerd Theißen charakterisiert die Struktur der paulinischen und nachpaulinischen Gemeinden als „Liebespatriarchalismus“. 6 Vom Verständnis des Urchristentums als einer revolutionären sozialen Bewegung unterer Schichten hat man jedenfalls selbst in Kreisen marxistischer Historiker längst weitgehend Abschied genommen. 7 Es konnte nicht ausbleiben, dass in einer so geschichteten Gemeinde Spannungen auftraten. Da gab es Parteiungen, unter denen „Zank und Streit“ herrschten (1 Kor 1,10–16). Da gab es Leute, die sich schon in den Himmel versetzt fühlten (1 Kor 8,9– 13; 12,1–3), und andere, die vor heidnischen Richtern gegeneinander Prozesse führten, anstatt die strittige Angelegenheit im Geiste Jesu unter vier Augen zu regeln (1 Kor 6,15–20; Mt 18,15–18). Da gab es welche, die sich Christen nannten und dennoch Umgang hatten mit Prostituierten (1 Kor 6,15–20). Ein Gemeindemitglied hatte sogar mit seiner Stiefmutter sexuelle Beziehungen (1 Kor 5,1–5). Vielleicht waren es vor allem Angehörige der sogenannten „Unterschicht“, die der Versuchung erlagen, ihre neu gewonnene Freiheit zu missbrauchen. Sie begannen „aufzuleben“. Was Wunder, wenn dieses neue Leben überschäumte? Teile der „Oberschicht“ hingegen empfanden eine so praktizierte „klassenlose Gesellschaft“ und die daraus resultierenden Folgeerscheinungen als störend und reagierten mit Verunsicherung oder Abkapselung (1 Kor 11,20–21.30–33). Paulus muss eingreifen. Er tut es mit „Hirtenbriefen“. Aber nicht „von oben herab“ dekretierend, sondern argumentierend. Er macht Zugeständnisse (1 Kor 7,6), trägt fast schüchtern eigene Wünsche vor (1 Kor 7,7) und wartet nur

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dort mit dem Befehlston auf, wo es um Gebote des Herrn geht (1 Kor 7,10–11). Dabei pocht er auf keine wie immer geartete „Amtsautorität“, sondern allein auf die Autorität eines (geistlichen) Vaters (1 Kor 4,15). Er will Vorbild für die Gemeinde sein, nicht Herrscher über sie (1 Kor 4,16).

3. Von Kulthandlungen wollte die Urkirche nichts wissen Jesus hat die Menschen seiner Zeit in seinem Reden und Tun auf vielfache Weise die Nähe Gottes erfahren lassen. Er hat ihnen etwas mitgeteilt von der nachgehenden und allumfassenden Liebe des Vaters. Doch seine heilbringenden Worte und Taten unterlagen einer natürlichen, situations- und zeitbedingten Begrenztheit. Sein Handeln war gebunden an die Vorgaben menschlicher Beschränktheit. Der Tod am Kreuz setzte seinem irdischen Wirken ein jähes Ende. Die nachösterlichen Gemeinden wussten sich seinem Beispiel verpflichtet. Sie wollten die Heilszeichen der Nähe Gottes, wie sie Jesus gegeben hatte, in ihrem eigenen Handeln fortsetzen. Doch Jesus hatte keine Anweisungen gegeben, wie sein zeichenhaftes Heilshandeln nach seinem Tod von seinen Jüngerinnen und Jüngern fortzusetzen und weiterzutragen sei. Er hatte keine Worte oder Gesten dafür vorgeschrieben oder „eingesetzt“. Die Gemeinde musste selbst nach symbolischen Handlungen suchen, in denen sie die durch Jesus gesetzten historisch und räumlich bedingten Zeichen der Nähe Gottes allen Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten weiter vermitteln konnte. Zunächst bot sich dafür ein Rückgriff auf die jüdische Kulttradition und Kultterminologie an. Als frommer und gläubiger Jude hatte Jesus diese Riten selbst praktiziert. Aber ebenso hatte er eine gewisse Distanz zu ihnen erkennen lassen. Wenn er die Synagoge oder den Tempel aufsuchte, so tat er das in erster Linie, um dort zu predigen. Das Sabbatgebot und die Reinheitsvorschriften interpretierte er sehr eigenmächtig und relativierte damit ihre kultische Bedeutung und Verpflichtung. In seinen Mahlfeiern wurde konkret sichtbar, „was sein Verhalten gegenüber den gottesdienstlichen Ordnungen des Judentums bedeutet: Hier sind alle rituellen Vorschriften souverän beiseite geschoben, und jegliche Grenze zwischen einem sakralen und profanen Bereich wird niedergerissen. Diese Mahlgemeinschaften spielen sich mitten im Alltag der Menschen ab, und vom gottesdienstlichen Geschehen ist keiner mehr ausgeschlossen“ 8. Oder positiv im Hinblick auf den Menschen gewendet: „Der Mensch soll die Hilfe finden können, deren er bedarf; kein rituell gemeinter ‚Gottesdienst‘ soll das verhindern dürfen“ 9. Eine deutliche Anknüpfung oder gar eine völlige Übernahme jüdischer Kulttraditionen hätte diese von Jesus eingebrachte neue Sicht des Kultischen wieder rückgängig gemacht und gleichzeitig die Gefahr heraufbeschworen, dass Außenstehende die christlichen Gemeinden als eine Art jüdischer Sekte eingestuft hätten. Dazu gab das Verhalten vor allem der aramäisch sprechenden jüdischen (und damit beschnittenen) Mitglieder der Jerusalemer Christengemeinde ohnehin Anlass. Denn sie nahmen zusammen mit den Juden, die sich Jesus nicht angeschlossen hatten, regelmäßig am

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Tempelgottesdienst teil und trafen sich als eigene Gruppe nur zur Feier des Abendmahls, zum „Brotbrechen“, in ihren Häusern (vgl. Apg 2,46). Für die junge Gemeinde erwuchsen daraus schon bald erhebliche Spannungen. Denn die aus dem Heidentum kommenden (und damit unbeschnittenen), meist griechisch sprechenden Gemeindeglieder durften am Tempelgottesdienst nicht teilnehmen und kamen also (wenn überhaupt, vgl. Apg 6,1) mit den judenchristlichen Gemeindegliedern nur zum Brotbrechen zusammen. Wie nicht anders zu erwarten, spitzten sich die Probleme sehr bald noch weiter zu bei der unvermeidlichen Frage, ob jene, die aus dem Heidentum kommen und in die Nachfolge Jesu eintreten möchten, zusätzlich zum Empfang der Taufe auch noch nach jüdischem Ritus beschnitten und damit gleichzeitig in die jüdische Gemeinde aufgenommen werden sollen. Zwischen den Befürwortern einer Beibehaltung der Beschneidung – an der Spitze der Herrenbruder Jakobus – und denen, die sich von dieser Tradition lösen wollten – mit Paulus als ihrem Wortführer –, entstand ein heftiger Konflikt, der zum sogenannten Apostelkonvent führte und dort, wenn man der Apostelgeschichte glauben darf, auch gelöst wurde (vgl. Apg 15,1–35). Grundsätzlich wurde beschlossen, „den Heiden, die sich zu Gott bekehren, keine weiteren Lasten aufzubürden“ (Apg 15,19.29; 21,25). Weniger Schwierigkeiten bereitete die Übernahme des Vorbilds jüdischer Leitungsstrukturen in den Gemeinden. Hier behielt man – zunächst wenigstens und in vorwiegend judenchristlichen Gemeinden – die Institution der „Ältesten“ bei (vgl. Apg 11,30; 15,2.4.6 u. a.). Die Ältesten hatten im Judentum in der Zeit Jesu das Recht, Mitglieder in die Kult-Gemeinde aufzunehmen oder aus ihr auszuschließen (Lk 6,22; Joh 9,22; 12,42; 16,1). Ob auch Paulus diese Praxis in seinen Gemeindegründungen übernommen hat, ist fraglich. Die Apostelgeschichte berichtet zwar davon (vgl. Apg 14,23; 20,17); Paulus selbst aber erwähnt in seinen Briefen die Ältesten nicht. Er hat sich offenbar, situationsbedingt, eher am profanen griechischen Vorbild der Gemeindeleitung durch „Aufseher“ (Episkopen) orientiert (vgl. Phil 1,1). Neue Probleme ergaben sich mit dem Eintrittt des Christentums in die griechische Welt. Denn da musste Rücksicht genommen werden auf die dort herrschenden Denkund Handlungsgewohnheiten. Im hellenistischen Raum waren Mysterienkulte weit verbreitet. In ihnen wurde den „Eingeweihten“ das Geschick eines Gottes oder einer mit der Gottheit in besonderer Verbindung stehenden gottmenschlichen Person gegenwärtig gesetzt und ihnen so daran Anteil gegeben. Die am Kult Teilnehmenden wurden auf diese Weise eingeführt in unverlierbares Leben. Kernpunkt aller Mysterien bildete das Einswerden mit dem Göttlichen. Die christlichen Gemeinden konnten diese Kulte nicht ignorieren; dafür waren sie zu stark verbreitet. Die Kulthandlungen der Mysterien konnten aber auch nicht einfach übernommen und nur mit neuen Inhalten und Zielsetzungen versehen werden. Allenfalls bestimmte Elemente und Begriffe ließen sich adaptieren. Aber auch damit setzte man sich Missverständnissen und Missdeutungen aus. Die urkirchliche Gemeinde stand also vor einem Dilemma. Einerseits konnte sie das kult-distanzierte Verhalten Jesu nicht außer Acht lassen. Das Hinzukommen „Unbeschnittener“ nötigte sie, sich in zunehmendem Maße von der jüdischen Tradition und Kultpraxis zu lösen. Andererseits war sie praktisch gezwungen, in irgendeiner

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Weise eine kultische Repräsentation des Jesus-Geschehens vorzunehmen und damit eigene Wege gottesdienstlichen Handelns zu gehen. Denn in dem Maße, in dem aus dem verkündigenden Jesus der verkündigte Christus wurde, konnten auch seine Heilstaten nicht mehr nur einfach hinweisend weitererzählt und zur individuellen Nachahmung empfohlen werden. Sie mussten vielmehr selbst zu wirksamen, aus sich heraus heilbringenden Handlungen um- bzw. neugestaltet werden. Sie mussten auf das weisen, was Jesus durch sein deutendes Wort und sein illustrierendes Handeln angezeigt hatte. Die Begegnung mit dem leibhaftig Auferweckten konnte nicht nur im „leiblosen“ erinnernden Wort geschehen, sondern musste selbst in irgendeiner Weise „verleiblicht“ werden. Die Natur des Menschen und die Eigenart der Gottesoffenbarung in Jesus und durch Jesus riefen nach dem Sinnenhaften. Die jungen christlichen Gemeinden mussten damit kultisches Neuland betreten. 10  Dabei wussten sie sich der Botschaft und dem Wirken des historischen Jesus verpflichtet.  Es galt aber auch, die Erfahrung seiner Auferweckung und seiner neuen Gegenwart in den Gottesdienst mit einzubringen.  Und schließlich sollten sich auch Ausgießung und Wirken des Gottesgeistes in gottesdienstlichen Handlungen widerspiegeln. Diese drei Perspektiven in der rechten Weise auszubalancieren bedeutete eine nicht leicht zu lösende Aufgabe. Nur zögernd entwickelten sich daher Ansätze einer Praxis, das Heilshandeln Jesu wirksam abzubilden und zeichenhaft-konkret „sakramental“ erfahrbar zu machen. a) Taufe

Als grundlegender Ritus für die Aufnahme in die Christengemeinde („Initiationsritus“) gilt für die Urkirche die Taufe. Und das, obwohl Jesus selbst nicht getauft hat (Joh 4,2). Der sogenannte „Taufbefehl“ im Matthäusevangelium (Mt 28,19: „Geht zu allen Völkern, und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“) ist der Versuch, diese Praxis nachträglich mit einem eigenen Auftragswort des Auferweckten zu legitimieren. Denn die synoptischen Evangelien erwähnen weder, dass Jesus selbst getauft habe, noch wissen sie zu berichten, dass seine Jünger es getan hätten. Die Zwölf, die Jesus zuerst aussendet (vgl. Mk 6,7–13), und die (zweiundsiebzig) Jüngerinnen und Jünger (vgl. Lk 10,1–16) erhalten nur den Auftrag, die Menschen zur Umkehr aufzurufen, ihnen das Reich Gottes zu verkünden und sie zu heilen. Vermutlich haben die Johannestaufe am Jordan und die Tatsache, dass Jesus selbst sich von dem Bußprediger hatte taufen lassen, für die junge christliche Gemeinde den Anlass geboten, auf diese Symbolhandlung zurückzugreifen – als sichtbares und auch für Außenstehende erkennbares Zeichen der Bereitschaft, sich der Botschaft und dem Heilshandeln Jesu anzuschließen. Die nachösterlichen Gemeinden brauchten nur das Bußzeichen des Johannes mit der neuen Wirklichkeit der in Jesus erfahrenen Nähe Gottes und dem neuen Denken, das Jesus gebracht hatte, zu erfüllen (vgl. Röm 6,3; 1 Kor 12,13). Die Taufe wurde in „lebendigem“ (= fließendem) Wasser oder durch dreimaliges

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Übergießen von Wasser auf den Kopf „im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes“ gespendet (vgl. Did 7,1–3). Die dreigliedrige Taufformel ist nach dem Zeugnis der Didaché (entstanden um 100 n. Chr.) offenbar zuerst in der syrischen Kirche praktiziert worden. Die älteste Taufformel lautete nur „auf den Namen Jesu Christi“ (vgl. 1 Kor 1,13; Gal 3,27; Apg 2,38). Das Neue Testament spricht weder direkt noch indirekt von einer Kindertaufe. Die Urkirche sah den Taufakt vielmehr eingeordnet in den Glaubensvollzug der christlichen Gemeinde. Die Kinder waren „heilig“ durch den Glauben ihrer Mutter oder ihres Vaters (1 Kor 7,14). „Ob man sich gelegentlich dazu entschloss, Kinder auf den Glauben ihrer Familien hin zu taufen, lässt sich wohl fragen, aber vom Neuen Testament her nicht klar beantworten. Man sollte indes die Möglichkeit nicht ganz ausschließen“11. Am Anfang des dritten Jahrhunderts ist allerdings die Säuglingstaufe mehrfach bezeugt. Rasche Verbreitung fand sie im 4. Jahrhundert, als mit Kaiser Konstantin († 337) das Christentum toleriert und später sogar Staatsreligion wurde. Die Taufe brachte nun erhebliche gesellschaftliche und berufliche Vorteile. Im fünften Jahrhundert ist sie allgemein eingeführt. Augustinus († 430) setzte sich aufgrund seiner Erbsündenlehre energisch für sie ein. Sie besagt, dass es eine Sünde gäbe, die jedem Menschen bei seinem Eintritt in die Welt wie ein Erbgut übereignet werde und die ihn bereits als Schuld belaste, bevor er persönlich gesündigt habe. Die Taufe tilge diese Sünde; sie müsse daher so frühzeitig wie möglich gespendet werden, um im Falle eines frühen Todes das Kind vor den Qualen der Hölle zu bewahren. Augustinus hatte einen guten Verbündeten in Papst Innozenz I. († 417), der die Meinung vertrat, es sei ein „ganz töricht“ zu sagen, „dass die kleinen Kinder auch ohne die Gnade der Taufe mit dem Lohn des ewigen Lebens beschenkt werden könnten“12. Fast 200 Jahre später ordnet Papst Gregor I. († 604) für die römische Kirche an, dass beim geringsten Verdacht auf Todesgefahr die Neugeborenen sofort zu taufen seien, damit sie des ewigen Heils nicht verlustig gehen. 13 b) Herrenmahl

Von Anfang an spielte im Leben der Gemeinde das gemeinsame (Abend-)Mahl, das „Herrenmahl“, eine herausragende Rolle. Für die nachösterliche Gemeinde bekam es seinen festen Platz zwischen dem Tod Jesu einerseits und seiner erwarteten Wiederkunft andererseits. Es wurde verstanden als Weiterführung der Tischgemeinschaft mit dem historischen, irdischen Jesus, – als das bleibende Zeichen der von Jesus verkündigten Heilsherrschaft Gottes und ihrer anbrechenden Gegenwart in der Welt. Gleichzeitig bedeutete es „eine der stärksten Klammern, welche die verschiedenen christlichen Gemeinden aneinander band und sie zugleich mit ihrem Herrn, dem auferstandenen Jesus Christus, verband“ 14 Im Brechen und Teilen des Brotes und im Becher-Ritus des Weines hatte Jesus zwei Grundelemente des Mahles herausgegriffen: Gemeinschaft miteinander und Gemeinschaft füreinander. Das aus seinem Mund überlieferte Deutewort über das Brot beim Letzten Abendmahl („Das ist mein Leib“: Mk 14,22 parr.) ist nicht nur auf das Brot allein, sondern auf den gesamten Vorgang des Brotsegens, des Brechens und Verteilens

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zu beziehen. Das Brot als Zeichen der Gemeinschaft mit Jesus tritt symbolisch an die Stelle Jesu, der mit seinen Freunden am Anbruch des Gottesreiches gewirkt hatte und für seine Freunde in den Tod gegangen war. Der Gedanke eines stellvertretenden Sühnetodes „für die vielen“ (Mk 14,24; Mt 26,28), wie er häufig als theologische Deutung des Todes Jesu genannt wird, ist kein Element, das man isoliert und als magisches Geschehen von mysteriöser Bedeutung betrachten darf. Vielmehr gewinnt es seinen Sinn aus der konkreten Situation Jesu heraus, der für das Kommen der Gottesreiches gelebt und gewirkt hat und der dafür auch gestorben ist. Darum vermied die junge Kirche bei der Feier des Herrenmahles geradezu peinlich jede Begrifflichkeit, die an heidnische Opfermähler hätte erinnern können. In den judenchristlichen Gemeinden wurden allenfalls Bezüge zur Liturgie des jüdischen Paschamahles hergestellt. „Aus dem terminologischen Befund geht nicht nur hervor, dass jedes kultische Verständnis des christlichen Gottesdienstes ausgeschlossen wird, sondern auch, dass es keine prinzipielle Grenze mehr gibt zwischen der gottesdienstlichen Zusammenkunft und dem Dienst der Christen in der Welt. Hierin wirkt Jesu Überschreiten der Grenze zwischen Heilig und Profan spürbar nach“ 15. Neuere Forschungen haben eine auffällige Analogie zwischen einem antiken Gastmahl, einem „Symposion“, und den (heidnischen) Kult- und Stiftungsmählern (in den religiösen Vereinen zur Ehren einer orientalischen Mysteriengottheit etwa) einerseits und dem eucharistischen Mahl in Korinth andererseits aufgewiesen: 16 Symposion / Kult- u. Stiftungsmahl

Christliche Gemeindeversammlung

1. Gastmahl (gegen Abend) 2. Trankspende mit purem Wein für die Götter oder für die Stifter 3. Trinkgelage mit Gesprächen

Sättigungsmahl (1 Kor 11,20–22) (gegen Abend) Eucharistische Doppelhandlung (1 Kor 10,16 f.) mit Brot und Wein im Rückgriff auf den Stiftungsauftrag Jesu (1 Kor 11,23–26) Wortgottesdienst (1 Kor 14,1–40) mit Psalmen etc.

Die Gemeinde traf sich zum Gottesdienst in Privathäusern (vgl. 1 Kor 16,19; Phlm 2). „Zusammenkommen“ oder „sich versammeln“ nannte man das (vgl. 1 Kor 11,17.18.20.33 f.; 14,23.26 u. a.). Im Gedenken an das letzte Mahl Jesu mit seinen Freunden hieß das Mahl schlicht „Brotbrechen“ (Lk 24,35; Apg 2,42). In frühchristlicher Zeit handelte es sich dabei „um ein wirkliches Essen und Trinken, dem auch, und zwar wesentlich, das Ziel der Sättigung innewohnte“ 17. Eine strenge Trennung zwischen profanem Essen und Trinken und dem eucharistischen Mahl gab es nicht. Dass es dabei offenbar zu regelrechten Gelagen kam, bezeugt der Erste Brief an die Gemeinde von Korinth: „Was ihr bei euren Zusammenkünften tut, ist keine Feier des Herrenmahles mehr, denn jeder verzehrt sogleich seine eigenen Speisen, und dann hungert der eine, während der andere schon betrunken ist“ (1 Kor 11,20 f.). Die Mahlfeier geschah zum „Gedächtnis“ an den Kreuzestod Jesu (1 Kor 11,24.25;

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Lk 22,19). Dabei ging es nicht um ein frommes Erinnerungsmahl und schon gar nicht um ein „Totengedächtnismahl“. Gedächtnis bedeutet hier – im Rückgriff auf das Alttestamentliche Verständnis von „gedenken“ – die Besinnung auf die Ursprünge, die die Gemeinde zu diesem Tun veranlassen und die sie immer wieder dazu herausfordern, dem Beispiel Jesu nachzueifern, sein Handeln als Maßstab und Richtschnur für das eigene Handeln zu übernehmen. Von einem eigens für die Leitung dieses Mahles „geweihten“ Priester wissen die zweittestamentlichen Schriften nichts; denn es stand beim Herrenmahl der Gedanke im Vordergrund, dass der auferweckte Jesus Christus selbst der eigentliche Leiter und Gastgeber dieser Feier ist (vgl. Lk 24,28–35). Durch den ausschließlichen Bezug auf das Abschiedsmahl Jesu mit seinen engsten Vertrauten (Mk 14,14 parr.) und die daraus offenbar (unbewusst?) abgeleitete Ausblendung des ursprünglich völlig offenen Charakters der Mähler Jesu „mit Zöllnern und Sündern“ (Mk 2,15) entwickelte sich zunehmend eine Begrenzung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die schließlich zur Exklusivität führte und dem Herrenmahl den Charakter einer nur noch für „Eingeweihte“, für Getaufte, zugänglichen Feier verlieh. Bereits die Didaché (zwischen 120 und 160) nennt als entscheidende Zulassungsvoraussetzung die Taufe. Gewiss mögen auch Sachzwänge dabei eine Rolle gespielt haben. Die wachsende Zahl der Gemeindeglieder machte es unmöglich, in den bis dahin zur Verfügung stehenden relativ kleinen Räumen der Privathäuser das Herrenmahl „für die vielen“ (Mk 14,24) zu feiern. c)

Versöhnung

Auch eine andere Frage bereitete den jungen Gemeinden zunehmend Probleme: Sollen jene weiterhin am Herrenmahl teilnehmen dürfen, die massive Schuld auf sich geladen haben (meist werden hierbei Mord, Ehebruch und Abfall vom Glauben genannt)? Davon war die gesamte Gemeinde betroffen. Denn die sittliche Ausstrahlung auf NichtChristen und die missionarisch-werbende Kraft des Christseins erschienen dadurch beeinträchtigt. Die ganze Gemeinde musste sich daher bemühen, den angerichteten Schaden zu beheben oder nach Kräften wiedergutzumachen. Paulus gibt den galatischen Gemeinden dazu den Rat: „Wenn einer sich zu einer Verfehlung hinreißen lässt, so sollt ihr, die ihr euch vom Geist leiten lasst, ihn im Geist der Sanftmut wieder auf den rechten Weg bringen. Doch gib acht, dass du nicht selbst versucht wirst. Einer trage des anderen Last; auf diese Weise erfüllt ihr das Gesetz Christi“ (Gal 6,1–2). Für die konkrete Regelung des Falls empfiehlt das Matthäusevangelium ein schrittweises Vorgehen: Einzelgespräch unter vier Augen – Gespräch vor Zeugen – Verhandlung vor der ganzen Gemeindeversammlung. Im Bewusstsein, dass der erhöhte Herr in seiner Gemeinde gegenwärtig ist, wird das endgültige Urteil der Gemeinde – Ausschluss oder Versöhnung – als Urteil des Erhöhten selbst betrachtet: „Was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein“ (Mt 18,15–18).

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d) Leitungsdienst

Für die Struktur des Leitungsdienstes standen den ersten christlichen Gemeinden zwei Modelle zur Auswahl.  Die Jerusalemer Gemeinde orientierte sich an einer Presbyterial-Verfassung, bei der einem Gremium angesehener Laien (griech. présbyter = Älteste, hiervon das deutsche Lehnwort „Priester“) die Führungsrolle zukam (vgl. Apg 11,30; 15,3). Petrus spielte hierbei offenbar eine Sonderrolle. Er übernahm die Leitung der Gemeinde. 18 Ihm folgte jedoch bald der Herrenbruder Jakobus.  Die stärker „heidenchristlich“ gesprägten Gemeinden im griechischen Raum nahmen sich die gängige profane Verwaltungsorganisation zum Vorbild, an deren Spitze ein „epískopos“ (wörtlich: „Aufseher“, Bezeichnung für einen – meist kommunalen – Aufsichts- oder Verwaltungsbeamten) stand 19 (vgl. erstmals Phil 1,1; zur Aufgabe eines „Bischofs“: Apg 20,17–36). Teilweise umging man eine Bezeichnung überhaupt; so spricht Paulus von jenen, „die unter euch arbeiten, die euch leiten und ermahnen“ (1 Thess 5,12). Beide Modelle vermischten und durchdrangen sich im Laufe der Zeit. Die Entwicklung von einer kollegialen zu einer eher monarchischen Leitungsstruktur setzte schon im 2. nachchristlichen Jahrhundert ein. Sie wurde begünstigt durch beginnende Anfeindungen und Verfolgungen und den daraus resultierenden Zwang, einen verantwortlichen Sprecher und Repräsentanten der Gemeinde zu besitzen, der schnelles Handeln und kompetente Information garantiert. Darüber hinaus mag sich die Einsicht durchgesetzt haben, „dass eine Gemeinde ohne eine gute, nüchtern-pastorale Institutionalisierung ihrer Ämter […] die Gefahr in sich trägt, die Apostolizität und damit letztlich die Christlichkeit ihres Ursprungs, ihrer Inspiration und Orientierung, letztlich ihre eigene Identität endgültig zu verlieren“ 20. Nirgends aber wird für einen Gemeindeleiter oder eine Gemeindeleiterin jene Bezeichnung gewählt, die im griechischen Sprachraum für ein sakrales Amtspriestertum vorbehalten war: hiereús (davon abgeleitet: Hierarchie, wörtlich: heilige Herrschaft, Herrschaft sakralen Amtspriestertums). Eine mögliche Fehlinterpretation des Leitungsdienstes im Sinne einer kultischen Mittlerfunktion zwischen Gott (Christus) und Gemeinde sollte dadurch vermieden werden. 21 e)

Petrus – der erste Papst?

In der ältesten Jesusüberlieferung, der Quelle Q („Logienschrift“), wird Petrus überhaupt nicht erwähnt. Im Markusevangelium erscheint er zwar als Sprecher der Zwölf (Mk 1,36; 10,28; 11,21). Aber diese Texte sind redaktionelle Zusätze des Evangelisten, die wohl nur so viel als historischen Kern haben, dass die Einführung des Petrus in diese Rolle bereits im Stadium der mündlichen Überlieferung erfolgt sein kann. An anderen Stellen tritt Petrus zusammen mit Jakobus und Johannes bei besonders wichtigen Offenbarungsszenen auf (Mk 5,37; 14,33). Er darf auch als Hauptinitiator der nachösterlichen Sammlungsbewegung der Jesusjünger gelten. Insofern kam ihm zumindest ab dieser Zeit eine führende Rolle zu (vgl. Gal 1,18). Diese ist aber höchstwahrscheinlich nicht auf eine Berufung durch Jesus zurück-

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zuführen. Die dafür gern herangezogene „Primatsstelle“ im Matthäusevangelium (Mt 16,16–19: „Du bist Petrus, der Fels, und auf diesem Felsen will ich meine Kirche bauen“) hat als „sekundäre Bearbeitung des Markusberichts“ (Mk 8,27–30) zu gelten; sie stellt in ihrem vorliegenden Wortlaut „höchstwahrscheinlich eine wohlbegründete katechetische Anwendung überlieferter Jesusworte dar und ist als solche erst im Zusammenhang mit der Umarbeitung des inadäquaten Caesareabekenntnisses der Überlieferung (Markus) in das vollgültige Christusbekenntnis von Mt 16 geprägt worden“ 22. Von den Exegeten wird heute mehrheitlich die Ansicht vertreten, dass Simon den Ehrennamen Kepha (= aram. Fels, Stein. Davon abgeleitet griech.: petros und lat.: petrus = sinngemäß „Felsenmann.“) nicht schon von Jesus erhalten hat, wie Mt 16,18 vermuten lässt. „Kepha“ galt in der nachösterlichen Jesusbewegung zunächst wohl als „Sachbezeichnung“ und Ehrenname, der die Bedeutung des Kepha/Petrus hervorheben sollte: Ihm war (zumindest nach Joh 20,1–10; anders bei Mk 16,1–8 parr.) die erste Erscheinung des Auferweckten zuteil geworden. Anton Vögtle, der die Hypothese eines nachösterlichen, auf der Ersterscheinung vor Simon basierenden Aufkommens der Kepha-Bezeichnung vertritt, sieht sich damit „unleugbar geringeren Schwierigkeiten gegenüber als die Hypothese der jesuanischen Herkunft, obwohl bis heute noch nicht sicher geklärt werden konnte, wie es genau zur Bezeichnung Simons als Kepha kam“. Vögtle betont aber, dass das „vorpaulinische Alter des Kepha-Namens (vgl. 1 Kor 15,5) nicht zu bezweifeln ist“ 23. Doch auch in Mt 16,18 ist die Rolle des Petrus („Fundament der Kirche“) kaum als übertragbar gedacht. Von einer Petus-Nachfolge weiß der Evangelist nichts. Übertragbar ist lediglich die Vollmacht der Gemeinde, zu „binden und zu lösen“ (Mt18,18), die auf bestimmte Funktionsträger innerhalb der Gemeinden übertragen werden kann (vgl. Mt 18,18 und 16,19). „Wir haben es hier also weitgehend nicht mehr mit einem ‚historischen‘, sondern mit einem ‚typologischen‘ oder ‚symbolischen‘ Petrus zu tun, mit einem bestimmten Petrus-Bild“ 24. Dieser „symbolische Petrus“ spricht auch in den Reden der Apostelgeschichte, die samt und sonders lukanische Komposition darstellen. 25 Auch die Gründung der römischen Christengemeinde geht nicht auf Petrus zurück, weil schon um 50 n. Chr. dort eine größere (judenchristliche) Gemeinde bestand (vgl. die lange Grußliste in Röm 16,1–15). Petrus war auch nicht der „erste Bischof“ von Rom, denn Rom kennt am Anfang des zweiten Jahrhunderts noch keinen monarchischen Bischof, sondern eine „Presbyterial-Verfassung“; anderenfalls würde wohl Ignatius von Antiochien in seinem ca. 160 n. Chr. verfassten Brief an die römische Gemeinde nicht so eindringlich und ausführlich die Vorzüge einer monarchischen Kirchenstruktur herausstreichen. Es bleibt die Frage, wie aus dem „historischen“ der „symbolische“ Petrus geworden ist. Hier lassen sich nur Vermutungen anstellen. Seine anerkannte Sprecher- und Führungsfunktion des Kollegiums der Zwölf könnte bei der soziologisch-historisch bedingten Herausbildung und allmählichen Monopolisierung des monarchischen Episkopats maßgebend gewesen sein. Die politische Bedeutung Roms mag dazu noch obendrein beigetragen haben, obwohl ein ausdrücklicher Primatsanspruch des Bischofs von Rom in den ersten drei Jahrhunderten nicht festzustellen ist 26. Noch Papst

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Gregor der Große (um 540–604) fühlte sich nicht als Bischof der universalen Kirche, sondern als Bischof von Rom. In dieser Funktion und als dessen legitimer Nachfolger sah er sich für die Gesamtkirche mitverantwortlich. „Von einer mystischen Identifizierung mit dem himmlischen Petrus finden wir bei Gregor keine Spur“ 27. Letztlich entscheidend für das Entstehen des römisch-katholischen Papsttums war wohl das Schwinden der politischen Macht der römischen Caesaren ab dem 4. Jahrhundert. Parallel dazu stieg die Macht des römischen Bischofs. Das Papsttum erscheint so als „Erbe römisch-imperialistischer Macht“ 28. f)

Diakonie

Die urchristlichen Gemeinden begnügten sich nicht mit einer Vermittlung geistig-seelischen Heils. Sie entwickelten auch eine umfassende caritative Tätigkeit, die nach Ansicht mancher Gemeindemitglieder sogar etwas zu intensiv praktiziert wurde: „Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und uns dem Dienst an den Tischen widmen“ (vgl. Apg 6,2). Einige Exegeten glauben, in diesem Tun die „gemeinsamen sakralen Mahlzeiten der Urgemeinde“ sehen zu dürfen 29. Falls man dieser These zustimmt, könnte sich der deswegen in der Gemeinde entstandene Konflikt so erklären lassen, wie es die Theologin E. Schüssler – Fiorenza tut. Sie vertritt die etwas gewagte Ansicht, „dass der Konflikt Apg 6,1 ff. mit der aktiven Teilnahme hellenistischer Judenchristinnen an der Eucharistiefeier zusammenhängt“ 30. Die Apostelgeschichte weiß zu berichten, dass zur Lösung des Konflikts sieben Männer gewählt wurden, die nun den „Dienst an den Tischen“ übernehmen sollten, damit „den Zwölf“ ausreichend Zeit für die Verkündigung des Gotteswortes verbleibt (vgl. Apg 6,1–7; Num 27,15–23. Diese sieben Männer (auffälligerweise alle mit griechischen Namen!) bildeten nach einhelliger Meinung der Exegeten die Führungsgruppe des hellenistischen Teils der Jerusalemer Gemeinde. Die Siebenzahl dürfte authentisch sein, denn sie hat eine Entsprechung in der Gepflogenheit, dass sieben Mitglieder, die „Sieben“, den Ortsvorstand jüdischer Gemeinden in einer Stadt bildeten. Lukas stellt ihre Wahl freilich so dar, dass sie zu einer Art Ämterteilung führt: Die „Sieben“ werden vornehmlich ausgewählt zum „Dienst an den Tischen“, während die Zwölf „beim Gebet und beim Dienst am Wort bleiben“. Damit wird eine Aufspaltung des einen einzigen Heilsdienstes in einen (höheren) „Dienst am Wort“ und einen (niederen) „Dienst an den Tischen“ vollzogen. Die Wirkungsgeschichte dieser Zweiteilung hatte innerkirchlich schwerwiegende Folgen im Hinblick auf die unterschiedliche Wertung von „Seel“-Sorge und „Leib“-Sorge, die letztlich mit zu der kirchlichen Zweiklassengesellschaft von Klerikern und „Laien“ führte. Für Paulus ist es ein Herzensanliegen, die Gemeinde der Christen in Jerusalem durch reichliche Spenden materiell zu unterstützen. Ob eine besondere akute Notlage den Ausschlag zu einer in allen seinen Gemeinden durchgeführten Kollekte gab, ist unbekannt (Röm 15,16; 1 Kor 16,1–4; 2 Kor 8,1–24). Wahrscheinlich sollte sie in erster Linie eine Dankesgabe in der Form „irdischer Güter“ für jene Gemeinde sein, an deren „geistlichen Gütern“ die neuen Gemeinden Anteil erhalten hatten (Röm 15,27). Sehr ausführlich plädiert der um 100 n. Chr. verfasste Jakobusbrief dafür, die „Wer-

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ke“ nicht zugunsten des „Glaubens“ hintanzusetzen: „Wenn in eure Versammlung ein Mann mit goldenen Ringen und prächtiger Kleidung kommt, und sogleich kommt ein Armer in schmutziger Kleidung, und ihr blickt auf den Mann in der prächtigen Kleidung und sagt: Setz dich hier auf den guten Platz! und zu dem Armen sagt ihr: Du kannst dort stehen! oder: Setz dich zu meinen Füßen! – macht ihr dann nicht untereinander Unterschiede und fällt Urteile aufgrund verwerflicher Überlegungen?“ (Jak 2,2–4). Christliches Handeln soll frei sein vom Ansehen der Person. Es verlangt unbedingte Solidarität mit Witwen und Waisen (Jak 1,27), mit Armen und Unterprivilegierten. „Was nützt es, wenn einer sagt, er habe Glauben, aber es fehlen die Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten? Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung ist und ohne das tägliche Brot und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch!, ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen – was nützt das? So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat. Nun könnte einer sagen: Du hast Glauben, und ich kann Werke vorweisen; zeig mir deinen Glauben ohne die Werke, und ich zeige dir meinen Glauben aufgrund der Werke“ (Jak 2,14–18). Glaube und Leben dürfen nicht auseinanderklaffen. Gottesdienst und sozial-caritatives Handeln gehören zusammen.

VIII. Ein Gott in drei Personen? 1.

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a) Die „christologische Karriere“ des Jesus von Nazaret 1

Jesus hatte das Reich Gottes angesagt. In Gleichnissen und Bildreden hatte er von Gott gesprochen und war nicht müde geworden, ihn als einen barmherzigen, liebenden Vater zu schildern, der dem Verlorenen nachgeht und sich über die Bekehrung eines einzigen Sünders mehr freut als über 99 Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen. Mit Zeichenhandlungen hatte er illustriert, was dieses Reich meint und was es schon jetzt anfanghaft bringt: Heil für Menschen, die unter vielfältigen Unheilssituationen in dieser Welt leiden. Er hatte den Anbruch des Gottesreiches mit seiner Person verknüpft und darum die konsequente Nachfolge von seinen Jüngerinnen und Jüngern gefordert. Aber er hatte nichts über seine Person selbst, über sein „Wesen“ und die Art und Weise seiner Gottverbundenheit ausgesagt. Für jüdisches Denken war das auch zunächst irrelevant. Nicht das Sein, sondern das Handeln eines Menschen ist von ausschlaggebender Bedeutung. Entscheidend ist nicht, wer einer ist, sondern was einer tut. Dennoch lässt schon das Markusevangelium erkennen, dass (zumindest in der Gemeinde des Markus) die Frage aufkam: „Wer ist doch dieser?“ (Mk 4,41). Diese Frage wurde mit zunehmendem Abstand vom historischen Jesusgeschehen immer drängender. Vor allem mit dem Eintritt des Christentums in die hellenistische Welt musste eine befriedigende Antwort gefunden werden. Es dauerte aber noch 400 Jahre, bis im Konzil von Chalkedon (451) nach langem und zähem Ringen eine „Definition“ zustande kam, die einen vorläufigen Abschluss der christologischen Fragestellung bedeutete: „… ein und derselbe ist Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, der in zwei Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungesondert erkannt wird, wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich in einer Person und einer Hypostase vereinigt; der einziggeborene Sohn, Gott, das Wort, der Herr Jesus Christus ist nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt, sondern ist ein und derselbe“ 2. Diese Formel ist das Ergebnis eines langwierigen Übersetzungsprozesses von der jüdischen in die hellenistische Denkwelt, von funktionalem zu kategorialem Denken, von konkreten Erfahrungen zu abstrakten Denkkategorien, die vornehmlich aus der griechischen Philosophie entnommen sind. Im Folgenden sollen zunächst exemplarisch zwei Hoheitstitel vorgestellt werden, die biblisch-jüdischem Denken entnommen sind und die bereits im Zweiten Testament, aber auch noch in der heutigen Christologie einen herausragenden Platz einnehmen. Danach soll eher skizzenhaft der Entwicklungsprozess der Christologie bis Chalkedon aufgezeigt werden.

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Messias „Messias“ bedeutet im Hebräischen „der Gesalbte“. Gemeint ist damit zunächst der König (1 Sam 2,10; 9,16 [Saul]; 16,3 [David]). Israel hatte sich zunächst der Einführung eines Königtums widersetzt (Ri 8,22 f.), schließlich aber doch den im einfachen Volk immer wieder erhobenen Forderungen nachgegeben (1 Sam 8,1–18). Für die äußere und innere Ausgestaltung des Königtums hatte man Anleihen bei der ägyptischen Königsideologie gemacht (vgl. Ps 2,7–8). Vorbehalte blieben aber bestehen (Ri 9,8– 15). Denn es lassen sich in den alttestamentlichen Schriften schon relativ früh Träume von einer idealen messianischen Zeit feststellen: Die verschiedenen Ämter sollen nicht mehr allein in der Hand des Königs sein, sondern auf verschiedene Instanzen verteilt werden (Dtn 16,18–18,22), der König soll einen für das ganze Volk vorbildlichen Lebenswandel führen (Dtn 17,14–20), die Herrschaft soll gewaltlos sein (Jes 7,14–17; 9,1–6; 11,1–9 [sog. „messianisches Triptychon“]), eine „klassenlose Gesellschaft“ ist anzustreben (Ez 34,10–16). Die Hoffnungen auf eine solche Idealzeit verdichten und kristallisieren sich im 2. und 1. Jahrhundert vor der Zeitenwende auf eine Idealperson, auf „den (kommenden) Messias“. Die Geburtsstunde der Gestalt dieses Messias ist die Zeit der Makkabäer (165–63 v. Chr.). Vor allem im (nichtkanonischen) äthiopischen Henochbuch finden sich sehr detaillierte Beschreibungen, wie die Messias-Gestalt aussehen wird. Aufschlussreich ist dabei ein Vergleich zwischen der ersten Textversion dieses Buches und einer späteren Überarbeitung. Während in jener davon die Rede ist, dass der Messias „ein Sohn der Nachkommenschaft der Mutter der Lebendigen“ ist (62,14), dass er sich auf den „Thron der Herrlichkeit“ setzen und dass ihm die „Summe des Gerichts“ übergeben wird, dass er „die Sünder und die, welche die Welt verführt haben, von der Oberfläche der Erde verschwinden lässt“, so dass „nichts Verderbliches mehr da sein wird“ 3, erfolgt in der Bearbeitung eine Verschmelzung der (irdischen) Messiasgestalt mit dem himmlischen Menschensohn aus dem Danielbuch (7,13 f.): „An jenem Tag wird mein Auserwählter auf dem Thron der Herrlichkeit sitzen“, er „wird die Erde verwandeln“ und „sie zu einem Segen machen“4. Dieser apokalyptische Menschensohn-Messias ist nicht nur das Signal einer neuen Zeit, sondern eines neuen Äons: Er ist ein kosmischer Messias. 5 Die hochgespannten messianischen Erwartungen in der Zeit Jesu waren aus dieser Literatur gespeist. Sie führten freilich zu unterschiedlichen Haltungen: Die einen hofften mit Hilfe des erwarteten Messias auf ein baldiges gewaltsames Ende der verhassten Römerherrschaft, die anderen resignierten angesichts der drückenden Übermacht der römischen Besatzer und erwarteten nur noch vom direkten Eingreifen Gottes eine Wende. Jesus lehnte es daher verständlicherweise ab, sich als Messias bezeichnen zu lassen. Dass es dennoch geschah und dass diese Prädikation ihm letztlich zum Verhängnis wurde, konnte er kaum verhindern (vgl. Mk 8, 27–30 parr; 15, 26.32). Erst durch die Ostererfahrung wandelte sich das Messias-Verständnis. Nun sagten die Anhänger Jesu nicht mehr: Jesus ist der Messias, sondern: Jesus ist der Messias. Dieses neue, andere Verständnis fand später seinen Ausdruck in der Form des Doppelnamens „Jesus Christus“ (griech. Christós = der Gesalbte, lat. Christus). Die von Jesus angekündigte und in ihren Anfängen bereits erkennbare messianische Zeit, die Gottes-

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Ein Gott in drei Personen?

herrschaft, hat nichts zu tun mit Gewaltausübung und mit Herrschaft von Menschen über Menschen, sie ist vielmehr „Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14,17). Es blieb allerdings die Erwartung einer baldigen Wiederkunft des auferweckten und in den Himmel aufgenommenen Messias Jesus, die vor allem auf dem apokalyptischen Gedankengut des Ersten Testaments beruhte. Die Apokalyptik (von griech: apokalptein = offenbaren) hatte ihre Blüte vom zweiten vorchristlichen bis zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert, also in der Zeit zwischen der Entstehung der JesajaApokalypse (Jes 24–27) und des Buches Daniel bis zur Offenbarung des Johannes. Das apokalyptische Schrifttum bedient sich verschiedener literarischer Kleinformen (längst Verstorbene werden als Autoren angegeben – Henoch z. B.). Es schildert dramatische Visionen und Auditionen und verwendet geheimnisvolle Bilder und Zahlensymbole. Alle Schriften stimmen letztlich darin überein, dass sie das Offenbarwerden der Herrlichkeit und Macht Gottes, den großen Gerichtstag über alle Völker, den „Tag Jahwes“ (Joël 2,1–11; Am 5,18 u. a.) erwarten. Was in der frühjüdischen apokalyptischen Literatur (aethiopisches Henochbuch, Psalmen Salomos) über den Menschensohn und Messias gesagt ist und von ihm erwartet wird, übertragen christliche Kreise auf den erhöhten Messias und Menschensohn Jesus: „In den Tagen nach der großen Not […] wird man den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen sehen. Und er wird die Engel aussenden und die von ihm Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen“ (aus dem sogenannten „apokalyptischen Flugblatt“: Mk 13,24–27; vgl. Dan 7,13; Sach 2,10). Man wollte sogar wissen, dass Jesus selbst diesen Tag als unmittelbar bevorstehend angekündigt habe: „Diese Generation wird nicht vergehen, bis das alles geschieht“ (Mk 13,30; Mt 24,34; Lk 21,32), den genauen Zeitpunkt allerdings konnte auch er nicht nennen (Mk 13,32; Mt 24,36). Als sich die hochgespannten Erwartungen nicht erfüllten und die Parusie (griech.: parousía = Wiederkunft) ausblieb, kam eine allgemeine Ernüchterung auf. Man räumte eine „Zwischenzeit“ zwischen der Erhöhung Jesu und seiner Wiederkunft ein und stellte sich sogar besorgt die Frage, ob der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde überhaupt noch Glauben vorfinden wird (Lk 18,18). Fast unbemerkt vollzog sich der Abbau der apokalyptischen Naherwartungs-Spekulation zugunsten einer personal-ethisch verstandenen immerwährenden Erwartung der Vollendung im Tod. Im Johannesevangelium geschieht das Gericht schließlich gar nicht mehr am Ende der Tage, sondern schon „jetzt“ – im Glauben oder Unglauben an „den Namen des einzigen Sohnes Gottes“ (Joh 3,18). Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung tritt auch die Verwendung des mit apokalyptischen Erwartungen belasteten Menschensohn- und Messias-Titels in den Hintergrund und räumt vor allem im griechischen Raum einem anderen Hoheitstitel Priorität ein – „Sohn Gottes“. Sohn Gottes Sohn und Söhne Gottes im Alten Testament „Ursprünglich gehört der Begriff ‚Sohn Gottes‘ zu der […] altkanaanäischen Vorstellung von einem Jahwe, dem Allherrn von Jerusalem, zugeordneten (Jes 6,1–5; 1 Kön

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22,19) und aus Gottessöhnen als Repräsentanten kosmischer Teilstrukturen (Dtn 32,8 [Septuaginta]) zusammengesetzten himmlischen Hofstaat, mit dessen Hilfe Gott seine Schöpfungs- und Geschichtsplanung verwirklicht (Ijob 1,6; 2,1; 38,7) und dessen Mitglieder als Engel (Dan 3,25) erscheinen. In urgeschichtlicher Darstellung illustriert die Paarung der Gottessöhne mit Menschentöchtern und das Auftreten der aus dieser Verbindung entsprossenen Heroen der Vorzeit (Gen 6,2.4) die infolge der Ursünde sich steigernde Hybris auf Erden. […] In Anlehnung an die auch in der Namensgebung des Alten Testaments (Joab, Abija [= Jahwe ist mein Vater]) feststellbare Gepflogenheit des alten Orients, die Anhängerschaft eines Gottes als dessen Söhne und Töchter zu bezeichnen (Num 21,29), hat Israel sein heilsgeschichtliches Privileg als Jahwes ‚Volk‘ […] mit ausdrücklicher Absetzung von einer naturhaft verstandenen Gemeinschaft mit Gott (Dtn 14,1: ‚Söhne für Jahwe‘) als ein im Akt einer Erwählung durch Jahwe begründetes […] Vater-Sohn-Verhältnis angesehen.“ 6 Privilegierter „Sohn Gottes“ war zunächst der König. Er ist Gottes „erstgeborener Sohn“ und darum der „höchste unter den Herrschern der Erde“ (Ps 89,28). Solche politisch völlig unrealistischen und überzogenen Formulierungen sind nur zu verstehen auf dem Hintergrund des religiösen Selbst- und Erwählungsbewusstseins Israels. Aber der Begriff bleibt nicht auf den König beschränkt. Auch das Volk sieht sich als „Gottes erstgeborener Sohn“ (Ex 4,22). Das Buch Ijob spricht im Zusammenhang mit der Schöpfung der Welt und der Erschaffung des Menschen vom „Jubel aller Gottessöhne“, zu denen auch der „Satan“ gehört (Ijob 38,7; 1,6). Im Buch der Weisheit schließlich wird jeder Gerechte als „Sohn Gottes“ tituliert (Weish 2,18; 5,5). Jesus und Gott, der Vater Jesus hebt in seiner Botschaft vom angebrochenen Gottesreich vor allem jene Aspekte des Gottesbildes hervor, die schon im Ersten Testament unter der Metapher „Vater“ bzw. „Mutter“ vorgegeben waren. In seinen Gleichnissen veranschaulicht und verstärkt er diese Erfahrung noch weiter. Gott, der Vater, versagt sich nicht dem dringenden Hilferuf der Menschen (Lk 11,5–8); er verhilft den Bedrängten zu ihrem Recht (Lk 18,1–8); er lässt die Niedergeschlagenen nicht im Stich (Lk 10,29–37); er ladet die Armen und Krüppel, die Blinden und Lahmen, ja „die Leute“ schlechthin zum großen Festmahl (Lk 14,15–24); er schaut nicht auf das Ansehen der Person, sondern auf ein ehrliches und bescheidenes Herz (Lk 18,9–14); er geht den „Ausgeflippten“ voller Liebe entgegen (Lk 15,11–32); er kümmert sich sogar um die hoffnungslosesten Fälle (Lk 15,3–7); er erwartet freilich auch Rechenschaft über die eigene Arbeit mit den geschenkten Talenten (Mt 25,14–30). Zu diesem Gott kann man vertrauensvoll beten und ihm auch die alltäglichen Anliegen sagen: „Vater unser …“ (Mt 6,9). In einem Doppelgleichnis vergleicht Jesus schließlich ausdrücklich Gott mit einem Mann und einer Frau: Gott ist wie ein guter und verständnisvoller Vater und wie eine umsichtige und fürsorgende Hausfrau (Lk 15,8–10). Dabei fällt jenen, die die Worte Jesu und die ganze Art und Weise seiner Gottesrede hören, das vertraute und innige Verhältnis auf, das er im Umgang mit Gott an den Tag legt. In der Anrede bevorzugt er die Metapher „Vater“ und verwendet dafür offenbar

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häufig das familiäre aramäische Wort „abba“ (= Vater) anstelle der auch im offiziellen Kult verwendeten Formel „abínu“ (hebr. = unser Vater). Zwar gibt es nur ein einziges direktes und in seiner historischen Zuverlässigkeit nicht einmal gänzlich sicheres Zeugnis dafür (Mk 14,36), aber die Tatsache, dass dieses aramäische Fremdwort in das griechisch geschriebene Markusevangelium aufgenommen wurde und dass es darüber hinaus auch noch zweimal von Paulus verwendet wird (Gal 4,6; Röm 8,15), zeigt, dass diese schlichte Form der Gottesanrede ganz offensichtlich seinen Zeitgenossen aufgefallen war und dass sie unter den Christen der Anfangszeit Schule gemacht hatte. Jesus bekundet damit in gleicher Weise die Liebe und die Zärtlichkeit Gottes und seine eigene vertrauensvolle, liebende Hingabe an ihn. In der weiteren christologischen Reflexion, wie sie sich etwa im Johannesevangelium widerspiegelt, führt das dann zu der Aussage, dass in der Gestalt Jesu Gott selbst sichtbar wird. Wer Gott, den Vater, „sehen“ will, braucht nur auf Jesus, den Sohn, zu schauen (Joh 14,8–14). Funktionales Verständnis Jesus wird in den neutestamentlichen Schriften als „Sohn Gottes“ bezeichnet, um seine herausragende Stellung zu beschreiben. Dabei konnte man anknüpfen an die alttestamentlichen Vorstellungen vom König, der bei seiner Inthronisation zum „Sohn Gottes“ eingesetzt wird. Paulus sieht Jesus als Nachkommen Davids, „der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten“ (Röm 1,4; vgl. Apg 2,36). Die nach dem Tod des Paulus (64 oder 67) verfassten Evangelien verlegen diese Einsetzung an den Beginn der öffentlichen Tätigkeit Jesu und lassen in den Taufperikopen (Mk 1,9–11; Mt 3,13–17; Lk 3,21–22) eine Stimme aus den Himmeln sprechen: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe“. Hier klingt nicht nur Ps 2,7 an („Er sprach zu mir: Mein Sohn bist du. Heute habe ich dich gezeugt“), sondern auch das erste Lied vom Gottesknecht: „Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze; das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen“ (Jes 42,1). „Man wird sich den Werdegang der ‚Sohn-Gottes-Prädikation‘ […] so vorstellen müssen, dass zunächst das Auferstehungsgeschehen der theologische Ausgangspunkt gewesen ist und als solcher immer verstanden wurde. Im Zuge einer Rückbesinnung und Einbeziehung der Vita Jesu wurde dann auch die ganze Tätigkeit Jesu unter dieses Prädikat und unter seinen Anspruch gestellt. So lag es nahe, bis zur Taufe Jesu, die Anfang der öffentlichen Tätigkeit ist, zurückzugehen, und von dort aus, in dem Maße, wie man die Kindheit einbezog, auch auf den Anfang des irdischen Lebens in der Geburt zurückzublicken“ 7. Jesus selbst hat sich nicht als „Sohn Gottes“ bezeichnet. Das hätte wegen der engen Beziehung dieses Titels zur Messias-Prädikation erhebliche politische Komplikationen mit sich gebracht. Wahrscheinlich hat aber Jesus von sich als „dem Sohn“ gesprochen. Dafür gibt es zwei Belegstellen in den Evangelien. Die eine findet sich bei Markus: „Jenen Tag und jene Stunde (der Parusie) kennt niemand, auch nicht die Engel im Himmel, nicht einmal der Sohn, sondern nur der Vater“ (Mk 13,32). Das Wort könnte deswegen von Jesus selbst stammen, weil die Bezeichnung „der Sohn“ zwar eine Sonderstellung im Vergleich zu allen anderen Menschen andeutet, ihn aber auch von Gott

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abhebt und so jedenfalls keine abschließende, einfach zu übernehmende Formel – wie etwa „der Sohn Gottes“ – darstellt. Die Begrenzung des Wissens Jesu, die sich in dem Wort ausdrückt, hat denn auch die Gemeinde später in einige Verlegenheit gebracht. Auch im sogenannten Jubelruf Jesu ist von „dem Sohn“ die Rede: „Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will“ (Mt 11,25–27; Lk 10,21 f.). Jesus ist „Gegenstand“ der göttlichen Erkenntnis: Nur der „Vater“ kennt den „Sohn“. In den Spätschriften des Alten Testaments ist in ähnlicher Weise von der „Weisheit“ die Rede: „Alle Weisheit stammt vom Herrn, und ewig ist sie bei ihm“ (vgl. Sir 1,8–10; Spr 8, 22–30). Umgekehrt ist es die Weisheit, die in einzigartiger Weise den Vater erkennt: „Sende die Weisheit vom heiligen Himmel und schick sie vom Thron deiner Herrlichkeit […], denn sie weiß und versteht alles,“ so lässt der biblische Schriftsteller den König Salomo beten (vgl. Weish 9,4–11). 8 Vielleicht liegt hier der Anknüpfungspunkt für die von manchen frühchristlichen und mittelalterlichen Theologen vorgenommene Gleichsetzung Jesu mit der (weiblichen) Sophia. 9 Da Jesus nach dem Zeugnis der Evangelien sonst aber nie von sich als „dem Sohn“ gesprochen hat und da sich hier schon eine für die synoptischen Evangelien ungewöhnlich hohe Christologie widerspiegelt, könnte auch dieses Wort in einer Gemeinde entstanden sein, die – wie etwa das palästinische Judentum – hellenistisch beeinflusst war. 10 Wenn Jesus von sich als dem „Sohn Gottes“ oder „dem Sohn“ gesprochen hätte, dann wäre das wohl nur im Rahmen des von den alttestamentlichen Schriften her vorgegebenen funktionalen Verständnishorizontes geschehen, dass er nämlich aus dieser Berufung und Sendung die praktische Konsequenz der befreienden Botschaft von der Liebe Gottes und seiner helfenden, ermutigenden und aufrichtenden Tat ableitete. Die Frage nach dem „Wesen“ Ob Einsetzung zum Gesalbten Gottes oder Berufung zum weisheitlichen Mittler der göttlichen Offenbarung – immer geht es um die Funktion Jesu, um sein Handeln, nicht aber um das Geheimnis seiner Person, um sein „Wesen“. Die entscheidende „Glaubensschwelle“ liegt nach Rudolf Bultmann an der Stelle, wo die christliche Verkündigung in den hellenistischen Kulturraum vorstößt und dort mit der mythologischen Gestalt des „Gott-Menschen“ die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen für ein Verständnis des Titels im Sinn einer Wesensaussage ermöglicht. 11 Freilich sind die Wurzeln für diesen Umdenkprozess bereits grundgelegt in den Ostererfahrungen der Jünger; doch dieser Prozess von der funktional-soteriologisch verstandenen zur metaphysisch-essentiell gedeuteten Sohn-Gottes-Prädikation ist langwierig und in den Schriften des Neuen Testaments allenfalls ansatzweise erkennbar. Zuerst ist es wohl der als jüdischer Theologe ausgebildete Paulus, der den Titel „Sohn Gottes“ auf Jesus anwendet. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass er dabei über das vom Alten Testament gegebene Vorverständnis nicht wesentlich hinausgeht. 12 Wenn Paulus von der Sendung des Sohnes spricht (Röm 8,3 ff.), dann ist zunächst einmal anzunehmen, „dass das Senden des Sohnes vor dem Hintergrund der

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Sendung der Propheten vor ihm verstanden werden muss“ (vgl. Jes 6,8). 13 Denn Jesus, den Gott sandte, als die Zeit „erfüllt war“, ist „geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt“ (Gal 4,4). Wie der alttestamentliche Gottesknecht (vgl. die sog. Gottesknechtslieder bei Deuterojesaja: Jes 42,1–7; 49,1–9; 50,4–9; 52,13–53,12), den Gott schon im Mutterleib berufen, den er erwählt und an dem er Wohlgefallen gefunden hat (Jes 49,1; 42,1), der misshandelt und zum Schlachten geführt wurde (Jes 53,7) und der die „Sünden der vielen“ (Jes 53,12) trug, so hat Gott auch diesen seinen eigenen „Sohn“ nicht verschont, sondern „ihn für alle hingegeben“ (Röm 8,32). „‚Sohn Gottes‘ ist Jesus als der menschlichste der Menschen, der damit auch den dunklen Begriff ‚Gott‘ ins Menschliche übersetzte. Von daher wird es wohl verständlich, dass die Bezeichnung ‚Sohn Gottes‘ eine überragende Bedeutung bekam, wenn sie auch durch die metaphysische Interpretation eine sehr einseitige Ausprägung erfuhr. Denn der Akzent der mitmenschlichen Solidarität Jesu, der in diesem Begriff ebenfalls liegt – Paulus spricht vom ‚Erstgeborenen unter vielen Brüdern‘ (Röm 8,29; vgl. auch Hebr 2,11 ff.) –, kam dabei doch entschieden zu kurz“ 14. Der Gedanke an eine Präexistenz Jesu wird nahegelegt durch zwei Stellen aus dem Brief an die Gemeinde von Philippi und dem Ersten Brief an die Gemeinde von Korinth: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein“ und „Einer ist der Herr: Jesus Christus. Durch ihn ist alles, und wir sind durch ihn“ (Phil 2,6; 1 Kor 8,6). Die Reflexion könnte, in Konsequenz aus der Gleichsetzung Jesu mit der Sophia, gespeist sein von der alttestamentlichen Weisheitsspekulation, nach der die Weisheit „im Himmel wohnt“ (Sir 24,4); Gott teilt den Thron mit ihr (Weish 9,10). Sie könnte auch ähnlich verstanden sein wie die „Präexistenz“ aller Menschen in Jahwe, dem ewigen Ich-bin-da-für … (die Menschen). 15 Darüber hinaus sprach rabbinische Theologie wichtigen Größen der Heilsgeschichte Präexistenz vor der Erschaffung der Welt zu; so dem Gesetz und dem Namen des Messias. 16 Nicht auszuschließen sind auch Einflüsse der Gnosis, die mit dem Mythos vom Urmensch-Erlöser eine Gestalt kennt, die ihre göttliche „obere“ Geistwelt verlässt, um die Seelen der Menschen, die aus der Lichtwelt in die „untere“ Welt, in die Materie abgesunken sind, zu sammeln und zu erlösen. Keine der Aussagen gibt freilich etwas her für die Bestimmung einer „Wesensgleichheit“ Jesu mit Gott, dem Vater. Sie würde in deutlicher Spannung stehen zu dem Gedanken, dass Jesus das „Ebenbild Gottes“ ist (2 Kor 4,4.6). 17 Nun könnte man verweisen auf die Theologie des Johannesevangeliums – rund 50 Jahre später verfasst als die Paulusbriefe. Johannes erkennt in Jesus den von Gott Gesandten, der „durch seine Herkunft Gott näher steht als jeder andere und Gott auch eng verbunden bleibt“ 18. Aber nirgends ist davon die Rede, dass Jesus mit Gott wesensgleich sei. Dafür können auch nicht jene Stellen im johanneischen Schrifttum herangezogen werden, in denen Jesus als (ein) „Gott“ bezeichnet wird (Joh 1,1; 1 Joh 5,20 19); denn an anderen Stellen ist ebenso deutlich der Unterschied zu Gott herausgestellt. Jesus selbst sagt von sich: „Der Vater ist größer als ich“ (Joh 14, 28); und er bekennt, dem „Sohn“ sei es „gegeben, das Leben in sich zu haben“ (Joh 5,26). „Die Doppeldeutigkeit, die dadurch entsteht, sollte klar daran erinnern, dass derjenige, der Jesus Gott nennt, genauso sehr und vielleicht noch mehr in Bildern spricht wie derjenige, der ihn Lamm, Weg, Wahrheit, Leben, Licht, Weinstock und Brot nennt“ 20.

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Alttestamentlich-orientalisches Denken weiß die metaphorische Redeweise richtig zu deuten. Bilder werden als (Ab-)Bilder einer in ihnen sich darstellenden oder zur Darstellung gebrachten Realität verstanden, nicht aber als die Realität selbst. Das gilt für die Metaphern „Vater“ für Gott und „Sohn Gottes“ für den König im Alten Testament ebenso wie für „Gott“ und „Gottes Sohn“ im Neuen. Dennoch besitzen (Ab-)Bild oder Ebenbild die gleiche Würde und Autorität wie die hinter ihnen stehende Wirklichkeit, die sie repräsentieren. „So kann ich ihn (Jesus) das Antlitz oder Gesicht Gottes, aber auch Wort oder Sohn Gottes nennen. Mit all diesen Bildbegriffen ist für mich das einzigartige Verhältnis Gottes zu Jesus und Jesu zu Gott ausgedrückt: seine Bedeutsamkeit als Gottes Offenbarer“ 21. Ein gutes Beispiel für das hier Gemeinte liefert der Botenspruch, wie er in den alttestamentlichen Schriften und besonders bei den Propheten anzutreffen ist: „So spricht Gott: …“ bzw. „… Spruch des Herrn“ (vgl. Gen 32,4–6; Jes 31,4–9 u. ö.). Der Überbringer einer Botschaft hatte sich dabei an eine bestimmte Redeform zu halten. Er hatte im Ich-Stil des Auftraggebers zu sprechen, so, als ob dieser persönlich mit dem Empfänger der Botschaft redet. Der Bote erschien als Repräsentant der ihn sendenden Macht und realisierte deren Anwesenheit. In den Schriften des Neuen Testaments tritt Jesus als der bevollmächtigte Repräsentant Gottes auf. Johannes der Täufer sagt über ihn: „Er, den Gott gesandt hat, verkündet die Worte Gottes“ (Joh 3,34). Und im sogenannten hohepriesterlichen Gebet lässt der Verfasser des Johannesevangeliums Jesus sprechen: „Die Worte, die du mir gegeben hast, gab ich ihnen, und sie haben sie angenommen. Sie haben wirklich erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie sind zu dem Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast“ (Joh 17,8). Wenn Jesus im Neuen Testament als „Sohn Gottes“ bezeichnet wird, so soll damit zum Ausdruck gebracht werden: Er ist „der von Gott Gesandte, der letzte Bote, der aber auf eine andere Weise gesandt ist und einer anderen Ordnung angehört, als diejenigen, die ihm vorangingen. Er gleicht Gott mehr und ist auch mehr mit ihm verbunden als jeder andere, obwohl er dennoch oder vielleicht gerade deswegen nicht verschont wird und man ihm das Leben nimmt. Gott rächt und bestätigt ihn aber: Er wird in der neuen Heilsordnung Gottes der Eckstein.“ 22 b) Hellenisierung des Christentums?

Bereits in den Evangelien ist von Markus zu Johannes hin ein klarer Trend zur Deutung und Interpretation der Gestalt Jesu, zur „christologischen Karriere des Jesus von Nazareth“ (Paul Hoffmann 23) erkennbar: Die (theologisch durchaus nicht unreflektierte) Erzählung der Jesusgeschichte bei Markus (und in seinem Gefolge bei Matthäus und Lukas) weicht der Reflexion, die freilich Jesus als direkte Rede in den Mund gelegt wird. Die biblischen Begriffe werden ergänzt oder sogar ersetzt durch Begriffe der griechischen Philosophie (vgl. Logos bei Johannes). Dieser Prozess, der in der relativ kurzen Zeit zwischen der Abfassung des Markus- und des Johannesevangeliums rasch vorangetrieben wird, setzt sich in den folgenden ca. 350 Jahren über das Konzil von Nikaia (325) bis zum Konzil von Chalkedon (451) fort. Dabei geht es in zunehmendem

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Maße um die Frage der Zuordnung und der Beziehung des Menschen Jesus von Nazaret zu Gott. Es sind vor allem zwei extreme Positionen, die immer wieder zu heftigen christologischen Auseinandersetzungen führen: Das (einseitige) Hervorheben der menschlichen und das (einseitige) Hervorheben der göttlichen Seite. Für den hellenistischen Menschen lässt sich die Botschaft von Jesu universaler Heilsmittlerschaft aufgrund der Vorgaben platonischer Philosophie nur mit Hilfe des Gedankens seiner göttlichen Herkunft plausibel machen. Nicht etwa das „göttliche Wesen“ Jesu und eine tendenzielle Divinisierung bereiten dem griechischen Denken Probleme, sondern der historische Jesus, sein konkretes Menschsein, vor allem sein Todesgeschick. Den Hintergrund dieser Vorstellung liefert das gnostische Gedankengut, das durch einen strengen Dualismus gekennzeichnet ist. Man unterscheidet scharf zwischen dem (guten) göttlich-geistigen und dem (schlechten) materiell-körperlichen Bereich, auf den alle Übel zurückgeführt werden. Diesem dualistischen Denken ist ein leidensfähiger, „menschlicher“ Jesus als „Gott“ bzw. „Gottes Sohn“ nur schwer vermittelbar. Es ist hier nicht der Ort, alle christologischen Streitigkeiten der ersten Jahrhunderte im Detail darzulegen. Dennoch sollen in einer tabellarischen Übersicht die wichtigsten Stationen wenigstens skizziert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die zu Tage tretenden „Irrlehren“ meist nur indirekt durch die Polemik „rechtgläubiger“ Schriften bekannt sind, dass die Grenze zwischen Wahrheit und Irrtum nicht immer leicht zu ziehen ist und dass die christologischen Streitigkeiten in zunehmendem Maß von persönlichen Rivalitäten, von kirchen- und reichspolitischen Interessengegensätzen überschattet wurden.24 Hervorheben der menschlichen Seite 1.–4. Jahrhundert Adoptianismus: Der Mensch Jesus wird kraft seines besonderen Geistbesitzes als Sohn Gottes „adoptiert“ (vgl. Ps 2,7 Apg 2,36; 5,31)

Hervorheben der göttlichen Seite Doketismus Jesus „erschien“ nur wie ein Mensch, erhatte nur einen „Scheinleib“ (dokéo = griech. Erscheinen)

Subordinatianismus: Der Sohn ist dem Vater untergeordnet, nicht aber gleichrangig. 4. Jahrhundert Antiochenische Schule: „Christologie von unten“, beim konkretenMenschen Jesus ansetzend; naheliegend ist die Tendenz zum Subordinatianismus

Alexandrinische Schule: „Christologie von oben“: Im Vordergrund steht die Reflexion des menschgewordenen Wortes Gottes (Logos-Christologie); naheliegend ist die Gefahr der Vernachlässigung des wirklichen Menschseins Jesu.

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Hervorheben der menschlichen Seite

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Hervorheben der göttlichen Seite

Seit ca. 315 trägt Arius (aus der Antiochenischen Schule) in Alexandrien seine Lehre vom Logos als „herausragendem Geschöpf“ und „Schöpfungsmittler“ vor. „Gott ist nicht immer Vater gewesen; es gab eine Zeit, da er noch nicht Vater war; erst danach ist er Vater geworden. Der Sohn ist nicht immer gewesen. Alle Dinge sind aus dem Nichts geschaffen; alle Dinge sind Geschöpfe und Werke, auch das göttliche Wort selbst ist aus dem Nichts erschaffen; es gab eine Zeit, da es nicht war. Es war nicht, bevor es geschaffen wurde“ 25. Dem Arius begegnet zunächst Patriarch Alexander von Alexandrien mit der These von der ewigen Zeugung des Logos. 325 definiert das (von Kaiser Konstantin einberufene) Konzil von Nikaia, der Sohn sei „gezeugt, nicht geschaffen, wesenseins (homo-ousios) mit dem Vater“. Es folgen vermittelnde Interpretationen des Arianismus: Christus ist dem Vater wesensänlich (homoi-ousios).

Gegen die Verwischung der Definition durch die verschiedenen Spielarten des Arianismus wendet sich Athanasius; er verteidigt das „wesenseins“ von Nikaia aus soteriologischem Interesse.

381 endet der arianische Streit mit der Verurteilung des Subordinatianismus und Arianismus auf dem 1. Konzil von Konstantinopel. 4.–5. Jahrhundert Apollinaris von Laodicea lehrt, der ewige Gottessohn nehme einen menschlichen Leib ohne Seele an; daher gebe es letztlich nur eine göttliche Natur Jesu (Frühform des Monophysitismus). Nestorius von Konstantinopel bestreitet ab ca. 428 den Titel „Gottesgebärerin“ für Maria; er begreift die Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus eher willentlich-„moralisch“, also nicht im Sinne personhafter Einigung. Seine Christologie trägt meist den Namen „TrennungsChristologie“ (Nestorianismus).

Nestorius gegenüber steht Cyrill von Alexandrien, der die enge seinshafte Einheit in Christus betont („Einigungs“-Christologie). Er verwendet die Formel einer „personhaften Einigung beider Naturen“, spricht aber auch von der „einen Natur des fleichgewordenen Wortes Gottes“, womit er dem Monophysitismus nahekommt.

431 macht sich das Konzil von Ephesus die Vorstellung des Cyrill maßgeblich zu eigen und verurteilt ausdrücklich die Behauptungen des Nestorius.

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Hervorheben der menschlichen Seite

Hervorheben der göttlichen Seite

Theodoret von Cyrus versucht, die strenge Einigungschristologie des Cyrill mit der Trennungschristologie des Nestorius zu verbinden.

Der Mönch Eutyches von Konstantinopel behauptet, dass es nach der Vereinigung von Gottheit und Menschheit in Jesus Christus nur eine Natur gibt (Monophysitismus).

449 scheibt Papst Leo I. an den Bischof von Konstantinopel (Flavian) einen dogmatischen Brief, der mit der Unterscheidung von „Natur“ und „Person“ die Formel von Chalkedon vorbereitet. Auf der sogenannten „Räubersynode“ von Ephesus (449) versucht Dioskur nochmals eine Rettung des Monophysitismus. 451 versucht das Konzil von Chalkedon eine ausgewogene Linie zwischen Trennungsund Einigungschristologie zu finden und spricht von „einer Person in zwei Naturen – unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungesondert“. Die folgende Zeit (5.–7. Jh.) ist gekennzeichnet durch die Ausarbeitung der chalkedonensischen Begrifflichkeit (Natur, Person) und durch die Anwendung der dort getroffenen Unterscheidungen: In Jesus Christus gibt es aufgrund der beiden Naturen auch zwei Willen und Wirkweisen (681 auf dem 3. Konzil von Konstantinopel). Aus der Sicht heutiger Theologie bedeutet das Konzil von Chalkedon mit seinen christologischen Definitionen zwar ein „Ende“ des Ringens um eine Bestimmung des Ineinander und Zueinander von göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus – eine Frage, die sich dem Christentum beim Übergang in die griechische Denkwelt stellte und der es sich nicht entziehen konnte. Es ist aber nicht zu verkennen, dass das christologische Dogma notwendigerweise dadurch zeitbedingte Einseitigkeiten und Blickverengungen im Gefolge hatte: 26  Die verwendeten Begriffe (v. a. „Person“ und „Wesen“) waren schon auf dem Konzil nicht eindeutig geklärt, so dass jede theologische Schule daraus schöpfen konnte, was ihr dienlich erschien.  Die Christologie des Konzils ist eine „herabsteigende“ Christologie: Das ewige Wort Gottes steigt zu unserer Wirklichkeit herab. Damit ist die Tendenz zu einer übertriebenen Vergöttlichung des Menschen Jesus von Nazaret gegeben.  Das Konzil bringt eine statische Beschreibung der Konstitution des Gott-Menschen mit Hilfe philosophischer Kategorien. Die biblische Dynamik des Wirkens Jesu und seines Heilshandelns treten in den Hintergrund. Der Schwerpunkt der Besinnung wird auf den Augenblick der Menschwerdung verlegt. Es unterbleibt die Berücksichtigung und Würdigung der Geschichte Jesu.  Die Rede von den „zwei Naturen“ drückt eine Unterscheidung nach Art einer statischen Nebeneinanderstellung aus und birgt damit die Gefahr des Dualismus: Göttliche und menschliche Natur werden nicht ineinander, sondern nebeneinan-

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der gedacht. Darüber hinaus nährt sie auch das Missverständnis, als könne man Göttliches und Menschliches unter denselben Begriff fassen. Der Gottesvorstellung des Konzils trägt unvermeidlich die Züge damaligen Denkens: Die göttliche Wirklichkeit wird erfahren als hoch erhaben über die menschliche Situation und als dieser Situation entgegengesetzt. Gottes Wesen wird als ewig, allmächtig, unveränderlich, unabhängig, leidensunfähig und unbeweglich beschrieben – mit den bekannten negativen Folgen bis in die Gegenwart hinein. Die Unterscheidung zwischen „Gottheit“ und „Menschheit“ erweckt den Eindruck, als könne man mit Bestimmtheit sagen, was an Jesus „göttlich“ und was „menschlich“ gewesen sei. Von dieser Problematik abgesehen, gerät ein entscheidendes Element der biblischen Christusverkündigung in Vergessenheit: Dass Gott sich in einem gewöhnlichen, „normalen“ Menschenleben, im Leben, Leiden und Sterben des Menschen Jesus geoffenbart hat. Das heißt: „Seit dem Konzil von Nikaia wurde ein bestimmtes christologisches Modell – das johanneische – in einer sehr begrenzten Richtung zur Norm erhoben, und in Wirklichkeit hat allein diese Tradition in den christlichen Kirchen Geschichte gemacht. Dadurch kamen die Möglichkeiten des synoptischen Modells in der Geschichte nicht zu ihrem Recht; das Modell wurde in seiner Dynamik gehemmt und begann zu den ‚vergessenen Wahrheiten‘ des Christentums zu gehören. […] Die einseitige Entscheidung hat auf Dauer zu Aporien geführt, die auf dem einmal eingeschlagenen Weg kaum zu lösen sind. Gerade deshalb verlangt sie nach neuer kritischer Erinnerung an vornizäische Tendenzen, wodurch nicht die alte Entscheidung, aber ihr einseitiger Akzent und ihr Verschweigen komplementärer, wesentlicher Aspekte ungeschehen gemacht werden“ 27. c)

Aufgaben heutiger Christologie

Ein Gedankenexperiment: Man stelle sich einmal vor, wie wohl der historische Jesus von Nazaret reagiert hätte, wenn ihm jemand mit der Frage gekommen wäre, ob er eigentlich wüsste, dass er die zweite göttliche Person sei und wie er sich dabei fühle. Vermutlich wäre er reichlich verdutzt gewesen. Und er hätte wohl auch nicht viel verstanden, wenn ihn ein neuscholastisch geschulter christlicher Theologe über seine innergöttliche Zeugung und über das „Geheimnis der Trinität“, über die „vier realen Relationen“ in Gott, die „drei von einander verschiedenen Relationen“, über die göttlichen „Proprietäten“ und „Notionen“ und über die „trinitarische Perichorese“ aufgeklärt hätte. 28 Die Wirkungsgeschichte von Chalkedon hat gezeigt, dass der auferweckte und von Gott verherrlichte Jesus sehr nahe (zu nahe?) an Gott herangerückt wird – nicht selten zum Nachteil für den bedrängenden und herausfordernden Anspruch der Botschaft des Mannes aus Nazaret. „Einseitige Vergöttlichung Jesu, d. h. ihn ausschließlich auf Gottes Seite verweisen, heißt in der Tat, einen historisch lästigen Menschen und Spielverderber und eine gefährliche Erinnerung an eine provozierende, lebendige Prophetie aus unserer Geschichte beseitigen – auch eine Art, Jesus als Propheten Schweigen aufzuerlegen!“ So sieht es der flämische Theologe Edward Schillebeeckx. 29 Ein Jesus, der

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aller Erdenschwere entrückt ist, hat den Menschen „hier unten im irdischen Jammertal“ nicht viel zu sagen. Wer allzu hoch oben sitzt, ist vom konkreten Alltagsgeschehen zu weit weg. Sein Anspruch ist nicht mehr vernehmbar. Der riesige Abstand „verdünnt“ seine Einflussnahme. Zum richtigen Verständnis der christologischen Titel Die Christologie muss dem falschen Dilemma zwischen einer „Jesulogie“, die in Jesus den Gottesbezug ausblendet und in ihm nur ein Modell humanen Lebens sieht, und einer überhöhten Christologie, wie sie Edward Schillebeeckx kritisiert, zu entgehen suchen. Das wird nicht zu erreichen sein ohne gründliche Rückbesinnung auf die Bibel und ohne die Überprüfung christologischer Aussagen auf ihre Zugänglichkeit für historisch-kritisches Denken. Dabei müsste aufgezeigt werden, wie und inwiefern auch schon die Sätze der christlichen Tradition gewissermaßen „von unten“, aus Erfahrung, entstanden sind und dass auch die mythischen, scheinbar über jenseitige Zusammenhänge informierenden christologischen Aussagen nichts anderes sind als Versuche der jeweiligen Kulturen, mit den Mitteln ihres Denkens und ihrer Sprache die Heilsbedeutung Jesu zum Ausdruck zu bringen. Keine Christologie ist „kontextfrei“, keine kann allein aufgrund ihrer besonderen Inkulturation eine Art Primat gegenüber anderen besitzen. Grundlage aller Bekenntnisinhalte ist die Heilssehnsucht und Heilserfahrung von Menschen. 30 Auf diesen Ursprung zurückgeführt, könnten vielleicht Kriterien sichtbar werden, die es ermöglichen, Chiffren zu finden, um die „Sache“ der damaligen Christologie in die Gegenwart zu übersetzen. Daher suchen Theologen heute (ähnlich wie in der Zeit bis zum Konzil von Chalkedon) in der Richtung eines „Kontextualisierungsmodells“, um bei Wahrung der verbindlichen christologischen Tradition den Bedürfnissen auch heutiger Menschen nach kultureller Identität entgegenzukommen. Denn das Evangelium von Jesus, dem Bringer eschatologischen Heils für alle Menschen, ist seinem Wesen nach „transkulturell“, wenngleich es schon in seinen Anfängen in je bestimmten und begrenzten Kulturen „kontextualisiert“ wurde. „Alles ist kontextual, auch jene Theologen, die es nicht sein wollen, sondern die absolut und universal sein möchten.“ 31 Einige Theologen versuchen, die begriffliche Problematik der christologischen „Hoheitstitel“ dadurch zu entschärfen, dass sie in ihnen vor allem den bekenntnishaften Ausdruck persönlicher oder gemeinschaftlicher Erfahrung mit Jesus, seiner Botschaft und seinem Ruf zur Nachfolge sehen. Die literarisch-symbolisch zu verstehenden Titel hätten eine ähnliche Funktion wie die „Übertreibungen“ Liebender, die einander versichern, dass sie „einmalig“, „einzigartig“ oder „Herzenskönig“ seien; sie wollen damit nichts anderes als ihre Zuneigung und Hingabe zum Ausdruck bringen. Sie wollen kundtun, was ihr Partner bzw. ihre Partnerin für sie bedeutet, ohne damit etwa zu beanspruchen, dass diese Eigenschaften oder Qualitäten einzig und allein auf ihn bzw. sie zutreffen und nicht auch auf andere Personen. Für „wirkungsvoller“ und der schockierend-provozierenden Botschaft Jesu angemessener werden von manchen Theologen auch jene „Titel“ gesehen, die ebenfalls in den Evangelien stehen und die teilweise auch in einem literarisch-symbolischen Sinn

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zu verstehen sind: Spinner (Mk 3,21), Säufer und Fresser (Mt 11,18 f.; Lk 5,33 f.), Freund der Zöllner und Sünder (Mt 11,19; Lk 7,34), Diener (Mk 10,45), Bruder (Mt 25,40; 28,10). Für manche, vor allem jüngere Zeitgenossen mag über diese theologisch gänzlich unerwarteten „Titel“ ein neuer Zugang zur Gestalt Jesu „von unten“ möglich sein, der sich dann in Richtung auf eine kritische Befragung der „Hoheitstitel“ verlängern lässt. Praktisch-konkrete Christologie Eine weitere Aufgabe heutiger Christologie ist es, konkrete Perspektiven einer Nachfolge Jesu in der Gegenwart aufzuzeigen. Vor allem die lateinamerikanische Befreiungstheologie müht sich darum. Verkündigung des Kreuzes heißt für Leonardo Boff, „sich dafür engagieren, dass Liebe, Friede, Brüderlichkeit, Offenheit Gott gegenüber und Hingabe an ihn heute auf der Welt weniger behindert werden. Dies schließt auch die Anklage von Situationen, Idealen, Ideologien und konkreten Formen der Praxis ein, die Hass, Uneinigkeit und Atheismus hervorrufen. Und dies schließt auch die Verkündigung und Verwirklichung in einer engagierten Praxis der Liebe, der Solidarität, der Gerechtigkeit in den Familien, im Erziehungswesen, im Wirtschaftssystem, in den politischen Bereichen mit ein.“ 32  Nicht: Jesus ist König, so wie man sich eben Könige vorstellt – umgeben von einem großen Hofstaat, ausgestattet mit Macht und Herrlichkeit, mit unbeschränkter Befehlsgewalt und mit unermesslichem Reichtum. Sondern: Jesus ist König, d. h. ganz anders als alle weltlichen Könige – nicht Herrscher, sondern Diener; nicht ausgestattet mit Macht, sondern sich ohnmächtig der Gewalt und Herrschsucht der Menschen aussetzend; nicht angetan mit Herrlichkeit, sondern „ohne Schönheit und edle Gestalt“ (Jes 53,2).  Nicht: Jesus ist der Messias, so wie er nach jüdischer zeitgenössischer Erwartung und illusionärer christlicher Vorstellung („Christkönig“) zu sein hat – der große Held, der mit Macht ein Reich von einem Ende der Erde bis zum anderen errichtet. Sondern: Jesus ist der Messias (der Christus), ein Heilsbringer für die Armen und Unterdrückten, für die Ausgestoßenen und Verachteten, für die Kranken und Leidenden – ohne Aufsehen, ohne Pomp, ohne Anspruch auf Weltherrschaft, aber provozierend. d) „Erlösung“

Aus dieser Perspektive lässt sich ein neuer Zugang gewinnen zu der Frage, was eigentlich gemeint ist, wenn Jesus als „Erlöser“ bezeichnet wird. Verbreitet ist noch immer die Auffassung, Jesus habe durch seinen Tod am Kreuz die Sünden der Welt gesühnt, dem erzürnten Gott dadurch unendliche Genugtuung geleistet und auf diese Weise die ganze Menschheit „erlöst“. Diese „Satisfaktionslehre“ geht auf Anselm von Canterbury (1033–1109) zurück. Sie besagt, die Menschen hätten durch ihre Sünden Gott die schuldige Ehre weggenommen, indem sie ihm den geforderten Gehorsam verweigerten und ihn, den Unendlichen, damit „unendlich“ beleidigten. Eine „unendliche“ Beleidigung müsse jedoch

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„unendlich“ gesühnt werden. Dazu sei der Mensch als endliches Wesen nicht in der Lage. Also müsse Gott seinen „Sohn“ opfern, um diese Beleidigung wieder gutzumachen. Der „Sohn Gottes“ müsse „Satisfaktion“ leisten und durch seinen Tod am Kreuz stellvertretend für alle Menschen die geforderte Sühne bezahlen und so die verletzte Ehre Gottes und das zerbrochene Verhältnis zwischen Gott und Mensch wieder herstellen. Durch diese Lehre wird Gott in ein beklemmendes Dunkel gerückt. Es drängt sich die Vorstellung auf, das christliche Bekenntnis von der „Erlösung“ durch den Kreuzestod Jesu präsentiere einen gefühllos-grausamen Gott, dessen geradezu krankhaftes Ehrgefühl und dessen unnachsichtiges Lechzen nach Gerechtigkeit ein blutiges Menschenopfer verlangt habe – das Opfer seines eigenen Sohnes. Was ist das für ein Gott, der um seiner verletzten Ehre willen sein eigenes Kind qualvoll sterben lässt? Wie kann ein „Abba“, ein liebender Vater, Genugtuung empfinden am qualvollen Sterben seines geliebten Sohnes? Ein absurder Gedanke! Dieser Gott ist ein Moloch, ein Menschenfresser. Man wendet sich mit Entsetzen von einer „Gerechtigkeit“ ab, die eine derartige Genugtuung fordert und deren blutrünstiger, finsterer Zorn die Botschaft Jesus von der Liebe und Barmherzigkeit Gottes unglaubwürdig macht. Ein rachedurstiger Gott, der sich nur um den Preis des blutigen Opfertodes seines einzigen Sohnes versöhnen lässt, erregt Widerwillen und Abscheu. Der historische Jesus hat nie den Anspruch erhoben, ein „Erlöser“ zu sein. Aber er hat den Menschen seiner Zeit eine Erfahrung vermittelt vom befreienden Handeln eines Gottes, der als „Jahwe“ den Menschen heilend und helfend nahe sein will – in der Zuwendung zu den Armen, Kranken und Besessenen, den Deklassierten und an den Rand Gedrängten, zu Frauen und Kindern, Zöllnern und Sündern, aber auch zu jenen Menschen, die den Götzen des Diesseits verfallen sind, und zu den in ihrer Gesetzesgerechtigkeit verhärteten „Frommen“ 33. Sein Heilshandeln bedeutet gleichzeitig die Kritik an bestehenden Unheilsverhältnissen und Unrechtsstrukturen. Die herrschenden Verhältnisse des Zwanges und der Gewalt werden in Frage gestellt, indem sie mit jener anderen Welt Gottes konfrontiert werden, die in der Befreiung Israels aus ägyptischer Knechtschaft seinen Anfang genommen hatte und an die durch die Forderungen der Propheten immer wieder erinnert wurde. Jesus ermunterte andere, es ihm (und dem befreiend handelnden Jahwe) gleich zu tun. Seine Jüngerinnen und Jünger forderte er auf: „Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!“ (Mt 10,7 f.). Häufig wird in der christlichen Verkündigung behauptet, Jesus habe seinen Tod am Kreuz von Anfang an gewollt und sei darum geradezu zielsicher und bewusst auf ihn zugesteuert. Es gibt zwar in den Evangelien einige Stellen, in denen Jesus sehr detailliert von seinem bevorstehenden Tod (und seiner Auferstehung) spricht (vgl. Mk 8,31–33; 9,30–32; 10,32–34 parr.). Gerade die Details wecken allerdings den begründeten Verdacht, dass es sich hier um Worte handelt, die die Evangelisten aus nachösterlicher Perspektive Jesus in den Mund legten. Doch selbst in diesen Texten ist nirgends davon die Rede, dass Jesus im Interesse einer Sühneleistung in den Tod gehen müsse. Es war vielmehr die freie Entscheidung Jesu, an seiner Berufung unbeirrt festzuhalten, auch als er merkte, dass seine Botschaft von Gottes heilbringender Solidarität nicht

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angenommen wurde. Jesus war Realist genug, um den Ernst der Situation unter einer Besatzungsmacht einzuschätzen, die mit Aufrührern kurzes Federlesen machte. Er hat sich dazu durchgerungen, seinen Weg weiterzugehen und auch vor der letzten und grausamsten Solidarität, der Solidarität mit den geschundenen Opfern der Gewalt und den qualvoll und einsam zu Tode Gemarterten, nicht zurückzuschrecken. Dieser Weg führte letztlich dazu, dass alle Beziehungen abbrachen, dass ihn seine Freunde verließen und dass er als gesellschaftlich Geächteter und von Gott Verfluchter“ (Dtn 21,23) auf dem Schindanger „draußen vor den Toren“ der heiligen Stadt Jerusalem hingerichtet wurde (Hebr 13,12–14). Jeder Mensch sucht nach einem Sinn seines Leidens und seines Sterbens, zumal dann, wenn dieses Leiden und Sterben besonders sinnlos erscheint. So hat wohl auch Jesus nach dem Sinn seines Todes gefragt und ihn darin gefunden, ihn als Sühne- und Opfertod für jene Glieder seines Volkes zu verstehen, die das Solidaritäts- und Versöhnungsangebot Gottes ablehnten. Nach alttestamentlicher Vorstellung kann dem schuldig Gewordenen durch Stellvertretung Vergebung und Heil zuteil werden. So wird der „Sündenbock“ in die Wüste getrieben, nachdem ihm die Sünden des Volkes in einem symbolischen Akt auferlegt wurden (Lev 16,5–11). So lässt sich der Gottesknecht „misshandeln“ und „zur Schlachtbank führen“ – für andere (Jes 53). Vor diesem biblischen Hintergrund könnte Jesus seinen Tod als „Stellvertretung“ gesehen haben. Ähnliche Überlegungen mögen auch die jungen christlichen Gemeinden angestellt haben, als sie nach einer Antwort auf die bedrängende Frage nach dem Sinn des so frühen, schmählichen und scheinbar sinnlosen Todes Jesu suchte. Für Judenchristen lag ein Rückgriff auf den Gottesdienst nahe, bei dem zur „Entsühnung der Sünden des Volkes“ Tieropfer dargebracht wurden (vgl. Lev 4,13–21). Was der Tod dieser vielen Tiere nicht vermochte, hat – nach dieser Deutung – das Lebensopfer Jesu bewirkt: die Entsühnung der ganzen Welt. Jesus hat sein Leben hingegeben „als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45 par). Diesen Gedanken äußert auch der in jüdischer Theologie gut bewanderte Apostel Paulus (Röm 5,10). Aber so plausibel die Antwort erscheint, sie steht in einem unüberbrückbaren Kontrast zur Gottesverkündigung der Propheten Israels und Jesu selbst. Denn dieser Gott will gerade nicht das Leid, sondern das Heil der Menschen: Alle Enden der Erde sollen dieses Heil sehen (Jes 52,10). Darum kann Gott auch nicht das Leid Jesu und seinen Tod am Kreuz gewollt haben, sondern nur sein Heil. Es war nicht der Wille Gottes, dass Jesus qualvoll sterben musste. Und Gott konnte seinen „lieben Sohn“ nicht im Tode belassen. Er „musste“ ihn zu neuem Leben erwecken und ihn vor den Jüngern „sehen“ lassen. Davon waren jedenfalls die Anhänger Jesu überzeugt. Durch die Auferweckung Jesu identifizierte er sich mit dem Heilsbringer-Anspruch Jesu. Er zeigte damit, dass er gewillt ist, unbeirrbar in seinem erlösenden und befreienden Handeln an den Menschen fortzufahren. Kreuzestod und Auferweckung Jesu haben den unbedingten Erlösungs- und Befreiungswillen Gottes offenbar werden lassen. Nur insofern kann man sagen, wir seien durch das Kreuz erlöst. Ehrlicher und auch theologisch richtiger erscheint es mir aber, nicht von einer Erlösung durch das Kreuz, sondern eher von einer Erlösung trotz des Kreuzes zu sprechen. Obwohl die Menschheit eigentlich durch die Kreuzigung Jesu ihre

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letzte Chance verspielt hat, wendet sich Gott nicht von ihr ab, sondern bleibt den Menschen zugewendet und mit ihnen solidarisch. „Indem er gerade diesen Jesus in der Vorwegnahme der endgültigen Totenerweckung dem Tode entreißt, wird deutlich, was Gottes eschatologisches Heilshandeln meint: die endgültige Rettung aller Verlorenen. Jesus selbst wird aber damit zur alles entscheidenden Heilsgestalt der Geschichte. […] Erlösung betrifft Welt und Geschichte als Ganze; ihr entspricht darum allein eine christliche Praxis, die in allen Dimensionen menschlicher Existenz diesem Anspruch Gehorsam leistet. Der Christ steht den Mächten dieser Welt frei gegenüber; dank seines Glaubens weiß er, dass ihre Herrschaft begrenzt und überwindbar ist. Sie haben ihre Faszination für immer verloren. ‚Die Welt ist kein Gespensterhaus, denn wir wissen, wer die Kriegsverbrecher sind‘ (Bertolt Brecht)“ 34. Jesus hat von vornherein Frauen und Männer zur Mitarbeit berufen. Er hat sie ausgesandt „wie Lämmer mitten unter die Wölfe“ (Lk 10,3), um den Anbruch der Gottesherrschaft zu verkünden, um Kranke zu heilen, Dämonen auszutreiben, Aussätzige rein zu machen und Tote zu erwecken (vgl. Mt 10,7–8). Dieser Prozess soll weitergeführt werden – durch Menschen, die sich dafür von Gott in Dienst nehmen lassen. Die wie Mose die Geknechteten befreien (Dtn 18,15). Die wie Jeremia beherzt das Recht der Witwen und Waisen einfordern (Jer 5,28). Die wie Elia und Johannes auch vor Thronen und Herrschaften Mut beweisen (1 Kön 17; Mk 6,17–29). Die wie Amos auch den religiösen Führern und Hohenpriestern furchtlos gegenübertreten (Am 1–6) – und die dabei ihr Leben riskieren zum Wohl, zur Rettung, zur Erlösung der Menschen. Das alles ist inzwischen in vielfacher Weise durch Christinnen und Christen in der Nachfolge Jesu geschehen. Aber nicht nur durch sie, sondern durch alle Menschen, die sich für Heil und Wohlergehen der Menschheit engagiert haben und das noch immer tun – Christen oder Atheisten, Hindus oder Muslime, Juden oder Buddhisten. Alle Menschen, die sich – bewusst oder unbewusst – für das göttliche Befreiungs- und Erlösungswerk in Dienst nehmen lassen, sind (Mit-)„Erlöser“. Die Rede von Jesus, dem Erlöser, darf für Christinnen und Christen nicht zur Beruhigungspille werden: Der „Sohn Gottes“ hat ja alles getan; jetzt können wir uns gelassen zurücklehnen. Mit einem Lippenbekenntnis zum „Erlöser“ ist es nicht getan. Wem es wirklich ernst ist mit der Nachfolge Jesu, der sollte etwas davon sichtbar, spürbar, erfahrbar machen. Es sollte auch unter den „Erlösten“ und durch sie „Erlösung“ geschehen, wie sie auch in den Worten und Werken des historischen Jesus aufleuchtete. „Erlöste“ müssten ebenfalls Befreiung aus unterdrückenden, ausbeuterischen Strukturen, aus Not und Gefangenschaft, aus Armut und Leid bewirken. Impulse und Initiativen für Frieden und Versöhnung unter den Völkern, für Gerechtigkeit und Achtung der Menschenwürde, für Gleichberechtigung der Frauen und für den Schutz bedrohten Lebens müssten zuerst und unermüdlich von den „erlösten“ Kirchen ausgehen und nach Kräften in die Tat umgesetzt werden. In den Kirchen und Gemeinden selbst müsste in vorbildlicher, zeichenhafter Weise ein „erlöstes Menschsein“ gelebt und bezeugt werden. Lebendiger christlicher Glaube kann und soll so zur stillschweigenden oder gegebenenfalls auch lautstarken Anklage werden gegen alles „Unerlöste“, gegen Fesseln, die Menschen einander anlegen, und gegen Unterdrückung von Menschen durch Menschen, zur permanenten Kritik auch an allen vordergründigen und vor-

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eiligen Absolutheiten, die Menschen sich selbst setzen und mit denen sie anderen den Weg in die wahre und eigentliche Freiheit versperren.

2. Der Geist Gottes a) Gottes Geist im Alten und Neuen Testament

Nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums verheißt Jesus seinen Jüngern den Heiligen Geist (vgl. Joh 16,5–15). Wer oder was ist dieser Geist? In der hebräischen Sprache heißt das dem deutschen „Geist“ entsprechende Wort „ruách“, und es ist nicht männlichen, sondern weiblichen Geschlechts. Man beachte auch einmal die Lautmalerei dieses Wortes – das klingt, als ob etwas Verborgenes, Dunkles aus der Tiefe an die Oberfläche stößt, ans Licht kommt, klar und deutlich wird. Verbindet sich mit dem (weiblichen) hebräischen Wort die Vorstellung vom Gebären neuen Lebens aus dem Mutterschoß (Gottes)? Vom Hervorbringen von etwas Lebendigem aus dem Verborgenen, Unsichtbaren, Dunklen ans Licht des Tages? Wird etwas bis dahin Unbekanntes nun konkret fassbar? Gemessen an der Häufigkeit des Vorkommens – die Angaben schwanken zwischen 60 und 80 Belegen – ist „ruách“ kein zentraler theologischer Begriff des Alten Testaments. Dennoch werden mit diesem Begriff wesentliche und unverzichtbare Erfahrungen des Volkes Israel zur Sprache gebracht. Die Unschärfe des Begriffes „ruách“ wird aufgewogen durch den Reichtum an Aspekten. Die ältesten Urkunden legen dar, wie diese „ruách“ Menschen ergreift und in Verantwortung nimmt. Besonders häufig ist vom Wirken des Geistes die Rede in der Zeit politischer Umwälzungen am Anfang der Volkwerdung Israels. Während Mose nach dem Zeugnis der Schrift von Jahwe selbst berufen wird (Ex 3; 4), ist es der Gottesgeist, der den begonnenen Prozess weitertreibt und in neue Bahnen lenkt. Die ruách-Jahwe kommt über Otniël und macht ihn zum „Richter“, zu einem der charismatischen Führer, die in Zeiten der Not das Volk einen und ihm zu seinem Recht verhelfen (vgl. Ri 3,10; 6,34;11,29). Eine neue Umwälzung steht ins Haus mit dem Übergang von der Richter- zur Königszeit. Wieder ist es der Gottesgeist, der nunmehr den ersten König Saul und danach David beruft (1 Sam 10,6; 16,13). In der bittersten Zeit Israels, in der politischen Katastrophe des Exils, stellt der Gottesgeist in aller Hoffnungslosigkeit und Resignation den Umbruch in Aussicht. Jahwe verheißt dem Propheten Ezechiel, dass er das Volk Israel aus allen Ländern sammeln und in das Land der Verheißung zurückbringen werde. Und nicht nur das. „Ich lege meinen Geist in euch und bewirke, dass ihr auf meine Gebote achtet und sie erfüllt“ (Ez 36,24–27). Auch vom kommenden und erwarteten Idealkönig wird ausgesagt, dass der Geist Jahwes sich auf ihn niederlassen werde (Jes 11,2). Der Empfang des Geistes ist grundsätzlich unverfügbar. Er ist freie Gabe Gottes. So wird zwar die Institution der siebzig Ältesten auf den ausdrücklichen Willen Jahwes zurückgeführt, den er gegenüber dem Mose äußert. Aber die Ältesten empfangen nicht

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den Geist Gottes, sondern sie bekommen lediglich „etwas“ vom Geist des Mose ab (Num 11,16 f.). Einen institutionalisierten Geistbesitz gibt es in Israel nicht. Und das auch deswegen, weil der Gottesgeist in den jüngeren Schriften an manchen Stellen wie eine Person erscheint, die auftritt, um zu warnen (Neh 9,30), und die man „betrüben“ kann (Jes 63,10). Natur und Geschichte sind erfüllt vom Geist. Er „erfüllt die Welt der Menschen, er, der alles zusammenhält, kennt jeden Laut“ (Weish 1,7). Der Gottesgeist ist es, der am Anfang der Schöpfung über den Wassern der Urflut schwebt – wie ein Vogelweibchen, das Leben ausbrütet (Gen 1,2). Er erweckt Totes zum Leben (Ez 37). Er überschreitet alle Grenzen, wenn er – nach der Verheißung des Propheten Joël (3,1) – ausgegossen wird „über alles Fleisch“. Gerade dieser letzte Text lässt deutlich werden, dass die eigentliche Erfahrung des Gottesgeistes für jedermann noch aussteht. Letztes Ziel des Gottesgeistes ist es, die Menschen zur Erkenntnis Gottes und zum Einklang mit seinem Willen zu führen (Ez 7,14; 37,1–14; 39,28 f.). Der Geist Gottes wird sich auf den Messias niederlassen, und er wird die Gaben des Geistes empfangen: Weisheit, Einsicht, Rat, Stärke, Erkenntnis und Gottesfurcht. „Er richtet nicht nach dem Augenschein, und nicht nach dem Hörensagen entscheidet er, sondern er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. Er schlägt den Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes und tötet den Schuldigen mit dem Hauch seines Mundes. Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib. Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange. Man tut nichts Böses mehr und begeht keine Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist. An jenem Tag wird es der Spross aus der Wurzel Isais sein, der dasteht als Zeichen für die Nationen; die Völker suchen ihn auf; sein Wohnsitz ist prächtig“ (Jes 11,2–10). Die neutestamentlichen Schriften kristallisieren das Wirken des Gottesgeistes auf die Person Jesu von Nazaret, obwohl Jesus selbst nach dem Zeugnis der drei ältesten Evangelien kaum vom heiligen Geist gesprochen hat.  Geistgewirkt sind Empfängnis und Geburt (Lk 1,35). Werden und Wachsen eines Menschenlebens gehen über das hinaus, was Menschen aus eigener Kraft vollbringen können. Der geheimnisvolle Geist Gottes ist es, der letztlich und eigentlich das Wunder jedes neuen Lebens schafft.  „Vom Geist getrieben“ geht Jesus in die Wüste hinaus (Mk 1,12) – von den Eukalyptusbäumen, die das Ufer des Jordan säumen, zu den Steinen und den Tieren (Mk 1,13), vom Wasserfluss zum öden, einsamen Sandmeer. Auch hier will Gott heimisch werden. Auch hier soll durch den Gottesgeist Leben einkehren.  „In der Kraft des Geistes“ kehrt Jesus nach Galiläa zurück, um seine Sammlungsbewegung für das neue Israel zu beginnen (Lk 4,14).  „Durch den Geist Gottes“ treibt Jesus die Dämonen aus und lässt damit das Reich Gottes anbrechen (Mt 12,28). Die Szene wird bei Lukas allerdings in einem anderen Wortlaut überliefert: „Wenn ich durch den Finger Gottes die Dämonen aus-

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treibe …“ (11,20). Nach dem einhelligen Urteil der Exegeten bringt Lukas die ursprüngliche Fassung des Jesuswortes, und Matthäus bereits eine Umschreibung.  Den Beistand des Geistes verheißt Jesus auch seinen Jüngerinnen und Jüngern: „(in der Verfolgung und vor Gericht) (…) werdet nicht ihr reden, sondern der Heilige Geist“ (Mk 13,11; Mt 10,20). Allerdings handelt es sich wohl hier nicht um ein genuines Jesuswort. Es stellt – wie der ganze Abschnitt Mk 13,5–13.24–27 – eine Weiterführung von Jesusworten über das Ende des Tempels dar, entstanden im Wesentlichen aus der Bibellektüre der Urgemeinde und gründend auf dem alttestamentlich-jüdischen Verständnis des Gottesgeistes, der in Notzeiten den Menschen für besonders wunderbare Reden geschickt wird (vgl. Weish 7,7).  Auch das Wort vom vertrauensvollen Beten, in dem – nach Lukas – der Heilige Geist als Gabe verheißen wird, enthält diesen Hinweis im Munde Jesu ursprünglich wohl nicht. Denn in der vermutlich ältesten Fassung bei Matthäus lautet es: „Wenn nun schon ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gebt, was gut ist, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel denen Gutes geben (Lk: … denen den Heiligen Geist geben), die ihn bitten“ (Mt 7,11; Lk 11,13). Die lukanische Fassung ist wahrscheinlich eine spätere Verdeutlichung und Spiritualisierung des ursprünglichen Jesuswortes; denn die Gabe Gottes an uns ist, nach der ebenfalls von Lukas verfassten Apostelgeschichte, der Heilige Geist (Apg 2,38). Im Gegensatz zu den Synoptikern spricht der Christus des Johannesevangeliums öfter vom (Heiligen) Geist. Der Vater wird ihn als Beistand senden. Er wird den Jüngern die Offenbarung Gottes immer tiefer erschließen und sie zu weltüberwindend-missionarischem Zeugnis befähigen (vgl. Joh 14,26; 15,26 f.). Der Geist bewirkt geradezu eine Neuschöpfung, eine neue Geburt (Joh 3,5 f.). Zwar wird auch der Glaubende sterben, aber was der Geist in ihm aufgebaut hat, wird nicht zerstört, sondern von Gott einst vollendet werden (Joh 11,24 ff.). Hier wird aus der Perspektive der Wende vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert theologisch-christologisch jenes neue Denken und Handeln gedeutet, das in den Gemeinden Platz gegriffen hatte – oder was man zumindest als Frucht der Übernahme des Lebensentwurfs Jesu erwartete und erhoffte. Dabei braucht man die eigentliche Ursache gar nicht zu erfahren, denn „der Wind (Geist) weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht“ (Joh 3,8). Der Geist Gottes kommt – ähnlich wie auf Jesus bei seiner Taufe – über die junge christliche Gemeinde herab, jetzt in Gestalt feuriger Zungen und bei Sturmgebraus, und alle beginnen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingibt. So dramatisiert es jedenfalls Lukas (Apg 2,1–13). Wenn der Geist Gottes am Werk ist, dann muss einfach etwas Gewaltiges und Spektakuläres geschehen. Der Geist schafft ein neues Miteinander und lässt die Gemeinde, sofern man der Apostelgeschichte glauben darf, „ein Herz und eine Seele“ werden (Apg 4, 32). Sie räumt Schranken beiseite, mit denen sich sonst Menschen von Menschen abgrenzen: Besitz, Rasse, Geschlechtszugehörigkeit (vgl. auch Gal 3,28). Ein neuer Geist erfasst jene, die sich von Person und Sache Jesu in Pflicht nehmen lassen. Der Geist bringt die Sprachlosen zum Reden (Apg 2,1–4), er ermutigt zu standhaftem Zeugnis für den erhöhten Herrn (Apg 2,22–36; 4,8–12). Paulus sieht im „Getriebenwerden vom Geist

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Gottes“ das entscheidende Kennzeichen der „Söhne Gottes“ (Röm 8,14). Die ungeheure „Dynamik des Anfangs“ (A. Vögtle) kann sich Paulus nur erklären durch ein massives Einwirken des Geistes (1 Kor 12,13). In kunstvoller Parallel-Komposition hat Lukas in der Apostelgeschichte aufzuzeigen versucht, wie derselbe Gottesgeist, der in Jesus am Werk war, auch die Apostel ergriffen hatte und wie er sie dazu befähigte, ähnliches, ja gleiches wie er zu tun. Der Geist wirkt bei Petrus unter den Juden und bei Paulus unter den Heiden. Das messianische Heilshandeln des geisterfüllten Jesus setzt sich fort im Werk seiner geisterfüllten Jünger – bei Juden und Heiden. Der Geist befähigt Menschen zu furchtlosem Einsatz für das Reich Gottes und verleiht ihrem Wirken überraschenden und überwältigenden Erfolg. Der Geist Gottes lässt Menschen das tun, was auch Jesus in der Kraft dieses Geistes getan hat: Gefangene befreien, Blinde heilen, Lahme zum Gehen bringen, Verzweifelten und Entmutigten Hoffnung schenken. Mit Jesus ist tatsächlich die vom Propheten Joël angekündigte messianische Heilszeit angebrochen: Der Geist ist nicht nur mehr über einzelne Gottesmänner und Propheten ausgegossen, sondern „über alles Fleisch, auch über Knechte und Mägde“ (Joël 3,1 f.; vgl. Jes 11,2). Nun ist es so weit, dass Jahwe nicht nur als der „Vater Israels“ (Jes 31,9), sondern als „Vater aller“ (Eph 4,6) offenbar geworden ist. Dieser Geist darf nicht ausgelöscht werden (1 Thess 5,19). b) Von der Erfahrung des Gottesgeistes zur Lehre vom Heiligen Geist als göttlicher Person

Schon in den jüngeren Schriften des Ersten Testaments zeigt der Gottesgeist manchmal Eigenschaften, wie sie einer menschlichen Person zukommen (vgl. Weis 1,7; Ne 9,30; Jes 63,10). Eine Fortschreibung dieser Entwicklung spiegelt sich vor allem im Johannesevangelium. Zunehmend wird die Frage diskutiert: Ist die Geist-Erfahrung lediglich das Gewahrwerden einer besonderen Gabe oder Begabung, die dem Menschen von Gott geschenkt wird? Sind die Auswirkungen der Erfülltheit mit „heiligem Geist“ nur zurückzuführen auf Begeisterung und Enthusiasmus für die Sache Jesu? Oder ist hier mehr am Werk? Ist es die Erfahrung eines eigenen göttlichen Gebers? Gern wurde früher die Taufformel im Matthäusevangelium (Mt 28,19) als Belegstelle dafür herangezogen, dass neben „Vater“ und „Sohn“ auch der „Heilige Geist“ als eigene, dritte göttliche Person erscheint. In der neueren Schrifterklärung wird diese Auffassung kaum noch vertreten. Sie sieht in der Formel eine Zusammenfassung der Unterweisung für Heiden, die sich taufen lassen wollten. Diese mussten ihren verbreiteten Polytheismus aufgeben und sich zu dem einen Gott, dem Vater, bekennen; sie sollten ihren bisherigen Lebensentwurf neu orientieren und ihn an Jesus, dem „Sohn Gottes“, ausrichten; sie mussten ihr Leben „im Fleisch“ zugunsten des neuen Leben „im Geist“ verändern (vgl. Gal 5,13–26). Die Taufformel spiegelt also die Situation der Heidenmission wider und fasst formelhaft-einprägsam die grundlegenden Veränderungen zusammen, die für das Christwerden in diesem Umfeld kennzeichnend waren. 35 Drei Jahrhunderte lang ist weder ausdrücklich von einer göttlichen Dreifaltigkeit noch selbst vom Heiligen Geist als Gott die Rede. Erst 358 bekannte sich eine klein-

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asiatische Synode ausdrücklich zur Gottheit der in der trinitarischen Taufformel angerufenen „Personen“. 36 Weitere regionale Synoden griffen die Anregung auf. Dagegen vermied es Athanasius, der bedeutendste „westliche“ Theologe jener Zeit (ca. 300– 373), den Geist ausdrücklich als „Gott“ zu bezeichnen. Auf dem Konzil von Konstantinopel (381) setzte sich schließlich jene Richtung durch, die für ein ausdrückliches Bekenntnis zur Gottheit des Heiligen Geistes eintrat. Der 3. Artikel des nicaenischen Glaubensbekenntnisses wurde in der lateinischen Fassung durch die Einfügung von „und dem Sohne“ ergänzt: „… an den Heiligen Geist, den Herrn und Lebensspender, der aus dem Vater und dem Sohne hervorgeht und mit dem Vater und dem Sohn zugleich angebetet und mitverherrlicht wird, der durch die Propheten gesprochen hat.“ 37 Allerdings wurde auch hier die Gottheit des Geistes nicht direkt, sondern nur indirekt ausgesagt. Die griechische Fassung des Glaubensbekenntnisses blieb unverändert Die folgenden Jahrhunderte sind im Hinblick auf die Rede vom Geist Gottes dadurch gekennzeichnet, dass – ähnlich wie in der Christologie – mehr und mehr die Spekulation über das „Wesen“ des Geistes in den Vordergrund trat und immer weniger von den Erfahrungen seines Heilswirkens, von seiner Befähigung zu großen Taten und zu mutigem Einsatz gesprochen wurde. Die Frage lautete nicht mehr: Wo wirkt der Geist und wie erfahre ich ihn?, sondern: Wer ist der Geist und in welchem Verhältnis steht er zu Gott, dem Vater, und zu Jesus, dem Sohn, dem Christus? Diese Entwicklung enthält eine problematisch Tendenz. Auf Erfahrungen kann niemand festgelegt werden. Erfahrungen lassen Spielräume und Interpretationsmöglichkeiten offen, geben Anregung zu eigenem Nach-Denken, machen Mut zu eigenem Erfahren. Sätze und Begriffe aber sind geschlossen; sie lassen sich zwar interpretieren, aber nur innerhalb eines vorgegebenen Rahmens. Mit Begriffen kann gestritten, auf Formeln kann der Gegner festgelegt werden. Zu welch schwerwiegenden kirchlichen und politischen Konsequenzen der Kampf um die Annahme oder Ablehnung bestimmter Sätze und Formeln in Bezug auf die „richtige“ Lehre vom Heiligen Geist führen kann, zeigte sich im 9. und 10. Jahrhundert beim Streit um das „filioque“. Vordergründig ging es dabei um die biblisch nicht begründbare und theologisch ziemlich unbedeutende Frage, ob der Heilige Geist aus dem Vater und dem Sohne („filioque“) oder ob er „aus dem Vater“ allein hervorgehe („ex patre natum“). Im Hintergrund waren Machtfragen zwischen westlicher und östlicher Theologie der eigentliche Motor. Mangelnde Gesprächsbereitschaft der kirchlichen Vertreter und der politische Druck, den Kaiser Heinrich II. auf Papst Benedikt VIII. ausübte, führten schließlich 1054 zum Auseinanderbrechen der Kirchengemeinschaft zwischen Ost und West. Wie schwer es ist, diese Spaltung zu heilen, zeigen die mühsamen Wiederannäherungsversuche der neueren ökumenischen Bewegung. Zu sehr haben sich die Positionen der offiziellen Vertreter beider Seiten verfestigt, zu kompromisslos stehen sich noch immer die beiden „amtlichen“ Lehrmeinungen gegenüber – allen Bekundungen guten Willens zum Trotz.

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3. Der drei-eine Gott Von vielen Christen, die es mit ihrem Glauben ernst nehmen und die um das richtige Glaubensverständnis ringen, wird das trinitarische Dogma von dem einen Gott in drei Personen als Zumutung empfunden (vorausgesetzt, dass sie es überhaupt noch wahrnehmen). Wer kann schon noch an so etwas glauben – ein Gott in drei Personen? Wie kann Gott eins sein und gleichzeitig drei? Nicht wenige gläubige Christen müssen vermutlich bekennen, dass ein dreifaltiger Gott weder Teil ihres Glaubens noch ihres Hoffens ist, sondern allenfalls eine philosophische Frage, die für den konkreten Alltagsglauben im Grunde belanglos erscheint. Bestenfalls wird noch daran geglaubt, aber wirklich erfahren wird der dreifaltige Gott nicht. Die „klassischen“ Formeln der dogmatischen Trinitätslehre vermitteln in ihrer Abstraktheit und leeren Begrifflichkeit das ungute Gefühl, hinter all dem darin enthaltenen raffinierten Scharfsinn und der ausgeklügelten Logik verberge sich die (bewusste oder unbewusste) Neigung, Gott damit „gut im (Be-)Griff“ zu haben. Das christliche Dogma von einem drei-einen Gott ist im Grunde eine Frucht der Christologie. Es steht im engen Zusammenhang mit der Frage: Wer ist dieser Jesus? In welchem Bezug steht er zu Gott, seinem „Vater“, der sich als Jahwe im Ersten Bund geoffenbart hatte? Und wer oder was ist der „Geist“, von dem die Propheten sprachen und den Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern verheißen hatte? Dabei konnte wegen des für jeden Juden unumstößlichen Grunddogmas der Einzigkeit Gottes zunächst gar keine Rede davon sein, Jesus in irgendeiner Weise auf eine Stufe mit dem einen und alleinigen Gott zu stellen oder gar, unter Einbeziehung der Erfahrungen mit dem Geist Gottes, eine wie immer geartete „Dreifaltigkeit“ in Gott hineinzutragen. Erst mit dem Eintreten des Christentums in die griechische Denkwelt waren derartige Überlegungen überhaupt möglich. Es sind sehr verschiedenartige Faktoren, die am Zustandekommen des Dogmas mitgewirkt haben. Eine davon ist die Symbolik der Dreizahl. a) Die Symbolik der Dreizahl 38

In allen Kulturen und Religionen kommt der Zahl eine besondere Bedeutung zu. Maße und Maßverhältnisse werden als Symbole betrachtet, in denen sich das Weltganze und seine vielfachen Bezüge widerspiegeln. Die Zahl ist etwas Heiliges; sie symbolisiert himmlisches Sein, das sich in den Maßverhältnissen des Laufs der Gestirne äußert. Einen herausragenden Rang unter den Zahlen nimmt die Drei ein. Sie ist Symbol der Vielheit, die sich wieder zur Einheit schließt. Wenn Zwei die Trennung und Scheidung bedeutet, so ist Drei das Symbol der Wiedervereinigung, der wiedergewonnenen Ganzheit. Sie ist die Synthese des Einen und des Anderen. Darum steht sie der Eins näher als der Zwei. Denn Zwei besagt immer das Eine und das Andere, das GegenüberStehende, das Gegen-Gesetzte, den Gegen-Satz (griechisch: anti-thesis). Drei aber ist die Wiederherstellung der Einheit, die Wieder-Zusammensetzung des Getrennten (griechisch: syn-thesis). Während Eins die Zahl der ununterschiedenen, undifferenzierten, in sich geschlossenen, ungeöffneten Uniformität darstellt, ist Drei die Zahl der in sich differenzierten, der schon aufgeschlossenen und bereits geöffneten Einheit.

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Die Dreizahl besitzt somit einen hohen Symbolwert. Darum treten in den Göttermythen des Altertums immer wieder Dreiergruppen auf: Anu – Enlil – Ea (Himmel, Luft und Erde) in Babylonien; Osiris – Isis – Horus, die „heilige Familie“ in Ägypten; Amun – Re – Ptah, die ägyptische „Reichstriade“; AUM, die indische Trimurti: Brahma, Vishnu, Shiva; Odin – Thor – Thyr bei den Germanen; Zeus – Poseidon – Hades, die drei Söhne des Kronos, unter die nach der griechischen Mythologie die Bereiche der Welt aufgeteilt sind. Eine ausgeprägte „Dreifaltigkeitslehre“ ist vor allem in der ägyptischen Mythologie anzutreffen. Aufgrund dieser Beobachtungen wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar die Vermutung geäußert, dass der christliche Dreifaltigkeitsglaube aus der Neigung des Menschen hervorgegangen sei, die Dreizahl in die Gottesvorstellung hineinzutragen. 39 b) Biblische Grundlagen?

Göttliche Dreiergruppen In den Schriften des Ersten Testaments werden an einigen Stellen göttliche Dreiergruppen erwähnt. So ist die Rede vom „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“ (Ex 3,16). Häufiger wird allerdings eine andere, längere Form angewandt, die auf drei verschiedene (Sippen-)Gottheiten zu verweisen scheint: „… der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (vgl. Ex 3,6.15; 4,5; Mk 12,26; Mt 22,32; Lk 20,37). Drei Männer erscheinen vor Abraham und werden mit „mein Herr“ angeredet (Gen 18,1– 10). Im Ps 50,1 der hebräischen Bibel tauchen nacheinander die drei biblischen Gottesnamen auf: „El, Elohim, Adonai (hat gesprochen …).“ Es wäre allerdings verfehlt, in diesen Dreiergruppen eine verschlüsselte Vorankündigung des christlichen Trinitätsglaubens sehen zu wollen. Sie sind vielmehr ein Hinweis auf unterschiedliche Quellschriften und auf die keineswegs geradlinige Entwicklung der Gotteserfahrung Israels hin zum Monotheismus. Gott als Vater Von Gott, dem Vater, ist im Ersten Testament sehr häufig die Rede. Menschlichem Bedürfnis entsprechend lag es für Israel nahe, die vielfältigen und differenzierten Erfahrungen des „Jahwe-Seins“ Gottes mit Begriffen (oder besser: mit Bildern) zu umschreiben, die aus der Welt der Menschen entstammten und allseits bekannt und vertraut waren: König, Herr, Hirte, Kriegsheld, Richter, Gesetzgeber, Vater. Einer der ältesten Belege für die Bezeichnung Jahwes als „Vater“ findet sich in der Natan-Verheißung an König David (2 Sam 7,12.14). Hier wird vermutlich an die im Alten Orient weit verbreitete Vorstellung von einer Gottessohnschaft des Königs angeknüpft. So wird der ägyptische Pharao vom Gott Amun als „Sohn meines Leibes“ angeredet, 40 und in einer Inschrift Ramses’ II. ist als ein Wort Amuns zu lesen: „Ich bin dein Vater, der dich unter den Göttern erzeugte, so dass alle deine Glieder Götter sind“ 41 (vgl. auch Ps 2,7). Im weiteren Verlauf der Geschichte Israels wird der Gedanke einer „Vaterschaft“ Jahwes auf das ganze Volk ausgeweitet. Jahwe ist wie ein Vater (bzw. wie eine Mutter), der seinen (die ihren) „Sohn aus Ägypten ruft“ (Hos 11,1). Nach dem Exil wird das

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Vater-Bild für Gott schließlich ins Universale ausgedehnt. Jahwe, der Schöpfer der Welt, erscheint als Vater aller Menschen: „Du bist, Herr, unser Vater. Wir sind der Ton, und du bist der Töpfer. Wir alle sind das Werk deiner Hände“ (Jes 64,7). Heiliger Geist Auch zum Verständnis des Gottesgeistes im Alten Testament ist bereits oben einiges gesagt worden. Eigentümlicherweise finden sich kaum theologische Spekulationen über eine wie immer geartete „Eigenständigkeit“ bzw. „Person“ dieses Geistes in den ersten vier Jahrhunderten. Es scheint zwar so, als sei eine (trinitarische) Eigenpersönlichkeit bereits im nachösterlichen Taufbefehl des Matthäusevangeliums (Mt 28,19) vorausgesetzt, doch andere Neutestamentliche Geist-Symbole (Taube, Feuerzungen, [Sturm-]Wind) sprechen eher dagegen. Auch die häufige Verwendung des PneumaBegriffs (griech. = Wind, Sturm, Geist; vgl. Röm 5,5; 8,16.26; 15,13; 1 Kor 3,16 u. a.) oder „trinitarische“ Formeln (vgl. 1 Kor 13,13) bei Paulus sagen nichts über eine personale Eigenständigkeit des Gottesgeistes. Eher ist an eine bloße Personifikation zu denken, wie sie sich schon in alttestamentlichen Spätschriften und in der rabbinischen Weisheitsspekulation findet (vgl. Neh 9,30; Jes 63,10; Weish 1,7). c)

Ein problematischer Übergang

Während der Titel „Sohn Gottes“ je nach jüdischem oder hellenistischem Denkhorizont durchaus noch unterschiedlich verstanden werden konnte, wies die Übertragung zweier anderer Begriffe auf Jesus schon deutlicher in die Richtung einer Vergöttlichung des galiläischen Wanderpredigers: Der verbreitete griechische Mythos des „Gott-Menschen“ und die ebenfalls griechische „Logos“-Spekulation. Zunächst begann man, wenn auch zögernd, den Logos-Begriff auf Jesus zu übertragen. Im Logos (griech.: Rede, Wort, Denken, Vernunft) sahen verschiedene griechische Philosophen ein dynamisches Prinzip, das den Kosmos ordnet und in jeden Menschen den Keim der Vernunft legt. Die hellenistische Theologie identifizierte den Logos als offenbarendes Prinzip mit verschiedenen Göttern, vor allem mit Hermes, dem Gott der Sprache und Rede, dem Götterboten, der als Herold, als Erlöser und als Erhalter der Welt verehrt wurde. Für den jüdischen Philosophen und Theologen Philo von Alexandrien (ca.13 v. Chr. – 45/50 n. Chr.) ist der Logos ein quasi-göttliches Wesen, das die Kluft zwischen Gott und Welt überbrückt und zwischen beiden Polen vermittelt. Der Logos ist nicht Gott, sondern der „Sohn Gottes“, sein „erstgeborener Sohn“, ein „zweiter Gott“; durch ihn hat Gott die Welt erschaffen, durch ihn offenbart er sich, durch ihn kann der Mensch zu Gott aufsteigen. 42 Gegenüber solchen sprachlichen Neuerungen machten allerdings die streng an der jüdischen Tradition orientierten Judenchristen Front. Sie sahen in Jesus keineswegs den Logos, sondern gut biblisch den letzten und endgültigen Propheten (Mt 13,57; vgl. Mt 21,11). Es ist sogar zu vermuten, dass die synoptischen Evangelien mit ihrem betonten Verweis auf das irdische Wirken Jesu als Versuch anzusehen sind, dem Trend entgegenzuwirken, Jesus in eine religiöse Chiffre aufzulösen. Als zu Beginn des 3. Jahrhunderts einzelne Theologen im Hinblick auf Gott, den

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Vater, auf Jesus und auf den Gottesgeist von einer Dreiheit (trias, trinitas) zu sprechen wagten, gab es Protest. Man beschimpfte sie als Tritheisten. Der Disput zog sich über gut zwei Jahrhunderte hin. Es ging dabei um die vielfach variierte Frage, in welchem inneren Zusammenhang, in welcher wechselseitigen Beziehung Gott, der „Vater“, und Jesus, der „Sohn“, zueinander stehen. 43 Das Problematische an dieser Entwicklung hin zum Theologisieren bestand in der Tatsache, dass die Wege zu einer ganzheitlichen, nicht nur rationalen, sondern auch emotional-affektiven, mystischen Gotteserfahrung mehr und mehr versperrt wurden. Von Gott und seinem Wirken im Volk Israel und in der Gestalt des Mannes aus Nazaret wurde nicht mehr einladend und für eigene Entdeckungen und Erfahrungen Mut machend erzählt. An die Stelle der Erzählung traten Begriffe und Schlagwörter. Die Erfahrungen des Anfangs wurden in den Hintergrund gedrängt.Und damit verloren letztlich auch die Begriffe ihre Anschauung. Grundsätzlich ist zu bedenken, dass alle Glaubensformeln, mögen sie in ihrer Zeit und noch lange danach auch als absolut „wahr“, „letztgültig“ und „unveränderlich“ betrachtet worden sein, immer zeitbedingt und situationsbezogen sind. So ehrwürdig die dogmatischen Begriffe, die oft nach langem und zähem theologischen Ringen gefunden wurden, sich uns auch heute noch darstellen, sie tragen doch das Kleid einer bestimmten Denk- und Redeweise, sie sind gewirkt aus dem Stoff philosophischer Sprachvorgaben und Erfahrungshorizonte. Sätze – auch dogmatische Sätze – bleiben hinter der Wirklichkeit zurück, sie sind missdeutbar und nur bedingt übersetzbar. Die Wahrheit des Evangeliums wird vom Dogma nicht ausgeschöpft. Eine der Hauptaufgaben heutiger Theologie besteht darin, die vielfach vergessene komplexe Entstehungsgeschichte des Trinitätsdogmas samt seines theologischen und philosophischen Hintergrunds wieder in Erinnerung zu rufen und das damals Gemeinte in eine Sprache und in Begriffe zu übersetzen, die heute in einem gänzlich anderen Denkrahmen und bei anderem philosophischen und theologischen Kontext verstanden oder zumindest nachvollzogen werden können.44 Denn „die apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt: es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Verständnis und Studium der Gläubigen. […] Die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen“ 45. d) „Person“ und „Wesen“

Das Konzil von Nikaia (325) hatte definiert, dass der Sohn mit dem Vater gleichwesentlich (homooúsios) sei. Das Konzil von Konstantiopel (381) sprach von der „gleichen Würde des Heiligen Geistes zusammen mit dem Vater und dem Sohn.“ Das fünfte allgemeine Konzil, das zweite von Konstantinopel (553), formulierte schließlich: „Wenn jemand nicht bekennt, Vater, Sohn und Heiliger Geist seien einer Natur oder Substanz, einer Kraft und Macht als eine gleichwesentliche Trinität, eine Gottheit in drei Hypostasen oder Personen anzubeten, der sei im Banne.“ Dieses Konzil fügte der „statischen, extrem abstrakten, theologisch-technischen Definition“ (W. Kasper) eine mehr dynamische, heilsgeschichtliche Aussage hinzu: „Denn es ist ein Gott und Vater,

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aus dem alles ist, und ein Herr Jesus Christus, durch den alles ist, und ein Heiliger Geist, in dem alles ist“ 46. In späteren Konzilien wurde versucht, die verwendeten Begriffe noch näher zu umschreiben, gegen Missverständnisse und Fehlinterpretationen abzusichern und die monotheistische Grundstruktur des christlichen Trinitätsdogmas zu wahren. Neue Formeln wurden zur Erklärung der alten herangezogen: Da ist von innergöttlichen Hervorgängen, von göttlichen Relationen, Proprietäten, Notionen und Appropriationen die Rede. Befriedigen können alle diese scharfsinnigen Spekulationen und Definitionen bis heute nicht. Vor allem zwei Begriffe sind es, die im Hinblick auf die Trinitätstheologie eine wichtige Rolle spielen und die häufig missverstanden werden: „Person“ und „Wesen“. „Person“ Zum Ursprung des Wortes „Person“ wurde bereits oben im Zusammenhang mit dem menschlichen Person-Werden einiges gesagt. Die antike Verwendung des Wortes im Zusammenhang mit dem Brauch des Maskentragens und dem damit verbundenen Verständnis mag dazu geführt haben, dass in der alten Kirche gelegentlich von den „drei prósopa“ Gottes gesprochen wurde (prósopa = Plural von prósopon = griech. wörtlich: „Das, dem man sich gegenüber sieht“; Antlitz, Angesicht). Dieser Sprachgebrauch führte schon damals zu Missverständnissen. Der Ausdruck konnte nämlich (richtig) verstanden werden im Sinne des kultischen Gebrauchs, so dass Gott hier und jetzt verborgen hinter und in diesem „prósopon“ tatsächlich und wirklich zugegen ist; er konnte aber auch (falsch) verstanden werden im Sinne von „Gott tut nur so als ob; in Wirklichkeit steckt er gar nicht dahinter“. Verhängnisvoll für die Trinitätstheologie wirkte sich aus, dass die profane Verwendung des Personbegriffs sich im Verlauf der Geschichte gewandelt hat, während sie im kirchlichen Raum aufgrund ihrer dogmatischen Festlegung und ihrer damit postulierten grundsätzlichen „Unwandelbarkeit“ mit dem antiken Verständnis behaftet blieb. Das christlich-theologische Bekenntnis zu dem einen Gott in drei Personen meint also mit „Person“ etwas gänzlich anderes als die heutige umgangssprachliche Verwendung. Eine Anwendung des heutigen Personbegriffs auf die Dreifaltigkeit führt unweigerlich zum Drei-Götter-Glauben, zum Tritheimus. Karl Rahner hat eindringlich auf diese Gefahr hingewiesen: „Ich möchte unbefangen und ehrlich sagen, dass mir der Begriff ‚Person‘ in der Trinitätslehre missverständlich oder in Gefahr von Missverständnissen zu sein scheint.“ 47 „Wesen“ Ein ähnliches Schicksal teilt der Begriff „Wesen“, der vor allem im Hinblick auf die Frage von Bedeutung ist, wie in Jesus Gottheit und Menschheit, Göttliches und Menschliches zusammenkommen. Das Konzil von Nikaia hatte erklärt: „Wir glauben […] an den einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, als Einziggeborener gezeugt vom Vater, das heißt aus der Wesenheit (griech.: ousía, lateinisch: substantia) des Vaters, Gott von Gott, Licht vom Lichte, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, wesenseins (griech.: homooúsios; lat.: unius substantiae) mit dem Vater …“ 48

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Im Zusammenhang mit der Trinitätslehre wird man „Wesen“ zu verstehen haben als das bei aller Veränderung seiner äußeren Erscheinungsform unsichtbar Bleibende und unveränderlich Dauernde (z. B. das „Ich“ des Menschen, das trotz des Wandels der äußeren Erscheinungsform im Verlauf des Lebens durchgängig dasselbe bleibt), als den verborgenen und unsichtbaren Träger jeder Gestalt (das Stein-Sein des Sand-, Granitoder Marmor-Steins), als das „Ding an sich“ (Immanuel Kant), das als „Verstandesgegenstand“ im Gegensatz zum „Sinnesgegenstand“ nur einer intellektuellen Anschauung und nicht einer sinnlichen Wahrnehmung gegeben ist, als das eigentliche und wahrhafte Sein eines „Etwas“, als das Charakteristische, Auszeichnende, unverwechselbar Unterscheidende, das einem konkreten „Etwas“ dauerhaft und bleibend eignet. Aber ist mit einem derart abstrakten Begriff im Hinblick auf Gott und den Glauben an ihn etwas gewonnen? „Das unbegreiflich hohe, einmalige Mysterium, das über mein Schicksal entscheidet und das der Welt, an dem schlechthin alles hängt im Himmel und auf Erden, weil es das Schicksal Gottes selbst aussagt und darin das Schicksal der Welt aufnimmt, dieses Geheimnis soll ich ausgesprochen vernehmen in dem Begriff, der zu den allgemeinsten der formalen Ontologie gehört. […] Man fühle erst das lastende Gewicht der Dunkelheit, ehe man schnell mit einer Antwort aufwartet.“ 49 Die abstrakten begrifflichen Formeln haben sich im Verlauf der Geschichte verselbstständigt. Sie haben ihre Funktion als Deutung und Interpretation der Geschichte Gottes mit den Menschen, der Botschaft und dem Handeln Jesu und dem Wirken des Gottesgeistes verloren. Der lebendige Geschichtsglaube der Schrift und Tradition erstarrte und wurde für den existentiellen Glauben unverständlich und funktionslos. 50 Es ist darum nicht verwunderlich, wenn der christliche Glaube an den drei-einen Gott heute weithin bedeutungslos geworden ist, weil er in seiner abstrakten Begrifflichkeit unverständlich und konstruiert erscheint. e)

Vorschläge für neue Sprachregelungen

Vater, Sohn, Geist als Bild-Symbole Die Entstehungsgeschichte des jüdischen Monotheimus zeigt, dass die Stämme des Volkes Israel das Wirken Gottes auf sehr vielfältige und unterschiedliche Weise erfuhren. Jede dieser Erfahrungen offenbarte eine andere Seite. Jede Gottesbegegnung ließ ein anderes „Angesicht“ (vgl. Ex 33,20; 1 Chr 16,11) erkennbar werden. Dieser Gott erschien nicht als eine einzige fixe, wohlbekannte, immergleiche Größe, sondern als der jeweils Fremde, als der Unbekannte, als der überraschend Andere. Sein „Name“ (Jahwe = „Er-ist-da“) musste in jeder Situation erst je neu ausgemacht und buchstabiert werden. So erschien Jahwe wie ein Vater, wie ein König, wie ein Herr, wie ein mächtiger und grausamer Krieger, wie ein Sippen- und Familiengott, wie ein rätselhafter Unbekannter, wie eine liebende Mutter, wie die personifizierte Weisheit, wie eine „Geistin“; in Feuer, Blitz und Erdbeben, im sanften Säuseln eines zarten Windes, als Donnerstimme im Schall der Posaunen oder als leise mahnender Ruf im Inneren. „Was diese vielen Ereignisse […] zu einer Geschichte macht, ist offenbar das Wiedererkennen des einzigartigen, immer wieder andersartigen Gottes. ‚Er ist es wieder‘, so sprechen sie jedesmal.

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Gerade darin erweist diese Erfahrung ihre Zuverlässigkeit, weil sie diese Ereignisse deuten kann. Solche Verlässlichkeit heißt in der Schrift ‚Wahrheit‘“ 51. Gott ist „wahr“, und er ist Jahwe, der „Ich-bin-da“, weil er immer wieder derselbe ist, trotz aller Unterschiede seiner Erfahrbarkeit. Deren Zusammenfassung und Bündelung veranlasste die Theologen der frühen Kirche zur Rede von dem einen Gott in drei „Personen“:  Gott ist in der Geschichte Israels erfahrbar geworden als schaffender, mitsorgender, liebevoll führender, befreiender Gott – Gott ist „Vater“.  Gott ist in Jesus von Nazaret erfahrbar geworden als Mensch unter Menschen, der zu Gott „Vater“ sagen kann, als Bruder aller „Söhne“ und „Töchter“ Gottes, als leidender und durch Menschengewalt hingerichteter Gott – Gott ist „Sohn“.  Gott ist erfahrbar geworden als belebender, immer wieder zu neuen Aufbrüchen treibender, den Menschen in seinem Innersten anrührender Gott – Gott ist „Geist“. Von dieser „ökonomischen“ (d. h. in der Welt erfahrbaren, nach außen sich wendenden) „drei“-faltigen und doch stets in einem unlösbaren Zusammenhang stehenden Wirk- und Erscheinungsweise Gottes schlossen die Theologen auf eine „Dreiheit“ in Gott selbst („immanente Trinität“). Denn, so glaubten sie, ein Gott, der sich nach außen als „Drei-Einer“ kundtut und erfahrbar macht, kann nicht in sich selbst eine undifferenzierte, gestaltlose Einheit sein. Er muss selbst vielfältig oder besser – im Hinblick auf die drei eben genannten Aspekte – „drei“-faltig sein. Gott-vor-uns, Gott-mit-uns, Gott-in-uns Gerade in Anknüpfung an die in der Bibel niedergelegte und beschriebene Geschichte Gottes mit den Menschen insgesamt und mit dem Volk Israel im besonderen erscheint heute eine Sprachregelung angemessen, die von den bisherigen „personalen“ Begriffen „Vater, Sohn und Geist“ abgeht und mehr die geschichtlichen Aspekte der Gotteserfahrung hervorhebt. Die „innergöttliche“ Struktur muss dabei unberücksichtigt bleiben. Denn wie können endliche Menschen sich überhaupt herausnehmen, etwas über das innergöttliche Leben, über das göttliche Wesen „an sich“, auszusagen? Christen durften in der Geschichte Israels und in der Gestalt des Mannes aus Nazaret erfahren: Gott ist die Quelle allen Lebens, der Schöpfer und Erhalter der Welt, der vor seinem Volk Herziehende und unter seinem Volk Wohnende, die letzte Vollendung allen Seins. Er ist  Gott-vor-uns (in doppeltem Sinn als Grund und Ziel). Gott ist in Jesus von Nazaret zum Bruder aller Menschen geworden; er hat Leib und Leben, Not und Tod mit ihnen geteilt; er begegnet uns in jedem Geringsten (Mt 25,40.45) und ist so bei uns „alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20). Er ist  Gott-mit-uns, der „Immanuel“ (Jes 7,14; Mt 1,23). Gott ist das unsichtbare Lebensprinzip, die nimmer erlahmende Triebkraft, der Anwalt und Tröster, der weiterführende Lehrer (Joh 14,26), die Stimme der Be-

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drängten und Entmutigten (Lk 12,12), die alles und alle verbindende Gemeinschaft und Liebe (Röm 5,5). Er ist Gott-in-uns (Apg 17,28).

Ein derartiges Sprechen von Gott umschifft die Klippen der herkömmlichen trinitarischen Begrifflichkeit. Es eröffnet Möglichkeiten, die Erfahrungen der Bibel nachzuvollziehen, ohne die heute manchmal zu unterschwelliger Aversion („Vater“), zu missverständlicher Vorstellung („Sohn Gottes“) oder zu allzu umrissloser Interpretation („Heiliger Geist“) verleitenden biblischen Metaphern zu verwenden. Symbolisch-qualitatives Verständnis der Dreizahl Schon oben wurde aufgezeigt, dass der Oberbegriff „Vater“ für Gott lediglich als Bild, als Metapher zu verstehen ist für eine Reihe von Erfahrungen, die im menschlichen Alltag mit dem Vater-Sein in Zusammenhang gebracht werden (können). Manches davon ließe sich auch als Mutter-Erfahrungen qualifizieren. Damit würde freilich die Fixierung auf ein quantitativ-nummerisches Verständnis der Dreizahl aufgehoben. Aber damit wäre einiges gewonnen, denn die Frage muss erlaubt sein, ob es sich bei den drei überlieferten Trinitäts-Metaphern (Vater, Sohn, Geist) wirklich um numerisch-quantitativ zu verstehende Gestalten des Göttlichen handelt (das wäre dann eben doch Tritheismus) oder vielmehr um symbolisch-qualitativ zu deutende Metaphern, in denen die Vielfalt der Erfahrungen Gottes gleichsam gebündelt erscheint. Wird aber nicht damit die grundsätzlich unendliche Variationsbreite der Gotteserfahrungen auf ein schlichtes Drei-Ton-Leitmotiv reduziert? Wird nicht so die Polyphonie göttlicher Selbstmitteilungen nur in einem Dreiklang zusammengefasst? Gegen ein symbolisch-qualitatives Verständnis der Dreizahl innerhalb der Trinitätstheologie ließe sich einwenden, dass die trinitarische Dreizahl in der christlichen Theologie offensichtlich von Anfang an numerisch-quantitativ verstanden wurde. Das gilt für das „auferweckt am dritten Tag“ und für viele andere, im Ersten wie im Zweiten Testament verwendete Dreiergruppen: drei Gaben der Sterndeuter aus dem Osten (Mt 2,21), drei Tage Aufenthalt des zwölf-(= 3  4)jährigen Jesus im Tempel (Lk 2,46), drei besondere Vertraute Jesu (Mk 1,29; 9,2; 14,33; Lk 8,51), drei Hütten auf dem Berg der Verklärung (Mk 9,5), drei Tage des Lazarus im Grabe (Joh 11,39), Kreuzigung um die dritte Stunde (Mk 15,25 parr), drei Gekreuzigte auf Golgota (Mk 15,27 parr.) – um nur die bekanntesten Beispiele aus den Evangelien zu zitieren. Es ist aber anzunehmen, dass die hier verwendeten Dreierzahlen für den jüdischen bzw. den frühchristlichen Leser und Hörer eine symbolisch-qualitative Deutung zumindest miteinschlossen. In diesem Zusammenhang sollte die Mahnung des Zweiten Vatikanischen Konzils im Hinblick auf die Erklärung der Schrift nicht vergessen werden: „Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten; denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrückt in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. […] Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muss man schließlich genau auf die vorgegebenen umwelt-

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bedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren“ 52. Es ist also zu fragen, ob eine symbolisch-qualitative Deutung gegenüber der quantitativ-numerischen nicht sogar Vorzüge besaß (und besitzt). Ein symbolisch-qualitatives Verständnis der Dreizahl auch in der Trinitätslehre erscheint theologisch erheblich aussagekräftiger als die verkrampften Distinktionen und rationalisierenden Spitzfindigkeiten einer Trinitätsspekulation, die versucht, den Monotheismus zu retten trotz der nummerisch-quantitativen Interpretation der Dreizahl. Der Katholische Erwachsenenkatechismus vermeidet bewusst die in den theologischen Handbüchern abgedruckten diffizilen Unterscheidungen. Er zitiert einen Ausschnitt aus der Dreifaltigkeitspräfation und schreibt im Anschluss dazu, immer wieder den Geheimnis-Charakter des Dogmas hervorhebend: „Dieses Bekenntnis zum dreieinigen Gott ist ein tiefes Geheimnis, das kein geschaffener Geist von sich aus zu entdecken oder jemals zu begreifen vermag. Es ist das Geheimnis einer unergründlichen und überströmenden Liebe: Gott ist kein einsames Wesen, sondern ein Gott, der aus der Überfülle seines Seins heraus sich schenkt und mitteilt, ein Gott, der in der Gemeinschaft von Vater, Sohn und Geist lebt und der darum auch Gemeinschaft schenken und begründen kann. Weil er Leben und Liebe in sich ist, kann er Leben und Liebe für uns sein. So sind wir von Ewigkeit her in das Geheimnis Gottes einbezogen. Gott hat von Ewigkeit her Platz für den Menschen. Letztlich ist das Bekenntnis zum dreifaltigen Gott eine Auslegung des Satzes: ‚Gott ist Liebe‘ (1 Joh 4,8.16b).“ 53 Man wird den Eindruck nicht los: Je „geheimnis“-voller, desto göttlicher. Vielleicht hätte der Katechismus doch lieber nicht so oft vom „Geheimnis“ reden und stattdessen den Versuch einer plausiblen Hinführung zum Trinitätsdogma wagen und Erfahrungsmöglichkeiten des drei-einen Gottes in der Welt von heute aufzeigen sollen. Trotz der Aufwendung enormen Scharfsinns und erstaunlicher Formulier- und Distinktionskunst kann die Theologie – zumindest für Außenstehende und auch für Theologen anderer Religionsgemeinschaften – bis heute nicht hinreichend einsichtig machen, wie die Dreifaltigkeitslehre mit dem Monotheismus in Einklang zu bringen ist. Das beweisen die immer wieder im Gespräch mit dem Judentum und dem Islam auftretenden Irritationen und der bei einfachen Gläubigen bis hinauf in die oberen Ränge der Theologen unausrottbar grassierende, meist freilich nicht geäußerte, sondern nur schlicht und stumm (wenn überhaupt noch) geglaubte Tritheismus. Vielleicht könnte eine veränderte, stärker biblisch begründete und erfahrungsoffene Sprachregelung dazu beitragen, die Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.

IX. Kirchengeschichte: Eine „Kriminalgeschichte“? Kirche existiert nur als Kirche in der Geschichte und mit der Geschichte. Sie ist unterwegs. Diese „Pilgerschaft“ 1 hat ihre Licht- und Schattenseiten, zeigt Höhen und Tiefen, bringt Heil und Unheil über die Menschen. Immer wieder werden freilich Versuche unternommen, Kirchengeschichte allein als Heilsgeschichte, getragen vom Wirken des Gottesgeistes, schönzufärben. Doch die Anwesenheit des Geistes kann zwar behauptet werden, sie lässt sich aber nicht beweisen. Was für den Historiker feststellbar erscheint, ist allein die Tatsache, dass vieles in der Kirche geschehen ist und noch immer geschieht unter Berufung auf den Heiligen Geist oder den „Willen Gottes“. Geschichtliche Betrachtungsweise vermag keinen Beweis dafür zu liefern, dass in den bestimmten Geschehnissen der Kirchengeschichte oder im Anspruch der Kirchenleitung wirklich der Geist Gottes am Werk war (und ist). Zu oft und zu vordergründig erscheint das Handeln der Kirche und ihrer verantwortlichen Führer bestimmt von politischen und wirtschaftlichen Interessen und vom Streben nach Macht und Machterhalt. Und nicht selten meint man, eher den Ungeist als den Geist in der Geschichte der Kirche am Werk zu sehen.

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Kaiser Konstantin – Heil oder Unheil für die Kirche?

Gleich am Anfang ihrer missionarischen Tätigkeit sieht sich die junge Kirche mit dem antik-religiösen Kultverband und seinen Praktiken konfrontiert. Zwar zeigte Rom gegenüber anderen Religionen Toleranz, sofern der römische Staatskult und die Person des Kaisers nicht in Frage gestellt wurden. Aber schon der christologische Hoheitstitel „Kyrios“ (Herr) musste einen Kaiser argwöhnisch stimmen, der sich selbst als „Kyrios“, ja als „Gott“ titulieren ließ. So begegnete man wohl dem Christentum, diesem „neuartigen, gemeingefährlichen Aberglauben“ (Sueton), mit einem diffusen Misstrauen. Dennoch lassen sich die ersten drei Jahrhunderte nicht generell als Verfolgungszeiten bezeichnen. Wenn Christenverfolgungen entbrannten, dann geschah das zunächst meist regional und zeitlich begrenzt. Erst ab der Mitte des 3. Jahrhunderts wird von Verfolgungen berichtet, die sich über das ganze Imperium erstreckten (Decius 249– 251, Valerian 253–260, Diokletian ab 303–305). Im Jahr 311 wurde durch Kaiser Galerius im Osten und durch Kaiser Konstantin im Westen die staatliche Duldung des Christentums verfügt (Mailänder ToleranzEdikt). Diese „Konstantinische Wende“, in deren Gefolge Kaiser Theodosius 380 das Christentum sogar zur Staatsreligion erklärte, wird heute meist als sehr zwiespältig und eher negativ beurteilt. Ganz offensichtlich vollzog sich der religionspolitische Wandel im Rahmen antiker Zuordnung von Religion und Staat. Kaiser Konstantin lässt für die neue Religion Kirchen bauen (Jerusalem, Rom). Die Kirche sorgt für den von

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Kirchengeschichte: Eine „Kriminalgeschichte“?

Staats wegen erwarteten Kultbetrieb. Die Bischöfe werden zu Staatsfunktionären und kommen in den Genuss jener Privilegien, die bis dahin den heidnischen Kultdienern und Oberpriestern vorbehalten waren. Die kirchliche „Ordinatio“ (= „Priesterweihe“) erhält die Bedeutung der Eingliederung in den Klerus als dem höheren Stand der Kirchengemeinde gegenüber dem niederen „gläubigen Volk“, den „Laien“. 2 Für den Priester kommt die lateinische, ursprünglich für die jüdischen Opferpriester im Tempel verwendete Bezeichnung „sacerdos“ auf. Das Priestertum wird nunmehr wesentlich nicht mehr vom Dienst an der Gemeinde, sondern durch seine Beziehung zum Kult und hier insbesondere zum „Messopfer“ bestimmt. Die Tendenz geht dahin, nur eigens dafür geheiligte und geweihte, vom gewöhnlichen Volk ausgesonderte und „unbefleckt“ (= zölibatär) lebende Männer an Christi Statt das „heilige Opfer“ darbringen zu lassen. Kaiser Konstantin ist es, der das Konzil von Nikaia (325) einberuft, um einer drohenden religiös-ideologischen Spaltung seines Reiches im Zusammenhang mit dem Arianismus zu verhindern. Nach des Kaisers Vorstellungen soll das universale Christentum zur geistigen und ideologischen Grundlage für das universale Reich werden. Der Kaiser beansprucht die geistig-geistliche Führungsrolle. Auf dem in Nikaia verabschiedeten „Credo“ wird – wohl nicht ohne politische Hintergedanken – als einzige Eigenschaft Gottes die Allmacht genannt („Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater …“). Die Berufung auf einen allmächtigen Gott, der Herr ist über alle himmlischen und irdischen Heerscharen und von dem der Kaiser seine Herrschaft erhält, lässt die Macht des Kaisers unangreifbar und unumschränkt erscheinen. Wer dürfte es wagen, die kaiserliche Machtfülle in Frage zu stellen, die den irdischen Abglanz der universalen Allmacht Gottes darstellt? Je mächtiger der oberste Herr-Gott erscheint, desto mächtiger wird auch der Herr-Mensch, der Kaiser, der ja „von Gottes Gnaden“ ist. Wie der allmächtige Gott ist auch der Kaiser seinen Untertanen keine Rechenschaft über seine Machtausübung schuldig. Aus der (wenn auch nur zeitweise) verfolgten Kirche wird nun selbst eine verfolgende. Kaiser Theodosius erklärt in seinem Edikt von 380: „Nur diejenigen, die diesem Gesetz folgen, sollen, so gebieten wir, katholische Christen heißen dürfen; die übrigen aber, die wir für toll und wahnsinnig halten, haben den Schimpf ketzerischer Lehre zu tragen. […] Endlich soll sie vorab die göttliche Vergeltung, dann aber auch unsere Strafgerechtigkeit ereilen, die uns durch himmlisches Urteil übertragen worden war.“ 3 Die unter Konstantin grundgelegten Strukturen und Vorstellungen haben das Erscheinungsbild der Kirche bis ins Mittelalter hinein geprägt. Kaiser und Papst geraten allerdings in zunehmendem Maße in Rivalität. Angesichts eines schwächelnden Kaisertums erhebt der römische Bischof immer mehr den Anspruch auf die politische Führungsrolle, die ihm zeitweise sogar regelrecht in den Schoß fällt: Papst Leo I. rettet Rom vor Attila (452) und dem Ansturm der Vandalen (455); der Frankenfürst Chlodwig gelobt während einer für ihn bedrohlichen Lage in einer Schlacht gegen die Alemannen, sich taufen zu lassen, und leitet damit die Christianisierung der Franken ein (497); Gregor I. entsendet auf ein Hilfeersuchen König Ethelberts von Kent Missionare nach England (597); Bonifatius dehnt das Christentum nach Osten aus (719–754); Leo III. überrumpelt Karl den Großen, indem er ihn zum

Kaiser Konstantin – Heil oder Unheil für die Kirche?

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Kaiser krönt und damit den Anschein erweckt, als sei Karl nun Kaiser von Papstes Gnaden (800). Als eine Art Protest- und Gegenbewegung gegen das zu starke weltliche Engagement der Kirche und die Versuchung des Reichtums muss die Entstehung des Mönchtums gesehen werden. Nach dem Vorbild der Eremiten in Ägypten (Antonius, Pachomius) und des Mönchtums der Ostkirche (Basilius der Große) gründete Benedikt auf dem Monte Cassino im Jahre 529 ein Kloster. Er gab seiner Mönchsgemeinde eine stark patriarchalisch ausgerichtete Regel, in der er ihnen (u. a.) Gebet und (die in der Antike für den freien Bürger verpönte) Handarbeit vorschrieb. In gleicher Weise, wie Macht und Ansehen der römischen Kirche wuchsen, kühlten sich die Beziehungen zu den Kirchen des Ostens ab. Die politische Einflussnahme des byzantinischen Kaisertums auf sie war hier geringer, denn der Osten war nicht in ähnlicher Weise zentralistisch organisiert und strukturiert wie der lateinische Westen. Die einzelnen Ortskirchen konnten sich unabhängiger entwickeln, standen damit allerdings untereinander in Konkurrenz. Die vier östlichen Patriarchate Alexandrien, Konstantinopel, Antiochien, Jerusalem stritten untereinander um Einfluss und Macht, hielten aber meist zusammen, wenn sie sich gegen Ansprüche der römischen Kirche zur Wehr setzen mussten. Sie taten das im „Bilderstreit“, der im 4. Jahrhundert zunächst zu heftigen Auseinandersetzungen unter den Kirchen des Ostens führte, der dann aber durch die Parteinahme des Bischofs von Rom zugunsten der Bilderverehrer eskalierte und zum „Startzeichen des großen Schismas“ zwischen der römischen Kirchen und den Kirchen des Ostens wurde. Die Kaiserkrönung Karls des Großen (der sich ebenfalls im Bilderstreit engagiert hatte), die Eingliederung Bulgariens in das Patriarchat von Konstantinopel und der Streit um die Frage, ob der Heilige Geist vom Vater und vom Sohne ausgeht („filioque“), wie von Rom vertreten, oder nur vom Vater (östliche Position), trieben die Spannung schließlich zum Zerbrechen der Einheit, zum „Morgenländischen Schisma“ (1054). Ab dem siebten Jahrhundert gerieten die östlichen Kirchen unter zunehmenden Druck durch den aufkommenden Islam. Rom rief zum Kreuzzug auf, und die westlichen Kaiser und Fürsten folgten dem Ruf aus politischen und wirtschaftlichen Interessen nur allzu gern. Vielleicht wäre der Ruf verhallt oder hätte nur geringes Echo gefunden, wenn nicht Abenteuerlust bei den einen, Elend und Not bei den anderen viele dazu getrieben hätte, sich den Kreuzzugsheeren anzuschließen. „Gott will es“ riefen die Kreuzfahrer und zogen sengend und mordend in das Heilige Land, um dort am 15. Juli 1096, einem Freitag, mehr als 70.000 Muslime in der Al-Acsa-Moschee umzubringen. 4 Wenn auch das eigentliche Ziel die „Befreiung“ des Heiligen Landes vom Islam war, so wurden gelegentlich auch „Nebenziele“ verfolgt. Schon beim ersten Kreuzzug war es in Frankreich, Lothringen und in einigen Städten entlang des Rheins zu Judenmassakern gekommen, die später – unabhängig von den Kreuzzügen, etwa wegen „Brunnenvergiftung“ oder Epidemien – immer wieder aufflackerten und ihren schrecklichen Höhepunkt im 20. Jahrhundert erreichten. „Nebenher“ wurde, vor allem auf Betreiben venezianischer Kaufleute, während des vierten Kreuzzugs (1202–1204) das christliche (!) Byzanz erobert und geplündert.

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2. Finsteres Mittelalter? Das nach dem Ende der römischen Antike beginnende sogenannte „Mittelalter“ ist von einer eigenartigen Widersprüchlichkeit gekennzeichnet:  Es gilt einerseits als „finsteres Mittelalter“, gekennzeichnet von kirchlichem und weltlichem Absolutismus, von Kreuzzügen und Inquisition, von Unterdrückung der Freiheit des Denkens, von einem gefährlichen Sexismus (Hexenverfolgungen, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts andauerten), von der Trennung zwischen (gebildetem) Klerus und (ungebildeten) Laien, von einer starken Abwertung der Antike. Es muss andererseits gesehen werden als die Zeit der Dome und Kathedralen, der Großleistungen mönchischer Kultur (Kloster Maulbronn, Insel Reinenau, Buchmalerei, Gregorianischer Choral, Goldschmiedekunst), einer beginnenden Überwindung des dominierenden platonischen Denkens durch die Aristoteles-Rezeption des Thomas von Aquin († 1274, Summa theologiae) und eine damit implizit eingeleitete Wende zu naturwissenschaftlich-empirischer Forschung.  Einerseits erscheint die Kirche und insbesondere das Papsttum als unübersehbarer politischer Machtfaktor (Kirchenbann gegen Heinrich IV. durch Gregor VII. und „Gang nach Canossa“ [1077]; Papst Bonifaz VIII. mit seiner Forderung nach „plenitudo potestatis“ [Fülle der Gewalt] in der Bulle „Unam sanctam“ [1302]). Andererseits gründen Könige Bistümer und lassen Kirchen bauen. Klöster und Bischöfe werden von Stammesherzögen und Königen zu drastischen Abgaben und zur Gestellung von Kriegsdienstleistenden verpflichtet. Bischöfe werden vom König in ihr geistliches Amt eingesetzt (Investiturstreit). Gegen das zunehmend hierarchisch-politische Erscheinungsbild der Kirche stellen die Ordensgründungen und die Armutsbewegungen jener Zeit eine kritische Antwort dar. Die einen („Waldenser“) verstehen sich vor allem als Laienbewegung und werden nach Exkommunikation durch das Vierte Laterankonzil (1215) zu einer Art Untergrundkirche. Die anderen („Katharer“) gründen eine Gegenkirche, der sich in Südfrankreich vor allem Adelige (aus politischen und wirtschaftlichen Interessen) anschließen. In äußerst blutig geführten „Kreuzzügen“ gegen die „ketzerischen Albigenser“ (1209–1229) werden Zehntausende von ihnen umgebracht. Franziskus (1181/82– 1226) und seine „Minderbrüder“ schaffen es, trotz anfänglicher Widerstände Roms der Inquisition zu entgehen. Der Bettelorden der „Franziskaner“ verbreitet sich in Windeseile über ganz Europa (30.000–40.000 Mitglieder um das Jahr 1300). Trotz dieser Reformbewegungen (oder gerade deswegen) verstummt nicht der Ruf nach grundlegender Reform der Kirche. Doch die Päpste zeigen kein ernsthaftes Interesse daran. Das Schuldbekenntnis Papst Hadrians VI. (1522–1523), das er durch seinen Legaten auf dem 2. Nürnberger Reichstag (3. 1. 1523) verlesen lässt, ist aus dem Bewusstsein erwachsen, dass über Jahrhunderte hinweg die geistliche Sendung der Kirche überwuchert war von weltlichen Interessen. Doch es kommt zu spät und kann das Auseinanderbrechen der kirchlichen Einheit im Westen nicht mehr verhindern.

Die Reformation

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3. Die Reformation Bis vor wenigen Jahren schoben sich Protestanten und Katholiken gegenseitig die Schuld an den Trennungen der Reformationszeit zu. Inzwischen sehen beide Seiten von unfruchtbaren Schuldzuweisungen ab. So schreibt der Evangelische Erwachsenenkatechismus: „Aus Verantwortung für die unverfälschte Heilsbotschaft meinte man, sich von den anderen trennen zu müssen. Solche Trennungen um der Wahrheit des Evangeliums willen waren tragische Notwendigkeiten. Sie lassen sich mit dem Begriff ‚Sünde‘ nicht voll erfassen und durch Buße und Schuldbekenntnis allein nicht überwinden. Hier kann nur das gemeinsame Bemühen um ein rechtes Verständnis des Evangeliums weiterführen“5. Der Schock der Reformation führt in der (römisch-)katholischen Kirche zu Reformen, die sich freilich nicht selten in trotzigem Beharren auf dem Althergebrachten und im Festschreiben der überkommenen Strukturen erschöpfen (Konzil von Trient 1545– 1563). Als Organ der praktischen Durchführung einer Gegen-Reformation bietet sich der 1534 gegründete Jesuitenorden an. Mit prachtvollen Kirchenbauten, festlicher Gestaltung der Gottesdienste, mit Schulgründungen und dem Dienst von Hofkaplänen und Beichtvätern an Fürstenhöfen, mit dem Verfassen eines „Katechismus“ (Petrus Canisius 1521–1597) versucht er in strenger Unterordnung unter die päpstlichen Weisungen („Kadavergehorsam“), das verlorene Terrain zurückzugewinnen. Dass im Gefolge dieses regelrechten Abwehrkampfes nicht selten auch brutale Gewalt angewendet wurde, gehört zu den dunklen Seiten dieser Zeit. Auch Judenverfolgungen waren (wieder einmal) an der Tagesordnung. Und nicht zuletzt versuchten auch die Fürsten und Adeligen beider Glaubensrichtungen, die Gunst der Stunde zu nutzen und ihre Macht zu erweitern (Hugenottenkriege; Dreißigjähriger Krieg: Gustav Adolf von Schweden, Wallenstein).

4. Die Neuzeit Neben Reformation und Gegenreformation war es wohl die so genannte „Aufklärung“, welche die Kirchen am nachhaltigsten beeinflusst hat und deren Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart hinein reicht. Und dabei lässt sich gar nicht einmal genau sagen, was Aufklärung eigentlich ist. Am bekanntesten ist die Beschreibung von Immanuel Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung“ 6 Als führender Kopf mit dem nachhaltigsten Einfluss hat in Deutschland wohl Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) zu gelten. Für ihn gab es keine unwandelbare, ewig gültige Wahrheit, die man wie einen Besitz festhalten kann: „Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb

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nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!“ 7 Im politischen Bereich führten die Gedanken der Aufklärung zur Französischen Revolution mit ihrer Forderung nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und zur Abschaffung der absolutistischen Monarchie „Von Gottes Gnaden“. Aber nachdem General Napoleon Bonaparte durch den Staatsstreich vom 9. 11. 1799 (wieder einmal das Datum 9. 11.!) der Schreckensherrschaft der „Jakobiner“ und des „Direktoriums“ ein Ende bereitet und die zu Deutschland gehörenden linksrheinischen Gebiete erobert hatte, zwang er die deutschen Fürsten im Frieden von Lunéville (1801), ihm diese Ländereien abzutreten. Diese hatten sich aber zuvor in Geheimverhandlungen mit Frankreich eine Entschädigung zusichern lassen: die „geistlichen Staaten“. Der „Reichsdeputationshauptschluss“ (25. 2. 1803) ordnete die Enteignung und Säkularisierung von 22 Erzbistümern und Bistümern, 80 reichsunmittelbaren Abteien und über 200 Klöstern an. Die ganze mittelalterliche Feudalordnung mit ihrem vielgestaltigen Benefizwesen und ihrem Unterschied zwischen dem hohen und niederen Klerus wurde mit einem Federstich beseitigt. Was zunächst als Katastrofe beklagt wurde, erwies sich freilich als Chance für einen Neuaufbau: Die entmachtete und verarmte Kirche trat in ein neues Verhältnis zum Volk: Bischöfe, Priester und „Laien“ fühlten sich enger verbunden. Die „Volkskirche“ des 19. Jahrhunderts entstand. Die Eroberung des Deutschen Reiches durch Napoleon wurde auch zum Ausgangspunkt eines militanten deutschen Nationalismus, der vor den Kirchen nicht Halt machte. Von den Kanzeln wurden die Befreiungskriege gegen die napoleonische Herrschaft als „heiliger Krieg“ angesprochen und Napoleon selbst als „Pharao“ oder „Antichrist“ gebrandmarkt. Die starke nationale Ausrichtung wurde vor allem für den Protestantismus in vieler Beziehung verhängnisvoll, denn sie lieferte die emotionale Grundlage für die Kriegsbegeisterung am Anfang des 20. Jahrhunderts: Christliche Tugenden und nationale Pflichten, Reich Gottes und Deutsches Reich wurden nicht selten in unerträglicher Weise gleichgesetzt. Für die christliche Theologie brachte die im 19. Jahrhundert sich immer stärker ausbreitende Aufklärung tiefe Einschnitte und eine grundlegende Neuorientierung. Viele Überzeugungen, die sich auf eine lange Tradition berufen konnten, gerieten ins Wanken. Das aufkommende naturwissenschaftliche Denken und seine Erkenntnisse zu den Anfängen und zur Geschichte des Kosmos sowie zur Evolution alles Lebendigen und des Menschen wirkten auf viele Gläubige wie ein Schock. Denn bis dahin selbstverständliche Lehren wurden vor allem zum Schöpfungsglauben und zur Anthropologie wurden in Frage gestellt. Seitdem haben die Naturwissenschaften in weiteren Bereichen, z. B. in der Gen- oder Hirnforschung, Thesen hervorgebracht, die zwar in Vielem noch vorläufig sein mögen, aber wohl zu manchem Umdenken zwingen werden. Trotz anfänglicher und bis heute nicht völlig ausgeräumter Widerstände haben sich die europäischen Großkirchen dieser Herausforderung nicht grundsätzlich verschlossen. In ihnen ist heute aufgeklärtes Denken, wenn auch nicht immer in allen seinen Dimensionen oder in allen Aspekten, weithin verbreitet. In Theologie und Verkündigung wird versucht, die christlichen Grundüberzeugungen so zur Sprache zu

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bringen und zu vermitteln, dass die historisch-kritischen sowie die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse aufgegriffen, reflektiert und diskutiert werden. Die Aufklärung hat dem Christentum neue Chancen eröffnet, auch in Zukunft mit seinen Lehren und Werten eine gesellschaftlich relevante Rolle spielen zu können. Diese Transformation und Modernisierung des Christentums war und ist unausweichlich, weil es anders seine Adressaten nicht mehr erreichen und ihnen keine Perspektiven für ein sinnvolles Leben anbieten kann. Die Rezeption der Aufklärung macht das Christentum zukunftsfähig. Zwar kann (und soll) es nicht alle seit der Aufklärung aufgekommenen Thesen gewissermaßen eins zu eins übernehmen. Es besteht durchaus in vielen, entscheidenden Bereichen auch heute Diskussionsbedarf, bei dem sich das Christentum einbringen und eine rein „horizontale“ Verarmung des Denkens verhindern kann. Aber eine grundsätzliche Ablehnung der Aufklärung müsste das Christentum in ein Ghetto verweisen, in dem vormodern gedacht und gelebt wird. Freilich: Nicht alle Gruppierungen und Richtungen innerhalb der Kirchen konnten und wollten sich diesem Prozess des Umdenkens öffnen. In traditionell geprägten Segmenten aller Konfessionen gibt es Widerstände, die die Fundamente des Glaubens in Frage gestellt sehen. Vor allem die „Amtskirchen“ halten zäh und nicht selten reichlich unnachgiebig an den traditionellen Auffassungen fest, weil in ihnen ihre Stellung und Macht begründet ist. Große fundamentalistische Gruppen lehnen alles aufgeklärte Denken grundsätzlich ab und klammern sich an das „bewährte Alte“. Die Kirchen in der „Dritten Welt“, in Asien, Afrika, Ozeanien und Lateinamerika, kommen aus ganz anderen kulturellen und religiösen Kontexten; ihnen sind die Probleme und Fragen der Aufklärung (noch) fremd. 8 Die Aufklärung hat sich keineswegs schon gänzlich im Christentum durchgesetzt. „Aufklärung“ wird von Vielen noch immer verstanden als Selbsterleuchtung durch das Licht der autonomen Vernunft, die sich gegen die herrschende Orthodoxie mit ihrer Betonung des Dogmas wandte. Der Theologie musste sich daran machen, das Verhältnis von Vernunftwahrheit und Offenbarungswahrheit zu klären. Hinzu kam die wachsende Tendenz zur Emanzipation von jeder autoritativen Vorgabe einzelner Wahrheiten und von jeglicher Bevormundung im Vernunftgebrauch. Darüber hinaus zielte das Interesse der aufklärerischen Vernunft auf den sittlichen Gehalt und den Lebenswert der christlichen Offenbarung. 9 Vor allem dieser letzte Aspekt führte dazu, dass die Botschaft Jesu zu einer Art Tugendlehre umgedeutet wurde. Ordnung, Pünktlichkeit, Fleiß, Strebsamkeit, Lernbegierde – für all das musste Jesus als Vorbild herhalten: „Jesus ging gern in den Tempel, die Zeit wurde ihm nicht zu lang daselbst, er hörte, er fragte, er antwortete; seine Eltern fanden ihn in dem Tempel. Sehet die Schulen als Gotteshäuser an; denn sie sind es nicht weniger als die Kirchen, eure ganz eigenen Tempel, meine lieben jungen Christen, in denen man sich wie in den Kirche nicht ohne große Versündigung und Schaden […] unehrerbietig, unachtsam, plauderhaft, ungesittet aufführen kann“ 10 Für die protestantische Theologie erlangte vor allem Friedrich Daniel Schleiermacher (1768–1834) große Bedeutung. In seinem frühen Werk „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern.“ Er beschreibt darin die Religion als eine Grundbefindlichkeit des Menschen, die „aus dem Innern jeder besseren Seele

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notwendig von selbst“ entspringt. Sie ist „Anschauen des Universums“ und „das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl“ 11. Auch die römisch-katholische Kirche sah sich durch diese Entwicklung bedroht. Zunehmende Liberalisierung des Denkens und Forderungen nach einer neuen Gesellschaftsordnung, nicht zuletzt im Gefolge nationalstaatlicher Entwicklungen, drängten sie – genauer: das Papsttum – immer mehr in die Defensive. Vor allem die fruchtlosen Auseinandersetzungen mit Frankreich und Italien um den Kirchenstaat (dessen „juristische“ Grundlage auf einer frühmittelalterlichen Fälschung, der sog. „Konstantinischen Schenkung“, beruhte) führten mehr und mehr zu einer Schwächung des Ansehens der katholischen Kirche. 1870 zerbrach der Kirchenstaat alter Prägung unter dem Druck der Einigungsbewegung Italiens. Eine Volksabstimmung erklärte die päpstliche Herrschaft für erloschen. Aber es dauerte noch 60 Jahre, bis sich die römische Kurie damit abfinden konnte und in den „Lateranverträgen“ (1929) der Schaffung eines symbolischen „Kirchenstaates“, der „Città del Vaticano“ (0,44 km 2), zustimmte. Auch gegen das vermehrte Aufkommen liberaler Strömungen im Zuge der Aufklärung konnte das übertriebene Herausstellen der geistlichen Macht des römischen Bischofs nichts mehr ausrichten. Mit der Enzyklika „Quanta cura“ und vor allem mit dem ihr beigefügten „Syllabus errorum“ (Zusammenstellung der – aus römischer Sicht – wichtigsten Irrtümer der Zeit) führte Papst Pius IX. (1846–1878) zwar einen Rundumschlag gegen die Selbständigkeits- und Freiheitsbewegungen in und außerhalb der Kirche, gegen Sozialismus und Kommunismus, gegen Pantheismus und Rationalismus. Aber 100 Jahre später verabschiedet das Zweite Vatikanische Konzil eine Erklärung über die Religionsfreiheit und spricht auch Nichtchristen und Atheisten die Möglichkeit zu, mit Gottes Hilfe das Heil zu erlangen.12 Geradezu ein Herzensanliegen war für Pius IX. die Erklärung der Unfehlbarkeit des päpstlichen Lehramtes. Er konnte sich dabei sogar auf ultrakonservative Kreise innerhalb der Kirche berufen und stützen. 1870 verlangte ein Artikel in der Jesuitenzeitschrift „Civiltà Catholica“ von den Gläubigen einen dreifachen Tribut, nämlich den des Geldes (zur wirtschaftlichen Hilfe für die Kirche), des Blutes (zur Verteidigung des Kirchenstaates) und des Verstandes (zur Unterwerfung unter das unfehlbare Lehramt des Papstes). Um seinem Ziel näher zu kommen, hatte Pius IX. bereits 1867 ein Konzil angekündigt. Er berief es wenig später für das Jahr 1869 in den Vatikan. Nach teilweise erbittert geführten Debatten und nach der vorzeitigen Abreise von 60 Gegnern einer feierlichen Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit stimmten schließlich am 18. 7. 1870 die verbliebenen 533 Bischöfe folgendem Text zu: „Wenn der römische Bischof in höchster Lehrgewalt (ex cathedra) spricht, das heißt, wenn er seines Amts als Hirt und Lehrer aller Christen waltend in höchster, apostolischer Amtsgewalt endgültig entscheidet, eine Lehre über Glauben oder Sitten sei von der ganzen Kirche festzuhalten, so besitzt er auf Grund des göttlichen Beistandes, der ihm im heiligen Petrus verheißen ist, jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei endgültigen Entscheidungen in Glaubensund Sittenlehren ausgerüstet haben wollte. Diese endgültigen Entscheidungen des römischen Bischofs sind daher aus sich und nicht auf Grund der Zustimmung der Kirche unabänderlich“13.

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Die Unfehlbarkeitsdefinition und die Beanspruchung des Jurisdiktionsprimats (oberste „Hirtengewalt“ über Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung in der Kirche) zeigen die Tendenz, alle (geistliche) Macht in der Person des römischen Bischofs zu vereinen. Bereits im späten 16. Jahrhundert galt für Kardinal Robert Bellarmin die Unterordnung unter die Leitung Roms als entscheidend für die Zugehörigkeit zur einzigen und wahren Kirche Jesu Christi (neben der Gemeinschaft des Glaubens und den Sakramenten). Damit aber wurde in unverkennbarer Einseitigkeit das sakramentalmystische Verständnis von Kirche zugunsten einer Beschreibung als juristisch gefasste Institution verschoben. Das Zweite Vatikanische Konzil hat 1965 diese heute als höchst unglücklich empfundene Entwicklung zu ergänzen versucht durch den Hinweis auf die Kollegialität der Bischöfe.14 Doch die zentralistischen Tendenzen Roms sind noch längst nicht überwunden. Und weiterhin gehört der Begriff der Unfehlbarkeit „wie kein anderer zu der noch unbewältigten Vergangenheit des Ersten Vatikanums“ 15. In Deutschland brachte der Kulturkampf zunächst eine Schwächung der Position der katholischen Kirche (u. a. „Kanzelparagraph“ 1871, „Schulaufsichtsgesetz“ und „Jesuitengesetz“ 1872, verbindliche Vorschrift der Zivilehe 1874, Einstellung aller Geldleistung des preußischen Staates an die Kirche 1875, Inhaftierung oder Absetzung von widerständigen Bischöfen). Doch die überzogenen Maßnahmen Bismarcks führten letztlich, wenn auch ungewollt, zu einer Stärkung des Katholizismus. Nicht zuletzt infolge der Auseinandersetzungen um den Kirchenstaat wurde die in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende „soziale Frage“ in ihrer Bedeutung nicht hinreichend und rechtzeitig genug wahrgenommen. 1848 hatten Karl Marx und Friedrich Engels das „Manifest der Kommunistischen Partei“ veröffentlicht, in dem sie die vielfältigen Formen der Ausbeutung und Unterdrückung von Industriearbeitern anprangerten und zum „Klassenkampf“ aufriefen – zum Kampf der lohnabhängigen Proletarier gegen die Besitzer der Produktionsmittel. Die Religion betrachteten Marx und Engels als „Opium des Volkes“, das nur dazu diene, die verelendeten Menschen über ihre miserable Lage hinwegzutäuschen, statt sie zu verändern. Die Kirchen erkannten die Brisanz der aufgeworfenen Fragen nicht und lehnten das Manifest vehement ab. Nur wenige Einzelpersönlichkeiten wiesen früh auf die sozialen Missstände hin und bemühten sich um Abhilfe (Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler; Adolf Kolping auf katholischer, Theodor Fliedner und Johann Hinrich Wichern auf evangelischer Seite).

5. Das zwanzigste Jahrhundert Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts brachte für die katholische Kirche zunächst in theologischer Hinsicht den Versuch einer weiteren Abschottung gegenüber der Moderne. Papst Pius X. (1903–1914), „ein Mann der Negation, der Starrheit und der Verurteilungen“ 16, schrieb für alle Kleriker einen „Antimodernisteneid“ vor, der die Entwicklung der theologischen Studien, vor allem der Exegese und der alten Kirchengeschichte, hemmen sollte und der erst 1967 abgeschafft wurde. Der Erste Weltkrieg machte offenkundig, in welch starker Weise die Kirchen – vor

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allem die evangelische Kirche – national ausgerichtet waren. „In Gottes Namen“ schickte Kaiser Wilhelm II. die Soldaten ins Feld. Auf ihren Koppelschlössern stand „Gott mit uns“. In den Predigten wurde häufig der Krieg als „ein Segen“ für das Volk hingestellt, der ein „Erwachen der Religion“ bewirkt: „Da hat der liebe Herrgott eine herrliche Volksmission gehalten: Gott sei Lob und Dank, dass unser Volk wieder betet – es war höchste Zeit! Fast möchte man ausrufen: o glücklicher Krieg!“ 17 Bei vielen Christen bewirkte der Ausgang des Krieges zwar eine gewisse Ernüchterung, aber keinen nachhaltigen Bewusstseinswandel. Weite Teile der Bevölkerung und vor allem des Klerus konnten sich mit dem Verschwinden der Monarchie nicht abfinden und brachten der Weimarer Republik wenig Sympathie entgegen. Die Protestanten orientierten sich noch immer am untergegangenen christlichen Obrigkeitsstaat und fanden zum modernen demokratischen Staat keine rechtes Verhältnis. Der Nationalsozialismus wurde von der katholischen Kirche zunächst mit großer Skepsis betrachtet. Das änderte sich 1933, nachdem Hitler in der Regierungserklärung vom 23. 3. den Kirchen weitgehende Zugeständnisse gemacht hatte. Schon fünf Tage später nahmen die deutschen Bischöfe ihre bisherigen Warnungen zurück und riefen „die katholischen Christen, denen die Stimme ihrer Kirche heilig ist, […] zur Treue gegenüber der rechtmäßigen Obrigkeit und zur gewissenhaften Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten unter grundsätzlicher Ablehnung allen rechtswidrigen und umstürzlerischen Verhaltens“ auf. 18 Erzbischof Gröber von Freiburg verkündete öffentlich, er stelle sich „restlos hinter die neue Regierung und das neue Reich“ 19. In ähnlicher Weise äußerten sich auch führende Vertreter der evangelischen Kirche. Der badische Landesbischof Kühlewein begrüßte am Vorabend der Machtergreifung die neuen Herren: „Was wir seit Jahren gehofft und ersehnt haben, ist gekommen. Unser deutsches Volk hat sich in seiner großen Mehrheit zu einer starken nationalen Front zusammengeschlossen und sich einmütig hinter die Männer gestellt, die das Oberhaupt unseres Reiches zur Führung des deutschen Volkes berufen hat“ 20. Es ist bedrückend und beschämend, dass diese Treuekundgebungen zu einer Zeit erfolgten, als die Nationalsozialisten daran gingen, Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland zu beseitigen, als sie Regimegegner verhaften und in Konzentrationslager verbringen ließen und als erste Verfolgungen von Juden einsetzten. So veröffentlichte im Sommer 1933 der evangelische Bonner Theologieprofessor Karl Barth seine weit verbreitete Streitschrift „Theologische Existenz heute!“, die einen entscheidenden Anstoß gab für die Gründung der „Bekennenden Kirche“ (Martin Niemöller, „Barmer Bekenntnis“). Als Hitler seine Versprechungen nicht einhielt, begannen die Kirchen, sich zur Wehr zu setzen. 1937 klagte Papst Pius XII. mit seiner auf Anraten der deutschen Bischöfe verfassten (deutschsprachigen) Enzyklika „Mit brennender Sorge“ die Verletzungen des am 20. 7. 1933 hastig abgeschlossenen Reichskonkordats und darüber hinaus die NS-Weltanschauung, den Mythos von Blut und Rasse und die Verherrlichung eines Volkes scharf an. Als aber in der „Reichspogromnacht“ am 9. 11. 1938 die Synagogen angezündet wurden, als jüdische Friedhöfe geschändet, als jüdische Geschäfte geplündert, jüdische Bürger geschlagen, verschleppt und ermordet wurden, sprach kein deutscher Bischof ein Wort des Protestes. Der Widerstand blieb auf einzelne beschränkt.

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Der Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 brachte den Kirchen eine gewisse Atempause. Die Bischöfe ermahnten ihre Gläubigen, ähnlich wie sie das 1914 getan hatten, zu treuer Pflichterfüllung: „In dieser entscheidenden Stunde ermuntern und ermahnen wir unsere katholischen Soldaten, in Gehorsam gegen den Führer opferwillig unter Hingabe ihrer ganzen Persönlichkeit ihre Pflicht zu tun. Das gläubige Volk rufen wir auf zu heißem Gebet, dass Gottes Vorsehung den ausgebrochenen Krieg zu einem für Vaterland und Volk segensreichen Erfolg und Frieden führen möge“ 21. Doch schon 1941 kam es zu neuen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit den schönfärberisch als „Euthanasie“ genannten Aktionen zur Ermordung geistig und körperlich Behinderter. Insbesondere der Münsteraner Bischof von Galen tat sich durch mutige Predigten und Hirtenbriefe hervor. Doch nirgends haben die Kirchen als ganze zum politischen Widerstand aufgerufen und haben sich auch nicht an ihm beteiligt. Auch nicht, als schon relativ früh Informationen über die „Endlösung der Judenfrage“ durchsickerten. Es blieb einzelnen mutigen Frauen und Männern vorbehalten, sich, manchmal sogar gegen den ausdrücklichen Rat ihrer Kirchenführer, zum Widerstand zu entschließen (Geschwister Scholl, Dietrich Bonhoeffer, Alfred Delp, Nikolaus Groß, Helmuth von Moltke, Graf Stauffenberg u. a.). Nach dem Krieg konnten sich die Kirchen nicht zu einem klaren Bekenntnis ihrer Mitschuld durchringen. Während Vertreter des neu gegründeten Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland sich immerhin anklagten, „dass wir nicht mutiger bekannt, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“ (Stuttgarter Schulderklärung vom 18./19. 10. 1945), fanden sich die katholischen Bischöfe nur zu der Aussage bereit: „Furchtbares ist schon vor dem Krieg in Deutschland und während des Krieges durch Deutsche in den besetzten Ländern geschehen. Wir beklagen es zutiefst: Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden“ 22. Die Kirchen in Deutschland fingen sehr bald an, dort weiterzumachen, wo sie 1933 aufgehört hatten. Und es schien so, als sei tatsächlich ein neuer Frühling angebrochen: Wegen des stark anwachsenden Besuchs der Gottesdienste setzte eine rege Bautätigkeit ein, kirchliche Vereine wurden gegründet und entfalteten ihre Tätigkeit, die Jugendarbeit florierte, in der neuen Bonner Demokratie wuchs der Einfluss der Kirchen. In theologischer Hinsicht gab es zunächst kaum Fortschritte. Allerdings hatten Katholische Aktion und Liturgische Bewegung im ersten Drittel des Jahrhunderts das Gespür der „Laien“ für eine aktivere Rolle und für eine Reform der Liturgie geweckt (Quickborn, Bund Neudeutschland, Burg Rothenfels). In der Theologie gab es Neuansätze einer biblisch und anthropologisch orientierten Glaubensreflexion (Romano Guardini). Die zu Beginn des Jahrhunderts aufgekommene Ökumenische Bewegung, der die katholische Kirche zunächst ablehnend gegenüberstand (Pius XI. verbot 1928 allen Katholiken die Unterstützung und Mitarbeit; dennoch Gründung der Una-Sancta-Bewegung durch Max Joseph Metzger), erfasste nun auch immer weitere Kreise. 1959 änderte sich mit dem Pontifikat Johannes’ XXIII. auch die offizielle Haltung.

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6. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) „aggiornamento“ Dieser Papst berief schon bald nach seinem Amtsantritt für 1962 ein Allgemeines Konzil ein, das zu einem Markstein der neueren Kirchengeschichte wurde. Johannes XXIII. wollte damit vor allem ein „aggiornamento“ der Kirche erreichen, eine weit greifende „Anpassung“ an die Erfordernisse der Moderne, die zugleich einen Bewusstseinswandel im gesamten kirchlichen Leben bewirken sollte: „Überwindung des Konstantinischen Zeitalters mit seiner engen Verknüpfung von Religion und Politik, Macht und Kirche, Absage an den gegenreformatorisch verengten Geist des Konfessionalismus in der Kirche und Übergang von einer Epoche tridentinisch bestimmter Theologie und Lebensformen zu einer, der heutigen Mentalität und den modernen Erkenntnissen entsprechenden Existenz der Kirche in dieser Welt“ 23. Wenn man die insgesamt 16 Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen überblickt und sinnvoll ordnet, so schließen sie sich zu einer Einheit zusammen, die dieses Konzil der Kirche zu einem Konzil über die Kirche macht. Es erscheint darum vielleicht sinnvoll, diese faktisch gewordene Einheit der Konzilstexte durch den Versuch deutlich zu machen, eine gewisse, wenn auch nicht zwingende Systematik in die Texte hineinzubringen bzw. in ihnen angelegt zu entdecken. Man könnte sagen, das Konzil behandelt:24 1. das grundsätzliche Selbstverständnis der Kirche in der dogmatischen Konstitution über die Kirche; 2. das innere Leben der Kirche: a) ihre Heiligungsaufgabe durch ihre Liturgie in der Konstitution über die Liturgie; b) ihre Leitungsfunktion im Dekret über die Bischöfe und in dem Dekret über die katholischen Ostkirchen; c) ihr Lehramt in der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung (mit den Ausführungen über Schrift, Tradition und Lehramt) und in der Erklärung über die christliche Erziehung; d) ihre Stände in den Dekreten über die Priester, ihren Dienst und ihr Leben und auch über ihre Ausbildung, im Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens und im Dekret über den Laienapostolat; 3. die Sendung der Kirche nach außen: a) ihr Verhältnis zu der nichtkatholischen Christenheit im Dekret über den Ökumenismus und im Dekret über die katholischen Ostkirchen; b) ihr Verhältnis zu den Nichtchristen in der Erklärung über die nichtchristlichen Religionen (vor allem über die Juden) und in dem Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche; c) ihr Verhältnis zur heutigen profanen Weltsituation im Allgemeinen in der pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute und im Dekret über die heutigen Kommunikationsmittel; d) ihr Verhältnis zum weltanschaulichen Pluralismus der Gegenwart, im Besonderen in der Erklärung über die Religionsfreiheit.

Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965)

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Mit seinen zum Teil recht umfangreichen Dekreten und Erklärungen, die häufig erst nach zähem und langem Ringen der rund 2150 damals in Rom anwesenden Bischöfe aus aller Welt zustande kamen, hat das Konzil die katholische Kirche einen mutigen und kräftigen Schritt vorangebracht. Es vermittelte „eine neue Freude an der Kirche. […] Von innen wie von außen wurde dem Katholizismus wieder etwas zugetraut – Einfluss auf die Lebensführung auf der Grundlage einer neuen, größeren innerkirchlichen Freiheit – und, wenn auch sehr begrenzt, so etwas wie zeitprägende und kulturgestaltende Kraft“ 25. Der flämische Theologe Edward Schillebeeckx nannte es „das erste große liberale und bürgerliche Konzil, in dem zum ersten Male die errungenen Rechte und Ideale der bürgerlichen Gesellschaft von der Kirche angenommen wurden: Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit, Toleranz, ökumenische Haltung“ 26. „Katakombenpakt für eine dienende und arme Kirche“ 27 Ein Ereignis, das leider viel zu wenig Beachtung fand, sei hier noch besonders erwähnt: der „Katakombenpakt für eine dienende und arme Kirche“. Am 16. November 1965 – drei Wochen vor dem Abschluss des Konzils – trafen sich in den Domitilla-Katakomben außerhalb Roms 40 Bischöfe der ganzen Welt. Sie versprachen, dass sie nach ihrer Rückkehr vom Konzil, das am 8. Dezember 1965 zu Ende ging, etwas Grundsätzliches in ihrem Leben und bei ihrer kirchlichen Tätigkeit ändern wollten („Katakombenpakt“). Im Bewusstsein dessen, „wie viel ihnen noch fehlt, um ein dem Evangelium entsprechendes Leben in Armut zu führen“, verpflichteten sie sich, sich um einen einfachen Lebensstil zu bemühen, der dem entsprechen sollte, den die Menschen in ihrer Umgebung führten. Sie verzichteten von nun an auf Reichtum, z. B. auf teure Stoffe und auffallende Farben ihrer Amtskleidung, kostbares Material ihrer Amtsinsignien, auf Immobilien und wertvolles Mobiliar, auf Bankkonten (aller notwendige Besitz sollte auf den Namen der Diözese bzw. der sozialen und caritativen Einrichtungen überschrieben sein). Ebenso verzichteten sie auf Titel und Ehrenbezeichnungen, in denen gesellschaftliche Bedeutung oder Macht ausgesprochen werden, wie Eminenz, Exzellenz, Monsignore usw. Im Zentrum ihrer Pastoral und gesellschaftlichen Aktivitäten sollte die Sorge und Seelsorge für die Armen stehen – die sogenannte Option für die Armen. Sie bedeutet, die Welt mit den Augen der arm gehaltenen bzw. arm gemachten Bevölkerung zu sehen und dementsprechend handeln zu wollen. Die Bischöfe machten sich zu ihrem Sprachrohr. Eine wichtige Persönlichkeit unter ihnen war Dom Helder Camara, damals gerade Erzbischof von Recife/Brasilien geworden. Später schlossen sich noch ca. 500 weitere Bischöfe dieser Gruppe an. Wenn etwas die gesamte Ausrichtung des Konzils aufzeigen und konkret illustrieren kann, dann ist es dieser „Katakombenpakt“. In ihm kann man „den Glutkern der konziliaren Erneuerung erkennen“ (Gotthard Fuchs). Leider zeigte dieser mutige Impuls keine nachhaltige Auswirkung. Die heute in der römisch-katholischen Kirche amtierenden Bischöfe haben weder ihre Amtsinsignien abgelegt noch verzichten sie auf ihre Titel. Und von einer „Option für die Armen“ ist auch kaum etwas zu spüren.

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Kirchengeschichte: Eine „Kriminalgeschichte“?

Wirkungsgeschichte Das Zweite Vatikanische Konzil konnte nur ein Markstein sein in einer viel größeren Geschichte des christlichen Glaubens. Es hat mit seinen Dokumenten einen Orientierungs-Rahmen gegeben. Es hat eine Aufbruchsstimmung verbreitet, die viele erfasste und der römisch-katholischen Kirche ein neues Image zu geben und ihr ungeahnte Zukunftschancen zu eröffnen. Leider hielt die Aufbruchs-Phase nicht lange an. Sehr bald zeigte sich, dass das vom Konzil intendierte „aggiornamento“ nicht im ersehnten und gewünschten Maß in die Tat umgesetzt wurde. Den Erneuerungsbemühungen stellten sich Hindernisse in den Weg. Die Konzilsdokumente waren in vieler Hinsicht „Kompromisstexte“ zwischen der großen Mehrheit der Reformwilligen unter den Bischöfen und den Verteidigern des „Altbewährten“. Häufig stimmten die „Progressiven“ nur deswegen einer Formulierung zu, weil sie die Hoffnung hegten, mit der Zeit würde sich schon alles von selbst in der von ihnen erhofften Richtung entwickeln. Doch die Reformer täuschten sich im guten Willen der eher Reformresistenten, denen sie bei der Abfassung der Dokumente weit entgegen gekommen waren. „Selten in der Kirchengeschichte ist eine nicht einmal qualifizierte Minderheit – zwischen 300 und 500 unter 2700 – auf einem Konzil so pfleglich, geradezu zartfühlend und auf Kosten des öffentlichen ‚Image‘ des Papstes behandelt worden unter Inkaufnahme widersprüchlicher, jedenfalls uneindeutiger Formulierungen der Konzilstexte. Und selten hat diese Minderheit anschließend ungenierter – um nicht zu sagen: schamloser und dreister – die von ihr erzwungenen Uneindeutigkeiten der Konzilstexte ausgenutzt, um sich an dem klaren Mehrheitswillen der Repräsentanten der Weltkirche vorbei auf den Bahnen des Hergebrachten durchzusetzen“ (Otto Hermann Pesch 28). Während der langen Regierungszeit des Papstes Johannes Paul II. (1978–2005) und seines Nachfolgerns Benedikt XVI. (2005–2013) setzte ein spürbarer Trend zur Restauration ein, der eine zunehmende und bis heute anhaltende Polarisierung zwischen Reformorientierten und „Traditionsverhafteten“ zur Folge hatte.

7. Ende der Kirchenepoche? Die Zukunft der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland sieht alles andere als rosig aus. Die überkommene Gestalt der „Volkskirche“ gehört endgültig der Vergangenheit an. Wie die neue Sozialgestalt der Kirche aussehen wird, ist noch unklar. Wir stehen in einer Übergangsphase, die von vielen Unwägbarkeiten, Umbrüchen und Veränderungen gekennzeichnet ist und die daher auch manche Unruhe und Unsicherheit erzeugt. „Heute stehen alle auf Stabilität, Dauer, Tradition angewiesenen Bereiche menschlichen Lebens und Zusammenlebens unter dem Druck beständiger, sich beschleunigender Veränderungsprozesse; sie werden deshalb fragwürdig und scheinen nur auf Abruf zu gelten. Das religiöse und kirchliche Leben, zu dem wesentlich Tradition und Institution gehören, ist besonders davon betroffen“ 29. Der Soziologe FranzXaver Kaufmann sieht in dieser Situation gar das „Ende einer Kirchenepoche“ 30. In einer Zeit zunehmender äußerer Unsicherheit und Ungeborgenheit wird das

Ende der Kirchenepoche?

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Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit wachsen. Orientierungslosigkeit verlangt nach sicherer Orientierung. Autoritätsschwund lässt das Verlangen nach einer unanfechtbaren Autorität aufkommen. Die Kirchen werden sich deshalb zunehmend der Konkurrenz fundamentalistisch ausgerichteter Gruppierungen konfrontiert sehen. Solcher Mentalität kommt ein Glaubensverständnis entgegen, das die möglichst unmittelbare Gottgegebenheit seines Ursprungs hervorhebt, das in einer unfehlbaren normativen Instanz kulminiert und das seine Anhänger von kritischem Nachfragen dispensiert. Mit je einfacheren und jedem schlicht Denkenden möglichst unmittelbar einleuchtenden Formeln sich dieser Glaube darbietet, desto anziehender erscheint er. Wer behauptet, die absolut sichere Wahrheit zu besitzen, darf bei Menschen mit geringem Selbstvertrauen und großer Risikoscheu auf Zuspruch und Gefolgschaft rechnen. Christlicher Glaube und verfasste Religiosität werden so zwangsläufig in eine stark von affektiver Akzeptanz bestimmte Konkurrenzsituation zu allen möglichen Weltanschauungen und Heilslehren geraten. Die Kirchen werden der Versuchung widerstehen müssen, ihre Theologie und Pastoral diesen Forderungen anzupassen und sie zu Billigpreisen abzugeben, nur um die verunsicherten Schäfchen bei der Stange zu halten. Die Kirche wird von ihrer volkskirchlichen Gestalt Abschied nehmen müssen – ob sie es will oder nicht. An die Stelle der Volkskirche „für alle“ wird die Minderheitenkirche „für wenige“ treten – mit zum Teil fließenden Übergängen und nicht immer klar erkennbaren Rändern. Der Religionssoziologe Thomas Luckmann vertritt die These, dass religiöses Verhalten in zunehmendem Maße nicht mehr institutionell gebunden oder bedingt sein wird. 31 Religion und Glaube verlagern sich ins Private und werden damit zunehmend „unsichtbar“. Der ständig schrumpfende Geltungsbereich der von religiösen Institutionen getragenen offiziellen Darstellung von „Religion“ hinterlässt aber keineswegs ein religiöses Vakuum. Religion ist eine anthropologische Grundgegebenheit; der Mensch bleibt religiös. Wohl aber verschwinden zunehmend jene Formen, die von den traditionellen religiösen Institutionen „offiziell“ repräsentiert wurden. Basis einer neu entstehenden Religion bildet die „Privatsphäre“. Die Folge ist eine Vielfalt höchst unterschiedlicher Modelle von „privater“ (und darum für die Öffentlichkeit unsichtbarer) Religion, die häufig in Konkurrenz zu den „Restbeständen“ des offiziellen Modells der Religion treten und auf Dauer deren Mitgliedszahlen reduzieren, wenn nicht gar ihren Bestand gefährden. 32 Kirchlichkeit wird in Zukunft immer weniger einer sozialen Kontrolle unterworfen sein. Seelsorge und Sakramentenpastoral werden sich stärker um die Förderung der individuellen Glaubensfähigkeit und Glaubenspraxis bemühen und an den jeweiligen Lebenssituationen orientieren müssen. Im Mittelpunkt kirchlich-pastoralen Handeln wird (sollte) das Individuum stehen – seine Geschichte, seine Erfahrungen, sein Fragen und Suchen. Dieser persönliche Glaubensweg braucht Zeit und Dauer zum Wachsen; er kennt verschiedene Stufen und Phasen; Krisen und Unterbrechungen gehören dazu; das genaue Ziel liegt am Anfang nicht fest. Auf diesem Weg sind in vielfacher Hinsicht Begleitung und Hilfe erforderlich. Kennenlernen des christlichen Glaubens und Wachstum ist verbunden mit Einübung christlichen Lebens. Dennoch wird sich der Einzelne dagegen wehren, gleichsam an der Hand genommen und gegängelt zu wer-

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Kirchengeschichte: Eine „Kriminalgeschichte“?

den. Er will selbst seinen eigenen Weg finden und selbst entdecken, wie er als Christ leben und handeln kann. Seine Beteiligung an der Mitgestaltung gemeindlichen und gesellschaftlichen Lebens wird mehr und mehr von personaler Verantwortungs- und Gewissensüberzeugung getragen sein. Der wechselseitige, dialogische Charakter solcher Lernprozesse schließt tiefgreifende Veränderungen des Glaubens ein. Wenn die Kirchen auch im 21. Jahrhundert gefragt sein wollen, müssen sie sich dieser Herausforderung stellen.

X. Kirche heute – Skandal oder Heilszeichen? „Es weiß gottlob ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche sei“ – so schrieb Martin Luther im Jahre 1537. 1 „Ich wünschte, ich wäre dieses Kind“, so seufzt der geplagte Theologe heute. Doch nicht nur Theologen tun sich schwer, wenn sie sagen sollen, was Kirche ist. Noch mehr und erst recht die „schlichten Gläubigen“. Für die einen bedeutet sie eine „Heilsanstalt“ für das individuelle Seelenheil und eine Garantie für sicheres Hinüberkommen in die ewige Seligkeit. Katholiken meinen mit Kirche meist „die da oben“ – die „Amtskirche“, die Bischöfe und vor allem den Papst. Für manche hat Kirche gar die Aufgabe, in möglichst alle Bereiche der „Welt“ hinein ihre Macht zu entfalten, alles zu verkirchlichen, um so das „Werk Gottes“ (lat.: opus dei) zu vollenden und das Reich Gottes auf Erden zu schaffen. Verständlich, dass nicht wenige gegenüber solchen Bestrebungen ihre Abneigung und Distanz durchblicken lassen. Nicht minder einseitig ist ein genau entgegengesetztes Kirchenverständnis, nach dem Kirche nur dann noch einen Sinn macht, wenn sie sich als Motor längst überfälliger gesellschaftlicher, sozialer, wirtschaftlicher und politischer Revolutionen erweist. Kritische Zeitgenossen verbinden mit Kirche die Vorstellung einer veralteten und verkrusteten Institution, die sich überlebt hat und nicht mehr recht in die Welt von heute hineinpasst. Allenfalls unter dem Gesichtspunkt Caritas, Diakonie, soziale Dienste, Hilfeleistung in Notsituationen des Lebens mag sie noch einen Sinn haben. Andere denken, wenn sie das Wort „Kirche“ hören, an einen bürokratischen Verwaltungsapparat, an kirchliche Behörden, an Kirchensteuer, an allerlei Verbände und Organisationen, an Weihnachten und Weihrauch. Mehr in der „Mitte“ bewegen sich Vorstellungen, die Kirche als Ort heimeligvertrauter Geborgenheit und Erinnerung sehen, deren Riten gebraucht werden, um bestimmten Höhe- und Wendepunkten des Lebens einen feierlichen Rahmen zu geben. Auch als Stätte der Ruhe und Besinnung, als Forum der Auseinandersetzung und der Reflexion, als Quelle mannigfacher Impulse und Aktivitäten ist Kirche gefragt. Doch kaum jemand sieht in der Kirche noch eine „große Gottesidee“ (J. Ratzinger 2) oder ein „Haus voll Glorie“, wie es in einem früher in der katholischen Kirche viel gesungenen Lied heißt. Hand in Hand mit dieser Identitätskrise geht ein offenkundiger Trend zu einem Christentum, das nur noch geringe innere und äußere Bindungen an die kirchlichen Institutionen hat. Deutlich schwindet im kirchlichen Bewusstsein zahlreicher Christen der konfessionelle, an den überkommenen Glaubensunterschieden der Kirchengemeinschaften orientierte Standpunkt. Er macht immer mehr dem Zug zu einer christlichen Kirche Platz, deren Einheit eine große Pluralität in sich enthält. Was ist geschehen? Christliche Kirche kann man nicht alle hundert Jahre neu erfinden. Sie versteht sich heute wie immer in Kontinuität bis zurück zur geschichtlichen Gestalt Jesu von Nazaret und zu jener Sammelbewegung, die er durch sein Wort und

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Kirche heute

seine Tat ins Leben gerufen hat. Dass sich Verständnis und Gestalt der Kirche im Lauf der Geschichte nicht wenig gewandelt haben und weiter wandeln werden, ist nicht zu leugnen. Dem wird im Folgenden nachzugehen sein. Ein Schaubild soll zunächst deutlich zu machen versuchen, in wie vielfältiger Weise sich „Kirche“ ereignet und welche Dimensionen des Lebens sie erreicht und durchdringt. Perspektiven von Kirche 3 Geschichtliche Perspektive, zeitliche Verläufe (z. B. Kirche im frühen Christentum, Konstantinische Wende, Mittelalter, Reformation, Religionskriege, kirchliche Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert) Kulturelle Äußerungen und Mitteilungsformen

räumliche Verteilungen

z. B. liturgische Symbole, Kirchenlied, Gebet, Kunst, Presse

Funktionen und Aktionen

z. B. Universal-, Teil-, Ortskirche(n), Kirche im Osten, im Westen, in Afrika, Kirche im römischen oder germanischen Kulturraum

KircheðnÞ

säkularisierte u. profanisierte Erscheinungsform

z. B. Evangelisation, Verkündigung, Religionsunterricht, politisches Handeln: Nuntiaturen Eheberatung, Telefonseelsorge, Militärseelsorge

z. B. Arbeiter-Samariter-Dienst, gesetzliche Verpflichtung zur Hilfeleistung im Straßenverkehr; Folklore: Echternacher Springprozession

persönliches Lebensschicksal

soziale Konstellation

z. B. Ehegesetze und Eheschicksale, ekklesiogene Neurosen, Sinngabe, Berufsprobleme: Angestellte im Kirchlichen Dienst

z. B. Hierarchie, Mönchtum, konfessionelle Gruppierungen

1.

Wissen und Wertungen

caritatives Handeln

z. B. kirchliche Moralvorstellungen, Bekenntnisinhalte, Kirchenkritik, Friedenspolitik, Diskussion um § 218 und Gen-Forschung

z. B. Krankenpflege, Kindergärten, Altenbetreuung, Entwicklungshilfe, kirchliche Hilfswerke, Konfessionelle Schulen

Kirche – wozu?

Die Theologie hätte es einfacher, wenn Jesus selbst dazu etwas gesagt hätte. Aber für ihn stellte sich die Frage gar nicht. Jesus ist zwar der Grund und Anlass dafür, dass es eine

Kirche – wozu?

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Kirche gibt. Die Entstehung der ersten christlichen Gemeinden, aus denen sich später eine universale, für alle Menschen offene Kirche entwickelte, ist nicht denkbar ohne die Tatsache, dass Menschen in Galiläa und Jerusalem, in Syrien und Kleinasien und später im ganzen Römischen Imperium von der Sache Jesu so betroffen waren, dass sie begannen, daran ihr ganzes Leben zu orientieren. „Kirche“ ist zunächst nichts anderes als die geschichtliche und gesellschaftliche Entfaltung dieses Glaubens. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es bis heute keine allseits anerkannte Definition von „Kirche“ gibt. Auch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) hat sich auf die Nennung einer Vielfalt von Metaphern beschränkt, die vielfach schon in den Schriften des Neuen Testaments vorgegeben sind: Acker, Bauwerk, Braut Gottes, Familie Gottes, Haus Gottes, heilige Stadt, Herde, Leib Christi, Mutter, Pflanzung, Sakrament, Weingarten, Zeichen unter den Völkern, Volk (Gottes), unzerstörbare Keimzelle der Einheit, der Hoffnung und des Heils für das ganze Menschengeschlecht, Licht der Welt, Schiff, Salz der Erde – u. a. m. Offensichtlich wird den Kirchen-Bildern mehr Aussagekraft zugetraut als einem, wie exakt auch immer formulierten Kirchen-Begriff. Wer zum Bild greift, nimmt Unschärfen und unterschiedliche Interpretationen in Kauf. Wenn das Konzil und in seinem Gefolge die moderne Theologie in Bezug auf Kirche die metaphorische Redeweise als die ihr eigentlich angemessene und passende Sprachgestalt wählen und zulassen, stellen sie „Kirche“ damit als eine Realität vor, die sich dem selbstsicheren und definitorischen Zugriff entzieht und die gleichzeitig auf einen vielschichtigen, unauslotbaren Gehalt hinweist. Die Metaphern, in denen die Kirche sich selbst erkennt und in denen sie ihre Identität ausgesprochen sieht, lassen sich nicht zu einem stimmigen Bild zusammenfassen. Jede Metapher verweist darauf, dass sie andere in ihrem Gehalt einschränkt, ergänzt, weiterführt oder vertieft. Damit aber kommt die Kirche am ehesten ihrem göttlichen Ursprung entgegen. Denn auch Gott, das Geheimnis schlechthin, kann nur in einer Vielfalt von stets unzulänglichen Bildern umschrieben, nie aber „definiert“ werden. Freilich ist zu bedenken, dass alle diese Metaphern als Ausdruck eines bestimmten Selbstverständnisses zu verstehen sind von solchen, die sich als „Gemeinde Jesu“ betrachten. Insofern sind es eher Bekenntnisse als Aussagen, die das Wesen betreffen. Es geht der Kirche wie anderen menschlichen Gemeinschaften, die nicht als starre, unwandelbare Größe bestimmt sind, sondern die, weil es sich um Zusammenschlüsse von Menschen handelt, eine Geschichte und eine Entwicklung haben. Gewiss, die Metaphern sind vielsagend und ausdrucksstark, aber letztlich nicht objektivierbar. Sie sagen nichts über Sinn und Zweck der Institution „Kirche“, über ihre Aufgaben und die Aufgabenverteilung, über die Ziele, die konkrete Gestaltung und die unvermeidlichen Geschäfte des Alltags aus. Und sie sind obendrein meist situativ – bezogen auf einen bestimmten Anlass, auf eine konkrete Situation. Allerdings ist die Kirche in ihrer Geschichte durchaus auch der Versuchung erlegen, ihr „Wesen“ genauer beschreiben zu wollen. So „definierte“ aus konkretem Anlass der Reformation der römische Kardinal Robert Bellarmin (1542–1621) die Kirche als „eine Vereinigung von Menschen, die durch das Bekenntnis desselben christlichen Glaubens und durch die Teilnahme an denselben Sakramenten unter der Leitung der

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Kirche heute

rechtmäßigen Hirten, besonders des einen Stellvertreters Christi auf Erden, des Römischen Papstes, verbunden sind.“ Eine solche „Definition“ hat den juridischen Vorteil, dass an ihr exakt gemessen werden kann, wer zu dieser Kirche gehört und wer nicht. Allerdings nimmt sie damit den schwerwiegenden theologischen Nachteil in Kauf, lediglich soziale Strukturen und formale Gegebenheiten zur Beschreibung heranzuziehen und den Aspekt ihrer Teilhabe an der Offenbarungs- und Heilsgeschichte völlig unberücksichtigt zu lassen. Die Bezeichnung „Kirche“ ist abgeleitet vom griechischen „kyriakä (ekklesía)“ und heißt: (Gemeinde) des Herrn, (Versammlung, die) dem Herrn zugehört. Diese „Gemeinde des Herrn“ hat schon früh die engen Grenzen der Regionalität gesprengt. Sie ist katholisch geworden – verbreitet „über den ganzen (damals bekannten) Erdkreis“ (von griechisch: kat’ holän [tän gän]). Sie leitet sich her von jener Sammlungsbewegung zur Erneuerung Israels, die Jesus von Nazaret ins Leben gerufen und die sich in einem für beide Seiten schmerzhaften Ablösungsprozess vom Judentum gelöst hat. Kirche wird heute nicht mehr isoliert gesehen von der Glaubensgeschichte des Alten Bundes, wie dies lange Zeit geschah. Die denkwürdige Geschichte des Volkes Israel wird in einem unlösbaren Zusammenhang gesehen mit der Gestalt des Mannes aus Nazaret. Jesus lebte, glaubte, betete und starb aus den Quellen und Verheißungen der Offenbarungen seines Volkes. Sein Leben und seine Botschaft sind ohne die Grundlagen dieser Glaubensgemeinschaft nicht denkbar. In Jesus, in seiner Person, seinem Leben, seinem Tod, seiner Botschaft und dem, was wir „Auferweckung“ nennen, sieht die Kirche den Höhepunkt und Abschluss der Gottesoffenbarung. Die nachösterlichen Gemeinden haben das Evangelium vom Leben und von der Botschaft des irdischen Jesus weitergegeben und es gleichzeitig im Licht der Auferweckungserfahrung gedeutet. Dieses Zeugnis ist nicht in erster Linie eine neue Lehre, schon gar nicht ein System von Dogmen und Lehrsätzen, sondern die dynamische Proklamation des in der Gestalt Jesu und mit seinem Wirken schon angekommenen „Gottesreiches“. Das Reich Gottes wird einerseits begriffen als „neue Möglichkeit menschlichen Handelns“, als Möglichkeit der Veränderung zugunsten des Menschen, der Freiheit, der Versöhnung, des Glücks, des Friedens und Lebens für alle, besonders für die Armen, Hungernden, Trauernden, Enttäuschten, für die gesellschaftlich Verfemten, für Sünder, Zöllner und Dirnen. Andererseits erscheint es „als Situation des Glaubens, die Mut, Gelassenheit und Ausdauer verlangt“ 4. Obwohl sich Kirche von Jesus herleitet, ist sie nicht eigentlich von ihm gegründet. Das häufig als „Gründungswort“ zitierte „… auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen“ (Mt 16,18) wird nur im Matthäusevangelium überliefert (abweichend von Mk 8,18 und Lk 9,20). Es ist in vielfacher Hinsicht für die Verkündigung Jesu nicht charakteristisch und steht in deutlicher Spannung zu dem für Jesus typischen Gedanken vom Anbruch des Gottesreiches. Jesus leitete eine Sammlungsbewegung von Jüngerinnen und Jüngern in die Wege, die auf die Erneuerung Israels zielte, nicht aber auf Gründung einer eigenen „Kirche“. Kirche gibt es daher im strengen Sinn erst seit jenem Ereignis, das die verängstigten Jünger zum Glauben an die Auferweckung Jesu brachte und das sie veranlasste, Gruppen und Gemeinden zu bilden, die sich unter den Anspruch und die Sache Jesu stellten.

Kirche – wozu?

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Sie verkündeten den Gekreuzigten als einen von Gott Erhöhten und inmitten der Gemeinde Lebenden und Wirkenden, der für die ganze Menschheit rettende, befreiende und erlösende Bedeutung hat. In diesen Gemeinden und in seiner Nachfolge erlebten die jungen „Christen“, wie sie bald genannt wurden (Apg 11,26), das anbrechende Gottesreich. Christliche Kirche ist also die Gemeinde derer, die glauben, dass Jesu Scheitern im Tode von Gott her überwunden ist, dass sie von einer letzten Liebe umfangen sind und darum bei allem Scheitern in ihm und mit ihm das Leben gewinnen können. Kirche ist die Gemeinde derer, die sich in die Nachfolge Jesu begeben, die nach seinem Sinn- und Existenzentwurf zu leben versuchen und die in ausdrücklicher Sendungs- und Dienstgemeinschaft mit ihm die Botschaft vom anbrechenden Gottesreich weitersagen, damit auch andere sich auf den Weg machen, um zu versuchen, die Welt mit Glaube, Hoffnung und Liebe anzustecken und zu verändern. Kirche darf daher nie Selbstzweck sein. Sie ist nicht nur ihrem Wesen nach „Zeichen und Werkzeug“ 5, sie sollte es auch in ihrem Handeln sein. Darum können ihre Gestalt, ihre Dienste, ihre Strukturen, einschließlich ihrer Sakramente, nie einen Sinn in sich selbst haben. Sie sind zweckgebundene „Hilfsmittel“ der Botschaft und des Lebens Jesu, die nur so weit Bedeutung und Sinn haben, als sie dieser Botschaft und diesem Leben dienen. Sie sind Werkzeuge, die niemals verabsolutiert werden dürfen. Kirche ist Weg und Mittel, nicht aber Ziel und Ende. Die schlimmste Gefahr droht für die Kirche „in denjenigen Selbstmissverständnissen und Selbstentstellungen, in denen sie sich selber absolut setzt, und zwar gegenüber den Gläubigen, gegenüber der Welt, gegenüber Jesus Christus“ 6. Kirche ist vorläufig und relativ. Sie ist nicht das Reich Gottes, sondern geht ihm entgegen, indem sie es verkündet. Die „Sache Jesu“ hat absoluten Vorrang. Sie ist wichtiger als jedes noch so bedeutsame und ehrwürdige Traditionsstück, das ihrer Weitergabe dient. Jesus und seine Sache sind das einzige und letzte Kriterium, an dem die konkrete Gestalt der Kirche und ihre Praxis ständig zu messen und beurteilen sind. Sie sind auch ihr eigenes Gericht. Kirche besitzt nach Paulus eine charismatische Struktur (griech. chárisma = geistliche Gnadengabe). Zu den Charismen zählt er keineswegs nur außergewöhnliche Phänomene wie ekstatisches Reden und Beten, sondern vor allem die Gabe des Erkennens und Tröstens (Röm 12,8), des Dienens (Röm 12,7), des Lehrens (1 Kor 12,8), der Weisheitsrede und der Wissenschaft, des Glaubens, der Unterscheidung der Geister, des Helfens, des Leitens und Heilens (1 Kor 12,9 f.; 12,28). Sie alle werden von Gott nach freiem Ermessen geschenkt. „Doch jeder hat seine Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so“ (1 Kor 7,7). Mithin ist die ganze Kirche von Gott charismatisch ausgezeichnet, nicht nur einzelne in der Kirche. Die Rede von der charismatischen Struktur der Kirche meint natürlich nicht eine in Willkür und Unordnung ausartende Schwärmerei, allerdings auch nicht eine in Gleichordnung und Uniformität erstarrende Gesetzlichkeit, sondern eine Ordnung in Freiheit: „Der Herr ist der Geist, und wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“ (2 Kor 3,17). Die Bezeichnung „Ekklesia“ wird im Neuen Testament vor allem für die einzelnen

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Kirche heute

Orts- und Hausgemeinden verwendet, nicht so sehr für die Gesamt- und Großkirche. „Kirche“ ist zuerst die zum Gottesdienst versammelte (kleine) Gemeinde. Hier ereignet sich Kirche „konkret“. Hier geschieht jene Verkündigung, welche die aktuelle Situation betrifft. Hier wird Liturgie zur wirkmächtigen, lebendigen und damit verändernden Erinnerung. Hier können Gleichheit und Geschwisterlichkeit, Nächstenliebe und Feindesliebe, Vergebung und Versöhnung hautnah erfahren werden. Freilich bedürfen die Gemeinden, wenn sie nicht zu Sekten werden sollen, der horizontalen Kommunikation untereinander und der Zuordnung zu den umfassenderen kirchlichen Ebenen bis hin zur Gesamtkirche. In außerordentlich hellsichtiger Weise hat der im Februar 1945 von den Nationalsozialisten ermordete Jesuit Alfred Delp wenige Tage vor seinem Tod mit geradezu beschwörenden Worten darauf hingewiesen, dass die Zukunft der Kirche von ihrer Bereitschaft zur Rückkehr in die Diakonie abhängen wird, zu „einen Dienst, den die Not der Menschheit bestimmt, nicht unser Geschmack oder das Gewohnheitsmaß einer noch so bewährten kirchlichen Gemeinschaft. ‚Der Menschensohn ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen.‘ Man muss nur die verschiedenen Realitäten kirchlicher Existenz einmal unter dieses Gesetz rufen und an dieser Aussage messen, und man weiß eigentlich genug. Es wird kein Mensch an die Botschaft vom Heil und vom Heiland glauben, solange wir uns nicht blutig geschunden haben im Dienste des physisch, psychisch, sozial, wirtschaftlich, sittlich oder sonstwie kranken Menschen. […] Rückkehr in die ‚Diakonie‘ – damit meine ich das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen, ohne anschließend irgendwo eine Spalte und Sparte auszufüllen. Damit meine ich das Nachgehen und Nachwandern auch in die äußersten Verlorenheiten und Verstiegenheiten des Menschen, um bei ihm zu sein genau und gerade dann, wenn ihn Verlorenheit und Verstiegenheit umgeben. ‚Geht hinaus‘ hat der Meister gesagt, und nicht: ‚Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt‘. […] Die Kirchen scheinen sich hier durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Wege zu stehen. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig um des Lebens willen von der Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen. Das gilt sowohl für das persönliche Schicksal des einzelnen kirchlichen Menschen wie auch für die Institutionen und Brauchtümer. Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt. Die christliche Idee ist keine der führenden und gestaltenden Ideen dieses Jahrhunderts. Immer noch liegt der ausgeplünderte Mensch am Wege. Soll der Fremdling ihn noch einmal aufheben? Man muss, glaube ich, den Satz sehr ernst nehmen: Was gegenwärtig die Kirche beunruhigt und bedrängt, ist der Mensch. Der Mensch außen, zu dem wir keinen Weg mehr haben und der uns nicht mehr glaubt. Und der Mensch innen, der sich selbst nicht glaubt, weil er zu wenig Liebe erlebt und gelebt hat. Man soll deshalb keine großen Reformreden halten und keine großen Reformprogramme entwerfen, sondern sich an die Bildung der christlichen Personalität begeben und zugleich sich rüsten, der ungeheuren Not des Menschen helfend und heilend zu begegnen.“ 7

Fragwürdige Strukturen

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2. Fragwürdige Strukturen Kirche ist aufgrund der einen Taufe, die alle empfangen haben, zunächst und zuerst eine Gemeinschaft Gleichberechtigter. Darum gehen auch die großen Aufträge Jesu zur Verkündigung und zur Diakonie zunächst alle an, unbeschadet der Funktionen, die den einzelnen Gliedern nach Maßgabe der jeweils geltenden Kirchenordnung zukommen. Zunächst ist die ganze Kirche Trägerin des ganzen kirchlichen Lebens. Sie ist als Ganze den individuellen, sozialen, religiösen und politischen Aufgaben verpflichtet. Es kann in ihr aufgrund ihres eigenen Selbstverständnisses gar keine inaktiven, passiven Glieder geben. Die verschiedenen Dienste, zu denen unter anderem und gar nicht einmal an erster Stelle auch das Leitungsamt gehört (vgl. 1 Kor 12,28), sind Organisationsformen des einen Organismus, sind unterschiedliche Lebensäußerungen des einen Leibes. Aber sie alle sind der einen und einzigen Autorität Christi untergeordnet, nicht einer wie immer gearteten „Leitungs-“ oder „Hirtengewalt“. Das Leitungsamt ist zwar durchaus mit-konstitutiv, aber nicht allein-konstitutiv. Die Kirche als Ganze erklärt und gründet in ihrer Ausrichtung auf Jesus Christus das Amt, nicht aber „fundiert“ das Amt die Kirche. 8 Alle zur Kirche Gehörenden sind „Klerus“ 9, weil sie durch die Taufe „Anteil haben an der göttlichen Natur“ (2 Petr 1, 4). Alle zur Kirche Zählenden sind „Laien“, weil sie zu dem einen „Volk Gottes“ gehören und nur unterschiedliche Funktionen darin ausüben. 10 Obwohl Jesus „Laie“ war und seine Sammlungsbewegung eine „Laienorganisation“ darstellte, obwohl in den Ursprungssituationen christlichen Glaubens eine Zweiteilung der Gemeinden in (leitende) „Priester“ und (geleitete) „Laien“ streng vermieden wurde, setzte schon im 2. nachchristlichen Jahrhundert eine Entwicklung ein, die von der kollegialen zu einer eher monarchisch-hierarchischen Leitungsstruktur tendierte. Sie wurde begünstigt durch beginnende Anfeindungen und Verfolgungen der Christengemeinden und den daraus resultierenden Zwang, einen verantwortlichen Sprecher und Repräsentanten der Gemeinde zu haben, der schnelles Handeln und kompetente Information garantiert. Darüber hinaus mag sich die Einsicht durchgesetzt haben, „dass eine Gemeinde ohne eine gute, nüchtern-pastorale Institutionalisierung ihrer Ämter […] die Gefahr in sich trägt, die Apostolizität und damit letztlich die Christlichkeit ihres Ursprungs, ihrer Inspiration und Orientierung, letztlich ihre eigene Identität endgültig zu verlieren“11. Nirgends wird allerdings für einen Gemeindeleiter oder eine Gemeindeleiterin jene Bezeichnung gewählt, die im griechischen Sprachraum für ein sakrales Amtspriestertum vorbehalten war: hiereús (davon abgeleitet: Hierarchie, wörtlich: heilige Herrschaft, Herrschaft sakralen Amtspriestertums). Eine mögliche Fehlinterpretation des Leitungsdienstes im Sinne einer beamteten kultischen Mittlerfunktion zwischen Gott (Christus) und Gemeinde sollte dadurch offenbar vermieden werden. 12 Die Leitung der Eucharistiefeier in den paulinischen Gemeinden war Sache des „Hausvaters“, in dessen Räumen die Feier stattfand. Dabei darf mit „größtmöglicher Wahrscheinlichkeit“ angenommen werden, dass „in der christlichen Urzeit auch Frauen innerhalb des Gottesdienstes in vollem Umfang gleichberechtigt neben den Männern tätig gewesen sind.“ 13 Edward Schillebeeckx fasst seine Forschungsergebnisse zur

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Entstehung des priesterlichen Dienstes so zusammen:„Für eine sakral-mystische Grundlegung des Amtes in der Eucharistie (lassen sich) nirgends biblische Gründe finden. […] Als Amtsträger von der Kirche anerkannt zu werden und für eine bestimmte Kirchengemeinde gesandt zu sein (durch ihre Leiter mit ausdrücklicher Billigung der gläubigen Gemeinde oder umgekehrt) ist der eigentliche Wesenkern der ‚ordinatio‘. Normalerweise wird dies in einer liturgischen Handauflegung konkretisiert, aber diese ist nicht primär und nicht das alles Entscheidende“ 14. Das Wachstum der Gemeinden in den ersten drei Jahrhunderten zwingt zum Ausbau der Organisation und zur Festlegung von Gemeindeverfassungen. Dem sich mehr und mehr etablierenden monarchischen Bischof werden Presbyter und Diakone zuund untergeordnet. Zusammen aber werden diese drei „Ämter“ gegenüber den übrigen Gliedern der Gemeinde und ihren Diensten abgegrenzt. „Der Weg führt von einer dynamischen, in den Dienstfunktionen vielgestaltigen Gemeinschaft zu einer nach Ordnungen geregelten, für die Verwaltung des anvertrauten Gutes eingerichteten Institution.“ 15 Als im 4. Jahrhundert das Christentum zur Staatsreligion wird, beginnt eine für die gesamte Kirche höchst zwiespältige Entwicklung. Die Bischöfe werden in jene Funktionen gedrängt, die bis zur Konstantinischen Wende den heidnischen Kultdienern zukamen. Ihre Aufgabe war es, durch kultische Handlungen die Götter gnädig zu stimmen und so Heil für das Imperium zu erwirken. Die Bischöfe werden zu Staatsbeamten und übernehmen die Insignien ihrer heidnischen Amtsvorgänger. So gehörte die Mitra (ursprünglich eine persische Zipfelmütze und bis heute die kultische Kopfbedeckung der katholischen Bischöfe) in vor-konstantinischer Zeit zum Ornat der höchsten Würdenträger des Römischen Reiches. Der bischöfliche Krummstab ist vermutlich vom byzantinischen Brauch des Marschallstabs abgeleitet. Der bischöfliche Ring geht auf den Siegelring zurück, der Amtsinhabern zur Bekräftigung von Erlassen und Anordnungen vorbehalten war. Manche Aspekte der Bibel, die bisher kaum Bedeutung für die konkrete Gestalt des Gemeindelebens und der Gemeindeordnung hatten, unterstützten diesen Trend. Hier sind vor allem die „Hoheits- und Würdetitel“ zu erwähnen, die in den Schriften des Neuen Testaments für den erhöhten Herrn verwendet wurden. Titel sind soziale Phänomene. Titel gewähren nicht nur höheres Ansehen, sie bedeuten auch soziale Höherstellung und damit Machtausübung. Jene Titel, die in Kreisen der damaligen römischen und griechischen Aristokratie gang und gäbe waren, wurden schon in der Frühphase des Christentums auf Jesus bezogen: „Herr“ (griech: „kyrios“, lateinisch: „dominus“: Offb 22,20 u. ö.), „Herr der Herrscher“ (griech. „kyrios ton kyrieuonton“, lateinisch: „dominus dominantium“: 1 Tim 6,15), „König der Könige“ (griech: „basileus ton basileuon“; lateinisch: „rex regum“: 1 Tim 6,15), „Aufseher und Oberhirt“ („poimän“ [= griech. Hirt, lateinisch: „pastor“], griech: „episkopos“, lateinisch: „episcopus“: 1 Petr 2,25; 5,4), „Priester“ (griech. „hiereus“, lateinisch: „sacérdos“: Hebr 5,6), „Hoherpriester“ (griech: „archiereus“; lat. „pontifex“: Hebr 2,17) – alle diese Titel ließen die Erinnerung an den irdischen Jesus, der nichts hatte, wohin er sein Haupt legen konnte (vgl. Lk 9,58), zurücktreten und an seine Stelle ein himmlisches, an die Seite Gottes erhöhtes Wesen treten. Je stärker aber der Gekreuzigte zum überirdischen Machtträger

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hochstilisiert wurde, desto mehr Macht und Ansehen fiel auch für seine Anhänger ab. Die Gefolgsleute des „Königs der Könige“ und des „Herrn der Herrscher“ erhalten selbst Anteil an der königlichen Würde und Herrschaft und können sich über andere erheben. Die „Berufenen, Auserwählten und Treuen“ eines „erhabenen Hohenpriesters“ (Hebr 4,14) werden selbst zu erhabenen, über die Masse des gemeinen Volkes hinaus gehobenen Gestalten. Eine falsch verstandene und missbrauchte „Machtchristologie“ führt fast zwangsläufig zu Ämtern und Würden derjenigen, die im Auftrag dieses Mächtigen irgendwelche Funktionen ausüben. Je weiter Christus in den Himmel entrückt ist, desto nötiger braucht er Mittler, die die weite Entfernung zwischen Himmel und Erde überbrücken. So nimmt Papst Leo I. im 5. Jahrhundert den ursprünglichen Titel des heidnisch-römischen Oberpriesters an: Pontifex Maximus (= höchster Brückenbauer [zwischen den Göttern und den Menschen]). Der unter Kaiser Konstantin mächtig geförderte Kultbau (Kirchen als „Basiliken“ [= „Königshallen“] in Trier, Rom, Jerusalem, Betlehem u. a.) kommt dem Bedürfnis des Volkes entgegen, in der Nachfolge der nun verlassenen heidnischen Tempel zur Existenzsicherung und Daseinsfürsorge gegen unheimliche und gefährliche Mächte weiterhin „heilige Orte“ und „heilige Personen“ zur Verfügung zu haben. Und das, obwohl das Christentum gerade „nicht eine Religion heiliger Orte“ (K. Richter) ist. Weitere Machtfülle kommt dem mehr und mehr monarchisch regierenden Bischof durch die Ausbreitung des Christentums in der ländlichen Umgebung einer Stadtgemeinde zu. Er muss örtliche Gemeindeleiter einsetzen, die ihm unterstehen. Im Lauf der Jahre bilden sich so immer größere Verwaltungsgebilde. Die Stadtgemeinden samt ihren zugehörigen Sprengeln schließen sich zu Kirchenprovinzen zusammen. Meist werden die Hauptstädte der politischen Provinzen auch zu Zentren dieser neuen Einheiten. Seit dem Ausgang des 2. Jahrhunderts treten die Bischöfe verschiedener Regionen regelmäßig zur Beratung bestimmter aktueller kirchlicher Angelegenheiten zusammen. Diese Zusammenkünfte werden Synoden genannt. Es ist für diese Zeit „das Normale, dass Entscheidungen in Glaubenssachen und in wichtigen disziplinären Angelegenheiten kollegial gefällt werden“ 16. Während die christlichen Kirchen im Osten des römischen Reiches diese synodale Struktur im Grunde bis heute erhalten haben, setzte im Westen, auch politisch bedingt, eine starke Zentralisierung auf die Hauptstadt des Reiches, auf Rom, ein. Die römische Gemeinde mit ihrem Bischof wuchs mehr und mehr in eine dominierende Stellung hinein. Der politische Mittelpunkt des Reiches wurde zum kirchlichen Mittelpunkt. Bischof Irenäus von Lyon († 202) nennt die römische Kirche „die älteste, größte, altbekannte, von den glorreichen Aposteln Petrus und Paulus gegründete“, mit der alle anderen ihrer Vorzugsstellung wegen übereinzustimmen hätten. Die sich allmählich bis in die kleinsten Gemeinden hinein ausbreitende monarchische Leitungsstruktur blieb nicht ohne Konsequenzen. Die „sorgende“ Gemeinde des frühen Christentums mit ihren vielfältigen Charismen und Diensten wird zur versorgten Gemeinde, die der „Hirte“ auf gute Weide zu führen hat. In die Kirche wird man nicht mehr berufen, sondern hineingeboren. Die Grenzen der politischen Gemeinde werden auch zu Grenzen der Kirchengemeinde. Es entsteht die „Pfarrei“,

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etymologisch abgeleitet von „Pferch“. Die „Schafe“ in der „Herde“ werden zu Geführten. Sie gelten als „unmündig“, weil sie nicht die Einsicht in die Geheimnisse des Glaubens besitzen. Sie sind „unvollkommen“ und „haben die Tugenden der „Vollkommenen“ nachzuahmen und schließlich als „weltlicher Arm“ die Interessen der Kirche in der Welt wahrzunehmen. In der mittelalterlichen Gesellschaft, in der die Zugehörigkeit zum Stand des Adels, der Freien, der Halbfreien und Unfreien die Rechtsstellung des Einzelnen bestimmte, wurden auch die kirchlichen Dienste bis zu Lebensstil und Tracht immer mehr ständisch verstanden und wurde der „höhere Klerus“ als Herrenstand in den herrschaftlich-ständischen Aufbau dieser Gesellschaft eingegliedert und mit Grundbesitz, Herrschaftsrecht und Hörigen und so mit allem dotiert, was damit an Einfluss und Beeinflussung zusammenhing. 17 Aus der herrschaftsfreien Kirche des Anfangs war eine hierarchisch gegliederte Kirche, eine Kirche „heiliger Herrschaft“ geworden. Die charismatische Gemeinde des Anfangs hatte sich zur betreuten und versorgten Gemeinde gewandelt. Nach der Reformation und mit dem Beginn der Neuzeit kam ein weiteres Fremdelement hinzu. Charakteristika, die (nach Max Weber) für jede Großorganisation kennzeichnend sind, prägten (und prägen) in zunehmendem Maße das Erscheinungsbild der Kirche(n): Viele hauptamtliche Mitarbeiter – mit fremdem Geld – nach festen Regeln – mit besonderem Fachwissen – hierarchisch gesteuert – um bestimmte Leistungen zu erbringen. Wie im Mittelalter Grundbesitz und Herrschaftsrecht der Kirche eine feudale Struktur gaben, so kennzeichnet heute eine immer mehr perfektionierte und durchrationalisierte Verwaltung die Züge der Kirche als einer bürokratisierten Großorganisation. Die Folge davon ist ein „Widerspruch zwischen den Funktionserfordernissen der organisierten Ebene und denen der Interaktionsebene. Die interaktive und lebensweltliche Ebene ist – ohne böse Absicht, einfach den bürokratischen Funktionserfordernissen entsprechend – bedroht. ‚Kolonialisierung der Lebenswelten‘ hat Habermas das genannt. Das Dilemma ist: Wir brauchen die höheren Organisationsebenen und das, was sie leisten, aber das Wichtigste können sie nicht geben. Was Motive gibt, lässt sich nicht organisatorisch sicherstellen. Mit einem ‚Apparat‘ kann man sich nicht identifizieren“ 18. Mit dem Zerfall der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung und erst recht im Zuge der umfassenden geistigen, sozialen, politischen und technologischen Veränderungen in der Aufklärung und in der Neuzeit beginnt das starre, hierarchisch strukturierte Ordnungsgefüge sich zu lockern. Die durch die Reformation geförderte stärkere Hinwendung zur Bibel – jetzt auch für weite Kreise von Laien zugänglich und lesbar – ruft die längst vergessenen oder verdrängten Modelle urchristlichen Gemeindelebens und die Vielfalt der Dienste wieder in Erinnerung. Die inzwischen überall verbreiteten sozialen Veränderungen lassen die Forderung nach Mitverantwortung, Kollegialität und Pluralität immer lauter werden. Die technologischen Fortschritte ermöglichen zudem größere Mobilität, umfassendere Information und verstärkte Kommunikation. Der politische Wandel stärkt das Verlangen nach mehr demokratischen Strukturen in der Kirche. Die bisherige Deckungsgleichheit von Bürger und Christ wird aufgehoben. Eine absolutistisch-monarchisch geführte Kirche erscheint als Anachronismus. Leider hat auch das Zweite Vatikanische Konzil für die katholische Kirche keine

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ernsthafte und verbindliche Rückbesinnung auf die zweittestamentlichen Ursprünge und erst recht keine daraus zu folgernde Korrektur des theologischen Denkens und der pastoralen Praxis in Gang gebracht. Die vom Konzil mit überwältigender Mehrheit angestrebten, zunächst von den meisten Kirchengliedern begeistert aufgenommenen Reformvorhaben wurden nicht immer hinreichend klar und unmissverständlich formuliert und ließen so – je nach „Lesart“ und nach aktueller Machtkonstellation – unterschiedliche Interpretationen und Konsequenzen zu. a) Das kirchliche Amt

Die Kirche wird geordnet und geleitet durch zahlreiche Dienste, wobei die Beauftragung einer bestimmten Person zu dauerhaftem Dienst als „Amt“ bezeichnet werden kann. Nach dem Beispiel Jesu darf der Vorrang des „Amtes“ in einer Gemeinde nur im Dienen bestehen: „Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, der soll der Sklave aller sein“ (Mk 10,43 f.). Entsprechend dieser Weisung sieht Paulus das Amt als „Dienst im Dienen“ (Röm 12,7) und als „Dienst des Geistes“ (2 Kor 3,8). Das Amt ist Berufung durch „Gnade“ (Röm 1,5). Aber es ist nicht eine Gnadengabe unter oder neben vielen anderen. Paulus hebt sein Apostelamt sehr deutlich von den übrigen Charismen ab (v. a. Gal 1,17–2,10). Er fühlt sich vom Geist dazu befugt, andere Charismen einer Prüfung nach ihrer Echtheit zu unterziehen und sie zu ordnen – in der Absicht, dass sie bei aller Vielfalt der Einheit des Geistes dienen (Röm 14,1–6; 1 Kor 3,1–8; Gal 3,1–5). Dieses Amtsverständnis gilt grundsätzlich auch für die Kirche von heute, wenngleich es seine Form im Laufe der Geschichte in vielfältiger Weise gewandelt hat. „Amt“ wird als Charisma verstanden, das für eine besondere, durch die „Ordination“ bzw. „Weihe“ übertragene Sendung zur Leitung der Gemeinde und zur Bewahrung der Einheit im Heiligen Geist befähigt. Das Amt ist „Dienst am Wort und Dienst an der Gemeinde“ (Walter Kasper). Die Amtsträger (Bischof, Presbyter, Pfarrer, Diakon) stehen zugleich in der Gemeinde wie auch ihr gegenüber. Augustinus hat dafür eine knappe und präzise Formel gefunden: „Mit euch bin ich Christ, für euch bin ich Bischof!“. Als Dienst am Wort des Evangeliums trägt das Amt die Verantwortung dafür, dass sich die Kirche an der Autorität des Evangeliums ausrichtet. Als Dienst an der Gemeinde soll es gerade durch den Dienst am Evangelium dazu beitragen, dass die Gemeinde fähig wird zu eigenem, ver-antwort-etem Dienst. Noch beim Konzil von Chalkedon (451) wurde diese „ekklesiale“ Amtsauffassung eingeschärft: „Nur jemand, der durch eine bestimmte Gemeinde berufen wird, ihr Vorsteher und Leiter zu sein, empfängt wirklich die ‚ordinatio‘. ‚Ordinatio‘ ist eine Eingliederung oder ‚Inkorporation‘ als Amtsträger in eine Gemeinde, die einen bestimmten Mitchristen beruft und als ihren Vorsteher bezeichnet (oder vor allem in früherer Zeit: Die das faktische charismatische Auftreten eines ihrer Mitglieder akzeptiert und offiziell bestätigt). Eine ‚absolute ordinatio‘, das heißt eine ordinatio, bei der jemandem die Hände aufgelegt werden, ohne dass er von einer bestimmten Gemeinde als ihr Vorsteher gefragt ist, ist null und nichtig“ 19. Das Amt ist eine Angelegenheit der Ortsgemeinde. „Man darf niemand zum Bischof weihen gegen den Wunsch der Chris-

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ten und ohne dass sie ausdrücklich darum gebeten haben,“ verlangt Papst Leo I. (440– 461). 20 In den Kirchen der Reformation zeigt sich diese doppelte Dienstfunktion bei der Übertragung des Pfarramtes: Der Pfarrer wird einerseits durch die Gemeinde, in der er sein Amt ausüben soll, berufen, und er wird andererseits durch den Bischof oder durch einen von ihm beauftragten Amtsträger dazu ordiniert. In der katholischen Kirche ist dieser Gemeindebezug des Amtes rudimentär noch erhalten in der „Inkardination“, in der Eingliederung eines zu ordinierenden Priesters in eine bestimmte Diözese und in der rhetorischen Frage an die bei einer Priesterweihe versammelte Gemeinde, ob jemand gegen einen der Kandidaten etwas einzuwenden habe. Von dem ursprünglich für die Ordination wesentlichen Element eines echten Mitsprache- und Mitentscheidungsrechts der Gemeinde ist hier nicht mehr viel zu spüren. Das Amt verdeutlicht dem einzelnen Glied der Gemeinde, dass die Kirche etwas Vorgegebenes ist und mit ihren Gaben und Forderungen an ihn herantreten kann. Es fügt die Verkündigung des Wortes, die Spendung der Sakramente, die Unterweisung im Glauben und das Miteinander der Glaubenden in ein geordnetes und verbindliches Ganzes zusammen. Der Glaube des einzelnen wird so aus einer möglicherweise subjektiven Willkür befreit und hineingestellt in die große Gemeinschaft des kirchlichen Glaubens. Ein solcher Dienst in und an der Kirche darf nicht zur Herrschaft über die Gemeinde ausarten. Der Pfarrer ist kein Pfarr-Herr. Der Amtsträger darf sich nicht als „Herr über den Glauben“ aufspielen, sondern muss sich als „Helfer zur Freude“ bewähren (2 Kor 1,24). Weil es hier um die Einheit des gemeinsamen Glaubens, um die Einheit der eucharistischen Gemeinschaft und um die Einheit aller charismatischen Dienste der Gemeinde geht, kann solch ein Dienst nicht als ein äußerlicher, organisatorischer Dienst missverstanden werden. Richtig ausgeübt kann solch ein Dienst nur werden, wenn er von einem geist-begabten Menschen ausgeführt wird. Im Amtsverständnis gibt es zwischen der römisch-katholischen Kirche und den Kirchen der Reformation bis heute unterschiedliche Standpunkte, die zwar zumeist theologisch aufgearbeitet, aber von den Kirchenleitungen offiziell noch nicht rezipiert sind. Als jüngstes Dokument dürfen die „Konvergenzerklärungen“ gelten, die 1982 von der „Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen“ vorgelegt wurden. 21 Heute gelten vor allem vier Problempunkte im Hinblick auf das kirchliche Amt als strittig: Apostolische Sukzession, Ordination, Form des ordinierten Amtes, Petrusdienst. Apostolische Sukzession Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil gab es keine amtlichen Aussagen über die genaue Art und Weise der Nachfolge im Verkündigungs- und Leitungsdienst der Apostel, der „Apostolischen Sukzession“. Sie ist inhaltlich bestimmt durch das authentische Christus-Zeugnis der Apostel und ihrer später damit beauftragten Helfer. Als öffentliche Kundgabe dieser Bevollmächtigung hat sich im 2. nachchristlichen Jahrhundert formell die Handauflegung herauskristallisiert. Erst 1947 hat Papst Pius XII. entschieden, dass für die gültige Spendung der Diakons-, Priester- und Bischofsweihe die Auf-

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legung der Hände durch einen Bischof als „materielles Zeichen“ erforderlich sei. Bis dahin wurde kontrovers diskutiert, ob nicht auch andere Zeichen – Salbung oder Übergabe von liturgischen Geräten – konstitutiv für die Weihe sein könnten. Diese Entscheidung warf die Frage über die Gültigkeit bzw. Nichtgültigkeit der Ämter in der lutherischen Kirche auf. Traditionellerweise ging man jedoch von der Ungültigkeit aus. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht von einem „defectus“ im Weihesakrament bei den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen. Es hat jedoch nicht erklärt, in welchem Sinn das für die einzelnen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften gilt, „die untereinander nicht wenige Unterschiede aufweisen“ 22. In dem seither geführten Dialog bleibt unklar, ob „defectus“ nur im Sinne eines Mangels oder aber des völligen Fehlens zu verstehen sei. Dabei ist die Tatsache erwähnenswert, dass es auch in der katholischen Kirche „Mängel“ gegeben hat, nämlich Ordinationen von Priestern durch Priester (und nicht durch Bischöfe!). 23 Im Hinblick auf die Ökumene darf daher wohl nicht mehr eine episkopale, sondern lediglich eine presbyteriale Sukzession gefordert werden. Im Gefolge dieser Klärungsbemühungen haben sich inzwischen mit den Kirchen der Reformation weitgehende Gemeinsamkeiten im Amtsverständnis herauskristallisiert: „Es gibt ein besonderes Amt in der Kirche, das durch Ordination verliehen wird. Diese Ordination kann – je nach Sakramentenverständnis – als Sakrament bezeichnet werden. Sie ist nicht wiederholbar. Sie wird durch Ordinierte vollzogen und nimmt auf in den Dienst der Wortverkündigung, der Sakramentenverwaltung, der Einheitsstiftung, den alle Amtsträger in der Kirche kollegial für die Kirche als ganze verwalten“ 24. Die Ordination selbst beruht nicht mechanistisch auf einer ununterbrochenen Kette von Handauflegungen (selbst wenn diese nachweisbar sein sollten), sondern auf der Kontinuität in Glaube und Lehre mit der Kirche der Apostel. Die Handauflegung ist nur ein dafür geeignetes und besonders symbolträchtiges Zeichen (unter anderen). Angesichts dieser Übereinstimmungen stellt sich die Frage, was einer gegenseitigen Anerkennung der Ämter eigentlich noch im Wege steht. Neben der Frauenordination ist es im Grunde nur noch das Problem der apostolischen Nachfolge im Bischofsamt. Hier könnte sich, bei gutem Willen aller Seiten, eine Lösung in der Richtung anbahnen, wie sie die Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen vorschlagen: „Der Akt der Weitergabe sollte in Übereinstimmung mit der apostolischen Tradition geschehen, die die Anrufung des Heiligen Geistes und die Handauflegung einschließt. Um gegenseitige Anerkennung zu erreichen, sind von verschiedenen Kirchen verschiedene Schritte erforderlich. Zum Beispiel:  Kirchen, die die bischöfliche Sukzession bewahrt haben, werden gebeten, sowohl den apostolischen Inhalt des ordinierten Amtes in Kirchen anzuerkennen, die eine solche Sukzession nicht bewahrt haben, als auch die Existenz eines Amtes der episkopé, (der sakramental-pastoralen Leitung, N. S.) in verschiedenen Formen in diesen Kirchen.  Kirchen, ohne bischöfliche Sukzession und in Treue zum apostolischen Glauben und seiner Sendung lebend, haben ein Amt des Wortes und der Sakramente, wie es durch den Glauben, die Praxis und das Leben dieser Kirchen klar bezeugt wird.

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Diese Kirchen werden gebeten, zu erkennen, dass die Kontinuität mit der Kirche der Apostel durch die sukzessive Handauflegung der Bischöfe tiefen Ausdruck findet und dass, obwohl ihnen vielleicht die Kontinuität der apostolischen Tradition nicht fehlen mag, dieses Zeichen jene Kontinuität stärken und vertiefen wird. Sie müssen vielleicht das Zeichen der bischöflichen Sukzession wieder neu entdecken.“ 25 Ordination Biblische Grundlagen Es ist bis heute nichts darüber bekannt, ob für den Leitungsdienst ein eigener Einsetzungs- oder Amtseinführungsritus vorgesehen war. In der Apostelgeschichte ist von Fasten, Gebet und Handauflegung die Rede (Apg 13,3). Aber die Handauflegung kann als Geistmitteilung (Apg 14,23), als Heilungs- oder Segensgestus (Mk 6,5 und 10,13– 16) und als Erwählungszeichen (Apg 6,1–7) verstanden und gedeutet werden. Erst zur Zeit der Pastoralbriefe (2. Jh. n. Chr.) scheint sich ein Einsetzungsritus für den kirchlichen Leitungsdienst herausgeschält zu haben, als dessen wirksames Zeichen – in Anlehnung an alttestamentliche Vorbilder (Num 27,15–23; aber auch Lev 1–4; 24,14) – die Handauflegung zu betrachten ist (vgl. 1 Tim 4,14; 5,22; 2 Tim 1,6). Doch blieb bis in die zweite und dritte christliche Generation auch eine unmittelbar geistgewirkte Amtseinsetzung möglich. 26 Auch im ältesten lateinischen Weihe-Rituale aus dem 8. Jahrhundert findet sich bei der ‚ordinatio‘ kirchlicher Amtsträger keine Erwähnung der Handauflegung. „Obwohl die Handauflegung bei der ‚ordinatio‘ eine offenkundige Traditionsgegebenheit ist, wird sie nicht als das Wichtigste angesehen; wesentlich ist das kirchliche Mandat oder die kirchliche Sendung zum Amt, nicht die konkrete Form, in der diese Berufung und Sendung Gestalt erhält. […] Als Amtsträger von der Kirche anerkannt zu werden und dadurch für eine bestimmte Kirchengemeinde gesandt zu sein (durch ihre Leiter mit ausdrücklicher Billigung der gläubigen Gemeinde oder umgekehrt) ist der eigentliche Wesenskern der ‚ordinatio‘“ 27. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts lehrt die abendländische Theologie, dass das Sakrament des Ordo (neben Taufe und Firmung) dem Empfänger ein „unauslöschliches Merkmal“ einpräge. Was genau damit gemeint ist, wird nirgends näher beschrieben. Die von der katholischen Kirche bis heute festgehaltene Lehre darf nicht als Dogma betrachtet werden. 28 Problematisch daran ist, dass sie – falsch gedeutet – die Aufmerksamkeit auf die Person des Amtsträgers fixiert und damit die Sicht auf das Wesen des Leitungsdienstes behindert. Denn an die Stelle der Bezogenheit auf den Dienst an der Gemeinde und der Kirche tritt eine spezifische, „seinsmäßige“ Qualifikation des Ordinierten. Theodor Schneider sieht in dieser Lehre einen Hinweis auf die lebenslange Verpflichtung des Ordinierten. Sie sei zunächst ein „Demutszeichen“. Die Funktion des Ordinierten „steht und fällt nicht mit seiner persönlichen Heiligkeit, denn sein Amt ist nicht für ihn, sondern für die Gemeinde da. […] Die Gemeinde muss nicht erst die Heiligkeit des Amtsträgers testen, um zu wissen, ob die Eucharistiefeier gültig ist, ob die Lossprechung wirksam ist“ 29. Das „Merkmal“ bedeutet somit die zeitlich unbegrenzte Bestellung zum priesterlichen Dienst, unabhängig von der persönlichen Frömmigkeit und Heiligkeit des Ordinierten.

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Solche Sicht trifft sich mit der lutherischen Auffassung. Denn auch nach ihr wird „die im Auftrag Christi unter Zuspruch des Heiligen Geistes geschehene Ordination zum Amt der Kirche […] auf Lebensdauer und damit zeitlich ohne Einschränkung vollzogen. Insofern eignet dem Vollzug der Ordination […] eine unaufgebbare Einzigkeit. Sie gilt fort, auch wenn der Dienst an einer konkreten Gemeinde aufgegeben wird“ 30. Mit dieser Betonung der Einmaligkeit der Ordination durch die lutherische Kirche ergibt sich eine deutliche Übereinstimmung mit der Sicht der katholischen Kirche. Ein wesentliches Hindernis auf dem Wege zur gegenseitigen Anerkennung der Ämter ist damit aus dem Weg geräumt. So sehen es auch die katholischen deutschen Bischöfe in ihrem Schreiben über das priesterliche Amt: „Wo dieses Verständnis der ein für allemal erfolgenden Ordination besteht und wo die Einseitigkeiten und Fehlentwicklungen überwunden sind, kann von einem Konsens in der Sache gesprochen werden“ 31. Zölibat Jesus hat weder von seinen Jüngern noch von seinen engsten Vertrauten, den Zwölf, ein zölibatäres Leben verlangt. Aufgrund unserer besseren und genaueren Kenntnis des Judentums in der Zeit Jesu stellt sich sogar die Frage, ob nicht auch Jesus selbst (bis zu seinem öffentlichen Auftreten?) verheiratet war. Denn in seiner jüdischen Umwelt hätte die Missachtung der ersten Pflicht des rabbinischen Pflichtenkatalogs: „Seid fruchtbar und mehret euch“ zu offener Kritik und Polemik an ihm führen müssen; davon wird aber in den Evangelien nichts berichtet. 32 Vermutlich als einziger der Apostel war Paulus – zumindest zur Zeit der Abfassung des Ersten Briefes an die Gemeinde von Korinth (um 54) – nicht (mehr) verheiratet, obwohl er grundsätzlich auch für sich das Recht auf ein nicht-zölibatäres Leben in Anspruch nimmt, wenn er schreibt: „Haben wir nicht das Recht, eine Schwester als Ehefrau mitzunehmen, wie die übrigen?“ (1 Kor 9,5). Insgesamt gilt: „Der Gedanke einer lebenslangen oder über längere Zeit andauernden Ehelosigkeit war der Welt des Neuen Testaments und des Judentums […] unbekannt und unvorstellbar“33. Erst gegen Ende des 4. Jahrhunderts kam in Rom die Forderung nach geschlechtlicher Enthaltsamkeit für verheiratete Priester auf. Vor allem drei Gründe gaben wohl dafür den Ausschlag: 34  Seit der Mitte des 2. Jahrhunderts wurde unter dem Einfluss neuplatonischen und manichäischen Gedankengutes die Geschlechtlichkeit als etwas Erniedrigendes angesehen, das der Mensch mit der ungeistigen Kreatur, dem Tier, gemeinsam habe und das daher unrein mache.35 Die Gnostiker forderten die Befreiung von den Fesseln der Materie, die Manichäer verlangten den Verzicht auf geschlechtlichen Umgang. Es gibt kaum einen Kirchenvater, der nicht ein oder mehrere Bücher „De virginibus“ oder „De virginitate“ (über die Jungfrauen, über die Jungfrauschaft) geschrieben hätte. Das ist nicht allein aus Mt 19,10–12 oder 1 Kor 7,25–38 zu begründen.  Gleichzeitig und unter dem Einfluss dieser leib- und ehefeindlichen Strömungen entfaltete sich das Mönchtum, das viele Menschen anzog. Es betonte den hohen Wert der Jungfräulichkeit und blieb daher nicht unberührt von der Abwertung des

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Leibes. Zahlreiche Kleriker schlossen sich zu Priestergemeinschaften mit stark mönchischem Charakter zusammen (Eusebius von Vercelli, Augustinus). Das Mönchtum färbte auf die ganze Kirche ab. Der Mönch erschien als vollkommener Christ, die „Laien“ waren aufgerufen, nach den ihnen in der „Welt“ gegebenen Möglichkeiten die Frömmigkeit und Askese der Mönche nachzuleben.  Als Drittes kam es zu einer zunehmenden Sazerdotalisierung der kirchlichen Ämter. Während die urchristliche Gemeinde geradezu ängstlich bemüht war, jede Vorstellung von sakral-kultischen Funktionen von den kirchlichen Leitungsdiensten fernzuhalten, setzt nach der Konstantinischen Wende (4. Jahrhundert) eine Restaurationsbewegung auf das nicht-christliche Verständnis des Priestertums ein. Zur biblischen „Begründung“ einer „rituellen Reinheit“ vor der Feier der Eucharistie wurden die levitischen Reinheitsgesetze herangezogen (Ex 19,15; 1 Sam 21,5–7; Lev 15,16–17; 22,4). 36 Von den Priestern des Alten Bundes, die in einem Rhythmus von 24 Wochen jeweils eine Woche lang den Dienst im Tempel verrichteten, wurde verlangt, dass sie während dieser Woche im Tempel wohnten und sich durch Enthaltung von ehelichem Verkehr kultisch rein hielten. Da die Diener des Neuen Bundes täglich zu Dienst und Gebet verpflichtet waren, wurde von ihnen konsequenterweise die völlige und dauernde Enthaltsamkeit gefordert. Dabei wurde aus der kultischen Unreinheit nach dem Verständnis des Alten Bundes eine moralische Befleckung, die unwürdig macht, den Dienst weiter auszuüben. Auch die vom Papst und von kurialen Theologen vorgetragenen Gründe („Priester als Ebenbild des unverheirateten Mannes Jesus von Nazaret“) können nicht überzeugen.  Zum einen sind es wohl tiefenpysychologische Aspekte, die hier eine dominante Rolle spielen. Sie beruhen auf einem falschen Priesterbild, das auch durch die Neuansätze des Zweiten Vatikanischen Konzils noch nicht überwunden ist. Aufgrund eines solchen Zerrbildes muss der Priester als geweihter Vermittler und Verwalter „heiliger Geheimnisse“ abgesondert sein von den „unrein“ machenden Gegebenheiten des menschlichen Alltags – von der Politik, vom Wehrdienst und vor allem von sexueller Betätigung. Nur so bleibt auch das Heilige, mit dem der Priester in ständigem Kontakt steht, unbefleckt vom schmutzigen, profanen Leben. Die Aufhebung der Zölibatsverpflichtung würde diesen tief in der menschlichen Psyche verankerten, im Grunde archaischen Symbolwert des (ehelosen) Priestertums zerstören.  Dazu kommt ein zweiter unausgesprochener und selbst den verantwortlichen Kirchenführern vielfach wohl auch unbewusster Aspekt. Die Zölibatsverpflichtung für Priester dient ihnen als eine Art „autoritäres Testinstrument“: „Wer sich nämlich diese schwerwiegenden Eingriffe in sein Intimleben gefallen lässt, der dürfte auch in ‚leichteren‘ Fragen sich als gefügig erweisen. Der erzwungene Verzicht auf ganzheitliche Partnerschaft (dem man in einem unreifen Stadium auch noch selbst zustimmt) löst zwangsläufig innere Konflikte und Schuldgefühle aus. Dadurch wird faktisch die Lenkbarkeit des einzelnen erhöht.“ 37 Auch ohne ein ausdrückliches Gehorsamsgelübde (wie bei Ordensleuten) erscheinen die Entscheidungen nicht weniger und selbst hochrangiger Kleriker (Bischöfe) häufig gänzlich außen-

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gelenkt und nicht mehr persönlich verantwortet. Sie haben die kirchlichen Autoritäten so total verinnerlicht, dass ihr eigenes Ich dahinter verschwindet und wie ausgelöscht erscheint.  In engem Zusammenhang damit steht die Tatsache, dass jene Kleriker, die den Zölibat nicht einhalten, in eine existentielle Konfliktsituation geraten. Vor allem hoch motivierte und sensible Persönlichkeiten erleben die Spannung zwischen ihrem Zölibatsversprechen und dem Bruch dieses Versprechens durch die begangenen „Sünden“ als unerträgliche Gewissenslast. Damit aber werden sie leichter beherrschbar. „Sündige“ Menschen sind eher zu manipulieren und zu beherrschen. Diese grundsätzlich von allen Priestern der römisch-katholischen Kirche geforderte Lebensform ist für nicht wenige junge Männer ein Grund, das Priestertum nicht anzustreben. Die Zahl der Priesteramtskandidaten geht weltweit rapide zurück. Ein sekundäres Merkmal (Zölibat) behindert heute auf weite Strecken die Primärfunktion des priesterlichen Dienstes – die Leitung von Gemeinden und die Feier der Eucharistie. 38 Was hierzulande als bedrückender Mangel empfunden wird, erscheint in den Ländern der Dritten und Vierten Welt geradezu als pastorale Katastrophe, die mehr und mehr zu einer Bedrohung für die Existenz der (katholischen) Kirche überhaupt werden wird. In der katholischen Kirche mehren sich auch unter Bischöfen die Stimmen, die angesichts der drängenden pastoralen Notlage eine Aufhebung des Pflichtzölibats für Priester fordern. Auf Dauer wird Rom diesem Drängen nicht widerstehen können. Das wird sicher nicht schlagartig und gleich für die gesamte Kirche bindend geschehen, sondern für verschiedene Regionen in begründeten Ausnahmefällen („viri probati“) und unter besonderer Verantwortung der zuständigen Ortsbischöfe bzw. der entsprechenden Bischofskonferenzen. Wegen der zu erwartenden Irritationen bei Priestern und Gläubigen wird dazu eine längere Übergangsphase erforderlich sein, in der eine intensive Vorbereitungs- und Informationsarbeit zu leisten ist. Von allen Betroffenen wird peinlich darauf zu achten sein, dass weder die verheirateten noch die unverheirateten Priester von der jeweils anderen Seite diskriminiert oder als Ordinierte zweiter Klasse abqualifiziert werden. Mit der Aufhebung der Zölibatspflicht ist freilich auch das in den Kirchen der Reformation längst gegebene Problem des möglichen Scheiterns ihrer Ehe nicht auszuschließen. Was bedeutet das für die weitere Ausübung ihres Amtes? Wie verhält sich die betroffene Gemeinde? Generell sollten in diesem Fall keine strengeren Maßstäbe angelegt werden als bei anderen Männern und Frauen, deren Ehen zerbrochen sind. Auch Priesterinnen und Priester dürfen erwarten, in ihrer christlichen Gemeinde Barmherzigkeit zu erfahren. Es hat zu gelten, was auch für andere offenkundig werdende Sünden von Gemeindeleiterinnen und -leitern verlangt werden muss: „Wer ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein“ (Joh 8,7). Aus pastoralen Gründen mag es allerdings nicht selten klug und vielleicht sogar geboten sein, dass der oder die Betroffene sich an einen anderen Ort versetzen lässt, sofern das im Hinblick auf die häuslichen oder privaten Umstände möglich ist.

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Kirchen der Reformation Die für eine Amtsausübung verlangte Ordination wird nicht im strengen Sinn zu den Sakramenten gerechnet, obwohl Philipp Melanchthon und Jean Calvin keine Bedenken hatten, sie auch als Sakrament zu bezeichnen.39 Nach gegenwärtigem Verständnis ist die Ordination zu verstehen als Übertragung des Dienstes der öffentlichen Wortverkündigung und der Sakramentenveraltung an einen getauften Christen bzw. an eine getaufte Christin. Seit 1980 erfolgt sie in den VELKD-Kirchen allgemein durch Handauflegung und Gebet. Bei der Übertragung anderer Dienste wird in der Regel nicht von Ordination, sondern von „Einsegnung“ gesprochen. Als ordentlicher „Ordinator“ kommt der Inhaber eines kirchenleitenden Amtes in Frage (Bischof, Probst, Superintendent). Die Ordination ist, auch wenn sie – wie in der Reformationszeit – durch Pfarrer (Pastoren, Presbyter) ausgeübt wird, Ausdruck der personalen apostolischen Sukzession. Ein Vergleich der Ordinations-Liturgien beider Kirchen zeigt, dass folgende Stücke als gemeinsamer Kern einer Ordinationsliturgie anzusehen sind: Vorstellung, Amtspredigt, Schriftlesungen, Verpflichtungsfragen, Gebetsakt in Verbindung mit Handauflegung, ausdrückliche Sendung zum Dienst (verbal und in Verbindung mit Symbolriten). Ferner ist der Ordinationsakt grundsätzlich einem Gemeindegottesdienst mit Abendmahl zugeordnet, und die Gemeinde wird ausdrücklich durch Gesang, Gebet und Akklamationen am ordinierenden Handeln beteiligt. Form des ordinierten Amtes Biblische Grundlagen Unter den Bezeichnungen für die vielfältigen Dienste in den urchristlichen Gemeinden werden jene Bezeichnungen peinlich gemieden, die in damaliger Zeit für heidnisches Kultpersonal („Priestertum“) verwendet wurden („hiereus“, davon später abgeleitet: Hierarchie). Stattdessen werden genannt: Apostel (vgl. 1 Kor 9,6; Röm 16,7), Älteste (griech: „presbtes“; vgl. Apg 20,17), Aufseher (griech.: „epískopos“, verwendet für profane Aufsichtstätigkeiten; vgl. Phil 1,1; Tit 1,9), Diakon (vgl. Röm 16,1), Vorsteher (griech: „próstatis“, Beistand im sozialen Bereich; vgl. Röm 16,2; in der deutschen Einheitsübersetzung mit „… hat vielen geholfen“ wiedergegeben). Eine genaue Abgrenzung von bischöflichem und priesterlichem Dienst und eine Unterordnung der Priester unter den Bischof sind für die Anfänge der Kirche nicht belegt. Sie erscheinen erst im 2. Jahrhundert, ohne dass dafür eine theologische Begründung geliefert wird. Das ist bis heute nicht geschehen. 40 Römisch-katholische Kirche Die römisch-katholische Kirche fasst das Ordnungsgefüge der kirchlichen Ämter unter dem in der Urkirche vermiedenen Begriff „Hierarchie“ (griech.: „heilige Herrschaft“) zusammen. Interessanterweise hat das Wort „Hierarchie“ in jüngster Zeit auch Eingang in den Wortschatz der Sozial- und Naturwissenschaften gefunden. Es bezeichnet hier ausschließlich Rangordnungs-Verhältnisse. Der dem Begriff ursprünglich anhaftende Bezug zum Heiligen ist gänzlich verloren gegangen. Das gilt – in einer Art Rückkoppelungswirkung – zunehmend auch für das kirchliche Hierarchieverständnis an der „Ba-

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sis“, denn nicht wenige der so genannten „Laien“ empfinden diesen Ausdruck als belastend und problematisch, zumal ihm die Bezeichnung der kirchlichen Amtsvollmacht als „heilige Gewalt“ („sacra potestas“ 41) entspricht, die sich wiederum aufteilt in die Vollmacht der Leitung („potestas jurisdictionis“) und die der Weihe („potestas ordinis“). Diese herrschaftssprachlichen Begriffe stehen in deutlicher Spannung, wenn nicht in direktem Widerspruch zu der Beteuerung, dass die kirchlichen Ämter als „Dienst“ („ministerium“) zu verstehen seien. 42 Das Zweite Vatikanische Konzil sieht in der „hierarchischen“ Verfasstheit der Kirche eine auf Jesus Christus selbst zurückzuführende Gegebenheit: „Unter den verschiedenen Dienstämtern, die so von den ersten Zeiten her in der Kirche ausgeübt werden, nimmt nach dem Zeugnis der Überlieferung das Amt derer einen hervorragenden Platz ein, die zum Bischofsamt bestellt sind. […] Die Bischöfe haben das Dienstamt in der Gemeinschaft zusammen mit ihren Helfern, den Priestern und den Diakonen, übernommen. An Gottes Stelle stehen sie der Herde vor, deren Hirten sie sind“ 43. Der Bischof hat „die ihm zugewiesene Teilkirche als Stellvertreter und Gesandter Christi durch Rat, Zuspruch und Beispiel“ zu leiten. Die beständige tägliche Sorge für seine Diözese ist ihm „im vollen Umfang anvertraut.“ Er darf sich nicht als Befehlsempfänger des Bischofs von Rom verstehen, „denn er hat eine ihm eigene Vollmacht inne und heißt in voller Wahrheit Vorsteher des Volkes, das er leitet“ 44. Zur „apostolischen Aufgabe“ des Bischofs gehört es, sich „mit ganzem Herzen auch jenen zu widmen, die irgendwie vom Weg der Wahrheit abgewichen sind oder die die Frohbotschaft Christi und sein heilbringendes Erbarmen nicht kennen“45. Das Konzil lehrt ferner, dass „die Apostel mit einer besonderen Ausgießung des herabkommenden Heiligen Geistes von Christus beschenkt worden“ sind und dass diese wiederum „ihren Helfern durch die Auflegung der Hände die geistliche Gabe übertrugen (vgl. 1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6–7).“ Diese „Gabe“ sei „in der Bischofsweihe bis auf uns gekommen“ 46. Neu eingeführt wird vom Konzil der Gedanke der Kollegialität der Bischöfe. Den einzelnen Bischöfen, ihrer persönlichen Verantwortung und ihrem individuellen Handeln, liegt die Körperschaft voraus, die sie gemeinsam bilden. Dieser wird die geschichtliche Verbundenheit mit den Aposteln zugesprochen. Daraus ergeben sich gewichtige Fragen im Hinblick auf das Verhältnis dieses Kollegiums zu dem ihm selbst zugehörigen Amt des Papstes. Weder kann es in der Kirche zwei verschiedene Subjekte derselben höchsten und vollen Gewalt gehen, noch darf die eine Instanz der anderen ihre höchste Zuständigkeit für die Leitung der gesamten Kirche einschränken. Als weitere Gruppierung innerhalb der kirchlichen „Hierarchie“ werden die Priester genannt. Sie bilden „in Einheit mit ihrem Bischof ein einziges Presbyterium. Die Zuordnung der Priester wird dabei vor allem mit dem Hinweis auf ihre untergeordneten Hilfsfunktionen näher bestimmt. Aber durch die Teilnahme an den Aufgaben des Bischofs erscheint schließlich auch ihr Dienst darauf ausgerichtet, dass „die ganze Menschheit der Einheit der Familie Gottes zugeführt werde“ 47. In der hierarchischen Ordnung der Kirche „eine Stufe tiefer“ stehen schließlich die Diakone, die in eingeschränktem Maß an den Aufgaben „der Liturgie, des Wortes und der Liebestätigkeit“ Anteil haben.48 Wieweit ihre Gruppe als eine „eigene und bestän-

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dige hierarchische Stufe“ ausgebildet werden soll, bleibt den Teilkirchen und ihrer Beurteilung der pastoralen Bedürfnisse überlassen. Daneben spricht das Konzil häufig aber auch in einem weiteren Sinn vom „Amt“ als einer „Aufgabe“ („munus“), die nicht nur der Hierarchie zukommt, sondern aus der für alle in der Kirche Verpflichtung erwächst; denn alle sind des „priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi auf ihre Weise teilhaftig“ 49. Dieses Amtsverständnis umgreift also die verschiedenen in der kirchlichen Verfassung ausdifferenzierten Gruppen und Funktionen. Für jemand, der mit der zeitgenössischen theologischen Diskussion einigermaßen vertraut ist, erscheint vieles an diesen Ausführungen höchst problematisch. Die zur Begründung der Lehre herangezogenen Texte aus Schrift und Tradition werden ohne Berücksichtigung der verschiedenen Zeiten, in denen sie entstanden sind, und der theologischen Perspektiven, die sich in den unterschiedlichen Schichten dieser Texte reflektieren, so interpretiert, wie sie dem Interesse und den Intentionen jener entgegenkommen, die eine „heilige Herrschaft“ ausüben. Auch wird den historisch-kritisch gesicherten Ergebnissen der Exegese kaum Rechnung getragen. Es gibt im Neuen Testament nur wenige Elemente, die unmittelbar auf den historischen Jesus zurückgehen und die sich gleichzeitig auf die Struktur seiner Gemeinde beziehen. Gänzlich unbeachtet bleiben schließlich auch die religionssoziologischen Erkenntnisse über die Entstehung von Hierarchien und Leitungsstrukturen. Hier steht der katholischen Kirche noch viel Arbeit ins Haus. Kirchen der Reformation Für die Kirchen der Reformation ist das „allgemeine Priestertum“ aller Gläubigen (1 Petr 2,9) ausschlaggebend. Deshalb soll die Taufe das Weiheamt ersetzen und die Verwaltung der Sakramente allen gestattet werden. 50 Dennoch darf der Einzelne ohne Einwilligung der Gemeinde oder die Berufung durch einen Vorgesetzten von dieser Vollmacht keinen Gebrauch machen. Das Amt ist wesentlich „Dienst am Wort“ und umfasst Predigt und Sakramentenspendung. Kontroverse Punkte Bischofswahl durch das Volk Die alte Kirche kannte den Grundsatz, dass keiner Gemeinde ein Bischof wider Willen aufgezwungen werden darf. „Man zwinge dem Volk keinen Bischof auf, den es nicht will“ (Papst Coelestin). Die Bischofswahl durch das Volk entspricht also einer langen kirchlichen Tradition. Sie erscheint heute angesichts weit verbreiteter demokratischer Strukturen und insbesondere aufgrund einer vertieften Einsicht in das Wesen der Kirche geradezu geboten. Immerhin räumt das Katholische Kirchenrecht die Möglichkeit einer Bischofswahl mit Bestätigung des Gewählten durch den Papst ein (c. 377 CIC). In den Kirchen der Reformation erfolgt die Wahl des Bischofs durch die Synode, deren Mitglieder ihrerseits von den Gemeinden gewählt werden. In manchen Landeskirchen werden die bischöflichen Aufgaben einem „Präses“ (Rheinland, Westfalen) oder einem „Kirchenpräsidenten“ (Anhalt, Hessen und Nassau, Pfalz) übertragen.

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Zuordnung der verschiedenen Ämter, Ungelöst ist in beiden Kirche bis heute auch die Zuordnung der verschiedenen Ämter, insbesondere von Bischofsamt und Presbyter- bzw. Priesteramt. Für die Kirchen der Reformation gilt, dass Bischofsamt und Pfarramt dem Wesen nach ein Amt sind. Bestimmte Funktionen, die zu dem einen Amt gehören, wie die Sorge für die Einheit der Gemeinden, Visitation und Ordination, kann aber nicht jeder einzelne Pfarrer wahrnehmen. Sie sind zu einem eigenen Dienst ausgestaltet worden. Die römisch-katholische Kirche tut sich schwer mit einer klaren Aussage. Das Zweite Vatikanische Konzil sagt, Jesus habe „durch seine Apostel deren Nachfolger, die Bischöfe, seiner eigenen Weihe und Sendung teilhaftig gemacht. Diese wiederum haben die Aufgabe ihres Dienstamtes in mehrfacher Abstufung verschiedenen Trägern in der Kirche rechtmäßig weitergegeben. […] Die Priester haben zwar nicht die höchste Stufe der priesterlichen Weihe und hängen in der Ausübung ihrer Gewalt von den Bischöfen ab; dennoch sind sie mit ihnen in der priesterlichen Würde verbunden und kraft des Weihesakramentes […] zur Verkündigung der Frohbotschaft, zum Hirtendienst an den Gläubigen und zur Feier des Gottesdienstes geweiht. […] In der Hierarchie eine Stufe tiefer stehen die Diakone, welche die Handauflegung nicht zum Priestertum, sondern zur Dienstleistung empfangen.“ 51 Hier bleibt vieles unklar. Gibt schon die Priesterweihe grundsätzlich gleiche Vollmachten wie die Bischofsweihe? Oder ist das Sakrament des Ordo gestuft? Ist die Bischofsweihe überhaupt ein Sakrament? Wichtig ist immerhin, dass – ähnlich wie in der Kirchen der Reformation – die „Verkündigung der Frohbotschaft“ an erster Stelle genannt wird. Die Konvergenzerklärungen mahnen aufgrund dieser offenkundigen Unklarheiten in der Amtsstruktur eine baldige Reform an. Ordination von Frauen Römisch-katholische Kirche Die römische Glaubenskongregation hat im November 1995 (mit ausdrücklicher Billigung des Papstes Johannes Paul II.) kategorisch die Zulassung von Frauen zur Ordination abgelehnt und die tradierte Auffassung, nach der die Kirche „nicht die Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden“, auch noch als „unfehlbar“ bezeichnet. Bei ihrer Weigerung beruft sie sich auf die Verhaltensweise Jesu und der Apostel, aus Treue zu ihr sähe sie sich dazu nicht berechtigt, weil der Priester Jesus Christus (u. a. als „Bräutigam der Kirche“) zu repräsentieren habe. Und außerdem seien Jesus und die Apostel Männer gewesen.52 Dieser Begründungsversuch ist nicht haltbar.  Im Neuen Testament wird nirgends erkennbar, dass das „Mann-Sein“ Jesu für seine Heilstat entscheidend war, sondern einzig seine liebende Hingabe an die Menschen. Anders gesagt: Ausschlaggebend ist nicht das Mann-Werden Gottes in Jesus Christus, sondern sein Mensch-Werden.  Das Geschlecht des Zwölferkreises Jesu war primär bedingt durch „die einmalige konkrete Situation seines missionarischen Werbens um den Glauben Israels. Darauf auf eine Zurücksetzung der Frau schließen zu wollen, wäre völlig unberechtigt.“ 53 Die zwölf von Jesus ausgewählten Männer stehen für die neuen Stammväter

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des zu erneuernden Israel. „Diese prophetische Zeichenhandlung konnte natürlich am besten durch (1) zwölf (2) jüdische (3) Männer symbolisiert werden (und nicht durch eine beliebige Zahl z. B. von Juden und Samaritern oder von Frauen und Männern).“ 54 Allerdings spielte diese Zeichenhandlung offensichtlich schon bald keine Rolle mehr. Denn zwei von den drei Merkmalen werden kurze Zeit später nicht mehr beachtet: Die Zahl zwölf wird nicht wieder hergestellt; wie auch NichtJuden werden als Apostel bezeichnet (vgl. Röm 16,7).  Von daher stellt sich die Frage: Warum hält die römisch-katholische Kirche ausgerechnet am dritten Merkmal, dem Geschlecht, so eisern fest, um den Dienst der ‚Zwölf‘ bzw. der Apostel wahrnehmen zu können? Hat sie dabei im Blick, dass selbst in den Schriften des Neuen Testaments die Zurückweisung der Frau vom öffentlich-amtlichen Auftreten an keiner einzigen Stelle mit dieser Zeichenhandlung Jesu oder einer anderen speziellen Weisung Jesu begründet wird? Und trägt sie der Tatsache Rechnung, dass die Gesellschaft inzwischen immer weniger von patriarchalischen Strukturen geprägt ist, und sich immer stärker auf ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Mann und Frau gründet? 55 Angesichts dieser unumstrittenen Tatsache „kann man sich fragen, ob sich etwas Bestimmtes und Eindeutiges aus der Wahl von Männern für das Zwölferkollegium durch Jesus für die Frage eines normalen und schlichten Gemeindeleiters und Vorstehers der Eucharistiefeier in einer beliebigen Gemeinde in späterer Zeit ableiten lassen.“ 56 Doch trotz heftiger Kritik an der Argumentationsweise des Dokuments der Glaubenskongregation durch Theologen aus aller Welt übernahm das neue Kirchenrecht aus dem alten Codex von 1917 wortwörtlich den Passus, der den Ausschluss von Frauen vom Weihesakrament bestätigt (c. 1024 CIC [1983]). Auch der Katechismus der katholischen Kirche zitiert diesen Canon und stellt dann lapidar fest: „Darum ist es nicht möglich, Frauen zu weihen“ 57. Damit dürfte für die nächste Zeit den Frauen weiterhin der Zugang zur Ordination versperrt sein, obwohl auch in der katholischen Kirche sich immer mehr Frauen und Männer dafür aussprechen.58 Die 1995 getroffene Entscheidung ist gemäß katholischer Lehrauffassung universalkirchlich verbindlich und deshalb von allen Gliedern der katholischen Kirche zu respektieren. „Es sprechen aber keine zwingenden dogmatischen Gründe gegen eine spätere Korrektur. Wie das Beispiel der Religions- und Gewissensfreiheit zeigt, wäre es auch nicht das erste Mal, dass das römische Lehramt eine als verbindlich eingestufte Lehrposition modifiziert hätte.“ 59 So sehr es zutrifft, dass die Kirche stets die Treue zu Jesus Christus wahren muss, auch und gerade in der Frage der Ordination, „so darf aber auch die Tatsache nicht übersehen werden, dass die Frage, worin genau die Treue hinsichtlich des Geschlechtes bei der Priesterweihe besteht, wissenschaftlich wie lehramtlich noch nicht hinreichend geklärt ist, genau genommen, noch immer offen ist. Darum muss die Diskussion zwischen Lehramt und Wissenschaft fortgesetzt werden, welche (un)wandelbare theologische Bedeutung dem Geschlecht bei der Priesterweihe zukommt.“ 60 Altkatholische Kirche in Deutschland In der Altkatholischen Kirche in Deutschland begann in den siebziger Jahren eine Diskussion über die Zulassung von Frauen zum Diakonat. Im Jahr 1976 sprachen sich die

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in der Internationalen Bischofskonferenz (IBK) der Utrechter Union versammelten Bischöfe mehrheitlich gegen die Zulassung von Frauen zum dreifachen ordinierten Amt aus. Da der Beschluss nicht einstimmig gefasst wurde, hatte er für die Mitgliedskirchen keine bindende Wirkung. In den darauf folgenden Jahren kam es in den westeuropäischen altkatholischen Kirchen zu einem theologischen Gesinnungswandel, so dass die IBK es ihren Mitgliedskirchen ab 1982 freistellte, Frauen zum Diakonat zuzulassen. Dies geschah, nachdem sich die Synoden der deutschen und der Schweizer Kirche 1981 dafür ausgesprochen hatten. 1987 wurden daraufhin in der Schweiz die ersten vier Frauen zu Diakoninnen geweiht, 1988 die erste Frau in Deutschland und 1991 empfing schließlich auch eine Frau in Österreich die Diakonatsweihe. 1989 sprach sich dann die deutsche Bistumssynode auch für die Einbeziehung der Frauen in das priesterliche Amt aus. Mit Rücksicht auf die Schwesterkirchen wurde die sofortige Ausführung zurückgestellt und zuerst ein Einvernehmen mit den anderen Kirchen der Utrechter Union gesucht. 1991 willigte die IBK im Interesse einer gemeinsam verantworteten Grundsatzentscheidung in das intensive Studium der Frage ein. Im Alleingang beschloss 3 Jahre später die Bistumssynode in Deutschland mit großer Mehrheit, dass Frauen im Bereich des Katholischen Bistums der Alt-Katholiken in Deutschland von jetzt an den gleichen Zugang zum ordinierten Amt haben wie Männer. Am Pfingstmontag 1996 empfingen die ersten Frauen die Priesterweihe.61 Kirchen der Reformation Auch in den Kirchen der Reformation verlief die Einführung der Frauenordination nicht völlig unproblematisch. Die meisten Kirchen (z. B. die Evangelische Kirche und die Evangelisch-Lutherische Kirche in Deutschland) haben die Frauenordination eingeführt. Dieser Schritt fiel vor allem deswegen nicht so schwer, weil es ein Priestertum im römisch-katholischen Sinn in diesen Kirchen nicht gibt. Damit erschien im Umfeld eines geänderten gesellschaftlichen Umfelds die Zulassung von Frauen zum Pfarramt eher einführbar. Es ging „nur“ darum, von Menschen gemachte Satzungen zu ändern. Immerhin führte erst 1991 die Evangelisch-Lutherische Landeskirche SchaumburgLippe als letzte Gliedkirche der EKD die Frauenordination ein. In den anglikanischen Kirchen setzte sich die Weihe von Frauen seit Beginn der 70er Jahre langsam durch. Die orthodoxe Kirche lehnt die Weihe bis heute ab. Doch auch in jenen Kirchen, die Frauen zum Leitungsdienst zulassen, sind diese in Führungspositionen (Bischöfinnen) meist noch stark unterrepräsentiert. 62 Petrusdienst Das Dogma von der „Unfehlbarkeit“ des Papstes und von seinem „Jurisdiktionsprimat“ wurde (und wird) von Freunden und Gegnern der Kirche häufig als eine Art Ermächtigungsgesetz zu unbeschränkter Herrschaftsausübung empfunden. Das Zweite Vatikanische Konzil hat alle diesbezüglichen Aussagen des Ersten Vatikanums bestätigt. Allerdings hat es versucht, Primat und „Unfehlbarkeit“ des Papstes in die „CommunioEkklesiologie“ und in die Aussagen über die Kollegialität der Bischöfe zu integrieren. In Bezug auf den römischen Bischof ergibt sich daraus, dass er seine Verantwortung für die Gesamtkirche nur angemessen und ohne Verkehrung des kirchlichen

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Wesens wahrnehmen darf, wenn er die Mit-Sorge und Mit-Verantwortung des Kollegiums der anderen Bischöfe und ihrer jeweiligen Zuständigkeiten beachtet. Andererseits ist der einzelne Bischof gehalten, die Erst-Verantwortlichkeit und Erst-Sorge für seine Teilkirche nur im Blick für das Ganze zur Geltung zu bringen. Der Papst ist also weder bloßer Wortführer oder Sprecher des Bischofskollegiums, noch ist dieses ein Werkzeug des römischen Bischofs. Beiden zusammen kommt eine gemeinsame Verantwortung zu, die auf unterschiedliche Weise ausgeübt wird. Leider wird in den Texten des Konzils zwar ausdrücklich die Kollegialität der Bischöfe formuliert, aber nicht ebenso deutlich die Verpflichtung des Papstes zur Kollegialität mit den Bischöfen. Die Frage ist, ob es für den Papst rechtliche (und nicht nur moralische) Verpflichtungen gibt, die ihn an die Mitverantwortung des bischöflichen Kollegiums binden. Da sich in den Konzilstexten dazu keine Aussagen finden, bleibt es dem Amtsverständnis des jeweiligen Papstes überlassen, in einer Art freiwilliger Selbstbegrenzung bestimmte universalkirchlich wichtige Entscheidungen nicht ohne vorhergehende Zustimmung des Bischofskollegiums zu treffen. Aber das kann vom Kollegium der Bischöfe nicht unter Berufung auf bestimmte Passagen in den Konzilstexten eingefordert werden. Papst Johannes Paul II. hat 1995 zu einem Dialog über die praktische Ausübung des Petrusdienstes aufgerufen. Dieser Dialog kann nur sinnvoll geführt werden, wenn er zu einer neuen Strukturierung und Gestaltung führt. Auch der bayerische Landesbischof Johannes Friedrich empfiehlt seiner eigenen Glaubensgemeinschaft, „Denkblockaden“ im Hinblick auf den Petrusdienst zu überwinden. Zentralistische Kirchenstrukturen kommen für ihn (ebenso wie Päpstliche Unfehlbarkeit) jedoch nicht in Frage. Ob die römisch-katholische Kirche allerdings auf Dauer an dieser Position wird festhalten können, ist zu bezweifeln. Die Fragen, die Hans Küng in seinem Buch „Unfehlbar? Eine Anfrage“ vor über 40 Jahren stellte, sind bis heute nicht beantwortet. 63 Es wäre durchaus ein Petrusdienst denkbar ohne kirchliche Universalvollmacht und ohne Unfehlbarkeit. Ein Dienst als Symbol der Einheit der christlichen Kirche, als moralische Instanz, als Repräsentation des Christentums nach außen. Ein Papst, demokratisch vom Volk Gottes, von Protestanten und Katholiken, von Orthodoxen und Freikirchen gewählt. Ein Papst, der nicht über den Entscheidungen von Synoden und Konzilien steht, der nicht einsam (unfehlbare) Lehr-Entscheidungen fällt kraft beanspruchter eigener Machtvollkommenheit. Zurzeit kann man in der römisch-katholischen Kirche leider darüber nicht offen reden. Denn hier geht es letztlich gar nicht um eine Frage der Lehre, sondern um eine Frage der Macht. 64 Auf dem Weg zur gegenseitigen Anerkennung der ordinierten Ämter Um auf dem Weg zur gegenseitigen Anerkennung der Ämter Fortschritte zu machen, sind nicht nur verstärkte theologische Anstrengungen erforderlich. Vor allem ist guter Wille gefragt. Alle Kirchen müssen die Formen des ordinierten Amtes und das Maß, in dem sie seinen ursprünglichen Intentionen treu sind, überprüfen und zu einer Erneuerung ihres Verständnisses und ihrer Praxis des ordinierten Amtes bereit sein.

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b) Orden und ordensähnliche Gemeinschaften

Orden und ordensähnliche Gemeinschaften verstehen sich als eine Lebensform, die sich am Beispiel des engeren Jüngerkreises Jesu orientiert. Die Jüngerinnen und Jünger hatten sich bereit gefunden, dem Ruf Jesu Folge zu leisten und mit ihm zu gehen, ihm – zunächst im wörtlichen Sinne – „nachzufolgen“. Sie hatten alles verlassen, ihren Beruf, ihr Geschäft, ihre politische Aktivität (Zeloten) und manche wohl auch (später?) ihre Familie: „Wer es fassen kann, der fasse es“ (Mt 19,12). Sie lebten in enger Gemeinschaft mit Jesus und untereinander und hörten in „Gehorsam“ auf das Wort Jesu, der selber so sehr im Gehorsam gegenüber dem Wort des Vaters lebte, dass der Evangelist Johannes ihm die Worte in den Mund legen konnte: „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat“ (Joh 4,34). Die Anspruchslosigkeit und Armut des Mannes aus Nazaret übernahmen sie für ihre eigene Lebenspraxis: „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Mt 8,20). Diese Orientierung an der Lebensform Jesu hat im Laufe der Geschichte des Christentums zu unterschiedlichen Spielarten des Ordenslebens geführt. Als eigentlicher Vater des abendländischen Mönchtums gilt Benedikt von Nursia (ca. 480–560). Der Unrast der Menschen in der Zeit der Völkerwanderung setzte er die Forderung nach der lebenslangen Anbindung der Mönche an ein bestimmtes Kloster entgegen. Der römischen Zweiklassengesellschaft, die sich in Freie und Unfreie, in Herren und Knechte aufteilte, begegnete er mit der Verpflichtung aller Mönche, der Ordinierten und der Nichtordinierten, zu Gebet und zu körperlicher Arbeit („Ora et labora“). In ähnlicher Weise stellen auch die späteren Ordensgründungen eine Antwort auf Herausforderungen ihrer Zeit dar. So sind die „Bettelorden“ (Franziskaner und Dominikaner) zu verstehen als innerkirchliche Protestbewegung gegen den zunehmenden Reichtum und die Verweltlichung vor allem in der Führung der Kirche. Die „Compañia de Jesús“ des Ignatius von Loyola („Jesuiten“) stellt dem Papsttum eine „Truppe“ zur Verfügung, um den kolonialisierenden Weltmächten Spanien und Portugal ein missionarisches Gegengewicht zu bieten. Auch in den Kirchen der Reformation sind Orden und ordensähnliche Gemeinschaften seit der Mitte des letzten Jahrhunderts wieder heimisch geworden. Es gibt Bruder- und Schwesterngemeinschaften, von denen die 1949 in Taizé im Burgund durch Prior Roger Schutz begründete Kommunität die bekannteste ist. Johann Baptist Metz hat in seinen Reflexionen über das Ordensleben eine funktionale Bestimmung der Orden im Blick auf kirchliches und gesellschaftliches Leben versucht. Er glaubt, dass die Orden „so etwas wie eine innovatorische Funktion für die Kirche“ haben, dass sie „produktive Vorbilder für das Sich-Einüben, das Sich-Einleben der Großkirche in neue sozio-ökonomische und geistig-kulturelle Situationen“ darstellen. Auch sieht er in den Orden „Korrektive“, „eine Art Schocktherapie des Heiligen Geistes für die Großkirche: Gegen gefährliche Arrangements und fragwürdige Kompromisse, zu denen die Großinstitution Kirche immer wieder neigen mag, klagen sie die Kompromisslosigkeit des Evangeliums und der Nachfolge Jesu ein.“ 65 Auch das Zweite Vatikanische Konzil hat von allen Orden die „ständige Rückkehr zu den Quellen

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jedes christlichen Lebens und zum Geist des Ursprungs“ verlangt, zugleich aber auch „deren Anpassung an die veränderten Zeitverhältnisse“ gefordert. 66 Grundlegend ist für alle Orden und ordensähnlichen Gemeinschaften die Befolgung der „evangelischen Räte“: Armut, Ehelosigkeit, Gehorsam. In der Theorie und vor allem in der praktischen Konkretisierung haben alle drei Räte im Lauf der Geschichte der Kirche immer wieder einen tiefgreifenden Wandel erfahren. Armut So gilt die Verpflichtung zur Armut zwar nach wie vor für das einzelne Ordensmitglied, nicht aber für die Ordensgemeinschaft als ganze. Diese verfügt nicht selten über ein beachtliches Vermögen, das meist in Immobilien oder Grundbesitz angelegt ist. Dieses Vermögen sichert den einzelnen Mönch oder die einzelne Nonne ab. Gleichzeitig entsteht aber in der Gemeinschaft ein Eigentums- und Besitzstanddenken (samt aller politischen und sozialen Konsequenzen), wie es auch entsprechende weltliche Gesellschaften kennzeichnet. Dabei könnte eine wirklich konsequent gelebte Armut heute gerade in unseren Breiten eine unübersehbare symbolhafte Aktualität besitzen. „Armut als evangelische Tugend ist der Protest gegen die Diktatur des Habens, des Besitzens und der reinen Selbstbehauptung. Sie drängt in die praktische Solidarität mit jenen Armen, für die Armut gerade keine Tugend, sondern Lebenssituation und gesellschaftliche Zumutung ist“ 67. Gehorsam Ähnlich sieht es mit dem Gehorsam aus. Viele Menschen verbinden damit die Vorstellung von Bevormundung, Unmündigkeit, Unterwürfigkeit, Zwang. Darum sind derartige Forderungen geeignet, die ohnehin bestehenden Vorurteile gegenüber der kirchlichen Autorität weiter zu verstärken. Wer heute auf Gehorsam insistiert, macht sich verdächtig. Allzu rascher und williger Gehorsam drosselt das gesunde kritische Nachdenken und den natürlichen Unternehmensgeist. Einfache und ich-schwache Gemüter werden auf diese Weise in ihrem Lebensmut gelähmt und in Abhängigkeit gehalten. Sie verharren auch als Erwachsene in steter Fremdbestimmung durch einen starken Führer, der ihnen die eigenverantwortete Entscheidung abnimmt und ihnen vorschreibt, was sie zu tun und zu lassen haben. Ein Gehorsam, wie er von den Ordensgemeinschaften heute angestrebt wird, sieht vor allem auf das Wohl und die Erfordernisse der Gemeinschaft. Das Zweite Vatikanische Konzil verlangt für die Orden ausdrücklich einen „aktiven und verantwortlichen Gehorsam“ 68. Die Strukturen der Orden (und analog dazu die Strukturen der Kirche insgesamt) müssen genügend Raum lassen für Mitsprache und Mitverantwortung aller. Darum lösen immer häufiger partnerschaftliches Verhalten, Kollegialität, Team-Arbeit, gemeinschaftliches Fragen und Suchen, sowie Delegierung von Verantwortung den traditionellen patriarchalischen Führungsstil in den Orden ab. Bei aller Anerkennung der Autorität besteht (sollte bestehen) in einer Ordensgemeinschaft ein „herrschaftsfreier Raum“, in dem jeder und jede sich entfalten kann. Der Ordensmann und die Ordensfrau brauchen den „aufrechten Gang“ nicht aufzugehen. Das Denken wird

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ihnen nicht abgenommen. Ihr Gehorsam beruht auf eigener Einsicht in das, was vom Evangelium und von den Erfordernissen der Gemeinschaft her geboten ist. Angesichts des verstärkten Wiederauflebens fundamentalistisch orientierter Gruppen in Staat und Gesellschaft, in Kirche und Gemeinwesen könnten die Ordensgemeinschaften eine Zeichen-Funktion haben, indem sie deutlich machen, wie menschenwürdiges Leben in einer freien Gemeinschaft und unter den Erfordernissen der modernen Gesellschaft möglich ist – in Freiheit und Verantwortung, in Mündigkeit und Gehorsam. Recht verstandener und praktizierter Gehorsam setzt den Menschen in seine eigentliche Freiheit und Mündigkeit ein, weil er ihn dazu anleitet, auf die Stimme des eigenen Gewissens mehr zu hören als auf Worte und Weisungen von Menschen (vgl. Apg. 5,19). Er nimmt den einzelnen in die Selbstverantwortung vor Gott und den Menschen. Er entspricht damit der Würde der menschlichen Person und der von der Bibel gelehrten Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26 f.). Christlicher Gehorsam enthebt den zur „Freiheit der Kinder Gottes berufenen“ Menschen (Röm 8,21) von jedweder Sklaverei und Unterwürfigkeit. Ehelosigkeit Der dritte evangelische Rat, die Ehelosigkeit („um des Himmelreiches willen“), ist nicht minder problematisch wie die anderen zwei Räte. Roger Schutz, der Prior von Taizé, beschreibt Ehelose (Ordensleute) als Menschen, „die ihre Hoffnung so sehr auf Gott setzen, dass sie niemanden für sich selbst besitzen wollen, ihre Arme allen offenhalten, sie bei niemandem verschließen und niemanden für sich in Beschlag nehmen“ 69. Wer dem Ruf zur Ehelosigkeit folgt, wird zu seinem Nächsten gewiesen. Ehelosigkeit erlaubt ein radikales Engagement für die Sache Jesu, das durch keine Rücksichtnahme auf Ehepartner/in oder Kinder eingeschränkt ist. Wie Armut und Gehorsam, so fordert auch die Ehelosigkeit die Solidarität mit den Menschen innerhalb und außerhalb der Ordensgemeinschaft. Nicht-verheiratet-sein ist nicht Freipass für ein unbekümmertes, bequemes und sorgenfreies Leben. Einschränkend muss wohl auch gesagt werden, dass die Zeugniskraft ehelosen Lebens heute keineswegs mehr unbestritten ist. Was von gläubig-engagierten Verheirateten im Hinblick auf die Verwirklichung ehelicher Liebe und Partnerschaft, auf die Erziehung der Kinder (auch und gerade im und zum christlichen Glauben) und auf ihren Einsatz im sozialen Umfeld (Nachbarschaftshilfe, Mitarbeit in der Pfarrei) an Vorbildhaftem geleistet wird, stellt für viele skeptische und suchende Zeitgenossen ein durchaus gleichrangiges Zeugnis der Nachfolge Jesu und des Gottes-Dienstes dar. Obendrein ist leider auch zu beobachten, dass eine nicht voll bejahte und integrierte zölibatäre Lebensform gelegentlich zu einer emotionalen Verkümmerung und zur Flucht in fragwürdige Ersatzbefriedigungen führt. Heute sind die meisten „alten“ Orden in eine ernste Existenz- und Identitätskrise geraten. Vieles in der modernen Industriegesellschaft und Gesellschaftsordnung entspricht nicht mehr der Situation der Gründerzeit. Antworten, die vor 1000 oder 500 Jahren richtig und gültig waren, werden heute nicht mehr verstanden oder erscheinen als überholt. Die meisten Orden haben ihre Ziele neu definiert und den Erfordernissen der Zeit angepasst. Fast überall ist die Tendenz zur verstärkten Übernahme pastoraler,

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missionarischer, pädagogischer und sozial-caritativer Aufgaben erkennbar. Ordensleute bei Friedensdemonstrationen und bei Protestkundgebungen gegen diktatorische Regimes, Nonnen in den Slums lateinamerikanischer und ostasiatischer Großstädte und als Arbeiterinnen in Fabrikhallen, Mönche als Gewerkschaftsfunktionäre und Schulungskräfte für Industrielle und Manager sind keine Seltenheit mehr. Klöster öffnen leerstehende Gebäudetrakte für Asylanten und Obdachlose, aber auch für Menschen, die orientierungslos geworden sind und nach neuem Sinn für ihr Leben suchen. Gleichzeitig entstehen neue religiöse Gemeinschaften, die auf die Geborgenheit und den Rückhalt eines Ordenshauses verzichten, die sich keine eigene (schützende) Ordenstracht mehr zulegen und die sich rein äußerlich in nichts von den Menschen ihrer Umgebung unterscheiden. Ihr Ziel aber stimmt mit den „alten“ Orden überein: das stille und gerade darum nicht selten besonders eindringliche Zeugnis der Nachfolge Jesu und der unpathetische, unabgehobene Gottesdienst mitten in der Welt. So übernehmen die Orden vornehmlich jene Aufgabe, die sich die Kirche als Ganze gestellt hat: „Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern“ 70. c)

Die „Laien“

Das deutsche Lehnwort „Laie“ ist vom griechischen „laós“ (Volk) abgeleitet, „laïkós“ (= zum Volk gehörig) bezeichnet schon in den vorchristlichen Jahrhunderten die Nichteingeweihten, das niedere, nicht unterrichtete Volk, die Masse – zum Unterschied von den Höheren, Eingeweihten, Wissenden, über die Masse Hinausgehobenen. Im Zweiten Testament wird es verwendet zur Unterscheidung des Volkes Gottes von den nicht dazu Gehörenden: „Einst wart ihr nicht sein Volk, jetzt aber seid ihr Gottes Volk“ (1 Petr 2,9). Römisch-katholische Kirche Das heute in der römisch-katholischen Kirche gebräuchliche Verständnis des Begriffs kommt im 3. Jahrhundert auf und signalisiert eine Trennung des Gottesvolkes in zwei Klassen: Auf der einen Seite steht die Gesamtheit der „geweihten“, ordinierten (und darum allein männlichen) Christen, der „Klerus“, auf der anderen stehen die NichtOrdinierten, die „einfachen Gläubigen“, die „Laien“, getaufte Männer und Frauen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat sich zwar große Mühe gegeben, die Zweitrangigkeit der Nicht-Ordinierten zu beheben und positivere Perspektiven für die Laien zu eröffnen. 71 Eine wirkliche Eigenverantwortung, ein echtes Mitsprache- oder gar Mitbestimmungsrecht, eine wahre Gleichberechtigung aufgrund der gemeinsamen Taufe wird den „Laien“ aber auch weiterhin vorenthalten – alle vielen und schönen Worte können darüber nicht hinwegtäuschen. 72 Von verschiedenen Theologen wird daher heute die Forderung erhoben, die Kirche solle auf den Begriff „Laie“ ganz verzichten. Denn die Idee eines von den übrigen Gemeindemitgliedern unterschiedenen „geistlichen Standes“, der mit einer besonderen sakramentalen „Weihegnade“, mit einem qualifizierten Führungsanspruch und mit heilsmittlerischer Vollmacht ausgestattet ist, lässt sich unter Berufung auf das Neue

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Testament nicht begründen. „Das Neue Testament kennt weder geweihte Personen, noch eigene Kultorte, weder Opferhandlungen noch heilige Zeiten der Christen“, so der Neutestamentler Rudolf Pesch 73. „Laie“ ist jeder Menschen, der zum Volk Gottes gehört, gleichgültig ob er einen Leitungsdienst, ein „Amt“, in diesem Volk versieht oder ob er (im Augenblick) keine besonderen Dienste und Aufgaben ausübt. „Die Theologie des Volkes Gottes schließt eine Sicht der Kirche aus, in der das Amt oder einige Amtsträger für die Kirche sprechen, und die Nichtamtsträger hören und gehorchen“ 74. Hauptamtlich angestellte, aber nicht ordinierte „Laien“ im kirchlichen Dienst sind heute ohnehin keine Seltenheit mehr. Verwaltung, Finanzwesen, Öffentlichkeitsarbeit, Bildung, Erziehung, Jugend- und Sozialarbeit, Caritas, Beratung und Therapie – um nur einige Beispiele zu nennen – wären ohne die Arbeit von „Laien“ nicht denkbar. Mehr und mehr sind auch „Laien“ (so genannte „Laientheologinnen“ bzw. „Laientheologen“) in der kategorialen Seelsorge (Kinder-, Jugend- und Erwachsenenarbeit, Krankenhäuser, Strafvollzug, Alten- und Pflegeheime u. a.) und im pastoralen Dienst der Gemeinden beschäftigt – als Katechisten und Katecheten, als Religionslehrer und Hochschullehrer, als Gemeinde- bzw. Pastoralreferenten und -assistenten. Nicht wenige üben heute ein „Amt in der Kirche“ aus, das aber noch kein „Amt der Kirche“ geworden ist. 75 Theologisch kontrovers erörtert wird die Bestimmung ihres Status. Die einen verweisen auf das geltende Kirchenrecht: „Als Kirchenamt versteht man jedwedes kraft göttlicher oder kirchlicher Anordnung auf Dauer eingerichtete Dienstamt, das einem geistlichen Zweck dient“ (c. 145 CIC) und betrachten diese Berufe als kirchliche Ämter, die auf bestimmte Aufgaben hin gegebenfalls durch die Ordination zu bestätigen seien. Die anderen legen Wert darauf, dass der Unterschied zwischen den ordinierten Amtsträgern und den „Laien“ im pastoralen Dienst nicht verwischt wird, so dass „Laien“ nicht mit Aufgaben betraut werden, die den Ordinierten vorbehalten sind – insbesondere die Leitung einer Eucharistiefeier. Doch eine säuberliche Abgrenzung scheitert häufig angesichts der Gegebenheiten des pastoralen Alltags. Verantwortungsbewusste Kirchenleitung und praxisbezogene Theologie werden ihre Fruchtbarkeit darin erweisen müssen, dass sie aus der Orientierung an christlicher Tradition einerseits und an situativen Erfordernissen andererseits Wege aus der gegenwärtigen pastoralen Notlage finden und zu zeitgemäßen Formen kirchlichen Dienstes befreien und ermutigen. Einen konkreten Vorschlag dazu hat der Wiener Pastoraltheologe Ferdinand Klostermann schon 1972 gemacht: „Ob der presbyteriale Vorsteher der Großpfarreien und der vollgemeindlichen Substrukturen haupt- oder nebenberuflich tätig, unverheiratet oder verheiratet ist, sollte nur von den vorhandenen Kräften, bzw. von der Größe und den Bedürfnissen der Gemeinde abhängen. Auch die Art der theologischen und sonstigen Ausbildung wird davon bestimmt werden müssen. So wird man nicht für alle Gemeindevorsteher ein vollakademisches theologisches Studium verlangen können und nicht zu verlangen brauchen. Das Heil der Menschen, für die die Kirche da ist, muss oberstes Gesetz sein“ 76. Ein gutes Beispiel dafür bringt der 1998 von Rom abgesetzte, inzwischen wieder rehabilitierte, wenn auch nicht mehr in sein altes Bistum zurückgekehrte Bischof von Evreux, Jacques Gaillot: „Ich glaube, die Kirche ist nicht auf die Priester gegründet, sondern sie ist Sache aller getauften Christen. Man muss alles tun, damit die Laien

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Verantwortung haben für die Kirche und nicht bloß innerhalb der Kirche. Als Bischof versuche ich – das klingt vielleicht ein bisschen anspruchsvoll – die Kirche wieder auf den Boden, auf die Basis zu stellen. Das heißt, am wichtigsten sind die Gemeinden und die Gemeinschaften, die lebendig, offen, engagiert, fromm und pluralistisch sind. Wenn zum Beispiel ein Landpfarrer stirbt, schicke ich nicht einen anderen in die Dorfgemeinde. Ich besuche vielmehr die Christen auf dem Dorf und sage ihnen: Ich könnte an sich eure Pfarrei einem Priester aus der Nachbarschaft anvertrauen, der vielleicht schon fünf oder sechs kleine Dorfgemeinden betreut und bei dem zunehmenden Priestermangel vielleicht bald 50 Dörfer zu betreuen hätte. Ich nenne dieses System das kirchliche Dominospiel: Allmählich wächst eine immer längere Kette von Gemeinden, die ein Priester zu betreuen hat. Ich aber sage dann den Christen: Es ist nicht richtig, in dem System fortzufahren und nun eure Pfarrei auch noch einer anderen anzuschließen“ 77. Kirchen der Reformation Auch die Kirchen der Reformation haben ihre Probleme mit den „Laien“. Allerdings sind sie hier weniger grundsätzlicher, sondern eher praktischer Natur. So beklagt der Evangelische Erwachsenenkatechismus, dass es gewachsene kirchliche Strukturen gibt, die die Mitarbeit engagierter Laien geradezu verhindern: eine „Pastorenkirche“, in der der Amtsträger allein alles plant, beherrscht, organisiert und entscheidet, eine häufig auftretende Spannung im Verhältnis zwischen Pastor und Gemeinde, die Laien-Aktivitäten lähmt und blockiert, ein kirchlicher Traditionalismus, der das Erscheinungsbild der Kirche unverändert bewahren will, wie auch immer Gesellschaft und Menschen sich ändern mögen, eine Sicht von Kirche, die allein die Ortsgemeinde als „wahre“ Kirche betrachtet, während übergemeindliche Zusammenschlüsse und Dienste nur den Rang von „Hilfsorganisationen“ einnehmen. Die geistigen und organisatorischen Strukturen der Kirche müssten deshalb daraufhin untersucht werden, ob sie das Wirken des Geistes abwehren oder ob sie dem Geist zur Entfaltung helfen: Gebieten die bestehenden Verhältnisse den Dienst der Gemeinde als Gottesdienst, Mission und Diakonie, oder verhindern, beeinträchtigen oder verderben sie gar diesen Dienst? Erlauben die bestehenden Verhältnisse, dass sich möglichst viele Gemeindeglieder am Dienst der Gemeinde beteiligen, oder steht einer vermeintlichen „Elite“ von Aktiven notgedrungen eine Mehrzahl von Untätigen gegenüber? Erlauben die bestehenden Verhältnisse, dass sich Menschen unter dem Einfluss des Geistes ändern, oder ermöglichen die Verhältnisse, dass Menschen sich selbst oder andere fortwährend nur bestätigen? Erlauben die Verhältnisse, neue Wege des kirchlichen Dienstes zu beschreiten, oder erklären sie solche Wege von vornherein für unmöglich oder unnötig? Erlauben die Verhältnisse die Mitarbeit selbständiger Laien, oder sind bestenfalls Zubringerdienste Untergebener möglich?

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Vor allem aber: Erlauben die Verhältnisse die Hingabe der mit dem Geist Begabten an das Erfordernis der Stunde – oder weiß sich die Gemeinde lediglich Ideen, Plänen oder Programmen verpflichtet? 78

3. Sind Dogmen noch zeitgemäß? a) Glaubensbekenntnis

Christlicher Glaube ist ein bezogener Glaube. Er bezieht sich auf jene Ereignisse, die in den Schriften des Alten und Neuen Testaments ihren Niederschlag gefunden haben. Er bekennt sich zu jenem Leben und Hoffnung spendenden Handeln Gottes, das er in der Geschichte des Volkes Israel, vor allem aber in der Person und in der Sache des Mannes aus Nazaret erkennt. Bekenntnisformeln, die diesen Glauben schlagwortartig wiedergeben, sind erst einige Jahrzehnte nach dem Tod Jesu entstanden – in einem anderen Kulturraum und in einer anderen Umwelt. Denn mit dem Eintreten des Christentums in die griechischrömische Welt waren die jungen Gemeinden gezwungen, für sich selbst und für andere, für Fragende und Suchende, für Zweifelnde und Hoffende, kurz und prägnant Rechenschaft abzulegen über ihren Glauben. Sie mussten sich dazu der Denk- und Sprechweise ihres aktuellen Umfeldes bedienen. Sie mussten ihr Bekenntnis aus dem semitisch-jüdischen in den griechisch-römischen Denkhorizont übertragen. Dazu war eine schwierige Übersetzungsarbeit erforderlich. So entstand zunächst eine Vielzahl von Glaubensbekenntnissen, die vor allem im Hinblick auf bestimmte, konkrete Erfordernisse vor Ort formuliert waren. Die meisten dienten entweder der Glaubensunterweisung der Taufbewerber oder der Missionspredigt. Die Entwicklung und Verbreitung überregionaler Bekenntnisformeln wurde bestärkt und gefördert durch das seit dem vierten Jahrhundert im Osten und später im Westen auch von politischen Interessen geleitete Anliegen, die Einheit der Kirche (und damit die Einheit der staatstragenden Religion) zu dokumentieren. Vor allem zwei Bekenntnisformeln haben sich mehr und mehr in der gesamten Kirche durchgesetzt: Das Apostolische und das Nizäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis.  Das Apostolische Glaubensbekenntnis ist in seiner heutigen Textgestalt erstmals belegt im beginnenden 8. Jahrhundert. Es stellt die erweiterte Form eines vermutlich im dritten Jahrhundert in Rom entstandenen und dort bei Tauffeiern verwendeten Bekenntnisses dar (daher auch die Ich-Form: „Ich glaube …“). Die meisten Sätze dieses Bekenntnisses finden sich schon in der „Apostolischen Tradition“ des Hippolyt von Rom (um 215). Spätestens im 13. Jahrhundert war das Apostolische Glaubensbekenntnis im gesamten Westen eine unbestrittene liturgische und theologische Größe. 1971 wurde es ökumenisch neu ins Deutsche übersetzt; leider war dabei für die Wendung „ecclesia catholica“ eine einheitliche Fassung nicht zu erreichen („katholische Kirche“ in der römisch-katholischen Kirche – „allgemeine

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Kirche“ in den Kirchen der Reformation). Inzwischen wird in beiden Kirchen nicht selten der Begriff „christliche Kirche“ verwendet.  Das Nizäno-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis trägt eher die Handschrift der östlichen („orthodoxen“) Kirche. Schon Bischof Cyrill von Jerusalem († 386) kennt eine fortlaufende Erklärung des Jerusalemer Taufbekenntnisses, das dem auf dem Konzil von Konstantinopel (381) verabschiedeten „Symbolum Nicaeno-Constantinopolitanum“ sehr ähnlich ist. Die heute in der Liturgie verwendete Textform ist seit dem 8. Jahrhundert belegt. Im Folgenden sollen beide Texte zum Vergleich nebeneinander gestellt werden. Apostolisches Glaubensbekenntnis Ich glaube an Gott den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn,

empfangen durch den Heiligen Geist geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen

Nicaeno-konstantinopolitanisches Glaubensbekenntnis Wir glauben an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt. Und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen. Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria, und ist Mensch geworden. Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden,

ist am dritten Tage auferstanden nach der Schrift und aufgefahren in den Himmel. Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit,

Sind Dogmen noch zeitgemäß?

zu richten die Lebenden und die Toten. Ich glaube an den Heiligen Geist,

die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen

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zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein. Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht, der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird, der gesprochen hat durch die Propheten, und die eine, heilige, katholische (allgemeine) und apostolische Kirche. Wir bekennen die eine Taufe zur Vergebung der Sünden. Wir erwarten die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt. Amen.

Beide Bekenntnisformeln sind wesentlich beeinflusst und mitgeprägt vom religiösen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext der Umwelt, in der sie entstanden sind. Sie sind also relativ, d. h. bezogen auf die Situation ihrer Entstehung. Das hat zur Konsequenz, dass bei der Veränderung dieser Umwelt, beim Aufkommen neuer Denk- und Deutemuster Probleme auftreten müssen, weil der konkrete, für jedermann zugängliche Verständnisrahmen nicht mehr vorhanden ist. Was die Menschen einer bestimmten Zeit bewegte und sie zu dieser oder jener Formulierung ihres Glaubens veranlasste, kann schon ein Jahrhundert später nicht mehr aktuell sein. Was in dieser Situation alle ohne weiteres verstehen und richtig deuten können, erscheint wenig später unverständlich und kann Anlass geben zu Fehldeutungen und Missverständnissen. Um das zu verhindern, müssen die alten Begriffe und Formeln immer wieder neu auf ihre Inhalte befragt und interpretiert werden. Es gehört zu den fundamentalen Aufgaben einer verantwortungsvollen Theologie, die Erfahrungsfähigkeit tradierter theologischer Aussagen angesichts veränderter Rahmenbedingungen für die Gegenwart jeweils sicherzustellen und zu gewährleisten. Es obliegt ihr, Befangenheiten, Blindheiten, Argumentationstabus und Sprachbarrieren zu überwinden und die für einen reifen Glauben erforderlichen Verständniszugänge immer wieder neu zu erarbeiten. Nur so werden die Glaubenszeugnisse der Schrift und der Tradition (wieder) zu sprechen beginnen und neue Erfahrungen mit dem „alten Glauben“ in der Welt von heute ermöglichen. „Wenn man die Ergebnisse der Diskussionen und Konzile der Alten Kirche, die mit dem Begriff der Hellenisierung zwar nicht erschöpfend, aber richtig beschrieben sind, noch heute für verbindliche Glaubensaussagen hält, damit also das interpretatorische Verfahren, das zu ihnen führte, für legitim und ‚zwingend‘ erklärt, dann müssen vergleichbare Aporien auch heute vergleichbar gelöst werden können. Vergleichbar ist aber nicht die ungeschichtliche, formaljuridisch legitimierte Wiederholung alter For-

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meln, in denen die neuen Aporien eben noch nicht berücksichtigt und beantwortet sind. Die Alte Kirche geriet in der Tat vor allem mit ihrem Gottesbild, mit ihrer Christologie zeitweise in die Aporie; sie konnte diese Aporien überwinden, indem sie die Probleme des Glaubens unter auch rationaler Anstrengung ausdiskutierte und dabei in einer sehr aufgeschlossenen und freimütigen Art die zeitgenössischen Erfahrungen des Menschen gelten ließ“ 79. Schon 1976 hat Karl Rahner sehr eindringlich auf die Notwendigkeit neuer „Kurzformeln des Glaubens“ hingewiesen. Er vertrat die Ansicht, dass das alte Glaubensbekenntnis „heute nicht einfach die Funktion einer solchen Grundformel in genügender Weise ausüben kann, weil es eben doch zu wenig unmittelbar die heutige geistige Situation anruft. […] Eine wirksame Mission der Kirche gegenüber dem modernen Unglauben erfordert ebenfalls eine Bezeugung christlicher Botschaft, in der diese wirklich verständlich wird für den Menschen von heute. […] Eine solche Grundformel soll trotz ihrer Kürze nach Möglichkeit unmittelbar beim Hörer ohne viel Kommentar verständlich sein und ‚ankommen‘ können. Der Inhalt […] sollte vor allem in dem bestehen, was für den betreffenden Hörer einen ersten, aber Erfolg bietenden Ausgangspunkt bedeutet für das Verständnis des ganzen christlichen Glaubens“ 80. b) Glaubenssätze

Angesichts der erkennbaren Schwierigkeiten, den vor allem in narrativer Form tradierten Glauben in Formeln, Begriffe und Sätze zu fassen, stellt sich die Frage, ob der Glaube der Kirche wirklich angewiesen ist auf derartige „Glaubens-Sätze“ 81. Christlicher Glaube ist kein stummer und sprachloser Glaube. Er ist auch kein Glaube von Einzelnen „für sich“, sondern Glaube in oder in Bezug zu einer Glaubensgemeinschaft und missionarisch werbend für alle Menschen. Um sich mitteilen zu können, ist er auf Worte und Sätze angewiesen. Und dazu gehört nicht nur das Weitererzählen der Botschaft des Jesus von Nazaret, sondern auch das Bekenntnis zu ihm. Zusammenfassende Bekenntnisformeln des Christusglaubens sind schon in den zweittestamentlichen Schriften bezeugt: „Herr ist Jesus“ (1 Kor 12,3), „Wir haben nur einen Gott, den Vater. Und einer ist der Herr: Jesus Christus“ (1 Kor 8,6). Doch handelt es sich bei diesen Bekenntnissen nicht um Dogmen im heutigen Sinne. Sie waren keine Lehrsätze, keine definitiven, bindenden Festlegungen des Glaubens auf bestimmte Begriffe und Formeln. Der Glaube gründete sich nicht auf solchen Formeln, sondern sprach sich in ihnen aus. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass derartige Kurzformeln auch zur polemischen Abgrenzung benutzt wurden. Denn als mit der Zeit die jüdisch-christliche Glaubenstradition immer mehr gegenüber Irrlehren und Anfeindungen abzugrenzen war und die christlichen Gemeinden nicht mehr direkt auf die Urzeugen zurückgreifen konnten, boten sich diese Formeln für eine schlagkräftige und griffige Erwiderung geradezu an. Sie halfen mit zu verhindern, dass die junge Kirche den Zusammenhang mit ihrem Ursprung verlor und sich in die alles absorbierende Welt des synkretistischen Hellenismus hinein auflöste. Insofern bekamen nun die Glaubenssätze den Charakter einer De-finition, einer Ab-grenzung. Gleichzeitig wuchs der Grad ihrer Verbindlichkeit. Im

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konkreten Einzelfall, in einer bestimmten (Not-)Situation mögen sie auch die Bedeutung einer für die Glaubensgemeinschaft definitiven und obligatorischen Formel, eines „Dogmas“ im heutigen Sinn, bekommen haben. Man wird nicht von vornherein ausschließen können, dass auch die Kirche heute zur Abgrenzung gegenüber dem Unchristlichen, dem Unglauben und Aberglauben solche defensiv definierende Formeln nötig haben kann. In einem totalitären Regime wie dem nationalsozialistischen, wo sich unter Umständen eine Gruppe in der Kirche mit der politischen Macht identifiziert, bleibt unter Umständen gar nichts anderes mehr übrig als eben gerade nur das sich abgrenzende Bekenntnis (z. B. die Barmer Erklärung von 1934). Hier ist dann der „Status confessionis“ gegeben, der kein endloses Diskutieren und Differenzieren erlaubt, sondern ein endgültiges Ja oder Nein erfordert. Aus all dem ergibt sich, dass es bei diesen defensiv-definierenden Sätzen, selbst wenn sie einen für diese Situation definitiven und obligatorischen und insofern dogmatischen Charakter haben, um eine letztlich nicht für die Ewigkeit bestimmte grundsätzliche, sondern um eine situationsbedingte pragmatische Sprachregelung geht, die in einer anderen Situation anders ausfallen kann (und muss). Doch der Glaube ist nicht angewiesen auf eine bewusst intendierte Dogmen-Entwicklung. Zur Verkündigung des Evangeliums in stets wechselnden Situationen und bei jeweils sich wandelnden Gegebenheiten ist die Kirche immer wieder neu aufgerufen, zur dogmatischen Definition jedoch nur in außerordentlichen Notfällen. Im Neuen Testament gibt es keine Grundlage für eine bewusst zu intendierende Produktion von Dogmen. Sowohl die alte Kirche des Westens und Ostens, sowohl die orthodoxen Kirchen der alten und der neuen Zeit wie auch die mittelalterliche westliche Kirche, sowohl die reformatorischen Kirchen wie die gegen-reformatorische Kirche haben nicht definiert, was sie definieren konnten, sondern was sie definieren mussten. Sie definierten, wenn sie sich von außen dazu genötigt fühlten. Der Glaube wächst und entfaltet sich nicht dadurch, dass man bestimmte „Glaubenswahrheiten“ als Dogma verkündet. Er wächst und entfaltet sich vielmehr durch zeitgemäße Verkündigung des Evangeliums, durch selbstlose Liebestätigkeit, durch das glaubwürdige Zeugnis der Glaubenszeugen, durch Erfahrungen in Gebet und Meditation. Zu diesen eher die kirchliche Verkündigung betreffenden Einschränkungen kommen sprachphilosophische Erkenntnisse erschwerend hinzu, weil nämlich allen Sätzen eine grundsätzliche Problematik anhaftet. Hans Küng 82 nennt fünf Aspekte:  „Sätze bleiben hinter der Wirklichkeit zurück.“ Auch Glaubenssätze, auch Dogmen. Es bleibt immer eine Differenz zwischen dem, was ausgesagt werden soll, und dem, was tatsächlich ausgesagt wird und werden kann. Auch eine noch so korrekte und gewandte sprachliche Ausdrucksform reicht nicht aus, um das, was zu sagen ist, voll auszuschöpfen.  „Sätze sind missdeutbar.“ Die Sprachwissenschaft spricht hier von „Denotat“ und „Konnotat“. Beim Denotat ist die Sachlage eindeutig, und beide Sprachteilnehmer verstehen darunter dasselbe. Beim Konnotat versteht der Hörer, häufig unterschwellig und emotional, etwas „mit“, was der Sprecher nicht meint, was aber im Hörenden bestimmte Gefühle, Sympathien oder Antipathien, aufkommen und ihn

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so dem Wort gegenüber voreingenommen werden lässt. Gleiche Wörter täuschen häufig Bedeutungsgleichheit vor. In Wirklichkeit weichen die Begriffe aber vielleicht wesentlich voneinander ab oder stehen einander diametral gegenüber.  „Sätze sind nur bedingt übersetzbar.“ Für gewisse Worte gibt es überhaupt keine Übersetzung; sie müssen unübersetzt in andere Sprachen übernommen werden. So kann der hebräische Gottesname „Jahwe“, der eigentlich ein verkürzter Satz ist („Ich bin da und werde für euch da sein als derjenige, der ich in dieser Situation da bin und da sein werde“), nicht einfach mit „Herr“ („kyrios“) wiedergegeben werden, wie das die griechische Übersetzung des Alten Testaments getan hat (und in ihrem Gefolge die deutsche Einheitsübersetzung).  „Sätze sind in Bewegung.“ Sprache geschieht als Gespräch. Sie ist kein statisches Gebilde, sondern dynamisches Ereignis, eingebettet in den Fluss der gesamten Geschichte von Mensch und Welt. Eine Sprache, die sich nicht verändert, stirbt ab zur toten Sprache. In einer lebendigen Sprache jedoch nehmen Worte und Sätze neue Impulse auf und geben auch neue Impulse ab. Worte und Sätze können in einer neuen Situation ihren Sinn völlig verändern (so etwa der „Person“-Begriff während der Zeit der Entstehung der christologischen Dogmen und das, was heute unter „Person“ verstanden wird).  „Sätze sind ideologieanfällig.“ Worte und Sätze können benützt, abgenützt und ausgenützt werden – zur Reklame, zur Propaganda und zu „frommen Zwecken“. Worte und Sätze sind dann einer Herrschaft unterworfen, die sie kaum noch abschütteln können. Sie werden von einer bestimmten Idee oder Ideologie in Beschlag genommen, so dass sie unter Umständen das Gegenteil von dem sagen müssen, was sie ursprünglich meinten (vgl. „Demokratie“ im Jargon der ehemaligen DDR und der „westlichen“ Staaten). Dogmen, die in Sätze gekleidet sein müssen, sind also keineswegs so klar, wie sie klar zu sein scheinen oder – nach der Vorstellung ihrer „Verkünder“ – klar sein sollen. Sie sind vielmehr grundsätzlich mehrdeutig und können folglich von verschiedenen Menschen verschieden verstanden werden. Auch bei bestem Willen beider Seiten, des Sprechenden und des Angesprochenen, sind Missverständnisse und Missbräuche nicht von vornherein auszuschließen. Angesichts dieser schwerwiegenden hermeneutischen Probleme erscheint es sinnvoll, sich auf die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes „Dogma“ zu besinnen. Das ist abgeleitet von „dokeín“, scheinen. „Dogma“ bezeichnet also dem Wortsinn nach das, was als richtig erscheint. „Dogma“ bezeichnet demnach die Meinung, den Beschluss oder die Verordnung eines Herrschers oder die Lehrmeinung einer philosophischen Schule. In dieser letzten Bedeutung fand es Eingang in die Theologie. „Dogma“ ist die Meinungsäußerung einer Autorität hinsichtlich einer Frage, die an sie zur Beantwortung herangetragen wird. Je höher die Autorität, die die Antwort gibt, gestellt ist, desto höher ist auch der Verbindlichkeitsgrad der Antwort. Sie soll darum gut überlegt, präzise formuliert und allgemein verständlich zugleich sein. Weil das Dogma eine Antwort darstellt, kann es im Allgemeinen nur dann richtig verstanden werden, wenn die Fragestellung und ihre Hintergründe bekannt sind. Denn es knüpft ja an die Situation an, aus der heraus die Frage gestellt wurde. Es muss die

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Sprache sprechen, die der Antwortsuchende versteht. Es muss die Begriffe verwenden, die den Fragestellern geläufig sind. Im Grunde ist das Dogma zu verstehen als Diensterweis für Menschen, die eine Antwort suchen, für Fragende, die sich verunsichert fühlen, für Gläubige, deren Glaube ins Wanken gerät. Es ist Ausdruck der Zuversicht, dass der Geist Gottes die Kirche nicht im Stich lassen, sondern sie trotz vieler Irrtümer und Fehler, trotz mancher Abwege und Umwege letztlich doch zum Ziel gelangen lassen wird. Das Dogma ist (bzw. sollte sein) also kein Herrschaftsinstrument zur Unterdrückung freier Meinung und unbefangener Forschung, zum Abwürgen des theologischen Fortschritts, sondern eine hilfreiche Antwort, die durchaus vorläufig ist und weiterführen kann. Dogma kann heutzutage „gar nicht mehr anders erscheinen denn als eine relative und geschichtliche Größe. Das Dogma ist relativ, insofern es dienend, hinweisend auf das ursprüngliche Wort Gottes bezogen ist, und es ist relativ, insofern es auf die Fragestellungen einer bestimmten Zeit bezogen ist und dem rechten Verständnis des Evangeliums in ganz konkreten Situationen dient.“ 83

4. Spiritualität und Gebet a) Elemente christlicher Spiritualität

Das Wort „Spiritualität“ ist abgeleitet vom lateinischen Adjektiv „spiritualis“, das wiederum eine Übersetzung des griechischen Wortes „pneumatikós“ darstellt. Es besagt soviel wie „vom (Heiligen) Geist bestimmt“, „dem (Heiligen) Geist gemäß“, „geistlich“. In der Briefliteratur des Neuen Testaments wird „pneumatikós“ öfters verwendet (Röm 7,14; 1 Kor 15,44 u. a.). Als „klassische“ Stelle gilt 1 Petr 2,5: „… (lasst euch auferbauen) als ein geistliches Haus zu einer heiligen Priesterschaft, um geistliche Opfer dazubringen.“ „pneumatikós“ meint hier das unterscheidend Andere und Neue, mit dem sich die ersten Christengenerationen in der Nachfolge Jesu und im Heiligen Geist beschenkt sahen. Christliches Leben erscheint letztlich als Leben in und aus dem Geist (Gottes bzw. Jesu). 84 Es ist schwierig, genau zu umschreiben, was „Spiritualität“ eigentlich meint – „sich der Tiefe öffnen“ (Günter Stachel), „Leben aus dem Geist“ (Karl Rahner), „Integration des gesamten Lebens in eine vom Glauben getragene und reflektierte Lebensform“ (Institut der Orden), „geistliches Leben, das sich vom Wort Gottes und vom Geist Gottes bestimmen lässt“ (G. Voss), „persönliche Übernahme geschenkter Geistesgaben“ und „Verwirklichung des Glaubens unter den konkreten Lebensbedingungen“ (Paul M. Zulehner), „Glaubenspraxis, die ihren Maßstab aus der Geschichte bezieht, die durch Jesus von nazaret eröffnet worden ist“ (Anton Rotzetter). 85 Manchmal wird „Spiritualität“ auch im Plural verwendet. Es meint dann verschiedene, geschichtlich und kulturell bedingte Ausformungen des religiösen Lebens einer größeren oder kleineren Glaubensgemeinschaft. Grundlegende Bedeutung für die Unterschiede innerhalb der christlichen Spiritualitäten kommt auch der verschiedenen

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Art und Weise zu, in denen der Glaube sein Verhältnis zu Gott einerseits und zur Welt andererseits miteinander verbindet. Drei Elemente können als spezifische Formen christlicher Spiritualität gelten: Nachfolge Jesu, Einbezug der gesamten Schöpfung, Einbettung in der Kirche. 86 Nachfolge Jesu „Wir dürfen Spiritualität nicht so missverstehen, als bestünde geistliches leben darin, im Wald zu sitzen und an den Herrn Jesus zu denken. Das wäre eine Verleugnung der Inkarnation, der Weise, wie Jesus selbst gelebt hat. Jesus zog sich zurück zum Gebet, um dann wieder unermüdlich und aktiv da zu sein für die Menschen und ihre Bedürfnisse. Das Leben Jesu ist Tat und Engagement, es begibt sich in die weltlichen Sachzwänge hinein. Jesus war kein rein kontemplativer Mensch“ 87. Gelebter christlicher Glaube versteht sich als Nachfolge Christi. Nicht nur das Wort Jesu, sondern die ganze Gestalt, sein Leben, sein Geschick und seine Geschichte sind für den gläubigen Christen eine Offenbarung der Liebe und Zuwendung Gottes. Christliche Spiritualität muss sich daher betend und meditierend in das Leben Jesu, wie es in der Schrift aufgezeichnet ist, hineinversetzen und es zum Maßstab des eigenen Lebens zu machen suchen. Dabei können die Spielarten der Nachfolge Jesu im konkreten Alltag so verschieden sein, wie die Menschen verschieden sind. Eine für alle gültige und zu allen Zeiten anwendbare Spiritualität der Nachfolge Christi gibt es nicht. Was zählt, ist allein die Ernsthaftigkeit des Bemühens. Eine „Spiritualität der Nachfolge Jesu“ kann dazu führen, die Gestalt Jesu und den Glauben an ihn in neuer und anderer Weise zu sehen und wiederzufinden. „Erst spät begegnete ich ihm. Jesus war lange verstellt von Christus, eingeborenem Sohn, empfangen vom Heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau, gestorben, um die Erbschuld zu tilgen, nach seiner Auferstehung zur Rechten Gottes sitzend, richtend die Lebendigen und die Toten, Bräutigam der Kirche, die er sich zu seinem „mystischen Leib“ gemacht haben sollte. […] Jesus war verstellt von Christus, mythologischer Figur. Heute ist Jesus für mich der Mann aus Nazareth, Bruder der Menschen, der einzige, den sie je gehabt haben, mein Bruder. Der die Unwissenden lehrte, die Kranken heilte, der die Scharen befreite zur Freiheit vom Gesetz, vom tödlichen Buchstaben. Der mit allen zu Tische saß, die von den Mächtigen verachtet werden. Der sich essen ließ und starb wie ein Lamm, als die Stunde kam. Ich bin in Bann geschlagen von der Erkenntnis, dass seine Lehre, so wie er sie in der Bergpredigt verkündete, die Bedingungen für unsere Zukunft enthält, für ein zukünftiges Zusammenleben der Menschen. Wir werden entweder leben müssen, wie er es vorschlug, oder wir werden nicht mehr leben. Wir werden seine Friedensordnung uns zu eigen machen müssen, oder wir werden zugrunde gehen. Dass er uns als Zeichen dieser Friedensordnung hinterließ, gemeinsam das Mahl zu halten, erfüllt mich immer wieder mit Freude. Dass Jesus von Nazareth Gottes Sohn ist, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater usw., kann ich wohl nicht mehr glauben im Sinn eines festen Fürwahrhaltens. Aber ich hoffe es inständig, mit aller Kraft, hoffe auf seine Wie-

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derkunft, mit der er die Welt, uns alle und mich selber, in ein neues Leben holen wird.“ (Vilma Sturm 88) Einbezug der gesamten Schöpfung Die gesamte erfahrbare Schöpfung ist Symbol hingebend-schenkender göttlicher Liebe. Ein vom Geist Gottes geformter Lebensstil darf nicht am Kosmos vorbeigehen. Besonders der französische Naturphilosoph, Paläontologe und Theologe Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) hat sich in seinen Schriften immer wieder dafür ausgesprochen, durch die Welt hindurch mit Gott in Gemeinschaft zu treten. Er strebte eine „Frömmigkeit der Erde“ an. Er wollte „das Universum wieder zu einem Tempel machen“ 89. Er war zutiefst überzeugt, dass „Gott von uns keineswegs wider das Geschaffene geliebt werden will, dass er vielmehr durch das Geschaffene hindurch und im Ausgang von ihm verherrlicht werden will“ 90. Darum suchte er das Göttliche „nicht abseits von der physischen Welt, sondern durch die Materie hindurch und irgendwie in Vereinigung mit ihr“ 91. Christliche (insbesondere katholische) Religiosität hat seit jeher die mit den Sinnen erfahrbare Natur einbezogen. Blumen und Kerzen, Musik und Farben, Wasser und Feuer, Brot und Wein, Öl und duftender Weihrauch gehören zur Ausdrucksform des Glaubens. Alle Sakramente werden am Leib gespendet. Durch den Leib „äußert“ sich die innere Haltung der Frömmigkeit: Knien und Stehen, Tanzen und Musizieren, Indie-Hände-Klatschen und Rufen, Sprechen und Singen, Pilgern und Sich-niederwerfen – das alles gehört dazu. Genauere Kenntnisse um die vielfache Gefährdung unserer Umwelt haben inzwischen dazu geführt, das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Bewahrung der Schöpfung zu schärfen und ein vielfältiges Engagement zum Schutz der bedrohten Natur zu wecken, so dass man geradezu von einer neu erwachten Spiritualität der Erde sprechen könnte. Sicher birgt eine solche Spiritualität die Gefahr der sinnentleerten bloßen Gestik und Verweltlichung. Wo die Zeichen und Symbole nicht mehr als Verweise auf den Schöpfer verstanden, sondern mehr oder weniger bewusst als in sich selbst genügende Werte genommen werden, kann es geradezu zum Götzendienst kommen. Einbettung in der Kirche Christlicher Glaube ist immer persönlicher und gemeinschaftlicher Glaube. Mittelund Höhepunkt christlicher Spiritualität ist (sollte sein) der gemeinsame Gottesdienst, und hier insbesondere die Eucharistiefeier als Dankfest der glaubenden Gemeinschaft und – durch sie repräsentiert – der ganzen Schöpfung, die in vielfältiger Weise miteinbezogen wird (Brot, Wein, Blumen, Kerzen). Die Realität sieht allerdings meist anders aus. „Wir sind doch, wenn wir ehrlich sind, in einem schrecklichen Maße eine spirituell unlebendige Kirche“, klagt der Theologe Karl Rahner. „Ritualismus, Legalismus, Administration und ein sich allmählich selber langweilig werdendes und resignierendes Weiterfahren auf den üblichen Geleisen einer spirituellen Mittelmäßigkeit“ sind häufig in den Kirchen anzutreffen. 92 Die Kirchen haben längst ihr traditionelles Vermittlungsmonopol in Sachen Spiritualität

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verloren. Sie besitzen allenfalls noch eine Sonntags-, aber keine Alltagskompetenz mehr. Doch es ist auch zu beobachten, dass sich hier und da eine neue, andere Spiritualität in der Kirche ankündigt, die – hoffentlich! – mehr und mehr an Boden gewinnt. Eine Spiritualität, die herzhaft und kreativ ist, die aus dem stillen Hören und dem ruhigen Schweigen erwächst, die unbefangen auch ungewohnte Ausdrucksformen zulässt, die ganzheitlich Leib und Seele, Geist und Gemüt des Menschen anspricht, die sich nicht abkapselt und versteckt, sondern weltoffen und weltzugewandt bleibt. Paul Oestreicher, gelernter Journalist und Publizist, Mitglied der Anglikanischen Kirche und Pfarrer an der Kathedrale von Coventry, erwartet von einem Gottesdienst, dass er wie ein Spiel ist, bei dem alle zum Mitspielen eingeladen sind: „Darf die zentrale Feier des christlichen Glaubens, das freudige Festmahl der Eucharistie, in dem Leben, Tod und Auferstehung Christi dargestellt werden, in dem Gott zu uns kommt in der Form von Brot und Wein, darf das je weniger sein als ein bewegendes Drama, das Schauspiel aller Schauspiele? Wie bringt man ein solches Wunder auf die kirchliche Bühne? ‚In tiefem Schweigen‘ wäre eine mögliche dramatische Antwort. Ich frage mich: Können Worte überhaupt in den Dienst des Unaussprechlichen gestellt werden? Vielleicht tanzt sich diese gute Nachricht besser, als das Spiel mit Worten es vermag. Aber dann – um nur ein Beispiel zu nennen – hoffentlich nicht ohne Weihrauch. Denn: Sind nicht all unsere Sinne wichtig? Die Gerüche meiner Kindheit leben in mir weiter. Liturgie – die göttliche Inszenierung – muss also zum Gesamterlebnis werden. Alle Künste mit dabei. Ich frage mich, kann Liturgie leben, wenn Tag für Tag, Woche für Woche immer wieder das gleiche Stück gespielt wird? Ist das nicht programmierte Langeweile? Nicht unbedingt. Der gelernte Schauspieler, der in seiner Rolle aufgeht, ist in der Lage, die dreißigste Vorführung Hamlets so zu spielen, als ob er die Worte zum allerersten Mal spricht. Jedes Mal neu. Jede Vorführung einmalig, völlig frisch. So müsste jeder Gottesdienst verlaufen: in der Tradition verankert und zugleich jedes Mal ein neues Aha-Erlebnis mit viel Raum für das Spontane (…) Gebet ist Aktualität. Gottesdienst darf um Himmels willen nicht langweilig sein. Musik, Tanz, Worte, Gedanken, lange Zeiten der Stille, Dunkelheit und Licht; und alle sind eingeladen mitzuspielen. Die Rollenverteilung ist wichtig. Zuschauer, die sich noch nicht trauen mitzuspielen, sind aber auch willkommen. Liturgie ist Leben und immer ein Liebesspiel. Dreht sich das Spiel um Brot und Wein, dann ergibt sich sofort die Frage, wer, welche Familie backt liebevoll das Brot und bringt es feierlich zum Altar? Schrecklich der Gedanke, man kaufe leblose Hostien aus irgendeiner Hostienproduktion. Brot spricht von Leben und Liebe. Und wer spendet den Wein? Und wer liest – nach sorgfältiger Probe? Sind Kinderstimmen nicht Jesus am nächsten?“ 93 Christliche Spiritualität darf allerdings nicht bei der eigenen Erbauung stehen bleiben. „Wir brauchen den Blick nach innen, aber wir brauchen auch einen Kontext, Lebensumstände, in denen wir aktiv wirken. Wirkliche Veränderung von Menschen ereignet sich nicht auf Einkehrtagen (ich habe genügend gehalten, um das zu wissen), sondern in der Anwendung geistlicher Erfahrungen bei der Konfrontation mit den Alltagsreali-

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täten. Nicht Predigten bekehren Menschen, sondern Umstände“ 94. Zeitgemäße Spiritualiät muss daher auch das Eintreten für Recht und Gerechtigkeit, für Frieden und Wohlstand aller Menschen zum Inhalt haben. Sie muss dazu beitragen, dass ungerechte, unmenschliche und unsoziale Strukturen abgebaut werden, dass das Recht insbesondere derer, die nicht für sich selbst sprechen können, der Ängstlichen, der an den Rand Gedrängten, der Fremden und Asylsuchenden geachtet und gegebenenfalls eingeklagt wird, dass die Probleme zunehmender Ausländerfeindlichkeit und eines anwachsenden Antijudaismus zur Sprache gebracht und nach Kräften bewältigt werden.Tätige Liebe darf als „das Kernstück christlicher Spiritualität“ (B. Häring) gelten. b) Gebet

Einwände gegen das Gebet Eine besondere Form der Spiritualität stellt das Gebet dar. Besonders in jüngster Zeit werden freilich manche Einwände dagegen erhoben.  Die einen sagen, es sei eine Art von Selbstbetrug. Man versuche damit, eigene Probleme und Situationen, mit denen man nicht fertig wird und denen man sich ohnmächtig ausgesetzt sieht, dadurch zu bewältigen, dass man sie gleichsam aus sich herauslässt und sie einer übernatürlichen Macht übergibt, von der man sich Hilfe erwartet. Gebet wäre dann eine Art von Selbstgespräch, ein vorgetäuschtes „Reden“ zwischen dem Ich und einem Gegenüber, das es gar nicht gibt.  Andere vertreten die Meinung, Gebet sei eine (letztlich untaugliche) Krücke für Unselbstständigkeit, mangelndes Selbstvertrauen und Ich-Schwäche. Weil der Mensch nicht in der Lage sei, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen und selbst Verantwortung zu übernehmen, oder weil er ganz einfach Angst davor habe, wende er sich an ein „höheres Wesen“ und entlaste sich damit.  Und schließlich gibt es den wohl ernstesten und gravierendsten Einwand, der alle Argumente zugunsten des Gebets von vornherein aus der Hand zu schlagen scheint: „Kann man nach Auschwitz überhaupt noch beten?“ Kann man sich hilfesuchend an einen Gott wenden, der dieses furchtbare Sterben nicht verhindern konnte oder gar nicht verhindern wollte? Kann man einen Gott loben, der das zuließ? Der nachdenkliche und um seinen Glauben ringende Christ darf solche Einwände nicht einfach wegwischen oder verdrängen. Er muss sich ihnen stellen. Er muss die Anfechtung, die sie für ihn bedeuten, aushalten. „Beten ist Ausdruck und Ernstfall des Glaubens“ (Walter Kasper). In seinem Alltag ist der Mensch gewohnt, über sich oder andere zu verfügen. Vor allem in Extremsituationen, in lebensbedrohenden Krisen oder in Stunden höchsten Glücks, erfährt er sich jedoch als einer, über den verfügt wird. Im täglichen Leben übt er vielfach Macht über andere aus; jetzt muss er erkennen, dass es Mächte und Gewalten gibt, denen er ausgeliefert ist. Nun gewinnt er die Einsicht, dass alles endliche Glück dieser Erde übertroffen werden kann von einem unendlichen „ozeanischen“ Glücksgefühl, das ihn heraushebt aus aller Erdenschwere. In solchen Augenblicken wird spürbar, dass der Mensch unendlich den Menschen überschreitet (Blaise Pascal). In diesen Situationen fühlt er sich hineingenommen und hineingestellt in ein anderes Beziehungs-

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geflecht, das die Grenzen dieser Welt überspringt. Wer sich auf diese transzendente Beziehung, die sein eigentliches Sein ausmacht, bewusst einlässt und sie mitdenkend und mitsprechend nachvollzieht, der betet schon. Wer betet, gibt Antwort auf das innerste Geheimnis seines Lebens. Er lauscht auf den verborgenen An-Spruch in seinem Inneren. „Ich bin bedürftig der Luft. Wenn ich atme, lasse ich mich beschenken. Ich darf mich nicht zusperren, darf nicht in meiner Enge bleiben. Ich dehne mich aus, mache mich weit. Es dringt etwas in mich ein. Und lässt mich leben“95. Gebet als Er-Innern seiner selbst So gesehen ist Beten zunächst ein Er-Innern seiner selbst, ein Wahrnehmen der Stimme des eigenen Ich. „Gerade wir Menschen in diesen hochkomplizierten Gesellschaften stehen in der Gefahr, unser Gesicht zu verlieren, unsere Träume und unsere Phantasie, angepasst zu werden und sozusagen immer mehr und unbemerkt zurückgezüchtet zu werden […] auf anpassungsschlaue Tiere, auf sanft funktionierende Maschinen“ 96. Das Gebet und insbesondere das Bittgebet erhält die „Funktion“ eines therapeutischen Sprechens und Meditierens. Das hat übrigens schon Augustinus († 430) ähnlich gesehen: „Uns sind Worte notwendig, damit wir durch sie uns selbst ermahnen und auf den Gegenstand des Gebetes achten, nicht aber als ob wir glauben, wir müssten den Herrn durch sie belehren oder erweichen.“97 Das Gebet und insbesondere das Bittgebet erhält die „Funktion“ eines therapeutischen Sprechens und Meditierens, ja eines heilenden „Selbstgesprächs“ – unter dem Horizont Gottes. So gesehen übt das Bittgebet eine „selbsttransformative Wirkung auf den Betenden“ (Simon Peng-Keller) aus. Beten kann sich freilich nicht beschränken auf das Erinnern seiner selbst. Beten ist auch Erinnern der Welt. Die Thematik des Betens ist so breit wie die Thematik menschlicher Existenz. Das Gebet „wird geboren aus der aufmerksamen Betrachtung von Dingen, Menschen und Ereignissen, durch die man hindurchzuschauen gelernt hat, betroffen, staunend, dankbar. Oder auch klagend und bittend. Beten heißt somit durch die Oberfläche des Lebens hindurchdringen, wo sie durchsichtig geworden ist auf Gott hin“ 98. Das gilt analog auch für das Fürbittgebet einer ganzen Gemeinde: Sie versteht sich als Glied eines weit verzweigten Beziehungsgefüges und bezeugt ihre Solidarität mit jenen, für die sie bittend und betend eintritt. Gleichzeitig erinnert sie sich auch an das, was ihr selbst zu tun aufgegeben ist. Gebet als Ort des Widerstands, der Unterbrechung Nach Johann Baptist Metz ist das Gebet ist „ein Ort des Widerstands, der ‚Unterbrechung‘“, 99  „weil es ein Wagnis bedeutet, aus den scheinbar unhinterfragbaren Plausibihtäten der uns umgebenden Welt herauszutreten. Beten ist gekoppelt mit einer gewissen

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Verrücktheit – mit der Verrücktheit, sich zu weigern, sich einfachhin dem Zwang der so genannten ‚schlüssigen Argumentationen‘ zu unterwerfen, dem Diktat des ‚gesunden Menschenverstandes‘, der unhinterfragbaren Autorität der ‚Sachgesetze‘. Gerade diese Weigerung bedeutet, dass der Blick betender Menschen frei wird. Weil sie sich ihren Blick nicht mehr durch Scheinzusammenhänge vernebeln lassen, werden sie frei, zu sehen ‚was ist‘ – und damit frei, die unwiederbringliche Zumutung und Chance der konkreten Stunde wahrzunehmen […]; weil es den Ausbruch aus dem tödlichen Kreislauf wechselseitiger Selbstbehauptung mit sich bringt. […] Beten redet nicht über den anderen, es drückt ihn nicht zum Gegenstand, zum Objekt herab. Sondern Beten, das ist zuinnerst eine Bewegung von – zu, von mir weg – auf den anderen hin. Gegen alles Sich-selbst-genügen und Seiner-selbst-sicher-sein ist es das unkalkulierbare Wagnis des Beters, seine bodenlose Du-Bedürftigkeit zuzulassen, […] sich vom Wahn der eigenen Unverwundbarkeit zu verabschieden, sich verletzlich zu machen […]; weil die Beter und Beterinnen gar nicht anders können, als gegen eine Welt aufzubegehren, in der die Wenigen auf Kosten der Vielen leben – in der die Privilegierten zynisch mit dem Zugrundegehen der ‚Überflüssigen‘ rechnen, mit dem Elend und dem Tod derer, die für keinen Markt interessant sind. ‚Mystik und Politik‘, ‚Kampf und Kontemplation‘ sind die Pole, zwischen die betende Menschen unausweichlich gespannt sind“ 100.

Gebet als Echo-Lot menschlichen Lebens Gebet ist ein Echo-Lot menschlichen Lebens. Ein Lot, das zuerst einmal gehört werden muss. Dazu braucht es Stille und Ruhe. Wer beten will, muss zur Ruhe kommen. „Die Stille ernährt, der Lärm verbraucht“ (Reinhold Schneider). Stille und Ruhe bilden die Grundlage jeder religiösen Erfahrung. Karl Rahner sieht in der Stille eine Brücke zwischen Ich-Werdung und Gotteserfahrung: „Halte dich aus! Du wirst erfahren, wie alles, was sich bei solcher Stille meldet, wie umfasst ist von einer namenlosen Ferne, wie durchweht ist von etwas, was wie Leere scheint. […] Es ist wie eine Stille, deren Schweigen schreit.“ 101 Was sich da aus der Stille meldet, kann mich in Staunen und Verwundern versetzen. Denn ich werde mit etwas konfrontiert, das aus dem Rahmen des Gewohnten und Bekannten heraus fällt. Staunen und Verwundern können den vertrauten Boden unter den Füßen wegziehen. Ich spüre plötzlich etwas von den Hintergründen, von den Abgründen der Dinge. Das ist das Erschreckende am Staunen. Aber es zeigt auch die Faszination, die das Staunen haben kann. Der Staunende erahnt einen tragenden Grund. Er spürt einen letzten Grund für alles, was ist. Staunen mündet in ehrfürchtigbewunderndes Schweigen. Wo das Beten eines Menschen nichts mehr weiß von diesem Schweigen vor Gott, wird es zum Geschwätz, zum leeren Wortgeklingel. Das so im Inneren Vernommene und Erkannte darf durchaus an die Oberfläche dringen und einen sichtbaren und hörbaren Ausdruck suchen. Das gehörte „Wort“ darf und soll konkrete, erkennbare Antwort finden. Es ruft auf zu verantwortlichem Handeln. Denn aus der Stille kommt die Kraft, aus dem Schweigen erwächst die Tat. Wo das Beten eines Menschen nichts mehr weiß von diesem Schweigen vor Gott, wird

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es zum Geschwätz, zum leeren Wortgeklingel. Alles Tun, alles Engagement sollte rückgekoppelt sein an das betende Bedenken, an die stille Besinnung, an die prüfende und abwägende Meditation. Gebet und Handeln sollten in einer ständigen Wechselwirkung stehen und sich gegenseitig bedingen. Beten ist unabdingbare Grundlage und Voraussetzung christlich-verantworteten Handelns; aber auch: Handeln ist unerlässliche Äußerung und Konkretion christlich-aufgeschlossenen Betens. Ora et labora; aber auch: labora et ora! Probleme mit der direkten Ansprache Viele glaubensbereite Christinnen und Christen tun sich schwer mit der direkten Ansprache im Gebet, mit dem „Du“ zu Gott. „Du“ – das kann ich doch nur zu einem wirklich erfahrbaren, sichtbaren Gegenüber sagen, das mir vertraut ist, das ich kenne und schätze. Aber wenn ich Gott im privaten Gebet oder in der Liturgie der Gemeinde mit „Du“ anrede, so fühle ich mich immer wie einer, der gegen eine Wand spricht. Wie einer, der ins Leere, ins Nichts hinein ruft. Kein Echo, keine Antwort, keine Gegenrede. Nur Schweigen. Aber muss ich eigentlich immer eine Anrede formulieren? Muss es überhaupt eine (geformte, laut oder leise gesprochene) „Rede“ sein? Es gibt schließlich viele Formen, miteinander ins Gespräch zu kommen und Kontakt aufzunehmen – ein Blick, eine Geste oder einfach nur das stille Miteinander. Menschen, die sich lieben, brauchen sich nicht fortwährend anzusprechen. Das gemeinsame Schweigen zweier Menschen muss nicht Zeichen der Trennung und des abgebrochenen Dialogs sein. Es kann auch als Zeichen inniger und tiefer Verbundenheit verstanden werden. Warum sollte mich nicht auch das Schweigen, die wortlose Rede, der „vielsagende“ (Auf-)Blick mit Gott verbinden? Die Psalmen sprechen nicht selten von Gott in der dritten Person. Zwar schreit der Dichter des Psalms 22 seine Verzweiflung in direkter und unmittelbarer Anrede heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Anders aber der Beter des Psalms 23. Er führt scheinbar ein Selbstgespräch oder redet zu anderen: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir mangeln. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechten Pfaden, treu seinem Namen“ (Ps 23,1–3). Und doch wird niemand sagen wollen, nur im Psalm 22 handle es sich um ein „richtiges“ Gebet, nur der Beter des Psalms 22 sei sich der Gegenwart Gottes bewusst, weil er Gott direkt mit „Du“ anrede. Es kommt letztlich nicht auf die Form an, sondern auf den Inhalt. Ob ich Gott direkt anspreche und dafür die Rede in der zweiten Person wähle oder ob ich mir – sozusagen unter seinen Augen – Rechenschaft über seine Gegenwart gebe, mich daran erinnere, und darum die dritte Person wähle, ist unwichtig. Entscheidend ist, dass ich mir Seiner Gegenwart bewusst bin, dass Gott in mein Denken und Reden eingebunden ist, dass ich in der Erfahrung seiner Nähe lebe. Wer dieses „Leben in der Gegenwart Gottes“ besser – und für sich selbst leichter nachvollziehbar – indirekt zum Ausdruck bringen möchte, sollte sich nicht mit der direkten Anrede quälen. Wesentlich ist dem Gebet, dass es geschieht vor dem Antlitz des namenlosen, schweigenden Gottes, den Christen als „Person“ bekennen. Und da tauchen für viele

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(noch) gläubige (Christen-)Menschen erhebliche Probleme auf. Die Antworten in den oben erwähnten Umfragen im Hinblick auf einen als Person verstandenen Gott sind sehr uneinheitlich. Gerade einmal 37 Prozent stimmen der Aussage zu, Gott sei als Person zu sehen, 41 Prozent halten das für unwahrscheinlich, und jeder Fünfte hat dazu keine klare Meinung. Menschen, die von Gott reden und sich zu ihm bekennen, bevorzugen heute gern nicht-personale Gottesbilder. Schon die Bibel verwendet häufig Umschreibungen, die sie der Natur entnimmt: Gott als Quelle des Lebens, lebendiges Wasser, erfrischender Schatten, starker Fels, (Wander-)Stab, Brot in der Wüste, Ziel des Lebens, Morgenstern in dunkler Nacht, strahlende Sonne, schützende Wolke, helles Licht, rettendes Ufer, Lebenshauch, Adlers Flügel, Liebe, Hilfe, Berg, Heil – um nur einige zu nennen. Diese nicht-personalen Metaphern besitzen den Vorteil, dass sie die heute vielfach als anstößig empfundenen Gottesbilder – Männlichkeit, Herrschertum, Allmacht, Richter, Strafender – vermeiden. Sie können das unauslotbare Geheimnis des Göttlichen besser umschreiben. Sie lassen sich als Deutungsvorschläge für Erfahrungen mit dem Realen bzw. mit dem Transzendenten, dem Absoluten, dem Unbedingten verstehen. Diese eher „indirekte“ Weise des Betens entspricht eher heutiger Praxis des Glaubens und moderner Erfahrung des Göttlichen. Auch moderne, nicht kirchlich orientierte Menschen „beten“ nämlich. Allerdings nicht zum transzendenten, personalen Gott der christlich-monotheistischen Tradition. Der moderne Mensch fühlt sich eher einer „absoluten Wirklichkeit“, einer „universalen Kraft des Alls“, einem „Unsagbaren und Unaussprechlichen“, einem „letzten und tiefsten Geheimnis“ verbunden als einer Gott-Person. Freilich, Gott muss irgendwie „Person“ sein, insofern er als der All-Umfassende alles einbeschließen und in sich umgreifen muss, was in der Welt möglich ist. Dazu gehört auch das Person-Sein – was immer man darunter versteht. Gott, so darf ich wohl sagen, ist Person, insofern ich sein „Antlitz“ als mir zugewendet erfahre. Auch beim Telefonieren mit einem mir unbekannten Menschen spricht mich aus dem Hörer eine unsichtbare Person an, von der ich mir allein aufgrund der Stimme ein bestimmtes Bild mache. Wahrscheinlich sieht sie aber in Wirklichkeit ganz anders aus. Wir kennen die Redewendung „Lasst Blumen sprechen“. Wir meinen damit, dass wir jemand „durch die Blume“ etwas mitteilen können. Wenn ein Mann einer Frau rote Rosen schenkt, dann kann sie daraus entnehmen, dass er ihr in besonderer Weise zugetan ist. Wenn ich das Person-Sein Gottes als etwas verstehe, das die Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen „anspricht“, dann kann ich vielleicht in meinem Leben Stationen benennen, in denen ich diese „Zuwendung“ erfahren durfte – dankbar, verwundert und meist erst im Nachhinein erkennend, dass hier „jemand“ dahinter steckte. Dass es möglicherweise eine verborgene „Fügung“ oder eine „Führung“ war, die mich in diese Lage versetzte. Ich erkenne Situationen, die mich mit der Frage konfrontierten, ob sich dahinter nicht etwas ganz Anderes verbirgt. Ob durch das vordergründig Wahrgenommene nicht noch ein nur ahnbares Eigentliches, ein geheimnisvolles Letztes und Tiefstes aufscheint. Wenn Gott „alles in allem“ ist (1 Kor 15,28), wenn wir „in ihm leben, uns bewegen und sind“ (Apg 17,28), dann ist er anwesend „in allen Dingen“ – den belebten und den

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unbelebten. „Er schläft im Stein, er träumt in den Blumen, er erwacht in den Tieren, er weiß, dass er erwacht ist, in den Menschen“, so lautet ein asiatisches Sprichwort. Christlicher Glaube ist ohne Gebet nicht denkbar. Das Gebet hilft entscheidend dazu, „geistes-gegenwärtig“, d. h. im Bewusstsein der Gegenwart des Geistes Gottes, zu leben und den Glauben ernstzunehmen. „Christliches Leben geschieht nicht aus eigener Anstrengung, sondern ist verdanktes Dasein, Mittun bei dem, was Gott tut“ 102.

5. Sakramente und Symbole a) Symbole

Das Wort „Symbol“ kommt aus dem Griechischen und heißt „zusammenfügen, zusammenwerfen.“ Wenn Menschen sich von einander verabschiedeten, zerbrachen sie als Zeichen der bleibenden Freundschaft oder Zusammengehörigkeit ein Tontäfelchen, ein Holzstäbchen oder einen Ring. Die beiden aneinander passenden Bruchstücke, die jeder an sich nahm und bei sich behielt, hießen Sym-bola – Sachen, die zusammengehören. Durch erneutes Zusammenfügen bei einer Begegnung konnte jene Verbindung wieder hergestellt werden, die vorübergehend, nicht aber grundsätzlich unterbrochen wurde. Die beiden getrennten Teile galten auch als Erkennungszeichen für Boten oder Vertragspartner und berechtigten zum Empfang einer Sache, zur Einräumung eines Vorrechts oder zur Inanspruchnahme der Gastfreundschaft. Symbole sind also grundsätzlich auf Wiedererkennen angelegt. Sie bekunden bleibende Einheit. Sie stehen am Schnittpunkt zweier verschiedener, aber doch aufeinander bezogener Realitäten: Ein sichtbares Äußeres (zwei zusammen passende Teile eines zerbrochenen Gegenstandes) verweist auf ein unsichtbares Inneres (dauernde Zusammengehörigkeit). Auch die christlichen Sakramente sind Symbole. Sie verweisen auf das (damals) sicht- und hörbare Handeln des historischen Jesus von Nazaret und auf das Heil, das er für viele (Kranke, Ausgestoßene) wirkte. Das einmalige, unwiederholbare Wirken des historischen Jesus wird in ihnen zeit- und raumübergreifend repräsentiert und so für alle Menschen zu allen Zeiten zugänglich gemacht. b) Sakramente im Volk Israel

Christliche Sakramente haben ihr Vorbild in den Kulthandlungen des Volkes Israel, das seinen Gott Jahwe erfahren hatte als einen in der Geschichte Handelnden, der für sein Volk sorgt, der es begleitet, der mit ihm unterwegs ist und der Heil bewirkt. Zu den großen Heils- und Befreiungstaten zählen die Herausführung aus der ägyptischen Knechtschaft, der Bundesschluss am Sinai und die Landnahme. Das Gedächtnis an diese einmaligen, unwiederholbaren Geschehnisse wurde im Volk lebendig erhalten – nicht allein in Worten, sondern auch in symbolischen Handlungen. Hier unterscheidet sich der Kult Israels von den Kulthandlungen aller anderen Völker. Während diese vor allem die Existentialien menschlichen Daseins – Geburt,

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Eintreten ins Erwachsenenalter, Hochzeit, Tod – in den Mittelpunkt ihrer sakralen Riten stellen, erinnert Israel an historische Ereignisse, in denen es glaubte, Gottes wirkmächtiges Handeln erfahren zu haben. Beschneidung Grundlegendes Sakrament des Volkes Israel ist die Beschneidung. Sie stellt einen Brauch dar, der vermutlich durch Vermittlung der Ägypter nach Israel gekommen ist. Sie mag dort aus medizinischen und hygienischen Gründen, aber auch als Pubertätsritus verbreitet gewesen sein. In den Schriften des Alten Testaments wird die Beschneidung gedeutet als Merkmal der Zugehörigkeit zu Jahwe (Ex 4,25), als Erinnerungszeichen an die Bundesverpflichtungen (Dtn 10,1; 30,6) und als Symbol der Unterscheidung von anderen Völkern, vor allem von den Philistern (Ri 14,3; 1 Sam 14,6). Die Einsetzung wird dem Stammvater Abraham zugeschrieben (Gen 17,9–14). Die Beschneidung ist darum sichtbarer Ausdruck der Zugehörigkeit zum Volk Israel. Allerdings galt der Ritus nicht als magisches Zeremoniell, das unabhängig von der Mitarbeit des Beschnittenen das Heil wirkt. Verlangt wird zur „Beschneidung an der Vorhaut“ hinzu die aktive Mitwirkung, die „Beschneidung des Herzens“, das Ablassen von der „Halsstarrigkeit“ (Dtn 10,16; Jer 4,4). Paschamahl Das Paschamahl (auch Pesachmahl) hat in der Geschichte Israels und in seiner Sinndeutung ebenfalls eine Wandlung erlebt. Es besitzt zwei Schwerpunkte: Das Schlachten und Verzehren eines Lammes und das Essen des ungesäuerten Brotes (Ex 12,3–11.14– 15). Diese gehören zu zwei ursprünglich getrennten Festtraditionen – Nomaden- und Hirtenfest und Fest der sesshaften Bauern –, die später miteinander verschmolzen wurden (vgl. Ex 34,18.25). Die ältesten Texte verbinden das Paschamahl mit dem historischen Ereignis des Auszugs aus Ägypten. Die sakrale Handlung soll zum immerwährenden Gedächtnis der befreienden Heilstat Jahwes werden: „In jeder Generation hat der Mensch sich zu betrachten als einer, der ausgezogen ist aus Ägypten“ (Ex 12,21–27). Zu diesen beiden wichtigsten religiösen Heilszeichen kommen weitere hinzu, die Auswirkungen auf die Entwicklung christlicher Sakramente und ihre Praxis gehabt haben. Versöhnung Der Versöhnungstag (Yom kippur) ist ein Tag der völligen Arbeitsruhe, der Buße und des Fastens (vgl. Lev 16). An diesem Tag brachte der Hohepriester im Tempel einen Stier als Opfer für seine eigenen Sünden und die seines Hauses dar. Anschließend opferte er einen Bock für Jahwe als Zeichen der Sühne für die Sünden des Volkes. Einen zweiten Bock („für Azazel“, den Wüstendämon) legte er die Hände auf und bekannte dabei die Sünden des Volkes. Anschließend wurde der „Sündenbock“ in die Wüste geführt und dort verjagt. Das Ritual sollte wohl bedeuten, dass die vom „Teufel“ verursachten Sünden dem Bock auferlegt und dem in der Wüste hausenden „Teufel“ gleichsam wieder zurückgegeben werden sollten.

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Reinheitsvorschriften Die vielfältigen rituellen Reinheitsvorschriften (vgl. Lev 11–15) entstanden aufgrund des Gedankens, dass kein Mensch es wagen kann, mit der Gottheit Kontakt aufzunehmen, ohne sich vorher dafür kultisch gereinigt zu haben (vgl. Jes 6,5–7). Die in Israel besonders betonte Heiligkeit Gottes fordert, dass der Mensch von allem frei sei, was als kultisch verunreinigend gilt. Institution des Priestertums Priester wurde man in Israel aufgrund der Zugehörigkeit zum Stamm Aaron-Levi. Daher gab es zum Amtsantritt keine rituelle „Priesterweihe“, sondern eine Salbung (Ex 40,12–16) und eine Art Diensteinführung (Ri 17,5–13). Der Priester hatte die Worte Jahwes zu überbringen, Orakel zu erteilen, in der Tora zu unterweisen und den Dienst im Tempel zu verrichten. Priester waren verheiratet. Wohnsitz und Beruf konnten sie außerhalb der Dienstzeit frei wählen (vgl. Lev 21). Bis in die Gegenwart versteht das Judentum Heil immer nur im Zusammenhang mit sichtbaren, erfahrbaren Veränderungen in der geschichtlichen und sozialen Wirklichkeit. Liturgie schließt die Fürsorge für Bedürftige ein. Bei den Schlachtopfern am örtlichen Heiligtum oder am Jerusalemer Tempel wurde nur ein kleiner Teil des Opfertieres (Fett- und Weichteile) als Brandopfer für Jahwe dargebracht; Brust und Keule bekamen die Priester. Der größere Teil des geschlachteten Tieres wurde in der gemeinsamen Opfermahlzeit verzehrt. Dazu sollten Arme, Fremde und Ausländer, Witwen und Waisen eingeladen werden (vgl. Dtn 14,29; 16,11; 26,12). Ihnen wurde damit die Möglichkeit geboten, trotz ihrer Armut in den Genuss von Fleisch zu kommen – und dabei sehr konkret zu erleben, dass der biblische Gott ein „Geber“ von Fest und Freude sein will. 103 c)

Historische Entwicklungslinien der christlichen Sakramente

Definitorische Unklarheit Aufgabe der Kirche als der „Gemeinde des Herrn“ ist es, die Botschaft Jesu und sein Heilswirken lebendig zu erhalten. Sie hat in der jeweiligen Zeit das zu vergegenwärtigen, was Jesus in seiner Zeit gesagt und getan hat. 104 Zu den Grundvollzügen sakramentalen Handelns der Kirche gehören von Anfang an Taufe und Eucharistie (Abendmahl):  In der Taufe geschieht symbolhaft die Übernahme des Lebensschicksals Jesu in Tod und Auferstehung (Untertauchen und Wiederauftauchen aus dem Wasser) und die Eingliederung in den neuen, mystischen „Leib Christi“ (Eph 5,30; Kol 1,18.24).  In der Eucharistie wird die Gemeinschaft mit dem Auferweckten durch das Essen von dem einen Brot und das Trinken aus dem einen Kelch aktualisiert (1 Kor 10,16–17). Zu diesen beiden Heilshandlungen kommen weitere hinzu: Geistübertragung durch Handauflegung, Bußverfahren und Versöhnung, Salbungen an Kranken. Einen einheitlichen Sammelbegriff für diese Riten gibt es anfangs nicht. Häufig werden sie als „mysterion“ (Geheimnis) bezeichnet. Im Gefolge der lateinischen Bibelübersetzung, die

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„mysterion“ häufig mit „sacramentum“ wiedergab, bürgerte sich mehr und mehr dieser Begriff ein. Im Sprachgebrauch der römischen Staatsreligion bedeutete „sacrare“ die rechtsgültige Übereignung einer Person oder Sache in den Bereich des „Sacrum“, des Heiligen, also ihre Absonderung aus der profanen Welt. „Sacramentum“ bezeichnet damit eine (Rechts-) Handlung, die den Empfänger herausnimmt aus dieser Welt und ihn der göttlichen Welt zuordnet. Dieses sehr weit gefasste Verständnis führte dazu, dass unter diesem Oberbegriff eine Vielzahl von Riten und kultischen Handlungen zusammengefasst wurde, die in irgendeiner Weise auf Gott und das Heilswirken Jesu verweisen. So zählte man bis zu 30 „Sakramente“ (u. a. auch Bischofs- und Königssalbung, die Weihe von Äbten, Nonnen, Mönchen, Einsiedlern und Kanonikern, die Kirchenweihe). Es gab keine klare und eindeutige Definition, die besagte, was ein Sakrament ist. Wegen dieser definitorischen Unklarheit gab es bis etwa der Mitte des zwölften Jahrhunderts beträchtliche Schwankungen in der Zahl. Für die römisch-katholische Kirche schrieb das Konzil von Trient (1545–1563) ohne nähere Begründung die stark verbreitete Siebenzahl fest. 105 Über die Gründe lassen sich nur Vermutungen anstellen. Ein erster Anlass könnte die Symbolik der Siebenzahl gewesen sein, die die Summe von 3 + 4 ergibt. Drei ist seit alters eine heilige Zahl. In der christlichen Theologie hat sie noch zusätzlich an Bedeutung gewonnen durch das Dogma von der Dreieinheit Gottes. Vier ist die Zahl der Welt (4 Himmelsrichtungen) und des Kosmos (4 Elemente: Erde, Wasser, Luft und Feuer). „Sieben“ erinnert auch an die Weltschöpfung in 6 Tagen mit dem siebten als Ruhetag. In den Schriften des Alten Testaments findet sich die Siebenzahl sehr häufig – Androhung einer siebenfachen Rache für die Ermordung Kains (Gen 4,15), sieben Paare von reinen Tieren gehen in die Arche (Gen 7,2), am siebzehnten Tag des siebten Monats setzt die Arche im Gebirge Ararat auf (Gen 8,4), sieben Ähren und Kühe in der Josefslegende (Gen 41,2–54), sieben Tage lang soll ungesäuertes Brot gegessen werden (Ex 12,15). Im Neuen Testament häufen sich vor allem in der Offenbarung des Johannes die Siebener-Gruppen. 106 Doch nicht nur die biblischen Schriften stecken voller Zahlensymbolik. In Spanien und Südfrankreich war die Zahlenspekulation nicht zuletzt unter dem Einfluss der jüdischen Kabbala „ein allgemeiner Bestandteil der Kultur des Mittelalters“ 107. Nicht nur die Sakramente werden dem Siebenerschema unterworfen. Auch die Tugenden, die „Gaben des Heiligen Geistes“, die „Werke der Barmherzigkeit“ und die „Hauptsünden“ müssen sich diese Eingrenzung gefallen lassen. Die Sieben-Zahl ist also im profanen wie im religiösen Bereich vorwiegend qualitativ-symbolisch verstanden worden. Sie tritt „im mythisch-religiösen Prozess als Bewegung auf, die das Profane in die ‚Heiligung‘ überführt“ 108. Vor dem Hintergrund dieser Zahlenmystik könnten die sieben Sakramente hinweisen auf die Trennung und auf (Wieder-)Zusammenführung von Gott („3“) und Welt („4“). Freilich scheint dem Konzil von Trient dieses qualitativ-symbolische Verständnis der Siebenzahl schon abhanden gekommen zu sein, sonst hätte es nicht auf dem „weder mehr noch weniger“ insistiert. Dieses „quantitative Missverständnis“ (Franz Schupp) stellt leider bis in die Gegenwart hinein einen nicht unwesentlichen

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Hemmschuh für eine ökumenische Annäherung hinsichtlich der Zahl der Sakramente dar. Die Reformatoren erkannten nur Taufe und Abendmahl als Sakramente an, weil sie Berufung der Meinung waren, Jesus habe sie ausdrücklich eingesetzt (vgl. Mt 28,19 „Taufet alle Völker“ und Lk 22,19 „Dies tut zu meinem Gedächtnis“), was bei den übrigen sechs nicht nachweisbar sei (nach heutigem Kenntnisstand der Exegese ist das freilich bei keinem der christlichen Sakramente möglich). Manche lutherischen Bekenntnisschriften (Confessio Augustana z. B.) rechnen auch die Absolution („Losssprechung“ von den Sünden in der Beichte) und die Ordination hinzu. Die Reformatoren behielten jedoch als Segenshandlungen jene Riten zum größten Teil bei, die sie nicht als Sakramente anerkannten. Versuch einer Wesensbestimmung Die Sakramente sind zwar grundgelegt im Heilswirken des historischen Jesus, ihre konkrete Ausformung aber haben sie im Lauf der Geschichte durch die Kirche erhalten, indem diese nach wirksamen Zeichen suchte, um das Heilswirken Jesu in symbolischen Handlungen realisierend fortzusetzen und für Menschen aller Zeiten und Zonen fruchtbar zu machen. Einen ersten Versuch, das Wesen der Sakramente näher zu bestimmen, hat Augustinus (354–430) unternommen. Für ihn sind die Sakramente „signa data“ ([von Gott, Jesus und der Kirche] gegebene Zeichen), weil „in ihnen etwas anderes gesehen und etwas anderes erkannt wird“ 109. Ihnen eignet eine eigentümliche Doppelstruktur: Sie bestehen aus einem materiellen, sichtbaren Zeichen, das auf eine andere, immaterielle und unsichtbare Wirklichkeit verweist. Damit die Zeichenhaftigkeit dieses „Elements“ eindeutig und unmissverständlich wird, bedarf es eines auf diese Wirklichkeit hinweisenden Wortes.

So gilt bei der Taufe das Wasser als „Element“ (elementum) und die beim Ausgießen des Wassers über den Taufbewerber gesprochene Taufspendeformel als „Wort“ (verbum). Es kann weder eine wortlose noch eine wasserlose Taufhandlung geben. Nur wenn das Wort zum Element hinzutritt, kommt das Sakrament zustande. Gut 800 Jahre später wendet sich Thomas von Aquin (1225–1274) wiederum der Struktur der Sakramente und ihrer Zeichenhaftigkeit zu. Er erkennt in den Sakramenten einen dreifachen Hinweischarakter. Sie sind:  „erinnernde Zeichen“ (signa rememorativa), weil sie an das Leben, das Leiden und die Auferweckung Jesu als Ursache unserer Heiligung und Erlösung erinnern,  „hinweisende Zeichen“ (signa demonstrativa), weil sie auf die Gnade und Liebe Gottes als Wesen unserer Heiligung hinweisen,  „vorausdeutende Zeichen“ (signa prognostica), weil sie die künftige Herrlichkeit andeuten, in der unsere Heiligung ihr Ziel findet.

Taufe und Eucharistie

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In dieser Zeit wird auch die Frage der Wirkweise der Sakramente diskutiert. Man unterscheidet zwischen der objektiven und der subjektiven Wirksamkeit („opus operatum“ und „opus operantis“). Jedes Sakrament wirkt kraft des vollzogenen Ritus, unabhängig von der Würdigkeit des „Spenders“, weil es letztlich Gott ist, der wirkt. Der Spender muss nur die Vollmacht dazu besitzen, und er muss das tun wollen, was die Kirche tut („facere quod facit ecclesia“). Der Mensch dient lediglich als Vollzugsorgan. Allerdings gehört die Mitwirkung des „Empfängers“ hinzu. Er muss mindestens die Bereitschaft haben, dem Sakrament kein „Hindernis“ entgegenzusetzen.

6. Taufe und Eucharistie Es ist weithin unbekannt, dass in der mittelalterlichen und spätmittelalterllichen Theologie den beiden Sakramenten Taufe und Eucharistie eine Vorrangstellung eingeräumt wurde. Sie hießen „sacramenta majora“ oder „sacramenta principalia“. Wenn Kirche die Gemeinde derer ist, die sich in die Nachfolge Jesu begeben, die nach seinem Sinnund Existenzentwurf zu leben versuchen, dann dürfte kaum schwerfallen, diese Sonderstellung nachzuvollziehen: Taufe bedeutet Eingliederung in diese Gemeinschaft; Eucharistie ist Aktualisierung der Glaubensgemeinschaft als solcher. a) Taufe

Ursprünge und Bedeutung Wer in die Fußstapfen Jesu treten und mit ihm ein neues Leben beginnen will, muss Abschied nehmen von seiner bisherigen Lebenspraxis. Die Symbolhandlung des in der Urkirche praktizierten Tauchbades (in fließendem Gewässer: vgl. Apg 16,13–15) macht dieses Geschehen sinnenfällig deutlich.  Wer im Wasser untertaucht und nicht mehr herauskommt, muss sterben: „Wisst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod“ (Röm 6,3–4). Der Taufbewerber lässt sich im Untertauchen symbolisch mit Jesus kreuzigen und begraben.  Die Zeichenhandlung der Taufe weist aber auch auf das Hineingenommensein in die Auferweckung Jesu: „Wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. Wenn wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tode, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein“ (Röm 6,5–6). Taufe ist, symbolisiert im Auftauchen, Erweckung zu einem neuen Leben. Wer sich in den ersten christlichen Jahrhunderten um die Taufe bewarb, hatte zunächst eine längere Vorbereitungszeit, ein Katechumenat, zu durchlaufen und sich dabei einer strengen Prüfung zu unterziehen. In der Regel musste er zunächst drei Jahre lang „das Wort der Unterweisung hören“, er durfte auch am Lese- und Gebetsgottesdienst teilnehmen. Einige Zeit vor dem angesetzten Tauftermin wurde nochmals der Lebenswandel überprüft. Fiel das Ergebnis günstig aus, so durfte der Taufbewerber „das Evange-

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lium hören“. Von da an fand bis zur Taufe täglich eine Unterweisung statt, der sich auch verschiedene gottesdienstliche Handlungen anschlossen.  Die Taufe selbst wurde meist in der Osternacht in Anwesenheit der gesamten Gemeinde gespendet. Mit der Taufe geschieht die Eingliederung in die Kirche. Darum ist es immer „die Kirche“, die tauft. Bis heute hat sich – wenigstens in der Theorie – nichts daran geändert. 110  Der Taufbewerber wurde dreimal in das Wasser getaucht und dabei befragt, ob er an Gott, an Jesus Christus und an den Heiligen Geist glaube. Er antwortete mit einem dreifachen, bekennenden Ja. Das Wort des Taufenden und die Antwort des Taufbewerbers kennzeichnen die Struktur des christlichen Glaubens. Er ist nicht etwas, was Menschen aus sich heraus produzieren oder was ihnen direkt von Gott zugesprochen wird. Glaube wird vermittelt – durch Menschen. Der Mensch bekommt es mit Gott zu tun, indem er es mit dem Mitmenschen zu tun bekommt. Gott sucht den Menschen nicht anders als in seiner Mitmenschlichkeit. Das Verhältnis zum Mitmenschen ist daher auch der Prüfstein für die Echtheit des Glaubens und für den Ernst der Bereitschaft zur Nachfolge Jesu. Schon Paulus weist auf diesen Zusammenhang hin. Der „alte Mensch“ ist in der Taufe gekreuzigt (Röm 6,6), seine Werke – Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, Neid, Mord, Streit, List und Tücke – sind begraben worden (Röm 1,29). Die Früchte des neuen Lebens, das mit der Taufe begonnen hat, sind: „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung“ (Gal 5,22–23). An anderer Stelle wird Paulus noch radikaler: „Ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer‘ in Christus Jesus“ (Gal 3,27–28). Problemfall Säuglingstaufe Das Neue Testament spricht weder direkt noch indirekt von der Säuglingstaufe. Die Urkirche sah den Taufakt vielmehr eingeordnet in den Glaubensvollzug der christlichen Gemeinde. Die Kinder waren „heilig“ durch den Glauben ihrer Mutter oder ihres Vaters (1 Kor 7,14). Am Anfang des dritten Jahrhunderts ist allerdings die Säuglingstaufe mehrfach bezeugt. Rasche Verbreitung fand sie im 4. Jahrhundert, als mit Kaiser Konstantin († 337) das Christentum toleriert und später sogar Staatsreligion wurde. Der Empfang der Taufe brachte nun erhebliche berufliche und gesellschaftliche Vorteile. Im fünften Jahrhundert ist sie allgemein eingeführt. Augustinus († 430) setzt sich aufgrund seiner Erbsündenlehre energisch für sie ein. Die Taufe tilge diese Sünde; sie müsse daher so frühzeitig wie möglich gespendet werden, um im Falle eines frühen Todes das Kind vor den Qualen der Hölle zu bewahren. Augustinus hatte einen guten Verbündeten in Papst Innozenz I. († 417), der die Meinung vertrat, es sei ein „horrender Irrtum“ zu sagen, „die Kleinkinder könnten auch ohne die Gnade der Taufe mit dem Lohn des ewigen Lebens beschenkt werden“ 111. 200 Jahre später ordnete Papst Gregor I. († 604) für die römische Kirche an, dass beim geringsten Verdacht

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auf Todesgefahr die Neugeborenen sofort zu taufen seien, damit sie des ewigen Heils nicht verlustig gehen. 112 Diese enge Koppelung von Taufe und Erbsündenlehre hat zu theologischen Einseitigkeiten geführt und war „aufs Ganze gesehen alles andere als positiv.“ 113 Bis in die Gegenwart hinein wurde die Befreiung von der Erbsünde zur Rechtfertigung der Säuglingstaufe herangezogen. Nach heutiger theologischer Auffassung bestimmt von Anfang an nicht die Erbsünde das Schicksal des Menschen, sondern der allgemeine Heilswille und die Heilsgnade Gottes. 114 Die Taufe eines Unmündigen stellt daher einen „dogmatischen Grenzfall“ dar. Sie sollte nicht zum „praktischen Normalfall“ gemacht und „nicht als die fast einzige Form und schon gar nicht als die Idealform der Taufspendung gelten“ 115. Die Erwachsenentaufe ist und bleibt „die Grundgestalt der Taufe“ 116. Die Konvergenzerklärung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, das sogenannte Lima-Papier aus dem Jahre 1982, legt die unterschiedliche Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Taufpraxis deutlich dar: „Einige Kirchen taufen Säuglinge, die von Eltern oder Erziehungsberechtigten gebracht werden, die bereit sind, in und mit der Kirche ihre Kinder im christlichen Glauben zu erziehen. Andere Kirchen vollziehen ausschließlich die Taufe von Glaubenden, die in der Lage sind, ein persönliches Glaubensbekenntnis abzulegen. Einige dieser Kirchen befürworten die Darbringung und Segnung von Säuglingen und Kindern in einem Gottesdienst, der normalerweise auch den Dank für das Geschenk des Kindes und auch die Verpflichtung der Mutter und des Vaters zu christlicher Elternschaft in sich schließt. Alle Kirchen taufen Glaubende, die aus anderen Religionen oder aus dem Unglauben kommen und die den christlichen Glauben annehmen und an katechetischer Unterweisung teilnehmen.“117 Säuglings- und Erwachsenentaufe stehen hier gleichberechtigt nebeneinander und werden im Hinblick auf die spezifische Tradition der jeweiligen Kirchen anerkannt. In den letzten Jahren hat sich die Situation in Deutschland gewandelt. Die Zahl der Säuglingstaufen geht in beiden Konfessionen kontinuierlich zurück. Immer mehr Eltern möchten ihre Kinder erst in einem Alter taufen lassen, in dem diese sich zumindest anfanghaft bewusst für den christlichen Glauben entscheiden können. Deshalb erscheint eine „differenzierte Taufpastoral“ geboten. Sie kann nur „mit einer innerkirchlichen Bewusstseinsänderung einhergehen: Es muss mehr und mehr deutlich werden, dass es mehrere Zugangswege zum christlichen Glauben und zur Taufe gibt und dass diese Wege mehrere Stufen und Ausdrucksformen kennen. Die Säuglingstaufe behält nach wie vor ihre Berechtigung, wenn Taufwille, Taufglaube und Taufversprechen gegeben sind. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass in der zunehmend missionarischen Situation der Kirche in unserer Gesellschaft der Katechumenat als theologisch und pastoral begründeter Weg des Christwerdens Erwachsener immer mehr an Bedeutung gewinnen wird. Für die Erneuerung des Taufbewusstseins liegt hierin eine besondere Chance“118. Die Dauer der Vorbereitung hängt vom Weg der Taufbewerberin oder des Taufbewerbers ab und kann nicht von vornherein festgelegt werden. Entsprechend ist auch die liturgische Feier der Taufe gegliedert und beginnt bereits mit der Aufnahme in den Katechumenat. So wird deutlich, dass die Taufe „kein punktueller Akt ist, son-

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dern ein prozesshaftes Ereignis, das die ganze Zeit von der Aufnahme in den Katechumenat bis zur Spendung der Wassertaufe umfasst“ 119. Die eine Taufe Schon 25 Jahre nach dem Tod Jesu gab der Empfang der Taufe Anlass zu Zerwürfnissen. In der Gemeinde von Korinth stritten sich die zum Glauben Gekommenen, welche Taufe wohl wirksamer und „besser“ sei. Die einen meinten, es sei die des Paulus, andere hielten die des Apollos für wichtiger, wieder andere bevorzugten die Taufe des Petrus, manche gar die Taufe durch Christus (was sie damit meinten, ist allerdings unklar). Das, was Zeichen der Gliedschaft aller an dem einen Leib Christi sein sollte, wurde zum Auslöser der Entzweiung (vgl. 1 Kor 1,11–17). Auch in späterer Zeit gab es wegen der einen Taufe immer wieder Auseinandersetzungen (z. B. Ketzertaufstreit im 3. Jh., Wiedertäufer im 16. Jh.), die dazu führten, dass die christlichen Kirchen nicht einmal mehr bereit waren, bei einem Übertritt von der einen in die andere Konfession die dort gespendete Taufe als gültig zu betrachten. Mit dem Aufkommen der ökumenischen Bewegung hat sich die gegenseitige Anerkennung der Taufe zunehmend durchgesetzt. Nur der Praxis einiger freikirchlicher Gemeinschaften wird noch mit (berechtigter) Skepsis begegnet. 120 In den „Konvergenzerklärungen“ der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen von 1982 heißt es: „Gegenseitige Anerkennung der Taufe wird als bedeutsames Zeichen und Mittel angesehen, die in Christus gegebene Einheit in der Taufe zum Ausdruck zu bringen“ (Art. 15). Die Mauern, die Christen voreinander und gegeneinander aufgebaut haben, sind damit an einer entscheidenden Stelle durchbrochen. Was in Korinth zu Zerwürfnissen führte, scheint jetzt allmählich wieder zum einigenden Band zu werden. Der Wunsch Jesu, dass alle eins seien“ (Joh 17,11) findet bei den Christen, wenn auch zögernd, Gehör. b) Eucharistie

Begründung und Deutung Die Evangelien berichten davon, dass Jesus mit Menschen unterschiedlicher Schichten und Gruppierungen Mahl gehalten hat. Gemeinsames Essen und Trinken begründet Lebensgemeinschaft und ist Sache von Menschen, die als Familie zusammengehören oder die als Freunde miteinander leben und füreinander einstehen wollen. Jesus hält Mahl mit seinen Jüngern und Freunden (vgl. Joh 2,1–11; 12,1 f), mit Pharisäern (vgl. Lk 7,36–50), mit Zöllnern und Sündern (vgl. Mt 9,10 f.). Besonderen Wert legt er auf alle, die „wie Schafe sind, die keinen Hirten haben“ (Mk 6,34). Für Jesus gab es nicht die Trennung von „Würdigen“ und „Unwürdigen“. Das ist um so bedeutsamer, als es bei diesen Mählern offensichtlich nicht nur ums Essen ging. Der Prophet Jesaja sieht in der Mahlgemeinschaft ein Zeichen für das messianische Fest und für die Gemeinschaft mit Gott (Jes 26,6). Jesus selbst deutet sie als Gleichnis für das anbrechende Gottesreich (vgl. Mt 8,11; Lk 14,15–24). Zu diesem Reich sind alle gerufen, auch – und gerade – jene, die am Rand der Gesellschaft stehen.

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Einen besonderen Platz unter den verschiedenen Mählern Jesu nimmt das Abschiedsmahl ein. Jesus sah in ihm ein Zeichen seiner über den Tod hinaus dauernden Gemeinschaft. Hier wird am dichtesten erkennbar, was auch die übrigen Mahlgemeinschaften aussagen wollten: Jesus „teilt sich selbst mit.“ Wer die Texte im Neuen Testament, die vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern erzählen, aufmerksam liest, kann feststellen, dass sie im Wortlaut nicht genau übereinstimmen. Es ist lohnend, sich einmal die Mühe zu machen und die vier überlieferten Fassungen miteinander zu vergleichen: Mk 14,22–25/Mt 26,26–29 und 1 Kor 11,23–26/Lk 22,15–20. Der besseren Übersicht wegen sollen hier nur die Texte des Markusevangeliums und des Ersten Briefes an die Gemeinde von Korinth einander gegenübergestellt werden: Markusevangelium

Während des Mahls nahm er das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es ihnen und sagte: Nehmt, das ist mein Leib. Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet, reichte ihn den Jüngern, und sie tranken alle daraus. Und er sagte zu ihnen: Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird.

Erster Brief an die Gemeinde von Korinth Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch und sprach:

Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut. Tut dies, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis!

Der älteste Text über das Abendmahl findet sich im Ersten Brief an die Gemeinde von Korinth. Paulus hat diesen Brief um 55 n. Chr. verfasst. Er betont, er habe „vom Herrn empfangen“, was er „überliefert“ habe. Offenbar war Paulus überzeugt, dass seine Fassung der Worte über Brot und Becher 121 von Jesus selbst herrührte. Nun fällt aber auf, dass diese Worte im ältesten Evangelium, das wir kennen, im Markus-Evangelium (um 70 n. Chr.), anders lauten. Während sie hier genau parallel gefasst sind – „Das ist mein Leib“ und „Das ist mein Blut“ –, ist diese Parallele bei Paulus nicht zu erkennen. Dort heißt es: „Das ist mein Leib – Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut.“ Weiterhin fällt auf, dass, nach Paulus, Jesus einen Auftrag erteilt: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ – und das gleich zweimal; bei Markus ist davon nicht die Rede. Und schließlich werden bei Paulus die Teilnehmer direkt angesprochen: „… mein Leib für euch.“ Bei Markus fehlt dieser Zusatz.

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Es gab also in der jungen Kirche mindestens zwei unterschiedliche Versionen der Abendmahlserzählung. Die eine überliefern Markus und Matthäus, der sich der Markusversion anschließt. Die andere findet sich im Ersten Brief an die Gemeinde von Korinth und bei Lukas, der die Paulustradition übernimmt 122. Welche der beiden Fassungen gibt die ursprünglichen Jesusworte getreuer wieder? Man macht es sich zu einfach, wenn man auf Paulus verweist, der ja eigens betont, er habe den Wortlaut „vom Herrn“ empfangen. Paulus hat nicht am letzten Abendmahl teilgenommen. Er hat den „Herrn“ nicht einmal persönlich kennen gelernt. Er ist erst dem Auferweckten begegnet (vgl. 1 Kor 15,8). Aber dabei hat er sicher nicht erfahren, was beim letzten Mahl Jesu geschehen ist. Paulus schöpft also aus zweiter Hand, von Gewährsleuten, vielleicht von Petrus, den er in Jerusalem (vgl. Gal 1,18) und in Antiochien (vgl. Gal 2,11–14) getroffen hatte. Trotz dieser Einschränkung, dass die Textfassung des Ersten Briefes an die Gemeinde von Korinth weder vom historischen Jesus stammt noch von einem Augenzeugen verfasst ist, vertreten nicht wenige Fachleute die Ansicht, dass diese Version am nächsten an das tatsächliche Geschehen beim Abendmahl herankommt und die Worte Jesu am getreuesten wiedergibt. Andere Wissenschaftler räumen der Markusfassung die Priorität ein. Sie begründen dies mit dem Hinweis, dass bei Markus „mehr erzählt“ werde, dass ausdrücklich „die Zwölf“ als Adressaten des Handelns Jesu genannt werden (Mk 14,17) und dass die Erzählung deutlich in den historischen Rahmen der Passionsgeschichte eingefügt sei. Demgegenüber läge bei Paulus ein liturgischer Text vor, der die Stiftung des Herrenmahls für die Gemeinde erzählen will, in der die Christen die Adressaten des Handelns Jesu geworden sind. 123 Die Frage braucht hier nicht entschieden zu werden. Eine absolut sichere Rekonstruktion des (vermutlich) aramäischen Wortlauts der Deuteworte Jesu über das Brot und über den Wein ist ohnehin nicht möglich. Offenbar war die junge Kirche daran nicht interessiert. Peter Trummer hat darauf aufmerksam gemacht, dass die sprachliche Ausdeutung des (nur in griechischer Sprache überlieferten) jesuanischen Deuteworts „Das ist mein Leib“ genau genommen vom Brot wegweist. „Das an dieser Stelle verwendete neutrale Demonstrativpronomen (griech. ‚touto‘ bzw. lat. ‚hoc‘) kann sich (übrigens analog zum Lateinischen) syntaktisch gar nicht auf das zuvor erwähnte (männliche) Brot (griech. ‚ho artos‘ bzw. lat. ‚panis‘) beziehen, sondern steht einigermaßen offen im Raum. Es lässt sich also auch von der Syntax her gesehen das Wesen des Sakraments gar nicht so eindeutig auf die eucharistischen Gestalten fixieren, wie dies die abendländische Sichtweise vielleicht gerne wollte. […] Die ursprüngliche jesuanische Deutung: Das ist mein Leib bezieht sich gar nicht auf das Brot, sondern auf die Anwesenden, oder noch genauer: auf deren Tun. Ihr gemeinsames Essen wird von Jesus als der symbolische Aufbau seines Leibes gedeutet. […] Nicht Brot und Wein als solche, sondern das gemeinsam erinnernde Essen und Trinken sind das Wesentliche am Sakrament“ 124. Es ging jenen Christen, die die Texte damals formulierten, nicht um eine möglichst wortgetreue Wiedergabe dessen, was Jesus gesagt hatte. Die urkirchlichen Eucharistiegemeinden wollten nicht einfach wiederholen, was beim letzten Mahl Jesu mit den Zwölf getan und gesprochen wurde. Die Eucharistiefeier ist keine Reprise des letzten

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Abendmahles. Vielmehr ist das eucharistische Mahl, wie die Kirche es begeht, die Vergegenwärtigung des gesamten Jesusgeschehens. Es ist Verkündigung seines hingabebereiten Lebens, seines Todes und seiner Auferstehung. Es ist Rückbesinnung auf die vielfachen Formen vorösterlicher Mahlgemeinschaft mit Jesus und Ausblick auf das hochzeitliche Mahl in der Vollendung bei Gott. Es ist Kommunion mit dem Herrn und Kommunion der am Mahl teilnehmenden Gemeinde. Auch nach Ostern kamen die Mitglieder der Urgemeinde in Jerusalem nicht nur im Tempel zusammen, um zu beten, sondern auch in ihren Häusern, um, dem Beispiel Jesu folgend, miteinander Mahl zu halten (Apg 2,42). Die auffallende Ähnlichkeit in der Schilderung des Abendmahles und des Mahlhaltens in Emmaus (Lk 22,19 f. und 24,30 f.) und Perikopen, die vom Mahlhalten des Auferstandenen mit seinen Jüngern erzählen (Mk 16,14; Lk 24,36–43; Joh 21,9 bis 14), weisen deutlich auf den Zusammenhang von Eucharistie und Ostern hin. Jesus hält auch jetzt Mahl mit seiner Gemeinde, wie er es vor seinem Tod und seiner Auferstehung mit seinen Freunden getan hat. Die Eucharistiefeier im Gedenken an Jesu Tod und seine Auferweckung wird zu einem wichtigen Kristallisationspunkt der Gemeinde. Wer an diesem Mahl teilnimmt, ist zur Rücksichtnahme und zur Nächstenliebe verpflichtet (vgl. 1 Kor 10,16 f.; 11,17–21.33 f.). Im gemeinsamen Essen und Trinken, in der Tischgemeinschaft von Sklaven und Freien, von Männern und Frauen fand die besondere Gruppenzusammengehörigkeit den stärksten und auch für Außenstehende auffälligsten Ausdruck. Die Gemeinde erinnerte sich an das, was Jesus beim letzten Abendmahl getan hatte. Der zerrissene und an die Jünger zum Essen gereichte Brotfladen, der Wein, von allen aus dem einen Becher getrunken, waren Zeichen seiner Hingabe, seiner Liebe „bis zur Vollendung“ (Joh 13,1). Jesus war nicht gescheitert. Sein Tod wurde zum Anfang eines neuen Lebens. So konnte in den Gemeinden der Christen das Erinnerungsmahl an den Tod Jesu zu einem Freudenmahl des Lebens und der Auferstehung werden (Apg 2,46). Es stärkte die Christen in der Hoffnung, dass die Auferweckung Jesu die Auferweckung aller ankündigt: „Wenn wir ihm (Jesus) gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein“ (Röm 6,5). Da das Mahl vornehmlich von der Gesinnung des Dankens an das getragen war, was Jesus durch sein Leben und seinen Tod gewirkt hatte, erhielt es schon in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts die Bezeichnung „Eucharistie“ (= Danksagung). Man mag Abendmahl und/oder Eucharistie beurteilen, wie man will – es ist auch für Außenstehende eine in der gesamten Menschheitsgeschichte einmalige, geradezu geniale „Erfindung“: Gemeinsames Essen und Trinken wird zur eigentlichen und zentralen Form des Gottessdienstes erhoben. Symbolträchtig werden dazu das alltägliche, „gewöhnliche“ Brot verwendet, das Menschen zum Leben und zum Überleben brauchen, und Wein, der Freude ins Leben bringen kann. Leben vor Gott und für Gott soll nicht nur vom „Ernst des Lebens“, von der harten und notwendigen Sicherung des Lebensunterhalts geprägt sein, sondern auch von Dankbarkeit und Freude. Um Gott zu dienen, um Gott zu ehren, um Gott zu feiern braucht es keine opulenten Opferszenarien, die in prachtvollen Bauwerken vollzogen werden. Es genügen Menschen, die irgendwo Brot und Wein miteinander essen und trinken in dankbarem Gedenken an das Geschenk, das den Menschen in dem Mitmenschen Jesus von Nazaret zuteil wurde.

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Bedauerlich ist, dass im Laufe der Geschichte, ab dem 4. Jahrhundert, aus dem schlichten Miteinander-Mahl-Halten im Gedächtnis an das Abendmahl Jesu ein Gottesdienst geworden ist, bei dem das Eigentliche, das Mahl, in den Hintergrund gedrängt und überlagert wurde von einem, bei festlichen Anlässen ins Pompöse gesteigerten Zeremoniell (römisch-katholische Kirche und Orthodoxie) oder angehängt und in die Ecke gedrängt von einem wortlastigen Ritual, jeweils geleitet von einer dafür allein bevollmächtigten Männerriege, die erst im letzten Jarhundert in den Kirchen der Reformation auch für Frauen geöffnet wurde. Erst heute besinnt man sich wieder mehr auf die Ursprungssituation und versucht, das Mahl als solches wieder in den Mittelpunkt zu stellen und den Gottesdienst selbst stärker als Mahl-Geschehen zu profilieren. Historische Entwicklungslinien Von der „Danksagung“ zum „Opfer“ Auf die Tatsache wurde schon hingewiesen, dass im Zusammenhang mit der „Konstantinischen Wende“ die Bischöfe zu Staatsdienern avancierten, deren vornehmste Aufgabe es war, zum Wohl des Staates der Gottheit Opfer darzubringen. Zu diesem Zweck wurde die Eucharistie „umfunktioniert“. Sie wurde nicht mehr als dankbares Gedenken für die Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten und Auferweckten gesehen, sondern als die unblutige „Erneuerung“ des „Kreuzes-Opfers“ Jesu zur „Versöhnung“ für die „Sünden der vielen“. Das Wort „Opfer“ ist wahrscheinlich entlehnt vom lateinischen „operari“ (= werktätig sein, arbeiten). Im sakralen Bereich erhält das Wort dann die Bedeutung: Der Gottheit durch ein Werk, durch Mühe, durch Arbeit einen Dienst erweisen. Möglich wäre auch eine Ableitung vom lateinischen „offere“ (= darbringen, entgegenbringen, hingeben). Die religiöse Bedeutung wäre dann ähnlich: Eine rituelle Handlung vollziehen, durch die der Gottheit eine Gabe dargebracht wird. Im Opfer gibt der Mensch etwas von sich her. Aber das Weggegebene löst sich nicht ganz von seinem früheren Besitzer; es stiftet vielmehr eine Beziehung, eine Verbindung zwischen dem neuen Eigentümer und dem vorhergehenden. Der Beschenkte soll an den Schenkenden gebunden werden. Er soll sich verbindlich zeigen. Je größer und je wertvoller die Opfergabe ist, desto stärker ist die bindende Wirkung, die sie auf den Empfänger ausübt, desto eher darf der Schenkende mit Rücksichtnahme, Huld und Entgegenkommen des Beschenkten rechnen. Darum erscheint das Opfer vor allem notwendig, wenn man von der Gottheit etwas erhofft, was man sich selbst nicht erarbeiten kann, was aber dennoch für die Sicherung der eigenen Existenz von größter Wichtigkeit ist: Eine reiche Ernte, Glück bei der Jagd, günstigen Wind bei der Seefahrt, Sieg über die Feinde. Die Verbindung, die durch das Opfer geknüpft wird, vermittelt ein Gefühl der Sicherheit. Je mehr man gibt, desto mehr wird man empfangen. Da es aber auch böse Mächte gibt, dürfen diese nicht vergessen werden. Auch sie müssen mit einer Gabe bedacht werden. Und die darf kaum geringer ausfallen als das Opfer für die guten Mächte, sonst könnte es sein, dass jene eifersüchtig werden. Und dann wird die Sache nur noch schlimmer. So schaukeln sich die Opfergaben für die

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guten und für die bösen Mächte gegenseitig immer höher. Sie reichen schließlich bis zum Kostbarsten, was Menschen geben können, bis zum Menschenopfer. Dieses archaische Denken ist keineswegs überwunden. Es reicht bis in unseren profanen Sprachgebrauch und in unsere Lebensgewohnheiten hinein. Da sprechen wir von „Opfern“ im Zusammenhang mit Krieg oder Straßenverkehr. „Opfer“ kann hierbei zweierlei Bedeutung annehmen: Opfer des Krieges bzw. des Straßenverkehrs oder Opfer für den Krieg bzw. für den Straßenverkehr. Wir sagen, der Krieg habe schwere Opfer verlangt, der Straßenverkehr fordere täglich neue Opfer, als ob Krieg oder Straßenverkehr ein blutrünstiger Moloch sein, dem man Opfer – Menschenopfer – darzubringen habe. Auch die Schriften des Alten Testaments berichten von Opfern. Sie stellten für Israel die kultische Äußerung seiner Hingabe an Jahwe, den souveränen Herrn über alles Leben, dar. Die Opfergaben konnten blutige und unblutige, tierische und pflanzliche sein. Sie hatten bestimmten Reinheitsvorschriften zu entsprechen und durften nur von der dazu privilegierten Priesterschaft dargebracht werden. Bei den so genannten „Schlachtopfern“ wurde ein Teil des Opfertieres von einer Mahlgemeinschaft verzehrt – Ausdruck für die von Gott durch das Opfer gewährte Bundesgemeinschaft, die auch unter den Menschen Gemeinschaft bewirkt. Die Opferpraxis gab allerdings vielfach Anlass zu harter Kritik. Vor allem die Propheten polemisierten gegen einen Opferkult, bei dem der Mensch nur etwas Äußerliches tut, nicht aber sich selbst in dieses Tun hineingibt. Sakrales und profanes Handeln stehen in krassem Gegensatz zueinander: „Liebe will ich, nicht Schlachtopfer; Gotteserkenntnis statt Brandopfer“ (Hos 6,6). In der Zeit des babylonischen Exils (589–538 v. Chr.), als der Tempel in Jerusalem zerstört war, bekam der Akzent personaler Hingabe beim Opfer stärkeres Gewicht. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass blutige Opfer an Gott, wie sie ja zur Zeit des Exils ohnehin gar nicht möglich waren, im Grunde ein Unding darstellen, weil der Schöpfer des Lebens nicht durch die Vernichtung eben dieses von ihm geschaffenen Lebendigen geehrt werden kann. Literarischer Ausdruck für das neue Denken sind die Gottesknechtslieder bei Deutero-Jesaja. Sie sprechen von einer idealen Gestalt, die für andere gelitten hat, die für andere getötet und darum von Gott erhöht wurde (vgl. Jes 42,1–4; 49,1–6; 50,4–9; 52,13–53,12). Mag auch das alttestamentliche Opferverständnis zunächst an der Praxis der umliegenden Völker anknüpfen, es weist doch von Anfang an eine starke Tendenz in Richtung auf Personalisierung und Relevanz für die Gemeinschaft auf. Es lag nahe, dass gerade dieser Gedanke der stellvertretenden Hingabe von der Urkirche aufgegriffen wurde, um den Kreuzestod Jesu zu deuten: Beim letzten Mahl mit seinen Jüngern habe Jesus von seinem Sterben als von einem Blutvergießen „für viele“ (= alle) gesprochen (Mk 14,24 par.), sein Tod wird als „Gabe und Opfer“ (Eph 5,2) verstanden. Dieses „Opfer“ ist einmalig und unwiederholbar. Es ist „ein für allemal“ geschehen (Hebr 7,27; 10,10). Es kann lediglich in dankbarer Erinnerung vergegenwärtigt werden. Das eucharistische Mahl ist in diesem Sinne „Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Jesu“, weil das Abendmahl Jesu die vorwegnehmende Vergegenwärtigung seines Todes war. In diesem Sinn ist auch das eucharistische Mahl der Kirche eine erinnernde Ver-

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gegenwärtigung dieses Todes. Jesus hat sich selbst zur Opfergabe gemacht. Seine liebende Hingabe an den Vater bis zum Tod am Kreuz ist das einmalige und unüberbietbare Opfer des Neuen Bundes. Eucharistie ist nichts anderes als die Wirklichkeit dieses Opfers in der Gestalt dankbaren Gedenkens. Wer an dieser „Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers Jesu“ im eucharistischen Mahl teilnimmt, kann es nur in der Bereitschaft tun, wie Jesus zu handeln: „Sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn, bis er kommt“ (1 Kor 11,26). „Verkünden“ heißt: Sich selbst in das hingabebereite Handeln Jesu „für alle“ hineingeben. Eucharistisches Mahl und christliches Handeln, Kult und Leben dürfen nicht auseinanderfallen. Die Rede vom Opfercharakter der Eucharistie kann nur bedeuten: Dankbares Erinnern an die unbedingte Hingabe und Treue des „Gottessohns“ Jesus, dem Christus, und Ausdruck unserer Bereitschaft zur Nachfolge – mit allen Konsequenzen. Diese Bereitschaft führt für den Durchschnittschristen nicht schon zum Märtyrertod. Aber sie verlangt ein klares und unmissverständliches Ja zu den vielen kleinen Toden des Alltags, die da heißen: Rücksichtnahme, Verzicht, Vergebung, Dienst, Nächstenliebe, „Widerstehen bis aufs Blut“ (Hebr 12,4). Auch die lutherische Reformation bejahte die Deutung des Abendmahls als Dankopfer für das im Sakrament gegenwärtige Kreuzesopfer. „Dieses Dankopfer ist Ausdruck des Glaubens und geschieht in der Weise, ,dass wir mit Christus opfern, das ist, dass wir uns auf Christus legen mit einem festen Glauben an sein Testament und nicht anders mit unserem Gebet, Lob und Opfer vor Gott erscheinen, als durch ihn und seine (Heils-)Mittel und nicht daran zweifeln, er sei unser Pfarrer und Pfaff im Himmel vor Gottes Angesicht‘. Das so verstandene ‚eucharistische Opfer‘, das von den Versöhnten im Glauben vollzogen wird, äußert sich in Dank und Lob, in Anrufung und Bekenntnis Gottes, im Leiden und in allen guten Werken der Gläubigen. Dies sind die Opfer, die in der refomatorischen Lehre im Anschluss an 1 Petr 2,5 und Röm 12,1 besonders betont werden“ 125. Das „Lima-Papier“ erwartet daher: „Im Licht der biblischen Vorstellung des Gedächtnisses (Memorial) könnten alle Kirchen die historischen Kontroversen über das ‚Opfer‘ neu überdenken und ihr Verständnis der Gründe vertiefen, warum die jeweils anderen christlichen Traditionen diesen Begriff entweder verwendet oder abgelehnt haben“ 126. Von der Gemeinschaft mit dem Auferweckten zum „Essen seines Fleisches“ und „Trinken seines Blutes“ Obwohl zumindest im markinischen und matthäischen Text über das Abendmahl nicht die Elemente Brot und Wein (bzw. Kelch; Wein wird gar nicht erwähnt) im Mittelpunkt des Interesses stehen, sondern der ganze Vorgang des Brotbrechens und des Trinkens aus einem Kelch, und obwohl das Wörtchen „ist“ („Das ist mein Leib – mein Blut“) in dem von Jesus vermutlich gesprochenen Aramäisch gar nicht vorkommt, konzentrierte sich das Interesse sehr bald auf die Frage nach der Art und Weise der Gegenwart Jesu in Brot und Wein. Die Frage, „was“ in der Eucharistie geschieht bzw. geschehen soll, wurde zweitrangig gegenüber der Frage nach dem „wie“ der Gegenwart Jesu bei diesem Mahl. Ist sie krass-realistisch und materiell aufzufassen? Ist sie eher personal-erinnernd zu verstehen – etwa wie die Gegenwart eines Menschen, des-

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sen Bild ich in der Hand halte? Ist eine symbolische Gegenwart gemeint – Brot, das zur Nahrung für andere dient, als Symbol der Lebenshingabe Jesu für die Menschen? Was bleibt von dem Brot und dem Wein, nachdem sie „Leib“ und „Blut“ Christi geworden sind? Für nicht wenige Menschen von damals (und heute) bedeuten diese Fragen eine nicht geringe Glaubensschwierigkeit und sind Anlass zu quälenden Zweifeln. Paulus sieht im Abendmahl eine „Teilhabe am“ bzw. „Gemeinschaft mit“ dem „Blut“ bzw. dem „Leib Christi“ (griech.: koinonia; 1 Kor 10,16 f.). Damit meint er vermutlich eine reale Partizipation der Gläubigen an der Macht und den Segenskräften Christi. Für die Beschreibung dieser „Realpräsenz“ und um den inzwischen weit verbreiteten Missverständnissen und Fehldeutungen zu begegnen, wurde unter Zuhilfenahme von Begriffen zeitgenössischer Philosophie um die Mitte des 11. Jahrhunderts eine Lösung gefunden, die im Prinzip bis heute offizielle katholische Lehre geblieben ist: Die irdischen Substanzen werden umgewandelt in das Wesen des Herrenleibes, während ihre äußeren Gestalten erhalten bleiben. Das Konzil von Trient (1545–1563) griff auf diese Formulierungen zurück: 1. Mit Brot und Wein geschieht eine Wandlung (conversio). 2. Die Gestalten (species) von Brot und Wein bleiben bestehen. 3. Dieses Geschehen wird „sehr treffend“ als „Wesensverwandlung“ bezeichnet (aptissime transsubstantiationem appelatur) 127. Die Konzilsteilnehmer verstanden unter „Substanz“ etwas anderes als wir heute. Sie bedienten sich der Begriffssprache der aristotelisch-scholastischen Philosophie, ohne sie allerdings ebenfalls zum Dogma zu erheben (daher: „angemessenst“; d. h. man kann – nach Ansicht des Konzils – auch in anderen, weniger „angemessenen“ Begriffen dieselbe Wahrheit ausdrücken). „Substanz“ ist in diesem Denksystem keine Aussage über die physische, experimentell feststellbare Beschaffenheit von Brot und Wein, sondern meint die meta-physische Wirklichkeit, das, was „hinter“ bzw. „unter“ den Dingen, „hinter“ bzw. „unter“ der Materie „steht“ (lat. sub-stare). „Verwandlung der Substanz“ sagt also nichts aus über die materielle Beschaffenheit von Brot und Wein vor und nach dem Sprechen der Deuteworte. Brot und Wein bleiben physisch-chemisch Brot und Wein. Was das Konzil meint, lässt sich vielleicht so umschreiben: Alle Dinge, die der Mensch für sein Leben braucht und benutzt, stellt er in einen ganz bestimmten Bezugsrahmen. Dieser macht das eigentliche „Wesen“ der Dinge aus. Im Bezugsrahmen „Mahl“ ist das Brot ein Nahrungsmittel, im Bezugsrahmen „Chemie“ stellt es ein Konglomerat von Kohlehydraten und Eiweißen dar, im Bezugsrahmen „Arbeit“ meint es ein Kulturprodukt. Dieser Bezugsrahmen kann durch menschliche Verfügung geändert werden. 128 Der neue Rahmen „verwandelt“ das Ding. So können zusammengenähte Tücher in schwarzer, roter und goldener Farbe als Dekorations- oder Kleiderstoff, als Putzlappen oder Sonnenschirm verwendet werden. Verfügt aber eine staatliche Autorität, dass rechteckig geformte Tücher in der Kombination dieser drei Farben als Hoheitszeichen anzusehen sind, dann werden Tücher in dieser Zusammenstellung etwas anderes, als sie bisher waren. Kraft des schöpferischen und bestimmenden Wortes dafür autorisierter Menschen erfährt der Stoff eine „Wandlung“. Er erhält ein neues „Wesen“. Er repräsentiert nun einen Staat, er lässt eine ganze Nation „gegenwärtig“ werden.

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Wer allerdings von dieser Verfügung nichts weiß, für den bleibt die Fahne ein Tuch; ein Hund, der eine Fahne erwischt und sie zerreisst, will und kann damit nicht den Staat verunglimpfen. Auch Jesus, so könnte man sagen, hat beim letzten Abendmahl durch sein Wort über Brot und Wein diese „Substanzen“ in einen neuen Bezugsrahmen gestellt und ihnen eine neue Sinngebung verliehen. Sie sind zu seinem „Leib“ und seinem „Blut“ geworden. In den sinnenhaften Zeichen von Brot und Wein ist die sich uns mitteilende und schenkende Liebe Jesu derart „verkörpert“, dass unter diesen Gestalten er selber in seiner Hingabe für uns gegenwärtig wird. Darum bekennt die Kirche „Christi reale, lebendige und handelnde Gegenwart in der Eucharistie […] Viele Kirchen glauben, dass durch diese Worte Jesu (‚Das ist mein Leib – das ist mein Blut‘ ; N. S.) und durch die Kraft des Heiligen Geistes Brot und Wein der Eucharistie in einer wirklichen, wenngleich geheimnisvollen Weise der Leib und das Blut des auferstandenen Christus werden […] Einige andere Kirchen bejahen zwar eine wirkliche Gegenwart Christi in der Eucharistie, doch sie verbinden diese Gegenwart nicht so bestimmt mit den Zeichen von Brot und Wein“ 129. Ein wenig beachtetes, aber ökumenisch höchst bedeutsames Ereignis ist in diesem Zusammenhang die im Jahre 2001 aufgenommene Eucharistiegemeinschaft zwischen den mit der römisch-katholischen Kirche verbundenen Kirche der Chaldäer und der „Heiligen Apostolischen und Katholischen Assyrischen Kirche“, die ein eucharistisches Hochgebet verwendet, in dem die so genannten Einsetzungsworte „Das ist mein Leib – das ist mein Blut“ nicht vorkommen. 130 Dieses Gebet wird damit von Rom indirekt anerkannt. Die Motive dafür sind nicht bekannt. Es ist allerdings kaum anzunehmen, dass sie auf eine grundlegende Neubesinnung des Abendmahlverständnisses infolge der Erkenntnisse der neueren Exegese zurückzuführen sind. Gottesdienste auf der Schwelle Vor fünfzig Jahren, 1964, schrieb der Theologe Romano Guardini in einem Brief zum 3. Liturgischen Kongress in Mainz: „Sollte man sich vielleicht zu der Einsicht durchringen, der Mensch des industriellen Zeitalters, der Technik und der durch sie bedingten psychologisch-soziologischen Strukturen sei zum liturgischen Akt einfach nicht mehr fähig? Und sollte man, statt von Erneuerung zu reden, nicht lieber überlegen, in welcher Weise die heiligen Geheimnisse zu feiern seien, damit der heutige Mensch mit seiner Wahrheit in ihnen stehen könne?“ 131 In der Tat: Auch getaufte Christen können mit der tradierten Form der Sonntagsliturgie in ihren Kirchen häufig nichts mehr anfangen. Sie fühlen sich nicht angesprochen. Die vielen frommen Worte erscheinen ihnen nichtssagend, die liturgische Handlung unverständlich. So werden die Kirchen immer leerer. Die Zahl der Eltern, die ihre Kinder taufen lassen, nimmt stetig ab. Immer mehr Menschen treten aus den Kirchen aus. Andererseits gibt es noch immer überfüllte Kirchen- und Katholikentage, die großen Jugendtreffen der Bruderschaft von Taizé, mit ihrem vielfältigen, oft Stunden dauernden Angebot an Kult und Liturgie oder den jährlich stattfindenden „Weltjugendtag“ in der katholischen Kirche mit Tausenden von Teilnehmern aus aller Welt. Guardinis Frage ist heute so aktuell wie damals. Und die Antworten darauf schwanken

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zwischen resignierender Zustimmung, schlichter Ignorierung und differenzierender Nachdenklichkeit. Zuerst wird man sich wohl fragen müssen, ob kultisches Handeln grundsätzlich zum Menschsein gehört oder ob es gleichsam angelernt ist. Schon hier fallen die Antworten unterschiedlich aus. Die einen sagen: „Die Fähigkeit zum Kultus ist nicht naturhaft (etwa genetisch) gesichert, so dass man sich darauf verlassen könnte, dass sie, wenn sie geschwunden zu sein scheint, aus den Tiefen des menschlichen Wesens wieder aufbrechen werde. Die Fähigkeit zum Kultus muss erworben werden.“ 132 Andere vertreten die Ansicht, dass „irgendeine Art von Kult für den Menschen wesenhaft ist […], dass der Mensch durch ihn zu sich selbst kommt.“ 133 Zahlreiche Seelsorger erleben heute Fähigkeit und Unfähigkeit zum Kult nahezu gleichzeitig: „Ich feiere heute Gottesdienste, in denen ich eine viel größere Unfähigkeit und Unsensibilität zur Mitfeier spüre. Ich feiere Gottesdienste, in denen ich eine viel größere Lebendigkeit und Tiefe im Mitvollzug der Teilnehmer und darum auch selber eine größere Betroffenheit erfahre.“ 134 Es scheint so zu sein, dass es keine grundsätzliche „Unfähigkeit zum Kult“ gibt, sondern eine relative, nur auf eine bestimmte Form des Kults bezogene. Diese Vermutung wird gestützt durch die Tatsache, dass im nicht-kirchlichen Raum die Sehnsucht nach „Kult“ und nach „kultischer“ Feier ungebrochen ist. Man denke nur an die spontan aufbrechende kultische Verehrung der Stars und Starlets, an den in jüngster Zeit bei Neonazis, Ultra-Rechten und (kirchlichen) Fundamentalisten erschreckend wiedererwachenden und sich steigernden „Führer-“ bzw. „Personen-Kult“, an „KultFilme“ und an „Kult-Stücke“ wie manche Musicals. Offenbar brauchen die Menschen den Kult. Und wenn sie ihn, ihrem Geschmack entsprechend, in den Kirchen nicht mehr finden, suchen sie ihn sich anderswo. Wenn sie sich in die offizielle kirchliche Liturgie nicht mehr einbringen können, schaffen sie sich selbst jene Liturgie, die ihren Bedürfnissen und Sehnsüchten am ehesten entspricht, die ihnen etwas sagt, die sie betroffen macht. Angesichts dieser Situation empfiehlt sich für die Kirchen eine doppelte Vorgehensweise: Zum einen müssen bei den Heranwachsenden in verstärktem Maße die elementaren Grundlagen für religiöses Sprechen und Handeln geschaffen bzw. verstärkt werden. Erfreulicherweise geschieht das inzwischen vielfach, etwa in dem breiten Feld der Symboldidaktik. Denn Liturgie ist symbolisches Handeln. Hinführung zur Liturgie geschieht in den Elementen Spiel, Fest und Feier. Wer nicht gelernt hat, mit Symbolen umzugehen, kann mit der Liturgie nicht viel anfangen. Hier wäre übrigens auch für Erwachsene noch manches nachzuholen. Zum anderen muss eine wirkliche Erneuerung und eine wirksame Verlebendigung der Liturgie ernsthaft und entschlossen (nicht nur) von den in den Kirchen dafür Verantwortlichen angestrebt werden. Dabei steht an erster Stelle eine stärkere Mitbeteiligung aller Teilnehmenden an der Liturgie. In zahlreichen Kirchen, vor allem in den neuen Bundesländern, werden heute „niederschwellige“ Formen des Gottesdienstes für Fernstehende, für Suchende, für Enttäuschte angeboten: Segnung für Paare am Valentinstag, Literaturgottesdienste,

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Gedenkgottesdienste mit Studierenden zum Abschluss eines Anatomiekurses, der Aschermittwoch der Künstler oder musikalische Andachten rund um den Weihnachtsmarkt, „Scherbengottesdienste“ für Menschen in Scheidung, die Walpurgisnacht als Frauen-Liturgie, Filmgottesdienste, die „Thomasmesse“ für Zweifelnde und Suchende, die Messe „Find-Fight-Follow“ mit Jugendlichen in Wien, Nachteulengottesdienste, „Feier der Lebenswende“, wie sie vor einigen Jahren erstmals in Erfurt angeboten wurde für Jugendliche, die weder zur inzwischen von der Humanistischen Union fortgeführten „Jugendweihe“ noch zur kirchlich offerierten Firmung oder Konfirmation gehen wollen – die Reihe lässt sich leicht erweitern. Solche rituellen „Angebote“ verlangen eine gute und oft sehr zeitintensive Vorbereitung. Sie müssen im Wortsinn „anspruchs-voll“ sein. Ein Ausverkauf der christlichen Botschaft hilft weder den Menschen „an der Schwelle“ zur Kirche noch der Kirche selbst. „Mir sind alle Konzepte von Niederschwelligkeit in der Sprache, in den Gesten, in den Bauten verdächtig. Die säkulare Gesellschaft braucht nicht die Anpassung der Kirchen, sondern ihre Fremdheit, ihre Besonderheit und ihre Klarheit. Die eigene Kenntlichkeit ist die Kirche einer unkenntlichen Gesellschaft schuldig.“ 135

7. Firmung und Konfirmation a) Ursprünge und Bedeutung

In den ersten christlichen Jahrhunderten wurden bei der Eingliederung Erwachsener in die Glaubensgemeinschaft Taufe und das, was wir heute als „Firmung“ bezeichnen, in einem zusammenhängenden Ritus gespendet. Diese „Firmung“ galt als „postbaptismale Salbung“ (= Salbung nach der Taufe). Sie sollte wohl im Anschluss an die Aussage vom „königlichen Priestertum“ (1 Petr 2,9) und die Praxis der Königssalbung auf die in der Taufe empfangene Würde der Gotteskindschaft hinweisen. Ansätze zu einer eigenen Geistmitteilung nach der Wassertaufe gab es vereinzelt in der lateinischen Kirche im Zusammenhang mit Nottaufe und Ketzertaufe. Wenn die bereits (durch einen „Laien“ oder einen „Ketzer“) Getauften zum Bischof kamen, legte er ihnen die Hände auf zum Zeichen der nun erst erfolgenden vollgültigen Aufnahme in die Kirche. 136 Dieser eigene Ritus galt als die dem Bischof vorbehaltene Vollendung der Taufe. 137 Mit der karolingischen Reform im 9. Jahrhundert wurde die Abspaltung dieses Ritus von der Taufe allgemein üblich und anerkannt. Salbung und Handauflegung wurden zu einem Doppelritus zusammengezogen. 138 Nachdem die Trennung vollzogen und aus den „Teil-Sakramenten“ ein selbstständiges „Voll-Sakrament“ geworden war, machten sich die Theologen daran, diese Handlung theologisch zu begründen und biblisch zu untermauern. Sie griffen dabei auf Texte aus dem Neuen Testament zurück, die davon erzählen, dass etwas in der Taufe schon Grundgelegtes durch den Ritus der Handauflegung verstärkt wird. So berichtet die Apostelgeschichte, dass Petrus und Johannnes nach Samaria geschickt werden, damit die dortigen Jünger den heiligen Geist empfangen, „denn er war noch auf keinen

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von ihnen herabgekommen; sie waren nur getauft auf den Namen des Herrn Jesus. Dann legten sie ihnen die Hände auf und sie empfingen den heiligen Geist“ (Apg 8,16–17; vgl. auch Hebr 6,1–6). b) Firmung

Die katholische Theologie sieht heute in der Firmung das „Sakrament des Erwachsenwerdens“ 139. Zwei Aspekte werden dabei vor allem hervorgehoben:  Der (als Säugling) Getaufte erhält nun als Erwachsener und mündig Gewordener die Gelegenheit, ein persönliches, eigenverantwortetes Ja zu dem Glauben zu sprechen, den er als Unmündiger von den Eltern übereignet bekam.  Der Bischof (oder ein von ihm bevollmächtigter Priester) bestätigt mit der Handauflegung, dass der Gefirmte nun selbst ein Geistträger ist und alle Rechte und Pflichten eines erwachsenen, mündigen Christen in der Kirche ausüben darf und soll. Die Firmung gilt daher in diesem doppelten Sinn als das Sakrament der christlichen Mündigkeit. Diese bedeutet nach Immanuel Kant den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ 140. Etymologisch ist „mündig“ abgeleitet von dem mittel- und althochdeutschen Wort „munt“, das soviel bedeutet wie „(Rechts)schutz, Schirm“. Das Wort bekommt allerdings bald eine eher negative Bedeutung im Sinne von „Macht und Herrschaft ausüben, unterwerfen“. „Bevormunden“ heißt dann soviel wie „jemand an der freien Willensentscheidung hindern, gängeln“ 141. Mündigkeit besagt demnach: Sich von niemand (mehr) bevormunden lassen und sich seines Verstandes „ohne Leitung eines anderen“ bedienen. Ein in diesem Verständnis von „Mündigkeit“ gespendetes und empfangenes Sakrament der Firmung lässt Ansätze einer neuen Sicht von Christ-Sein und Kirche-Sein erkennbar werden. Das Zweite Vatikanische Konzil beschreibt die Kirche als „Volk Gottes“ und damit nicht mehr als eine Herde Unmündiger, die von ihren Hirten zu gängeln ist, sondern als eine Weg-Gemeinschaft Gleichberechtigter. In diesem Volk gibt es nicht auf der einen Seite die Vormünder und auf der anderen die Unmündigen oder Entmündigten. Alle zum Vernunftgebrauch gelangten Getauften sind wirklich mündige Christinnen und Christen. „Wir schenken uns gegenseitig den aufrechten Gang. Wo wir einander gegenseitig zum aufrechten Gang verhelfen, ist der Geist Gottes spürbar, erfahren wir aneinander und untereinander die Gnade Gottes: Wir kommen zu uns selber; Mündigkeit, in diesem Sinn verstanden, ist ein Geschenk“ 142. Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland hat 1974 für die Firmung ein Mindestalter von 12 Jahren empfohlen, zugleich aber auch zugestanden, „dass es weitgehend eine Ermessensfrage ist, wann die Firmung am sinnvollsten gespendet wird“ 143. Vielerorts ist man inzwischen dazu übergegangen, Firmbewerber frühestens nach Vollendung des 16. Lebensjahres anzunehmen. Wichtiger als

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das Firmalter sind gute Vorbereitung und Einführung in das Leben der Gemeinden sowie die ständige Firmerneuerung. 144 „Die Überlegungen müssen darauf gerichtet sein, wie man jungen Erwachsenen den Zusammenhang von christlichem Glauben und alltäglichem Leben aufzuschließen vermag, wie man auf die Erfahrungen der Firmbewerber und ihre Schwierigkeiten mit dem christlichen Glauben und der kirchlichen Praxis eingehen kann“ 145. c)

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Die Reformatoren lehnten die Firmung als Sakrament ab, weil sie die Taufe entwerte und weil sie nicht von Christus eingesetzt sei. 146 Stattdessen kam es schon 20 bis 30 Jahre danach in lutherischen Gebieten zur Entwicklung einer evangelischen Konfirmationsfeier. Drei Motive spielten dabei eine Hauptrolle: – der Katechismusunterricht, – die Vorbereitung auf den ersten Abendmahlgang, – ein abschließender Gottesdienst für die Kinder Im Gefolge der Aufklärung entwickelte sich im 18. und 19. Jahrhundert eine Art von Konkurrenz zwischen Säuglingstaufe und Konfirmation. Die Taufe galt nur noch als symbolischer Aufnahmeakt in die Kirche. Die Konfirmation hingegen galt als die förmliche Schließung des Taufbundes (wobei dem Gelübde entscheidende Bedeutung zukam), als Verleihung der kirchlichen Rechte und als Erklärung der bürgerlichen Mündigkeit, weil die Konfirmation zeitlich mit der Schulentlassung zusammenfiel. Diese überkommene Praxis ist heute fragwürdig geworden. Die neuere Diskussion sucht deshalb nach einer zeitgemäßen, theologisch verantworteten Form der Konfirmation. Dabei betonen die einen die persönliche Glaubensentscheidung des jungen Menschen, die anderen heben die Bitte um den Heiligen Geist und die Segnung hervor. Weithin gilt die Konfirmation – allen theologischen Beteuerungen zum Trotz – eben doch als eine Ergänzung der Säuglingstaufe, die man wegen der noch fehlenden persönlichen Entscheidung als unvollständig ansieht. Im Volk erfreut sich die Konfirmation großer Beliebtheit, sie wird festlich gestaltet und hat für viele die Bedeutung eines Eintritts in die Welt der Erwachsenen. Dadurch ist sie zum Teil verweltlicht worden. Für viele ist sie nicht der Schritt zur aktiven Teilnahme am Leben der Gemeinde. Deshalb verlangen andere Gruppen, dass die Konfirmation wieder ein echtes persönliches Bekenntnis zu Christus sein müsse; sie wünschen sich die Konfirmation als Aufnahme in den aktiven Gemeindekern. Andere meinen, der junge Mensch von 14 Jahren sei mit einer Glaubensentscheidung überfordert, und fragen daher: Soll man das Gelübde beibehalten? Ist es nicht ehrlicher, Konfirmation zu einer reinen Fürbitthandlung zu machen? Aus all diesen Fragen heraus kam es schon im 19. und erst recht im 20. Jahrhundert zu mannigfachen Reformversuchen:  Heraufsetzung des Konfirmationsalters auf etwa 18 Jahre, um eine echte „Kerngemeinde“ zu gewinnen. Die Zulassung zum Abendmahl soll auch erst bei dieser Konfirmation stattfinden.

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Vorverlegung der Konfirmation, um die Kinder früher zum Abendmahl zu führen und die Konfirmation von der Schulentlassung abzuheben.  Konfirmation ohne Bekenntnis und Gelübde, um die jungen Menschen nicht zu überfordern.  Aufteilung der Konfirmationsfeier in zwei oder drei voneinander getrennte Teilhandlungen: Abendmahlszulassung mit ca. zehn Jahren; Einsegnung mit 14 Jahren: Aufnahme in die aktive Kerngemeinde.  Verlagerung des Akzents von der Konfirmationsfeier auf den Unterricht und die Einübung in das Leben der Gemeinde.  Neue Betonung des seelsorgerlichen Charakters des Konfirmandenunterrichts und der Konfirmation.  Stärkere Mitbeteiligung der Eltern, unterstützt durch gezielte Elternabende. Alle Reformversuche stoßen dabei immer wieder auf das Problem der Volkskirche: Wie kann eine Kirche mit der Tatsache fertig werden, dass ein so großer Teil der Getauften und Konfirmierten am Leben der Kirche so wenig aktiv teilnimmt? Insgesamt gesehen erwies sich die Sitte der volkskirchlichen Konfirmation bisher stärker als die meisten Reformversuche. Nur wenige davon haben sich auf breiter Front durchgesetzt:  Eine gewisse Entflechtung der Konfirmationsfeier  Vereinfachung des Gelübdes oder gänzlicher Verzicht  Hereinnahme der Abendmahlsfeier in die Konfirmandenzeit  Verbindlichkeit der Teilnahme an einer Konfirmandenfreizeit.

8. Schuld und Rechtfertigung a) Gibt es überhaupt Schuldige?

Schuld bringt die Erfahrung zum Ausdruck, dass Menschen willentlich hinter ihren eigenen Lebensidealen und Handlungszielen zurückbleiben und dass sie ihren Mitgeschöpfen mit Absicht Schaden zufügen und sie so in ihrem Lebensmöglichkeiten behindern. Die Vorstellungen über das, was Schuld ist, wandeln sich im Lauf der Geschichte. Das wird besonders deutlich, wenn die nachrückende Generation das Wertesystem der vorhergehenden in Frage stellt (z. B. in der Sexualmoral). Der Wandel vollzieht sich aber auch innerhalb eines Lebens. Mit dem Übergang von einem Lebensabschnitt in den anderen, mit dem Wechsel der gesellschaftlichen Stellung, auch durch „Gehirnwäsche“ oder Ideologisierung kann sich die eigene Auffassung über das, was gut und böse ist, ändern. Verschiedene Gruppen in der Gesellschaft können unterschiedliche Schuldvorstellungen („Gruppenmoral“) entwickeln. Der Mord an einem Politiker, wie etwa am israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin, wurde von den meisten verabscheut, von einigen aber bejubelt. Nicht zuletzt haben auch Religion und Weltanschauung einen Einfluss auf die individuelle und gesellschaftliche Anschauung von Schuld. Was vor einigen Jahren als „gut“ und erstrebenswert galt (z. B. die Erziehung zum Gehorsam: „Ein gutes Kind gehorcht geschwind, genau und gern“), kann heute als „böse“, zumindest als fragwürdig gelten.

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Schuld, die aus dem Handeln gegen die eigene Überzeugung entsteht, wird von den meisten Menschen auch subjektiv als solche empfunden. Aber es gibt auch krankhaft empfundene Schuld, die aus infantiler Angst, aus zwanghafter Gesetzlichkeit oder aus depressiver Stimmung entsteht, der aber objektiv gar keine schuldhafte Handlung zugrunde liegt. Und schließlich findet sich auch das Gegenteil: Es gibt Menschen, die trotz aufweisbarer Schuld sich angeblich oder tatsächlich „keiner Schuld“ bewusst sind. Für Außenstehende ist es kaum möglich, mit Sicherheit festzustellen, ob sich ein Mensch subjektiv schuldig gemacht hat. Kann man bei einem vierjährigen Mädchen, das sein zweijähriges Brüderchen aus „Eifersucht“ ins Wasser stößt, von Schuld sprechen? Wie ist es aber, wenn ein Erwachsener mit einem ebenfalls Erwachsenen das gleiche tut? Liegt dann schuldhaftes Handeln vor? Was ist, wenn es im Spiel geschieht, aus Unachtsamkeit, in betrunkenem Zustand, im Streit (den vielleicht der andere angefangen hat), aus Notwehr, aus Eifersucht, aus Rache? Das Maß der Schuld oder der Unschuld ergeben erst die näheren Umstände. Ein und dieselbe Handlung kann schwer schuldhaft sein oder völlig frei von jeglicher Schuld. Schuld ist erst gegeben, wenn trotz aller unbezweifelbaren Determinierungen und Einschränkungen menschlicher Handlungsfreiheit und -fähigkeit ein gewisser, bei jedem einzelnen Menschen durchaus unterschiedlicher, individueller, im letzten von außen und sogar manchmal vom Handelnden selbst nicht exakt messbarer Raum für Entscheidungsfreiheit bleibt. Nur wer in Freiheit handelt, kann schuldig werden. Entscheidungsfreiheit verlangt wenigstens ein Minimum an Bewusstheit. „Wer schläft, sündigt nicht.“ Wer das Bewusstsein verloren hat, kann für das, was er in diesem Zustand angerichtet hat, nicht zur Rechenschaft gezogen werden, allenfalls für die Tatsache, dass er es so weit kommen ließ. Das Bewusstsein schiebt zwischen Reiz und Reaktion die Reflexion. Es schafft damit Abstand zwischen dem bewusstseinstragenden Subjekt und dem, was ihm widerfährt. Ein noch so geringfügiger Grad von Bewusstheit bewirkt die Möglichkeit, das beabsichtigte Handeln abzuwägen und es damit auf seinen sittlichen Wert hin zu überprüfen. Jeder Mensch beginnt sein Leben unbewusst und gelangt erst allmählich zur Bewusstheit und damit zur Verantwortlichkeit. Doch auch beim „Erwachsenen“ sind unterschiedliche Bewusstseinsgrade festzustellen. Kein Mensch vermag zu einer totalen Bewusstheit zu gelangen. Und damit bleibt auch die Verantwortlichkeit für sein Tun immer irgendwie begrenzt. Nicht selten meinen Menschen, etwas „Gutes“ zu tun; die Folgen ihrer Handlung erweisen sich aber eher als „böse“: „Er war ein großer Asket; seine Mitmenschen bekamen es zu spüren“ (Stanislaw Jerzy Lec). Aus der Sicht der Tiefenpsychologie gibt es weder das Böse noch das Gute. Es gibt lediglich Handlungen, die im allgemeinen Sprachgebrauch als „böse“ oder „gut“ bezeichnet werden. Jedermann weiß, dass die Verantwortlichkeit eines Triebtäters für seine „bösen“ Taten herabgesetzt, wenn nicht völlig aufgehoben ist. Dennoch kann das, was ihn getrieben hat, schwerlich als „gut“ bezeichnet werden. Die „böse“ Tat geschieht nicht selten ohne bewusstes Zutun des Täters. Die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie relativieren menschliche Schuld – und übrigens auch menschliche „Verdienste“. Sie zeigen, dass die Handlungen des Menschen – die „guten“ wie die „bösen“ – in großem Maße vom Unbewussten, vom „Es“, mitbestimmt und gesteuert werden: „Das Ich ist

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nicht Herr im eigenen Hause“ (Sigmund Freud). Oder, um Paulus zu zitieren: „Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will“ (Röm 7,19). Auch die Fortschritte in der Medizin haben die Frage nach der Schuldhaftigkeit menschlichen Handelns mit neuen Aspekten bereichert. Vieles, was bisher als moralisch schuldhaft bewertet wurde, ist durch das Versagen bestimmter Körperfunktionen bedingt – die Nerven spielen nicht mit, der Adrenalinspiegel ist gestiegen oder gesunken, die Hormonausschüttung über- oder unterschreitet das Soll. Es gibt ein schier unentwirrbares Ineinander und Miteinander von Freiheit und Unfreiheit, von Bewusstheit und Unbewusstheit, von Absicht und Gedankenlosigkeit. Ein Außenstehender wird sich kaum ein in jeder Hinsicht richtiges und zutreffendes Urteil über die moralische Zurechenbarkeit menschlichen Handelns zutrauen können (und dürfen). Nicht einmal der „schuldig“ Gewordene ist sich immer über die letzten Motive und die genauen Umstände seines Handelns im Klaren. Ein Richter spricht häufig subjektiv Unschuldige für schuldig. Es ist ein uralter Grundsatz der Moraltheologie, schon lange vor den Erkenntnissen der modernen Psychoanalyse formuliert, dass das natürliche Streben des Menschen auf das Gute ausgerichtet ist. Genauer: Auf das vom einzelnen als subjektiv gut Empfundene. Und das kann gänzlich gegensätzlich sein. Was dem einen sein Uhu, ist dem anderen sein’ Nachtigall. Die unentwirrbare Verflechtung des Bösen mit dem Guten zeigt sich auch daran, dass das Böse sich durch das Gute zu tarnen weiß. Wieviel Machtstreben und Geltungsdrang werden im öffentlichen Leben (den Akteuren wahrscheinlich häufig gar nicht bewusst) als „Wohltat für die Menschheit“ und in den Kirchen als „Gottesdienst“ ausgegeben! Wie eng Gut und Böse miteinander verbunden sind, zeigt sich auch in der Gesetzmäßigkeit des psychischen Gegenlaufs: Willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein. „Die größten Übel in der Welt sind nicht die Folgen böser Absichten, sondern die Folgen eines unbegrenzten Willens zum Guten“ (Gerhard Szczesny). Und nicht selten sind Gut und Böse geradezu vertauschbar. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht das Gleiche. Ein und dieselbe Tat kann von den einen als „gut“, von den anderen als „böse“ bewertet werden. Schuld, die jemand auf sich geladen hat, bleibt nicht ohne Folgen. Nicht selten ist der schuldig Gewordene geneigt, einer Bestrafung durch andere dadurch zuvorzukommen, dass er sich selbst richtet. Das kann durchaus unbewusst geschehen. Ein Kind, das irgendetwas angestellt hat und nun eine Strafe befürchtet, stößt sich an einem Möbelstück den Kopf blutig. Nun werden es die Eltern nicht mehr strafen, wenn es Schmerzen leidet und mit seiner Platzwunde schon genug gestraft ist. Was hier ohne wohlüberlegte Absicht geschehen ist, kann auch bewusst geplant und intendiert sein. Selbstbestrafung aus Schuldgefühlen und Schuldbewusstsein kann bis zum Suizid gehen. „Er hat sich selbst gerichtet“, so hört man dann sagen (ob zu Recht, sei dahingestellt). Das Bewusstsein, schuldig geworden zu sein, kann auch ängstlich und mutlos machen. Das Ganze könnte sich ja wiederholen; dann würde daraus eine noch größere Schuld erwachsen, weil man es ja hätte wissen müssen. Eine Erziehung, die Schuldigwerden als etwas absolut Verwerfliches und Verabscheuungswürdiges hinstellt und es sich als oberstes Ziel setzt, Menschen vor Schuld zu bewahren und sie in der „gottwohlgefälligen“ Unschuld ihrer Kinderzeit zu erhalten, führt nicht selten die davon Betrof-

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fenen zu Lethargie und Tatenlosigkeit. Aus lauter Angst, schuldig zu werden, tut man gar nichts – und wird damit schuldig. Denn auch Nichtstun kann Schuld bedeuten. Wer zu offensichtlichem Unrecht schweigt aus Angst, dabei mit jemandem in Konflikt zu geraten, lädt objektiv Schuld auf sich. Nicht selten lassen sich die Folgen schuldhaften Handelns gegenüber anderen beheben – durch Wiedergutmachung und Schadensregulierung, durch eine Ehrenerklärung, durch eine formelle „Entschuldigung“. Was geschehen ist, kann man zwar nicht ungeschehen machen. Wohl aber kann man das, was geschehen ist, nachträglich „anerkennen“ und bedauern. Erst durch diese Stellungnahme wird die Verfehlung als solche bestimmt. Sie kann dadurch geradezu eine Sinndimension erhalten. Schuld erscheint so als eine Realität, die sich erst in der Stellungnahme zu ihr vollendet. „Wer, schuldig geworden, sich von seiner Schuld nicht dadurch distanziert, dass er sich zu ihr bekennt, wird ein zweites Mal schuldig. Denn er ist nun dabei, entweder die Wahrheit oder die sittlichen Maßstäbe umzufälschen. Entweder verleugnet er die Tatsache seiner Tat oder die Geltung der sittlichen Normen, unter denen sie steht, oder […] die Tat und die Maßstäbe werden zwar abstrakt zugegeben, aber die Subsumption der Tat unter die Maßstäbe so vorgenommen, dass die Tat (oder Unterlassung) als unschuldig herauskommt. Auf das Prinzipielle hin gesehen, muss man sagen: Die nachträgliche Verfälschung von Schuld zu Unschuld vergiftet die moralische Substanz einer Gemeinschaft oft weit mehr als die einzelnen schuldhaften Vorfälle selbst, Schuld muss also bewältigt werden“ 147. Sich zu seiner Schuld bekennen, das heißt zunächst, sie nicht auf andere abzuschieben und sich von der Vergebungsbereitschaft der Geschädigten abhängig zu machen. Beides ist schwer zu lernen. Zwar gibt es im Augenblick so etwas wie eine allseits verbreitete Bereitschaft, „sich zu entschuldigen“ – der Papst und andere Kirchenvertreter tun das, Politiker tun es. Bedenklich ist allerdings die häufig dabei verwendete Formel: „Ich entschuldige mich“, statt: „Ich bitte um Entschuldigung“. Man kann sich von seiner Schuld gegenüber anderen nicht dadurch entledigen, dass man sich selbst „entschuldigt“. Es klänge wie eine Verhöhnung, wenn jemand sagen würde: „Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich soeben Ihr Kind überfahren habe.“ Ent-schuldigen kann ich mich allenfalls vor einem kalten Gesetz: Ich zahle die auferlegte Geldstrafe, und damit ist der Fall erledigt. Menschen aber, denen gegenüber ich schuldig geworden bin, muss ich um Entschuldigung bitten. b) Sind Adam und Eva an allem schuld?

Auf die grundlegende Störung der Gottesbeziehung, auf die „Sünde am Anfang“ (1 Joh 3,8), weist die kirchliche Lehre von der „Erbsünde“ hin. Zur Begründung beruft sich die römisch-katholische Theologie vor allem auf zwei biblische Texte: Die Erzählung vom Sündenfall im Ersten Buch Mose und die Adam-Christus-Typologie im Römerbrief.  In der Sündenfallerzählung (Gen 3) sieht der „Katechismus der Katholischen Kirche“ ein „Urereignis, das zu Beginn der Geschichte der Menschen stattgefunden hat“. 148 Die Exegeten sind sich heute freilich weitgehend darin einig, dass es sich beim Bibeltext um einen Versuch handelt, in anschaulicher Weise deutlich zu ma-

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chen, dass der Mensch von Anfang an Sünder ist und es bleiben wird. Die Erzählung ist ein Versuch zur Deutung eigener leidvoller Erfahrungen, die die Erfahrungen jedes Menschen sind – zu jeder Zeit und zu jeder Kultur. Der Text kann also in keiner Weise verwendet werden als Beleg für eine erste Sünde des ersten Menschen, die dann auf alle Menschen (durch Zeugung) übergegangen ist. Dies zeigt sich auch im übrigen Alten Testament, das an keiner Stelle die Sünde der Menschen auf Adam zurückführt.  Bei der Adam-Christus-Typologie (Röm 5,12–21) ist vor allem der Vers 12 von Bedeutung: „Durch einen einzigen Menschen (= Adam) kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten.“ Paulus teilt die jüdische Auffassung seiner Zeit, nach der der Sündenfall ein „historisches Ereignis“ ist. In „Adam“ sieht er den „alten Menschen“, durch den Sünde und Tod in die Welt kamen. Mit „Tod“ meint Paulus allerdings nicht einfachhin das biologische Ende des Lebens, sondern die Gottesferne, die „Verdammnis“ (vgl. Röm 5,18). Weil alle Menschen gesündigt haben (und noch immer sündigen und auch in Zukunft sündigen werden), wären sie der „Verdammnis“ anheim gegeben, wenn nicht Jesus, der „neue Mensch“, durch seinen Tod ihnen die Versöhnung geschenkt hätte (V. 10). Beide Texte wollen deutlich machen, dass alle Menschen seit Anbeginn der Geschichte Sünder sind und es bleiben werden. Allerdings läßt sich das Vorhandensein einer „Erbsünde“ aus der Sündenfallerzählung nicht ableiten. Diese Vorstellung wurde erst von Augustinus († 430) vor allem im Zusammenhang mit der Frage nach der Heilsbedeutung Jesu entwickelt. In der von „Adam“ herkommenden, gesamtgeschichtlichen Unheilssituation sieht Augustinus die „Schuld“ jedes einzelnen Menschen, noch bevor er überhaupt – als neugeborenes Kind – die Gelegenheit gehabt hat, persönlich zu sündigen. Diese „Schuld“ werde nicht durch individuelle Nachahmung übertragen, sondern durch „Zeugung“. Genauer: Durch die geschlechtliche Lust beim Zeugungsakt. Die gesamte Menschheit erscheint für Augustinus als „massa damnata“, als eine zur ewigen Verdammnis bestimmte Masse. Erst durch das Kreuz Christi und seine Gnade sei die Menschheit von dieser Verdammnis erlöst worden. Nur die Taufe bewirke die Befreiung von der „Erbsünde“. Diese Auffassung des einflussreichen Kirchenlehrers führte dazu, dass die bis dahin eher vereinzelt praktizierte Säuglingstaufe rasch allgemeine Verbreitung fand. 149 Die kirchliche Erbsündenlehre läßt sich in ihrer ursprünglichen Form heute nicht mehr vertreten. Nicht die Sünde bestimmt das anfängliche Schicksal des Menschen, sondern der allgemeine Heilswille und die Heilsgnade Gottes. 150 Darüber hinaus widerspricht die Annahme eines leidlosen, nicht dem Tod unterworfenen menschlichen Urzustands allen naturwissenschaftlichen Informationen über die biologischen Prozesse, aus denen der Mensch hervorgegangen ist. Die Naturwissenschaften sind sich weitgehend darin einig, dass die Gattung Mensch an verschiedenen Stellen der Erde nicht nur in vielen (ersten) Paaren, sondern sogar in vielen voneinander differierenden Stämmen entstanden ist. Für heutiges Denken unzumutbar erscheint auch die Vorstellung, dass die Schuld gleichsam etwas Materielles sei, das (durch Zeugung) vererbbar ist und in der Taufe getilgt („abgewaschen“) werden kann.

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Dennoch besitzt die Erbsündenlehre eine wichtige und unverzichtbare Funktion im Hinblick auf eine christliche Interpretation des menschlichen Daseins. Sie erinnert daran, dass „Heil“ nicht Ergebnis menschlicher Leistung oder „Werke“ ist, sondern ein Geschenk, das dem Menschen gnadenhaft zukommt. Niemand kann bestreiten, dass die Menschheit täglich-stündlich einem vielfachen Geflecht aus Mißverständnissen und Versäumnissen, Irrtümern und Unvermögen, Versagen und Unterlassung bis hin zu schuldhafter Fahrlässigkeit, böswilliger Zerstörung oder gar brutaler Vernichtungswut ausgesetzt ist. Das Individuum oder auch die Gesellschaft mögen noch so viele Kräfte für die Schaffung eines irdischen Heilszustandes investieren, das Ergebnis bleibt ungewiß und kehrt sich nicht selten sogar ins Gegenteil. Die Ideologie eines kommunistischen „Arbeiter- und Bauernparadieses“ führte zur „Diktatur des Proletariats“. Die Einführung eines islamistischen Gottesstaates hat meist Gewalt und Terror im Gefolge. Die vielfältigen Erfahrungen mit dem Zwangscharakter des Unrechts, der Unterdrückung und des Elends brachten die lateinamerikanische Befreiungstheologie dazu, von einer „sozialen“ oder „strukturellen“ Sünde zu sprechen. Die europäische Theologie widmete im Kontext der gesellschaftlichen und geistigen Tendenzwende der negativen Seite der menschlichen Existenz („Theologie nach Auschwitz“) neue Aufmerksamkeit. Man mag es drehen und wenden, wie man will: Jedes Neugeborene bekommt diese „Erblast“ zu spüren. Enttäuschungen, Verwirrungen, Schmerzen und Trauer werden ihm nicht erspart bleiben. Und es wird selber diesem unentwirrbaren Knäuel von Schuld und Sünde, von Dummheit und Gedankenlosigkeit, von Bosheit und Heimtücke durch eigenes Versagen neue Erblasten für die folgenden Generationen hinzufügen. Hier wird der Ort ansichtig, an dem die christliche Tradition den missverständlichen, aber wichtigen Begriff „Erbsünde“ entwickelt hat. Die sündige Situation, in der sich jeder Mensch vorfindet, ist nicht das Resultat eines blinden Zufalls oder eines Dualismus von miteinander im Kampf stehenden guten und bösen Mächten. Sie gründet vielmehr in der freien, geschichtlichen Tat von Menschen („Ursünde“, „Urschuld“). Wir sind einerseits damit vorgängig negativ bestimmt und ratifizieren andererseits diese Vorprägung durch unser eigenes Tun. Diese eigentlich intendierte theologische Aussage erscheint von grundlegender Bedeutung, um die Freiheit Gottes und des Menschen zu wahren. Die Erbsündenlehre, so missverständlich sie in ihrer überholten Begrifflichkeit zunächst erscheint, kann darum als eine „Theologie der Geschichte“ und als „Theologie der Befreiung“ verstanden werden.151 c)

Sich entschuldigen oder um Entschuldigung bitten?

Der schuldig Gewordene ist durch sein schuldhaftes Handeln in eine, wenn auch meist ungewollte Beziehung getreten zu einem anderen Menschen. Vor ihm hat er sich zu ver-antworten. Ent-schuldigung kann daher nur jener gewähren, dem gegenüber ich schuldig geworden bin, dem gegenüber ich mich zu verantworten habe. Ihm allein ist es überlassen, eine Ent-schuldigung anzunehmen oder abzulehnen. Dazu braucht es eine „Kultur der Vergebung“ 152. Von Schuld und Vergebung ist auch in der Bibel die Rede. Besonders deutlich im

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Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!“. Wer so spricht, fordert Gott auf, nur in dem Maße zu vergeben, wie er, der Sprechende, selbst zur Vergebung bereit ist. Und damit das auch niemand übersieht, wird noch ein Zusatz angefügt: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Mt 6,12.14; vgl. Lk 11,4 und Mk 11,25). Die Zusage der göttlichen Vergebung ist gebunden an die menschliche Vergebungsbereitschaft. Doch selbst wenn ich vom Kopf her entschlossen bin zu vergeben, schwelt in meinem Gefühl die Erinnerung an erlittene Kränkung und beschädigtes Leben nur allzu oft weiter. Vergeben kann ich, vergessen nicht. Wenn Vergebung aus der Tiefe gelingen soll, braucht es mehr als nur Entschlossenheit und Hochherzigkeit. Dann braucht es ebenso viel Geduld, und zwar Geduld mit mir selbst. Bischof Kamphaus schreibt dazu: „Der Schmerz erlittenen Unrechts darf nicht einfach geringgeachtet oder überspielt werden, er muss durchgelitten und durchgearbeitet werden. Nehme ich mir dazu die Zeit, so kann es sein, dass auf die erste wütende Empörung eine Phase der Stille kommt, in der ich mich frage, was dieser Schmerz in meinem Leben soll, wie ich mich zu ihm verhalten will, ob er als eine bleibende Quelle der Bitterkeit und der Trauer mein Leben vergiften soll. Und dann können sich weitere Türen auf tun: Durch diesen konkreten Schmerz kann ich hindurchstoßen auf den gemeinsamen Grund menschlichen Leidens, in die stumme Schicksalsgemeinschaft derer, denen durch fremde Übermacht, Bosheit oder auch nur Gedankenlosigkeit unnötiger und unsinniger Schmerz zugefügt worden ist – unsinnig, weil sie ihn nicht selbst verschuldet haben, nicht als Strafe verstehen können, sondern höchstens als Schicksal. Es kann auch die andere Frage auftauchen, warum das, was mir widerfahren ist, mich so tief verletzt. Vielleicht entdecke ich, dass die gegenwärtige Kränkung mich nicht deshalb aus der Bahn wirft, weil der andere besonders brutal auf mich eingeschlagen hat, sondern weil unter seinem Stoß eine sehr alte, nie verheilte Wunde wieder aufgebrochen ist: Eine Wunde, die mir in Jahren beigebracht wurde, in denen ich besonders schutzlos dem Wohlwollen weniger Menschen in die Hand gegeben war: meinen Eltern, meinen Geschwistern, Erwachsenen, die eine wichtige Rolle in meinem Leben spielten. Und dann rückt der, dem jetzt mein Zorn und meine Empörung gelten, mit den anderen zusammen, denen ich bislang nie offen zu zürnen gewagt habe. So werde ich mit dem dunklen Geflecht menschlicher Schuldgeschichte konfrontiert, im dunklen Gesetz, dass Böses immerfort Böses gebiert – wenn diese Unheilskette nicht irgendwann unterbrochen wird. Und so stehe ich vor der Frage, ob nicht jetzt dazu die Stunde sein könnte: Die Stunde der Heimsuchung in dem tiefen doppelten Sinn, den dieses Wort in der Bibel besitzt: Stunde des Schmerzes und Stunde der Gottesbegegnung, weil Gott mitten im Schmerz an mich herantritt, um mich zu heilen und durch mich die vielen, denen ich noch begegnen werde: Ein verwundeter Geheilter, der jetzt vergeben und vergessen kann, weil ihm Gott begegnet ist, der das Böse zum Guten wenden kann (vgl. Gen 50,20)“ 153.

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Vergebung lässt sich nicht zu erzwingen. Häufig besteht nach einer angenommenen Bitte um Vergebung vor allem auf Seiten des schuldig Gewordenen der dringende Wunsch, jetzt sollte sofort wieder alles so sein wie früher. Doch solche Eile, so verständlich sie sein mag, verhindert wirkliche Versöhnung, weil der Partner sich gerade darin überfahren und in seinem Schmerz nicht ernstgenommen fühlt. Aus allen gutgemeinten Worten hört er in seiner Verletztheit vor allem die Forderung heraus, nun müsse alles wieder wie vorher sein. Und an dieser Stelle verweigert er sich. Selbst wenn er mit dem Kopf dazu bereit wäre, – das Gefühl macht nicht mit. Der erlittene Schmerz, die erlebte Enttäuschung, die erfahrene Kränkung, aber auch die vielleicht nur mühsam abgerungene Vergebung müssen erst aufgearbeitet werden. Und das braucht eine Weile. Die durch schuldhaftes Handeln gestörte oder zerrisene und durch Vergebung wieder aufgenommene Beziehung muss erst wieder zum Leben erwachen. Dies ist ein Geschenk, wie das Leben selbst. Nicht nur für den, der die Vergebung empfängt, sondern auch für den, der sie gewährt. Darum gehören zur Versöhnung immer zwei, und beide bedürfen einander. Entzieht sich einer, so bleibt dem anderen nur die Trauer und die Not, allein damit fertig zu werden. Darum kann gerade an der zwischenmenschlichen Vergebung deutlich werden, dass sie, wo sie überhaupt gelingt, als ein „Wunder“ gelten muss, das letztlich Gott unter uns wirkt. 154 d) Kann die Kirche Schuld vergeben?

Solche Vergebung, zwischen Christen und im Namen Christi gewährt, ist keine Privatsache, sondern ein Ereignis, das auch die Gemeinde der Glaubenden, die Kirche, angeht: „Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten“ (Mt 18,19). Als das Sakrament zur Vergebung von Schuld gilt zunächst und zuerst die Taufe. „Taufe zur Vergebung der Sünden“ ist eine gängige Formel (vgl. Apg 2,38). Taufe ist Übernahme des Lebensschicksals Jesu und Eingliederung in die Gemeinde der Christen. Die ganze Gemeinde ist darum auch betroffen, wenn eines ihrer Glieder schwere Schuld auf sich geladen hat. Dann gilt die Regel: „Wenn dein Bruder sündigt, geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei Männer mit, denn jede Sache muss durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werden. Hört er auf sie nicht, dann sage es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner“ (Mt 18,15–17). Es ist also an ein stufenweises Vorgehen bei der Rückgewinnung des schuldig Gewordenen gedacht: Einzelgespräch – Gespräch vor Zeugen – Verhandlung vor der gesamten Gemeinde mit der Möglichkeit des Ausschlusses als letzter Konsequenz. Die Vollmacht, Sünde und Schuld zu vergeben, liegt letztlich bei der Gemeinde: „Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben“ (Joh 20,23; vgl. Mt 18,18). Der Jakobusbrief fordert seine Adressaten zum gegenseitigen Bekennen und Vergeben auf: „Bekennt einander eure Sünden und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet!“ (Jak 5,16). Bis in die Zeit des Kirchenvaters Augustinus (354–430) galt die Regel: „Die ganze Kirche bindet und löst die Sünden“ 155. Als die Gemeinden größer wurden, ließ sich

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diese Praxis nicht mehr durchhalten. Man übertrug die Vollmacht in zunehmendem Maße auf den Gemeindeleiter. Er konnte „binden und lösen“ (vgl. Mt 18,18 Mt 16,19). Ursprünglich wurde diese Form der öffentlichen Buße und Versöhnung nur verlangt, wenn ein Gemeindemitglied sich so schwer gegen das Ansehen der Gemeinde und die Verpflichtung zur glaubwürdigen und ernsthaften Nachfolge Jesu vergangen hatte, dass eine Buße im Rahmen der Umkehr und Erneuerung der Gesamtgemeinde – durch Gebet und Fasten, durch Almosen und Wiedergutmachung des angerichteten Schadens – nicht ausreichend erschien. Als derart schwere Sünden galten seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts: Glaubensabfall, Mord und Ehebruch. Die Möglichkeit einer reuigen Rückkehr wurde in diesen Fällen jedem Gemeindemitglied nur einmal im Leben gewährt. Wegen der äußerst harten Bußauflagen (jahrelanges Tragen von Bußgewändern, Nahrungsentzug, Verbot der ehelichen Geschlechtsgemeinschaft u. a.) verschoben immer mehr schuldig Gewordene ihre Buße bis ins hohe Alter. Ein Ausweg fand sich in einer Art von psychotherapeutisch-seelsorgerlicher Praxis, die etwa ab dem 6. Jahrhundert zunehmend üblich wurde. Der Sünder suchte die Aussprache mit einem als besonders fromm und vorbildhaft geltenden Menschen. Dabei wurden häufig auch Nicht-Ordinierte (bevorzugt Mönche) als „Beichtväter“ gewählt. Wer diesem „geistlichen Vater“ oder „Seelenarzt“ seine Sünden bekannt („gebeichtet“) hatte und sie ernsthaft bereute, erhielt von ihm eine im Vergleich zur früheren Praxis wesentlich leichter zu erfüllende Bußauflage und die „Lossprechung“. Buße und Versöhnung verlagerten sich damit von der Öffentlichkeit ins Private, von der Gemeinde-Seelsorge in die Einzel-Seelsorge. Die „Beichte“ wurde zum Synonym für das gesamte Bußverfahren. So blieb es in der römisch-katholischen Kirche bis in die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Da brach diese Praxis fast schlagartig weitgehend zusammen. Über die Ursachen lässt sich nur spekulieren: Wuchernder Formalismus, Missbrauch in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, mangelnde psychologische Kenntnisse der Priester, Infragestellung der kirchlichen Kompetenz. An eine „Wiederbelebung“ der „Beichte“ im herkömmlichen Stil ist auf absehbare Zeit nicht zu denken. In den Kirchen der Reformation ist – zumindest ansatzweise – eher eine gegenteilige Entwicklung zu beobachten. Martin Luther empfahl die Beichte noch als „allerheilsamstes Ding“. Auch in der „Confessio Augustana“ (1530) erscheint sie als „eigentliches Sakrament“. Aber die Reformatoren danach nahmen mehr und mehr Abstand. In jüngster Zeit gibt es, wenn auch (noch?) vereinzelt, Erneuerungsversuche, vor allem bei Ordensgemeinschaften, Bruderschaften oder bestimmten Gruppierungen. Eine Breitenwirkung ist allerdings kaum zu erwarten. Die Beichtwilligen sind längst in die Sprechstunden der Psychotherapeuten oder in Selbsterfahrungsgruppen abgewandert. e)

Die Rechtfertigung des Sünders

Die Lehre über die Rechtfertigung des Sünders darf wohl als der letztlich entscheidende Anlass für die abendländische Kirchenspaltung bezeichnet werden. Rund 450 Jahre später, am 31. 10. 1999, wurde von ranghohen Vertretern beider Kirchen in Augsburg feierlich die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ unterzeichnet, die zu-

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vor Beauftrage des Lutherischen Weltbundes und des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen in jahrzehntelanger Arbeit erstellt hatten. Damit wurde eine bedeutende Übereinstimmung in einer der fundamentalen christlichen Glaubensüberzeugungen erzielt. Vor allem in der evangelischen Lehrtradition kommt der Lehre von der Rechtfertigung eine zentrale Bedeutung zu. Der Mensch ist Sünder und kann sich sein Heil nicht selbst erwirken. Doch was niemand durch eigene Anstrengung und durch eigene Werke schaffen kann, das schafft Gott. Er sagt Ja zum Menschen, der sich von ihm abgewandt hat. Er hält ihm die Treue – trotz aller menschlichen Untreue. Er bewirkt die Rechtfertigung und das Heil des Menschen durch seinen Sohn Jesus Christus. Durch seinen Opfertod am Kreuz hat er die Menschen vor Gott gerecht gemacht – „gerecht dank seiner Gnade durch die Erlösung in Christus Jesus“ (Röm 3,24). Diese Gnade kann der Mensch sich nicht verdienen. Er kann sie nur im Glauben empfangen und dankbar annehmen: „Wir sind der Überzeugung, dass der Mensch gerecht wird durch Glauben, unabhängig von den Werken des Gesetzes“ (Röm 3,28). Aus diesem Glauben erwachsen Taten der Liebe. Letztlich ist es darum auch Gott selbst, der die „Früchte der Gerechtigkeit wachsen“ lässt (2 Kor 9,10). So wichtig die Konsenserklärung erscheint, so drängend stellt sich allerdings die Frage, ob hier nicht eine Schlacht von gestern geschlagen wurde. Sind die in der Rechtfertigungslehre verwendeten Begriffe (Gottes zürnende Gerechtigkeit, Opfer, Sühnetod, Gottessohn, Gnade) überhaupt noch verständlich? Paulus hat sie zumeist der alttestamentlichen Theologie entnommen, in der er aufgewachsen war. Er hat sie polemisch angewendet im Kampf gegen seine judaisierenden Gegner. Ohne eine hinreichende Kenntnis der Aussagen des Alten Testaments und des entsprechenden Kontextes der paulinischen Rechtfertigungs-Theologie bleiben die Begriffe leer und wirken auf heutiges Denken eher abstoßend. „Menschen, die durch die europäische Aufklärung gegangen sind, tun sich heute schwer mit der Argumentation des Paulus. Letztlich lugt dort immer noch der autoritäre Strafgott hervor, den viele Zeitgenossen einfach nicht mehr ernst nehmen können, selbst wenn er, oder gerade weil er Gnade vor Recht ergehen lassen will. Nicht die Gerechtigkeit Gottes ist das zentrale religiöse Problem heute, sondern die Frage: Wie kann ich erfahren, ob es Gott für mich gibt?“, so sieht es Peter Rosien in einem Kommentar zur Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung. 156 Es ist dann zu fragen: „Wie lässt sich diese Lehre vermitteln ohne Rückgriff auf die unbiblische Erbsündenlehre? Wie lässt sie sich aussagen ohne das grausame Schema von Gott, der seinen Sohn opfert bzw. opfern muss, um vergeben zu können? Wie lässt sich in ihrem Kontext von Gott so reden, wie es Jesus tat, von dem bedingungslos sünderliebenden Gott? Wie lässt sich diese Lehre verbinden mit einem christlichen Leben, das nicht neurotisierend immer wieder die eigene Nichtigkeit – sie drängt sich ohnehin von selbst auf – in den Vordergrund stellen muss?“ 157 Noch ein weiterer Aspekt ist gerade im Zusammenhang mit dem aufkommenden weltweiten Dialog christlicher Kirchen von Wichtigkeit. Die Zukunftsfähigkeit europäischer (Rechtfertigungs-)Theologie müsste sich gerade darin erweisen, dass in den Dialog auch andere, nicht europäische christliche Kirchen einbezogen und mitbedacht werden. „Wie könnte eine Rechtfertigungslehre im Kontext von Kirchen und Epochen

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aussehen, für die am Christentum andere Gesichtspunkte zentral sind (z. B. ‚Vergöttlichung‘ [hellenistische Kirche], ‚Bewährung‘ [syrische Kirche], ‚Heilung‘ [afrikanische Kirche], ‚Aufhebung der Zweiheit‘ [indisches Christentum], ‚strukturelle Befreiung‘ [Befreiungstheologie)?“ 158 Mit anderen Worten: Genügt es, einen Konsens in Fragestellungen zu erreichen, deren begleitende Motive, deren Hintergründe und deren Kontext nicht mehr nachzuvollziehen und zu vermitteln sind?

9. Engel und Teufel a) Engel

Engel spielen in der heutigen Verkündigung und im kirchlichen Leben kaum noch eine Rolle. Nur in einigen Randgruppen („Engelwerk“) stehen sie (noch) im Zentrum. Ganz anders sieht es in der modernen Profan- und Esoterik-Literatur aus. Dort haben sie seit der Jahrtausendwende geradezu Hochkonjunktur. In den Buchhandlungen werden prachtvolle, teuere Werke zu diesem Thema angeboten. Bücher boomen, im Internet gibt es unzählige Plattformen für engelhafte Geschäftigkeit. Schmuck, Accessoires, Ratgebern, Bekleidung, Lichtarbeiten, Trance-Channelling, Engel-Essenzen sind ebenso beliebt wie Meditation. Sogar Internationale Engelskongresse werden seit 2006 jährlich an wechselnden Orten ausgerichtet (2. 6. 2007 in Hamburg). Diese auffällige Engelgläubigkeit steht wohl im Zusammenhang mit einer „Suchbewegung nach einer ganzheitlichen Wirklichkeitsauffassung, in der alles mit allem ‚vernetzt‘ ist“ (U. Wolff). Die Engelthematik kann so durchaus zum Anknüpfungspunkt für ein Gespräch werden und dazu helfen, verschüttetes und vergessenes Erbe der jüdisch-christlichen Tradition neu zu entdecken. Die höchst unterschiedliche Bezeugung von Engeln in der Bibel erstreckt sich über einen Zeitraum von rund tausend Jahren. In den ältesten Schichten des Alten Testaments erscheint der „mal’eak Jahwe“, der „Engel Gottes“, manchmal geradezu synonym für Jahwe. So wird Gottes Transzendenz gewahrt und gleichzeitig eindringlich seine Aktivität deutlich gemacht. In der Bileamsgeschichte ist es einmal Gott, der spricht (Num 22,20), und gleich darauf ist vom Engel die Rede, der zu Bileam etwas sagt (Num 22,32). In der Abrahamsgeschichte „hört“ Gott, aber der „Engel Gottes“ spricht (Gen 21,17). In der prophetischen Literatur treten die Engel als Thronassistenen Jahwes auf (Jes 6; Ez 1,4–28; 10,8–17). In den jüngeren Schichten ist schließlich von Schutzengeln die Rede (Dan 3,49; Tob 5,1–17). Einerseits distanzieren Engel Gott von den Menschen, denn sie zeigen an, dass er für uns nicht direkt zugänglich ist. Sie schützen ihn vor allzu großer Zudringlichkeit. Niemand kann Gott sehen und am Leben bleiben (Ex 33,20). Andererseits überwinden sie diese Distanz und machen Gott menschennah. Himmel und Erde sind nicht zwei völlig getrennte Welten. Auch im Neuen Testament haben die Engel ihren Platz – als Boten zur Ankündigung der Geburt Jesu (Lk 1,26–38), als lobpreisendes „himmlisches Heer“ bei der Geburt (Lk 2,13–15), als dienstbare Geister des in der Wüste weilenden Jesus (Mk 1,13), als kraft-

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spendende Wesen vor dem Beginn der Passion (Lk 22,43), als Verkünder der Auferweckung Jesu. (Mt 28,2–8; bei Markus ist es übrigens ein „junger Mann“: Mk 16,5). Aber von „Engeln“ ist auch noch anderwärts die Rede. Denn „Engel“, abgeleitet vom griechischen „angelos“, heißt nichts anderes als „Bote“. Als „Engel“ wird Johannes der Täufer geschickt, um den Mann aus Nazaret anzukündigen (Mk 1,2.4). Als „Engel“ sendet Jesus seine Apostel vor sich her, um ein Quartier ausfindig zu machen (Lk 9,52 f.; im griechischen Urtext steht „angeloi“ bzw. der Akkusativ „angelous“). Von Engeln in Menschengestalt spricht auch der Hebräerbrief (Hebr 13,2). Selbst die Kräfte der Schöpfung können von Gott als seine Engel eingesetzt werden: „Du machst die Winde zu Boten (= hebr. malak) und loderndes Feuer zu deinen Dienern“ (Ps 104,4). Und schließlich sind auch die vier Ev-angeli-en nichts anderes als „gute“ (griech.: eu) Engel. Ob es Engel „gibt“ oder ob es sie „nicht gibt“, ist daher ein müßiger Streit. Die Bibel ist an einer näheren Bestimmung ihrer „Existenz“ oder ihres „Wesens“ nicht interessiert. Ihr „Wesen“ erfüllt sich darin, Bote zu sein. Daher sind sie für den Glaubenden nur insofern von Bedeutung als sie mit ihrer Botschaft auf Gott verweisen. Ihre „Existenz“ kann alles umfassen, was in Wort und Tat eine Botschaft von Gott vermittelt – jeder Mensch, Mann, Frau oder Kind, jedes Ding, jeder Vorgang, auch der scheinbar zufälligste. b) Teufel

Die Geschichte lehrt, dass die Menschen immer versucht haben, die Verantwortung für Verwerfliches und Böses in ihrem Handeln auf „höhere Mächte und Gewalten“ abzuwälzen. Dafür entwickelten sie verschiedene Modelle – böse Götter, Dämonen, Hexen oder Schadensgeister. In der frühen Geschichte Israels ist die – durchaus bedenkenswerte – Vorstellung anzutreffen, Gut und Böse seien in Jahwe selbst begründet. In jüngerer Zeit hat auch Karl Rahner darauf hingewiesen, dass Gott, der die Liebe ist (vgl. Hos 11; 1 Joh 4,8.16), „in einer ganz bestimmten Weise auch für das Böse in der Welt ‚verantwortlich‘“ ist 159. Jahwe erscheint an einigen Stellen der ältesten Bibeltexte als ein unheimlicher, hinterlistiger, unberechenbarer Gott. Kaum hat er Mose beauftragt, sein Volk zu befreien, überfällt er ihn ohne Vorwarnung während der Nachtruhe, um ihn zu töten (Ex 4,19– 26). König Saul scheitert, weil Jahwe selbst einen bösen Geist in ihn sendet (1 Sam 16,14 f.), der ihn nicht nur in Schwermut, sondern auch in krankhafte Eifersucht stürzt, so dass er gegen David den Speer erhebt, um ihn an die Wand zu spießen (1 Sam l8,10 f.). Auch zwischen Abimelech und die Bürger von Sichem schickt Jahwe einen bösen Geist, der sie entzweit (Ri 9,23). Jahwe reizt sogar zur Sünde, indem er David eine Volkszählung veranstalten lässt, die nach damaligem Verständnis einen schuldhaften Ausdruck menschlicher Überheblichkeit darstellt (2 Sam 24,1). Auffällig ist, dass der Verfasser der Chronik-Bücher diese Spannung offenbar nicht mehr ertragen konnte und stattdessen „Satan“ als Verursacher der Volkszählung einsetzte (1 Chron 21,1). Dieser „Satan“ (= hebr. Widersacher) begegnet (chronologisch gesehen) erstmals beim Propheten Sacharja (3,1–7). Er erscheint hier als Mitglied des himmlischen Hofstaats. Bekannter ist diese Gestalt im Buch Ijob (1,6–12; 2,1–11), wo er geradezu als

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Helfershelfer Jahwes auftritt, um diesen vom Vorwurf der grausamen und widersinnigen Prüfung Ijobs zu entlasten. In anderen Schriften tritt das Böse in Gestalt einer verführerischen Schlange (Gen 3,1–7) oder als „Beelzebub“ (2n Kön 1,2–16) auf. Insgesamt spielt der Teufel in den Schriften des Alten Testaments nur eine eher marginale Rolle. Häufiger tritt der „Satan“ (bzw. der „Teufel“) dagegen im Neuen Testament auf. Jesus, die urchristliche Verkündigung und das zeitgenössische Judentum rechnen mit dem Wirken des Bösen in der Geschichte der Menschen. Sie sprechen diesem Bösen zum Teil auch die Züge eines personhaft verstandenen Wesens zu, ohne damit auf eine eigenständige „Personalität“ des Bösen in dieser oder jener Gestalt abzuheben oder diese gar zu „definieren“. Das einzige authentische Jesuswort, das sich auf den Satan bezieht, wird vom Lukasevangelium überliefert: Jesus sieht den „Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18). Die „personale“ Struktur des Bösen ist nicht schon als Ausdruck für selbstständig existierende Wesen zu verstehen (im Sinne des viel später aufkommenden Personbegriffs), sondern als deutender Hinweis auf die gezielte Wirksamkeit und Mächtigkeit des Bösen, wie es in der menschlichen Geschichte erfahren wird. So erwähnt das Markusevangelium nur, dass Jesus „vom Satan versucht“ wurde (Mk 1,13), während Matthäus und Lukas ein ausführliches Gespräch zwischen Jesus und dem „Teufel“ in die Versuchungsgeschichte einbauen (vgl. Mt 1,4–11; Lk 4,1–13). Die häufig in den Evangelien auftretenden und von Jesus meist ausgetriebenen „Dämonen“ haben dagegen mit dem Teufel nichts zu tun. Sie sind zu verstehen als Interpretamente der ständigen Bedrohung durch vielfältige Gefahren und rätselhaft erscheinende (psychische) Krankheiten (z. B. Epilepsie), denen sich der antike Mensch meist hilflos ausgeliefert sah. Dieses Weltbild hat die Kirche, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, durch die Zeiten begleitet. Es wird auch von entsprechenden späteren kirchlichen Äußerungen vorausgesetzt, ohne dass es damit im einzelnen als verpflichtender Teil der kirchlichen Lehre selbst angesehen werden muss. Berücksichtigt man den Zusammenhang, in dem die Aussagen stehen, dann zeigt sich, dass es letztlich immer um die Macht Gottes geht. Bibel wie kirchliche Lehräußerungen entfalten also nicht eine „Satanologie“, eine Lehre über „den“ Bösen. Es geht ihnen vielmehr einzig darum, zu sagen, dass Gott und nur Gott stärker ist als alles Böse. Aussagen über das Böse oder den Teufel widerstreiten dem Geist der Bibel und auch der kirchlichen Überlieferung,  wenn sie differenziert etwas über das Wesen und Verhalten von „Teufeln“ oder „Dämonen“ zu wissen glauben,  wenn sie eine Drohbotschaft beabsichtigen, den Menschen also Schrecken einjagen, anstatt Vertrauen zu dem Gott zu wecken, der keinen ernsthaften Konkurrenten in dieser Welt haben kann. Leider liefert die Geschichte der Kirche bis in die Gegenwart hinein (vgl. den „Fall“ Klingenberg 1976 160) eine Fülle von beschämenden Beispielen für die unheilvolle Wirkungsgeschichte eines falsch verstandenen Teufelsglaubens. So wüteten vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Europa die Hexenverfolgungen, denen nach vorsichtigen Schätzungen 50.000 bis 80.000 Menschen, in der Mehrzahl Frauen,

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auf grausame Weise zum Opfer fielen (die letzten Hexenverbrennungen fanden 1775 in Kempten, 1782 im Schweizer Kanton Glarus und 1793 in Posen statt). Die entscheidende Wende wurde im 18. Jahrhundert eingeleitet. Sie kam von drei Seiten: Von den historisch-kritischen Methoden der Bibelwissenschaft, von der Aufklärung mit ihrer neuen Wertung der menschlichen Freiheit und Verantwortung und schließlich von der fortschreitenden wissenschaftlichen Erforschung der Welt und des Menschen. Der Mensch hat gelernt, die Welt und sich selbst besser zu begreifen. Nicht nur die Naturwissenschaften und die Erkenntnisse über die Evolution, sondern auch die Humanwissenschaften – Medizin, Anthropologie, Soziologie, Psychologie – haben erwiesen, dass der Mensch konstitutiv ein unvollkommenes Wesen ist. Das aber fordert ihn auf, das Böse als seine eigene Sache zu akzeptieren und sein Tun in eigener Verantwortung zu übernehmen. Theologisch gesprochen heißt das: Gott hat die Welt so geschaffen, wie wir sie heute erfahren; er hat eine unvollkommene Schöpfung gewollt. Das macht den Menschen nicht kleiner, sondern freier. Es bürdet ihm allerdings auch größere Verantwortung auf. Allerdings sollten damit die in der Frage nach dem Teufel angesprochenen Probleme nicht einfach „abgehakt“ werden. Der Blick für die Wahrnehmung der „Position des Bösen in der Welt“ 161, seiner rätselhaften Aktivität, seiner unheimlichen Eigendynamik und seiner verblüffenden Raffinesse, darf nicht versperrt werden. Die Rede vom Teufel und über das „Geheimnis des Bösen“ enthält inspirierende Inhalte, die nicht einfach aufgegeben werden sollten, die aber einer zeitgemäßen Übersetzung in einen begründenden Diskurs bedürfen. Die Theologie sollte sich um Formulierungen und Figuren bemühen, die unter den Verstehensbedingungen der Gegenwart nicht von vornherein auf Ablehnung stoßen, sondern zu vertieftem Nachdenken über Verwurzelung des Bösen in den Naturbedingungen des Daseins und den Gegebenheiten der Evolution anregen.

10. Ehe und Familie a) Wandel im Eheverständnis

Es lässt sich nicht leugnen, dass die Institution Ehe in unserer Gesellschaft in eine tiefe Krise geraten ist. Vier Entwicklungslinien lassen sich beobachten:  Rückgang der Eheschließungen,  Anstieg des Heiratsalters,  erhebliche Zunahme der Ehescheidungen,  Anstieg der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Die Gründe für diesen Wandel sind vielschichtig und höchst komplex:  Vielfach werden zu hohe Erwartungen an eine Partnerschaft gestellt. Sie führen nicht selten zu einer Bindungsangst. Der ideale Partner bzw. die ideale Partnerin ist nicht zu finden. Eine endgültige Entscheidung für einen Partner bzw. eine Partnerin schließt Alternativen aus. Die Angst, sich definitiv zu entscheiden, ist heute sehr größer, als dies in der Generation der eigenen Eltern oder Großeltern der Fall war.

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Ökonomische Faktoren in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft erfordern Mobilität und häufig die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz.  Die Ausbildungszeit ist länger geworden. Eine Heirat während des Studiums oder der Berufsausbildung bringt zusätzliche Belastungen mit sich.  Durch die Anwendung von Mitteln zur Empfängnisverhütung ist das Risiko ausgeschlossen, dass beim Geschlechtsverkehr ein Kind entsteht.  Eines der zentralen Ziele der Ehe, nämlich die Familie, löst sich zunehmend von der Partnerschaft ab: Man kann als Paar zusammenleben, auch sexuell zusammenleben, ohne dass man die Verantwortung für Kinder übernehmen muss. Damit fällt auch das Prinzip, dass Sexualität nur im Schutzraum der institutionalisierten Ehe gelebt werden dürfe.  Der Bewusstseins- und Wertewandel unserer Gesellschaft nimmt an nichtehelichen oder zivilrechtlich nicht legalisierten Lebensgemeinschaften keinen Anstoß mehr. Dass junge, nicht verheiratete Paare eine gemeinsame Wohnung beziehen, ist zumindest im Sinne einer „Vor-Ehe“ familiär und gesellschaftlich weithin toleriert.  Das „Laufgitter der Konventionen“ ist weitgehend weggefallen. Vieles war gesteuert. Früher wusste eine Frau, was sie erwartete, wenn sie heiratete. Auch der Mann wusste, was er zu erwarten hatte. Solche Regeln legten einerseits Beschränkungen auf, sie erleichterten andererseits aber auch das Leben. Heute muss dagegen vieles vereinbart und abgesprochen werden. Niemand muss heute eine Lebensform bejahen, nur weil die Konvention es vorschreibt oder das familiäre Umfeld es so will.  Neben dem gesellschaftlichen Wertewandel ist auch ein Wandel der religiösen Kultur für die Problematik einer Eheschließung in und mit der Kirche verantwortlich. 162 Denn für viele Menschen ist gerade die religiöse Dimension ihrer Ehe mit der kirchlichen Trauung keineswegs mehr identisch. Sie melden gerade beim Monopol der christlichen Kirchen auf Religion Widerspruch an. Sie sind nicht mehr bereit, ihre Ehe nach den Normen der Kirche zu gestalten. Sie wollen gerade die religiöse Dimension ihrer Ehe ganz individuell selber gestalten – unter völligem Absehen von der bürgerlich-christentümlichen Tradition. Sie denken dabei gewissermaßen eine Einsicht radikal zu Ende, die auch die katholische Theologie stets geprägt hat: Das Sakrament der Ehe spenden sich die Ehepartner selber. Warum sich dann nicht auch eigene religiöse Symbole und „heilige Zeichen“ (= „Sakramente“) erfinden, die das Denken und Wollen, den individuellen Lebensweg und die konkrete Situation der Brautleute besser widerspiegeln als ein allgemein gehaltener, irgendwie für alle mehr oder weniger passender Trau-Ritus? In dieser Situation haben es die Kirchen zunehmend schwerer, plausibel zu machen, warum eine kirchliche Heirat auch heute noch sinnvoll ist. Zunächst sollten die Heiratswilligen nicht mit der institutionellen Lebensform der Ehe unter Druck gesetzt und ihre möglicherweise schon praktizierte „vorläufige“ Beziehung sollte nicht missbilligt oder gar verurteilt werden. Nichteheliche Lebensgemeinschaften sind in vielen Fällen nicht einfach Ausdruck einer lasterhaften Vergnügungssucht oder gar sexueller Haltlosigkeit. Auch in ihnen kann Treue praktiziert, Partnerschaftlichkeit geübt, gegenseitige Rücksicht genommen, selbstlose Liebe gelebt werden. Von dem, was der abschätzige Ausdruck „wilde Ehe“ zum Ausdruck bringt, ist

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in vielen Fällen nichts zu finden. Da geht es in vielen bürgerlichen Ehen „wilder“ zu. Für nicht wenige junge Menschen ist die Ablehnung der konventionellen bürgerlichen Lebensform „Ehe“ sogar Ausdruck einer neuen Ehrlichkeit, einer Authentizität ihrer Gefühle, einer auf Freiwilligkeit und gegenseitiger Absprache bestehenden Treue und Verantwortung. Dieser Zuwachs an Wahrhaftigkeit sollte in seinen positiven Chancen aufgegriffen werden. Und wieviele Menschen sind von der Kirche nur deshalb entfremdet worden, weil die Kirche als Bewahrerin entleerter Konventionen auftrat oder missbraucht wurde? Für eine pauschale Aburteilung dieses Wertewandels besteht kein Anlass, da ja die in der Ehe eigentlich angestrebten Werte und Ziele, nämlich Liebe, Partnerschaft und Familiengründung durchaus selbst von denen oft nicht in Frage gestellt werden, welche die Ehe zunächst ablehnen. Die Kirche ist gut beraten, wenn sie einladend und werbend zu ihrem Ziel zu gelangen sucht: „Du musst nicht kirchlich heiraten; du darfst es“ – nicht um der Institution Kirche willen, nicht, um einer Konvention zu gehorchen, sondern um deiner selbst willen. Die Partnerschaft sollte im Hinblick auf jenen Gott aufgezeigt werden, der sein menschenfreundliches Antlitz in dem Mann aus Nazaret offenbart hat. Dass Menschen dieses Angebot annehmen, setzt allerdings voraus, dass sie ihre bisherige Lebensgeschichte religiös betrachtet haben oder betrachten wollen. Die neue eheliche Partnerschaft, die sie nun einzugehen gedenken, soll Fortführung und Verdichtung des bisherigen Lebensverständnisses sein. Das Leben religiös zu betrachten, heißt, es unter einen heilsamen und befreienden Vorbehalt stellen: Leben ist im Tiefsten nicht das, was ich mache, leiste, produziere, was mir gelingt, was ich schaffe und zustande bringe, sondern: Leben ist im Tiefsten und Letzten Geschenk, Angenommensein, Geführtsein, Gelingen-Lassen. Je mehr Lebenserfahrung ein Mensch angesammelt hat, desto mehr geht ihm auf, wie sehr bei aller eigenen Anstrengung, bei aller eigenen Leistung, bei aller eigenen Mühe und Arbeit das Leben letztlich doch nicht in die eigene Verfügung gestellt ist, sondern von einer anderen Macht verfügt zu sein scheint. Viele nennen dies einfach Schicksal, Glück, Zufall. Die jüdisch-christliche Tradition hat dafür seit Jahrtausenden ein anderes Wort: Gnade. b) Was haben die Kirchen mit der Ehe zu tun? 163

Etwa 1200 Jahre lang gab es eine „christliche Ehe“, ohne dass sie (wie Taufe und Eucharistie) im strengen Sinne als Sakrament bezeichnet worden wäre. Die Eheschließung wurde als familiäre Angelegenheit betrachtet, eine rechtlich gültige Ehe kam zustande durch die Willenserklärung der beiden künftigen Ehepartner; der kirchliche Amtsträger beteiligte sich allenfalls durch eine Segnung der Brautleute vor der Eheschließung. Wohl aufgrund der mit der Eheschließung verbundenen gottesdienstlichen Feier wuchs allmählich die Überzeugung, dass es sich hierbei um ein Sakrament handele. Von lehramtlicher Seite wurde die Ehe erstmals 1184 auf dem von Papst Luzius III. geleiteten Regionalkonzil von Verona neben Eucharistie, Taufe und Beichte unter die Sakramente der Kirche gezählt. Die kirchliche Feier führte also dazu, die Ehe als Sakrament zu verstehen.

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Das Zweite Vatikanische Konzil sieht in der Ehe „die innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe in der Ehe, vom Schöpfer begründet und mit eigenen Gesetzen geschützt, (sie) wird durch den Ehebund, d. h. durch ein unwiderrufliches personales Einverständnis, gestiftet. So entsteht durch den personal freien Akt, in dem sich die Eheleute gegenseitig schenken und annehmen, eine nach göttlicher Ordnung feste Institution, und zwar auch gegenüber der Gesellschaft. […] Christus der Herr hat diese Liebe, die letztlich aus der göttlichen Liebe hervorgeht und nach dem Vorbild seiner Einheit mit der Kirche gebildet ist, […] in reichem Maße gesegnet“ 164. Ähnlich bescheibt auch der Evangelische Erwachsenen-Katechismus die Ehe: „Die Ehe ist ein durch Gottes Willen vorgegebener Lebensraum, in den Mann und Frau eintreten; eine Lebensform, die dem gemeinsamen Leben und der Liebe Halt und Gestalt gibt, aber auch in lebendiger Übernahme immer wieder neu gewonnen werden muss. […] Die Ordnung der Ehe ist nicht einfach gleichzusetzen mit der Liebe zwischen Mann und Frau, sondern sie schützt diese Liebe. Mann und Frau sind hier nicht nur aneinander gebunden, sondern beide sind in dem zu Hause, was wir Ehe nennen. Die Ehe ist eine in sich sinnvolle Ordnung, in der die Werte des Körperlichen und des Geistigen ineinander verwoben sind. Nach dem biblischen Zeugnis ist sie in der Schöpfung begründet. Jesus weist, wenn er von der Ehe spricht, auf den Schöpfer hin: ‚Habt ihr nicht gelesen, dass, der im Anfang den Menschen geschaffen hat, schuf sie als Mann und Weib‘ (Mt 19,4). Die Ehe ist ihrer Natur nach auf Lebenszeit angelegt. Denn eine so enge Verbindung erträgt keine Einschränkungen und Vorbehalte. […] Sie sind zu einem gemeinsamen Leben verbunden: Sie werden ‚ein Fleisch‘. Ihre Gemeinsamkeit gewinnt Gestalt in den Kindern, seien es leibliche oder adoptierte, für die beide gemeinsam die Verantwortung tragen“ 165. Gescheiterte Ehen und wiederverheiratete Geschiedene Etwa ein Drittel der zur Zeit in Deutschland geschlossenen Ehen wird geschieden. Das gilt ähnlich auch für die weitaus meisten anderen europäischen Länder, sowie für Nordamerika und Japan. Viele Geschiedene heiraten wieder. Und viele davon wollen auch wieder eine kirchliche Ehe schließen. Die katholische Kirche erlaubt zwar nach dem gegenwärtig gültigen Recht die Trennung der Ehepartner „von Tisch und Bett“, aber sie verbietet, eine neue, kirchlich gültige Ehe einzugehen, wenn der Partner der ersten Ehe noch am Leben ist und wenn die erste Ehe nach kirchlichem Eherecht gültig geschlossen wurde. Eine gültig geschlossene und vollzogene Ehe zweier Getaufter gilt als absolut unauflöslich. Doch in der Geschichte der Kirche gab es durchaus Ausnahmen. Nach dem Zeugnis einiger Kirchenväter wurde in einzelnen Situationen die Wiederheirat geduldet, wenn auch zögernd und nach Ableistung einer öffentlichen Buße.166 Für die römisch-katholische Kirche begründet das Konzil von Trient (1545–1563) die Unauflöslichkeit der Ehe in einer auffällig weitschweifigen Formulierung – als „gemäß der Lehre des Evangeliums und der Apostel“ 167. In der neueren dogmengeschichtliche Forschung wird daher die Ansicht vertreten: „Man kann nicht behaupten, dass das Konzil von Trient die Absicht gehabt habe, die Unauflöslichkeit der Ehe feierlich als

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Glaubenssatz zu definieren“ 168. Auch Pius XI. bezeichnete 1930 die Lehre von Trient über die Ehescheidung zwar als „sicher“, nicht aber als „unfehlbar“ oder „endgültig“ 169. Diese Sicht spiegelt auch das geltende römisch-katholische Kirchenrecht, der Codex Juris Canonici. Er legt lapidar fest: „Die Ehe von Katholiken, auch wenn nur ein Partner katholisch ist, richtet sich nicht allein nach dem göttlichen, sondern auch nach dem kirchlichen Recht, unbeschadet der Zuständigkeit der weltlichen Gewalt hinsichtlich der rein bürgerlichen Wirkungen dieser Ehe.“ 170 Nach can. 1055 § 1 CIC wurde der „Ehebund (…) zwischen Getauften von Christus dem Herrn zur Würde eines Sakramentes erhoben“ und in can. 1055 § 2 heißt es: „Deshalb kann es zwischen Getauften keinen gültigen Ehevertrag geben, ohne dass er zugleich Sakrament ist.“ Denn, so wird diese Sicht begründet, die Liebe der Eheleute ist ein Abbild für die unverbrüchliche Liebe Christi zur Kirche; sie ist damit ein Sakrament, ein Zeichen des Heils. Weil diese Liebe Christi zur Kirche unauflöslich ist, ist auch die christliche Ehe unauflöslich. „Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden“ (Mt 19,6). Nun gibt es aber im Matthäusevangelium auch ein anderes Jesuswort, wonach der Mann seine Frau (oder den Partner) durchaus verlassen kann – im Fall von „Unzucht“ (Mt 5,32; 19,9) 171. Diese Einschränkung fehlt in der Lukasparallele des Textes (Lk 16,18). Das legt den Verdacht nahe, dass der einschränkende Einschub bei Matthäus von diesem selbst oder aus der vormatthäischen Tradition stammt und nicht direkt auf Jesus zurückgeht. Auffällig ist, dass bei Matthäus und auch bei Lukas nur Männer als Adressaten genannt sind. Männern war es nach alttestamentlicher Gesetzgebung erlaubt, der Frau einen Scheidebrief auszustellen, um sich von ihr zu trennen. Diese Scheidungspraxis wurde in der Zeit Jesu recht großzügig gehandhabt. Gegen diese geltende Ehescheidungspraxis wendet sich Jesus: Ihr könnt euch zwar formal auf das Recht berufen, aber in Wirklichkeit versteckt ihr dahinter ein schreiendes Unrecht. Ihr verbiegt den Willen Gottes. Gott will die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Er hat nur den einen Menschen geschaffen – und den als männlich und als weiblich. Jesus will mit seinem generellen Ehescheidungsverbot die Frau in Schutz nehmen vor der Willkür des Mannes und vor seinem Besitzanspruch. Zwar wurde in der Zeit Jesu auch der Frau das Recht eingeräumt, die Auflösung der Ehe zu fordern, falls eine Krankheit oder ein unehrbarer Beruf des Mannes ihr die Ehe nicht mehr zumutbar erscheinen ließen. Doch die Klagepunkte der Frau gegenüber denen des Mannes waren wesentlich stärker eingeschränkt. Die Frau blieb eindeutig im Nachteil. Jesus wendet sich darum generell gegen jegliche Ehescheidung. Er möchte die scheinbare Gesetzlichkeit seiner Zeitgenossen entlarven und ad absurdum führen. So hat wohl auch Matthäus das Wort zur Ehescheidung verstanden – nicht als eine unumstößliche Gesetzesvorschrift, sondern als Provokation. Und darum fühlte er sich berechtigt, die so genannte „Unzuchtsklausel“ in den tradierten Text einzufügen. „Was Jesus mit der Bergpredigt will, übersteigt jede Gesetzlichkeit. Was er will, ist die Lauterkeit des Herzens, die innere Wahrhaftigkeit“ (G. Lohfink 172). Für manche Geschiedenen eröffnet die römisch-katholische Kirche mit der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit einen, wenn auch schmalen Ausweg, indem sie prüfen lässt, ob die zerbrochene Ehe im kirchenrechtlich-sakramentalen Sinn nicht vielleicht von Anfang an ungültig und „nichtig“ war. 173

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Auch bei bester Absicht beider Partner ist nicht immer abzusehen, wie sich der eine oder andere von ihnen oder beide zusammen im Lauf der Jahre entwickeln werden, welche Probleme und Schwierigkeiten von außen hinzukommen, ob vielleicht Situationen eintreten können, die zu einem Zerbrechen der Ehe führen. Auf Dauer wird die katholische Kirche nicht umhin kommen, der Tatsache des Scheiterns vieler Ehen und der Wiederverheiratung anders zu begegnen als bisher. Niemand verlangt, dass sie eine Scheidung offiziell anerkennt oder gutheißt. Sie erkennt auch die Sünde nicht an; aber sie vergibt die Sünde. Sie heißt die Schuld gegenüber Gott und den Menschen nicht gut; aber sie übt Barmherzigkeit gegenüber den schuldig Gewordenen. 174 Eine derartige Praxis der Barmherzigkeit und Vergebung, sollte sie in der katholischen Kirche Einzug halten, wird nicht zu einem „Dammbruch“ führen. Es geht nicht um eine Freigabe der Wiederverheiratung Geschiedener in der Kirche, sondern um eine Möglichkeit, unter den heutigen gesellschaftlichen und pastoralen Umständen eine glaubwürdige Form zu finden, die barmherzige Praxis Jesu auf betroffene Menschen hin auszuweiten und konkret werden zu lassen. In einer bedenkenswerten Monographie versuchen Thomas und Heidi Ruster, die „Unzuchtsklausel“ unter heutigen Bedingungen zu deuten und daraus Folgerungen zu ziehen. 175 Unter Unzucht verstehen sie nicht nur das persönliche Versagen der Eheleute (z. B. Ehebruch), sondern in einem weiteren Sinne auch das Scheitern aufgrund äußerer gesellschaftlicher und ökonomischer Umstände. Sie machen auch darauf aufmerksam, dass die Ehe von getauften, aber der Kirche fernstehenden Menschen nicht automatisch als Sakrament verstanden werden sollte. Ein Sakrament setzt Glauben voraus. Deshalb treten sie dafür ein, die Untrennbarkeit von Ehevertrag und Sakrament in der katholischen Kirche aufzugeben. Wenn aber Sakrament und Vertrag unterschieden werden, könnte es in der katholischen Kirche auch nichtsakramentale Ehen geben. Daraus könnte eine andere Haltung zu wiederverheirateten Geschiedenen möglich werden. Dann wären vor dem Standesamt geschlossene Ehen von Christen als Verträge für die Kirche gültig, aber nicht Sakrament. Erst wenn ein Paar das Sakrament der Ehe erbittet, ist die Kirche als Kirche auf den Plan gerufen. Das Auseinanderhalten von Vertrag und Sakrament hätte zur Folge, dass eine von Katholiken allein vor dem Standesamt geschlossene Zweitehe rechtlich gültig ist, auch wenn eine erneute Spendung des Ehesakramentes nicht stattfindet. Das Eheband zur ersten Ehe besteht weiter, aufgelöst ist nur der Vertrag zur ersten Ehe. Heidi Ruster macht aus ihrer Erfahrung als Leiterin einer katholischen Eheberatungsstelle geltend, dass ohnehin eine frühere Verbindung sich nicht einfach auflöst, sondern in die neue Beziehung emotional stark hineinspielt. Ob sich diese Sicht in der römisch-katholischen Kirche durchsetzen wird, bleibt freilich zu bezweifeln. Die Kirchen der Reformation betonen, dass „Scheidung gegen Gottes Willen ist“ 176. Sie lassen aber eine Wiederverheiratung zu. Auch die Kirchen des Ostens kennen in Sachen Ehescheidung eine andere Lehre und Praxis. 177 Dort wird eine unter Buße vollzogene Wiederheirat von Geschiedenen toleriert. Allerdings wird sie nicht als Sakrament angesehen, sondern als kirchliche Notmaßnahme zur Vermeidung eines größeren Übels, das im ungeregelten Zusammenleben bestünde. Ausdrücklich wird festgehalten, dass die Zweitehe nicht der göttlichen Anordnung entspricht, sondern

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dem seelsorglichen Grundsatz der Billigkeit: „Die Scheidungsgründe werden dabei restriktiv gefasst, aber nicht völlig auf Ehebruch eingeschränkt“ 178. Die Orthodoxe Kirche erlaubt eine Scheidung unter folgenden Umständen: Ehebruch; Abwesenheit des Mannes/der Frau und keine Kommunikation über länger als 5 Jahre; wenn ein verheirateter Priester zum Bischof geweiht werden soll oder wenn einer der Ehegatten sich für das klösterliche Leben entscheidet; bei Abfall vom orthodoxen Glauben; bei schwerer Krankheit (psychisch oder physisch, wenn sie das Familienleben einschränkt oder unmöglich macht; bei „unheilbarem Wahnsinn“; wenn einer der Ehegatten die Familie absichtlich verlässt. In allen diesen Fällen (mit der Ausnahme der Bischofsweihe und der klösterlichen Berufung) darf wieder geheiratet werden. Die orthodoxen Kirchen erlauben insgesamt drei Ehen. Eine vierte Ehe wird nicht mehr gestattet. Als Begründung für die Möglichkeit einer Scheidung wird eine „Notsituation“ angeführt: „Die Frage einer Scheidung kommt erst dann vor, wenn es nichts mehr gibt, was man retten oder behüten kann. Das, was früher ‚unauflösbar‘ erschien, wurde längst aufgelöst. Die Scheidung löst die Ehe nicht auf. Sie bestätigt bloß, dass die Ehe schon aufgelöst wurde. Das Gesetz kann die verlorene Gnade der Liebe nicht ersetzen, das Gesetz kann weder heilen, noch Auferstehung schenken, noch sagen: ‚Steh auf und geh!‘ (…) Die klösterliche Berufung wurde geschenkt, um den unendlichen Wert der Menschenwürde zu entdecken und die Größe der Ehe zu bestätigen. Aber jeder Mönch kann zu jeder Zeit das Kloster verlassen, im Namen seiner Persönlichkeit und der Freiheit seiner Berufung. Das ist der Grund, warum die Kirche den Ehegatten die gleiche Freiheit schenkt. Ihr ‚ja‘, das sie einander geben, hat nur dann einen wahren Wert, wenn sie auch in jedem Moment ‚nein‘ sagen können.“ 179 Konfessionsverschiedene Ehen Ehehindernis und Eheschließung Während bis in die siebziger Jahre hinein beide christlichen Kirchen sich alle erdenkliche Mühe gaben, mittels Kirchenrecht und Seelsorge zu verhindern, dass konfessionsverschiedene Ehewillige miteinander die Ehe eingehen, gelten heute konfessionsverschiedene Ehen schon fast als Normalfall. Die evangelische Kirche, so steht es im Evangelischen Erwachsenen-Katechismus, „übt auf ihre glieder keinen Druck aus: Ein evangelsicher christ kann sich auch nach katholsichem Ritus trauen lassen. Er soll aber die Gaben seiner Kirche in Ehe und Erziehung pflegen und gebrauchen.“180 In der römisch-katholischen Kirche besteht – schlimm genug angesichts der ökumenischen Annäherung – noch das kirchenrechtliche „Ehehindernis“ der Konfessionsverschiedenheit, aber die erforderlichen Dispensen sind meist eine bloße Formsache. Denn es „braucht für die Dispenserteilung nicht eigens ein Dispensgrund angegeben zu werden.“ 181 Teilnahme an der Eucharistie Selbst wenn die Trauung eines gemischt-konfessionellen Paares alle kirchlichen Vorgaben erfüllt, bleibt dem nicht-katholischen Partner offiziell der Zutritt zum Tisch des Herrn bei der katholischen Eucharistiefeier grundsätzlich versagt. Bestimmte

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Ausnahmen in einzelnen Diözesen bestätigen nur die Regel. Ebenso und erst recht darf der katholische Partner nicht am nicht-katholischen Abendmahl voll teilnehmen. Diese Verbote haben zur Folge, dass sich einige Paare in bewusstem Ungehorsam und manchmal auch mit offener Ermunterung oder zumindest stillschweigender Duldung ihres katholischen Pfarrers über die amtlich verordneten Barrieren hinwegsetzen und Eucharistiegemeinschaft aufgrund eigener Gewissensentscheidung praktizieren. Andere möchten in ihren Kirchen beheimatet bleiben, oder sie können sich zu dieser Gewissensentscheidung nicht durchringen. Sie tragen das Leid der Spaltung und lassen notgedrungen auch ihre Kinder daran teilhaben. Das verdient sicher Respekt. Man darf sich freilich fragen, ob diesen Menschen – Eltern wie Kindern – nicht in unverantwortlicher Weise unnötiges Leid zugefügt wird. Bei der überwiegenden Anzahl der Fälle aber treten infolge der kirchenamtlich geforderten Trennung am Tisch des Herrn Religion und religiöse Praxis mehr und mehr in den Hintergrund und verdunsten. „Die Entfremdung vieler Menschen von den Kirchen im Verlauf der neuzeitlichen Geschichte, die weitgehende Entchristlichung des öffentlichen und vielfach auch des privaten Lebens, muss ganz konkret als Folge der Unglaubwürdigkeit der einander ausschließenden Konfessionskirchen begriffen werden. Kirchenspaltung und Rückzug des Religiösen aus der Öffentlichkeit hängen ursächlich zusammen“ 182. Die Schuld an der wachsenden Entchristlichung, wie sie aus der ungelösten ekklesiologischen Situation der konfessionsverschiedenen Ehen resultiert, trifft nicht die Eheleute. „Wenn jemand Schuld hat an der konfessionellen Spaltung, an der gegenseitigen Exkommunikation, an der Trennung im Abendmahl, dann ganz bestimmt nicht die konfessionsverschiedenen Ehepaare, sondern die Theologen und die Kirchenleitungen. Sie haben im 16. Jahrhundert die Kirchenspaltung verschuldet. Was berechtigt sie – oder vielleicht muss ich sagen: Was berechtigt uns –, unsere theologischen und kirchlichen Probleme, die wir einmal geschaffen haben, heute von denen tragen zu lassen, die sie ganz gewiss nicht verursachten, nämlich den konfessionsverschiedenen Ehepaaren, ohne dass wir bereit wären, selbst einen Finger daran zu rühren oder diese Lasten zu erleichtern?“ 183 Eine der schwerstwiegenden und dringlichsten Aufgaben für die Zukunft der Kirche wird es sein, eine zeitgemäße und glaubwürdige Theologie und Pastoral der Ehe auszuarbeiten bzw. das längst Erarbeitete hinreichend bekannt zu machen und in die Tat umzusetzen. c)

Homosexualität und „eingetragene Lebenspartnerschaften“

Homosexualität Homosexualität ist nicht, wie das früher (und nicht selten auch heute) noch vielfach angenommen wurde, als Folge einer individuellen Entscheidung oder gar einer „perversen Abirrung“ zu verstehen: Seit den Untersuchungen Alfred C. Kinseys in den fünfziger Jahren, die inzwischen durch andere Wissenschaftler bestätigt wurden, ist bekannt, dass Homosexualität und Heterosexualität nicht streng getrennte Lebenswirklichkeiten sind, sondern die Endpunkte einer geschlechtstypischen Verteilung.

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Der gegenwärtige Forschungsstand lässt die begründete Annahme zu, dass für die individuelle Ausprägung einer sexuellen Orientierung biologische Veranlagungen verantwortlich sind, die vorgeburtlich bis etwa zum 3./4. Lebensjahr angelegt sind. Wir können heute von etwa 90 % exklusiv Heterosexuellen und 4 % exklusiv homosexuellen Männern (bzw. 2–3 % exklusiv homosexuellen Frauen) ausgehen. Dazwischen befinden sich diejenigen, die in verschiedener Weise durch beide Geschlechtsausprägungen berührt sind. Die homosexuell-heterosexuelle Verteilung der sexuellen Orientierung findet sich in Kulturen verschiedenster Epochen und Entwicklungsstufen mit unterschiedlichen rechtlichen Regelungen – von der Toleranz bis zur rigiden Bestrafung. Die unterschiedliche Ausformung wurde mittlerweile auch im Tierreich beobachtet. Gegen „(Um-)Erziehungsmaßnahmen“ aller Art ist sie resistent. Man kann also weder zur exklusiven Hetero- noch zur exklusiven Homosexualität erzogen oder verführt werden. Freilich ist einzuräumen, dass ein absolut stringenter Nachweis der biologischen Prädispositionen (beispielsweise in bestimmten Hirnstrukturen) auf technische und nicht zuletzt ethische Grenzen stößt Nach Aussagen des Sexualmediziners Hartmut Bosinski erlaubt der gegenwärtige sexualmedizinische Forschungsstand folgendes vorläufiges Fazit: 184  Die sexuelle Orientierung ist keine Frage der Wahl, der Erziehung, der Verführung oder des allgemeinen Sittenverfalls.  Die medizinische Fachwelt ist sich darüber einig, dass eine exklusive homosexuelle Orientierung ebenso wenig eine Krankheit ist wie eine exklusive heterosexuelle Orientierung. 185 Deshalb wurde „Homosexualität“ auch schon vor Jahrzehnten aus dem Katalog der Krankheiten gestrichen. Insofern besteht eine gewisse Parallelität zum Umgang mit der Linkshändigkeit, die bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts als eine krankhafte Störung aufgefasst wurde; Kinder wurden dazu genötigt, das „gute Händchen“ zu benutzen.  Die sexuelle Orientierung ist eines von vielen möglichen Merkmalen eines Menschen und sagt – wie etwa die Haut- oder Haarfarbe – nichts über den ganzen Menschen aus.  Die Konflikte von Menschen mit homosexueller Orientierung, mit denen die praktische Sexualmedizin konfrontiert ist, resultieren zu allermeist aus der Ablehnung, die sich oft auf die Betroffenen selbst überträgt.  Es gibt Hinweise darauf, dass die Tabuisierung und Ausgrenzung homosexuellen Verhaltens ein Ausweichen in den anonymen „Untergrund“ forcieren. Die Verweigerung der Akzeptanz homosexueller Personen in unserer Gesellschaft kann zu gravierenden Persönlichkeitskrisen bis hin zum Suizid führen.  „Als Sexualmediziner kenne ich Ehen zwischen Mann und Frau, von denen man wünschte, sie wären besser nicht geschlossen worden. Und ich kenne Jahrzehnte währende homosexuelle Partnerschaften zwischen Männern oder zwischen Frauen, denen man den Begriff ‚eheähnlich‘ schlecht wird versagen können.“ „Eingetragene Lebenspartnerschaften“ Im Jahr 2010 gaben in Deutschland rund 63.000 gleichgeschlechtliche Paare (0,15 Prozent der Gesamtbevölkerung) an, in einem gemeinsamen Haushalt in einer Lebens-

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gemeinschaft zusammenzuleben. Rund 23.000 dieser Paare (etwa 37 Prozent) hatten eine Lebenspartnerschaft geschlossen. Um den vielfachen Beeinträchtigungen und Benachteiligungen homosexueller Paare zu begegnen, wurde am 1. August 2001 das „Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft“ erlassen. Es musste seitdem mehrmals geändert und angepasst werden. Vorausgegangen war 1969 und 1973 die Reform der Entkriminalisierung der Homosexualität (§ 175). 1984 entschied der Bundesgerichtshof, dass „eine allgemeingültige Auffassung, wonach das Zusammenleben unverheirateter Personen gleichen oder verschiedenen Geschlechts zu zweit in einer eheähnlichen Gemeinschaft sittlich anstößig sei, sich heute nicht mehr feststellen lasse.“ Er stellte auch ausdrücklich fest, dass das in Artikel 2 Abs. 1 des Grundgesetzes stehende Sittengesetz den Anschauungen der Zeit unterworfen ist. 1988 entschied das Oberlandesgericht Hamburg, dass ein Vater seinem homosexuellen Sohn den erbrechtlichen Pflichtteil nicht entziehen darf, weil „in unserer Gesellschaft eine Vielzahl von Personen lebt, die ungeachtet ihrer Homosexualität ein sozial akzeptiertes Leben führen.“ Es bekräftigt zusätzlich, dass das Zusammenleben in einer gleichgeschlechtlichen Dauerbeziehung keinen „ehrlosen und unsittlichen Lebenswandel“ begründe. Das „Gesetz über die Eingetragene Lebenspartnerschaft“ gibt einer gleichgeschlechtlichen Beziehung einen rechtlichen Rahmen – zum Beispiel im Hinblick auf Erbrecht, Steuerrecht, Auskunftsrecht bei Krankheiten, Mietrecht, Sorgerecht, Arbeitsrecht u. a. m. Die Kirchen taten sich von Anfang an schwer in der Akzeptanz. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat zu der Frage bereits eine intensive und langjährige Diskussion geführt. Am Ende gab es bei fast allen evangelischen Landesbischöfen und –bischöfinnen die Zustimmung zur gesetzlichen Regelung der Lebenspartnerschaft. So erging im Jahre 2000 das Grundsatzpapier der Bischöfe der EKD „Verantwortung und Verlässlichkeit stärken“. Hier werden standesamtliche Partnerschaften zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren unterstützt. Sie würden keine sündhaften Beziehungen darstellen und könnten für die Beteiligten Orte der Bewährung und Einübung mitmenschlichen Beistands sein. „Man sollte nicht verkennen, dass die in dieser Stellungnahme zugrunde gelegten ethischen Maßstäbe für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften den beteiligten beiden Partnern bzw. Partnerinnen Pflichten auferlegen und den Willen zu verlässlicher Bindung zumuten. Insofern ist die Bejahung und Stabilisierung dauerhafter, umfassender Partnerschaften gleichgeschlechtlich geprägter Menschen ein Beitrag zu einem Bildungs- und Gestaltungsprozess, dessen Ausgang offen ist. Es verdient Respekt und sorgfältige Beachtung, wenn nicht wenige in Kirche und Öffentlichkeit insbesondere die Risiken dieses Prozesses sehen. Aus der Sicht des evangelischen Glaubens und der evangelischen Ethik erscheint es aber durchaus vertretbar, sich für rechtliche Regelungen einzusetzen, die geeignet sind, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften als Verantwortungsgemeinschaften zu festigen.“ 186 Die römisch-katholische Kirche brachte und bringt gravierende Einwände vor. Papst Johannes Paul II. forderte alle katholischen Parlamentarier dazu auf, die rechtliche Anerkennung einer Lebenspartnerschaft abzulehnen. „Werden homosexuelle Lebensgemeinschaften rechtlich anerkannt oder werden sie der Ehe gleichgestellt, indem

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man ihnen die Rechte gewährt, die der Ehe eigen sind, ist es geboten, klar und deutlich Einspruch zu erheben. Man muss sich jedweder Art formeller Mitwirkung an der Promulgation und Anwendung von so schwerwiegend ungerechten Gesetzen und, soweit es möglich ist, auch von der materiellen Mitwirkung auf der Ebene der Anwendung enthalten. […] Wird der gesetzgebenden Versammlung zum ersten Mal ein Gesetzesentwurf zu Gunsten der rechtlichen Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften vorgelegt, hat der katholische Parlamentarier die sittliche Pflicht, klar und öffentlich seinen Widerspruch zu äußern und gegen den Gesetzesentwurf zu votieren. Die eigene Stimme einem für das Gemeinwohl der Gesellschaft so schädlichen Gesetzestext zu geben, ist eine schwerwiegend unsittliche Handlung. Wenn ein Gesetz zu Gunsten homosexueller Lebensgemeinschaften schon in Kraft ist, muss der katholische Parlamentarier auf die ihm mögliche Art und Weise dagegen Einspruch erheben und seinen Widerstand öffentlich kundtun: Es handelt sich hier um die Pflicht, für die Wahrheit Zeugnis zu geben.“ 187 Demgegenüber forderte der katholische Theologe Eberhard Schockenhoff in einem Interview vom 20. 4. 2010 in der Frankfurter Rundschau die theologische Akzeptanz homosexueller Paare. „Wenn homosexuell empfindende Menschen eine feste, auf Solidarität und Dauer angelegte Beziehung eingehen, dann ist das ethisch wertvoll. Ihr Bemühen verdient Rückhalt und ein positives Echo der Kirche. Ich denke, in solchen Fällen muss das Urteil über homosexuelle Handlungen in den Hintergrund treten. Ich sage das auch, weil erkennbar immer mehr Gläubige auf Distanz zu einer kirchlichen Sexualmoral gehen, die ihnen insgesamt lebensfremd und lebensfeindlich vorkommt. Papst und Bischöfe sollten das ernst nehmen und nicht als Laxheit abtun.“ 188 Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, wünscht sich staatliche Regelungen zur homosexuellen Lebenspartnerschaft. Auf die Frage: „Sie plädieren dafür, dass sich Ihre Kirche in Zukunft stärker neuen gesellschaftlichen Milieus öffnet. Sie werben für einen offenen Katholizismus. Ist der auch offen für Homosexuelle, die von Ihrer Kirche regelmäßig ausgegrenzt wurden?“ antwortete er: „Das ist für mich keine Frage der Liberalität. Für mich ist das eine Frage der gesellschaftlichen Realität. Ich habe als Christ und als Katholik natürlich das Ideal von Ehe und Familie. Aber wenn es Menschen mit dieser Veranlagung gibt, kann der Staat entsprechende Regelungen für sie treffen. […] Ich halte allerdings den Begriff Homo-Ehe für falsch, weil damit suggeriert wird, dass da etwas mit der Ehe zwischen Mann und Frau gleichgestellt wird.“ 189 Hier macht der Erzbischof auf einen kritischen Punkt in der gegenwärtigen Diskussion aufmerksam. Es besteht nämlich die Gefahr, dass sich die Meinung durchsetzt, mit der Ehe, wie sie in Artikel 6 des Grundgesetzes190 zugrunde gelegt ist, sei in erster Linie die gegenseitige partnerschaftlich-fürsorgliche Zuneigung des Paares in wechselseitiger Verpflichtung gemeint. Deshalb müssten andere auf Dauer angelegte Paar-Liebesbeziehungen, ob heterosexuell oder homosexuell, genauso behandelt und zum Beispiel steuerlich entlastet werden, aus Dankbarkeit dafür, dass die Partner Verantwortung füreinander übernehmen. Bei dieser Hervorhebung der Zweier-Beziehung wird übersehen: Die Ehe ist nicht

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nur eine Zweier-Beziehung, sondern sie ist unmittelbar mit Familie verknüpft. Sie zielt auf Fortpflanzung, Familiengründung, Verantwortung für Dritte: Bildung, Erziehung, Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Darauf weist der Journalist Johannes Röser mit eindringlichen Worten hin: „Diese über die persönliche Zweisamkeit individueller Liebe hinausreichende Solidaritätsverantwortung für Nachwuchs, für die Generationenfolge und damit für das künftige Wohl der Bürger in Staat und Gesellschaft ist aber das Entscheidende. Genau und nur deshalb versieht jener Grundgesetzartikel die Ehe mit einem Schutzauftrag. Die freie Zweier-Fürsorge der Partner – ob in einer heterosexuellen oder einer homosexuellen Liebesverbindung – ist jedoch reine Privatsache. Diese persönliche Angelegenheit auf besondere Weise zu schützen, liegt nicht im Interesse und Aufgabenbereich des Staates, unabhängig davon, wie anerkennenswürdig oder lobenswert eine treue Paarbeziehung – welcher Art auch immer – sein mag. Staatstragend und staatspolitisch maßgeblich ist einzig und allein die Koppelung der Ehe an die Elternschaft und damit an die Beziehungsverantwortung der Eltern für ihre Kinder. Deshalb ist der erste Absatz des Artikels 6 logisch mit dem zweiten Absatz verbunden, der die Beziehung zur Elternpflicht herausstellt: ‚Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.‘ Dieser Zusatz wird ständig unterschlagen und somit der erste Teil in ein falsches Licht gerückt.“ 191 Es darf nicht dazu kommen, dass die durchaus notwendige rechtliche Anerkennung eingetragener Lebensgemeinschaften zur Einfallschneise wird, um den einstigen Konsens über die Besonderheit und Bedeutung der Ehe als Verantwortungsgemeinschaft für Fruchtbarkeit, Generationensolidarität und gesellschaftliches wie staatliches Wohl amtlich-offiziell zerbrechen zu lassen. d) Alleinerziehende Mütter und Väter

Immer mehr Kinder in Deutschland wachsen bei nur einem Elternteil auf. Im Jahr 2011 gab es in Deutschland 2,69 Millionen alleinerziehende Mütter und Väter. Bei 1,59 Millionen Alleinerziehenden lebte mindestens ein minderjähriges Kind im Haushalt. Der Anteil der Haushalte der Alleinerziehenden an allen Familienhaushalten (jeweils ohne Altersbegrenzung bei den Kindern) lag 2011 bei 22,9 Prozent (1996: 17,0 Prozent). Binnen zehn Jahren stieg der Anteil alleinerziehender Mütter von knapp 14 Prozent auf fast 18 Prozent. Im Osten wuchs er sogar von 19 auf fast 25 Prozent, im Westen von 12 auf 16 Prozent. Die größte Gruppe unter allen Alleinerziehenden war im Jahr 2011 mit 61,1 Prozent die der alleinerziehenden Mütter mit einem Kind. An zweiter Stelle standen mit 23,2 Prozent die alleinerziehenden Mütter mit zwei Kindern. Die drittgrößte Gruppe war mit 7,5 Prozent die der alleinerziehenden Väter mit einem Kind. 192 Freiwillig gewählt ist die Lebensform der Alleinerziehenden in der Regel nicht. Etwa 80 Prozent der Betroffenen sind von ihrem Partner getrennt oder geschieden. Meist sind Alleinerziehende gegenüber anderen Familienformen finanziell und rechtlich schlechter gestellt (Steuerrecht, Unterhalt). Alleinerziehende Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt häufig benachteiligt (kurze Teilzeit, Niedriglohn, ungleiche Bezahlung)

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und werden als Mütter in ihrer besonderen Situation noch immer ignoriert (flexible gute Kinderbetreuung und Ganztagsschulen). Schließlich werden sie auch im Alter überproportional häufig von Altersarmut betroffen (geringe Beiträge, wenig private Vorsorgemöglichkeiten). Nur noch selten wohnen die Großeltern in der Nähe oder laden ihre Enkel während der Ferienzeit zu sich ein. Gerade in den Ferien kann der Alltag leicht aus den Fugen geraten. Alleinerziehende haben weder die gleichen Chancen noch die gleiche Teilhabe mit den bekannten langfristigen Auswirkungen für ihre Kinder. Seitens der beiden großen Kirchen in Deutschland werden manche Hilfen angeboten. Diakonie und Caritas, Landeskirchen und Diözesen haben hier verschiedene Einrichtungen geschaffen, Wochenend-Seminare und Bildungsfreizeiten, InformationsBroschüren und Internet-Orientierungshilfen Ehrenamtliche Helfer – zum Beispiel ältere Menschen, die Zeit haben und nach einer sinnvollen Beschäftigung suchen – werden an alleinerziehende Mütter und Väter vermittelt, übernehmen die Kinderbetreuung oder bieten andere Hilfen an. Die „Grundsätze der Arbeit mit Alleinerziehenden“, welche die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für allein erziehende Mütter und Väter in Bayern im Jahr 2006 erarbeitet hat, sollen hier exemplarisch vorgestellt werden: 193 „Allein erziehend zu sein ist heute eine der vielen Formen, Familie zu leben. Die Lebensgeschichten und –situationen von allein erziehenden Frauen und Männern sind unterschiedlich und vielfältig. Wir verstehen die Verschiedenheit der Lebensformen als Reichtum. Dabei trifft der Begriff ‚allein erziehend‘ den Sachverhalt nur unzureichend, da der Begriff nicht die unterschiedliche Lebenssituation von Frauen und Männern in unserer Gesellschaft berücksichtigt. Präziser sind die Begriffe ‚Mutter-Kind-Familie‘ und ‚Vater-Kind-Familie‘. Als Definition soll gelten: Alleinerziehende sind Mütter und Väter, die überwiegend allein sowohl für den Lebensunterhalt ihrer Familie sorgen, als auch die tägliche Verantwortung für ihr Kind bzw. ihre Kinder wahrnehmen. Dazu gehören: Ledige, Getrenntlebende, Geschiedene, Verwitwete und Alleinerziehende in neuer Partnerschaft. Alleinerziehende sorgen für ihren Lebensunterhalt und den ihres Kindes bzw. ihrer Kinder. Ein Großteil der Unterhaltspflichtigen (überwiegend Väter) kommt aus verschiedenen Gründen ihrer Unterhaltspflicht nicht oder nicht in ausreichendem Maße nach. Zusätzlich führen der Mangel an flexiblen Kinderbetreuungsmöglichkeiten, die Situation auf dem Arbeitsmarkt, niedrige Fraueneinkommen (Teilzeit), und nicht familiengerechte Arbeitsbedingungen dazu, dass viele allein erziehende Mütter (weniger Väter) auf Arbeitslosengeld II und andere staatliche finanzielle Hilfen angewiesen sind. Alleinerziehende und ihre Kinder gehören zu den Bevölkerungsgruppen mit der höchsten Armutsquote. Dies hat massive Auswirkungen in den Bereichen materielle Armut, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und gesundheitliche Für- und Vorsorge.

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Alleinerziehende haben Trennungs- und/oder Verlusterfahrungen als schwierig und schmerzhaft erlebt. In der Phase der Neuorientierung belasten Konflikte des Umgangsrechtes oft weiterhin die Familie. Durchlebte Krisen bieten gute Chancen für ein zufriedenes Leben. Allein erziehende Frauen haben mit anderen Benachteiligungen zu kämpfen als allein erziehende Männer. Während es in der Arbeitswelt für Männer ein Bonus ist, Kinder zu haben, da sie dadurch ihr Verantwortungsbewusstsein dokumentieren, sind berufstätige Mütter dem Verdacht ausgesetzt, ihre Arbeit nicht mehr 100 % zu erfüllen, häufige Fehl- und Krankheitszeiten zu haben und ihre Kinder zu vernachlässigen. Ihre Erziehungsleistungen werden nicht genügend anerkannt, vielmehr begegnet das soziale Umfeld allein erziehenden Müttern weitaus kritischer. Zudem beziehen sie im Durchschnitt ein niedrigeres Einkommen als Männer. Vorrangiges Ziel der Arbeit mit allein erziehenden Müttern, Väter und ihren Kindern ist es, Umbrüche, Übergänge und biographische Schnittstellen zu begleiten und dabei Alleinerziehende in ihrem Wunsch nach einem gelingenden Zusammenleben mit den Kindern zu unterstützen. Daraus ergeben sich:

        

Individuelle Ziele: Bewältigung von Krisensituationen Aufarbeitung von Trennungs- und Verlusterfahrungen und Neuorientierung Stärkung des Selbstbewusstseins und des Selbstwertgefühls Stärkung der Handlungs- und Entscheidungskompetenz Unterstützung und Begleitung der Kinder Stärkung der Erziehungskompetenz Ermöglichung eines ökonomisch abgesicherten Lebens Erleben von Solidarität und Gemeinschaft, Kontaktmöglichkeiten Särkung der Selbsthilfe

Gesellschaftspolitische Ziele: Vermittlung eines differenzierten Bildes von Alleinerziehenden in der Öffentlichkeit  Anerkennung von Alleinerziehenden als gleichwertige Familienform  Verbesserung der finanziellen Rahmenbedingungen  Familiengerechter Leistungsausgleich, der sich am Bedarf von Kindern orientiert  Vereinbarkeit von Familie und Beruf  Schaffung von geeignetem und bezahlbarem Wohnraum  Ausbau von qualifizierten Kinderbetreuungsangeboten. Die Stärkung des Selbsthilfepotentials ist ein wesentlicher Grundpfeiler in der Arbeit mit Alleinerziehenden. Es geht darum, Alleinerziehende zu befähigen, ihre Lebenssituation für sich selbst und ihre Kinder zufrieden stellend zu gestalten und gegebenenfalls darüber hinaus Alleinerziehende bei der Gründung und Leitung von Selbsthilfegruppen Unterstützung zu geben. Alleinerziehende sind ‚Expertinnen und Experten 

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aus Erfahrung‘ für ihre Lebensform und den damit verbundenen Fragestellungen. Ehrenamtliches Engagement erfährt professionelle Begleitung und Unterstützung durch hauptamtliche Fachkräfte. Die Arbeit mit Alleinerziehenden erfordert besonderes Verständnis für die Lebenslage der Betroffenen. Das bedeutet, für ihre Anliegen Stellung zu beziehen und Partei zu ergreifen. Parteilich zu sein heißt, sich wohlwollend zwischen kritischer Distanz und verstehender Nähe zu bewegen.“ e)

Pränatale Diagnostik

Familie wird heute in der Regel „geplant“, zum Kind „entschließt man sich“. Dieser Entschluss ist dann fast zwangsläufig an die Bereitschaft gekoppelt, dem Kind die bestmögliche Entwicklungschance zu geben. Dazu soll es in erster Linie „gesund“ sein. Um Gewissheit darüber zu erlangen, soll die vorgeburtliche Diagnostik Aufschluss geben. Es ist jedoch eine falsche Annahme, dass eine routinemäßig durchgeführte genetische Untersuchung jeder Schwangeren die Gewähr gibt, ein gesundes Kind zu bekommen. Das Problem erhält eine zusätzliche Brisanz dadurch, dass vorgeburtliche Diagnostik erst um die 16./17. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden kann. Der Abbruch erfolgt somit zu einem Zeitpunkt, wo die Mutter schon die ersten Bewegungen des Kindes spürt. Auch ist vorgeburtliche Diagnostik nur dann sinnvoll und vertretbar, wenn die Bereitschaft besteht, im Falle einer Schädigung der Frucht die Schwangerschaft zu beenden. Eine Indikation zum Abbruch besteht jedoch nur bei drei Prozent der untersuchten Risikoschwangerschaften. Dann ist das rechtzeitige Aufsuchen einer genetischen Beratungsstelle zu empfohlen. Dazu gehören:  Elternpaare, die mit Erbkrankheiten belastet sind,  Eltern, die schon ein Kind mit einer angeborenen Behinderung oder Stoffwechselkrankheit haben,  ältere Schwangere,  Frauen, die mit bestimmten Medikamenten behandelt werden müssen. Der Anteil der Abbrüche wegen festgestellter Schädigung des Feten ist auffälligerweise sehr gering. 90 Prozent aller Schwangerschaftsabbrüche erfolgen aus sozialer Indikation. Die Aufgabe genetischer Beratung und vorgeburtlicher Diagnostik liegt darin, schweres Leid zu verhüten. Eine große Zahl der angeborenen Krankheiten ist nicht oder nur in geringem Maße behandelbar, Missbildungen fast immer unkorrigierbar und das subjektive Krankheitserleben umso ausgeprägter, je besser die Intelligenz des schwerbehinderten Kindes entwickelt ist. Gewiss kann ein Kind mit Down-Syndrom glücklich sein. Es fragt sich aber, ob auch seine Mutter und die ganze Familie glücklich sind. Oder stehen vielleicht seine Angehörigen mehr oder weniger am Rand des Zusammenbruchs? Die lebenslang zu tragende Last der Eltern wiegt schwer und kann auch für das körperlich behinderte Kind eine zusätzliche seelische Belastung bedeuten. Bedenken gegen die vorgeburtliche Diagnostik bestehen vor allem darin, dass die ärztlichen Berater die Schwangere mittels ihrer Autorität und ihres Informationsvorsprungs manipulieren könnten. Es gibt leider Genetiker, denen es selbstverständlich erscheint, Kinder mit Trisomie 21 abzutreiben. Aber darf ein Arzt, darf eine Schwan-

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gere das Recht für sich in Anspruch nehmen, über Wert oder Unwert eines Lebens zu befinden? Ärzte sollen Leben erhalten, und Tötung kann keine „therapeutische“ Maßnahme sein. Wenn Krankheit und Behinderung unzumutbar sind für das noch nicht Geborene, müssten sie es konsequenterweise auch für Kinder und Erwachsene sein, die bis zum Tode damit leben. Hier sind (auch) Philosophie und Theologie gefragt. Als oberstes Kriterium sollten die Achtung und der Respekt vor der Unantastbarkeit der Würde des Menschen stehen, wie sie auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Art. 1, formuliert ist. Der Verfassungsrechtler Günter Dürig hat die anthropologischen Implikationen herausgestellt: „Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewusst zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten.“ 194 Soweit so gut. Aber ab wann ist nun eigentlich der Mensch als Mensch zu bezeichnen? Die Bibel bietet keine klare Antwort. Nach Gen 1,27 ist der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen. Aber ab wann ist der Mensch ein Mensch? Der eine Psalmist sagt: „Du hast mich aus meiner Mutter Leib gezogen, du bist mein Gott von meiner Mutter Schoß an“ (Ps 22, 10.11) und versteht damit die Gottebenbildlichkeit offenbar als etwas erst von Geburt an Gegebenes. Der andere sieht schon die Empfängnis als Beginn des Menschseins an: „Meine Mutter hat mich in Sünden empfangen“ (Ps 51, 7). Nach naturwissenschaftlicher Erkenntnis beginnt neues menschliches Leben mit der Vereinigung des mütterlichen haploiden (nur einen einfachen Chromosomensatz enthaltend) Chromomensatzes der Eizelle und des väterlichen haploiden Chromosomensatzes der Samenzelle, das heißt: nach Abschluss des Befruchtungsvorgangs. Dieser beginnt mit dem Eindringen des Spermiums in die Eizelle (Imprägnation) und endet mit der Fusion der Zellkerne (Konjugation). Die Frage nach dem Beginn eines menschlichen Lebewesens ist mit den Denkkategorien der Naturwissenschaft nicht zu beantworten. Hier sind theologische und philosophische Ethik und – für den Fall der gesetzlichen Regelung bestimmter biomedizinischer und gentechnischer Verfahren – auch die Politik gefragt. In der gegenwärtigen Diskussion sind vor allem zwei Richtungen zu erkennen:  Die erste vertritt die Ansicht, das menschliche Lebewesen („human being“) beginne mit der befruchteten Eizelle.  Die zweite stellt befruchtete Eizellen auf die gleiche Stufe mit Ei- und Samenzellen in getrenntem Zustand und sieht den Beginn eines menschlichen Lebewesens erst mit der Einnistung (Nidation) des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut gegeben. Beide Positionen können gewichtige Argumente ins Feld führen: Zu 1)  Der frühe Embryo hat nach vollzogener Verschmelzung von Ei- und Samenzelle bereits ein Geschlecht. Das unterscheidet ihn von so genannten Zellhaufen.  Der Embryo hat die Potentialität, d. h. die Fähigkeit, bei ungestörter Entwicklung unter vorgesehenen und vorhersehbaren Bedingungen ein Mensch, eine Person, zu werden.

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Der Embryo begründet eine kontinuierliche Entwicklung zu dieser Person, bei welcher keine Einschnitte mehr zu verzeichnen sind, die von sich aus einen spezifischen Neubeginn signalisieren würden. Zu 2)  Der frühe Embryo kann noch mehr als ein Mensch werden, etwa bei eineiigen Zwillingen.  Dem frühen Embryo fehlt die Individualität. In den ersten fünf bis sieben Tagen vor der Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut teilen sich die Zellen; aus den inneren Zellen wird der Embryoblast gebildet, aus dem sich der Embryo entwickelt. Die äußeren Zellen werden zu Trophoblasten, aus dem der Mutterkuchen (Plazenta), das Versorgungsorgan für den Embryo und den zukünftigen Fetus, entsteht. Beide Positionen vertreten die Schutzwürdigkeit des Embryo von der Empfängnis an. Der emeritierte Münchener Moraltheologe Johannes Gründel fragt aber, ob es zu rechtfertigen sei, „den Beginn eines Lebewesens einzig und allein am Zusammentritt von weiblichem und männlichem Genom festzumachen. Der entscheidende Zeitpunkt ist vielmehr erst dann gegeben, […] wenn er (der Embryo) alles hat, was er braucht, um sich selbst zu einem Lebewesen zu organisieren. […] Geht man davon aus, dass mit der Einnistung (Nidation) des Embryo eine ganz entscheidende Stufe für die weitere Entwicklung gegeben ist, ohne die sich ein solcher Embryo überhaupt nicht zu einem vollen Menschen entwickeln kann, dann liegt zwar vor der Einnistung zu achtendes und zu schützendes menschliches Leben vor; es wäre aber noch nicht jener absolute Schutz gefordert, wie dies nach der Nidation für bestehendes personales Leben der Fall ist.“ Gründel hält es daher für plausibel, „den Personbegriff für einen Embryo nicht vor der Einnistung anzuwenden“. Daher, so folgert er, könne man von „einer gewissen Grauzone sprechen, die für den Normalfall noch keine Ausnahme für einen Eingriff zulässt, bei gewichtigen schwerwiegenden Gründen jedoch ein Handeln bzw. ein Nichthandeln (etwa ein Nicht-Transferieren eines Embryos) als denkbar und verantwortbar erscheinen lässt. […] Eine Verwendung überzähliger Embryonen für die Forschung erschiene mir als Ausnahme dort verantwortbar, wo aufgrund der vorliegenden Erfahrungen im Rahmen der Untersuchungen des Embryos zu erwarten ist, dass dieser Embryo überhaupt nicht eingenistet werden wird.“ Das bedeutet nicht, so Gründel, dass alles, was vor der Nidation an Entwicklungen stattfindet, ungeschützt wäre. „Die befruchtete Eizelle darf so wenig missbraucht werden, wie das menschliche Erbgut allgemein. Wir schreiben dem Erbgut einen Wert zu, der sich an der Menschenwürde orientiert und der sich aus unseren Vorstellungen von Gesundheit, Lebensqualität und Selbstbestimmung zusammensetzt.“ Gründel gibt auch zu bedenken, ob es denn wirklich vorstellbar sei, dass den mit bloßem Auge gar nicht sichtbaren, weniger als ein tausendstel Gramm wiegenden Zellverbindungen schon als „Personen“ anzusprechen sind, denen all jene Verheißungen zukommen, die nach christlicher Tradition dem Menschen gemacht wurden. „Unter ‚Person‘ wird doch verstanden, dass Gott zu diesem Wesen sein endgültiges ‚Ja‘ gesagt hat, d. h. dass dieses Leben über den Tod hinaus, d. h. zur Auferstehung der Toten berufen ist. – Soll eine Argumentation in der Moraltheologie einigermaßen ‚rational‘

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sein, so stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage: Ist es wirklich anzunehmen, dass allen jenen befruchteten Eizellen oder Zygoten, die überhaupt nicht zur Einnistung gelangen und damit noch keine aktiv formgebende Kraft besitzen, bereits im Vollsinne menschlich-personales Leben zugesprochen werden muss? Oder haben wir es in dieser frühesten Phase zwar mit artspezifisch menschlichem Leben, aber noch nicht mit individualspezifischem Leben zu tun?“ 195 Der Bewährungsfall im Hinblick auf die Achtung vor der Menschenwürde tritt vor allem bei konkreten Fragen ein, in denen Gentechnologie und Reproduktionsmedizin Anwendung finden. Die so genannte verbrauchende Forschung an Embryonen stellt eine klar erkennbare Verletzung der Menschenwürde dar. Denn ein menschliches Wesen zu dem ausschließlichen Zweck seiner anschließenden Vernichtung (wenn auch zu „therapeutischen“ Zwecken) herzustellen, bleibt auch dann eine totale Instrumentalisierung, wenn sich die Forschung davon erheblichen Nutzen für die bereits lebende oder für künftige Generationen verspricht. Inzwischen haben Wissenschaftler herausgefunden, dass auch adulte Stammzellen diese therapeutische Aufgabe erfüllen könnten. Denn auch sie regenerieren im eigenen Körper stark beanspruchte Organe. Allerdings hat der menschliche Körper 220 unterschiedliche Gewebe, und jedes könnte Stammzellen beherbergen. Man muss diese Zellen also erst finden und sicher identifizieren, um dann ihr Wachstums- und Teilungspotential abzuschätzen. Ebenso eindeutig ist das Klonieren, die Herstellung beliebig vieler, genetisch identischer Individuen, als Verstoß gegen die Menschenwürde zu beurteilen. Thomas Fuchs, Mediziner und Philosoph, hat darauf aufmerksam gemacht, dass menschliches Klonen offenbar ein uraltes Ziel der Menschheit verfolgt: den „Archetyp des Doppelgängers“. Verbirgt sich hier vielleicht sogar, wenn auch unausgesprochen und wahrscheinlich auch unbewusst, die Todesangst des Menschen? Die Angst zu vergehen, nicht mehr da zu sein? Durch das Klonen eines Doppelgängers des eigenen Ich könnte sich das Individuum eine Art von „Unsterblichkeit“ selber erschaffen. Freilich wäre der klonierte Mensch als Person nicht wirklich das Alter ego seines Originals. Doch „die genetische Identität einer Person wäre vollständig durch menschliches Eingreifen determiniert. […] Der in seinem Sosein geplante und schon vorgegebene Klon hätte das Geheimnis des Anfangs verloren, das uns die Freiheit zur Entwicklung gibt. Er wäre betrogen um die Offenheit seines Lebens und die Spontaneität seines Werdens. Angesichts seines Originals geriete er in den existentiellen Zweifel des Unheimlichen: Bin ich er oder ich?“ 196 In der Diskussion um das Für und Wider der pränatalen Diagnostik sollte auch die grundsätzliche Einstellung zur Behinderung in Betracht gezogen werden. „Wie wird es um das Kind stehen, das mit einer ‚Behinderung‘ geboren ist? Wird die übrige Gesellschaft diesem Kind mit Toleranz begegnen, oder wird sie es letztlich als einen Fehler im genetischen Code ansehen – mit einem Wort: als mangelhaftes Produkt? Künftige Generationen könnten viel weniger tolerant gegenüber Menschen werden, die nicht technisch reproduziert sind und von den genetischen Standards und Normen des bioindustriellen Marktes mit seinen ‚optimalen Praktiken‘ abweichen. Wenn dies geschähe, könnten wir das kostbarste Geschenk überhaupt verlieren: die Fähigkeit des Menschen zur Empathie. Empathie mit dem Mitmenschen bedeutet, dass wir seine

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Verletzlichkeit, seine Schwächen und sein Leiden, aber auch seinen einzigartigen Kampf um Behauptung seiner Menschlichkeit mitfühlen und miterleben. Aber kann Empathie wirklich in einer Welt überleben, die letztlich von ihrem Nachwuchs Vollkommenheit erwartet?“ 197 Irène Häberle, die Leiterin der Schweizerischen Ökumenischen Arbeitsgruppe „Menschenbild“, sieht geradezu eine „prophetische Aufgabe“ der Behinderten: „Wir brauchen das uneingeschränkte Eingeständnis unserer Unzulänglichkeiten, unseres Angewiesenseins auf andere, um überleben zu können, aber auch das Vertrauen, angenommen und geliebt zu sein, so wie wir sind. Genau hier setzt die prophetische Aufgabe des behinderten Menschen an. Er kann darauf hinweisen, woraus wir Menschen eigentlich leben: nicht primär aus unserer Tüchtigkeit und Leistungsfähigkeit, sondern aus dem Vertrauen und der Mitmenschlichkeit. Ein Mensch mit sichtbaren Mängeln und Schwächen kann sich kaum – oder mindestens nicht so leicht wie scheinbar vollkommene Leute – über seine Grenzen hinwegmogeln und sich etwas vormachen. Die sichtbaren und fühlbaren Grenzen zwingen ihn, sich in seiner Hinfälligkeit und Schwäche unverhüllt zu sehen und sich mit den fundamentalen Werten des Menschseins auseinander zu setzen.“ 198 Eine auf christlichem Glauben gründende Ethik ist, will sie den notwendigen Realitätsbezug und die Aufgaben einer positiven Gestaltung dieser Welt wahrnehmen, eine Ethik der Folgenabschätzung. Bei konkreten anstehenden gesellschaftlichen Entscheidungen wird es Kompromisse geben müssen, ohne dass dabei fundamentale menschliche Werte aufgegeben werden dürfen. „Gerade der Kompromiss weist darauf hin, dass menschliches Handeln in einer kontingenten Welt geschieht, in der sich bei allem Bleibenden doch ständig ein Wandel vollzieht – eine Welt, die auch im Rahmen der menschlichen Freiheitsgeschichte von Irrtum und Schuld nicht bewahrt bleibt. In einem evolutiven Weltbild lassen sich die Grenzen verantwortlichen Handelns nicht einfach von einer vorgegebenen (statischen) Natur ablesen; dies käme einem naturalistischen Fehlschluss gleich. Eben darum gehört zu einer ethischen Urteilsfindung auch das interdisziplinäre Gespräch.“ 199 Denn wir leben nicht mehr in einer christlichen Gesellschaft, sondern in einer pluralistischen, die zwar auch ethischer Normen bedarf, aber zur allgemeinen Anerkennung gruppengebundener Gesetze und Vorschriften zur Lebensgestaltung nicht gezwungen werden kann.

11. Krankheit und Leiden a) Strafe oder Auserwählung Gottes?

„Ich bin seit 1959 gehbehindert, beträchtlich gehbehindert. Ich zögere nicht, Ihnen heut zu sagen, dass ich diesem Leiden viel verdanke. ich habe in meiner Antrittsvorlesung als Ordinarius für klinische Psychologie gesagt: Als ich begann schwerer zu gehen, hatte ich begonnen zu gehen. Ich bin im Geistigen beweglicher geworden, doppelt und dreifach. Das ist sicher Kompensation, aber aus konservativem denken bin ich dabei ein Progressiver geworden. […] Ich habe für meine Patienten an Vertrauen ge-

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wonnen. Denn nun sehen sie, der Ringel spricht nicht nur von der Not wie der Blinde von der Farbe, sondern er erlebt sie am eigenen Leib. Ich bin aber auch glaubwürdiger geworden, weil die Leute sehen, dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten gut damit fertig werde. und ich habe das Problem jedes Patienten viel besser erfassen gelernt. Ich nehme die Dinge aus eigenem Erleben viel ernster. Leiden kann so natürlich ein Anruf sein, innerlicher, intensiver, mitmenschlicher zu werden. Aber das ist etwas ganz anderes als die im Christlichen vielfach praktizierte doppelbödige Moral, die Verherrlichung des Leidens predigt anstatt sich seiner anzunehmen“200. Zu den Erfahrungen, die Menschen machen müssen, gehört auch das Leid. „Wie kann Gott das Leid zulassen? Warum greift er nicht ein? Warum muss gerade ich das leiden?“ Diese Fragen sind schon für viele zum Stolperstein ihres Glaubens geworden. Das Leid kann als „Fels des Atheismus“ gelten.201 Immer wieder haben Theologen nach plausiblen Antworten und „Erklärungen“ gesucht. Aber was sie dabei herausfanden, ist höchst widersprüchlich:  Für die einen gelten Krankheit und Leid als Strafe Gottes: „Der Herr lässt den nicht ungestraft, der seinen Namen missbraucht“ (Ex 20,7; Dtn 5,11). Er ist ein „gerechter Richter, der täglich strafen kann“ (Ps 7,12). Er ist es, der „an den Nationen das Strafgericht vollziehen wird“ (Ps 149,7). Vor allem unter „streng gläubigen Christen“ gibt es diese Vorstellung. Harold Kushner berichtet von Eltern, deren 19jähige Tochter plötzlich zusammenbricht und an Hirnblutung stirbt. Die Eltern sehen das als Strafe Gottes an ihnen, weil sie die Fastengebote nicht eingehalten hatten. „Wer“, so fragt Kushner, „lehrte sie, an einen Gott zu glauben, der eine attraktive, begabte junge Frau ohne Vorwarnung niederstreckte – als Strafe dafür, dass irgend jemand anderer Gebote der Kirche übertreten hatte?“ 202  Andere sehen es als besondere Erwählung Gottes: „Wen Gott liebt, den züchtigt er“ (Spr 3,12). Harold Kushner berichtet von seinen eigenen Erfahrungen: „Ich fand keinen Trost in dem Glauben, dass Gott mich auserwählt hat, weil Er bei mir eine besondere geistige Stärke und Kraft vermutete, weil ER wusste, dass ich vielleicht besser als andere dieses Leid ertragen werde. Ich fühlte mich weder ‚auserwählt‘, noch konnte ich leichter begreifen, warum Gott behinderte Kinder zur Welt kommen lässt – nur um den Glauben der Eltern zu prüfen“ 203. Wie soll ein Mensch herausfinden, ob das Leid für ihn Liebeserweis oder Züchtigung Gottes bedeutet? Ob es Zeichen seiner Güte oder eine Strafe ist? Er wird in ständiger Angst und Unsicherheit gehalten. Er weiß nie, woran er ist. Gott erscheint wie ein unberechenbarer Willkürherrscher. Wie einer, der offenbar eine Lust daran empfindet, Menschen leiden zu lassen – die einen als Zeichen seiner Auserwählung, die anderen zur Strafe. Es mag Menschen geben, die im Leid und durch das Leid Gott gefunden haben. Not lehrt beten. Aber Not lehrt auch fluchen. Es gibt wohl ebenso viele Menschen – wenn nicht mehr –, denen das Leid, das sie am eigenen Leib und bei anderen erfahren haben, zum Anlass wurde, an Gott und seiner Liebe zu zweifeln oder sogar ganz von ihm Abschied zu nehmen. Man kann Dorothee Sölle nur zustimmen: „Jeder

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Versuch, das Leid als unmittelbar oder mittelbar von Gott verursacht anzusehen, (steht) in der Gefahr, sadistisch über Gott zu denken“ 204. Die Frage nach dem Warum des Leidens ist nicht so einfach zu beantworten, wie das bei Theologen manchmal geschieht. Der französische Kardinal Pierre Veuillot, Erzbischof von Paris, vertraute nach langem, qualvollen Leiden seinem Freund, dem Bischof Lallier, sterbend an: „Wir verstehen es meisterhaft, schöne Sätze übers Leiden zu machen. Auch ich habe übers Leiden in ergreifenden Worten gepredigt. Sagen Sie den Priestern, sie sollen lieber schweigen; wir wissen nämlich nicht, was leiden heißt. Als ich dies einsehen musste, habe ich nur noch geweint“ 205. Angesichts des Leidens haben gutgemeinte Trostreden und salbungsvolle Mahnungen keinen Platz. Sie wirken unehrlich und unaufrichtig. Ein gescheiter und frommer Mann sagte einmal in einer schweren Krankheit, an der er später starb: „Im Leid, wenn es ernst wird, sind wir alle Analphabeten.“ Das gilt auch für jene, die das Leid anderer mit ansehen und mit erleben müssen. Die Sprache wirklichen Trostes muss erst mühsam gelernt werden. Klischees sind hier nicht am Platz – auch religiöse, „christliche“ nicht. Die einzig glaubwürdige Antwort auf die herausfordernde Anfrage des Leidens ist das ehrliche Anteil-nehmen und das aufrichtige Mit-leiden, die spürbare Solidarität. Die kann bis hinein in das Angefochtensein gehen, in die Gottesferne und Gottverlassenheit. Die körperbehinderte Luise Habel berichtet, sie sei in ihrer Krankheit einem Pfarrer begegnet, der keine fertige Antwort auf die Frage nach dem Warum bereit hielt. „Von ihm lernte ich, dass es Sprüche gibt, die man nicht gebrauchen darf. Sprüche, die objektiv stimmen, aber, die – einmal gesprochen – doch wie geworfene Steine sind.“ Dieser Pfarrer „geht zu ihr in die Finsternis, er hält ihr stand, erträgt sie mit ihr; sie spürt erstmals: ich dulde nicht mehr allein, er geht neben mir, mitleidend, die Dunkelheit verliert zu zweit die belastende Einsamkeit, sie kann sie aushalten, annehmen, bejahen! ‚Das war neu für mich, dass da ein Christ war, der keine Antwort hatte. Dass er um meinetwillen all die Bibelsprüche, die ihm zu Gebote standen, unausgesprochen ließ. Er hätte sich ein gutes Gewissen verschaffen können. Aber er tat es nicht. Um meinetwillen. Da nahm einer etwas, auf sich, um mich nicht zu belasten. Dadurch wurde er glaubwürdig für mich‘“ 206. b) Die Solidarität Gottes mit dem Leid der Menschen

Solches Schweigen, aber auch solches Fragen und Hadern mit Gott bedeutet noch lange nicht Resignation und Kapitulation vor dem Leid. Und schon gar nicht lässt sich das Leid einfach Gott in die Schuhe schieben. Denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass das meiste Leid – auch das, was gern als „unabänderlich“ und „schicksalhaft“ hingestellt wird – von Menschen selbst verschuldet ist. Krieg ist kein „Natur-Schicksal“. Naturkatastrophen sind immer häufiger auf die von Menschenhand vorgenommenen Veränderungen und Eingriffe, auf Ausbeutung und Plünderung der Schöpfung zurückzuführen. Krankheit und Behinderung haben häufig ihre unmittelbaren Ursachen in der von Menschen verursachten Schadstoffbelastung der Umwelt, in menschlichem Versagen und in allzu mutwilligem und leichtsinnigem Experimentieren. Auch für das

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Leid der Arbeitslosigkeit, der Wohnungsnot oder der wachsenden Kriminalität kann Gott nicht verantwortlich gemacht werden. Wer auch nur ein wenig über die vielfältigen und verworrenen Ursachen des Leids nachdenkt, wird sehr vorsichtig sein, deswegen den Vorwurf zu erheben: Wie kann Gott so etwas zulassen? Eine der wichtigsten Aussagen des Neuen Testaments lautet: „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,8). Aus Liebe hat Gott diese Welt geschaffen, so sagt es christlicher Glaube. Doch diese Welt steht als Gewordene unter dem Gesetz des Werdens und Vergehens. Und damit ist von Anfang an auch das Leid in sie eingestiftet. Jedes Werden und Vergehen bringt Leid mit sich. Eine leidlose Welt wäre eine göttliche Welt, wäre Gott selbst. Gott konnte nur eine Welt erschaffen, die nicht-göttlich und die damit notwendig unvollkommen ist. Schon allein in der Tatsache der notwendigen Unvollkommenheit liegt eine der Ursachen für das Leid in der Welt. Dennoch bezeichnet sie die Bibel als „gut“, ja als „sehr gut“ (Gen 1,31). Zu dieser Welt gehört auch der Mensch, von dem die Bibel sagt, er sei nach Gottes Bild, ihm ähnlich (Gen 1,26 f.) erschaffen worden. Wenn der Mensch ein Bild Gottes sein soll, muss er (auch) frei sein, wenngleich nicht in vollkommener, sondern – als Geschöpf – in unvollkommener Weise. Ein Mensch ohne jegliche innere Freiheit wäre kein „Bild Gottes“. Die Freiheit aber eröffnet die Möglichkeit, sie auch zu missbrauchen – auch um anderen Leid zuzufügen. Die schöpferische Liebe Gottes und das Leid der Welt stehen in einer tragischen Verquickung. Das Leid ist, wenngleich indirekt, gottgewollt, weil Gott in seiner Liebe den Menschen als freies Geschöpf – ihm ähnlich – will. Gott wegen des Leids anzuklagen, hieße im Grunde, ihn wegen seiner schöpferischen Liebe anzuklagen. Aus dem Dilemma, in das Gott sich – anthropomorph gesprochen – durch die Erschaffung einer zwar „guten“, aber zwangsläufig unvollkommenen Welt hineinmanövriert hat, gibt es für ihn, weil er die Liebe ist, nur einen Ausweg: Die Solidarität mit den Geschöpfen, mit den Menschen. Wenn er schon den Missbrauch menschlicher Freiheit um seiner Liebe willen nicht verhindern kann, so kann er sich aber aus eben dieser Liebe selber dem Missbrauch unterwerfen. Er kann selbst Geschöpf werden – unvollkommen, der Krankheit und dem Leid ausgesetzt. Und er ist es nach christlicher Glaubensüberzeugung auch geworden – in Jesus von Nazaret. Er ist „Fleisch“ geworden (Joh 1,14). „Fleisch“ – das meint nicht: Menschlicher Leib und schon gar nicht immaterielles Sein des Menschen. Fleisch bedeutet das Kreatürliche, Geschöpfliche, das Materielle. Nach christlicher Überzeugung unterwirft sich Gott mit seiner „Inkarnation“ (von lat. caro = Fleisch) dem Gesetz des Werdens und Vergehens. Er liefert sich den Gesetzen seiner eigenen Schöpfung aus – dem Weinen und Seufzen, dem Röcheln und Stöhnen, dem Fressen und Gefressenwerden, dem grausamen Sterben und dem elenden Zugrundegehen. Er setzt die von ihm selbst der Schöpfung gegebene Ordnung nicht außer Kraft, sondern unterstellt sich ihr. Er bleibt kein weltferner, ungerührter, teilnahmsloser Zuschauer des Weltgeschehens und Weltleidens, sondern nimmt aktiv und passiv – d. h. leidend! – daran teil. Er solidarisiert sich mit seinen Geschöpfen bis zur letzten Konsequenz, bis in die Schattenseiten des Lebens, bis in die Nachtstunden des Leids. Er macht sich ohnmächtig gegenüber menschlichem Allmachtsstreben, das auf die Leiden anderer keine Rücksicht nimmt. Er lässt sich den Missbrauch der Frei-

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heit gefallen, wenn Menschen sich zu Herrschern über Menschen aufschwingen. Er lässt sich an den Galgen des Kreuzes hängen. Ein urchristlicher Hymnus, den Paulus in den Brief an die Gemeinde von Philippi (2,6–8) aufgenommen hat, bringt diese göttliche Solidarisierung in unnachahmlich wundervoller Weise zum Ausdruck: „Er (Christus) war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ c)

Ist Organspende Christenpflicht?

Am 1. 11. 2012 ist das neue Transplantationsgesetz in Kraft getreten. 207 Es soll vor allem eines erreichen: Die Zahl jener Menschen erhöhen, die bereit sind, im Todesfall ein Organ zu spenden, um anderen das Leben zu retten. Das ist dringend erforderlich, denn im Oktober 2012 gab es deutschlandweit nur rund 60 Organspenden pro Monat – statt wie bisher rund 100. Das hat zur Folge, dass von den 12.000 Menschen, die in ganz Deutschland auf eine Spende warten, jeden Tag drei sterben. Die Ursache sehen viele in der Verunsicherung gegeben, die angesichts der jüngsten Berichte über Manipulationen und Fälschungen bei der Vergabe von Organen herrscht. Viele haben das Vertrauen in das System verloren. Die Politik versucht nun gegenzusteuern. So werden die Krankenkassen an alle ihre Versicherten Informationen und Ausweise versenden und sie befragen, ob sie im Todesfall mit einer Organentnahme einverstanden sind oder nicht. Dabei geht es zuerst um die Frage: Wann ist der Mensch irreversibel tot? Als ethisch, naturwissenschaftlich und medizinisch gut begründetes Kriterium gilt der Hirntod. Er wird definiert als „Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Dabei wird durch kontrollierte Beatmung die Herz- und Kreislauffunktion noch künstlich aufrechterhalten.“ 208 Irritierend ist, dass dieses Tot-sein nicht mit der Vorstellung übereinstimmt, die wir uns gemeinhin vom Tod als dem Ende des Sterbeprozesses machen. Denn der Körper des Toten ist aufgrund der intensivmedizinischen Maßnahmen vor der Organentnahme noch nicht vollständig gestorben; Hirntote können schwitzen, Urin und Stuhl ausscheiden. Daraus kann leicht der falsche Schluss gezogen werden, dass einer sterbenden, noch nicht wirklich toten Person Organe entnommen werden. Es ist daher wichtig, dass Angehörige auf diesen Unterschied vorbereitet werden. Bevor einem Hirntoten Organe entnommen werden dürfen, muss dessen Spendebereitschaft geklärt werden. Das ist einfach, wenn der Tote einen Organspenderausweis

Krankheit und Leiden

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besessen hat. Ist dies nicht der Fall, kann versucht werden, die stellvertretende Einwilligung in eine Organspende durch Angehörige oder andere dazu befugte Personen zu ermitteln. Hierbei geht es darum, den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen zu erkunden. Diese Prüfung im Einzelfall ist aus ethischer und juristischer Sicht verpflichtend. Aus der Perspektive christlicher Ethik stellt sich nun die Frage, ob es eine Christenpflicht zur Organspende gibt oder geben kann. In der öffentlichen Diskussion dazu werden vor allem zwei Argumente geltend gemacht: Es sei erstens eine Verschwendung lebensrettender Ressourcen, dass Leichname bestattet oder verbrannt werden, man könnte stattdessen die geeigneten Organe rechtzeitig entnehmen und an transplantationsbedürftige Kranke weitergeben. Und zweitens müssten jeden Tag im Durchschnitt 3 Patienten sterben, weil kein Spenderorgan zur Verfügung stand. Befürworter einer strikten Organspendeverpflichtung jedes Menschen und insbesondere jedes Christen vertreten die Ansicht, dass mit dem Tod die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper endet und der potentielle Empfänger des Organs sich in einer lebensbedrohenden Notstandssituation befindet, die schwerer wiege als die Pietätspflicht gegenüber dem Leichnam eines Verstorbenen. Demgegenüber macht der Deutsche Ethikrat geltend: „Organspende muss eine Gabe bleiben, zu der man weder rechtlich noch moralisch genötigt werden kann … Eine Pflicht zur Organspende lässt sich nicht rechtfertigen (…) Organspenden sind Akte der Solidarität und Nächstenliebe, die Menschenleben retten.“ 209 Ähnlich sehen es die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland. In einer Gemeinsamen Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD aus dem Jahr 1990 betonen sie: „Kein Mensch ist zu einer Gewebe- oder Organspende verpflichtet und darf deshalb auch nicht dazu gedrängt werden.“ Aus christlicher Sicht gibt es jedoch „keinen grundsätzlichen Einwand gegen eine freiwillige Organspende … Nach christlichem Verständnis ist das Leben und damit der Leib ein Geschenk des Schöpfers, über das der Mensch nicht nach Belieben verfügen kann, das er aber nach sorgfältiger Gewissensprüfung aus Liebe zum Nächsten einsetzen darf.“ 210 In jüngerer Zeit haben die katholischen deutschen Bischöfe die Organspende als „einen Akt der Nächstenliebe“ bezeichnet. „Sie soll als Ausdruck großherziger Solidarität gefördert werden. … Diese klare Zustimmung zur Organspende wird allerdings von ebenso klar formulierten Bedingungen abhängig gemacht, die es einzuhalten gilt.“ 211 Solidarität könnte man so verstehen, dass wir mit denen teilen, die mit ihrer Gesundheit weniger Glück gehabt haben als wir, denen in der Lotterie des Lebens ohne eigenes Verdienst eine bessere Gesundheit, eine bessere genetische Ausstattung und die damit verbundenen Güter geschenkt wurden. 212 Aber kann „großherzige Solidarität“, kann Organspende aus christlicher Perspektive zur Pflicht gemacht werden? Konrad Hilpert hat sich mit dieser Frage intensiv auseinandergesetzt. Er kommt zu der Ansicht, dass „die postmortale Spende von Organen genauso wie die Lebendspende durchaus ein Ausdruck und eine Konkretion von christlicher Nächstenliebe seitens des Einzelnen sein (können). Aber sie ist eine konkrete Gestalt von Nächstenliebe, nicht die notwendige und einzige Art und Weise, wie jeder Christ bzw. jeder gesunde Christ die Nächstenliebe verwirklichen muss. (…)

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Beobachter reagieren auf die Ausführung derartiger Handlungen mit Lob und Bewunderung; wenn sie unterbleiben, erfolgt aber kein Tadel (…) Eine solche Spende ist eine ethisch hochstehende Tat. Sie geht über das hinaus, was von einem Individuum rechtlich und moralisch gefordert werden kann und was ein Anderer von ihnen erwarten kann. Als solches verdient es besondere moralische Anerkennung. Wer aber dazu nicht bereit ist, kann deshalb nicht getadelt werden.“ 213 Weil der Bedarf an transplantierbaren Organen die Zahl der zur Verfügung stehenden Organe um ein Mehrfaches übertrifft, hat das neue Transplantationsgesetz die Entscheidungsregelung eingeführt. Ihr zufolge soll jeder Bürger zu seiner Bereitschaft für oder gegen die Organspende befragt und diese Entscheidung auf einem amtlichen Dokument festgehalten werden. 214 „Erst wenn sich herausstellen sollte, dass diese Maßnahmen der Befragung und des Motivierens nicht fruchten und es auch keine alternativen Wege gibt, sollten stärkere Instrumente wie die Widerspruchslösung in Erwägung gezogen werden. (…) Sie kann nicht von vornherein als ethisch verantwortbar deklassiert werden, solange Informiertheit und Freiwilligkeit wenigstens in Gestalt von Widerspruchsmöglichkeit garantiert sind.“ 215

12. Die Heiligen a) Heilige

Die meisten großen Religionsgemeinschaften haben ihre „Heiligen“. Das sind Menschen, noch lebende oder bereits verstorbene, die sich durch besondere Nähe zur Gottheit auszeichne(te)n und/oder den (sittlichen) Anforderungen der Religion in überdurchschnittlichem Maße entsprachen bzw. entsprechen. Auch die christliche Kirche hat von Anfang an die Verehrung solcher Heiligengestalten gebilligt. Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert waren es die „Blutzeugen“, die Martyrer, denen eine besondere Verehrung zuteil wurde. Ihnen folgten im dritten Jahrhundert die „Bekenner“, die wegen ihres Glaubens gefoltert wurden oder die die Nachfolge Jesu in besonders vorbildlicher Weise in ihrem Leben verwirklichten. Sehr früh sind auch Gedächtnisfeiern bezeugt, die Asketen und Bischöfen galten (4. Jahrhundert). Die folgenden Jahrhunderte kennen zunächst heilige Ritter und Adlige, denen sich bald Reiter und Soldaten, Könige und Ordensgründer, Nothelfer und Wohltäter, Mönche und Jungfrauen, Witwen und „weder Jungfrauen noch Martyrinnen“ zugesellen.216 In den ersten christlichen Jahrhunderten gab es noch keine formelle „Heiligsprechung“. Als einziges Kriterium galt, dass die Heiligen vom Volk verehrt wurden.217 Wegen aufkommender Missbräuche und um der Anerkennung des Kultes zu Ehren eines bestimmten Heiligen größeres Gewicht zu verleihen, wurde aber immer häufiger der Papst als Entscheidungsinstanz herangezogen. Die erste von einem römischen Bischof formell vorgenommene Heiligsprechung geschah am 11. Juni 993; sie galt dem Bischof Ulrich von Augsburg. Das Verfahren einer solchen „Kanonisierung“ wurde zuletzt 1969 von Papst Paul VI.

Die Heiligen

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neu geregelt. Es sieht vor, dass „außer einer hinreichenden Verehrung […] ein zeitlich nach der Seligsprechung auf die Fürsprache des Seligen bewirktes, in einem getrennten Verfahren zu belegendes Wunder erforderlich“ ist. „Danach liegt es im allgemeinen Ermessen des Papstes zu entscheiden, ob er die Kanonisation vornehmen will. Einen Rechtsanspruch darauf nach erfolgreich abgeschlossenem Verfahren gibt es nicht.“ 218 Die Geschichte der Heiligenverehrung ist immer auch die Geschichte derjenigen, die sich für die Heiligen interessieren. 219 Die Basis, das „einfache, gläubige Volk“ sieht in ihnen Vorbilder und Hoffnungsgestalten, die sich durch heroische Verwirklichung der christlichen Tugenden ausgezeichnet und ganz für Gott geöffnet haben und die somit zu Leitbildern christlicher Existenz geworden sind. Als solche können sie verehrt und um ihre Fürsprache bei Gott angerufen werden. Dabei kann es freilich vorkommen, dass sich auch übertriebene und ungesunde Formen der Heiligenverehrung breit machen – etwa in der Konservierung antijüdischer Einstellungen bei der Verehrung einiger Martyrer (Werner von Oberwesel; Ritualmordkult um Anderl von Rinn 220 u. a.). Die Leitbildfunktion der Heiligen kann freilich von der Kirchenleitung auch dazu instrumentalisiert werden, um dem Kirchenvolk bestimmte Normen und Werte konkret vor Augen zu halten und einzuschärfen, die zu seiner möglichst reibungslosen Führung als besonders wichtig erscheinen. Es muss schon zu denken geben, dass nicht selten Menschen als Heilige hingestellt wurden, die sich durch reichlich problematische „Tugenden“ wie übertriebene Schuldgefühle, Strafbedürfnis, Selbsthass, „Engelgleichheit“, Neigung zu Unterwürfigkeit und blindem Gehorsam „auszeichneten“. Die Psychotherapeutin Ursula Neumann fragt: „Die Heiligen haben in der katholischen Kirche die Funktion von Wegweisern. Was bedeutet es, wenn sie einen Weg weisen, an dessen Ende immer nur ein von Angst gepeinigter, schwacher, mit sich selbst zerfallener Mensch stehen kann? Wer kann das wollen?“ 221 Mit Ausnahme der zeitlos-großen Gestalten wie Franz von Assisi, Teresa von Avila, Katharina von Siena, Benedikt von Nursia, Thomas Morus oder Hildegard von Bingen besitzen die „alten“ Heiligen heute kaum noch Vorbildcharakter. Neue, „moderne“ (auch nicht „kanonisierte“) Heilige sind an ihre Stelle getreten – Martin Luther King, Mutter Teresa, Mahatma Gandhi, Charles de Foucauld, Simone Weil, Dietrich Bonhoeffer, Edith Stein, Franz Jägerstätter, Alfred Delp, Sophie und Hans Scholl, Maximilian Kolbe, Papst Johannes XXIII., Roger Schutz, Oscar Romero u. a. Das Zeugnis ihres Lebens fordert zur Nachfolge im Alltag von heute, aber auch zu (Selbst-)Kritik und Umkehr heraus. Es ist bezeichnend, dass sich heute gerade solche Heiligen eines besonderen Interesses erfreuen, die als spirituelle und prophetische Menschen gleichermaßen kämpferisch wie kontemplativ, widerständig wie ergeben, unbeugsam wie tolerant, weltzugewandt wie gottverbunden waren. b) Maria

Unter allen Heiligen nimmt Maria von Nazaret, die Mutter Jesu, eine herausgehobene Stellung ein. Vom Neuen Testament her ist allerdings eine ausgesprochene Marienverehrung nur spärlich zu begründen. Die wichtigste Grundlage dafür liefert ein Satz im Lobgesang der Maria: „Von nun an preisen mich selig alle Geschlechter“ (Lk 1,48).

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Lukas knüpft dabei an ersttestamentliche Vorgaben an (Seligpreisung: Lea [Gen 30,13], Ijob [29,10–11]; Ausdehnung auf alle Geschlechter/Völker: Ps 72,17; Mal 3,12). Immerhin gibt es auch im Lukasevangelium (stärker freilich bei Markus und Johannes) Szenen, die einer Verehrung Marias eher entgegenstehen: die brüske Frage Jesu „Wer ist meine Mutter? Und wer sind meine Brüder?“ (Mk 3,31–35; Mt 12,46–50; Lk 8,19–21) und die schroffe Zurückweisung „Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh 2,4). Dennoch hätte Lukas die Seligpreisung wohl nicht in sein Evangelium aufnehmen und Maria in den Mund legen können, wenn er und seine Gemeinde in ihr nicht eine bewunderns- und verehrenswerte Frau gesehen hätte. Im ersten Jahrtausend war die Rede von Maria in der Theologie eng verknüpft mit christologischen Spekulationen, die (auch) dazu führten, dass das Konzil von Ephesus (431) Maria als „Gottesgebärerin“ (und nicht „nur“ als „Christusgebärerin“) bezeichnete. 20 Jahre später definierte das Konzil von Chalkedon (451) Jesus Christus als „wahrer Mensch und wahrer Gott“. Bis ins 12. Jahrhundert rückte nun die Frage nach der ekklesiologischen Funktion Marias in den Mittelpunkt – Maria als „Typos“ der Kirche, als „Fürsprecherin“ und „Schwester“ der Mitchristen. Seit dem 4. Jahrhundert wurden Maria Kirchen geweiht; im christlichen Osten kamen die ersten Marienfeste auf. Die mittelalterliche Theologie führte zu einer breitgefächerten Marienverehrung: Angelusläuten, Rosenkranz, HerzMarien-Verehrung, Marianische Kongregation, „Schmerzensmutter“ und „Schutzmantelmadonna“ kommen auf. Vom 12. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts richtete sich das Interesse auf die individuelle Gestalt der Mutter Jesu. Mit der Dogmatisierung der „Unbefleckten Empfängnis“ durch Papst Pius IX. (1854; übrigens anfänglich gegen starke Bedenken vor allem römischer Theologen) begann das „Marianische Jahrhundert“, das mit der Verkündigung des Dogmas von der „leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel“ durch Pius XII. (1950) einen nicht unproblematischen Höhepunkt erreichte. Auffällig ist, dass diese beiden Mariendogmen im Gegensatz zu allen bisherigen Glaubensdefinitionen nicht Reaktionen auf häretische Infragestellungen waren. Sie wurden auch nicht durch ein allgemeines Konzil, sondern unter persönlicher Verantwortung des Papstes erlassen und stützen sich nicht auf klare Schriftaussagen und/oder auf eine eindeutige und ununterbrochene Tradition. Darum werden sie auch nicht von den anderen christlichen Kirchen mitgetragen. Ende der fünfziger Jahre hatte die seit dem vorigen Jahrhundert in der römischkatholischen Kirche mächtig propagierte marianische Bewegung vielfach pathologische Züge angenommen. Ein „marianisches Tropenklima“ 222 breitete sich aus. „Marienerscheinungen“ häuften sich. Allein zwischen 1928 und 1971 vermerkt eine Auflistung nicht weniger als 210 solcher Phänomene, davon 71 in Italien, 27 in Frankreich, 19 in Deutschland und 17 in Belgien. Bemerkenswert ist immerhin, dass keine dieser 210 „Erscheinungen“ kirchlich positiv beurteilt wurden.223 Doch der Höhepunkt war überschritten. Maiandachten, Marienwallfahrten und Rosenkranzgebet kamen aus der Mode. Die Marienfrömmigkeit alter Prägung zog sich auf Kreise zurück, die nicht selten esoterische Züge erkennen ließen und lassen. Anstöße zu einer neuen Art von Marienverehrung kamen von zwei neueren theo-

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logischen Strömungen – von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und der feministischen Theologie. Die Befreiungstheologie sieht in Maria „eine arme Frau aus dem Proletariat, die sich an der Seite ihres Sohnes für die Befreiung des unterdrückten Volkes einsetzt.“ 224 Maria wird zum Symbol des Widerstands: „Er (Gott) zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen“ (aus dem „Magnifikat“: Lk 1,46–55). Die feministische Theologie wehrt sich gegen ein Marienbild, das Frauen einengt und das ihnen ein Jungfrau-und-Mutter-Ideal vorhält, dem sie in ihrem konkreten Alltag nie nachkommen können. Sie wendet sich unter Berufung auf eine pervertierte Marienfrömmigkeit (Maria als die „demütige Magd“) gegen die strukturelle Zurücksetzung und Demütigung von Frauen. Sie entdeckt stattdessen die Symbolkraft der „Jungfrau“ (Unabhängigkeit und weibliche Autonomie) und interpretiert das Dogma von der „Unbefleckten Empfängnis Marias“ als eine „Verneinung des Mythos vom weiblichen Bösen und als eine Vorausdeutung auf eine Welt jenseits der patriarchalen Vorstellungen von Gut und Böse, in der die Frauen nicht mehr die Last der Sündenbockrolle tragen“. Sie sieht im Dogma von der „Aufnahme Marias in den Himmel“ ein „Nein zur Gleichsetzung von Frauen mit der Materie, der Sexualität und dem Bösen“ 225. Darüber hinaus brachte auch der intensive Gedankenaustausch mit evangelischen Christinnen und Christen neue Impulse. Er musste zunächst die schmerzliche Tatsache in Erinnerung rufen und aufarbeiten, dass die Marienverehrung als Waffe in der Gegenreformation und auch als Waffe zur Eroberung Lateinamerikas missbraucht wurde. Das Gespräch hat aber auch dazu geführt, das Marienbild der Bibel wieder genauer zu betrachten. Maria erscheint hier nämlich eher in einer zurückgesetzten Position: Andere Frauen – Maria Magdalena und die Gruppe der Jüngerinnen (Lk 8,1) – werden von Jesus wichtiger genommen. Auch fehlt Maria bei den Auferstehungsgeschehnissen. Es „zeigt sich uns eine Schwester im Dunkel des Glaubens, die mit unerhörter Kühnheit einen sehr einsamen Weg gegangen ist […] mit diesem Außenseitersohn, der sie verlässt, und dies in einer Umwelt, die die Sippe so hoch schätzt. Diese biblische Sicht, […] zeigt uns positiv, wie nahe uns Maria im Dunkel unseres eigenen Glaubens ist. Auch sie kennt das schmerzliche Lernen, die Begegnung mit dem Ganz-Anderen, als zu erwarten ist und als die eigene fromme Tradition des jüdischen Volkes lehrt“ 226. Die neue Sicht lässt Maria zum Leitbild einer Menschheit werden, die sich aus allen möglichen Sklavereien zu befreien sucht, die aus der Selbstentfremdung zur Selbstverwirklichung strebt. Der veränderte Blick auf Maria vermag neue religiöse, kritische Kräfte freizusetzen im Hinblick auf die Unrechtsverhältnisse in der Dritten Welt, auf die Situation der Frau in Kirche und Gesellschaft oder in der Suche nach Lebenssinn und Lebenserfüllung. So wird Maria nicht zur Mutter oder gar Königin, sondern zur „Schwester im Glauben“227.

XI. Auf dem Weg zur Ökumene 1.

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Verbindender „Grundkonsens“ Die beiden großen Kirchenspaltungen im 11. Jahrhundert (Ostkirche – Westkirche) und im 16. Jahrhundert (Protestantismus – Katholizismus) haben in vielen Bereichen des kirchlichen Lebens scharfe, schier unüberbrückbar scheinende Gegensätze geschaffen. Dennoch reichte die Trennung nicht bis an die Wurzel. Es blieb das verbindende Fundament der Heiligen Schrift und der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse. Auf diese gemeinsame Basis besinnt man sich heute wieder. Schon seit einigen Jahren spricht man von einem „Fundamental-“ oder „Grundkonsens“, der die getrennten christlichen Kirchen miteinander verbindet. Das Zweite Vatikanische Konzil hatte sich als eine seiner Hauptaufgaben die Wiederherstellung der Einheit aller Christen gestellt. 1 1965, am Ende des Konzils, herrschte eine spürbare ökumenische Aufbruchstimmung. Es kam zu Zusammenkünften zwischen Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras I. in Jerusalem (1964), Konstantinopel und Rom (1967). Die gegenseitigen Verdammungsurteile von 1054 wurden 1965 von der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche durch eine feierliche Erklärung aufgehoben. Auch mit der anglikanischen Kirche fanden Treffen auf höchster Ebene statt. Schon vor dem Konzil hatte Erzbischof Fisher Papst Johannes XXIII. in Rom besucht; sein Nachfolger Ramsey traf 1966 mit Papst Paul VI. zusammen. 1969 stattete Paul VI. dem Weltkirchenrat in Genf einen Besuch ab und begrüßte ihn als eine „wunderbare christliche Bewegung“. Auf der Vollversammlung des Weltkirchenrates in Uppsala 1968 hielt ein Jesuit eines der Hauptreferate; er war vom römischen Sekretariat für die Einheit der Christen dazu vorgeschlagen worden. Viele gemeinsame Aktivitäten begleiteten auf der „unteren Ebene“ diese ökumenischen Annäherungen: Gebetstage, Gottesdienste, soziale Aktionen, theologische Gespräche, Konferenzen. Papiere wurden erstellt, ökumenische Direktiven erarbeitet, Treffen veranstaltet. Aber was sich über Jahrhunderte hinweg verfestigt hat, kann nicht in wenigen Jahren leicht und schnell gelockert und aufgebrochen werden. So konnte die Ernüchterung nicht ausbleiben. Sie zeigte sich besonders da, wo es um den konkreten Vollzug ging. Trotz allem: Durch das Zweite Vatikanum und seine Wirkungsgeschichte ist in diesen Jahren im Hinblick auf die Ökumene mehr erreicht worden als zuvor in Jahrhunderten. Größer als der Schmerz über das noch nicht Erreichte sollte die Freude über das schon Erreichte sein. „Rückschläge, Hindernisse und Verdächtigungen sind der Preis, der für die Ökumene zu bezahlen ist. Wer auf dem Feld der Ökumene, auch der ökumenischen Theologie nicht umstritten ist, hat nichts zu sagen.“ 2 Erhebliches Aufsehen erregte 1983 ein Buch zweier prominenter katholischer

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Theologen, Karl Rahner und Heinrich Fries. 3 Ohne großes Wenn und Aber stellten sie die These auf, dass kirchliche Einigung eine durchaus reale Möglichkeit sei, wenn man sie nur auf allen Seiten ernsthaft wolle. Das klang sehr viel frischer und hoffnungsvoller als die offiziellen wortreichen Absichtserklärungen der Kirchen, die nicht selten nur das eigene Nicht-Wollen kaschierten und daher in der Praxis kaum spürbare Auswirkungen zeigten. Für die beiden Theologen ist die Glaubensgemeinschaft unabdingbare Grundlage von Kirchen- und Eucharistiegemeinschaft. Sie stellen fest, dass in den christlichen Kirchen Übereinstimmung besteht hinsichtlich „der Grundwahrheiten des Christentums, wie sie in der Heiligen Schrift, im Apostolischen Glaubensbekenntnis und in den Konzilien von Nizäa und Konstantinopel ausgesagt werden.“ 4 Angesichts des gewaltig angewachsenen theologischen Wissens und der immer weiteren Ausdifferenzierung und Spezialisierung ist eine genauere Verständigung über Detailfragen der Konfessionen allerdings kaum noch möglich. Daher sei eine Glaubenseinheit in der Grundsubstanz ausreichend. Es genüge, wenn sich die evangelischen und orthodoxen Kirchen eines negativen Urteils über spezifisch katholische Glaubenssätze enthalten; ausdrückliche Zustimmung sei nicht vonnöten.5 Rahner und Fries sehen die Einigung der Kirchen nicht in der Verschmelzung zu einer Einheitskirche, sondern in der Gemeinschaft von Kirchen in der einen Kirche Christi. Es kann eine legitime Vielfalt von Teilkirchen mit eigener Liturgie, eigener theologischer Ausprägung und Verwaltung, eigenem kirchlichen Recht geben.6 „Alle Teilkirchen erkennen Sinn und Recht des Petrusdienstes des römischen Papstes als konkreten Garanten der Einheit der Kirche in Wahrheit und Liebe an.“ 7 „Alle Teilkirchen haben nach alter Überlieferung Bischöfe an der Spitze ihrer größeren Untergliederungen“, an deren Wahl alle Glieder der Teilkirchen beteiligt werden müssten.8 Die Teilkirchen sollten in einem gegenseitigen geschwisterlichen Austausch in allen ihren Lebensdimensionen stehen, so dass die bisherige Geschichte und Erfahrung der früher getrennten Kirchen im Leben der anderen Teilkirchen wirksam werden können.“ 9 Widerstände Doch nicht alle Theologen und erst recht nicht die obersten Leitungsgremien waren gewillt, diesem Weg zu folgen. So sagte Kardinal Camillo Ruini im Hinblick auf die römische „Sondersynode über Europa“ (28. 11.–14. 12. 1991), es gehe um einen „katholischen Ökumenismus“, und Papst Johannes Paul II. zeigte die Richtung auf, in der das „katholisch“ zu verstehen ist: Die Einheit der Kirche gründe auf der Einheit des Episkopats „cum Petro et sub Petro“ (d. h. mit Petrus, dem Papst, und unter Petrus, dem Papst). 10 Seitens der Kirchen der Reformation musste der Verdacht aufkommen, dass Rom es mit der Ökumene nicht ehrlich meine und dass Papst Johannes Paul II. und die seiner Ideologie nahestehenden Bischöfe mit der Forderung nach Re-Evangelisierung Europas im Grunde eine Re-Katholisierung anstreben. Wie begründet diese Vermutung war, zeigte sich in der von der Glaubenskongregation unter Federführung von Kardinal Ratzinger und mit ausdrücklicher Billigung des Papstes am 6. 8. 2000 veröffentlichten Erklärung „Dominus Jesus. Über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“. Darin wird der längst überwunden geglaubte Anspruch der römischen Kirche wieder erhoben, dass „die Kir-

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Auf dem Weg zur Ökumene

che Christi trotz der Spaltungen der Christen voll nur in der katholischen Kirche weiterbesteht“ (Nr. 16), dass diese Kirche „zum Heile notwendig ist“ (Nr. 20) und dass darum „kirchliche Gemeinschaften, die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, nicht Kirche im eigentlichen Sinn“ sind (Nr. 17). Genau diese Engführung hatte das Zweite Vatikanische Konzil aufbrechen wollen. Es hatte die ursprünglich für die Kirchenkonstitution geplante Formulierung „Die einzige Kirche, die wir im Glaubensbekenntnis bekennen, ist (est) die katholische Kirche“ abgewandelt in „… ist verwirklicht (subsistit) in der katholischen Kirche“ 11. Die (römisch-katholische) Kirche identifizierte sich damit nicht mehr schlechthin mit der Kirche Christi und ließ offen, ob nicht auch anderswo eine Verwirklichung der einen und einzigen Kirche gegeben ist. Folgerichtig versteht das Konzil die außerhalb der katholischen Kirche existierenden Gemeinschaften von Christinnen und Christen nicht nur als soziologische Größen, sondern als „Kirchen oder kirchliche Gemeinschaften“ 12. Ganz offensichtlich wurde diese vage und unpräzise Formel mit Absicht gewählt, um einer weiteren Klärung des Kirchenbegriffs keinen Riegel vorzuschieben. In „Dominus Jesus“ wird genau diese Intention des Konzils ignoriert. Es wird in einer eigenen Fußnote (56) ausdrücklich betont, das Konzil habe „subsistit“ gerade deshalb gewählt, „um klarzustellen, dass nur eine einzige ‚Subsistenz‘ der wahren Kirche besteht, während es außerhalb ihres sichtbaren Gefüges lediglich ‚Elemente des Kircheseins‘ gibt, die- weil sie Elemente derselben Kirche sind – zur katholischen Kirche tendieren und hinführen“. Was die Mehrheit der Konzilsteilnehmer damals nicht wollte, wird von der Glaubenskongregation jetzt einfach dekretiert. Die „katholische Kirche“ ist die römisch-katholische – sprich: die mit dem römischen Papst verbundene – Kirche. Fortschritte Doch es gibt auch erfreuliche Ereignisse, die zeigen, dass trotz aller Bremsversuche die ökumenische Bewegung nicht zum Stillstand gekommen ist. Am Reformationstag 1999 wurde nach langen und oftmals am Rand des Scheiterns stehenden Diskussionen in Augsburg vom Vatikan und vom Lutherischen Weltbund eine „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ unterzeichnet, die bei Theologen und Kirchenführern große Beachtung fand. Manche Beobachter meinten, darin sogar ein „Jahrhundertereignis“ und einen „ökumenischen Durchbruch“ sehen zu dürfen. Freilich wurden auch hier entgegen gesetzte Stimmen laut, die das alles als recht bedeutungslos hinstellten. Man habe sich lediglich über Fragen geeinigt, die ohnehin niemanden mehr interessieren, weder in den Kirchen noch in der außerkirchlichen Öffentlichkeit. Man habe eine gemeinsame Antwort gegeben auf Fragen von gestern und damit die Chance vertan, die Sache den Menschen von heute nahezubringen. Die Erklärung bedeutet keineswegs schon die Einheit der christlichen Kirchen. Es ist lediglich gelungen, die Lehrverwerfungen zu überwinden hinsichtlich der Rechtfertigungslehre, die ohnehin eine Sache von Theologen ist und die von der Basis kaum noch verstanden wird. Freilich könnte und sollte die Erklärung ein Ansporn sein, die hier möglich gewordene Einigung auf die jetzt noch kontroversen Problempunkte anzuwenden: Auf die Fragen von Glaube und Ethik, Glaube und Weltverantwortung, auf

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die Ämterfrage und die Sakramentenlehre. Die Kirchen dürfen auf dem, was jetzt erreicht wurde, nicht stehen bleiben. Neue Impulse könnten von einem Ereignis ausgehen, das weder in der Presse noch in den Kirchen ausreichend Beachtung fand. Am 22. 4. 2001, zum Ende der Europäischen Ökumenischen Begegnung in Straßburg, wurde vom Vorsitzenden der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK), Metropolit Jérémie Caligiorgis (Paris), und dem Vorsitzenden des Rats der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE), Kardinal Miloslav Vlk (Prag), im Namen der von ihnen vertretenen Gremien die „Charta Oecumenica“ unterzeichnet. Sie enthält „Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa“. Bemerkenswert ist, dass der Begriff der angestrebten Einheit der Kirchen durch den Begriff „Gemeinschaft“ ersetzt wurde. Damit sollte wohl deutlich gemacht werden, dass nicht eine Aufhebung der Vielzahl der Konfessionen anzustreben ist, sondern die besondere Beziehung im Vordergrund stehen soll, durch welche die Christen miteinander verbunden sind. Den Kirchen wird darin unter anderem empfohlen, gemeinsam das Evangelium zu verkünden, aufeinander zuzugehen, gemeinsam zu handeln, miteinander zu beten und die Dialoge fortzusetzen. Die ökumenische Ausbildung soll gefördert und gemeinsame Bibelstudien sollen organisiert werden, um sich so um eine gemeinsame Sicht der Geschichte zu bemühen und „alle Gelegenheiten wahrzunehmen, sich wechselseitig besser kennen zu lernen und gemeinsame Erfahrungen zu sammeln“. Die Empfehlung verknüpft sich von Anfang an mit der Frage, wie die sichtbare Einheit zwischen den Kirchen zu suchen und darüber glaubwürdig Zeugnis abzulegen sei: „Wir verpflichten uns, auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größere Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen, […] und dem Ziel der eucharistischen Gemeinschaft entgegenzugehen“ (II,4 f.), (wir verpflichten uns,) „die Stellung und Gleichberechtigung der Frauen in allen Lebensbereichen zu stärken, sowie die gerechte Gemeinschaft von Frauen und Männern in Kirche und Gesellschaft zu fördern“ (III,8). Einen Wermutstropfen auf dem hier angestrebten Fortgang in der Ökumene bedeutet allerdings die Tatsache, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche ihre Unterschrift zur Charta verweigerte, weil sie mit der darin formulierten Verpflichtung „zur sichtbaren Gemeinschaft der Kirchen“ nicht einverstanden war. „Pfingstbewegungen“ Vor gänzlich neue und enorme Herausforderungen sehen sich die christlichen Kirchen, insbesondere die römisch-katholische Kirche, durch das Aufkommen der „Pfingstbewegungen“ vor allem in außereuropäischen Ländern gestellt. Zu diesen Bewegungen zählen so genannte Evangelikale, Pentekostale und Charismatiker. Sie machen auf sich aufmerksam durch charismatische Heilungs- und Megagottesdienste in Fußballstadien und durch direkte, oft aggressive Werbung. Sie erfreuen sich eines ungewöhnlich großen Zulaufs. Die brasilianische Soziologin Brenda Carranza spricht von einer „Verpfingstung“ der katholischen Kirche Brasiliens durch die neocharismatische Bewegung und neue katholische Gemeinden, die durch Laien geführt würden und sich erfolgreich und geschäftstüchtig der modernen Medien bedienten.

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Auf dem Weg zur Ökumene

Während in Brasilien vor allem die Angehörigen der Unterschicht, die Bewohner der Slums und Favelas sich von den Bewegungen angesprochen fühlen, sind es auf den ebenfalls fast ausnahmslos katholischen Philippinen eher Menschen mit höherer Bildung. Mit der persönlichen Beziehung zu Jesus und der eigenen spirituellen Veränderung verbindet sich für sie die Hoffnung auf einen Weg aus dem Elend, ja sogar auf gesellschaftliche Veränderung von Missständen wie Korruption und Gewalt. In Südindien stellt die dortige Pfingstbewegung vor allem ein Phänomen der Mittelschicht dar; die Bewegung ist von jungen Menschen geprägt, sie überwindet das Kastenwesen, betont das Laienchristentum und gesteht Frauen mehr Rechte in der Gemeinde zu. Für den afrikanischen Kontinent glaubt der Religionswissenschaftler Paul Gifford, einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem traditionellen Geister- und Hexenglauben und dem dortigen Erfolg der Pfingstbewegung zu erkennen; sie bringe eine verzauberte Weltsicht in das Christentum zurück. 13 Der römische Kurienkardinal Kurt Koch beschreibt die damit entstandene pastorale Herausforderung: „Wie begegnen Ortskirchen diesen Phänomenen, zumal man feststehen muss, dass nicht wenige Mitglieder der katholischen Kirche aber auch von protestantischen Kirchen, ihre Kirchen verlassen und den Weg in solche Gemeinschaften finden. Das ist natürlich die größte Herausforderung. Deshalb kann diese Frage nur in einer Selbstkritik angegangen werden. Die römisch katholische Kirche muss sich die Frage stellen, was sie falsch mache und was mit ihr los sei, dass Mitglieder ihre Kirche verlassen und Kontakt und Mitgliedschaft in solchen Bewegungen suchen.“ 14 Als eine der Ursachen für das Aufkommen und für den phänomenalen Erfolg der Bewegungen könnte der weltweit sich mehr und mehr verbreitende Pluralismus und Individualismus zu benennen sein. Schon vor über 20 Jahren sprach der damalige Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Konrad Raiser, von einem „Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung“ und meinte damit, dass wir uns in einer Zeit des radikalen ökumenischen Umbruchs befinden und ein Wechsel des gesamten Orientierungsrahmens sich anbahnt. 15 Dieser Wechsel des Orientierungsrahmens ist vor allem bedingt durch den gesellschaftlichen Wandel, der gekennzeichnet ist durch die Individualisierung der gesamten Lebensführung, durch die wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung und die daraus resultierende Dynamik des sozialen Wandels. Davon sind auch die religiösen Systeme betroffen, vor allem das weltweit verbreitete und darum in diesen Umbruch notwendigerweise involvierte Christentum. Die zunehmende Individualisierung hat zur Folge, dass auch der gelebte und praktizierte christliche Glaube zunehmend sich nicht mehr nach den Vorgaben der großen, bisher für den christlichen Glauben und die Glaubenspraxis zuständigen Institutionen richten, sondern nach eigenen, individuellen Präferenzen zusammengestellt wird. Beobachter des Zeitgeschehens weisen darauf hin, dass wir immer mehr in eine „Event-Kultur“ hineinwachsen – auch im Hinblick auf den Glauben (vgl. Weltjugendtage, Kirchen- und Katholikentage, Pilgerfahrtsboom u. ä.). Es geht um das Erleben, den „Kick“, die augenblickliche Erfahrung. Die Globalisierung erlaubt es, auch andere Modelle von Religiös-sein in die individuelle Glaubensgestalt einzubauen. Menschen von heute sind mehr und mehr unfähig, sich für dieses oder jenes klar und auf Dauer zu entscheiden und einzusetzen.16 Darüber hinaus zeichnet sich das Ende der Vorherr-

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schaft der westlichen Kirchen ab. Das Schwergewicht der Christenheit verlagert sich auf die südliche Erdhälfte. Die Dominanz der westlichen Kirchen und ihrer Art, Kirche zu sein, wird schwinden. Eine weitere Ursache könnte für die römisch-katholische Kirche zu suchen sein in ihrem starren Festalten am hierarchischen Prinzip („Kleriker oben – Nicht-Kleriker unten“) und an der Marginalisierung der so genannten „Laien“, insbesondere der Frauen, und ihrem Ausschluss von theologischer und pastoraler Mitverantwortung und -gestaltung. Die Aufspaltung der einen Kirche in die vielen Konfessionen stammt aus einer religiös integrierten Zeit, in der es selbstverständlich erschien, dass die einzig wahre Religion christlich zu sein hatte. Darum konnte man sich den Luxus der Konkurrenz nach innen leisten. Die ganze religiöse Leidenschaft konnte sich in Innenfragen austoben. Diese Zeiten sind vorbei. „Das Problem unserer Gegenwart ist nicht, dass die Konfessionen ihre Konturen verlieren. Das Problem ist, dass sie die grundlegenden Veränderungen unserer Kultur noch nicht ernst nehmen. Die religiöse Leidenschaft wird sich in einer Welt einrichten müssen, die – so elementar wie noch nie – nach der Möglichkeit eines vorbehaltlosen Vertrauens, nach dem Grund des Glaubens, nach dem Sinn eines Lebenssinns fragt.“ 17 Darum werden, ob das den führenden Kirchenleuten passt oder nicht, Konfessionen zu Kirchen mit durchlässigen Grenzen werden, die sich als Suchende und Fragende verstehen. Die Kirchen können und dürfen sich nicht mehr täglich auf die Fragen der vergangenen Jahre zurückwerfen lassen, sie müssen auf die Fragen von heute achten und nach glaubwürdigen Antworten suchen. Sie dürfen sich nicht als „Besitzer der Wahrheit“ und als „Über-Gott-genau-Bescheid-Wissende“ gerieren, sondern selber als Wahrheitssucher und Nach-Gott-Fragende, als Ringende und Zweifelnde begreifen. Die Pluralität der Antworten und der daraus resultierenden Glaubensgemeinden tut einem entschiedenen Glauben keinen Abbruch. Unterschiedliche christliche Gemeinden und „Konfessionen“, die in „versöhnter Verschiedenheit“ miteinander leben und Zeugnis geben, können zu einem glaubwürdigen Zeichen und vielleicht sogar zu einem nachahmenswerten Vorbild werden für das friedliche und versöhnte Zusammenleben der Völker. Die Vielfalt der Kirchen kann zu einem Reichtum werden. Denn nur diese Vielfalt kann die Weite des christlichen Glaubens und dessen Ausformulierung im täglichen Leben darstellen.

2. Ökumene der Weltreligionen a) Mission

Ein Paradigmenwechsel steht vermutlich auch bevor im Verhältnis der Kirchen zu den nichtchristlichen Weltreligionen. Die heutige Einstellung der Kirche zu ihnen ist das Ergebnis einer langen Entwicklung. Zunächst betrachtete das Christentum es als seine Hauptaufgabe, den „Heiden“ die „einzig wahre“ Religion zu bringen, getreu dem Auftrag Christi: „Geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern, tauft sie […] und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe“ (Mt 28,19 f.).

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Auf dem Weg zur Ökumene

Unzählige Frauen und Männer sind diesem Aufruf gefolgt. Sie haben als „Gesandte“, als Missionare gearbeitet. Sie haben unter großen persönlichen Opfern und Entbehrungen das „Wort des Lebens“ (Phil 2,16) in die entlegensten Winkel der Erde gebracht. Die Kirche wurde katholisch – verbreitet „über den ganzen (damals bekannten Erdkreis)“ (von griechisch: kat’ holän [tän gän]). Doch der Weg zu dieser Katholizität war, vor allem in späterer Zeit, keineswegs immer von lauteren Motiven begleitet. Das Christentum wurde in seiner abendländischen bzw. römisch-katholischen Prägung wie ein Exportartikel in alle Welt geliefert. Es funktionierte als eine Art „Kryptokolonialismus“. Die Kolonialherren bezeichneten sich zwar als Christen, aber sie waren häufig nichts anderes als Abenteurer und Ausbeuter. Nicht selten kaschierten sie ihre Eroberungszüge als „Heidenmission“. Im Hinblick auf die entsprechenden Konsequenzen musste den nicht selten gewaltsam christianisierten „Heiden“ das Christentum weniger als Religion, sondern eher als Ideologie erscheinen. Herrschaftsexport bedeutet immer auch Ideologieexport. Das Christentum war die Ideologie der Herrschenden. Die Gottes-Kindschaft, die man den Völkern durch die Taufe meinte „schenken“ zu müssen, brachte ihnen oft nichts anderes als eine von ihren christlichen Täufern aufgezwungene Menschen-Knechtschaft. Und selbst dort, wo das nicht der Fall war, zeigte die Kirche wenig Bereitschaft, ausreichend Rücksicht zu nehmen auf gewachsene Traditionen der Missionierten. Sie bemühte sich zu wenig darum, deren Kultur und Eigenart in ihre Glaubenslehre und -praxis einzubauen. Sie war sich nicht mehr dessen bewusst, wieviel sie selbst von griechischem und römischem Denken in ihre römisch-katholische Glaubensform aufgenommen und verarbeitet hatte. Nicht zuletzt durch diese unseligen Praktiken ist die christliche Kirche zwar in der ganzen Welt verbreitet. Mission beschränkte sich häufig darauf, für die quantitative Vergrößerung der christlichen Kirchen zu sorgen. Gewinn neuer Mitglieder wurde zum Selbstzweck. Eine gute Statistik galt als Erfolgsmaßstab. Nicht die ganzheitliche Förderung des Menschen und des Menschseins stand zunächst im Vordergrund, sondern die „Rettung der Seelen“. Gewiss, mehr und mehr wurden auch Schulen und Krankenhäuser, Wohnungen und Straßen gebaut, aber vieles kam leider zu spät. Negativ auf das Image des Christentums wirkte sich obendrein auch die gegenseitige Konkurrenz der Missionare der verschiedenen christlichen Kirchen aus. Im Zuge der Entkolonialisierung begannen die ehemaligen „Missionsobjekte“ (= Heiden) sich zu weigern, „bloßer Rohstoff zu sein, den andere brauchen, um ihr eigenes Heil zu erwirken“ 18 b) Neue Akzente im Heilsverständnis

Völlig neue Akzente setzte das Zweite Vatikanische Konzil. Es wertete die nichtchristlichen Religionen in einem eigenen, unter den Konzilsteilnehmern bis zuletzt heftig umstrittenen und immer wieder geänderten Dokument in bisher ungeahnter Weise auf. Am 28. 10. 1965 wurde die „Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ („Nostra aetate“) feierlich verabschiedet. Die Theologen standen zunächst vor der Aufgabe, die aus der alten Kirche stam-

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mende Auffassung, die Kirche sei „alleinseligmachend“ und außerhalb der Kirche gäbe es kein Heil („Extra ecclesiam nulla salus“ 19), zu überwinden. Einen wichtigen Impuls gab Karl Rahner mit seiner Theorie von den „anonymen Christen“: „Irgendwie müssen alle Menschen Glieder der Kirche sein können; und dieses Können darf nicht nur im Sinne abstrakt-logischer Möglichkeit verstanden werden, sondern real und geschichtlich konkret. Das heißt dann aber, dass es Grade der Kirchengliedschaft geben muss, nicht nur aufsteigend von Getauftsein über das Bekenntnis des vollen christlichen Glaubens […] bis zu verwirklichten Heiligkeit, sondern auch absteigend von der Ausdrücklichkeit des Getauftseins in eine nicht-offizielle, eben anonyme Christlichkeit hinab, die trotzdem noch in einem endgültigen Sinn als Christlichkeit benannt werden darf oder gar sollte, wenn auch sie selbst sich nicht so nennen kann und will“ 20. Man hat Rahner den Vorwurf gemacht, dass er auf diese Weise den kirchlichen Exklusivismus durch einen Inklusivismus überwinden wolle: Alle Menschen können „gerettet“ werden, weil alle „irgendwie Glieder der Kirche“ sind – ob sie das wollen oder nicht. Solches Denken wird von den Betroffenen als vereinnahmendes „gönnerhaftes Schulterklopfen“ empfunden, weil es die zum Teil radikal anderen Religionen und ihre Traditionen nicht respektiert. Anerkannt wird nur das, was inhaltlich mit dem Christentum in etwa übereinstimmt. Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil – aber im Grunde gehören ja alle irgendwie zur Kirche. Bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Nairobi 1975 hat ein hinduistischer Beobachter diese Tendenz scharf zurückgewiesen: „Ich glaube, ich verstehe, worum es hier geht. Sie möchten, dass wir alle so werden wie Sie, nämlich Christen. Danke, daran bin ich nicht interessiert. Denn von Ihnen, vom Westen, ist der Kolonialismus, der Imperialismus, die Umweltverschmutzung, der Atomkrieg gekommen“ 21. Das Konzil hat diese komplizierten Fragen nicht angefasst, sondern sich darauf beschränkt – und schon das war ein gewaltiger Fortschritt! –, seine Hochachtung und Wertschätzung gegenüber den nichtchristlichen Religionen feierlich zu bekunden und Ansätze zu einer Theologie der Religionen zu skizzieren. Es sprach im Einzelnen kurz über den Hinduismus und Buddhismus und ein wenig ausführlicher über den Islam – ohne allerdings die Namen des Buddha und des Muhammad zu erwähnen. Dennoch kommt der insgesamt positive Grundton der Darlegungen vor allem im ersten Kapitel zum Ausdruck: „Alle Völker sind eine einzige Gemeinschaft, sie haben denselben Ursprung, da Gott das ganze Menschengeschlecht auf dem gesamten Erdkreis wohnen ließ; auch haben sie Gott als ein und dasselbe letzte Ziel. Seine Vorsehung, die Bezeugung seiner Güte und seine Ratschlüsse des Heils erstrecken sich auf alle Menschen, bis die Erwählten vereint sein werden in der Heiligen Stadt, deren Licht die Herrlichkeit Gottes sein wird; werden doch alle Volker in seinem Licht wandeln.“ 22 Ausdrücklich bekannte sich das Konzil zu der Einsicht, dass die in der Welt verbreiteten Religionen Antworten darstellen „auf die ungelösten Rätsel des menschlichen Daseins“ (Art. 1) und dass sie „Wege weisen“, um der „Unruhe des menschlichen Herzens auf verschiedene Weise zu begegnen“ (Art. 2). Im 2. Kapitel der Erklärung heißt es sodann noch: „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und

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Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.“ Bei genauerem Hinsehen stellt sich freilich bei diesem Satz ein gewisses Unbehagen ein. Wenn die Kirche „nichts von alledem ablehnt, was in diesen Religionen wahr ist“, und wenn sie darin gar „einen Strahl der Wahrheit“ entdeckt, so meint sie offenbar, über dieses „Körnchen Wahrheit“ in den anderen Religionen befinden zu können. Verbirgt sich dahinter doch wieder der alte Anspruch, im Besitz der vollen Wahrheit zu sein? Und weiter: Wie verhalten sich die außerchristlichen Wege zu dem christlichen Weg, der unter dem Anspruch des Wortes des johanneischen Jesus steht: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6)? Dem vom Konzil vorgegebenen Worten sind inzwischen Taten gefolgt, die durchaus zur Hoffnung Anlass geben. Es wurde ein eigenes Vatikanisches Sekretariat eingerichtet, das sich unter dem Leitwort des Dialogs den verschiedenen Religionen zuwendet. Es gibt im Hinblick auf Spiritualität und Meditation heute überall in der Welt Gruppen und einzelne, Mönche und Laien, Männer und Frauen, die nichtchristliche Einsichten und Meditationsformen mit ihrem christlichen Glauben in eine bereichernde Beziehung zu bringen suchen. Und es finden viele Begegnungen und Gespräche, Diskussionen und wissenschaftliche Symposien unter Theologen statt, die auf Dauer wohl auch zu weiteren theologischen Erkenntnissen und Einsichten führen werden. Die Kirche hat heute gelernt, die Religionen der Menschheit mit erheblich größerer Sympathie zu betrachten als noch vor 50 Jahren. Christsein ist heute schwieriger, aber zugleich auch faszinierender geworden. c)

Vielzahl der Religionen

Die positive Bewertung der nichtchristlichen Religionen durch das Konzil löst nicht nur manche Probleme des Zusammenlebens, sie wirft auch neue auf: Wie sieht christlich-kirchliche Existenz aus inmitten der Vielzahl der Religionen und natürlich auch angesichts all jener Menschen, die sich als Atheisten oder Skeptiker verstehen? Wie hat Verkündigung des Evangeliums heute auszusehen? Ist Mission noch berechtigt? Gibt es eine völlige Gleichberechtigung aller Religionen? Relativiert, ja neutralisiert sich die Frage nach der Wahrheit angesichts des Anspruchs, den jede Religion erhebt und den keine von ihnen (inklusive Christentum) beweisen kann? Der (katholische) Theologe Paul Knitter zieht daraus die Konsequenz: „Wenn Christen darauf bestehen, eine festgefasste Quelle der Wahrheit zu besitzen, ein unveränderliches Kriterium, das sie in allen kulturellen Situationen anwenden können, um zu entscheiden, was wahr und gut ist, ein Fundament also, das umfassender ist als der Ablauf und die Vielfalt der Geschichte und das über diese noch hinausragt, dann heißt das: Die Wirklichkeit ist ihnen gleichgültig. Sie sehnen sich nach Unwirklichem. Gemeinsam mit Philosophen, Anthropologen und Literaturkritikern unserer Zeit sollten Christen jedoch eingestehen, dass es außerhalb des Streites von historischer Entwicklung und weitergehendem Dialog keinen festen Ort für die Wahrheit gibt. Das bedeutet, dass das Christentum eine unter mehreren, begrenzten Religionen der Welt ist“ 23.

Ökumene der Weltreligionen

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Die Kirche steht vor der großen Herausforderung, etwas prophetisch Neues über die nichtchristlichen Religionen und über die „Atheisten“ auszusagen, um endlich jenen Menschen gerecht zu werden, die sie bislang als „Heiden“ und damit als „Missionsobjekte“ abgestempelt hat. Jesus Christus ist als Heiland der Welt und als „Erlöser aller Menschen“ nur voll und richtig zu verstehen im Kontext mit der ganzen Menschheit. Ökumene Die größte theologische Herausforderung der kommenden Jahrzehnte dürfte in einer sich anbahnenden „Ökumene der Weltreligionen“ liegen. Die vielzitierte „Globalisierung“, weltweite Migration, internationaler Tourismus, vielschichtige wirtschaftliche Verflechtungen, politische und kulturelle Begegnungen lassen die Weltbevölkerung näher zusammenrücken. Die längst weltumfassend gewordenen Kontakte zwischen den Menschen sparen das Phänomen „Religion“ nicht aus. In der Antike waren es nicht selten Kaufleute, Sklaven und Soldaten, die ihre Religion (damals vor allem das Christentum) in fremde Länder brachten. Heute ist es ähnlich; die Kaufleute sind geblieben, zu ihnen haben sich Studierende und Wissenschaftler, Manager und industrielle Führungskräfte gesellt; aus den Soldaten sind vielfach Entwicklungshelfer und -helferinnen, Ärzte und Krankenpfleger, Sozialarbeiter und Schulungskräfte geworden; die Sklaven heißen inzwischen „ausländische Arbeitnehmer“. Optimierung der äußeren Lebensbedingungen Mit besonderer Dringlichkeit stellt sich das Problem einer größtmöglichen Weltintegration und in diesem Zusammenhang die Bewältigung der beiden Hauptherausforderungen einer Verhinderung globaler Kriege in Form des internationalen Terrorismus und die Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen. Die motivierenden und integrativen Funktionen von Religion sind für diese Aufgabe auf Weltebene noch nicht ausgeschöpft. Der hochorganisierte Charakter der christlichen Kirchen könnte hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Seit der Ölkrise, dem Golfkrieg und den schrecklichen Terroranschlägen in New York und Washington empfinden viele Menschen der sogenannten westlichen, „christlich geprägten“ Welt den Islam als Bedrohung. Skeptisch fragen sich viele, ob die Muslime tatsächlich bereit sind, sich langsam vom religiös motivierten Kampf gegen die „Ungläubigen“ zu distanzieren und sich für die moderne Idee der Toleranz zu öffnen. Die wachsende Politisierung des Islam vor allem in den sogenannten „Gottesstaaten“ und der Vormarsch der fanatischen Fundamentalisten schürten die alten Ängste. Leider nicht ohne Grund gilt der Islam heute als die radikalste und intoleranteste Form von Religion. Die Einsichtigen auf beiden Seiten erkennen dies und sehen es als das Gebot der Stunde, ein neues Verhältnis zu einander zu gewinnen und darauf hinzuarbeiten, dass die Ängste abgebaut werden und Toleranz sowie Zusammenarbeit an ihre Stelle treten. Auch im Hinblick auf die weltweiten ökonomischen und ökologischen Probleme haben die Theologen und die verantwortlichen Wortführer der Religionsgemeinschaften bisher eine eher marginale Rolle gespielt, obwohl alle Religionen in irgendeiner Weise lehren, dass diese Erde ein göttliches Geschenk an die Menschen sei. Es ließe sich

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vorstellen, dass die Weltreligionen aufgrund dieser gemeinsamen Ausgangsbasis zu einer „Ökumene zur Rettung des Planeten Erde“ zusammenfinden, zu einer Art „WeltReligion der ökonomischen und ökologischen Vernunft.“ 24 Theologisch-religiöse Annäherung In der Tat beginnen auch Theologen und religiös aufgeschlossene „Laien“ in allen großen und kleinen Weltreligionen sich intensiver füreinander zu interessieren. Ein solches Zusammenrücken und Einander-näher-Kommen der Weltreligionen ist im Hinblick auf eine mit religiösen Erwartungen besetzte gesamtgesellschaftliche Entwicklung der Menschheit dringend erforderlich. Alle Religionen geben in irgendeiner Weise davon Kunde, dass Gott in den Menschen Platz ergriffen hat. Dass er zu einem Unruhefaktor des menschlichen Herzens geworden ist, welches solange keine Ruhe findet, bis es bei Gott angekommen ist. Gott wohnt längst nicht mehr „droben überm Sternenzelt“, sondern „der Ort, wo man ihn am sichersten findet, ist das Herz des lauteren Menschen“ (Ramon Llull). Im Koran heißt es: „Allah ist dem Menschen näher als seine eigene Halsschlagader“ (Sure 50,16). Die hinduistische Mystikerin Karaikal Ammaiyar gibt den Rat: „Wenn man den Pfad sucht, der zu Gott führt, und seine Gnade erlangen möchte und fragt: ‚Wo wohnt er?‘ – Selbst im Herzen deren, die armselig wie ich, ist er leicht zu finden“. Und Papst Paul VI. sagte bei einer Rede in Bombay am 3. 12. 1964 vor Vertretern nichtchristlicher Religionsgemeinschaften: „Wir müssen einander begegnen als Pilger, die sich auf den Weg gemacht haben, um Gott nicht in Gebäuden aus Stein, sondern in menschlichen Herzen zu finden. Möge (der Herr) uns umschaffen zu der einen Familie seiner Kinder!“ Gott ist nicht so eintönig, wie ihn sich manche Theologen vorstellen. Gott bedarf geradezu der Vielfalt, um Gott zu sein. Er ist bunte Pluralität, weil in ihm die Fülle des Lebens wohnt. Er ist Einheit in Verschiedenheit, weil sein größtes und schönstes Werk, die Schöpfung, eine harmonische Einheit in unübersehbarer Vielgestaltigkeit und in grandioser Polyphonie ist. Wäre es nicht eine großartige Möglichkeit, wenn die Religionen, anstatt sich ihre Defizite an „Wahrheit“ vorzuhalten und sich um dieser „Wahrheit“ willen sogar zu bekriegen, in einem ständigen Dialog sich über ihre theologischen Erkenntnisse und Einsichten, über ihre Gotteserfahrungen und Gottesbegegnungen austauschen und sich so gegenseitig den Weg zu einem immer tieferen Eindringen in die „Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes“ (Röm 11,33) ebnen würden? Ist vielleicht die Einsicht des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass alle Religionen letztlich „denselben Ursprung“ haben25, ein scheuer und zurückhaltender Ausdruck des christlichen Bekenntnisses zu Gott, dem Vater der Christen und der „Heiden“? Papst Paul VI. bezeichnete es in seiner ersten Enzyklika 1964 als eine der wichtigsten Aufgaben der Kirche, das Gespräch „mit den anderen“ aufzunehmen: „Wir sehen, wie sich um uns herum ein anderer Kreis abzeichnet, über die Maßen groß. […]. Er setzt sich vor allem aus jenen Menschen zusammen, die den Einen souveränen Gott anbeten, den auch wir anbeten. Wir erwähnen kurz: erstens die Söhne des jüdischen Volkes […]; dann die monotheistischen Anbeter Gottes, die Muslime […]; und schließlich die Anhänger der großen afro-asiatischen Religionen“ 26.

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Wenn das Gespräch und der damit zwangsläufig verbundene interreligiöse Lerneffekt im Geist gemeinsamen, ehrlichen Suchens nach der letztlich grundlegenden „Wahrheit“ geschieht, wenn jede Religion sich ihres fragmentarischen, gebrochenen und vorläufigen Charakters bewusst bleibt (oder vielleicht überhaupt erst bewusst wird), wenn sie Mängel und Defizite nicht zu verschleiern sucht, dann könnte der Dialog der Religionen „eine Demut und eine Tiefe annehmen, die uns nicht zu einem gemeinsamen Ziel oder zu einer gemeinsamen Sprache führen, sondern zu einer gemeinsamen Liebe, zu einer gegenseitigen Toleranz und zum Verständnis des Unverständnisses des anderen, weil jeder Mensch ein Geheimnis, ein Mysterium ist.“ So sieht es der Jude Pinchas Lapide. 27 Ähnliches empfindet auch der Dalai Lama: „Als ich vor meiner Flucht in Tibet lebte, gab es nur wenig Kontakte zu anderen Ländern, wenig Verbindung zu anderen Kulturen und Religionen. Das führte dazu, dass ich das Gefühl hatte, meine Religion sei die beste, keine andere besäße diesen Wert und zeige solch gute Wirkungen. Als ich nach der Flucht mit Menschen anderer Religionen zusammenkam, empfand ich dies anders. Ich erlebte Menschen, die durch ihre Religion sehr positive Eigenschaften entwickelt hatten. Sie wandten ihre eigene Religion an, setzten diese Geisteshaltung in die Tat um und übten ein ethisches Verhalten entsprechend ihren eigenen religiösen Prinzipien. Diese positiven Eigenschaften erlebte man bei diesen Menschen ganz konkret. Wenn man nicht mehr von den verschiedenen Theorien in den Schriften ausgeht, sondern von dem Resultat, das sich in der Ausübung der Religion zeigt, entwickelt sich eine immer tiefere Wertschätzung der anderen Religion. Ich kam zu der Überzeugung, dass es in jeder Religion möglich ist, ein wirklich guter Mensch zu werden, wenn man die Lehrsätze dieser Religion anwendet. Durch diese Einsicht entsteht eine Achtung und eine Wertschätzung der anderen Tradition“ 28. Die Ökumene der Weltreligionen bahnt sich an – wenn auch zögernd und vorsichtig. Die Hoffnung erscheint nicht mehr unbegründet,  dass eines Tages alle Religionen der Erde sich in versöhnter Verschiedenheit zu einer Union zusammenschließen werden.  dass sie einen Bund bilden werden, in dem Juden und Christen, Muslime und Hindus, Buddhisten und Konfuzianer, Anhänger afrikanischer Stammesreligionen und australischer Eingeborenenkulte sich in gegenseitiger Achtung und Anerkennung begegnen und in dem alle Glieder der Religionen gleiche Rechte und Pflichten genießen.  dass sich in regelmäßigen Abständen gewählte Vertreter jeder Religionsgemeinschaft an einem runden Tisch versammeln, bei dem jeder jedem ins Auge sehen kann, um über Fragen der Schaffung einer neuen Menschheit zu beraten, über Zusammenarbeit und Konfliktregelung, über Ethik und Ethos, über gemeinsame Hilfsmaßnahmen für Katastrophen- und Notfälle. In verschiedenen Gesprächskreisen werden auch Themen des Glaubens besprochen und diskutiert: Gottesbild und Gottesverehrung, Erlösung und Befreiung, Menschenwürde und Menschenrechte, Kult und Liturgie, Heil und Heiligung, Leben und Tod. Alle Teilnehmer verpflichten sich, „aufeinander zu achten und sich zu Liebe und zu guten Taten anzuspornen“ (Hebr 10,24). Bindende Beschlüsse werden nicht gefasst. Es können

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nur Empfehlungen ausgesprochen werden, die dann von den Entscheidungsgremien der einzelnen Religionsgemeinschaften selbst vor Ort in die Tat umgesetzt werden können. Turnusmäßig wählt die Versammlung in regelmäßigen Abständen ein Leitungsteam, dem ein(e) Präsident(in) oder ein Präsidialrat vorstehen. Er/sie hat lediglich repräsentative Funktionen. Vielleicht ist die Hoffnung nicht unbegründet, dass heute mit dem Eintritt in die Ökumene der Weltreligionen jene Bewegung zu einem gewissen Abschluss kommt, die damit begann, dass Jahwe sich als Gott des Volkes Israel und zugleich als Gott aller Völker offenbarte und die in dem Juden Jesus aus Nazaret, ihren (nach christlichem Glaubensverständnis) einzigartigen Höhepunkt und Abschluss erreichte. Die Heilsgeschichte tritt nun in jene Phase ein, die von Anfang an gemeint war, wo es nämlich offenbar wird, dass alle Völker von Gott bejaht und geliebt sind und so eine Einheit bilden. Der umfassende Schöpfungsbund, der durch die nachfolgenden Bundesschlüsse mit Abraham, Mose und Jesus nie aufgehoben, wohl aber bestätigt, verdeutlicht und überhöht wurde, soll nun endlich allen Völkern zugute kommen. Wenn diese gottgewollte Einheit der einen Menschheit immer nur mangelhaft und vielfach gebrochen zur Verwirklichung kam, kommt und kommen wird, so mag daran auch deutlich werden, dass alle Völker, welcher Religion sie auch immer angehörten und angehören, vor Gott nicht aufgrund ihrer eigenen Gerechtigkeit und Vollkommenheit, sondern aus umfassender göttlicher Liebe angenommen sind. Sie leben schon alle im Blick auf das kommende Reich Gottes, das die Kirche und alle Religionen dieser Erde übersteigt und zu dem die Kirche und alle Religionen dieser Erde unterwegs sind.

XII. Ewiges Leben? 1.

In Würde sterben

Dem Tod geht das Sterben voran. Es ist die letzte große Lebensaufgabe, die der Mensch zu bewältigen hat. Diese Aufgabe kann ihm niemand abnehmen, wohl aber kann und muss ihm dabei geholfen werden. Die Hilfe darf allerdings nicht so weit gehen, das Leben um jeden Preis zu erhalten. Wo die Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit nicht mehr sinnvoll erscheint, stoßen ärztliche und pflegerische Bemühungen an ihre Grenzen. So wie es einerseits kein „lebensunwertes Leben“ gibt, gibt es andererseits auch kein unter allen Umständen „lebenswertes Leben“. Das leibliche Leben des Menschen ist kein Höchstwert. Seine biologische Existenzgrundlage ist zeitlich befristet. Insofern beinhaltet das Recht auf Leben auch ein Recht auf die damit gegebene Lebensfrist. „Leben ist nur solange künstlich zu verlängern, wie noch Hoffnung auf Gesundung besteht oder auf Seiten des Patienten wenigstens ein Mindestmaß an Interaktion und Wahrnehmung gegeben ist. Wo menschliche Kommunikation in keiner Weise mehr zu erwarten ist – bei irreversibler Bewusstlosigkeit, vorausgesetzt, dass die Diagnose abgesichert ist –, verlieren lebensverlängernde Maßnahmen ihren Sinn“. 1 Im Recht auf seine Lebensfrist hat der Mensch einen Anspruch darauf, dass nichts gegen seinen Willen unternommen wird, um diese Lebensfrist  einerseits „künstlich“ hinauszuzögern,  andererseits „künstlich“ zu begrenzen. Der zu Tode Erkrankte darf über den Ernst seiner Lage nicht hinweggetäuscht werden. Ihm ist jede menschliche Hilfe zur Bewältigung dieser letzten Phase seines irdischen Lebens zu gewähren. Diese Hilfe meint bei Schwerkranken und Sterbenden vornehmlich die physische und psychische Begleitung des Patienten. Der Arzt hat grundsätzlich die Pflicht, die biologische Existenz des Menschen auch am Lebensende noch möglichst lange als Grundlage der menschlichen Existenz zu erhalten. Wo noch Chancen bestehen, ein Leben zu retten, wird und muss er diese Chance ergreifen – gegebenenfalls auch gegen ein anders lautendes Patienten-Testament und gegen den Wunsch der Angehörigen. Sterbehilfe muss sein  rücksichtsvoll (3 Teilziele: Lebensverlängerung, Leidverringerung, Erhaltung einer gewissen Freiheit zur Selbstbestimmung und Lebensgestaltung);  sich als Sterbebeistand verstehen (wörtlich verstanden: beim Sterbenden stehen!); dazu gehört auch (u. a.) die Anwendung medizinischer, pflegerischer und technischer Mittel (diese freilich nicht „bis zum Äußersten“),  als Sterbebeistand auch Sterbebegleitung (durch die verschiedenen Phasen des Sterbens).

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Ewiges Leben

Sterbebegleitung ist nur dann Sterbehilfe, wenn sie möglichst gut dem Leben, aber nie dem Sterben nachhilft. Gelingt es durch „künstliche Maßnahmen“ lediglich, das Leben biologisch zu verlängern, ohne jedoch die Schmerzen zu verringern und/oder ein gewisses Maß an Freiheit zu erhalten (vielleicht sogar umgekehrt um den Preis der Schmerzvermehrung), erscheinen diese Maßnahmen sinnwidrig und sind daher abzusetzen. Der Natur soll ihr Lauf gelassen werden („passive Euthanasie“). Ein derartiger rücksichtsvoller Verzicht auf weitere „künstliche Mittel“ ist jedoch keinesfalls auch schon „künstliche Sterbenachhilfe“. Bei der Anwendung von Sondermaßnahmen zur biologischen Lebensverlängerung ist nicht zuerst zu fragen, ob ein Kranker sich eine solche Behandlung „leisten“ kann, sondern ob sie ihm zumutbar ist. Je mehr und je aufwendiger „künstliche Maßnahmen“ in Gang gebracht werden, desto mehr müssen sie sich für den betreffenden Menschen selbst als hilfreich erweisen. Auch extrem künstliche Maßnahmen biologischer Lebensverlängerung sollen solange in Gang gehalten werden, wie  ein bewusstes Weiterleben des Kranken nicht ausgeschlossen ist (solange der Hirntod nicht mit Sicherheit feststeht, kann bewusstes Weiterleben nicht ausgeschlossen werden),  Schmerz und Leid für ihn erträglich bleiben (Schmerzverminderung kann die biologische Lebensverkürzung zur Folge haben),  die Maßnahmen zur Lebensverlängerung für alle Beteiligten tragbar sind. Alle drei Voraussetzungen sollten zugleich gegeben sein. Dabei ist die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zu berücksichtigen. 2 Bittet jedoch ein Patient ausdrücklich um Sterbehilfe im Sinne einer aktiven Euthanasie, so kann dieser Bitte nicht entsprochen werden. Sie mutet dem Arzt „Beihilfe zur Tötung“ zu. Ein solches Ansinnen dürfte ohnehin nur eingeschränkt als „freier Wille des Patienten“ gewertet werden, weil er nicht selten Ausdruck eines Lebensverdrusses oder einer bedrückenden Vereinsamung ist und einem Ruf nach stärkerer menschlicher Zuwendung gleichkommt. Es ist auch zu klären, ob nicht vielleicht die Angehörigen (aus welchen Gründen auch immer) den raschen Tod des Kranken wollen und ihn deshalb „unter Druck“ setzen. Eine indirekte Euthanasie wäre nur dort vertretbar, wo der Arzt die Schmerzen eines unheilbar Kranken durch Mittel zu erleichtern versucht, die – gewissermaßen als Nebeneffekt – eine Beschleunigung des Todes mit sich bringen. Der Grundsatz der Sterbehilfe, dass die biologische Existenz nur als Grundlage menschlicher Existenz erhaltenswert ist, resultiert aus der Überzeugung, dass dem Menschen das „Leben“ als ganzheitliche, leib-seelische Existenz geschenkt ist – nicht als bloße „Biologie“ (vgl. Gen 1,27; 2,18–23). Zur Wahrheit am Krankenbett gehört daher auch, im Patienten das Bewusstsein wachzurufen oder zu stärken, dass das irdische Leben nicht alles ist, dass nach christlicher Glaubensauffassung der Tod den Menschen als „Durchgang“ zu Gott, dem eigentlichen Urheber und „Freund des Lebens“ (Weish 11,26), bringt. Unsere Lebensgeschichte mündet nicht im Nichts, sondern in ein personales Du.

Einblicke ins Jenseits?

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2. Einblicke ins Jenseits? In 70er Jahren kamen einige Bücher auf den Markt, in denen Berichte von Menschen gesammelt und wiedergegeben wurden, die klinisch tot waren und wieder zum Leben erweckt wurden.3 Auch heute noch beschäftigen sich Wissenschaftler mit diesem Phänomen. Einige von ihnen haben sich zu einer internationalen Vereinigung zusammengeschlossen („International Association for Near-Death Studies“). Es geht um die so genannten Nahtod-Erfahrungen. Bei den Hunderten von inzwischen dokumentierten Fällen gibt es bestimmte, stets wiederkehrende Muster. Die Todkranken hörten, wie sie von den Ärzten für tot erklärt wurden. Sie traten aus dem eigenen Körper heraus und schauten, in der Luft über dem Bett schwebend, auf ihren leblosen Leib hinab. Sie hatten das Gefühl, durch einen langen dunklen Tunnel zu gehen, an dessen Ende ihnen ihre verstorbenen Verwandten und Freunde auf sie zukamen und sie freundlich begrüßten. Sie hörten eine wunderbare Musik, und den meisten erschien ein „Lichtwesen“ oder eine Gestalt, die Liebe und Wärme ausstrahlte. Wie in einer blitzschnellen Rückschau sahen sie die wichtigsten Stationen ihres Lebens noch einmal an ihnen vorbeiziehen. Sie waren dabei erfüllt von überwältigenden Gefühlen der Freude, des Glücks und des Friedens. Die meisten von ihnen erlebten schließlich die Rückkehr ins Leben und die Wiedervereinigung mit ihrem physischen Körper – häufig gepaart mit innerem Widerstand, mit Traurigkeit und Enttäuschung. Am 29. 7. 1971 erlitt der französische Filmschauspieler Daniel Gélin einen Herzinfarkt. Er wurde bewusstlos in eine Klinik eingeliefert. Nachdem er außer Lebensgefahr war, berichtete er: „Ich erwachte von qualvollen Schmerzen in der Herzgegend. Vor mir stand eine weißgekleidete Gestalt, von der ich heute weiß, daß es ein Arzt war. Dann senkte sich jäh ein schwarzer Schleier vor meine Augen. Ich fühlte die Last von mir genommen, die meine Brust zu sprengen drohte. Plötzlich geschah etwas Seltsames. Ich schwebte durch das Zimmer und bewegte mich wie ein Schatten auf das Gerät zu, das meinen Herzschlag aufzuzeichnen hatte. Mit Erschrecken stellte ich fest, dass die Nadel sich nicht bewegte und mein Herz zum Stillstand gelangt war. Ich öffnete den Mund, um etwas zu fragen, aber kein Ton kam über meine Lippen. Der Arzt beugte sich über das Bett. Von meinem Schwebezustand aus nahm ich wahr, daß dort unten mein Körper lag. Ich war tot.“ Seinen Zustand nach dem klinischen Tod schildert Gélin so: „Ich war leicht und körperlos geworden. Wenn ich mich bewegte, so geriet eine feine, strahlende Staubmasse, die mich umgab, in leichte Bewegung. Der Himmel wölbte sich wie eine Kuppel über mir und war von einem hellen, durchsichtigen Blau. Meine Verzweiflung wich allmählich einer heiteren Gelassenheit. Plötzlich erkannte ich neben mir meine Eltern, die vor mir gestorben waren. Deutlich konnte ich ihre Gesichter erkennen, und eine grenzenlose Freude erfaßte mich.“ Gelin schildert sodann, wie seine Mutter ihn bei der Hand nahm und ihn führte: „Wir begaben uns in eine rosafarbene Welt, eine Art Märchengarten, angefüllt mit wunderbaren Blumen, überall lachten und spielten Kinder.“ Unter ihnen bemerkt Gélin seinen Sohn Pascal, der im Alter von 14 Jahren einen tödlichen Unfall erlitten hatte. 4 Die einzelnen Berichte enthalten nicht jeweils alle hier genannten Erlebnisse, sie

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widersprechen sich auch in Einzelheiten. Aber wenn man die verschiedenen Berichte zusammenfasst, lässt sich ein Grundmuster erkennen, das sich aus den genannten Elementen zusammensetzt. Eigenartigerweise werden ähnliche Erlebnisse auch nach Einnahme halluzinogener Drogen (LSD z. B.) berichtet. Der Berliner Arzt und Theologe Klaus Thomas 5 hat eine Reihe solcher Erlebnisse protokolliert und veröffentlicht. Eines davon sei hier erwähnt: „Es begann mit ganz starkem Eindruck der Entspannung, außerordentlich wohltuend. Vor Glück liefen Tränen, ohne daß ich es zuerst merkte. Dann hielt ich mir die Hände vor die Augen. Es erschien ein ganz himmlisches Blau. Ich genoß es und sagte es auch. Es war wie der Weltraum. Darinnen weiße (Zahlen?) Fleckchen. Zeitbewußtsein verändert. Glaube, sehr lange, ‚Glück‘ erlebt zu haben. Nur ein Gedanke: ‚Augenblick, verweile doch!‘ Es ist einfach schön. Draußen ist es ruhiger geworden. Euphorie! Es ist ein Leichtigkeitserlebnis. Bei Druck auf die Augen manchmal herrliche Farben (grün) mit Tiefendurchblicken. Bersten vor Glück! Unbeschreiblich! Man möchte zum Dichter werden. Bis in jede Zehe spürt man nur: Glück! – Erlösung! – Befreiung! – alle Wörter sagen nichts. Die Augen sind voll Tränen, aber sie fließen nicht. Glückstränen. Schade, daß es so bald wieder zu Ende geht. So etwas müßte unendlich anhalten. Es ist wahrhaftig der Himmel! Auch nicht die Spur von Angst. Alles Urvertrauen, Geborgenheit im Herzen, absolutes Glück“ 6. Thomas fasst das Ergebnis seiner Forschungen und Studien zusammen, indem er folgende Charakteristik bei Erlebnissen nach der Einnahme halluzinogener Drogen nennt: „1. die optische Halluzinose, die Bildwahrnehmungen, 2. akustische Wahrnehmungen, 3. verändertes Zeit- und Raumerleben, 4. Störungen des Denkens, 5. Veränderungen der Stimmung und der Gemütsbewegungen, 6. Veränderungen des Bewusstseins, 7. abnorme Körperempfindungen, 8. vegetative Symptome, 9. die Wirkung auf das Liebesleben“7. Es ist also nicht auszuschließen, dass bestimmte chemo-physische, auch elektrische Vorgänge und Veränderungen im Hirn „Erlebnisse“ hervorrufen, wie sie bei den Nahtoderfahrungen und bei den LSD-Versuchen zu beobachten sind. Der Körper antwortet auf einen bestimmten Reiz mit bestimmten Reflexen. Die euphorischen Gefühle mancher Sterbender und Erlebnisse während drogeninduzierter Halluzinationen können die Folge einer Abwehrreaktion von Psyche und Körper darstellen. So sieht es jedenfalls der Psychologe Ronald K. Siegel: „In der Extremsituation der Todesnähe verhindere eine psychologische Schutzschaltung des Gehirns, daß der Sterbende seine Situation als bedrohlich erkenne, so daß das Bewußtsein ins Traumland zu entfliehen vermöge. Erregungen des Zentralnervensystems würden euphorische Gefühle, außerordentliche Lichtreize, einfache wie komplexe Visionen in fieberähnlicher Intensität und Rapidität hervorbringen. Denn das zentrale Nervensystem schalte bei außerordentlicher Belastung Teile des Gehirns einfach ab, so daß sich gleichsam eine Jalousie zwischen Innen- und Außenwelt schiebe und der Sterbende in einen Bereich ohne Raum und Zeit, Vergangenheit und Zukunft entgleite. Dabei produziere das hochaktive Gehirn des Sterbenden „intern“ unablässig und ungehindert Bilder aus Vergangenheit und Zukunft und bringe sie möglichst in eine sinnvolle Reihe anhand jener Informationen, die es im Laufe des Lebens zum Thema Tod gespeichert und als wichtig

Einblicke ins Jenseits?

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erkannt habe. Das alles heißt: Todesnäheerlebnisse wären demnach zu verstehen als so etwas wie ein letztes ‚Ersatzluftholen‘ des absterbenden Gehirns – jenes wohlbekannte letzte Aufflackern des Feuers, bevor es endgültig in sich zusammenfällt“ 8. Für die Theologie bedeuten die Nahtod-Erfahrungen:  Es handelt sich um Erlebnisse, die Menschen im Zustand des „klinischen Todes“ oder in einer schweren Krankheitssituation gemacht haben. Bis vor einigen Jahren galt der Herzstillstand als Kriterium für den eingetretenen (klinischen) Tod, heute ist es der Hirntod. Es kann jedoch vorkommen, daß Gehirnströme zwar noch vorhanden, aber so schwach sind, daß die Messinstrumente gar nicht oder kaum mehr wahrnehmbar ausschlagen. Darüber hinaus darf gesagt werden, dass in den meisten Krankenhäusern der klinische Tod gar nicht eigens durch Messung der Gehirnströme festgestellt wird. Und schließlich ist auch gar nicht so sicher, ob die Erlebnisse tatsächlich exakt während des Herzstillstands auftreten und nicht kurz davor oder kurz danach. Wie dem auch sei: Der Kranke befindet sich im noch nicht gänzlich abgeschlossenen Stadium des Sterbens. Dieser Prozess kann noch rückgängig gemacht werden. Im Falle des eigentlichen Todes ist das nicht mehr möglich. Der Tod ist irreversibel. Dieser irreversible Tod muss später angesetzt werden als der medizinische („klinische“). Wann dieser (irreversible) Tod genau eintritt, lässt sich bis heute nicht exakt sagen. Es ist also falsch und irreführend, davon zu sprechen, dass in den Nahtod-Erlebnissen von einem „Leben nach dem Tod“ (Arthur Ford) geredet wird oder davon, dass sie einen „Blick nach drüben“ (Eckart Wiesenhütter) gewähren. Es handelt sich nicht um Zustandsschilderungen des Jenseits, sondern um Mitteilungen von Erfahrungen in einem Grenzzustand zwischen Leben und Tod. Die Schwelle zum Tod ist noch nicht überschritten.  Die Nahtod-Erfahrungen liefern auch keinen Beweis für die Existenz einer unsterblichen Seele im Menschen. In einem Boulevard-Blatt war zu lesen: „Das bislang angenommene, aber niemals bewiesene Konzept, dass Bewusstsein und Erinnerung im Gehirn lokalisiert sind, sollte diskutiert werden. Wie könnte ein klares Bewusstsein außerhalb des Körpers erfahren werden in einem Moment, in dem das Gehirn nicht mehr funktioniert?“ 9 Es wird nahegelegt, dieses „klare Bewusstsein außerhalb des Körpers“ als das zu verstehen, was die herkömmliche Theologie mit „unsterblicher Seele“ meint. Diese Seele sei bei den Nahtod-Erlebnissen schon aus der sterblichen Hülle herausgefahren und habe sich dann doch noch entschlossen, wieder in den Körper zurückzukehren. Das ist reine Spekulation. Die Naturwissenschaft kann keinen Nachweis führen, ob es eine unsterbliche Geist-Seele gibt oder nicht. Denn wer nicht gestorben ist, der weiß auch nichts vom Tod – egal, wie nah er ihm war. Darüber hinaus baut christlicher Glaube nicht auf ohnehin nicht nachprüfbaren Erfahrungen schwerkranker Menschen, sondern auf dem Wort Gottes und dem Vertrauen in den Gott, der sich als Liebe gezeigt hat.  Wenn die Theologie von „Tod“ (und „Leben nach dem Tod“) spricht, meint sie das definitive Ende des Lebens, jenen „Punkt“ also, von dem aus eine Rückkehr ins diesseitige Leben nicht mehr möglich ist. Bei den genannten Erlebnissen handelt es sich deshalb nicht um Erfahrungen, die in einem „Leben nach dem Tod“ gemacht wurden, sondern immer nur um solche in der Nähe des Todes, am äußers-

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ten Rand des Lebens. Dennoch darf und soll auch die Theologie diese Berichte mit Interesse verfolgen. „Was Menschen in extremen Situationen erfahren, was vielleicht gerade dann, wenn alle willentlich-rationale Steuerung ausgeschaltet ist, aus der Tiefe der Seele an Bildern aufsteigt, das könnte ein Indiz dafür sein, daß es im Menschen eine ‚Antenne‘ für die Transzendenz gibt, eine tief in ihm sitzende Hoffnung, die den Hoffnungsinhalten der christlichen Botschaft entspricht. Insofern könnten die Reanimationsberichte (falls sie, was hier nicht beurteilt werden kann, als wissenschaftlich seriös gelten können und falls sie auch Nichtglaubende und in ihrer Kindheit nicht religiös sozialisierte Patienten einschließen) möglicherweise doch, wenn auch nicht Beweise für die Transzendenz, so doch Hinweise auf die Transzendenzverwiesenheit des Menschen sein“ 10. Wer die Erzählungen der Todeskandidaten ernst nimmt, mag immerhin einen kleinen Trost daraus ziehen: Keiner berichtete von Angst. Der Tod kam immer sanft – und machte dann wieder kehrt. Der evangelische Theologe Johann Christoph Hampe 11 hat auf die Bedeutung dieser Berichte für die Einstellung zum eigenen Tod hingewiesen. Wenn sie nicht nur von Ausnahmen sprechen, dann könnten sie hoffen lassen, dass das Sterben „doch ganz anders“ ist, dass nämlich der Sterbevorgang (das Sterben selbst, vom „Danach“ ist hier nicht die Rede) erlebt werden kann nicht nur als Fallen in Finsternis, Enge, Kälte, Einsamkeit, Angst, sondern auch als Eintauchen in Wärme, Licht, Liebe, Freude.

3. Die Schwierigkeit der Rede von den „Letzten Dingen“ Christliche Antwortversuche auf die Frage nach den „Letzten Dingen“ leben aus der Hoffnung auf die Vollendung der eigenen, individuellen und der gesamten, universellen Geschichte in Gott. Augustinus sagt kurz und prägnant: „Ipse [Deus] post hanc vitam (…) locus noster“ – Gott selbst ist nach diesem Leben unser Ort. 12 Darum sind alle Inhalte der Rede von dem „Danach“ personal und nicht dinghaft bzw. lokal zu interpretieren. Die Antwortversuche christlicher Theologen beziehen sich auf Gott und nicht auf irgendwelche „Orte“ im Jenseits. Gott ist – nach einem Wort von Hans Urs von Balthasar – „als Gewonnener Himmel, als Verlorener Hölle, als Prüfender Gericht, als Reinigender Fegefeuer.“ 13 Gott aber ist das alle Fassungskraft des Menschen unendlich übersteigende Geheimnis. Darum tragen alle Antwortversuche letztlich die Signatur des Unbegreiflichen und Unvorstellbaren. Der gesamten Rede von den „Letzten Dingen“, der „Eschatologie“, ist das gleiche Schicksal beschieden wie der Rede von Gott. Von Gott und von seiner Wirklichkeit lässt sich nur in Bildern und Symbolen sprechen. Die Wirklichkeit wird, so hoffen wir, diese Bilder und Symbole unendlich übersteigen. Bilder und Symbole öffnen den Vorstellungsraum für das, was jenseits menschlicher Möglichkeiten von Gott her zukommt. Die biblischen Hoffnungsbilder sind daher nicht einfach „Traumgebilde“, sondern in die Zukunft gedachte „Verlängerungen“ schon gegebener realer Heils- (oder Unheils-) Erfahrungen. Zwischen der Befreiungserfahrung des Menschen und seiner Auferstehungshoffnung besteht ein Zusammenhang:

Der Glaube an die Auferweckung von den Toten

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„Wenn wir, wie in der Liturgie der Osternacht, uns zurufen ‚Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden‘, so rufen wir ‚Befreiung‘ und sind mit den geschundenen, zerstörten Menschen, den Armen zusammen. ‚Er ist auferstanden‘, so sagen wir und meinen, wir werden satt, wir lieben unsere Mutter, die Erde; wir bauen Frieden mit unserem ganzen Leben. Wir machen aus den Schwertern Pflugscharen. Man muss diese Kraft dessen, was Auferstehung heißt, in unserem Leben spüren. Wir müssen diese Worte wie ‚Auferstehung, Leben aus dem Tod, Gerechtigkeit‘ wieder in Besitz nehmen und sie an unseren eigenen Erfahrungen als wahr erkennen. Wenn wir unsere Erfahrungen benennbar gemacht haben, so können wir unser Leben im Rahmen der großen Symbole unserer Tradition beschreiben: […] Nur was wir selber an christlicher Erfahrung zu einem Teil unseres Lebens gemacht haben, das lässt sich auch weitersagen, das wird auch für andere kommunikabel“ (Dorothee Sölle 14). Gott kommt nicht erst „am Ende“ vollendend auf die Schöpfung zu, vielmehr ist die gesamte Geschichte schon jetzt nicht nur durch Unterdrückung, Not, Krankheit, Leid, Einsamkeit gekennzeichnet, sondern auch durch Taten heilbringenden Zu-Kommens Gottes: Befreiung aus Unterdrückung, Rettung aus Not, Heilung in Krankheit, Erlösung aus Leid, Zuwendung in Einsamkeit. Solche und ähnliche Erfahrungen verweisen über sich hinaus auf eine grundsätzliche Gefährdung, aber auch auf eine absolute Erfüllung. Deshalb geben vergangene und gegenwärtige Heilserfahrungen das „Bildmaterial“ ab, aus dem in gesteigerter Form die erhoffte Vollendung und deren Strukturen ins unendliche Geheimnis hinein „verlängert“ werden kann. Die Rede von den „Letzten Dingen“, so könnte man auch sagen, ist „verlängerte Anthropologie“ (Karl Rahner). Die „Letzten Dinge“ bringen das zur Vollendung, was in gegenwärtigen Gnaden- und Heilserfahrungen schon angekündigt oder sogar zuteil wurde. Diese Erfahrungen geben die Basis ab, von der aus sie sich auf eine künftige Vollendung hin „hochrechnen“ lassen und von der aus die tradierten biblischen Bilder auf ihren eigentlichen Sachgehalt hin zu interpretieren sind.

4. Der Glaube an die Auferweckung der Toten Der Glaube an die Auferweckung der Toten ist in der Bibel erst spät belegt. Das ist verwunderlich angesichts des massiven Glaubens an ein Weiterleben der Toten, wie er für Israels Nachbarland Ägypten kennzeichnend war. Nach dem um 900 v. Chr. entstandenen biblischen Text verkündet Gott dem Adam nüchtern und unpathetisch: „Staub bist du, zu Staub musst du zurück“ (Gen 3,19). Die Toten „sind wie Wasser, das auf die Erde geschüttet wird und das man nicht mehr fassen kann“ (2 Sam 14,14). Dem Abraham wird für seinen Glaubensgehorsam nur ein Fortleben in überaus zahlreicher Nachkommenschaft verheißen (Gen 13,16; 15,5; 22,17). Allerdings wird auch unmissverständlich festgehalten, dass Jahwe der Herr des Lebens ist. So wie Jahwe den „Adam“ aus Ackerboden geformt und ihm das Leben geschenkt hat, kann er auch die Toten wieder lebendig machen: „Der Herr tötet und macht lebendig; er stößt in die Grube und führt wieder herauf“ (1 Sam 2,6). Erst durch das Zusammentreffen Israels mit der babylonisch-parsistischen und

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hellenistischen Kultur (ab etwa 5. Jh. v. Chr.) werden Ansätze des Glaubens an eine individuelle Auferstehung erkennbar. So spricht das Buch Daniel die Erwartung aus: „Am Ende der Tage wird dein Volk (Israel) gerettet werden, ein jeder, der sich aufgezeichnet findet im Buch des Lebens. Und viele von denen, die schlafen im Erdenstaube, werden erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewiger Abscheu“ (Dan 21,1–2). Die Hoffnung auf „ewiges“ Leben richtet sich in Israel weniger auf den Einzelnen. Im Vordergrund steht das Leben und Überleben der Gemeinschaft. Nicht das Individuum, sondern der (mit dem Volk Israel geschlossene) Bund soll ewig leben: „Auf ewig gedenkt der Herr seines Bundes, auf tausend Geschlechter des Wortes, das er gegeben, des Bundes, den er mit Abraham geschlossen, und des Eides, den er Isaak geschworen“ (1 Chr 16,17). Die Verheißungen Jahwes gelten immer zuerst dem Bund, dem Einzelnen nur insofern, als sie für den Bund und das Bundesvolk bedeutsam und heilbringend sind (vgl. Jes 42,6). Dieser Bund aber ist ewig (1 Chr 16,17). Der Bund und die Zugehörigkeit zum Bundesvolk geben letztlich Anlass zu berechtigter Hoffnung auf ein neues Leben nach dem Tod. Die Evangelien lassen vermuten, dass Jesus nur selten ausdrücklich von der Auferstehung der Toten gesprochen hat. Allerdings setzen zahlreiche seiner überlieferten Worte diesen Glauben voraus – so etwa die Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus (Lk 16,19–31). Im Mittelpunkt der Verkündigung Jesu steht die Botschaft vom Anbruch des Gottesreiches. Es ist „schon jetzt“ angebrochen (vgl. Mk 1,15; Lk 11,20), aber in seiner Vollendung steht es noch aus (vgl. Mk 14,25; Lk 13,29). Diese Gegenwart ist für Jesus eine Chance, das endgültige Heil zu finden. Gegenwart und Zukunft bilden eine Einheit. Das Gericht geschieht nicht in grauer Zukunft. Vielmehr wird „jetzt Gericht gehalten über diese Welt“ – so fasst der Evangelist Johannes die Botschaft Jesu zusammen (Joh 12,31). Allerdings zieht die frühjüdische Apokalyptik, in deren Tradition auch Jesus und Paulus stehen, eine scharfe Trennungslinie zwischen dem „Ende der Tage“ und dem „Danach“. Hier stoßen zwei völlig verschiedene Weltzeiten aufeinander: Eine Weltzeit, die sich ihrem von Gott bestimmten Ende zuneigt, und eine Weltzeit, in der die unbeschränkte und uneingeschränkte Herrschaft Gottes durchgesetzt wird. Auferweckung der Toten durch das souveräne Handeln Gottes ist gleichbedeutend mit einer Neuschöpfung. Auch bei Paulus ist dieser Gedanke anzutreffen. Er spricht von „dem Gott, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft“ (Röm 4,17). Damit aber stellt sich die Frage, was das Durchhaltende, das Bleibende zwischen dem gestorbenen Menschen und dem von Gott auferweckten – und damit neu geschaffenen – sei. Für Paulus gibt es darauf nur eine Antwort: Es gibt keine andere Kontinuität, als die das Stadium der völligen Vernichtung des Menschen in Tod und Verwesung durchtragende und überdauernde Treue und Erinnerung Gottes an unsere Geschichte (vgl. 1 Kor 15,35–45). Es bleibt nichts vom Menschen, was den Tod überdauert. Die Hoffnung auf ein neues Leben nach dem Tod ist allein begründet im Glauben an einen vertrauens- und glaubwürdigen Gott und in der Zuversicht, dass er diese unsere Geschichte im Akt einer Neuschöpfung ebenso zu ihrem „Ende“ bringen wird, wie er die

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Geschichte des Jesus von Nazaret zu „Ende“ gebracht hat – und dieses „Ende“ war der Anfang eines neuen Lebens (vgl. Röm 6,4 15). Als die christliche Botschaft im griechischen Sprach- und Denkraum Fuß zu fassen begann, musste sie berücksichtigen, dass dort eine andere Vorstellung über den Tod und das Danach herrschte. Tod bedeutete hier – im Gefolge der platonischen Philosophie – die Trennung der unsterblichen Seele vom sterblichen Leib, die Befreiung der immateriellen Seele aus dem Gefängnis des materiellen Leibes. Die meisten altchristlichen Glaubensbekenntnisse sprechen deshalb nicht mehr von einer „Auferstehung der Toten“, wie Paulus und vor ihm die Schriften des Alten Testaments das noch tun (vgl. 1 Kor 15,12–16; Jes 26,19; Dan 12,2), sondern von der „Auferstehung des Fleisches“ 16. Was der Auferstehung bedarf, ist lediglich der sterbliche Leib, das „Fleisch“. Diese (leibfeindliche) Zweiteilung des Menschen (sterblicher Leib – unsterbliche Seele) drang, ausgehend vom griechischen Denken, mehr und mehr in das Christentum ein. Allerdings erfolgte mit dem Bekenntnis zum Glauben an eine Auferstehung auch des „Fleisches“ eine nicht unwesentliche Veränderung der hellenistischen Vorstellung. Hier setzte sich das biblische Ganzheitsdenken durch. 1974 hat die wiedergewonnene biblische Sicht von der unteilbaren Ganzheit und Einheit des leib-geist-seelischen Menschen Eingang ins Credo gefunden: Statt „Auferstehung des Fleisches“ heißt es jetzt (wieder) „Auferstehung der Toten“.

5. Das große Gericht Aus der tradierten Auffassung, der Mensch bestehe aus einer unsterblichen Seele und einem sterblichen Leib, ergibt sich fast zwangsläufig die Notwendigkeit der Annahme eines doppelten Gerichts – eines besonderen und eines allgemeinen: „In seiner unsterblichen Seele erhält jeder Mensch gleich nach dem Tod durch Christus, den Richter der Lebenden und der Toten, in einem besonderen Gericht seine ewige Vergeltung“ 17. Und: „Das letzte Gericht wird bei der herrlichen Wiederkunft Christi stattfinden“ 18. Einmal abgesehen von der theologisch unhaltbaren Formulierung „in seiner unsterblichen Seele …“, die eine (zunächst?) offenbar leiblose Auferweckung nahelegt, erscheint diese Unterscheidung auch sonst höchst problematisch. Denn daraus folgert doch, dass es zwischen dem „besonderen“ und dem „allgemeinen“ Gericht eine Wartezeit gibt. Wie soll die aussehen? Ist sie für alle, für Heilige und Verdammte, gleich beschaffen? Ist sie eine Art Dämmerzustand? In der neueren Theologie wird daher die Ansicht vertreten, dass zwischen „besonderem“ und „allgemeinem“ Gericht gar kein Unterschied gemacht werden muss. So wie der Mensch hier und jetzt Gott begegnet, ereignet sich für ihn hier und jetzt schon das Gericht. Das wird deutlich in der bekannten Gerichtsszene des Matthäusevangeliums (Mt 25,37–44). Jeder einzelne hat sich bereits gerichtet durch die Art und Weise, wie er den Ärmsten und Geringsten unter seinen Mitmenschen begegnet ist. Auch Paulus versichert seiner Gemeinde in Korinth, dass jeder „sich selbst das Gericht isst und trinkt“, wenn er sich beim (eucharistischen) Mahl gemeinschaftswidrig und unsozial verhält (1 Kor 11,17–34). Wer am Nächsten achtlos vorübergeht, spricht sich selbst

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das Urteil, weil er „das Recht und die Liebe zu Gott außer acht lässt“ (Lk 11,42). Und noch deutlicher sagt es der johanneische Jesus: „Amen, amen, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben, und er kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod zum Leben übergegangen“ (Joh 5,24). „Gericht“ erscheint hier als endgültige Summierung der vielen kleinen und großen Gerichte des Lebens. Und weil in diesem Gericht Jesus selbst es sein wird, der die Summe zieht, darf der Christ hoffen, dass er (wie das schon in jedem weltlichen Gericht geschieht) „in dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten – sprechen wird und dass die Schuld nicht von vornherein feststeht, sondern dass sie (ebenfalls wie im weltlichen Gericht) nachgewiesen wird. Es wird die Aufgabe dieses göttlichen, gerechten und barmherzigen Richters sein, nicht nur die Vergehen, sondern auch (und vor allem!) die guten Seiten und Taten des Angeklagten zu berücksichtigen. Christliche Theologie lehrt, dass der Mensch im Tod vor Gott treten wird. Doch zu jedem Menschen gehört seine Welt, in der er gelebt hat und mit der er durch ein vielfältiges Geflecht von Beziehungen, die sein Leben ausmachten, verbunden war – seine Lieben, seine Freunde, sein Glück und sein Leid, seine vielfachen Bezüge und Bindungen. Ohne diese Welt kann der Mensch nicht leben. Er braucht diese Welt. Und diese Welt braucht ihn. Darum wird im Tod jedes Einzelnen auch die ganze Welt vor das Gericht treten. Das klingt reichlich kühn und höchst unglaubwürdig. Denn es widerspricht diametral unserer Erfahrung, dass mit dem Tod jedes Einzelnen keineswegs die Welt vergeht, sondern dass sie ganz im Gegenteil geradezu gänzlich unberührt davon bestehen bleibt. Gott aber ist nicht ein Teil dieser Welt. Er im Diesseits jenseitig. Er ist welt-immanent und welt-transzendent,. Er ist in der Zeit über der Zeit. Gott ist ewig. „Gib ihnen die ewige Ruhe …“, so beten wir für die Verstorbenen; „heimgegangen in die Ewigkeit …, ins ewige Leben“, so sagen wir von ihnen. Zur Ewigkeit muss der Mensch berufen werden (1 Tim 6,12), weil er ja grundsätzlich gerade nicht ewig leben soll (Gen 3,22). Mit „Ewigkeit“ und „Zeit“ stoßen zwei Größen aufeinander, die nicht miteinander zu verrechnen sind, weil Gott und Welt nicht miteinander zu verrechnen sind. Ewigkeit ist nicht eine über sich selbst ins Unendliche hinauswachsende Zeit, wie auch Gott nicht eine über sich selbst ins Unendliche hinauswachsende Zeit besitzt. „Ewigkeit (ist gleich) lange Zeit“, wie es in einem früher häufig gesungenen Kirchenlied heißt, ist ein Widerspruch in sich. Ewigkeit geht nicht der Zeit voran. Sie folgt ihr auch nicht nach. Vielmehr ist Ewigkeit gleich-zeitig aller Zeit. Ewigkeit verhält sich sowohl zur Vergangenheit wie zur Zukunft in gleicher Weise so gegenwärtig, wie Gott aller Zeit gegenwärtig ist. Jeder Augenblick der Zeit ist der Ewigkeit gleich weit entfernt oder gleich nahe, weil Gott jedem Augenblick der Zeit gleich nahe ist. Vielleicht lässt sich das Verhältnis Zeit/Ewigkeit am besten vorstellen, wenn „Ewigkeit“ mit dem Mittelpunkt eines Kreises verglichen wird, der von der Peripherie, auf der die „Zeit“ läuft, stets gleich weit entfernt ist. Ich mag auf dem Kreisbogen ansetzen, wo ich will, immer bin ich dem Zentrum gleich nahe. Gott ist aller Zeit gleich nahe. Für ihn gibt es kein früher oder später. Für ihn ist alle Zeit „jetzt“. Wer glaubt, wer mit Gott verbunden ist, „hat das ewige Leben“ und ist schon „aus dem Tod ins Leben hinüber gegangen“ (Joh 5,24).

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Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint die These durchaus plausibel, dass im Tod des einzelnen auch die ganze Welt vor Gott hintritt. Es kommt allein auf den Blickwinkel an, unter dem ich diese Aussage betrachte. Von mir aus gesehen, der ich noch lebe und meinen Standpunkt auf der „Zeitlinie“, d. h. auf der Peripherie des Kreises habe, werden Zeit und Welt wahrscheinlich noch lange fortbestehen. Aus dieser Perspektive stimmt die These nicht, dass zusammen mit mir die ganze Welt ins Gericht kommt. Doch von der „anderen“ Seite her, aus dem Blickwinkel Gottes gesehen, geschieht mein Tod in gleicher Weise „jetzt“ wie der Tod Jesu oder der Tod eines Menschen in 1000 Jahren. Denn jeder Punkt auf der Peripherie ist dem Mittelpunkt gleich nahe. Nach Tod und Gericht, so lehrt der Katechismus, gibt es für die Menschen nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie kommen in den Himmel (nachdem sie vorher im Fegefeuer „gereinigt“ wurden) oder in die Hölle. Und dort bleiben sie dann eine Ewigkeit lang. 19

6. Fegefeuer und Hölle Kirchliche Verkündigung hat sich lange Zeit gütlich daran getan, die Höllenqualen plastisch und drastisch auszumalen. Sarkastisch bemerkte Erasmus von Rotterdam: „Die Theologen wissen nämlich die Zustände in der Hölle auffallend genau zu schildern; man meint geradezu, sie hätten schon eine Reihe von Jahren in diesem Reich geweilt“ 20. Dieser häufig gebrauchten (Droh-)Rede von der Hölle lagen (unausgesprochen und unbewusst?) vor allem zwei Motive zugrunde: 21  Der Wunsch nach Vergeltung für die „schweren Sünder“. Dahinter steckt eine entlarvende Mentalität: Wenn auch die schweren Sünder letztendlich in den Himmel kommen, warum mühen wir uns dann damit ab, die christlichen und kirchlichen Gebote zu halten? „Hier wird deutlich, wie sehr von nicht wenigen Gläubigen der Glaube als Lebensbehinderung und nicht als Lebenserweiterung und -bereicherung erlebt wird, als etwas, wofür man einen Ausgleich bekommen muss. […] Das Festhalten an der Hölle ist hier ein Symptom für ein Christentum, das dem Menschen nicht die Fülle, sondern die Verkleinerung von Leben gebracht hat, nicht die Befreiung, sondern die Unterwerfung, nicht die Heilung, sondern viele Verletzungen. Letztlich also eine in das Jenseits hinein verlagerte Selbstbehauptung derer, die sich hier nicht behaupten durften.“

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Auf Seiten vieler Kirchenführer stand die Erfahrung, dass sich mit der Höllenangst gut Herrschaft betreiben ließ. „Wer nicht nur mit zeitlichen, sondern auch noch mit ewigen Strafen drohen kann, dem fließt eine schier unendliche Macht über die Menschen zu. Bis hin zur Legitimation äußerster Gewalt und Grausamkeit im Diesseits, natürlich mit der Rechtfertigung, die entsprechenden Ungläubigen mit Gewalt vor der künftigen Hölle retten zu wollen“ 22. Niemand kann leugnen, dass es in der Welt soviel himmelschreiende Ungerechtigkeit, soviel Grausamkeit und Bestialität, soviel Vernichtung und Zerstörung, soviel Ermordung Unschuldiger gegeben hat und gibt, dass „keine Strafe von Menschenhand für solche monströsen Taten genug“ sein kann. 23 Es muss eine Gerechtigkeit geben. „Theologie ist Ausdruck einer Sehnsucht danach, dass das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge, dass der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphiere.“ 24 Aber soll diese Gerechtigkeit darin bestehen, dass für abgrundtiefe Schuld in einer begrenzten Lebenszeit ein abgrundtiefer Reueschmerz in einer unbegrenzten „Zeit“ eingeklagt wird? Dass zur Vergeltung des beklagenswerten und furchtbaren zeitlichen Leids der Opfer ein ewiges Leid über die Täter verhängt wird, das keineswegs weniger beklagenswert und furchtbar ist? Kann es überhaupt einen Himmel geben, wenn „daneben“ oder „darunter“ eine Hölle existiert? „Es wäre ein Himmel ohne Erinnerung, eine irrsinnige Verdrängungsmaschinerie, wo all das Leiden und die Schuld der Amnäsie, dem Vergessen verfällt. Ein Ort der Gedankenlosigkeit, wo sich das Glück der Seligen abspaltet von ihrer diesseitigen Vergangenheit. Eine solche Bewusstlosigkeit wäre in der Tat eine Vergleichgültigung der Opfer in alle Ewigkeit hinein“ 25. Die „Hölle“ in der traditionellen Vorstellung gibt es nicht. In ihr brennt weder ein Feuer noch hausen in ihr Teufel, deren einzige Aufgabe darin besteht, die Verdammten in alle Ewigkeit zu foltern und zu peinigen. „Hölle“ – das ist ein anschaulich-drastisches Bild, um den „Fluch der bösen Tat“ deutlich zu machen und die Folgen aufzuzeigen, die daraus erwachsen. Sie ist eine Art Spiegelbild des Leides, das der Täter – häufig gedanken- und bedenkenlos – seinem Opfer zugefügt hat. Sie bringt den Ernst der Lage zum Ausdruck, in den sich der Schuldiggewordene hineinmanövriert hat. Eine wirkliche Wiedergutmachung dieser Schuld ist nur möglich im Lebenszusammenhang mit Gott und den Opfern selbst. „Angesichts ihrer Wunden leidet der Täter. Angesichts der unendlichen Barmherzigkeit Gottes verschärft sich der Schmerz. Aber dieses Leiden ist das Leiden von Geretteten. Die Erinnerung der Opfer findet so in ihnen, die ewig leben dürfen, eine ewige Gegenwart. Ein vom Gesicht der Opfer abgewandtes und abgespaltenes Strafleiden wäre sinnlos, weil dann die Sühne nicht an dem Ort eingeklagt und fruchtbar würde, wo die Schuld verursacht wurde und Leid zugefügt hat.“ 26 Niemand wird von sich behaupten können, er sei ohne Schuld. Doch über das Maß der Schuld können wir uns nicht klar werden. Zu viele, meist unbekannte und unbewusst bleibende Faktoren spielen mit, die unsere Schuld vergrößern oder verkleinern. Gott allein kennt das richtige Maß. „Hölle“ und „Fegefeuer“ fallen so in eins. „Die Opfer werden mit ihren Wunden, die Täter mit ihrem Kainszeichen erkennbar sein. Die diesseitige Welt wird in der jenseitigen gegenwärtig bleiben. Und die ‚therapeutische‘ Kraft des Himmels wird darin liegen, dass es zu einer Versöhnung, zu einer ‚Wiedervereinigung‘ gespaltener Wel-

Können Christen an die Reinkarnation glauben?

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ten kommt. Dies geschieht und kann nur geschehen im Kraftfeld der universalen Liebe und unendlichen Versöhnung Gottes“ 27. Die Rede von Hölle und Fegefeuer ist als das zu nehmen, was sie sein will: als Bild. Sie will dem Menschen etwas sagen „für sein jetziges Leben, etwas ihn jetzt und hier Betreffendes […], das ihm Wegweisung für sein Dasein vor Gott, nicht aber Wesenserkenntnisse über bisher unbekannte Gegenstände bieten will“ 28.

7. Können Christen an die Reinkarnation glauben? Immer mehr Menschen finden heute Interesse an fernöstlichen Reinkarnations-Vorstellungen: Können wir auf mehr als nur ein einziges irdisches Leben hoffen? Müssen oder dürfen wir viele Leben befürchten oder erhoffen? Gibt es in uns ein geistiges Element (Seele, Geist, „Atman“), das unseren körperlichen Tod überdauert und das immer wieder neu in das „Fleisch“ eines irdischen Lebens eingeht – solange, bis die psychische Wirkung der bösen Taten, das „schlechte Karma“, ausgelöscht und nur noch „gutes Karma“ vorhanden ist? Unter den christlichen Theologen mehren sich inzwischen jene Stimmen, die diese Vorstellungen nicht mehr gänzlich ablehnen und zumindest eine ernsthafte Diskussion im Geiste des Dialogs fordern. Das Pro und Contra soll hier gegenübergestellt werden: Contra Die Zielgerichtetheit der jüdisch-christlichen Hoffnung ist mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen unvereinbar.

Die Einheit von Leib und Seele im christlichen Menschenverständnis widerspricht der Seelenwanderung. Der Leib kann nicht die Seele wechseln. Die christliche Hoffnung auf Erlösung und auf die Gnade Gottes verträgt sich nicht mit dem Karma-Gedanken und der Abarbeitung der Schuld. Die Ernstnahme der menschlichen Existenz in ihrer Einmaligkeit stößt sich an der Erwartung weiterer irdischer Existenzen.

Pro Auch der Hindu hofft auf eine Erlösung aus der Kette der Inkarnationen. Das Bild vom ewig kreisenden Rad könnte ersetzt werden durch das Bild der Wendeltreppe oder Spirale. Auch das indische Ganzheitsdenken legt eine Einheit des Menschen nahe; die westliche Unterscheidung von Geist und Materie wirkt dagegen eher dualistisch. Neben der Karmalehre gibt es auch die Hoffnung auf eine gnadenhafte Erlösung aus der Kette der Inkarnationen. Es ist zu fragen, ob die Anhänger der Reinkarnationslehre das Konkrete ernst genug nehmen.

Es bleiben gravierende Konfliktfelder zwischen Reinkarnationslehre und christlicher Auferstehungshoffnung. Doch vielleicht erbringt der sich anbahnende interreligiöse Dialog neue Aspekte, die sich produktiv weiterführen und vertiefen lassen

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8. Ein neuer Himmel und eine neue Erde Im Brief an die Gemeinde von Rom schreibt Paulus: „Die gesamte Schöpfung seufzt bis zum heutigen Tag und liegt in Geburtswehen. Auch sie soll von der Sklaverei der Verwesung befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes“ (Röm 8,22.21). Gott hat seiner gesamten Schöpfung eine Vollendung zugedacht – der belebten und der unbelebten, der mit einem Bewusstsein ihrer selbst begabten und der unbewusst existierenden. Die Vollendung der Schöpfung ist nicht eingegrenzt auf die Vollendung des Menschen. Der Mensch ist unlösbar Teil dieser Schöpfung. Und wer kann eigentlich mit Sicherheit voraussagen, ob in Millionen von Jahren überhaupt noch Menschen auf dieser Erde leben werden? Ob nicht bestimmte Tierarten (etwa die höchstentwickelten Primaten) dann in der Evolution so weit fortgeschritten sind, dass auch sie zum Bewusstsein ihrer selbst gelangt sind, während vielleicht die Menschen ausgestorben sind oder sich selbst vernichtet haben? Für die Gestalt dieser vollendeten Gesamt-Schöpfung hat sinngemäß das zu gelten, was Paulus über die Vollendungs-Gestalt des menschlichen Leibes schreibt: „Was gesät wird, ist verweslich, was auferweckt wird, ist unverweslich. Was gesät wird, ist armselig, was auferweckt wird, herrlich. Was gesät wird, ist schwach, was auferweckt wird, ist stark. Gesät wird ein irdischer Leib, auferweckt ein überirdischer“ (1 Kor 15,42–44). Gesät wird die irdische Gestalt der Schöpfung, wie wir sie kennen. Auferweckt wird eine überirdische Gestalt, wie wir sie erhoffen. Der Glaube an die Vollendung der gesamten Schöpfung gründet auch in der Eigenart menschlichen Lebens. Wie schon oben im Zusammenhang mit dem Tod angesprochen, gestaltet sich dieses unser Leben in Beziehungen – nicht nur zu den Mitmenschen, sondern auch zu Pflanzen und Tieren, zu Flüssen und Bergen, zu Sand und Steinen, zur heimischen Ackerscholle. Schon in dieser unvollendeten Welt offenbaren sich die Dinge, wenn man sie nur genau genug betrachtet, als Abglanz göttlicher Schönheit und Weisheit. Nicht wenige Gottsucher unserer Welt, etwa die so genannten „Pantheisten“, waren (und sind) davon so fasziniert, dass sie glaub(t)en, Gott und Schöpfung seien eines Wesens: „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Lukas nahm diesen Satz sogar in die Apostelgeschichte auf (Apg 17,28). Auch für Paulus ist Gott „alles in allem“ (1 Kor 15,28). Wenn wir auf eine „Vollendung der (Gesamt-)Schöpfung“ hoffen, dann kann es nicht gleichgültig sein, wie das geschieht. Vorstellbar ist ein „nahtloser“ Übergang vom Ende dieser Welt zu ihrer Voll-Endung. Es können freilich auch kosmische Katastrophen sein, die das Ende der Welt und den Untergang ihrer jetzigen Gestalt herbeiführen. Beides liegt außerhalb menschlicher Verfügungsgewalt und Verantwortung. Allerdings hat der Mensch heute durchaus die Macht, das Ende der Erde selbst herbeizuführen oder es zumindest zu beschleunigen – durch einen atomaren Krieg, durch eine hemmungslose Ausbeutung der lebens- und überlebensnotwendigen Ressourcen, durch eine Vergiftung der Atmosphäre. Die Zerstörung der Welt durch menschliche Macht könnte so die Vollendung der Welt durch die Macht Gottes pervertieren. Was nach der Bibel als Ursünde der „ersten“ Menschen am Anfang beschrieben wird – sein zu wollen wie Gott (Gen 3,5) –, würde durch die „letzten“ Menschen zu einem schreck-

Ein neuer Himmel und eine neue Erde

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lichen Ende gebracht: Sie könnten nicht nur wie Gott sein, sondern sich sogar über ihn stellen, indem sie die Erde, das „Werk seiner Hände“ (Ps 28,5), vernichten. Doch was ist der „Himmel“? Es gibt eine Reihe von Fallen, in die man tappen kann, wenn man genauer wissen möchte, was „ewiges Leben“ ist. Die erste besteht in der Verjenseitigung des „Himmels“ und in der daraus folgenden Vertröstung auf die bessere Zeit nach diesem „irdischen Jammertal“. Die andere Gefahr liegt in einer individualistischen Engführung, in einer Art „Privatisierung“ des Himmels („Rette deine Seele“). Als drittes wäre die patriarchalische Falle zu benennen: Gott als der Übervater im Himmel („Droben überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“). Und viertens gibt es einen kapitalistisch-konsumistischen Missbrauch bei den Frommen: Den Himmel sich verdienen müssen durch Wohlverhalten und Bravsein, durch „Workaholismus“ in frommen und guten Werken. 29 Die Bibel spricht, ähnlich wie bei der Rede von der „Hölle“, in Bildern: „Ein neuer Name“, der den Menschen gegeben wird (Jes 62,4; Offb 2,17), Hochzeit (Jes 62,5; Mt 22,1–10; 25,1–13), Festmahl (Jes 25,6 f.; Lk 14,7–11; 22,24–27), „Zu-Tische-Sitzen“ mit Abraham und den Propheten (Mt 8,11), Paradies (Gen 2,8–25; Lk 23,42 f.), „Abwischen der Tränen“ (Offb 21,4). Diese Vergleiche stellen nicht in einer Art von Hellseherei eine Zustandsbeschreibung dar von dem, was einmal sein wird. Diese Bilder waren damals Allgemeingut, aber sie sprechen heute kaum noch jemanden an. Erst recht gilt das für populär-theologische Schilderungen, wie sie bis in die heutige Zeit kolportiert werden und wie sie sich in der Phantasie einstellen, wenn vom Himmel die Rede ist („Ewige Anschauung Gottes“, feierliche Liturgie mit „Hosianna-Rufen“ und „Halleluja-Singen“, ewige Wiedersehensfeier mit Verwandten und Bekannten). Wir müssen uns nach neuen umsehen. Wir müssen das, was mit „Himmel“ gemeint ist, neu umschreiben – oder es bleiben lassen. Pierre Teilhard de Chardin könnte hier eine bedenkenswerte und ernst zu nehmende Fährte weisen für eine akzeptable Vorstellung von „Himmel“ und von einer Gemeinschaft aller in Gott. Was er als Ziel- und Endzustand der Evolution annimmt, könnte durchaus auch ein Modell für die Vorstellung ewigen Lebens abgeben: „… ein Endzustand, wo wir, organisch (besser als die Zellen eines gleichen Gehirns) miteinander verbunden, alle zusammen nur mehr ein einziges, ultra-komplexes und folglich ultra-zentriertes System bilden“ 30. Eine ganz innige Gemeinschaft also, ein enges Zusammensein, eine harmonische Verbundenheit. Aber das klingt noch etwas kopflastig und wissenschaftlich. Einer der größten und bedeutendsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Rahner (1904–1984), hat wenige Tage vor seinem Tod das, was er sich unter „Himmel“ vorstellt, sehr eindringlich zu umschreiben versucht: „Mir will scheinen, dass die Vorstellungsschemata, mit denen man sich das Ewige Leben zu verdeutlichen sucht, meist wenig zu der radikalen Zäsur passen, die doch mit dem Tod gegeben ist. Man denkt sich das Ewige Leben, das man schon seltsam als ‚jenseitig‘ und ‚nach‘ dem Tod weitergehend bezeichnet, zu sehr ausstaffiert mit Wirklichkeiten, die uns hier vertraut sind: als Weiterleben, als Begegnung mit denen, die uns hier nahe waren, als Freude und Friede, als Gastmahl und Jubel und all das und ähnliches, als nie aufhörend und weitergehend. Ich fürchte, die radikale Unbegreiflichkeit

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Ewiges Leben

dessen, was mit Ewigem Leben wirklich gemeint ist, wird verharmlost, und was wir unmittelbare Gottesschau in diesem Ewigen Leben nennen, wird herabgestuft zu einer erfreulichen Beschäftigung neben anderen, die dieses Leben erfüllen. […] Ich gestehe, dass es mir eine quälende, nicht bewältigte Aufgabe des Theologen von heute zu sein scheint, ein besseres Vorstellungsmodell für dieses Ewige Leben zu entdecken, das diese genannten Verharmlosungen von vornherein ausschließt. Aber wie? Aber wie? Wenn die Engel des Todes all den nichtigen Müll, den wir unsere Geschichte nennen, aus den Räumen unseres Geistes hinausgeschafft haben […], wenn alle Sterne unserer Ideale, mit denen wir selbst aus eigener Anmaßung den Himmel unserer Existenz drapiert hatten, verglüht und erloschen sind, wenn der Tod eine ungeheuerlich schweigende Leere errichtet hat und wir diese glaubend und hoffend als unser wahres Wesen schweigend angenommen haben […], wenn sich zeigt, dass diese ungeheure schweigende Leere, die wir als Tod empfinden, in Wahrheit erfüllt ist von dem Urgeheimnis, das wir Gott nennen, von seinem reinen Licht und seiner alles nehmenden und alles schenkenden Liebe, und wenn uns dann auch noch aus diesem Geheimnis das Antlitz Jesu, des Gebenedeiten, erscheint und uns anblickt, dann, dann … So ungefähr möchte ich nicht eigentlich beschreiben, was kommt, aber doch stammelnd andeuten, wie einer vorläufig das Kommende erwarten kann, indem er den Untergang des Todes selbst schon als Aufgang dessen erfährt, was kommt.“ 31

Schlusswort Die Wanderung über das weite Feld des christlichen Glaubens ist beendet. Vielleicht hat sie neugierig gemacht, den einen oder anderen der besichtigten Orte noch einmal genauer und intensiver unter die Lupe zu nehmen. Bei anderen wird man lieber noch etwas warten, bis die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind. Es wäre auch nicht ausgeschlossen, dass der eine oder andere Besucher oder die eine oder andere Besucherin sich dazu entschließt, selbst mit Hand anzulegen an der Erneuerung, um so eigene Ideen und Vorschläge, Einsichten und Erkenntnisse mit verwirklichen zu helfen. Vielleicht wird auch manch einer oder manch eine die Kritik an der Ausgestaltung einiger Räume oder an deren Inneneinrichtung anbringen wollen. Einige werden bemängeln, dass die Arbeiten so langsam vorankommen. Sie alle sind herzlich zur Mitarbeit eingeladen. Denn nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erfüllt „Christus, der große Prophet, der durch das Zeugnis seines Lebens und in Kraft seines Wortes die Herrschaft des Vaters ausgerufen hat, […] sein prophetisches Amt nicht nur durch die Hierarchie […], sondern auch durch die Laien. Sie bestellt er zu Zeugen und rüstet sie mit dem Glaubenssinn und der Gnade des Wortes aus […], damit die Kraft des Evangeliums im alltäglichen Familien- und Gesellschaftsleben aufleuchte.“ 1

Anmerkungen I. Glauben – wie geht das? Vgl. G. Bodendorfer-Langer, Art. Glaube, III. Biblisch-theologisch, 2. Judentum, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg/Basel/Wien 31995, 669. 2 Vgl. dazu: H. Schnädelbach, Was Atheisten glauben, in: zur debatte 6/2012, 7–8; hier: 7 3 Vgl. Der Große Duden. Etymologie, Bd. 7, Mannheim 1963, 225. 4 Vgl. zum Folgenden: N. Scholl, Das Glaubensbekenntnis. Satz für Satz erklärt, München 2000, 21–30. 5 Zit. nach: Bibliothek der Kirchenväter im Internet, http://www.unifr.ch/bkv/kapitel136-4.htm. 6 Papst Benedikt XVI., Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen, in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles Nr. 174, Bonn 2006, 76. 82. 7 Die Prinzipien der Philosophie, Hamburg 2005, I.1. 8 Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit den sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, Hamburg 1994, I.1. 9 P. Wust, Ungewissheit und Wagnis, Salzburg/Leipzig 11937, München 92011. 10 M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt 82003, 269. 11 Aschaffenburg 2007 12 The God Delusion, Oxford 2006; deutsch: Der Gotteswahn, Berlin 42007. 13 J. Ratzinger, Einführung in das Christentum, München 1968 u. ö., 24 (Hervorhebungen von J. R.) 14 M. Buber, Werke III, München/Heidelberg 1963, 348. 15 J. Ratzinger, Einführung in das Christentum, München 1968 u. ö., 22 f. 1

II. Die Welt als Schöpfung Gottes? M. Planck, Religion und Naturwissenschaft, in: Vorträge und Erinnerungen, Darmstadt 1981, 318–333; zitiert nach: H. P. Dürr (Hg.), Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren (Bern/München/Wien 91996, 192 f.). 2 Vgl. zu diesem Abschnitt: H. Müther / U. Baumann, Physik, Theologie und Transzendenz, in: U. Baumann (Hg.), Gott im Haus der Wissenschaften. Ein interdisziplinäres Gespräch, Frankfurt 2004, 21–55; hier: 39 f. 3 P. Tillich, Die verlorene Dimension. Not und Hoffnung unserer Zeit, Hamburg 1962, 99. 4 S. W. Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit. Die Suche nach der Urkraft des Universums, Hamburg 1991, 212. 217 f. 5 E. Kaeser, Naturwissenschaft ohne Natur, in: Tagesanzeiger für die Stadt Zürich. Tagesanzeigermagazin 17 (25. 4. 1987), 36–45; hier: 38. 6 H. J. Schneider, „Erfahrung“ in Wissenschaft und Alltag, in: Universitas 1/1987, 44–55; hier: 45. 7 Ebd., 49. 8 Zitiert nach: H. Dukas / B. Hoffmann (Hg.), Albert Einstein – The human side. New glimpses from his archives, Princeton 1979, 127; zit. nach: C. Liesenfeld, Gotteserfahrung in der Physik?, in: L. Wenzler (Hg.), Die Stimme in den Stimmen. Zum Wesen der Gotteserfahrung, Düsseldorf 1992, 94–115; hier: 110. 9 A. Einstein, Religion und Wissenschaft; in: Berliner Tagblatt (11. 11. 1930); zit. in: Ders., Mein Weltbild (hg. v. C. Selig), Berlin 1955, 17. 10 Ich folge hier M. Görg, Der un-heile Gott, Düsseldorf 1995, 60–69 1

Anmerkungen

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Vgl. M. Görg, Der un-heile Gott, Düsseldorf 1995, 71–85 Ebd., 72 13 Ich orientiere mich hier an: Max Seckler, Theologische Schöpfungslehre, in: zur debatte 2/ 1997, 13. 14 Thomas von Aquin, Summa theologica I, q. 46, ad 2. 15 C. Bresch, Evolution – der Mensch, wie er ist, als Zwischenstufe? in: Herder-Korrespondenz 1978, 286–293; hier: 286 f.; vgl.: C. Bresch, Zwischenstufe Leben. Evolution ohne Ziel? (FTB 6802) Frankfurt 1981; R. Riedl, Die Ordnung des Lebendigen. Systembedingungen der Evolution, Hamburg/Berlin 1975; R. Riedl, Strategie der Genesis. Naturgeschichte der realen Welt, München 21980. 16 Der Weg der Physik. 2500 Jahre physikalischen Denkens, Texte von Anaximander bis Pauli. Ausgewählt und eingeleitet von Sh. Sambursky, Zürich/München 1975, 48. 17 Zit. nach: H.-J. Rennkamp, Was ist Anfang, was ist Ende?; in: Christ in der Gegenwart 2006, 13 f.; hier: 14. 18 Arnold Benz, Vom ewigen Kosmos zum Universum in Entwicklung, in: zur debatte 3/2009, 4–7; hier: 4. 19 Ebd., 5 20 Ebd. 5. 21 Ich folge hier einem Referat von P. Erbrich, Zufall in Biologie und Physik, in: zur debatte 6/1989, 7 f. 22 C. Bresch, Evolution – der Mensch, wie er ist, als Zwischenstufe? in: Herder-Korrespondenz 1978, 286–293; hier: 287. 23 H. Frauenknecht, Urknall, Urzeugung und Schöpfung, Wiesbaden 1976, 111. 24 H. Lesch, Was hat das Universum mit mir zu tun?; in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 1/2004, 32–34; hier 33. 25 Ebd. 34. 26 Ebd. 34. 27 C. Bresch, Evolution – der Mensch, wie er ist, als Zwischenstufe?, in: Herder-Korrespondenz 1978, 286–293; hier: 290. 28 Dazu: R. Breuer, Das anthropische Prinzip. Der Mensch im Fadenkreuz der Naturgesetze, Wien/ München 1981. Zum Ganzen: H. Kessler, Gott, der kosmische Prozess und die Freiheit, in: G. Fuchs/H. Kessler (Hg.), Gott, der Kosmos und die Freiheit. Biologie, Philosophie und Theologie im Gespräch, Würzburg 1996, 189–232. 29 Vgl. R. Breuer, Das anthropische Prinzip. Der Mensch im Fadenkreuz der Naturgesetze, München 1981. 30 Ich folge hier den Ausführungen von A. Keller, Das Bild des Menschen, in: zur debatte 4/1986, 25 f. 31 C. Bresch, Evolution – der Mensch, wie er ist, als Zwischenstufe?, in: Herder-Korrespondenz 1978, 286–293; hier: 290. 32 J. M. Gonzáles-Ruiz, Entmythologisierung der „anima separata“?, in: Concilium 1969, 40 f. 33 Platon, Timaios 41; Phaidros 245c,e. Aristoteles, De gen. animal. B3; 736 b.27; Metaphysik B 4. 34 Das 8. Allgemeine Konzil von Konstantinopel 869/970 sagte aus, „der Mensch habe eine vernunft- und verstandesbegabte Seele“ (animam rationalem et intellectualem) (DH 657). Das 4. Laterankonzil 1215 definierte: „Und danach (schuf Gott) die menschliche (Natur), die gewissermaßen zugleich aus Geist und Körper besteht“ (ex spiritu et corpore) (DH 800). Das 5. Laterankonzil 1512–1517 präzisierte: „… verurteilen und verwerfen wir […] alle, die behaupten, die vernunftbegabte Seele sei sterblich oder eine einzige in allen Menschen“ (DH 1440). 35 J. Moltmann, Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und wo sind die Toten?, in: zur debatte 5/2001, 10. 36 G. Greshake, Was ist der Mensch – was wird er sein? Unterwegs zur Gemeinschaft der Heiligen, in: zur debatte 5/2001, 8–9. 11 12

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Anmerkungen

J. Moltmann, a. a. O., 10. R. Guardini, Welt und Person, Würzburg 31950, 87. 39 Vgl. A. Diepen, Art. „Hypostasis“ in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, Freiburg 21961, Sp. 578. 40 De duabus naturis 3; PL 64, 1343. 41 Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe 6,41. 42 Kritik der reinen Vernunft A 365. 428. 429 (in dieser Reihenfolge). 43 Vgl. J. M. Hollenbach, Menschwerdung des Geistes, Frankfurt 1963, 132. 44 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, München u. a. 1993, Nr. 2274. 45 K. Hilpert, Wer hat ein Lebensrecht? Peter Singers „Praktische Ethik“ in der Diskussion, in: Katechetische Blätter 1992, 338–348; hier: 344. 46 P. Singer, Praktische Ethik (Reclams Universal-Bibliothek 8033), Stuttgart 1984. 47 Vgl. zum Folgenden: A. Ganoczy, Neue Aufgaben der christlichen Anthropologie, in: Concilium 1973, 417–425. 48 U. Bahnsen / A. Sentker, Zocker im Labor, in: DIE ZEIT 49/2001, 41 f.:; hier: 42. 49 Glauben mit den Tatsachen, in: Christ in der Gegenwart 2001, 409. 37 38

III. Die Frage nach Gott H. Küng, Existiert Gott? München /Zürich 1978, 589. 2 Thomas von Aquin, Summa theologiae I, qu. 2, ad 3. 3 Der einzig mögliche Beweisgrund, in: Werke I, 738. 4 Kritik der reinen Vernunft B 670 (= Werke II, 563 f.). 5 Reflexionen zur Metaphysik Nr. 4996, in: Kants handschriftlicher Nachlass Bd. V (Berlin/Leipzig 1928), 55 (= Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XVIII). 6 H. Küng, Existiert Gott?, München/Zürich 1978, 603. 7 E. Bloch, Atheismus im Christentum, Frankfurt 1968. 8 J. B. Metz, Gotteskrise. Zur „geistigen Situation der Zeit“, in: Diagnose zur Zeit, Düsseldorf 1995, 158–175. 9 M. N. Ebertz, Erosion der Gnadenanstalt? Zum Wandel der Sozialgestalt von Kirche, Frankfurt 1998, bes. 117–119. 10 Karl Lehmann, Hermeneutik für einen künftigen Umgang mit dem Konzil. Vortrag beim Theologischen Forum der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am 22. Januar 2004 in Bamberg. Daraus: 5. Blick in die Zukunft (http://www.bistummainz.de/bistum/bistum/kardinal/texte/texte_2004/ konzil.html). 11 L. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion (1851), 82. Vorlesung, in: Ders., Sämtl. Werke, hrg. von Wilhelm Bolin u. Friedrich Jodl, Bd. 8, Stuttgart-Bad Cannstatt 21960, 250. 12 S. Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, GW IV, 287. 13 S. Freud, Zwangshandlungen und Religionsübungen, GW VII, 138 f. 14 S. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, GW VIII, 195. 15 M. A. Persinger, Neuropsychological Bases of God Beliefs, New York 1999; zit. nach U. Eibach, Gott ein Hirngespinst?; in: U. Baumann (Hg.), Gott im Haus der Wissenschaften, Frankfurt 2004, 117–153; hier: 132 f. 16 A. Newberg / E. D’Aquili /V. Rause, Der gedachte Gott. Wie Glaube im Gehirn entsteht, München 2003; zit. nach U. Eibach, Gott ein Hirngespinst?; in: U. Baumann (Hg.), Gott im Haus der Wissenschaften, Frankfurt 2004, 117–153; hier: 128 f. 17 V. Ramachandran / S. Blakeslee, Die blinde Frau, die sehen kann. Rätselhafte Phänomene des Bewusstseins, Reinbek 2001; zit. nach U. Eibach, Gott ein Hirngespinst?; in: U. Baumann (Hg.), Gott im Haus der Wissenschaften, Frankfurt 2004, 117–153; hier: 133 f. 18 Neuere exegetische Forschungen ergeben ein differenziertes Bild. Das Wort „allmächtig“ (bzw. 1

Anmerkungen

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„der Allmächtige“) ist eine Übersetzung des griechischen „pantokrátor“ (= Herrscher über das All). Dieses Wort hat eine doppelte Bedeutung. Einmal wird mit „pantokrátor“ die Gottesvorstellung des „(jahwe) sebaôt“ im hebräischen Text des Alten Testament wiedergegeben: Jahwe als Kriegsherr (vgl. Ex 15,3; 1 Sam 17,47) und als Herr der (himmlischen und irdischen) Heerscharen (vgl. Ri 5,20). Zum anderen erinnert „pantokrátor“ aber auch an den Schöpfer-Gott, der über sein Werk göttliche Macht ausübt, indem er wie ein guter und verantwortungsvoller Herrscher Sorge trägt und es im Dasein erhält. Mit „pantokrátor“ wird in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, außerdem noch die Gottesbezeichnung „El Schaddáj“ wiedergegeben (vgl. v. a. Ijob 10,3.17; 13,27; 19,11; 30,21–23). „Schaddáj“ geht vermutlich auf eine akkadische Wortwurzel „schadú“ zurück, die „Berg“ bedeutet und, auf Gott angewendet, soviel wie „Erhabener, Hoher Herr“ bedeuten könnte. Es wäre also sinnvoller, vom „hohen“ oder „erhabenen“ Gott zu reden, als vom „allmächtigen“. Im Neuen Testament ist vom „pantokrátor“ in der Offenbarung des Johannes die Rede.- Jesus hat nirgends von einem „allmächtigen“ Gott gesprochen oder sich auf die „Allmacht“ Gottes berufen. Die Worte bei seiner Gefangennahme: „Glaubst du nicht, mein Vater würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel schicken, wenn ich ihn darum bitte?“ (Mt 26,53) werden nur von Matthäus überliefert und sind nicht als historisch anzusehen (das zeigen die Zahlensymbolik, die Anspielung auf die zwölf Apostel und die Erwähnung der römischen „Legion“). 19 F. E. Freiherr von Gagern, Gottesvorstellungen, in: Anzeiger für die Seelsorge 5/1996, 249–251; hier: 249 (kursiv vom Autor). 20 Zit nach: H. Meesmann, Wenn Gott nicht eingreift, Publik Forum 2/2012, 28–31 21 S. Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927), Stud. Ausg. Bd. IX, 150 f. 22 K. Rahner, Von der Unbegreiflichkeit Gottes. Erfahrungen eines katholischen Theologen, Freiburg 2004, 27. 23 Vgl. Forsa-Umfrage 2000; Emnid-Umfrage für Readers Digest 2005; Infratest-Umfrage dimap für „Die Welt“ 2005; Religionsmonitor 2008. 24 Das Beste – Readers Digest 4/1999. 25 K.-P. Jörns, Die neuen Gesichter Gottes, München 1997. 26 Der Deismus trat seit dem Ende des 16. Jahrhunderts in einer Art philosophischer Frühaufklärung auf. Er sagt, dass Gott nach seiner Schöpfung und den in ihr funktionierenden Naturgesetzen nicht mehr weiter aktiv mitwirkt oder eingreift. Das Erste Vatikanische Konzil hat den Deismus verurteilt. 27 Der Arianismus (benannt nach Areios, Priester in Alexandrien) hat im frühen vierten Jahrhundert fast die gesamte Kirche beschäftigt. Die Arianer ließen Christus so Mensch sein, dass sie seine Gottheit leugneten. Das Konzil von Nizäa hat 325 diese Auffassung zurückgewiesen und die GleichGöttlichkeit des Sohnes erklärt. 28 http://www.ksta.de/blob/view/21544776,17560427,data,Sinus-Studie.pdf 29 B. Spielberg, „Noch drin, weil nicht ausgetreten“. Das „Milieuhandbuch 2013“ zeigt der Kirche, was in ihr steckt, in: Herder Korrespondenz 3/2013, 119–123; hier: 121. 30 Ebd. 31 Vgl. H. Knoblauch, Populäre Religion, Frankfurt/New York 2009. 32 Vgl. zum Folgenden: Juan Pablo García Maestro, Auf dem Weg zu einer dialogischen Theologie, in: ETstudies. Zeitschrift der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie 2(2011)1, 125– 134. 33 F. Ferrucci, Die Schöpfung. Das Leben Gottes von ihm selbst erzählt, München 1988, 218 f. 34 Tomás ˇ Halík, Eine Macht über der Macht. Zu Guardinis Vision der Postmoderne, in: zur debatte 7/2010, 5–8. 35 G. Hasenhüttl, Glaube ohne Mythos. Bd. 1, Offenbarung: Jesus Christus, Gott (Schriften der Internationalen Paulusgesellschaft), Mainz 2001, 22001, 703. 36 Klaus Kühlwein, Leserbrief in: Christ in der Gegenwart 2005, 115. 37 Meister Eckhart, Die deutschen Werke I (hg. v. J. Quint), Stuttgart 1958, Tr. 11, 70.

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Anmerkungen

Vgl. Meister Eckhart, Die deutschen Werke I (hg. v. J. Quint), Stuttgart 1958, Pr. 1, 156. Meister Eckhart, Die deutschen Werke V (hg. v. J. Quint), Stuttgart 1963, 201, 11 f. 40 Immanuel Kant, Reflexionen zur Metaphysik Nr. 4996, in: Kants handschriftlicher Nachlass Bd. V (Berlin/Leipzig 1928), 55 (= Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XVIII). 41 Zitiert nach: H. Dukas / B. Hoffmann (Hg.), Albert Einstein – The human side. New glimpses from his archives, Princeton 1979, 127; zit. nach: C. Liesenfeld, Gotteserfahrung in der Physik?, in: L. Wenzler (Hg.), Die Stimme in den Stimmen. Zum Wesen der Gotteserfahrung, Düsseldorf 1992, 94–115; hier: 110. 42 Mitgeteilt in: B. Hoffmann / H. Dukas, Albert Einstein. Schöpfer und Rebell, Dietikon/Zürich 1974, 114. 43 Cicero 12/2007; zit.: www.forum-grenzfragen.de/grenzfragen/open/webtodate/aktuelles/presse/ 53204299f809b5102.html 44 Tomàs ˇ Halik, Geduld mit Gott, Freiburg 2010. 45 T. R. V. Murti, The Central Philosophy of Buddhism. A Study of the Madyamika System, London 1955, 235 f. 46 E. Conze, Buddhismus. Wesen und Entwicklung, Stuttgart 1953, 36. 47 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“, Art. 2. 48 N. P. Sil, Ramakrsna Paramahamsa, Leiden 1991. 49 Es darf allerdings in diesem Zusammenhang nicht verschwiegen werden, dass auch einzelne Stellen des Alten Testaments von Gewalt und Krieg sprechen und dass diese Texte eine höchst unheilvolle Wirkungsgeschichte entfaltet haben: Jahwe selbst ist „ein Krieger“ (Ex 15,3), der Väter und Söhne, Feinde und Könige „zerschmettert“ (Jes 13,14; Ps 68,22; 110,5), der sich in einen regelrechten Blutrausch steigert: er „zerstampft“ die Völker in seinem Grimm, „ihr Blut spritzt auf“ und „befleckt“ seine „Kleider“ (Jes 63,1–6), der befiehlt, „die Völker auszurotten“ (Ps 106,34), dessen „Pfeile trunken sind von Blut“ und dessen „Schwert sich ins Fleisch frisst“ (Dtn 32,42), der seine Rechte „glühen lässt wie einen feurigen Ofen“ und seine Feinde im Zorn verschlingt (Ps 21,10); aber auch als einer, der eben diesen „glühenden Zorn“ nicht vollstrecken kann, weil sein Herz sich gegen ihn wendet und Mitleid auflodern lässt (Hos 11,8 f.) „Das Angesicht Gottes zeigt Eigenheiten, die es nicht nur als liebevolles Antlitz, sondern auch als dämonische Fratze erfahren lassen“ (M. Görg). Kein Zweifel: Das Alte Testament enthält Texte, die die Anwendung von brutaler Gewalt schildern. Es darf freilich ebensowenig unterschlagen werden, dass es auch Passagen gibt, die deutliche Kritik an Gewalt und Gewaltanwendung üben oder die sogar eine ausgesprochen pazifistische Tendenz enthalten. „Das Alte Testament ist eindeutig gewaltkritisch – in dreifacher Hinsicht: Erstens haben wir es in den Texten mit Aufdeckung der Gewalt zu tun. Zweitens wird klar gesagt: Gewalt ist widergöttlich; Gewalt ist Sünde. Und drittens bringen viele Texte die Vision einer gewaltfreien Zukunft zum Ausdruck“ (E. Zenger). Der Prophet Jesaja entwirft in der Ankündigung des messianischen Reiches eine grandiose Utopie von Frieden und Gewaltlosigkeit: Der messianische Heilsbringer „schlägt die Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes … Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib. Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen nebeneinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind steckt seine Hand in die Höhle der Schlange. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist“ (Jes 11,4b.5–9). Zweimal wird das Bild vom Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen in die Bibel aufgenommen (Jes 2,4; Mich 4,3), 38 39

Anmerkungen

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und Jesaja lässt jeden Soldatenstiefel und jeden blutbefleckten Mantel zu einem „Fraß des Feuers“ werden (Jes 9,4). Der Gottesknecht (Israel? ein einzelner Frommer?) schweigt angesichts der ihm zugefügten Gewalt; darum wird er als Vorbild hingestellt (Jes 42,1; 53,10): „Er wurde misshandelt und niedergedrückt. […] Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf“ (Jes 53,7). Er wehrte sich nicht, er hielt seinen Rücken denen hin, die ihn schlugen, und denen, die ihm den Bart ausrissen, seine Wangen (Jes 50,6). Die Propheten werden nicht müde, die vielfältigen Formen von Gewalt zu verurteilen, die sich im Volk breitgemacht haben: Ausbeutung der Armen und Wehrlosen, Unterdrückung der Witwen und Waisen, Vergießen unschuldigen Blutes, Unrecht und Betrug (vgl. Jer 6,7; 7,5–7; 20,8; 21,12). Dieses Leben in wahrer Solidarität wird freilich nur möglich sein, wenn Gott selbst am Ende der Zeiten die Herzen neu schafft: „Ich schenke euch ein neues Herz und gebe euch einen neuen Geist. Ich nehme euch das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch endlich ein Herz von Fleisch. Ich lege meinen Geist in euch hinein“ (Ez 36,26). Wer nur die gewaltkritischen Texte des Alten Testaments auswählt, kann daraus ein gänzlich anderes Bild gewinnen als jener, der nur die Texte heraus pickt, die (scheinbar!) die Gewalt verherrlichen. Nicht die Bibel ist das Problem, sondern wie mit ihr umgegangen und wie sie verstanden wird. 50 Zit. nach: A. Th. Khoury, Politische Ziele religiös verbrämt. Die Motive der militanten „Gotteskämpfer“; in: Freiburger Rundbrief. Zeitschrift für jüdisch-christliche Begegnung 1/2002,11–16; hier: 16. 51 Chr. W. Troll, Wohin steuert der Islam?; in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 11/12–1985, 15. 52 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“, Art. 3. 53 K. Rahner, Das Christentum und die nichtchristlichen Religionen, in. Ders., Schriften zur Theologie. Bd. V, Einsiedeln/Zürich/Köln 1962, 142.151.

IV. „Unser Gott ist ein Nomade“ – Gotteserfahrungen im Alten Israel J. Moltmann, Theologie der Hoffnung, München 71968, 105. 2 Vgl. B. Lang (Hrsg.), Der einzige Gott. Die Geburt des biblischen Monotheismus, München 1981. 3 Ebd., 54. 4 Ebd., 78. 5 P. Lapide/J. Moltmann, Christliche Trinitätslehre. Ein Gespräch, München 1979, 15. 6 Ebd., 14. Das hier verwendete Verb „hajáh“ heißt nicht einfach „sein“ – wie es die deutschen Einheitsübersetzung sieht –, sondern „werden, geschehen, sich ereignen, dasein für (etwas, jemand).“ 7 A. Deißler, Die Grundbotschaft des Alten Testaments, Freiburg/Basel/Wien 1972, 51. 8 E. Zenger, Der Gott der Bibel, Stuttgart 1979, 108. 9 P. Lapide; in: P. Lapide / J. Moltmann, Christliche Trinitätslehre. Ein Gespräch, München 1979, 14. 10 E. A. Knauf, Midian. Untersuchungen zur Geschichte Palästinas und Nordarabiens am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. Wiesbaden 1988, 43–46. 11 Vgl. M. Görg, Monotheismus in Israel. MThZ 1986, 103. 12 Vgl. G. E. Mendenhall, Recht und Bund in Israel und dem alten Vorderen Orient, München 1961. 13 Vgl. E. Zenger, Der Gott der Bibel, Stuttgart 1979. 14 A. Deißler, Die Grundbotschaft des Alten Testaments, Freiburg/Basel/Wien 1972, 85. 15 W. Groß/K.-J. Kuschel, „Ich schaffe Finsternis und Unheil!“ Ist Gott verantwortlich für das Übel?, Mainz 1992, 58 f. 16 E. Zenger, Am Fuß des Sinai. Gottesbilder des Ersten Testaments, Düsseldorf 1993, 66. 17 E. Zenger, Der Gott der Bibel – ein gewalttätiger Gott? in: Katechetische Blätter 10/1994,687– 696; hier: 691 1

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Anmerkungen

M. Görg, Dieser Gott ist nicht bloß human, in: Publik-Forum 20/1992, 18–20; hier: 19. M. Görg, Der un-heile Gott, Düsseldorf 1995, 25. 20 E. Zenger, Der Gott der Bibel – ein gewalttätiger Gott? in: Katechetische Blätter 10/1994, 687– 696; hier: 695 f. 21 Vgl. dazu: P. Maiberger, Genesis 22 und die Problematik des Menschenopfers in Israel, in: Bibel und Kirche 3/1986, 104–112; hier 112; R. Kilian, Isaaks Opferung. Die Sicht der historisch-kritischen Exegese, in: Bibel und Kirche 3/1986, 98–104; M. Görg, Dieser Gott ist nicht bloß human, in: Publik-Forum 20/1992, 18–20; hier: 19. 22 E. Zenger, „Das Alte Testament ist eindeutig gewaltkritisch“, in: Herder-Korrespondenz 10/1993, 505–511; hier 505.507. 23 Zweites Vatikanisches Konzil, Konstitution Dei Verbum., Art. 12. 18 19

V. Wie glaubwürdig ist die Bibel? 1

Vgl. hierzu: N. Scholl, Die Bibel verstehen, Darmstadt 2004, 9–11. 2 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“, Art. 12. 3 Vgl. E. Schillebeeckx, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg/ Basel/Wien 31975, 77–87. 4 N. Perrin, Rediscovering the Teaching of Jesus, London 1967, 38–39; zit. nach: E. Schillebeeckx, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg/Basel/Wien 31975, 81. 5 Vgl. U. Wilckens, Die Missionsreden in der Apostelgeschichte, Neukirchen-Vluyn 21963. 6 Vgl. W. Stegemann, Zur neueren exegetischen Diskussion um die Apostelgeschichte, in: Der evangelische Erzieher 1994, 198–219. 7 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“, Art. 11. Literatur: M. Bongardt, Einführung in die Theologie der Offenbarung Darmstadt 2 2009; K. v. Stosch, Offenbarung. UTB 3328, Paderborn 2010. 8 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“, Art. 11. 9 J. B. Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz 21992, 166. 10 P. Tillich, Offenbarung und Glaube, Stuttgart 1970, 37 11 K. Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg 11976, 61.63. 12 H. Zahrnt, Glauben unter leerem Himmel, in: Publik Forum, 5/2000, 58. 13 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“, Art. 11. 14 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“, Art. 11. 15 So sieht der Präfekt der römischen Glaubenskongregation, Erzbischof Gerhard Ludwig Müller, in einer Predigt am 16. 5. 2013 zum Abschluss des Akademischen Jahres der päpstlichen Universität Gregoriana einen „Anspruch des Christentums auf absolute Wahrheit“ gegeben (KNA – nkplp-89– 00129). 16 Karl Barth, Kirchliche Dogmatik II/l, Zürich 1946, 500. 17 Dietrich Bonhoeffer, Werke (DBW) 8, Gütersloh 1998, 415–416. 18 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“, Art. 2. 19 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae“, Art. 2. 20 Gekürzt übernommen aus: D. Bauer, Welche Bibel soll ich kaufen? In: Bibel heute Nr. 193 (1/ 2013), I-IV, 17. 21 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“, Art. 12. Hervorhebungen von mir.

Anmerkungen

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Vgl. zum Folgenden: Walter Kirchschläger, Kanonische Exegese – Was ist das?: http://www.wirsind-kirche.at/content/index.php?option=com_content&task=view&id=377&Itemid=27. 23 Ebd. 22

VI. Was wir über Jesus wissen 1

Vgl. H. Gollinger, Heil für die Heiden – Unheil für die Juden? Anmerkungen zu einem alten Problem mit dem Matthäusevangelium, in: M. Marcus u. a., Israel und Kirche heute. Beiträge zum christlich-jüdischen Dialog. FS E. L. Ehrlich, Freiburg/Basel/Wien 1991, 201–211; hier: 209. 2 Ich folge hier: H. Stegemann, Ein neues Bild des Judentums zur Zeit Jesu, in: Herder-Korrespondenz 1992, 175–180. 3 Vgl. dazu: N. Scholl. Jesus von Nazaret. Was wir wissen, was wir glauben können, Darmstadt 2012, 12–43. 4 Michel Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches,. Freiburg / München 2002, 20. 5 Saskia Wendel, „Gott ist im Fleische“, http://www.theologie-und-kirche.de/wendel-weihnachten. pdf. 6 Ebd. 7 H. Haslinger, „Der Heruntergekommene“ – Zur pastoralen Notwendigkeit eines nicht schönen Jesusbildes; in: Theologie und Glaube 4/2008, 392–413. 8 Ebd., 393. 9 Ebd., 409. 10 Hier zitiert nach: J. Gnilka, Das Matthäusevangelium. HthKNT I/2, Freiburg 1988, 368. Gnilka beruft sich u. a. auf U. Wilckens, Gottes geringste Brüder. FS W. G. Kümmel, Göttingen 1975, 363– 383; J. Friedrich, Gott im Bruder (CThM A 7), Stuttgart 1977. 11 Apostolisches Schreiben von Papst Johannes Paul II. über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe. Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Frage der Zulassung der Frauen zum Priesteramt (15. Oktober 1976); http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/ verlautbarungen/VE_117.pdf. 12 G. Theißen, Glaubenssätze. Ein kritischer Katechismus, Gütersloh 2012, 208 13 W. Bühlmann, Jesus, Buddha, Krischna – und der eine Gott, in: Publik-Forum 24/1991, 16; vgl. dazu: J. Hick (Hg.), Wurde Gott Mensch? Der Mythos vom fleischgewordenen Gott, Gütersloh 1979; M. v. Brück/J. Werbick (Hg.), Der einzige Weg zum Heil? Die Herausforderung des christlichen Absolutheitsanspruchs durch pluralistische Religionstheologien, Freiburg/Basel/Wien 1993 (QD 143). 14 S. Painadath, zit. nach: C. Modehn, Karriere nach unten, in: imprimatur 1994, 100–106; Zitat 105 (ohne Quellenangabe). 15 J. Hick, God and the Universe of Faiths. Essays in the Philosophy of the Religion, London 1973, 159; zit nach: K.-J. Kuschel, Christologie – unfähig zum interreligiösen Dialog? in: ders. (Hg.) Christentum und nichtchristliche Religionen, Darmstadt 1994, 142. 16 Zit. nach G. L. Müller, Art. „Jungfrauengeburt, I Religionsgeschichtlich“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 5, Freiburg/Basel/Rom/Wien 31996, 1091. 17 Vgl. B. Schwank, Die neuen Ausgrabungen in Sepphoris, in: Bibel und Kirche 2/1987, 75–79. 18 Herodes Agrippa I. in einem Brief an seinen kaiserlichen Freund Caligula (Philon, Legatio 38, 302); zit. nach: E. Stauffer, Jerusalem und Rom. Dalp-Tb 331, Bern/München 1957, 17. 19 Die deutschen Bischöfe, „Über das Verhältnis der Kirche zum Judentum“: Nr. 26 der Schriftenreihe „Die deutschen Bischöfe“, erhältlich über: Sekretariat d. Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1980. 20 Vgl. H. Stegemann, Die Bedeutung der Qumranfunde für das Verständnis Jesu und des frühen Christentums, in: Bibel und Kirche 1/1993,10–19. 21 Vgl. S. Schroer, Der Geist, die Weisheit und die Taube. Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 1986,197–225.

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Anmerkungen

Vgl. dazu F. J. Nocke, Eschatologie, Düsseldorf 1982, 39–51. E. Schweizer, Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgern, in: Abhandlungen zur Theologie des Alten und des Neuen Testaments, Bd. 28, Zürich 21962, 10. 24 H. Thyen, Baptisma metanoias eis aphesin hamartion, in: E. Dinkler (Hg.), Zeit und Geschichte, Tübingen 1964, 108 f. Vgl. I. Maisch, Die Heilung des Gelähmten. SBS 52, Stuttgart 1971, 86–90. 25 J. Blank, Frauen in der Jesus-Bewegung, in: G. Dautzenberg u. a. (Hg.), Die Frau im Urchristentum. QD 95, Freiburg/Basel/Wien 1983, 9–91; hier: 90. 26 Häufig wird darauf hingewiesen, dass die Rechte der Frau im Judentum erheblich eingeschränkt gewesen seien. Nicht einmal das Studium der Tora und die Teilnahme am Pessachfest sei ihnen gestattet worden. Das trifft sicher im Großen und Ganzen zu. Doch erwähnt Philon von Alexandrien eine Gemeinschaft von Frauen, die zölibatär in einer Art Kloster zusammen lebte und sich dem Studium der Tora gewidmet habe. Der Mischna-Traktat (M. Pesahim 8,1) lässt erkennen, dass Frauen auch am Pessachfest teilnehmen durften. Grabinschriften in der jüdischen Diaspora zeigen sogar, dass Frauen als Synagogenvorsteherinnen und als Leiterinnen jüdischer Gemeinden gewirkt haben. Es gab auch eine Rechtstradition, derzufolge sich jüdische Frauen von ihren Männern scheiden lassen konnten. Dennoch war die Benachteiligung der Frau (z. B. die Nichtanerkennung als Zeuginnen vor Gericht) im antiken Judentum durchaus an der Tagesordnung. Es galt für einen jüdischen Mann sogar schon als unschicklich, eine Frau in der Öffentlichkeit auch nur anzusprechen (vgl. Sir 9,3–9). 27 G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, München 21978, 5–9. 28 Die Zahlenangabe schwankt in den alten Handschriften. 29 G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung, München 21978, 15–21. 30 Th. Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, Mainz 1979, 250. 31 An dieser Tatsache ändern auch die Ausssagen des Katechismus (ohne Belegstellen!) und des Codex Juris Canonici nichts: „Christus selbst ist der Urheber des Amtes in der Kirche. Er hat es eingesetzt, ihm Vollmacht und Sendung, Ausrichtung und Zielsetzung gegeben“ (Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 874) und: „Kraft göttlicher Weisung gibt es in der Kirche unter den Gläubigen geistliche Amtsträger, die im Recht auch Kleriker genannt werden; die übrigen dagegen heißen auch Laien“ (CIC, can. 207, § 1). 32 M. Houdijk, Eine Diskussion aus letzter Zeit über die neutestamentlichen Grundlagen des Priestertums, in: Concilium 1972, 775. 33 Vgl. H. Gollinger, Das Weib schweige in der Gemeinde, in: H. Gollinger/J. Maier/J. Thierfelder (Hg.), Dem Frieden nachjagen. Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Band 8, Weinheim 1991, 13–26; hier 17 f. 34 Ich beziehe mich hier auf: H.-J. Venetz, Die Bergpredigt. Biblische Anstöße, Düsseldorf/Freiburg 2 1989. 35 Zit. nach einem Kalenderblatt. Dort keine Angaben zum Verfasser. 36 Vgl. G. v. Rad, Das erste Buch Mose. Kap. 1–12,9 (Das Alte Testament Deutsch 2), Göttingen 21958, 66. 37 C. Westermann, Genesis. Biblischer Kommentar, Neukirchen-Vluyn 1966, 221. 38 Vgl. R. Pesch, Die neutestamentliche Weisung für die Ehe, in: N. Weil/R. Pesch u. a., Zum Thema Ehescheidung, Stuttgart 1970, 24–40; hier: 27 39 R. Pesch, Freie Treue. Die Christen und die Ehescheidung, Freiburg 1971, 24. 40 Ebd., 28 f. 41 Ebd., 83 f. 42 Vgl. Th. Söding, Hat Jesus Wunder gewirkt?, in: Christ in der Gegenwart 37/2001, 311. 43 F. J. Schierse, Christologie, Düsseldorf 1979, 26. 44 R. Baumann, Artikel „Wunder“, in: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe, Bd. 4, München 1985, 326. 45 E. Käsemann, in: G. Mensching / E. Käsemann u. a., Art. „Wunder“, in: RGG 3VI, 1837. 22 23

Anmerkungen

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Vgl. H. Schäfer, Der natürliche Zusammenhang von Gesundheit und Gläubigkeit, in: W. Beinert (Hg.), Hilft Glaube heilen?, Düsseldorf 1985, 86–117; hier: 109.112. 47 R. Pesch, Jesu ureigene Taten? QD 52, Freiburg/Basel/Wien 1970, 140. 48 Ebd., 139 f. 49 R. Pesch, Jesu ureigene Taten? QD 52, Freiburg/Basel/Wien 1970, 143.148 50 W. Stegemann, Die Passionsgeschichten der Evangelien, in: Der evangelische Erzieher 1991, 130– 147; hier: 143. 51 Vgl. dazu und zum folgenden: P. Hoffmann, „Gekreuzigt unter Pontius Pilatus“. Jesu Hinrichtung in der Deutung der Evangelienüberlieferung, in: Orientierung 1993, 65–70. 52 P. Hoffmann, a. a. O.,S 66. 53 P. Hoffmann, a. a. O., 67. 54 W. Stegemann, Die Passionsgeschichten der Evangelien, in: Der evangelische Erzieher 1991, 130– 147; hier: 136. 55 Vgl. H. Merklein, Der Tod Jesu als stellvertretender Sühnetod, in: Bibel und Kirche 1986, 68–75. 56 http://www.focus.de/panorama/vermischtes/oster-umfrage-wer-glaubt-an-die-auferstehungjesu-christi_aid_620504.html. 57 Vgl. Apg 3,15; 1 Thess 1,10, Gal 1,1; Röm 10,9; 1 Kor 15,4 u. a. 58 Vgl. H.-J. Klauck, Kultische Symbolsprache bei Paulus. In: J. Schreiner (Hg.), Freude am Gottesdienst (FS J. Plöger), Stuttgart 1983, 107–118. 59 1 Kor 15,3–8. 60 Flavius Josephus, Antiquitates IV 219; zit. nach: M. Theobald, Angefochtener Osterglaube – im Neuen Testament und heute, in: Theologische Quartalschrift/2013, 4–31; hier: 18. 61 M. Theobald, Angefochtener Osterglaube – im Neuen Testament und heute, in: Theologische Quartalschrift/2013, 4–31; hier: 18. 62 Die apostolische Formel „Ich habe den Herren gesehen“, die Paulus in 1 Kor 9,1 zur Legitimierung seines eigenen apostolischen Anspruchs benutzt, findet sich auch in Bezug auf Maria von Magdala (vgl. Mk 16,9–11). 63 Vgl. 1 Kor 15,4. 64 K. Lehmann, Auferweckt am dritten Tag nach der Schrift. Früheste Christologie, Bekenntnisbildung und Schriftauslegung im Lichte von 1 Kor 15,3–5 (Quaestiones Disputatae 38), Freiburg / Basel / Wien 21969, 168; 176 f. 65 Vgl. Gen 12,7; 25,23; Ex 3,2 u. a. 66 Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Band II: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg 2011, 270. Ratzinger/Benedikt meint in seinem Jesusbuch: „Die Auferstehung führt über die Geschichte hinaus, aber sie hat eine Fußspur in der Geschichte hinterlassen.“ Sie sei „etwas anderes als mystische Erfahrungen“, es handele sich aber auch nicht um „ein gleichartiges historisches Ereignis (…) wie die Geburt oder die Kreuzigung Jesu.“ Vielmehr sei sie ein „neuer Typ von Ereignis“, eine Art von „Mutationssprung“. Es gehe um eine „veränderte Art von Materialität, mit der wir keine Erfahrung haben“ (298–300). Eine Menge rätselhafter Begriffe. Was mag Ratzinger/Benedikt damit wohl meinen? Für eine „veränderte Art von Materialität“ gibt es in der sichtbaren Welt keine Anhaltspunkte. Und wie man sich die Erscheinungen als einen „neuen Typ von Ereignis“ oder eine Art von „Mutationssprung“ vorstellen soll, bedarf auch der Erklärung. 67 Vgl. Lk 24,13–28 mit Lk 24,29–35. 68 Joh 1,18; 1 Joh 4,12. 69 1 Kor 15,8. 70 Gal 1,16. 71 Die Einheitsübersetzung gibt die Stelle so wieder: „Als Gott, der mich durch seine Gnade berufen hat, mir in seiner Güte seinen Sohn offenbarte …“. 72 Auch die dreimalige Schilderung des Bekehrungsvorgangs in der lukanischen Apostelgeschichte (Apg 9,1–9; 22,4–11; 26,11–18) könnte diese Deutung nahelegen. 46

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Anmerkungen

http://de.wikipedia.org/wiki/Vision_(Religion) I. Broer, Zur Historizität der Auferstehung, in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern, 5/2012, 18–21; hier: 19. Ein gewisses Problem bereitet für diese Deutung 1 Kor 15,6: „Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen.“ Handelte es sich hier um eine Massensuggestion? Wo geschah sie überhaupt? Woher wusste Paulus davon? Im Neuen Testament ist sonst nirgends davon die Rede. Oder handelte es sich vielleicht um ein Gerücht, das Paulus ungeprüft übernahm? 75 http://de.wikipedia.org/wiki/Halluzination. 76 O. Sacks, Drachen, Doppelgänger und Dämonen, Reinbek 2013. Hier nach C. Schüler, Überfall der Dämonen. ZEIT LITERATUR 12-III/2013, 68. 77 J. Lindblom, Gesichte und Offenbarungen. Vorstellungen von göttlichen Weisungen und übernatürlichen Erscheinungen im ältesten Christentum. Acta Reg. Societatis Humanarum Litterarum Lundensis LXV, Lund 1968, 113; zit. nach: A. Vögtle / R. Pesch, Wie kam es zum Osterglauben?, Düsseldorf 1975, 145. 78 Vgl. B. Grom, Visionen und Auditionen, in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 7/8–1997, 9 f. (dort ohne Quellenangabe für Scharfetter und Hilgard). 79 M. Reichardt, Psychologische Erklärung der Ostererscheinungen?, in: Bibel und Kirche 1997, 28– 33; hier: 30. 33 f. 80 M. Theobald, Angefochtener Osterglaube – im Neuen Testament und heute, in: ThQ 1/2013, 4– 31; hier: 22. 81 A. Vögtle, Die Dynamik des Anfangs, Freiburg / Basel / Wien 1988, 54 f. 82 B. v. Jersel, Auferstehung Jesu. Information oder Interpretation?, in: Concilium 12/1970, 699. Noch heute kündet ein silberner Stern, der in den Boden der angeblichen Geburtsgrotte zu Betlehem eingelassen ist: „Hic Jesus natus est“ (Hier ist Jesus geboren worden). 83 J. Jeremias, Heiligengräber in Jesu Umwelt, Göttingen 1958. 84 B. v. Jersel, Auferstehung Jesu. Information oder Interpretation?, in: Concilium 12/1970, 700. 85 G. Lüdemann, Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie, Göttingen 1993. 86 A. Vögtle / R. Pesch, Wie kam es zum Osterglauben?, Düsseldorf 1975, 98. 87 So Joseph Ratzinger / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg / Basel / Wien 2011, 301. 88 Vgl. M. Ebner, Jesus von Nazaret. Was wir von ihm wissen können, Stuttgart 2007, 168 f.; M. Görg, Begräbnis, in: Neues Bibel-Lexikon I, Zürich 1991, 262–264. 89 J. Becker, Die Auferstehung Jesu Christi nach dem Neuen Testament. Ostererfahrung und Osterverständnis im Urchristentum, Tübingen 2007, 182–208; hier 207 f. 90 A. Vögtle / R. Pesch, Wie kam es zum Osterglauben?, Düsseldorf 1975, 98. Ob das Grab Jesu leer war oder nicht, lässt sich historisch nicht eindeutig klären. Es gibt Gründe dafür und dagegen, die in der Theologie intensiv diskutiert wurden, ohne dass dies zu einem eindeutigen und sicheren Ergebnis geführt hätte. Die Texte vom leeren Grab können historische Reminiszenz an ein tatsächlich leeres Grab sein, sie können aber ebenso als im Stil der Zeit veranschaulichende, bildhafte Darstellungen des Auferstehungsglaubens, als narrative Inszenierungen des Oster-Kerygmas unter Verwendung des Angelus-interpres-Motivs gedeutet werden. Eine gute Übersicht über die Diskussion findet sich bei H. Kessler, Sucht den Lebenden nicht bei den Toten, Würzburg 1995. 91 B. v. Jersel, Auferstehung Jesu. Information oder Interpretation?, in: Concilium 12/1970, 701. 73 74

VII. Die Kirche des Anfangs 1

A. Vögtle, Exegetische Erwägungen über das Wissen und Selbstbewusstsein Jesu; in: ders., Das Evangelium und die Evangelien, Düsseldorf 1971, 296–344; hier: 302. 2 Vatikanische Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche, Juni 1985, II, 12.

Anmerkungen

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A. Weiser, Die Apostelgeschichte, Kap. 1–12. ÖTK 5/1, Siebenstern TB 507, Gütersloh/Würzburg 1981, 87. 4 L. Schenke, Die Urgemeinde. Geschichtliche und theologische Entwicklung, Stuttgart/Berlin/ Köln 1990. 5 Papst Johannes Paul II., in: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 25 A, hg. v. Sekretariat d. Deutschen Bischofskonferenz, 104. 6 G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 1979, 210.296.271. 7 H. Kreissig, Zur sozialen Zusammensetzung der frühchristlichen Gemeinden im ersten Jahrhundert u. Z., in: Eirene VI, Studia Graeca et Latina, Praha 1967, 91–100, v. a. 99. 8 F. Hahn, Der urchristliche Gottesdienst (SBS 41), Stuttgart 1970, 22. 9 H. Braun, Jesus (Themen der Theologie 1), Stuttgart/Berlin 21969, 84 f. 10 Vgl. F. Hahn, Der urchristliche Gottesdienst (SBS 41), Stuttgart 1970, 32–88. 11 H. Leroy, Kennt das Neue Testament die Kindertaufe?, in: W. Kasper (Hg.), Christsein ohne Entscheidung oder Soll die Kirche Kinder taufen?, Mainz 1970, 69. 12 DH 219. 13 Vgl. Moralium IX, 21: zit. nach: B. Snela, Kindertaufe – ja oder nein?, München 1987, 57. 14 U. Luz, Das Herrenmahl im Neuen Testament, in: Bibel und Kirche 2002, 2–8; hier: 2. 15 F. Hahn, Der urchristliche Gottesdienst (SBS 41), Stuttgart 1970, 36 f. 16 H.-J. Klauck, Gemeindestrukturen im ersten Korintherbrief, in: Bibel und Kirche 1985, 9–15; hier: 12 f. 17 P. Neuenzeit, Das Herrenmahl, StANT 1, München 1960, 73. 18 Vgl. R. Pesch, Die Stellung und Bedeutung Petri in der Kirche des Neuen Testaments. Zur Situation der Forschung, in: Concilium 1971, 240–245. 19 Vgl. J. Gewiess, Art. „Bischof“, I. Biblisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 2, Freiburg 2 1958, Sp. 491. 20 E. Schillebeeckx, Das kirchliche Amt, Düsseldorf 1981, 37. 21 Vgl. J. Schmid, Art. „Priester“, III. Im NT, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 8, Freiburg 2 1963, Sp. 743 f. 22 A. Vögtle, Messsiasbekenntnis und Petrusverheißung. Zur Komposition Mt 16,13–23 par, in: Ders., Das Evangelium und die Evangelien, Düsseldorf 1971, 137–170; hier: 169 (Erstveröffentlichung in: BZ NF 1 [1957], 252–272; 2 [1958], 85–103). 23 A. Vögtle, Das Problem der Herkunft von „Mt 16,17–19“, in: Ders., Offenbarungsgeschehen und Wirkungsgeschichte. Neutestamentliche Beiträge, Freiburg/Basel/Wien 1985, 109–140; 117 f. 24 J. Blank, Petrus im Neuen Testament, in: zur debatte. Themen der katholischen Akademie in Bayern 7/8 (1984), 10. 25 Vgl. U. Wilckens, Die Missionsreden der Apostelgeschichte, Neukirchen-Vluyn 21963. 26 W. de Vries, Die Entwicklung des Primats in den ersten drei Jahrhunderten, in: Arbeitskreis d. dt. ökum. Institute (Hg.), Papsttum als ökumenische Frage, München/Mainz 1979, 114–133; hier: 132. 27 W. de Vries, „Vicarius Petri“. Der Primat des Bischofs von Rom im 1. Jahrhundert, in: Stimmen der Zeit 1985, 507–520; hier: 511 f. 28 J. Blank, Petrus im Neuen Testament, in: zur debatte. Themen der katholischen Akademie in Bayern, 7/8 (1984), 11. 29 L. Goppelt, in: ThWNT VIII, 212 f. 30 E. Schüssler – Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis … Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, München 1988, 212 f.; zit. nach: L. Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Gütersloh 21996, 305, A.117. 3

360

Anmerkungen

VIII. Ein Gott in drei Personen? Entnommen aus dem Titel eines Aufsatzes von P. Hoffmann: Zur Problematik der christologischen Karriere des Jesus von Nazareth, in: Ders., Studien zur Frühgeschichte der Jesusbewegung (SBA 17), Stuttgart 1994. 2 DH 302. 3 AethHen 69,27–29. 4 AethHen 45,3.5; vgl. 48,10; 52,4 und auch PsSal 17,4–9.21–25.32–34 5 Vgl. E. Zenger, Jesus von Nazaret und die messianischen Hoffnungen des alttestamentlichen Israel, in: W. Kasper (Hg.), Christologische Schwerpunkte, Düsseldorf 1980, 37–78. 6 E. Haag, Art. „Sohn Gottes. I. Altes Testament“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 9, Freiburg/Basel/Rom/Wien 32000, 689. 7 J. Ernst, Anfänge der Christologie (SBS 57), Stuttgart 1972, 24 f. 8 Ebd., 25 f. 9 J. Ernst, a. a. O., 26 A.28, verweist auf F. Christ (Jesus Sophia. Die Sophia-Christologie bei den Synoptikern [AThANT 57], Zürich 1970, 91), der die Ansicht vertritt: „Als Empfänger, Kenner und Offenbarer, darüber hinaus aber auch als Gegenstand des Geheimnisses erscheint Jesus der Sohn eindeutig als die Weisheit“. 10 Vgl. E. Schweizer, Das Evangelium nach Markus. Neues Testament Deutsch. Bd. 1, Göttingen 1967, 160. 11 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition. Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 29, Göttingen 61964, 172. 12 Vgl. zum folgenden: B. van Jersel, „Sohn Gottes“ im Neuen Testament, in: Concilium 1982, 182– 193. 13 Ebd., 189. 14 J. Blank, Jesus von Nazareth. Geschichte und Relevanz, Freiburg/Basel/Wien 1972, 86. 15 Vgl.: F. Mussner, Ursprünge und Entfaltung der neutestamentlichen Sohneschristologie. Versuch einer Rekonstruktion, in: L. Scheffczyk (Hg.), Grundfragen der Christologie heute, Freiburg/Basel/ Wien 1975, 77–113, hier: 103. 16 Vgl.: K. H. Schelkle, Paulus. Erträge der Forschung 152, Darmstadt 1981, 180 f. 17 B. v. Jersel, „Sohn Gottes“ im Neuen Testament, in: Concilium 1982, 190. 18 Ebd., 191. 19 Der griechische Urtext bringt auffälligerweise hier vor „theós“ (Gott) nicht den Artikel „ho“ („der“), obwohl das an den Stellen, die von „Gott“-„Vater“ sprechen, immer geschieht: vgl. Joh 3,16. 33; 4,24 u. ö. 20 B. v. Jersel, „Sohn Gottes“ im Neuen Testament, in: Concilium 1982, 192. 21 H. Küng, Existiert Gott?, München 1978, 750. 22 B. v. Jersel, „Sohn Gottes“ im Neuen Testament, in: Concilium 1982, 192 f. 23 P. Hoffmann, Zur Problematik der christologischen Karriere des Jesus von Nazareth, in: Ders., Studien zur Frühgeschichte der Jesusbewegung (SBA 17), Stuttgart 1994, 257–272. 24 Vgl. F. J. Schierse, Christologie, Düsseldorf 1979, 112. 25 Neuner/Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, hg. v. K. Rahner und K.-H. Weger, Regensburg 81971, Nr. 155 f. 26 Vgl. zum Folgenden: F. J. Schierse, Christologie, Düsseldorf 1979, 126 f. 27 E. Schillebeeckx, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg/Basel/Wien 31975, 504 f. 28 Es handelt s8ich hier um Fachausdrücke, mit denen die neuscholastische Theologie das Geheimnis der Einheit des dreifaltigen Gottes spekulativ zu „erklären“ versuchte. 29 E. Schillebeeckx, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg/Basel/Wien 31975, 596; Noch schärfer formuliert der Neutestamentler Fridolin Stier: „Jesus ist nicht nur am Kreuz, er ist auch – zum zweiten Mal – im christologischen Dogma gestorben.“ (F. Stier, An der Wurzel der Berge, Freiburg/Basel/Wien 1984, 207). 1

Anmerkungen

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Vgl. K. H. Ohlig, Fundamentalchristologie, München 1986. „All ist contextual, even the theologians who do not want to be contextual but absolute and universal“ (O. Fuchs, The challenge of contextuality in Europ: destructing exclusive theologies, in: Bulletin ET. Zeitschrift für Theologie in Europa 2/1996, 162–184; hier: 164). 32 L. Boff, Jesus Christus, der Befreier, Freiburg/Basel/Wien 1986, 357 f. 33 Vgl. zum folgenden: P. Hoffmann, Er ist unsere Freiheit. Aspekte einer konkreten Christologie, in: Bibel und Kirche 1987, 109–115. 34 Ebd., 111. 115. 35 F. J. Schierse, Die neutestamentliche Trinitätsoffenbarung, in: Mysterium Salutis, hgg. v. J. Feiner u. M. Löhrer, Bd. II, Einsiedeln/Zürich/Köln 1967, 85–131; hier: 126. 36 PG 42,408B. 37 DH 150. 38 N. Scholl, Das Geheimnis der Drei. Kleine Kulturgeschichte der Trinität, Darmstadt 2006. 39 H. Usener, Dreiheit, in: Rheinisches Museum für Philologie 1903, 36 ff. 40 E. Drewermann, Dein Name ist wie der Geschmack des Lebens, Freiburg/Basel/Wien 1986, 48. 41 W. Thiel, Die Weltherrschaft der jüdischen Könige nach Psalm 2, in: Theologische Versuche. Band 3, Göttingen 1971, 54. Weitere Belege bei E. Drewermann, Religionsgeschichtliche und tiefenpsychologische Bemerkungen zur Trinitätslehre, in: W. Breunig (Hg.), Trinität, Freiburg/Basel/ Wien 1984, 115–142, bes. 130–137. 42 Vgl. R. Schnackenburg, Art. „Logos“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 6, Freiburg 2 1961, 1124 f. Nicht sicher ist, ob Philo den Logos wirklich als eine von Gott getrennte Gestalt, als „Person“, oder als personifizierte Eigenschaft Gottes betrachtete. 43 Vgl. N. Brox, Wer ist Jesus?- Oder: die ersten Konzilien, in: Orientierung 1990, 53–55. 44 Vgl. dazu meinen Versuch: N. Scholl, Auf den Spuren des dreieinen Gottes, Weinheim 1994. 45 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Dei Verbum“, Art. 8. 46 DS 421, NR 180. 47 K. Rahner, Einzigkeit und Dreifaltigkeit Gottes, in: K. Rahner (Hg.), Der eine Gott und der dreieine Gott, München/Zürich 1983, 141–160; hier: 147. 48 DS 125; NR 155. 49 K. Rahner, Probleme der Christologie heute, in: K. Rahner, Schriften zur Theologie. Bd. 1, Einsiedeln/Zürich/Köln 1954, 169–222, hier: 195. 50 Vgl. W. Kasper, Jesus der Christus, Mainz 1974, 209. 51 K. Lehmann, Kirchliche Dogmatik und biblisches Gottesbild, in: J. Ratzinger (Hg.), Die Frage nach Gott, Freiburg/Basel/Wien 1972, 116–140; hier: 129. 52 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Dei Verbum“, Art. 12; Hervorhebung von mir. 53 Deutsche Bischofskonferenz (Hg.), Katholischer Erwachsenenkatechismus, Kevelaer u. a. 1985 u. ö., 85. Hervorhebungen von mir. 30 31

IX. Kirchengeschichte: Eine „Kriminalgeschichte“? Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 6.8.9.14 u. ö. 2 Mit „Ordo“ wurden im römischen Imperium bestimmte gesellschaftliche Klassen oder Stände bezeichnet (Senatoren, Ritter); vgl.: Th. Klauser, Der Ursprung der bischöflichen Insignien und Ehrenrechte, Krefeld 21953; zit. nach: E. Schillebeeckx, Das kirchliche Amt, Düsseldorf 1981, 70. 3 Cod. Theod. 16,1,2; zit. nach: H. A. Obermann u. a. (Hg.), Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. I, Neukirchen-Vluyn 1972, 179. 4 zit. nach: H. Gutschera / J. Maier / J. Thierfelder, Geschichte der Kirchen, Mainz/Stuttgart 1992, 121. 5 Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Gütersloh 21975, 947. 1

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Anmerkungen

I. Kant, Werke, hg. v. W. Weischedel, Bd. VI, 53. G. E. Lessing, Gesammelte Werke, hg. v. P. Rilla, Bd. 8, Berlin/Weimar 21968, 27. 8 Vgl. K.-H. Ohlig, Die Aufklärung (I), in: imprimatur 1/2013, 15–19; hier: 18 f. 9 Vgl. A. Schilson, Art. „Aufklärung, IV. Die Theologie in der Aufklärung“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 1, Freiburg/Basel/Rom/Wien 31995, 1213–1216. 10 R. Krause, Die Predigt der späten deutschen Aufklärung (1770–1805), Stuttgart 1965, 95. 11 F. D. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Hamburg 1958, 20. 31; Ders., Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, Bd. 1, Berlin 21830, 24. 12 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 16. Im Denzinger-Schönmetzer von 1965, dem Handbuch der Definitionen und Erklärungen der Päpste, Konzilien und Synoden, fehlt die ganze Enzyklika. Nur ein Kreuzchen mit dem Vermerk der Nummern in früheren Ausgaben verweist „gleichsam als Grabkreuz auf die hier ruhende Verurteilung der Religionsfreiheit“ (H. Gutschera / J. Maier / J. Thierfelder, Geschichte der Kirchen, Mainz/Stuttgart 1992, 305). 13 J. Neuner / H. Roos (Hg.), Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, Regensburg 81971, Nr. 454, 303 14 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen Gentium“, Art. 21.22. 15 W. Kasper, in: PUBLIK vom 12. 12. 1969; zit. nach: H. Küng, Unfehlbar? Eine Anfrage, Zürich/ Einsiedeln/Köln 1970, 163. 16 R. Aubert, Art. „Pius X.“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 8, Freiburg 21963, 542. 17 H. Stieglitz in: Katechetische Blätter 1914, 296. 18 Zit. nach: H. Gutschera / J. Maier / J. Thierfelder, Geschichte der Kirchen, Mainz/Stuttgart 1992, 333. 19 Ebd., 333. 20 Zit. nach: Ebd., 335. 21 Martins-Blatt v. 17. 9. 1939; zit. nach: H. Gutschera / J. Maier / J. Thierfelder, Geschichte der Kirchen, Mainz/Stuttgart 1992, 347. 22 Zit. nach: H. Gutschera / J. Maier / J. Thierfelder, Geschichte der Kirchen, Mainz/Stuttgart 1992, 354. 23 A. Franzen, Kleine Kirchengeschichte. Herderbücherei 237, Freiburg 101981, 382. 24 K. Rahner / H. Vorgrimler, Kleines Konzilskompendium. Alle Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Zweiten Vatikanischen Konzils in der bischöflich beauftragten Übersetzung. Herder Tb 270771/72/73, Freiburg 1966, 35. Auflage 2008, 25 25 D. Seeber, Heraus aus den Verengungen, in: Herder-Korrespondenz 10/1986, 449. 26 Zit. nach: Orientierung 2/1985, 13. 27 http://www.konzilsvaeter.de/referenzen/deutsch/index.html 28 O. H. Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Wirkungsgeschichte. TOPOS Tb. 393, Kevelaer 42011, 373. 29 Die Deutschen Bischöfe – Pastoral-Kommission, Sakramentenpastoral im Wandel. Überlegungen zur gegenwärtigen Praxis der Feier der Sakramente – am Beispiel von Taufe, Erstkommunion und Firmung. Hg.: Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, Bonn, Juli 1993, 9. 30 F. X. Kaufmann, Ende einer Kirchenepoche?, in: Publik-Forum 8/1992, 26 f. 31 Th. Luckmann, The lnvisible Religion The Problem of Religion in Modern Society, New York 1967; deutsch: Th. Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt 21993. 32 Vgl. N. Scholl, Religiös ohne Gott. Warum wir heute anders glauben, Darmstadt 22011. 6 7

Anmerkungen

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X. Kirche heute – Skandal oder Heilszeichen? Zit. nach: W. Jentsch u. a. (Hg.), Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Gütersloh 21975, 908. 2 J. Ratzinger, Die große Gottesidee „Kirche“ ist keine Schwärmerei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 22. 12. 2000, 46. 3 Vgl. H. Zirker, Ekklesiologie, Düsseldorf 1984, 15. 4 P. Hoffmann / V. Eid, Jesus von Nazareth und eine christliche Moral, Freiburg 1974, 34–58. 73–94. 5 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumeng gentium“ Art. 1. 6 E. Jüngel, Die Lehre von der Kirche, in: zur debatte. Mitteilungen der Katholischen Akademie in Bayern 9–10/1989, 9. 7 A. Delp, Im Angesicht des Todes, Frankfurt 1949, 140–143. 8 Vgl. K. Rahner, Weihe im Leben und in den Reflexionen der Kirche; in: Ders., Schriften zur Theologie. Bd. XIV, Einsiedeln/Zürich/Köln 1975, 113–131. 9 „Klerus“ von griech. = kleros = Anteil haben. 10 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 30. 11 E. Schillebeeckx, Das kirchliche Amt, Düsseldorf 1981, 37. 12 Vgl. J. Schmid, Art. „Priester, III. Im NT“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 8, Freiburg 2 1963, 743 f. 13 J. Blank, Vom Urchristentum zur Kirche, München 1982, 247. 14 E. Schillebeeckx, Das kirchliche Amt, Düsseldorf 1981, 58. 83. 15 H. Zirker, Ekklesiologie, Düsseldorf 1984,136. 16 F. Klostermann, Gemeinde – Kirche der Zukunft. Bd. 1, Freiburg/Basel/Wien 1974, 244. 17 Das bis in die jüngste Vergangenheit hinein geltende und praktizierte Modell in der römischkatholischen Kirche war das einer Pyramide mit dem Papst an der Spitze und den „Laien“ an der Basis. 18 F. Klostermann, Gemeinde – Kirche der Zukunft. Bd. 1, Freiburg/Basel/Wien 1974, 246 f. 19 E. Schillebeeckx, Das kirchliche Amt, Düsseldorf 1981, 69. 20 Leo I., Ad Anast.: PL 54, 634. 21 Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Frankfurt/Paderborn 1982. 22 Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“, Art. 22 und 19 (in dieser Reihenfolge zitiert). 23 Vgl. Päpstliche Bullen von Papst Bonifatius IX: DH 1145–46; Papst Martin V.: DH 1290. Dazu: Gemeinsame römisch-katholische evangelisch-lutherische Kommission, Das Geistliche Amt in der Kirche, Paderborn/Frankfurt 31982, Nr. 75 und 76. 24 P. Neuner, Das Amt in der Kirche, in: Stimmen der Zeit 8/1982,20. Vgl. auch: Gemeinsame römisch-katholische evangelisch-lutherische Kommission, Das geistliche Amt in der Kirche, Paderborn/Frankfurt 31982. 25 Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Taufe, Eucharistie und Amt, Frankfurt/Paderborn 3 1982, 48 f. 26 Vgl. A. Vögtle, Exegetische Reflexionen zur Apostolizität des Amtes und zur Amtssukzession, in: Ders., Offenbarungsgeschehen und Wirkungsgeschichte, Freiburg 1985, 267. 27 E. Schillebeeckx, Das kirchliche Amt, Düsseldorf 1981, 81 f. 28 Vgl. H.-M. Legrand, Das „unauslöschliche Merkmal“ und die Theologie des Weiheamtes, in: Concilium 1972, 265. 29 Th. Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, Mainz 1979, 261 f. 30 Gemeinsame römisch-katholische evangelisch-lutherische Kommission, Das Geistliche Amt in der Kirche, Paderborn/Frankfurt 31982, Nr. 38 (S. 33). 1

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Anmerkungen

Die deutschen Bischöfe, Schreiben über den priesterlichen Dienst, hgg. v. Sekretariat d. Dt. Bischofskonferenz, Bonn (24. 9. 1992), 39. 32 Vgl. Schalom Ben-Chorin, Bruder Jesus, München 31970, 127–129. 33 A. Sand, Reich Gottes und Eheverzicht im Evangelium nach Matthäus. SBS 109, Stuttgart 1983, 70. Dazu die Rezension von F. J. Stendebach: „Jesus legitimiert die Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen, mehr aber nicht. Von einem bevorzugten Platz der Ehelosen in der Gemeinde kann daher überhaupt keine Rede sein“ (Bibel und Kirche 1/1984, 37). 34 Ich orientiere mich hier an einem unveröffentlichten Manuskript „Geschichte des kirchlichen Zölibats“, das mir der Verfasser, Pfarrer Franz Bentler, Perleberg, dankenswerterweise zur Verfügung stellte. 35 Vgl. G. Sloyan, Biblische und patristische Motive für den kirchlichen Amtszölibat, in: Concilium 1972, 563–572; hier: 570. 36 Übrigens noch von Papst Pius XII. in seiner Enzyklika „Sacra Virginitas“ aus dem Jahre 1954; in: Acta Apostolicae Sedis 66 (1954), 169–170. 37 H. Schweizer, Dieses starre System tötet Leben, in: Publik-Forum 16/1989, 27–30; hier: 27. 38 Vgl. Th. Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, Mainz 1979, 263. 39 Apol. XIII, 11; Inst. IV, 19 und 28. 40 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 21. 41 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 18. 42 Ebd., 18. 43 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 20. 44 Ebd., Art. 27. 45 Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe „Christus Dominus“, Art. 11. 46 Ebd., Art. 21. 47 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 28. 48 Ebd., Art. 29. 49 Ebd., Art. 31. 50 M. Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe („Weimarer Ausgabe“), Weimar 1883 ff., 12, 317; 15,720 (allg. Priestertum); 6, 560–567 (Taufe); 6, 566 (Sakramentenverwaltung). 51 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 28 und 29. 52 Inter insigniores. Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre zur Frage der Zulassung der Frauen zum Priesteramt. Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles Nr. 3, hg. v. Sekretariat d. dt. Bischofskonferenz, Bonn 1976. 53 A. Vögtle, Die Dynamik des Anfangs, Freiburg/Basel/Wien 1988, 138. 54 M. Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 42001,454 f. 55 Vgl. ebd., 455. 56 K. Rahner, Priestertum der Frau?, in: StZ 195 (1977), 291–301, 295; vgl. auch J. Werbick, Kirche: Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis, Freiburg i. Br., 1994, 208; P. Hünermann, Schwerwiegende Bedenken. Eine Analyse des Apostolischen Schreibens „Ordinatio Sacerdotalis“, in: Herder-Korrespondenz 8 (1994) 406–410, 408 f. 57 Katechismus der katholischen Kirche, München u. a. 1993, Nr. 1577. 58 Fast jede(r) zweite Österreicher(in) ist dafür, dass auch in der katholischen Kirche Frauen ordiniert werden: Das ergab eine Repräsentativ-Umfage des Linzer Meinungsforschungsinstituts 31

Anmerkungen

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„Spectra“. Nur 25 Prozent der Katholiken sind gegen die Priesterweihe von Frauen (zit. nach: Katechetische Blätter 1993, 139). 59 H. Hoping, Der Ausschluss von kirchlichen Weiheämtern aufgrund des Geschlechts. Ein kirchlicher Modernitätskonflikt. In: D. Buser/A. Loretan, (Hg.): Gleichstellung der Geschlechter und die Kirchen. Ein Beitrag zur menschenrechtlichen und ökumenischen Diskussion, Freiburg (Schweiz) 1999, 38–51, 48. 60 S. Demel, Unser Pfarrer ist eine Frau – mehr als nur ein Traum?: http://www.menschwerdung christi.de/images/stories/apostelkonzil2013/prof.demel_mcn_17.2.13.pdf. 61 Vgl. dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Frauenordination_(Christentum). 62 Ebd.: http://de.wikipedia.org/wiki/Frauenordination_(Christentum). 63 H. Küng, Unfehlbar? Eine Anfrage, Zürich/Einsiedeln/Köln 1970 64 Hans Küng hat in seinem Buch „Unfehlbar? Eine Anfrage“ (S. 199–201) eine Art „Papstspiegel“ gezeichnet – das Bild eines Papstes, wie er sein könnte. „Ein solcher Papst wäre von einer echt evangelischen und nicht von einer juridisch-formalistischen und statisch-bürokratischen Sicht der Kirche geprägt. Er sähe das Geheimnis der Kirche vom Evangelium, vom Neuen Testament her – […] als eine Kirche, die sich authentisch in den Ortskirchen (der einzelnen Gemeinden, Städte, Diözesen, Länder) realisiert, die überall als die eine Kirche Gottes eine Gemeinschaft bilden und die so mit der Kirche von Rom als dem Zentrum ihrer Einheit verbunden sind. Dieser Papst sähe in einer Dezentralisierung der Gewalten kein gefährliches Vorspiel zu einem möglichen Schisma. Er würde legitime Verschiedenheit nicht verhindern, sondern fördern: eine legitime Verschiedenheit in den Bereichen der Spiritualität, der Liturgie, der Theologie, des Kirchenrechts und der Seelsorge. […] Nicht die Unterdrückung der Pluralität verschiedener Theologen mit inquisitorischen Zwangsmaßnahmen aus früheren Jahrhunderten (wäre sein Ziel), sondern die Förderung ihrer Freiheit und ihres Dienstes an der Kirche; nicht eifersüchtiges Pochen auf Vollmachten […], sondern eine Autorität des Dienstes im Geiste des Neuen Testaments und der Bedürfnisse der heutigen Zeit: brüderlich-partnerschaftliche Zusammenarbeit, Dialog, Konsultation und Kollaboration vor allem mit den Bischöfen und Theologen der Gesamtkirche. […] So würde dieser Papst seine Funktion als eine Funktion der Kirche verstehen: ein Papst nicht über oder außerhalb der Kirche, sondern in der Kirche, mit der Kirche, für die Kirche. […] Er würde für alle wichtigen Dokumente und Aktionen der Mitarbeit der Episkopate, der fähigsten Theologen und Laien sich vergewissern. […] Er würde das Zentrum befreien von unnötiger bürokratischer und administrativer Schwerfälligkeit und würde für eine echte Internationalisierung und eine tiefgehende Reform mit Hilfe von Theologen und Experten aus Soziologie, dem Management, den internationalen Organisationen usw. besorgt sein. […] Er würde die Zusammenarbeit nach dem Prinzip der Subsidiarität ausrichten […]. So wäre dieser Papst […] nicht gegen die Einheit, aber gegen die Einförmigkeit. Es wäre ein Mann, der […] durch ein repräsentatives Organ der Gesamtkirche gewählt wird […] Auf diese Weise könnte der Papst in neuer Weise seine Funktion in Kirche und Gesellschaft von heute wahrnehmen. Er würde in neuer Form zusammen mit den Bischöfen der kirchlichen Gemeinschaft und ihrer Einheit dienen, er würde die missionarische Arbeit der Kirche in der Welt beleben und seine Bemühungen für den Frieden, die Abrüstung, die soziale Besserstellung der Völker und der Rassen mit ganz anderer Glaubwürdigkeit fortsetzen können. In der christlichen Ökumene und weit darüber hinaus könnte er so in seinem Leben und Wirken immer wieder die Stimme des Guten Hirten laut werden lassen. Er wäre Inspirator im Geist des Evangeliums Jesu Christi und […] Rom würde zu einem Ort der Begegnung, des Gesprächs und der ehrlichen und freundschaftlichen Zusammenarbeit.“ Vgl. neuerdings: P. Weß, Papstamt jenseits von Hierarchie und Demokratie. Ökumenische Suche nach einem bibelgemäßen Petrusdienst, Münster 2009.

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Anmerkungen

J. B. Metz, Zeit der Orden? Zwischen Mystik und Politik der Nachfolge, Freiburg/Basel/Wien 1982, 10. 66 Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens „Perfectae caritatis“, Art. 2. 67 J. B. Metz, Zeit der Orden? Zwischen Mystik und Politik der Nachfolge, Freiburg/Basel/Wien 5 1982, 50. 68 Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens „Perfectae caritatis“, Art. 14. 69 Zit. nach: P. Lippert / W. Ludin, Orden und Ordensleben, in: Religionsunterricht heute. Informationen des Dezernates Schulen und Hochschulen im Bischöflichen Ordinariat Mainz 4/1988,1– 8; hier: 6 (dort ohne Quellenangabe). 70 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“, Art. 1. 71 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam actuositatem“, Art. 24, und Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 35. 72 Die Bischofssynode mit dem Thema „Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt zwanzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanum“, die Papst Johannes Paul II. in einem umfangreichen Schreiben bilanzierte, betont, den Laien komme es in ganz besonderer Weise zu, „Zeugnis zu geben vom christlichen Glauben als einzige und wahre Antwort […] auf die Probleme und Hoffnungen, die das Leben heute für jeden Menschen und für jede Gesellschaft einschließt“ (Nr. 34). Die „Laien“ werden aber dann doch ermahnt zu „kindlicher Anhänglichkeit“ zum Papst und zum Bischof, die „sich äußern muss in der aufrichtigen Bereitschaft, ihr Lehramt und ihre pastoralen Richtlinien anzunehmen“ (Nr. 30; in: Johannes Paul II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben CHRISTIFIDELES LAICI vom 30. 12. 1988; zit. nach: Amtsblatt der Erzdiözese Freiburg 17 [30. 5. 1989]; Hervorhebung von mir). 73 R. Pesch, in: G. Denzler, Die Geschichte des Zölibats. Herder-Spektrum 4146, Freiburg 1993, 9 f. 74 P. Neuner, Was ist ein Laie?, in: Stimmen der Zeit 1992, 507–518; hier: 516 75 L. Karrer, Art. „Laie/Klerus“, in: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe. Bd. 2, München 1984, 370. 76 F. Klostermann, Thesen zum kirchlichen Vorsteheramt und seiner zeitgemäßen Auffächerung, in: Diakonia 3/1972, 175–179; hier: 177 f. 77 Zit. nach: „Die Kirche ist nicht auf die Priester gegründet …“, in: imprimatur. nachrichten und kritische meinungen aus der katholischen kirche 8/1996, 323. 78 W. Jentsch u. a. (Hg.), Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Gütersloh 21975, 1146 f. 79 N. Brox, Von der alten Kirche lernen?, in: Herder-Korrespondenz 6/1981, 285–291; hier: 290. 80 K. Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg 1976, 430–435. 81 Ich orientiere mich im Folgenden an: H. Küng, Unfehlbar? Eine Anfrage, Zürich/Einsiedeln/Köln 1970, 116–123. 82 H. Küng, Unfehlbar? Eine Anfrage, Zürich/Einsiedeln/Köln 1970, 128–131. 83 W. Kasper, Die Methoden der Dogmatik. Einheit und Vielheit, München 1967, 38. 84 Vgl. E. Fahlbusch, Spiritualität, in: Evangelisches Kirchenlexikon 4 (1996), 402–405; hier: 403. 85 Vgl. C. Schütz, Christliche Spiritualität – Kairos und Aufgabe, in: Lebendiges Zeugnis 54 (1999), 165–176, hier: 167. 86 Ich folge hier: M. Kehl, Grundzüge katholischer Spiritualität, in: Lebendige Katechese 1/1984, 14–19 87 R. Rohr; zit. nach: Anzeiger für die Seelsorge 2/2002, 8 (dort ohne Quellenangabe). 88 Aus: Mitten in der Welt. Hefte zum christlichen Leben 38/39, Freiburg 1971/72, 71 f. 89 J. Lacroix, Le Sens de l’Athéisme moderne, Tournai/Paris 1959, 28. 90 G. Marcel, Être et Avoir, Paris 1935, 196 f. 91 P. Teilhard de Chardin, Mon Univers, Paris 1924, 9. 65 5

Anmerkungen

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K. Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance. Herderbücherei 446, Freiburg 1972, 88. 93 P. Oestreicher, Gottesdienst: alles Theater?, in: Publik-Forum 1/2001, 28–31; hier: 30. 94 R. Rohr, a. a. O., 8. 95 O. Betz, Tastende Gebete, München 1971, 48. 96 J. B. Metz, Woran Beten erinnert, in: Christ in der Gegenwart 1975, 28. 97 Ep. 130,11,21; PL 33,503 98 A. Exeler, Beten – eine Weise geistlichen Lebens, in: Katechetische Blätter 1981, 840–846; hier: 840. 99 J. B. Metz, Woran Beten erinnert, in: Christ in der Gegenwart 1975, 28. 100 M. Zechmeister, „Das also ist die fröhliche Stadt … !“, in: Orientierung 1/2002, 1–3; hier: 2 (in der Wortfolge z. T. leicht verändert). 101 K. Rahner, zit. nach J. Röser, Das Schweigen der Götter, in: Christ in der Gegenwart 25/2009, 279 (hier ohne Quellenangabe). 102 A. Exeler, a. a. O., 842. 103 Vgl. E. Zenger, Wie soll die Kirche die jüdische Bibel lesen? in: Religionsunterricht an höheren Schulen 1992, 1–18; hier: 12. 104 Vgl. N. Scholl, Sakramente. Anspruch und Gestalt, Regensburg 1995. 105 DH 1601. 106 Vgl. J. Dournes, Die Siebenzahl der Sakramente – Versuch einer Entschlüsselung, in: Concilium 1968, 32–40. 107 F. Schupp, Glaube – Kultur – Symbol. Versuch einer kritischen Theorie sakramentaler Praxis, Düsseldorf 1974, 159. 108 Ebd., 161. 109 Augustinus, Sermo CCLXXII (PL 38,1247). 110 Die noch immer geübte, inzwischen allerdings stark rückläufige Praxis der Taufe in Krankenhäusern und Entbindungsstationen bedeutet theologisch eine bedauerliche Verkürzung und Deformierung. 111 DH 219; zit. nach: W. Breuning, Die Kindertaufe im Licht der Dogmengeschichte, in: W. Kasper (Hg.), Christsein ohne Entscheidung oder Soll die Kirche Kinder taufen? Mainz 1970, 81. 112 B. Snela, Kindertaufe – ja oder nein?, München 1987, 56 f. 113 Th. Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, Mainz 1979, 100. 114 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 16. 115 W. Kasper, Glaube und Taufe, in: Ders. (Hg.) Christsein ohne Entscheidung oder Soll die Kirche Kinder taufen? Mainz 1970, 157. 116 F. Kamphaus, Entschieden leben. Hirtenwort zur österlichen Bußzeit 1991, Limburg 1991. 117 Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Frankfurt/Paderborn 21982, Nr. 11 (S. 12). 118 Die deutschen Bischöfe – Pastoral-Kommission, Sakramentenpastoral im Wandel. Überlegungen zur gegenwärtigen Praxis der Feier der Sakramente – am Beispiel von Taufe, Erstkommunion und Firmung. Hg.: Sekretariat der dt. Bischofskonferenz, Bonn, Juli 1993, 41 f. 119 Das katechetische Wirken der Kirche. Ein Arbeitspapier der Sachkommission I der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland 1974, B 5.3. 120 Für die katholische Kirche gilt der Grundsatz: „Die Taufe begründet ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen, die durch sie wiedergeboren sind. Dennoch ist die Taufe nur ein Anfang und Ausgangspunkt, da sie ihrem ganzen Wesen nach hinzielt auf die Erlangung der Fülle des Lebens in Christus“ (Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“, Art. 22). 121 Von Wein ist in den eucharistischen Texten übrigens nirgends die Rede. „Selbst Jesu Ankündi92

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Anmerkungen

gung, bestimmt nicht mehr vom Gewächs des Weinstocks bis zum Kommen der Gottesherrschaft zu trinken (Mk 14,25), bedeutet nicht unter allen Umständen Wein. […] Daraus ergibt sich, dass das Gewächs des Weinstocks innerhalb des christlichen Gottesdienstes auch in anderer Form, etwa als Traubensaft oder auch als ‚gelöschter‘ (also gekochter, alkoholfreier) Wein getrunken werden kann bzw. sogar muss, wo immer damit Sucht provoziert würde. Ebenso kann es dort, wo eine Beschaffung von Wein aus kulturellen und wirtschaftlichen Gründen nicht möglich ist, jede andere Form eines ‚gehobenen‘ Getränkes sein, das diese Funktion einer besonderen Danksagung innerhalb einer Gemeinschaft übernimmt“ (P. Trummer, „… dass alle eins sind!“, Düsseldorf 2001, 160). 122 Neuerdings wird vor allem von angelsächsischen Exegeten die Ansicht vertreten, dass Lukas für seinen Text eine Sonderquelle benutzt. 123 Vgl. H. Kahlefeld, Das Abschiedsmahl Jesu und die Eucharistie der Kirche, Frankfurt 21981, 49– 70. 124 P. Trummer, „… dass alle eins sind!“, Düsseldorf 2001, 136 f. Hervorhebungen von Trummer. 125 Gemeinsame röm.-kath./ev.-luth. Kommission. Das Herrenmahl, Paderborn/Frankfurt 101978, 37 f. (Lutherzitat: M. Luther, in: Ein Sermo von dem neuen Testament, das ist die heilige Messe, 1520, in: Werke 6, 369, 5–9; „eucharistisches Opfer“: Apologie der Confessio Augustana XXIV, 25). 126 Taufe – Eucharistie – Amt, Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirche, Frankfurt/Paderborn 1982, 20. 127 Sessio XIII, can. 2; DH 1652. 128 Vgl. B. Welte, Zum Verständnis der Eucharistie, in: Ders., Auf der Spur des Ewigen, Freiburg/ Basel/Wien 1965, 459–467. 129 Taufe – Eucharistie – Amt, Konvergenzerklärungen der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirche, Frankfurt/Paderborn 1982, 21. 130 Zur assyrischen Kirche gehören heute in großer weltweiter Zerstreuung etwa 500.000, zu den mit Rom unierten Chaldäern schätzungsweise 800.000 Gläubige; vgl. Christ in der Gegenwart 45/ 2001, 378, und 48/2001, 408. 131 Zit. nach: Religionsunterricht heute, Mainz 3–4/1991, 1. 132 R. Schaeffler, Kultus im Leben des Menschen; in: zur debatte 5–6/1989, 8 f. 133 M. Schmaus, Kult als Erfüllung echten Menschseins; in: M. Schmaus / K. Forster, Der Kult und der heutige Mensch, München 1961,323.343. 134 O. Lechner OSB, Ist der Mensch noch liturgiefähig?, in: zur debatte 5–6/1989, 14. 135 F. Steffensky, „Der Seele Raum geben – Kirchen als Orte der Besinnung und Ermutigung“. Broschüre der EKD, Hannover 2003, 12. 136 Vgl. Th. Schneider, Zeichen der Nähe Gottes, Mainz 1979, 112. 137 Vgl. DH 120 und 121. 138 Vgl. A. Angenendt, Kaiserherrschaft und Königstaufe, Berlin 1984, 75–91. 139 Deutscher Katecheten-Verein (Hg.), Grundriß des Glaubens, München/Hildesheim 1980, 162. 140 I. Kant, Werke, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. VI, 53. 141 Der Große Duden. Bd. 7 Etymologie, Mannheim 1963, 748. 142 M. Arnold, Firmung mit 17, Luzern/Stuttgart 1988; zit. nach: unsere brücke. Mitteilungen der katholischen Jugend Erzdiözese Freiburg 2/1990, 19. 143 Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Offizielle Gesamtausgabe. Bd. 1: Beschlüsse der Vollversammlung, Freiburg 1976, Beschluss „Schwerpunkte heutiger Sakramentenpastoral“, B.3.4.1. 144 Die deutschen Bischöfe – Pastoral-Kommission, Sakramentenpastoral im Wandel. Überlegungen zur gegenwärtigen Praxis der Feier der Sakramente – am Beispiel von Taufe, Erstkommunion und Firmung. Hg.: Sekretariat der Deutschen Bischofkonferenz, Bonn, Juli 1993, 49. 145 Die deutschen Bischöfe – Pastoral-Kommission, Sakramentenpastoral im Wandel. Überlegungen zur gegenwärtigen Praxis der Feier der Sakramente – am Beispiel von Taufe, Erstkommunion und Firmung. Hg.: Sekretariat der Deutschen Bischofkonferenz, Bonn, Juli 1993, 52 f.

Anmerkungen

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Zum Folgenden: W. Jentsch u. a. (Hg.), Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Gütersloh 1975, 1088–1091. 147 G. Haeffner, Formen der Bewältigung, in: zur debatte 5–6/1992, 13. 148 Katechismus der katholischen Kirche, München u. a. 1993 u. ö., Nr. 390. 149 Das Neue Testament spricht weder direkt noch indirekt von einer Kleinkindtaufe. Die Kinder waren „heilig“ durch den Glauben ihrer Mutter oder ihres Vaters (1 Kor 7,14). Erst am Anfang des dritten Jahrhunderts ist die Säuglingstaufe mehrfach bezeugt. Im fünften Jahrhundert ist sie schließlich allgemein eingeführt. Papst Gregor I. († 604) ordnet sogar für die römische Kirche an, dass beim geringsten Verdacht auf Todesgefahr die Neugeborenen sofort zu taufen seien, damit sie des ewigen Heils nicht verlustig gehen müssen (vgl. B. Snela, Kindertaufe – ja oder nein? München 1987, 56 f.). 150 Vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 16. 151 Vgl. M. Knapp, „Wahr ist nur, was nicht in diese Welt passt“. Die Erbsündentheologie als Ansatzpunkt eines Dialogs mit Theodor W. Adorno, Würzburg 1983; P. Rottländer, Befreiung – Überforderung des Menschen?, in: Orientierung 23/24 (1987), 255–259. 152 So lautet ein Kapitel im Fastenhirtenbrief „Vergebung der Sünden“ (1984) des Bischofs von Limburg, Franz Kamphaus. 153 F. Kamphaus, Fastenhirtenbrief „Vergebung der Sünden“, Limburg 1984, 50 f. 154 Vgl. F. Kamphaus, Fastenhirtenbrief „Vergebung der Sünden“, Limburg 1984, 51 f. 155 Augustinus, Johannestraktat 124,7: Migne, J. P., Patrologiae cursus completus, Paris 1844 ff.; Bd. 35, 1973. 156 P. Rosien, Gemeinsame Antworten auf Fragen von gestern, in: Publik-Forum 20/1999, 26–28; hier: 27. 157 K.-H. Ohlig, Beigelegt: Der Streit von vorgestern, in: imprimatur 8/1999, 304–307; hier: 307. 158 Ebd., 307. 159 K. Rahner, in: Schriften zur Theologie, Bd. X, Einsiedeln/Zürich/Köln 1970, 53. 160 Die Pädagogikstudentin Anneliese Michel in Klingenberg/Main fühlte sich „vom Teufel besessen“. Mit ausdrücklicher Billigung des für den Ort zuständigen Bischofs von Würzburg sprach ein Priester über sie den „Exorzismus“, anstatt sie einer ärztlichen Behandlung zuzuführen. Die junge Frau hungerte sich zu Tode und starb am 1. 7. 1976. 161 P. Ricœur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld, Bd. 2, Freiburg 21989, 371, Anm. 7. Vgl. zu diesem Abschnitt: B. J. Claret, Art. „Teufel, IV. Systematisch-theologisch“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 9, Freiburg/Basel/Rom/Wien 32000, 1366 f.; hier: 1367. 162 Vgl. K. J. Kuschel, Wozu kirchlich heiraten?, in: J. Hoeren (Hg.), Wo Gott uns berührt. Der Lebensweg im Spiegel der Sakramente, Freiburg/Basel/Wien 1993, 94–110. Im Folgenden orientiere ich mich an seinen Ausführungen. 163 Vgl. M. Kaiser, Grundfragen des kirchlichen Eherechts, in: J. Listl / H. Müller / H. Schmitz (Hgg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 1983, 730–746; N. Ruf, Das Recht der katholischen Kirche nach dem neuen Codex Iuris Canonici für die Praxis erläutert, Freiburg/ Basel/Wien 21983, 245–292. In diesen Werken auch genauere Auskunft über kirchliche Ehehindernisse und Dispensmöglichkeiten. 164 Zweites Vatikanisches Konzil, Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute „Gaudium et spes“, Art. 47–51; vgl. auch: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Offizielle Gesamtausgabe. Bd. I, Beschlüsse der Vollversammlung, Freiburg 1976, Beschluss „Christlich gelebte Ehe und Familie“ (1974). 165 W. Jentsch u. a. (Hg.), Evangelischer Erwachsenen-Katechismus, Gütersloh 21975, 575. 166 Ein anschauliches Zeugnis dieser Praxis gibt Origenes († 254): „Schon haben auch einige Vorsteher der Kirche gegen das, was geschrieben steht, gestattet, dass eine Frau zu Lebzeiten des Mannes heiraten kann. Sie handeln damit gegen das Wort der Schrift … (1 Kor 7,39 und Röm 7,3 werden 146 2

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Anmerkungen

angeführt, N. S.), freilich nicht gänzlich unvernünftig. Man darf nämlich annehmen, dass sie dieses Vorgehen im Widerspruch zu dem von Anfang an Gesetzten und Geschriebenen zur Vermeidung von Schlimmerem zugestanden haben“ (In Matth. 14,23: PG 13,1245; zit. nach: Die Bischöfe der Oberrheinischen Kirchenprovinz, Zur seelsorglichen Begleitung von Menschen aus zerbrochenen Ehen, Geschiedenen und Wiederverheirateten Geschiedenen, in: Amtsblatt der Erzdiözese Freiburg Nr. 24 [25. 8. 1993], S. 158. Dort werden auch noch weitere Zeugnisse aus der frühen Kirche zitiert). 167 „Wer sagt, die Kirche irre, wenn sie lehrte und lehrt, gemäß der Lehre des Evangeliums und der Apostel (vgl. Mt 5,32; 19,9; Mk 10,11 f.; Lk 16,18; 1 Kor 7,11) könne das Band der Ehe wegen Ehebruchs eines der beiden Gatten nicht aufgelöst werden, und keiner von beiden, nicht einmal der Unschuldige, der keinen Anlaß zum Ehebruch gegeben hat, könne, solange der andere Gatte lebt, eine andere Ehe schließen, und derjenige, der eine Ehebrecherin entlässt und eine andere heiratet, und diejenige, die einen Ehebrecher entlässt und einen anderen heiratet, begingen Ehebruch: der sei mit dem Anathem belegt“ (DH 1807). 168 Internationale Theologenkommission, in: Gregorianum 59 (1978), 461; zit. nach: A. Ebneter, Muss die Ehelehre die Kirchen trennen?, in: Orientierung 1980, 70. 169 Pius XI., Enzyklika „Casti connubii“ 1930; AAS 1930, 574; zit. nach: A. Ebneter, Muss die Ehelehre die Kirchen trennen?, in: Orientierung 1980, 71. 170 Codex Juris Canonici c. 1059. 171 Vgl. dazu ausführlich: N. Scholl, Die Bibel verstehen, Darmstadt 2004, 147–149. 172 G. Lohfink, Jetzt verstehe ich die Bibel, Stuttgart 21974, 142. 173 Es gibt eine ganze Reihe von Nichtigkeitsgründen: Furcht und Zwang, Eheführungs- und Ehevertragsunfähigkeit, Impotenz, psychische Unreife, Ausschluss von Unauflöslichkeit und von Nachkommenschaft Von dem Problem der nichtvollzogenen Ehe sowie vom sog. „Privilegium Paulinum“ oder „Petrinum“ sei hier abgesehen: bei dem einen handelt es sich nach kirchlicher Rechtsauffassung um eine gültig zustande gekommene, aber nicht absolut unauflösliche Ehe, bei den beiden Privilegien geht es um nichtsakramentale Ehen (vgl. N. Ruf, Das Recht der katholischen Kirche nach dem neuen Codex Iuris Canonici für die Praxis erläutert, Freiburg/Basel/Wien 21983). 174 Einige Grundsätze, die für eine mögliche (Wieder-)Zulassung zu den Sakramenten der Versöhnung und der Eucharistie gelten könnten, hat K. Lehmann vorgelegt: K. Lehmann, Gegenwart des Glaubens, Mainz 1974, 292 f. 175 Th. Ruster / H. Ruster, „… bis dass der Tod euch scheidet?“, München 2013. 176 W. Jentsch u. a. (Hg.), Evangelischer Erwachsenenkatechismus, Gütersloh 21975, 598. 177 Vgl. DH 1807, Anm. 1. 178 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus. Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament, Bd. 1, Zürich 1985, 277. 179 http://westlichorthodoxekirche.wordpress.com/2012/07/29/orthodoxe-kirche-und-die-ehe scheidung/ 180 W. Jentsch u. a. (Hg.), Evangelischer Erwachsenen-Katechismus, Gütersloh 21975, 585. 181 Ausführungsbestimmungen der Deutschen Bischofskonferenz zum Motu Proprio MATRIMONIA MIXTA vom 31. 3. 1970 über die rechtliche Ordnung konfessionsverschiedener Ehen; zit. nach: Amtsblatt der Erzdiözese Freiburg 1970, 150. 182 P. Neuner, Der nicht vorgesehene Normalfall, in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern 6/7 (1987), 7. 183 Ebd., 7. 184 Ich orientiere mich hier an: H. Bosinski „Eingetragene Lebenspartnerschaft“, in: zur debatte 2/ 2001, 16 f. 185 Grundlegend die Forschungsergebnisse von William R. Rice, Urban Friberg, Sergey Gavrilets, Homosexuality as a Consequence of Epigenetically Canalized Sexual Development. The Quarterly Review of Biology, 2012; 87 186 http://www.ekd.de/EKD-Texte/lebensgemeinschaft_2000.html.

Anmerkungen

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Kongregation für die Glaubenslehre, Erwägungen zu den Entwürfen einer rechtlichen Anerkennung der Lebensgemeinschaften zwischen homosexuellen Personen, Vatikanstadt 3. 6. 2003, gez. Joseph Card. Ratzinger. Zit. nach: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/docu ments/rc_con_cfaith_doc_20030731_homosexual-unions_ge.html 188 http://www.fr-online.de/politik/homosexuelle-in-der-kirche-schwule-liebe–verdient-rueckhalt,1472596,3026004.html 189 Interview mit Robert Zollitsch im Spiegel vom 18. 2. 2008: http://www.spiegel.de/spiegel/print/ d-55854225.html. Von der katholischen Kirche liegen mehrere offizielle Verlautbarung darüber vor, wie homosexuelle Menschen zu beurteilen sind.  Kongregation für die Glaubenslehre: „Erklärung zu einigen Fragen der Sexualethik“ vom 29. Dezember 1975,  Kongregation für das katholische Bildungswesen: „Hinweise zur geschlechtlichen Erziehung“ vom 1. Dezember 1983,  Kongregation für die Glaubenslehre: „Schreiben an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen“ vom 30. Oktober 1986. Die Verlautbarungen können beim Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Kaiserstraße 163, 5300 Bonn 1, kostenlos angefordert werden. 190 Der Artikel 6 GG lautet: „(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. (3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. (4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. (5) Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“ 191 J. Röser, Diffusion in „C“, in: Christ in der Gegenwart 10/2013, 111 f. 192 Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2011; http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-undfakten/soziale-situation-in-deutschland/61581/alleinerziehende Alleinerziehende. 193 http://www.eaf-bayern.de/fileadmin/eaf_upload/dateien/positionen/grunds%E4tze%202006. pdf 194 G. Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: Archiv des Öffentlichen Rechts 81 (1956), 117–157, hier: 129. 195 J. Gründel, Theologisch-ethische Implikationen einer Güterabwägung, in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern. Sondernummer 2001, 28–30. 196 Th. Fuchs, Klone und Doppelgänger. Über die Duplikatur des Menschen, in: Scheidewege 29. Jg. – 1999/2000, 54–71; hier: 55 und 67. 197 J. Rifkin, Der embryonale Marktplatz. Was ist ein Mensch: Die Ethik der Genetik, in: Süddeutsche Zeitung 14./15./16. 4. 2001. 198 I. Häberle, Die prophetische Aufgabe des behinderten Menschen, in: Neue Wege 90 (1996), 245 f. 199 J. Gründel, Theologisch-ethische Implikationen einer Güterabwägung, in: zur debatte. Themen der Katholischen Akademie in Bayern. Sondernummer 2001, 28–30; hier: 28. 200 E. Ringel, Leidensverherrlichung, Leidensverdrängung, Leidensbewältigung. Fragen aus Anlass zu „Salvifici doloris“, in: Herder-Korrespondenz 1974, 211–220; hier: 212. 201 G. Büchner, Dantons Tod, 3. Akt. 202 H. Kushner, Wenn guten Menschen Böses widerfährt, München 1983, 15. 203 Ebd., 35. 187

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Anmerkungen

D. Sölle, Leiden, Stuttgart/Berlin 1973, 37 Zit. nach: J. H. Brantschen, Warum läßt der gute Gott uns leiden?, Freiburg/Basel/Wien 1986, 7. 206 L. Habel, Herrgott, schaff die Treppen ab! Erfahrungen einer Behinderten, Stuttgart 1978, 66. 68; zit. nach: E. Schuchardt, Warum gerade ich … ?. Behinderung und Glaube, Gelnhausen 21984, 47 f. 207 http://dejure.org/gesetze/TPG/2.html. 208 Dritte Fortschreibung der „Richtlinien zur Feststellung des Hirntodes“ des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer vom 9. 5. 1997. 209 Deutscher Ethikrat, Die Zahl der Organspenden erhöhen – zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland. Stellungnahme 2007; http://www.ethikrat.org/dateien/ pdf/Stellungnahme_Organmangel.pdf. 210 Organtransplantationen. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD Bonn / Hannover 1990, 3.1.3; http://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/gemtexte/GT_01.pdf. 211 http://www.dbk.de/presse/details/?presseid=1982&cHash=00bea6d36c97a7a3bafb7125c99e0 dc7 212 Vgl. K. Hilpert, Ist die Organspende Christenpflicht? in: zur debatte 2/2012, 44. 213 Ebd., 43 f. 214 § 2 TPG; http://dejure.org/gesetze/TPG/2.html, 215 K. Hilpert, Ist die Organspende Christenpflicht? in: zur debatte 2/2012, 44. 216 Vgl. H. J. Limburg, Art. „Heilige, IV. Typologie“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg/Rom/Basel/Wien 31995, 1275 f. 217 So wird es in der griechisch-orthodoxen Kirche bis heute gehandhabt. Die Kirche kennt lediglich eine Kult-Anerkennung durch Synodenbeschluss. 218 Vgl. W. Schulz, Art. „Heiligsprechung“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg/ Rom/Basel/Wien 31995, 1328–1331. 219 Vgl. K. Nientiedt, Heilige als Hoffnungsgestalten, in: Herder-Korrespondenz 11/1983, 489–491. 220 Dazu: B. Fresacher, „Anderl von Rinn“. Ritualmordkult und Neuorientierung in Judenstein 1945–1995, Innsbruck 1998. 221 U. Neumann, Heilige – Vorbilder für ein heiles Leben? Anfragen aus der Sicht einer Psychotherapeutin. Unveröffentl. Manuskript einer Sendung im 2. Programm des Südwestfunks BadenBaden vom 18. 6. 1989, 15. 222 F. Courth, Marienerscheinungen und kirchliches Amt, in: A. Ziegenaus (Hg.), Marienerscheinungen, München/Regensburg 1995, 193. 223 Vgl. W. Beinert, Theologische Information über Marienerscheinungen, in: Anzeiger für die Seelsorge 5/1997, 250–258. 224 H. Goldstein, Anwältin der Befreiung, in: Kleines Lexikon zur Theologie der Befreiung, Düsseldorf 1991, 396 ff. 225 Vgl. H. Pissarek-Hudelist, Neue Rede von Maria im Religionsunterricht, in: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer. Bistum Limburg 4/1991, 4–12. 226 H. Pissarek-Hudelist, Neue Rede von Maria im Religionsunterricht, in: Informationen für Religionslehrerinnen und Religionslehrer. Bistum Limburg 4/1991, 4–12; hier: 8. 227 Vgl. E. Moltmann-Wendel u. a. (Hg.), Was geht uns Maria an?, Göttingen 1988. 204 205

XI. Auf dem Weg zur Ökumene 1 2 3 4 5

Zweites Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“, Art. 1. H. Fries, Ökumenische Hoffnungen, in: zur debatte 1–2/1986, 6. K. Rahner / H. Fries, Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit, Freiburg/Basel/Wien 1983, 51985. Ebd., 29. Ebd., 48 f.

Anmerkungen

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Ebd., 59. Ebd., 78. 8 Ebd., 122. 9 Ebd., 138 f. 10 Zit. nach: N. Klein, Es bleibt die Frage: welche Ökumene?, in: Orientierung 2/1992, 14–16; hier: 16. 11 Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 8. 12 Ebd., Art. 15 und Dekret über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“, Art. 3. 13 Die weltweite Pfingstbewegung und die katholische Kirche; http://www.ekd.de/ezw/Publika tionen_2421.php. 14 Evangelikale, Pentekostale, Charismatiker – Herausforderungen für die katholische Pastoral; in: imprimatur 5/2013, 145. 15 http://www.kirche-mv.de/Schorlemmer-Benedikt-XVI-ist-Papst-der-Stillstands-OEkumene. 30538.0.html. 16 Vgl. dazu: N. Scholl, Religiös ohne Gott. Warum wir heute anders glauben, Darmstadt 22011. 17 H. Häring, Konfessionelle Differenz und Postmoderne: „Glaube ja – Kirche nein?“, in: zur debatte 7/2003, 15 f. 18 Ph. Potter, Art. „Mission / Missionswissenschaft“, in: Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe. Bd. 3, München 1985, 118. 19 So schon auf dem IV. Laterankonzil 1215: „… extra quam (ecclesiam) nullus omnino salvatur“ (DH 802). Heute weiß man, dass diese Sätze aus der Zeit der Kirchenväter (Origenes, † 253/54, Cyprian, † 258) gegen die Häretiker gerichtet waren und die Einheit der Kirche einschärfen sollten (vgl. DH 802, Anm. 1). 20 K. Rahner, Die anonymen Christen, in: ders., Schriften zur Theologie. Bd. VI, Einsiedeln/Zürich/ Köln 1965, 545–554; hier: 546. 21 Zit. von Emilio Castro auf der Weltmissionskonferenz Melbourne 1980, in: M. Lehmann-Habeck (Hg.), Dein Reich komme, Frankfurt 1980, 93. 22 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“, Art. 1. 23 P. F. Knitter. Nochmals die Absolutheitsfrage. Gründe für eine pluralistische Theologie der Religionen, in: K.-J. Kuschel (Hg.), Christentum und nichtchristliche Religionen, Darmstadt 1994, 86– 101; hier: 89–90. 24 K. M. Meyer-Abich, Wissenschaft für die Zukunft. Holistisches Denken in ökologischer und gesellschaftlicher Verantwortung, München 1988, 9. 25 Zweites Vatikanisches Konzil, Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“, Art. 1. 26 Papst Paul VI., Ecclesiam suam; zit. nach: Lexikon für Theologie und Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil. Bd. II, Freiburg 1967, 451. 27 P. Lapide, in: Christ, Hindu und Buddhist zugleich? Über den Dialog der Religionen – und das Elend der Religionen. Ein Gespräch zwischen Raimondo Panikkar und Pinchas Lapide, in: PublikForum 16/1994, 21–23; hier: 21. 28 XIV. Dalai Lama, Interreligiöser Dialog, in: D. J. Krieger (Hg.), Der Weg des Herzens. Gewaltlosigkeit und Dialog zwischen den Religionen, Solothurn/Düsseldorf 21983, 23–33; hier: 29 f. 6 7

XII. Ewiges Leben? Ich folge hier: J. Gründel, Behindertes und verlöschendes Leben, in: zur debatte 4/1991, 7 f. 2 Vgl. A. Ziegler, Sterbehilfe – Grundfragen und Thesen, in: Orientierung 1975, 39–41; ders., Die Pflege Sterbender – Wer ist Herr über Leben und Tod?, in: Orientierung 1975, 55–58; N. Jachertz, Die Hilfen beim Sterben; in: Christ in der Gegenwart 22/2013, 257 f. 1

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Anmerkungen

A. Ford, Bericht vom Leben nach dem Tode, München 61974; E. Wiesenhütter, Blick nach drüben. Selbsterfahrungen im Sterben. Stundenbuch 119, Hamburg 1974; R. A. Moody, Leben nach dem Tod. Die Erforschung einer unerklärten Erfahrung, Reinbek 1977; A. Rosenberg,(Hg.), Leben nach dem Sterben, München 1974 u. a. 4 Quick 30 (17. 7. 1975) 50. 5 K. Thomas, Die künstlich gesteuerte Seele, Stuttgart 1970. 6 Protokollausschnitt eines Psilocybin-Versuchs mit einem katholischen Geistlichen am 6. 1. 1969; in: K. Thomas, a. a. O., 151 (Hervorhebung von Thomas). 7 K. Thomas, a. a. O., 145–148. 8 R. K. Siegel, Der Blick ins Jenseits – eine Halluzination?, in: Psychologie heute, IV/1981, 23–33; zit. nach: H. Küng, Ewiges Leben? München/Zürich 1982, 33. 9 Hamburger Abendblatt, 10. 12. 2001. 10 F. J. Nocke, Eschatologie. Leitfaden Theologie 6, Düsseldorf 1982, 106. 11 J. Chr. Hampe, Sterben ist doch ganz anders, Stuttgart 1975. 12 Augustinus, De Civitate Dei 22,30,1 (CV 40,2,664; ML 41,801). 13 H. U. v. Balthasar, Eschatologie, in: J. Feiner / F. Trütsch / F. Böckle (Hg.), Fragen der Theologie heute, Einsiedeln 1958, 403–421; hier: 407. 14 D. Sölle, Wählt das Leben, Stuttgart 1980, 129. 15 Vgl. K. Müller, Das Weltbild der jüdischen Apokalyptik und die Rede von Jesu Auferstehung, in: Bibel und Kirche 1/1977, 8–18; hier: 18. 16 Vgl. DH 2; 5; 10–19; 22–36. Lediglich einige „östliche“ Bekenntnisse sprechen von einer „Auferstehung der Toten“ (vgl. DH 42; 44; 46; 48). 17 Katechismus der Katholischen Kirche, München/Wien u. a. 1993, Nr. 1051. 18 Ebd., 1040. 19 Vgl. Katechismus der katholischen Kirche, München/Wien u. a. 1993, Nr. 414. 1033–1037. 20 Erasmus von Rotterdam, Lob der Torheit, München o. J. (um 1500),100 (Goldmann Tb. 1978); zit. nach: O. Fuchs, Gerechtigkeit im Gericht – Ein Versuch, in: Anzeiger für die Seelsorge 11/1995, 554–561; hier: 554. 21 Ich folge hier den Ausführungen von O. Fuchs, Gerechtigkeit im Gericht – Ein Versuch, in: Anzeiger für die Seelsorge 11/1995, 554–561. 22 Ebd., 555. 23 P. L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt 1970, 98. 24 M. Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Stundenbücher 97, Hamburg 1970, 62. 25 O. Fuchs, Gerechtigkeit im Gericht – Ein Versuch, in: Anzeiger für die Seelsorge 11/1995, 558. 26 Ebd., 556. 27 Ebd., 558. 28 J. Ratzinger, Artikel „Hölle“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Band 5, Freiburg 21960, Sp. 448. 29 Vgl. G. Fuchs, „Die Bilder mit Bildern austreiben“, in: Katechetische Blätter 1999, 226–230; hier: 228 f. 30 P. Teilhard de Chardin, Die Zukunft des Menschen. Werke V, Olten/Freiburg 1963, 122. 31 K. Rahner, Erfahrungen eines Theologen, in: K. Lehmann (Hg.), Vor dem Geheimnis Gottes den Menschen verstehen, München 1984, 118 f. 3

Schlusswort Zweites Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“, Art. 35. 1