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German Pages 160 [162] Year 2018
Hartmut Sommer Die großen Mystiker
Hartmut Sommer
Die großen Mystiker Orte ihres Wirkens
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Einbandabbildung: O. Redon (1840 – 1916), „Le vitrail / Le jardin mystérieux“ (Das Kirchenfenster / Der geheimnisvolle Garten), um 1905. © akg-images
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© 2008 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Layout & Prepress: schreiberVIS, Seeheim Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN 978-3-534-20098-6
Inhalt Vorwort
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Religiöse Erfahrung und Mystik
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Der Thron im Himmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Höhle der Apokalypse des Johannes auf Patmos im Ägäischen Meer
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Bis unser Herz ruht in Dir . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Refugium des Augustinus in der Brianza und das Baptisterium des Ambrosius in Mailand
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Die wahre Schau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Klöster der Hildegard von Bingen an Rhein und Nahe Der Engel des sechsten Siegels . . . . . . . . . . . . . . . . . Franziskus, Bonaventura und die Stätten der frühen franziskanischen Bewegung in Umbrien, Latium und der Toskana
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Seelenburg und dunkle Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz in Kastilien Bildnachweis
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Bräutigam der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lebensstationen des Bernhard von Clairvaux in Burgund
Das Seelenfünklein . . . . . . . . . . . Meister Eckharts Kloster in Erfurt
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In fleischlichen Herzen, begreifst du, mein Kind, da ist’s, was die Engel nicht kennen, Es sei denn vom Hörensagen, Aber selber haben sie’s nicht erfahren, In fleischlichen Herzen, gefährdeten, kurzlebigen Herzen, In Herzen, die brechen können wie Glas, Ist ein Wort bewahrt, genährt, Das in Ewigkeit nicht zerbricht. Charles Péguy Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung
Vorwort M
enschen aller Zeiten haben die Nähe Gottes erfahren. Dem Propheten Elija zeigte sich seine Gegenwart in einem „sanften, leisen Säuseln“ (1 Kön 19,12). Paulus wurde als wütender Christenverfolger Saulus niedergeworfen und ganz verwandelt von einer überwältigenden Schau. Blaise Pascal, Physiker und Mathematiker des 17. Jahrhunderts, notierte in atemlosem Stenogramm, was er von seiner Gotteserfahrung in Worte fassen konnte. „Feuer“, heißt es darin und: „Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede. Gott Jesu Christi.“ Den Notizzettel, das sogenannte „Memorial“, fand man nach seinem Tod eingenäht in seiner Jacke. Auch den Menschen unserer modernen, aufgeklärten Zeiten ist dies keineswegs fremd. So sah sich die Schriftstellerin Simone Weil in der ganz persönlich erfahrenen „Gegenwart einer Liebe“ unmittelbar „ergriffen“ von Christus. Der Diplomat und Dichter Paul Claudel wurde durch einen „einzigen Blitz“ göttlicher Eingebung in seinem Sein „geradezu gewaltsam emporgerissen“ und von Zustimmung und Glauben erfüllt. Dem, was es damit auf sich hat, wollen die hier vorgelegten Reiseberichte nachgehen, indem sie sich auf die Spuren großer christlicher Meister der Mystik begeben. Als Vertreter der Urkirche und Jüngerzeit ist dies Johannes, der Seher von Patmos. Die Kirchenväter Ambrosius und Augustinus stehen für die Zeit der Ausbreitung des Christentums nach dessen Anerkennung durch Kaiser Konstantin im Jahre 313. In die Zeit der Ordensreformen, der Armutsbewegung und der scholastischen Philosophie im Hochmittelalter vom 11. bis zum 13. Jahrhundert gehören der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux, die Visionärin Hildegard von Bingen und der Ordensobere Bonaventura. Meister Eckhart ist schon der krisenhaften Zeit des ausgehenden Mittelalters zuzurechnen. An der Wende zur Neuzeit, mit Reformation und Gegenreformation, wirkten im 16. Jahrhundert die spanischen Ordensleute und Erneuerer des Karmeliterordens, Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz. Auf zweierlei Weise wollen die Reiseberichte ihren Spuren folgen: Sie nehmen zum einen Fühlung mit dem Leben der Mystiker an den Orten ihres Lebens und Wirkens, um so Ansatzstellen zu finden für eine einfühlende Imagination, die uns die Zeitsituation und ihr persönliches Umfeld lebendig vor Augen führt. Zum anderen geht es darum, den geistigen Weg in den Kern ihrer mystischen Erfahrung nachzuzeichnen, um das Zeitlose
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Vorwort
daran herauszuarbeiten als Gottesbegegnung und Zielbild einer letzten Erfüllung, das uns in diesem Leben allerdings nur in einem symbolhaft verschleierten Aufblitzen gezeigt wird. Die Reisen kann man nachvollziehen, um den Mystikern an den Orten ihres Lebens und Wirkens nahezukommen, etwa auf Patmos in der Höhle des Johannes, in den Ruinen der Klause Hildegards auf dem Disibodenberg, in Meister Eckharts Kloster in Erfurt oder auf dem Berg La Verna, wo Bonaventura über die Mystik seines großen Ordensvaters Franziskus meditiert hat. Die mystische Erfahrung selbst ist dagegen durch keine noch so fromme religiöse Praxis herstellbar. Gott lässt sich nicht herbeimeditieren. Aber wir können uns vorbereiten und öffnen für das, was uns in der Zeichensprache der Schöpfung, im Gebet und im Schweigen ansprechen will. Gewissermaßen das Gepäck für die Reisen schnürt ein einführendes Kapitel, das zunächst klärt, was unter christlicher Mystik zu verstehen ist. Sie ist einerseits von religiösen Erfahrungen im weiteren Sinne zu unterscheiden, andererseits aber auch mit ihnen in Zusammenhang zu sehen, denn beide führen zu einem erfahrungshaft vertieften Glauben. Vor allem ist sie abzugrenzen von einer Pseudospiritualität aus dem Esoterikladen. In der Mystik geht es um Erfahrungen, vor denen die Sprache versagt, aber sie hat nichts zu tun mit der nebulösen Beliebigkeit, in die der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch zu zerfließen droht. Herzlich danke ich Herrn Eckhard Westphal und Monsignore Franz Lurz für Hinweise zum Manuskript. Danken möchte ich auch meiner Frau Helga, die mich über die Pässe der spanischen Sierras ebenso chauffiert hat wie durch das umbrische Bergland und über die Landstraßen Burgunds, damit ich meine Notizen machen konnte. Bad Honnef, im Januar 2008
Erfahrung Religiöse Erfahrung und Mystik Mystik M
itten im Leben kann der Schein des Selbstverständlichen zerreißen, wenn sich angesichts der Zerbrechlichkeit des Seienden plötzlich ein Abgrund auftut mit der Erkenntnis, dass dies alles auch nicht sein könnte. So fragt der Philosoph Ernst Bloch in seinem Erzählwerk „Spuren“ am Beispiel eines einfachen Astes: „Hängt er mit seinem ‚Sein‘ nicht genauso gut ins ‚Nichts‘ über, in dem er nicht wäre oder nicht so wäre, und das ihn doppelt befremdend macht?“ Und im Tagebuch des ehemaligen UNGeneralsekretärs Dag Hammarskjöld findet sich unter dem 19. – 20. November 1955 folgender Eintrag: „In niedrigen Wolken starb das Licht. Der fallende Schnee trank das Dunkel. Gebettet in Schweigen, deckten mich Zweige mit ihrer Geborgenheit. Als sich die Grenzen auflösten, aufs Neue das Wunder: dass ich bin.“ Solch ein unvermitteltes und beunruhigendes Umklappen der Sichtweise drängt sich mitunter gerade dann auf, wenn wir uns zutiefst die Fortdauer des Augenblicks wünschen. Und es zeigt sich an den existentiellen Rändern des Lebens, wenn Trennung, Krankheit und Verlust uns aus der scheinbar sicheren Bahn werfen. Man kann diese Erfahrungen verdrängen wie ein unerklärliches Unwohlsein, erschüttert und verzweifelt vor Nietzsches Frage: „Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?“ Oder aber man erkennt darin den Hinweis auf einen Seinsgrund, der dem Vielgestaltigen des Seienden erst Existenz verleiht, und damit auf einen letzten Halt jenseits des Flüchtigen menschengemachter Gehäuse, auf eine höhere Geborgenheit im Unbergsamen der Welt, die allein in Gott zu finden ist. Ausgangspunkt dieser Erfahrung ist die Erschütterung, die sich mit dem existentiellen Gefühl einstellt, ins Sein „geworfen“ zu sein. Aber auch das überwältigende und beglückende Erleben der Natur mit ihrem un-
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Religiöse Erfahrung und Mystik
erschöpflich quellenden Gestaltreichtum und ihrer Ordnungshaftigkeit bis in die feinsten Strukturen hinein verweist auf etwas anderes. Goethe hat es gesehen, als er sich bei der Beobachtung eines Gewimmels von winzigen Seeschnecken, Muscheln und Taschenkrebsen am Strand der Lagune von Venedig notierte: „Was ist doch ein Lebendiges für ein köstliches, herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!“ In diesem unendlich ausgefalteten Reichtum an Formen, die nicht auf Zählbares und Messbares reduzierbar sind, verwirklicht sich etwas Geistiges, das sich der Materie aufprägt, aber nicht mit ihr identisch ist. Dem ganzheitlichen Blick enthüllt sich damit Gottes Schöpferhand, er „sieht das in der Tiefe erkannte Wesen der wirklichen Dinge zugleich in seiner Beziehung zum Urbild. Denn jedes Ding ist in seinem wesenhaften Sein wahr, weil es in endlicher Weise nachahmend teilhat an dem jeweiligen Schöpfergedanken Gottes“ (Berning 531). Beide Erfahrungen können als religiöse Erfahrungen angesprochen werden, Jacques Maritain spricht von „metaphysischen Erfahrungen“ (319 f.). Letztlich wird hier ursprünglich, aber noch ganz anfangshaft gesehen, was uns die Offenbarungsschriften der monotheistischen Religionen in reifer Gestalt mitteilen. Die unmittelbar gegebene Erkenntnis, dass sich nichts Endliches selbst setzen und im Sein halten kann und dass Geistiges das Seiende durchwaltet, löst die Blockaden, mit denen ein einseitig naturwissenschaftliches und materialistisches Denken alles Religiöse abwehrt. Dahin führt auch die christliche Philosophie mit den Mitteln des schließenden begrifflichen Denkens, etwa mit Thomas von Aquins fünf Wegen zum Aufweis der Existenz Gottes, die missverständlich auch Gottesbeweise genannt werden. Aber der Überstieg von einem lehrhaften papierenen Gott zum lebendigen Du Gottes, zu dem man liebend und betend in Beziehung treten kann, gelingt nur im Glauben. Ursprüngliche religiöse Erfahrungen können ein Anfang sein für die Glaubenserweckung in einer Zeit, in der es nicht mehr selbstverständlich ist, dass der Glaube von Generation zu Generation weitergetragen wird. Darauf zielt Karl Rahners zu Tode zitierter Satz: „Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein“ (1966, 22), wobei „Mystik“ in einem sehr weiten Sinne verstanden sein will als religiöse Erfahrung. Unterschlagen wird meist, dass Rahner im selben Zusammenhang die Entfaltung und Formung solcher Erfahrungen durch kirchliche Gemeinschaft, durch Liturgie, Sakrament und Gebetspraxis fordert, da sie sonst leicht einer oberflächlichen Beliebigkeit verfallen oder wieder ganz versanden können. Das erweist sich etwa daran, dass die Sehnsucht nach religiöser Erfüllung, die sich nicht an die objekti-
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vierten, kirchlichen Formen des Glaubens binden will, bester Nährboden ist für die bizarren Erscheinungsformen der Esoterik. Im großen Selbstbedienungsladen dieser Pseudospiritualität versprechen sogenannte „Meister“ und „Heiler“ für ein saftiges Eintrittsgeld Glück und Selbstfindung. Sie legen Tarotkarten, verordnen „heilende“ Steine, versprechen „positive Energie“ durch tantrische und schamanische Rituale, wollen in ein früheres Leben „rückführen“ und Ähnliches mehr – gesteigert mitunter zu den abstrusesten Wahngebilden, bei denen sich Engel und die Seelen Verstorbener praktisch auf Zuruf zum Gespräch einstellen sollen. Der Anspruch auf kritische Prüfung, der gegenüber dem kirchlichen Glauben erhoben wird, spielt hier plötzlich gar keine Rolle mehr, solange der Selbstgenuss einfach und schnell herstellbar zu sein scheint. Lehrt doch der moderne Subjektivismus, dass Wahrheit nichts anderes sei als die Definition der je eigenen Lebenswelt. Gemeinsamer Grundzug der kaum überschaubaren Erscheinungsformen der Esoterik ist eine aus Versatzstücken aller Weltreligionen und archaischem Aberglauben konstruierte Beglückungslehre, die magisches Denken mit dem modernen Streben nach technischer Machbarkeit verbindet, das möglichst alles für den einfachen Konsum zu jeder Zeit bereitstellen will, selbst das persönliche Glück. Die christliche Lehre, die den Geschenkcharakter des Seins und die Grenzen des Machbaren betont, die vor das persönliche Glück noch die Verantwortung für den anderen stellt und statt zum Selbstgenuss zur radikalen Lebensumkehr auffordert, steht quer dazu. Aber letztlich ist sie die wahre Glücksbotschaft, worauf Viktor Frankl von der ganz anderen Warte der Psychotherapie hingewiesen hat: „Was der Mensch wirklich will, ist letzten Endes nicht das Glücklichsein an sich, sondern ein Grund zum Glücklichsein. Sobald nämlich ein Grund zum Glücklichsein gegeben ist, stellt sich das Glück, stellt sich die Lust von selber ein ... Aufgrund seines Willens zum Sinn ist der Mensch darauf aus, Sinn zu finden und zu erfüllen, aber auch anderem menschlichen Sein in Form eines Du zu begegnen, es zu lieben. Beides, Erfüllung und Begegnung, gibt dem Menschen einen Grund zum Glück und zur Lust. Beim Neurotiker aber wird dieses primäre Streben gleichsam abgebogen in ein direktes Streben nach Glück, in den Willen zur Lust“ (Frankl 9 ff.). So kommt unter der bunten exotischen Oberfläche der Esoterik zuletzt immer der schale Geschmack des Unechten zum Vorschein, mit dem sich wieder Überdruss und Leere einstellen. Wer mehr sucht als ein in sich gefangenes Kreisen um das eigene Ich, bleibt offen für die befreiende Weite religiöser Erfahrungen im christlichen Sinne. Sie verflüssigen gewissermaßen durch einfühlendes Nacherleben die in Jahrhunderten zu großer Dichte und Präsenz geronnene Ob-
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Religiöse Erfahrung und Mystik
jektivität des Glaubens, die sich mitteilt in der Zeichenhaftigkeit der sakralen Kunst, in den schlichten Vollzügen einer gläubigen Praxis, in der Liturgie und insbesondere in ihrem Zentrum, der Eucharistie, in der sich die bleibende Nähe Gottes verbürgt und immer wieder ereignet. So wurde Thomas Merton, ein Mystiker unserer Zeit, bei einem Aufenthalt in Rom während seiner noch gänzlich glaubensfernen Studienzeit berührt von der sakralen Kunst in den Kirchen, die er besuchte. In seiner Autobiographie „Der Berg der sieben Stufen“ berichtet er darüber: „Selbstverständlich erfasste und glaubte ich diese Wahrheiten nicht eigentlich. Aber sie sprachen so deutlich aus jeder Linie der von mir mit so tiefer Bewunderung und Liebe betrachteten Gemälde, dass ich ihren Sinn zweifellos implicite begriff, da der Geist des Künstlers meinen eigenen Geist berührte und ihm seine Auffassung und sein Denken übermittelte.“ Zu den Schlüsselerlebnissen Edith Steins auf ihrem Weg zum Glauben gehörten Zeugnisse einfacher Frömmigkeit wie das stille Gebet einer Marktfrau im Frankfurter Dom. Für den Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin war es das Zeichen des Kreuzes, das ihn anzog und immer wieder zur Auseinandersetzung mit der christlichen Botschaft herausforderte. Angesichts des Kruzifixes in einer Kirche, in der er während seiner Flucht aus dem besetzten Frankreich Ruhe gesucht hatte, kam ihm der Gekreuzigte ganz nahe: „Und da hängt die schmerzgewundene Menschengestalt. Wer ist Jesus? ... Die Figur eines historischen Jesus, der ein palästinensischer Mensch wie tausende seines Volkes war, bedeutet nicht viel. Wenn ich mich frage: ‚Warum blicke ich auf ihn‘, so lautet die Antwort: Weil ich hören will: Es ist Gott ... Ich sitze in Sichtweite des Kruzifixes. Wenn ich die Augen schließe, fühle ich das Kruzifix oben rechts als eine strahlende Wärme.“ Döblin hat dies unmittelbar danach „draußen auf der Bank und abends in der Kammer“ notiert. Als er es nach dem Krieg in seinem Buch „Schicksalsreise“ veröffentlichte, hatte er bereits zum Glauben gefunden. Am Anfang des Glaubensweges von Jacques Loew, einem der führenden Köpfe der Bewegung der Arbeiterpriester, stand das zentrale Mysterium des Glaubens, die Eucharistie. Der vierundzwanzigjährige, völlig glaubensfern aufgewachsene Rechtsanwalt hatte eine Messe im Kartäuserkloster von Valsainte besucht. Die für ihn fremde, ja befremdliche Feierlichkeit, mit der die Mönche die geweihten Hostien austeilten, scheinbar ja nur belanglose „Mehlplätzchen“, wurde für ihn zu einem ersten wichtigen Anstoß: „Dies war der Ausgangspunkt. Ich glaubte noch immer nicht an Gott, von nun an aber suchte ich mit der Gewissheit, dass das Unsichtbare existieren konnte.“ Jacques Loew hat darüber in seinen „Christusmeditationen“ berichtet. Etwas Verwandtes im tiefsten Inneren wird mit solchen Erfahrungen berührt, das bisher als dunkles Ahnen
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ein verborgenes Leben geführt hat, sich nun aber als immer deutlicheres Aufscheinen des Gottesgedankens entschlüsselt. Reift dieser noch keimhafte Gedanke zum voll entfalteten Gottesverständnis, mündet religiöse Erfahrung schließlich in dem mit seiner ganzen Fülle frei ergriffenen Glauben. Wer selbst den „belebenden Zustrom“ aus neu gewonnenem Glauben erlebt hat, wie es Edith Stein von sich berichtet, dem erschließen sich die biblischen Bilder, etwa das vom „lebendigen Wasser“, auf eine unmittelbare Weise. Was diese religiösen Erfahrungen nur andeuten, wird im mystischen Erleben mit hoher Intensität erfahren: angesprochen zu sein durch das lebendige Du des personalen Gottes. Erst die „erfahrende Erkenntnis der Tiefen Gottes“ und seiner Gegenwart, die Berührung durch ihn im innersten Seelengrund, ist Mystik im engeren und eigentlichen Sinne (Maritain 283). „Der Mensch rührt darin an die Wirklichkeit selbst und glaubt nicht mehr bloß ‚von zweiter Hand‘. Freilich werden wir mit Bernhard von Clairvaux und den großen mystischen Lehrern aller Zeiten sagen müssen, dass solches nur ‚ein kurzer Augenblick, ein seltenes experimentum‘ sein kann. Es bleibt in diesem Leben ansatzweiser Vorgriff und es darf nie zum Selbstzweck werden. Denn dann würde Glaube zum Selbstgenuss statt zur Selbstüberschreitung und so in seinem Wesen verfehlt“ (Benedikt XVI., 1982, 369). Die großen Meister der Mystik haben versucht uns mitzuteilen, was diese Erfahrung, die alles Sagbare übersteigt, in ihrem Kern ist. Sie sprechen von Schweben und Flug, von Licht und Glanz, von Hauch, Fließen, Glut und Feuer – Bilder, die auf etwas hinweisen, das den ganzen Menschen im tiefsten Inneren durchflutet, durchströmt, durchstrahlt, durchglüht, mit Wonne erfüllt und auf eine unsagbare Weise sanft umhüllt. „Du kleidest dich mit meiner Seele, und du bist auch ihr innerstes Kleid“, heißt es bei Mechthild von Magdeburg. Bernhard von Clairvaux benutzt als Vergleich für seine mystische Erfahrung ein Wort des Paulus: „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17,28). Diese zärtlich einhüllende Berührung ist Zeichen der unmittelbaren Nähe Gottes, sie ist wie ein „Kuss“, ein „Gruß“, eine „geistliche Hochzeit“. Es ist die Erfahrung der Einigung ohne Aufhebung des Abstandes von Geschöpf und Schöpfer und ohne Auflösung des Ich, das von Gott in seinem Selbststand gewollt und geliebt ist. All-Einheitserfahrungen wie das „ozeanische Gefühl“, als Teil der Natur vollkommen aufgehoben zu sein, sind metaphysische Erfahrungen, die hinter dem in Vielheit und Räumlichkeit zerteilten Seienden einen alles durchwaltenden Seinsgrund erfassen. Darin enthüllt sich etwas, mit dem Gott allem Seienden Existenz verleiht, „eine vermittelnde Mitte zwischen
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Gott und den seienden Dingen“, die „Züge des göttlichen Seins an sich trägt“, aber nicht Gott selbst ist (Siewerth 44). Pantheistische und östliche Lehren bleiben bei der Erfahrung des Seinsgrundes stehen. Erlösung wird dann verstanden als das völlige Verschmelzen mit diesem Sein des Seienden, etwa durch Eingehen in das Nirwana beim Buddhismus oder durch Rückkehr in den Urgrund des Tao bei Laotse. Die christliche Mystik dagegen sucht die Begegnung mit dem personalen Gott selbst, der natürlich nicht naiv vermenschlicht zu denken ist, sondern analog, als eine liebende, wollende und erkennende absolute geistige Wirklichkeit, die ihren Grund allein in sich selbst hat und in der alles endliche Seiende gründet. Zielbild der christlichen Mystik ist die in liebender Hinwendung gnadenhaft geschenkte Erfahrung Gottes, nicht das Verlöschen des Bewusstseins: „Ja, es gibt Vereinigung des Menschen mit Gott – der Urtraum des Menschen –, aber diese Vereinigung ist nicht Verschmelzen, Untergehen im namenlosen Ozean des Göttlichen, sondern ist Einheit, die Liebe schafft, in der beide – Gott und der Mensch – sie selbst bleiben und doch ganz eins werden“ (Benedikt XVI., 2005, 18). Die Meister der Mystik bezeugen übereinstimmend, dass sie dies mit Gewissheit erfahren haben. Wir können ihre Zeugnisse nur als glaubwürdig annehmen, haben damit aber keinen Beweis im strengen Sinne. Christliche Philosophie und Theologie zeigen jedoch, dass mit der geistigen Natur der Seele und ihrer Gottesebenbildlichkeit die Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass Gott sich uns mitteilen kann. Scholastisch geprägte Theologen wie Meister Eckhart oder Bonaventura nennen den für Gottes Gegenwart empfänglichen Ort in der Seele den „Seelenfunken“, die „Seelenspitze“, den „Seelengrund“ oder den „Funken des Gewissens“ (Scintilla Synderesis). Teresa von Ávila spricht von der „innersten Mitte“ der Seelenburg. Und Paulus schreibt an die Korinther: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1 Kor 3,16). Aus der Perspektive des Glaubens muss ohnehin als sicher gelten, dass Gott sich uns mitteilen kann, wann immer er will. Für die Mystiker selbst ist das entscheidende Kriterium für die Echtheit einer mystischen Erfahrung, dass sich dadurch eine dauerhafte Umwandlung des ganzen Menschen zum Guten hin einstellt. Dazu gehört auch, dass er mit der Liebe, die er in der göttlichen Berührung erfahren hat, nicht in egoistischem Selbstgenuss bei sich bleibt, sondern mit tätiger Mitmenschlichkeit nach außen geht. Daher sind große Mystiker meist unermüdlich tätig, ohne ihr spirituelles Leben zu vernachlässigen. Vielmehr ziehen sie daraus die Kraft, selbst bei schwerer Krankheit und trotz unüberwindlich scheinender Hürden weiter tätig zu sein. Hans Urs von Balthasar bringt dies auf die knappe Formel: „Der Maßstab, an dem der Christ (der Mensch überhaupt) in Got-
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tes Gericht gemessen wird, ist seine Gottes- und Nächstenliebe und nicht der Grad seiner religiösen Erfahrung“ (2002, 68). Trotz einzelner aus neuplatonischem Denken und enthusiastischer Überschätzung der menschlichen Seelenkräfte geborener Fehldeutungen, etwa bei Meister Eckhart, ist der Hauptstrom der christlichen Mystik darin einig, dass wir Gott in diesem Leben nicht direkt und wesenhaft schauen können. Wir schauen ihn nur symbolhaft verschleiert, wie „durch einen Spiegel rätselhaft“ (1 Kor 13,12), so, wie es der begrenzten und leibgebundenen Natur unseres Geistes gemäß ist. Die Schau von „Angesicht zu Angesicht“ bleibt einem jenseitigen Leben vorbehalten, in diesem leiblichen wird uns in der mystischen Erfahrung nur„eine Art Anbruch der Seligkeit [geschenkt], welche hienieden beginnt, um in der Zukunft auf ihren Gipfel geführt zu werden“ (Thomas von Aquin 186). Sie kann nie vom Menschen selbst hervorgerufen werden, sondern erfordert immer Gottes herabneigendes Wirken, seine Gnade. Die Theologie spricht daher von „eingegossener Beschauung“. Allerdings können wir uns dafür vorbereiten und öffnen. Die Mystik beschreibt verschiedene Stufen der Vorbereitung, über die man bis zu einer tiefen Versenkung vordringen kann, der „erworbenen Beschauung“. Sie streift alles Ablenkende ab und macht bereit für die „eingegossene Beschauung“, die sie aber nicht willentlich hervorrufen kann (GarrigouLagrange). „Klopfen dürfen und sollen wir, aber unserem Klopfen nicht die magische Kraft zuschreiben, dass ihm das Aufgetanwerden notwendig entspricht“ (Balthasar 1995, 46). Der altüberlieferte Dreischritt des mystischen Weges aus „Reinigung, Erleuchtung und Einigung“ verdeutlicht, dass diese Vorbereitung mit einer Läuterung und Lebensumkehr beginnen muss – es gilt: „Selig, die ein reines Herz haben; denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8). Kern der mit der „eingegossenen Schau“ gegebenen mystischen Erfahrung ist allein die den Menschen ganz verwandelnde göttliche Berührung im Seelengrund. Wenn dabei Visionen und Ekstasen auftreten, von denen vor allem mittelalterliche Mystiker berichten, sind sie nur Begleiterscheinung. Auf den höheren Stufen der mystischen Erfahrung, sobald der gereifte Mystiker zu einer völlig in den Willen Gottes einstimmenden Gelassenheit gefunden hat, hören nach Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz die Visionen und Ekstasen auf. In der Regel sind die mit einer mystischen Erfahrung auftretenden Visionen „einbildlich“, das heißt, sie bilden sich ohne Beteiligung der körperlichen Sinne in unserer Vorstellung als „Ausstrahlung und Echo eines viel innerlicheren und geistigeren Vorgangs“, nämlich der göttlichen Einwirkung im Seelengrund (Rahner 1958, 56). Sind sie in diesem Sinne Abglanz des Göttlichen, können sie uns sinnbildlich auf
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tiefere Weise etwas davon mitteilen, als es die Begriffssprache der Theologie vermag. Allerdings sind ihre Bilder aus der Welt der körperlichen Wahrnehmung genommen, sodass sich dabei mitunter auch belanglose und falsche Vorstellungen aus den Tiefen des Gedächtnisses mit hineindrängen, die im überströmenden Glanz der mystischen Erfahrung leicht als göttliche Eingebung missdeutet werden können (Rahner 1958, 62 f.). Gerade die großen Mystiker empfehlen daher kritische Zurückhaltung und Nüchternheit gegenüber solchen Begleiterscheinungen. Die mystische Erfahrung selbst ist frei von Falschem oder Irreführendem, denn sie ereignet sich im Geistgrund, jenseits des Bildhaften der leibgebundenen Sinne, und ist direkt gottgewirkt, während Visionen nur ihr mittelbares Echo sind. Trotzdem ist auch die eigentliche mystische Erfahrung nicht unsinnlich und kann es nicht sein, da unsre leib-geistige Natur auf Vorstellungsbilder angewiesen ist, ohne die sie nichts erkennen kann (Thomas von Aquin 192). Die göttliche Gegenwart wird ihr daher mit einer analog zu verstehenden geistigen Sinnlichkeit gegeben, die in Entsprechung zu den Eindrücken der körperlichen Sinne gebildet ist. Die Mystiker sprechen von den „Augen und Ohren des inneren Menschen“ (Hildgard von Bingen) oder von den „Augen der Seele“ (Mechthild von Magdeburg). Schon der Psalmist verwendet das Bild vom „Schmecken“ Gottes. In den biblischen Schriften finden sich zahlreiche Hinweise auf diese innere geistliche Sinnlichkeit. Bereits Origenes, der große frühchristliche Theologe aus Alexandria, hat sie zur Lehre von den fünf „geistlichen Sinnen“ oder auch „Sinnen der Seele“ oder „Sinnen des Herzens“ zusammengefasst, die vielfach bestätigt wird durch die Zeugnisse der Mystiker (Marxer 59 ff.): Das Seelenauge sieht auf analoge geistige Weise „Licht“ und „Glanz“, das innere Gehör vernimmt Worte „nicht wie aus Menschenmund“ (Hildegard von Bingen), der innere Geschmackssinn verspürt eine „unbegreifliche Süßigkeit“ (Mechthild von Magdeburg), der innere Geruchssinn „einen lieblichen, himmlischen Duft“ (Seuse), der geistliche Tastsinn eine Berührung wie ein „Streicheln“ oder eine „Umarmung“ (Augustinus). Auch diese Vergleiche bleiben ein hilfloses „als ob“ vor dem Unsagbaren, denn tatsächlich ereignet sich „etwas viel Zarteres“ (Teresa von Ávila). Die Theologie bezeichnet solche geistigen Wahrnehmungen im Anschluss an Augustinus auch als bildlose „verstandesmäßige Visionen“. Dabei meint „bildlos“ nur das Fehlen visionärer Eindrücke aus der Welt der körperlichen Sinne, nicht das Zunichte-Werden der bewussten Individualität, andernfalls könnten wir nicht „seliger sein als ein Stein oder ein Stück Holz“, wie der flämische Mystiker Jan van Ruysbroek klarstellt. Die göttliche Berührung ereignet sich im Geistgrund, aber das Beseligende der mystischen Erfahrung erfüllt den ganzen Menschen,
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Literatur:
„bis es sogar den Leib erreicht“ (Teresa von Ávila). Von hier aus bestätigt sich noch einmal, dass die Verheißung der christlichen Mystik nicht Leere und Verlöschen ist, sondern überströmende Fülle, und zwar in einer ganzheitlichen leib-geistigen Weise, denn der Leib ist nicht Gefängnis der Seele, wie Platon und die Neuplatoniker (auch christlicher Prägung) meinten, sondern immer mit der Seele in Einheit zu denken. Dies muss auch den Weg der Mystik bestimmen: „Bedenkt man, dass die höchste Näherung des Glaubenden an Gott sich im eucharistischen Mysterium des hingegebenen Fleisches und Blutes Jesu vollzieht, so wird man alle Meditationsversuche, sich vom Leiblichen zum ‚Reingeistigen‘ zu ‚erheben‘, als dem christlichen Weg unangemessen ablehnen“ (Balthasar 1995, 23; vgl. auch Rahner 1958, 15 f.).
Balthasar, H. Urs von: Christlich meditieren. Freiburg, 1995. Balthasar, H. Urs von: Zur Ortsbestimmung christlicher Mystik. In: Beierwaltes, W.; H. Urs von Balthasar; A. M. Haas: Grundfragen der Mystik. Einsiedeln, 2002. Benedikt XVI.: Theologische Prinzipienlehre. München, 1982. Benedikt XVI.: Enzyklika „Deus Caritas Est“ (vom 25. Dezember 2005). Bonn, 2006. Berning, V.: Die Idee der Person in der Philosophie. Paderborn, 2007. Frankl, V. E.: Der Mensch auf der Suche nach Sinn. In: Ders.: Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Wien, 1975. Garrigou-Lagrange, R.: Mystik und christliche Vollendung. Bonn, 2004. Maritain, J.: Die Stufen des Wissens. Mainz, 1953. Marxer, F.: Die inneren geistlichen Sinne. Freiburg, 1963. Rahner, K.: Visionen und Prophezeiungen. Freiburg, 1958. Rahner, K.: Schriften zur Theologie. Bd. VII, Zürich, 1966. Siewerth, G.: Das Sein als Gleichnis Gottes. Heidelberg, 1958. Thomas von Aquin: Summa theologica. Bd. 23, Heidelberg – Graz, 1954.
Johannes Der Thron auf im Himmel Patmos Patm at Die Hö des Johannes auf Patmos im Ägäischen Meer
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er schlanke Bootskörper des „Hydrofoil“ hebt sich auf seinen Tragflächen fast ganz aus dem Wasser, während er in schneller Fahrt über den blauen Spiegel der Ägäis zu fliegen scheint. Es ist der „Bus“ der Inselbewohner, der im Pendelverkehr zwischen Kos und Samos auch die kleinen Inseln des Archipels des Dodekanes anläuft. Im Hafen von Kalimnos steigen Einheimische in Trauerkleidung zu, die in Leros bereits wieder aussteigen. Sie sind offenbar unterwegs, um einen Verwandten auf ihrer Nachbarinsel zu beerdigen. Gischt trübt die Sicht durch die Bullaugen. Kahle langgestreckte Bergrücken und Hügelketten gleiten vorbei, grau-braun mit rötlichen Einsprengseln. Hier und da leuchten in den Buchten blendend weiß die Häuser der Fischerdörfer. Weithin sichtbar sind die hellblauen Kuppeln der orthodoxen Kirchen und Kapellen. Die Terrassen der Fruchtgärten sind oft aufgegeben und der Erosion überlassen, sodass der karge, ausgelaugte Boden nur noch die Phrygana trägt, einen Pelz aus stacheligen Kräutern und Buschwerk mit harten ledrigen Blättern. Aus dem Dunst tauchen schemenhaft und unwirklich winzige vorgelagerte Inseln auf, manchmal von wenigen Weltflüchtigen bewohnt. Bei der Einfahrt in die Hafenbucht von Patmos verringert das Tragflächenboot seine Fahrt, und das dunkle Dröhnen der Maschinen geht in ein helles Summen über, während der Bootskörper wieder ins Wasser eintaucht. Der vielfach durch Buchten und felsige Kaps unterbrochene Küstenverlauf von Patmos ist wie eingeschmolzen in die metallisch blaue Fläche der Ägäis. Im Hafen liegt ein großes Kreuzfahrtschiff am Kai. Ziel der Landausflüge auf dieser heiligen Insel Griechenlands ist vor allem die Höhle, in der Johannes während seiner Verbannung auf Patmos in den Jahren 95 bis 96 Unterschlupf gefunden und das einzige prophetische Buch des Neuen Testaments ge-
Die Höhle der Apokalypse des Johannes auf Patmos
Der Thron im Himmel
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Abb. 1:
Der Hafen von Patmos, links vorne das Kloster der Apokalypse
schrieben hat, die Offenbarung oder Apokalypse, nach dem griechischen Wort für Enthüllung. Busse bringen die Gäste vom Hafenort Skala hinauf zum Kloster der Apokalypse, mit dem man die Höhle umbaut hat. Es liegt auf halber Höhe einer die Insel beherrschenden Anhöhe. Auf der Anhöhe thront trutzig der mächtige erdbraune Bau des 1088 von Christodoulos gegründeten Johannesklosters wie eine der Kreuzritterfestungen auf Kos oder Leros – umlagert vom Gassengewirr der Altstadt Chora, mit Treppen, winkeligen Durchgängen und weißen Häusern im byzantinischen Stil. Es ist die zweite Station der Inselbesichtigung, bevor die meist als Tagestouristen angereisten Gäste die Insel wieder verlassen. So ist Patmos noch überwiegend still und ursprünglich, anders als die großen Inseln mit Flugverbindung. Ganz ausweichen kann man dem Tourismus auf den alten, mit klobigen Felssteinen befestigten und überkrauteten Eselspfaden, die zum Kloster der Apokalypse und zum Johanneskloster führen. Wild und unwirtlich war die Insel, als man Johannes nach Patmos brachte, abseits und vergessen, ein Verbannungsort eben. Dabei lag sie nicht weit entfernt von den bedeutenden antiken Handels- und Verwaltungszentren an der kleinasiatischen Küste, wie Pergamon, Ephesus und Smyrna. Ganz Kleinasien, also die Halbinsel zwischen Schwarzem Meer und Mittelmeer, heute Gebiet der Türkei, war damals als Provinz Asia fest in das Römische Reich eingebunden. Paulus hatte hier in den fünfziger
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Jahren missioniert und ein Netzwerk christlicher Gemeinden begründet. Sie wurden Mitte der sechziger Jahre dann Rückzugsgebiet für die Judenchristen aus Jerusalem, deren Situation nach zunehmender Verfolgung unhaltbar geworden war. Um 62/63 war ihr Oberhaupt, der Apostel Jakobus der Jüngere, gesteinigt worden. Am Vorabend des jüdischen Krieges gegen die Römer (66 – 70) kam es zu antichristlichen Unruhen. Wie viele andere Judenchristen war Johannes unter diesem Verfolgungsdruck nach Kleinasien emigriert. Von der Provinzhauptstadt Ephesus aus hat er als einflussreicher Lehrer und Wanderprediger in der jungen christlichen Kirche Kleinasiens gewirkt. Ein schwieriges Umfeld, denn umherziehende Irrlehrer brachten Unruhe in die längst noch nicht gefestigten Gemeinden, und der Anpassungsdruck des heidnischen Umfeldes, gegen den sie sich behaupten mussten, war enorm. Zwar gab es noch keine massiven Christenverfolgungen, aber das christliche Verbot, neben dem einen und einzigen Gott auch Götzen zu verehren und Götzenopferfleisch zu essen, geriet zunehmend in Konflikt mit den allgegenwärtigen heidnischen Kulten. Heidnische Opferfeiern gehörten zum öffentlichen Leben der verschiedenen Zünfte und Berufsverbände. Christen konnten sich dem nur um den Preis gesellschaftlicher Isolierung entziehen (Müller 255). Rom war zudem bestrebt, die einheimischen Kulte der unterworfenen Provinzen mehr und mehr mit einem einheitlichen Reichskult zu überformen. Bereits Augustus (30 v. – 14 n. Chr.) war mit dem Beinamen „divus“ als göttlich verehrt worden und hatte einen Tempel in Pergamon. In Ephesus wurde unter der Herrschaft des römischen Kaisers Domitian (81 – 96), also während der Wirkungszeit des Johannes, der erste Tempel für einen lebenden Kaiser errichtet, vor dessen Standbild Opfer dargebracht werden mussten. Seit 86 forderte Domitian für sich die Anrede „Herr und Gott“. Das mit dem Kaiserkult neu entstandene Priestertum und die alten Kulte wachten eifersüchtig darüber, dass ihnen keine Konkurrenz entstand. Schon Paulus musste Ephesus verlassen, weil ein Silberschmied, der kleine Abbildungen des Tempels der Artemis herstellte, die Andenkenhändler zu einem Aufruhr gegen ihn aufgehetzt hatte, der auf die ganze Stadt übergriff (Apg 19,21 – 40). Klar sah man natürlich, dass die blühenden Geschäfte rund um das bedeutende Artemisheiligtum zum Erliegen kämen, wenn der christliche Glaube sich durchsetzen würde. Festigkeit in der Haltung war also überlebenswichtig für die christlichen Gemeinden. So ist der große „Alte“ (2 Joh 1), wie man Johannes in den Gemeinden nannte, sicher vorbildhaft vorangegangen und entweder wegen seiner Predigt gegen den Artemiskult oder wegen seines Widerstandes gegen die Kaiserverehrung nach Patmos verbannt worden.
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Auf der dünn besiedelten Insel gab ihm die Höhle Schutz vor der Sonne und den Unbilden des Winters – dürftigen Schutz, denn eigentlich ist sie nur eine Grotte unter überhängendem Fels. Nach alter Überlieferung war sein Schüler Prochoros bei ihm, einer der sieben Diakone, die noch von den Aposteln eingesetzt worden waren (Apg 6,1 – 7). Ungewiss über das Schicksal der christlichen Gemeinden, denen seine ganze Sorge galt, und bedrückt durch die dunkel heraufziehende Zukunft mit einem sich verschärfenden Kaiserkult und drohenden Christenverfolgungen, wird er manches Mal in Gedanken versunken am Rande der Grotte gesessen haben, während Prochoros das Feuer schürte und eine karge Mahlzeit beAbb. 2: Johannes und Prochoros, Cod. Theol. Konreitete. Der Anblick der herben unstantinopel (?), 1. Hälfte des 14. Jh. wirtlichen Natur war wenig trostreich. Die bizarren, fliegenden Wolken mögen dem Sinnenden bald als Untiere und Fabelwesen erschienen sein, bald als anstürmende Reiterheere der Parther, die damals immer wieder aus der Tiefe des Zweistromlandes nach Kleinasien vorstießen. Im irisierenden Licht, silbrig und gleißend, schien es ihm wohl, als glühe die See und sprühe Funken – wie eine bedrohliche Pforte der Hölle, aus der unheimliche Wesen aufsteigen konnten. Dabei wanderte sein Blick sicher weit hinaus zum Horizont, wo vor der Küste von Patmos das Blau des Meeres und des Himmels aneinanderstoßen und kaum unterscheidbar ineinanderfließen. Dort liegt eine kahle Felseninsel im verlorenen Nichts der sich dehnenden See, als schwebe sie. Hier vielleicht öffnete sich für den hochempfindsamen Geist plötzlich wie durch einen Spalt die Sicht auf eine andere Welt der Visionen und Auditionen – nicht mit den äußeren, sondern mit den inneren Augen der Seele geschaut, mit dem inneren Gehör empfangen. In der Offenbarung des Johannes heißt es dazu: „Am Tag des Herrn wurde ich vom Geist ergriffen und hörte hinter mir eine Stimme, laut wie eine Posaune“, und: „Danach sah ich: Eine Tür war geöffnet am Himmel“ (Offb 1,10; 4,1). Vor ihm stand nicht mehr
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die im Dunst scheinbar schwebende Insel, sondern ein „Thron im Himmel“, davor ein „gläsernes Meer, gleich Kristall“ (Offb 4,1 – 6). Die ganze Welt schien sich zusammenzuziehen zu einem Punkt, dem inneren Auge des Johannes in seiner Grotte – der Himmel und die endlose See als grandiose Bühne für seine Visionen. Ein ungeheueres Szenario tat sich vor Johannes auf, nicht weniger als die letzten Tage, das große Gericht und die Herabkunft des himmlischen Jerusalem, der von Gott ganz verwandelten Welt – „Seht, ich mache alles neu“ (Offb 21,5). Die überwältigende Wucht der Schauung warf ihn zu Boden. Verschlüsselt in fremdartigen Bildern rollen dann die endzeitlichen Geschehnisse vor seinem geistigen Auge ab. Er sieht Christus selbst, der ihm die Hand auflegt, um ihn ins Leben zurückzuholen, denn Johannes soll aufschreiben, was er sieht, „was ist und was danach geschehen wird“ (Offb 1,19). Ganz verklärt, in kaum erträglichem Glanz und Tönen erscheint er: „Sein Haupt und seine Haare waren weiß wie weiße Wolle, leuchtend weiß wie Schnee, und seine Augen wie Feuerflammen; seine Beine glänzten wie Golderz, das im Schmelzofen glüht, und seine Stimme war wie das Rauschen von Wassermassen. In seiner Rechten hielt er sieben Sterne, und aus seinem Mund kam ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Gesicht leuchtete wie die machtvoll strahlende Sonne“ (Offb 1,14 – 16). Immerfort geht es so weiter mit Tönen und Jubilieren, mit überströmendem Glanz und prachtvollem Schimmern. Unübersehbar sind die Scharen der Engel und Erlösten, die dem Herrn ihren Lobpreis singen „wie das Rollen mächtiger Donner“ (Offb 19,6). Die dunklen, bedrohlichen Mächte kommen dagegen nicht auf. Über allem, auf dem Thron im Himmel, regiert ja der göttliche Allherrscher, umgeben von einem Leuchten wie „ein Jaspis und ein Karneol“. Ihm, der alles Seiende trägt und erhält, kann nichts widerstehen. „Der überall durchbrechende Glanz verbürgt“ die Erfüllung des verheißenen „ewigen Gottessinnes“ (Guardini 635 f.). Das Böse hat keine eigene Wirklichkeit, und doch sind die Bilder, die Johannes schaut, zunächst furchtbar und beängstigend. Das Buch mit den letzten Geheimnissen wird Christus übergeben, der in Gestalt eines Lammes erscheint, das aussieht „wie geschlachtet“ (Offb 5,6). Nur das Lamm, das den Tod auf sich genommen hat und „die Sünde der Welt hinwegnimmt“ (Joh 1,29), kann die sieben Siegel des Buches lösen und damit die Geschichte und die Schöpfung erfüllen. Mit dem Lösen der Siegel setzt das Lamm die endzeitlichen Geschehnisse in Gang, die wie Geburtswehen, wie ein reinigendes, heilendes Fieber vor der großen endgültigen Verwandlung über die Welt hereinbrechen, begleitet von einem letzten Aufbäumen des Bösen. Kaum sind die ersten vier Siegel erbrochen, stürmen apokalyptische Reiter
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über die Welt. Sie haben die freigesetzte Unterwelt in ihrem Gefolge und bringen Tod und Verderben. Aber schon mit dem Öffnen des fünften und sechsten Siegels zeigt sich, dass Gott seine Liebe nicht zurücknimmt. Johannes sieht die Seelen der Märtyrer nahe bei Gott und mit einem weißen Mantel bekleidet als Zeichen ihrer Verklärung. Aber auch alle anderen, die sich nicht selbst von Gott losreißen, werden von einem Engel mit dem „Siegel des lebendigen Gottes“ gezeichnet, damit ihnen die bevorstehenden endzeitlichen Schrecknisse nichts anhaben können. Unübersehbare Scharen „aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen“ stehen mit Palmzweigen in den Händen vor dem Thron und dem Lamm und rufen: „Die Rettung kommt von unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und von dem Lamm“ (Offb 7,9 – 10). Auch sie sind nicht geschützt vor den irdischen Prüfungen und Leiden, im Gegenteil, wenn sie standhaft bleiben, werden sie schlimmen Verfolgungen ausgesetzt sein. Johannes hat hier die zahlreichen Märtyrer vor Augen, die in der jungen Kirche bereits zu beklagen waren. Aber sie sind geschützt vor dem endgültigen Tod der ewigen Gottesferne, der in den Plagen und Schrecken der Endzeit versinnbildlicht ist. Unendliche Tröstung wird denen zuteil, die gelitten haben. Gott nimmt sie in seine besondere Fürsorge, und „das Lamm in der Mitte vor dem Thron wird sie weiden und zu den Quellen führen, aus denen das Wasser des Lebens strömt, und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen“ (Offb 7,17). Noch während das geschieht, bebt die Erde, und unheimliche Zeichen am Himmel kündigen die sich weiter steigernden Schrecken an. Die Sonne wird schwarz und der Mond färbt sich blutrot. Als das Lamm das siebte und letzte Siegel öffnet, fällt eine lange Stille, als seufze die Schöpfung noch einmal tief und schwer unter all ihren Lasten, bevor sie durch die endgültige schmerzhafte Verwandlung hindurchgehen muss. Was dann kommt, ist wie ein Albtraum. Unablässig folgt Plage auf Plage, sich wiederholend und dabei steigernd zu Katastrophen unvorstellbaren Ausmaßes – durch Engel mit Posaunen angekündigt und aus goldenen Schalen über der Welt ausgegossen. Hagel peitscht das Land, und Feuer verbrennt es. Ein brennender Berg und lodernde Sterne stürzen ins Meer. Sonne und Mond verfinstern sich. Ein grausames Heer riesiger Heuschrecken wie unheimliche Kampfmaschinen steigt aus einem rauchenden Schacht aus der Erde auf und fällt über die Welt her. Sie „sehen aus wie Rosse, die zur Schlacht gerüstet sind; auf ihren Köpfen tragen sie etwas, das goldschimmernden Kränzen gleicht, und ihre Gesichter sind wie Gesichter von Menschen, ihr Haar ist wie Frauenhaar, ihr Gebiss wie ein Löwengebiss, ihre Brust wie ein eiserner Panzer; und das Rauschen ihrer Flügel ist wie das Dröhnen von Wagen, von vielen Pferden, die sich in die Schlacht stürzen“
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(Offb 9,7 – 9). Schon zeigt sich nach dem Schall der siebten Posaune tröstlich der „Tempel Gottes im Himmel“, da erheben sich noch einmal die Mächte des Bösen mit fürchterlicher Gewalt, denn ihnen bleibt „nur noch eine kurze Frist“. Am Himmel erscheint ein riesiger Drache. Es ist Satan selbst. Er verfolgt „eine Frau, mit der Sonne bekleidet“, das Sinnbild der Kirche und des Gottesvolkes. Im Kampf mit den guten Mächten des Himmels unterliegt er und wird auf die Erde gestürzt. Mit nicht nachlassender Wut gegen Gott und sein Volk ruft er aus dem Meer ein schreckliches Tier „mit zehn Hörnern und sieben Köpfen“ hervor und überträgt ihm seine Macht (Offb 13,1). Damit schafft er ein lasterhaftes Gegenbild zu Christus, das selbst dessen Tod und Auferstehung in grotesker Weise nachahmt, denn es lebt, obwohl es an einem seiner Köpfe eine tödliche Wunde hat. Dieser Antichrist wiederum erhält mit einem weiteren Tier, das aus der Erde aufsteigt, ein Sprachrohr, das die Menschen dazu bringt, ihn zu verehren und von Gott abzufallen – ein verzerrtes Gegenbild des Heiligen Geistes. Es vergreift sich selbst an den Grundfesten der Seinsordnung. Unheimlich und jede Seinssicherheit zerstörend ist es, wenn das Standbild des Antichristen, das vom Tier aus der Erde für die Menschen errichtet wurde, lebendig wird, spricht und alle tötet, die es nicht anbeten. Zwar sind im Tier aus dem Meer und aus der Erde auch verschlüsselte Hinweise auf das Römische Reich und die Propagandisten des Kaiserkultes zu sehen, zugleich und vor allem aber sind sie für Johannes die Verkörperung der zeitlosen und universellen widergöttlichen Kräfte der Verneinung. So haben sie eben keinen menschlichen Leib wie Christus, sondern nur eine ekelhaft verformte Schreckgestalt. Die Wunde des Untieres etwa ist nicht menschlich, also nicht wirklich Wunde, und schließt sich auf dämonische Weise. Nur zu einem flüchtigen Aufbäumen gegen Gott ist diese satanische Gegen-Trinität fähig, sie hat keinen Bestand, und die letzte große Schlacht gegen Gott, zu der sie ihre Anhänger auf dem Schlachtfeld von Harmagedon versammelt, ist von vornherein verloren. Christus zieht auf einem weißen Pferd gegen sie zu Felde. „Seine Augen waren wie Feuerflammen, und auf dem Haupt trug er viele Diademe; und auf ihm stand ein Name, den er allein kennt. Bekleidet war er mit einem blutgetränkten Gewand, und sein Name heißt ‚Das Wort Gottes‘“ (Offb 19,12 – 13). Er stößt das Böse zurück ins Nichts – in „einen See von brennendem Schwefel“, wie das Bild der Apokalypse dafür lautet. Gerettet sind diejenigen, die trotz aller Prüfungen standhaft geblieben sind und sich nicht von Gott losgerissen haben. Johannes sieht sie schon in einem der Welt entrückten Zustand, auf „etwas, das einem gläsernen Meer“ gleicht. Auf dem Berg Zion versammelt das Lamm alle, die mit dem Zeichen Gottes gesiegelt sind. Ihnen wird „von dem ver-
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borgenen Manna gegeben“, und sie erhalten einen weißen Stein, „und auf dem Stein steht ein neuer Name, den nur der kennt, der ihn empfängt“ (Offb 2,17). Er ist das Zeichen der einmaligen personalen Beziehung zu Gott, in der jeder Einzelne für immer aufgehoben ist. Nur diejenigen, die bis zuletzt das verhärtete „Dennoch“ sprechen, mit dem sie sich von Gott ab- und dem Bösen zuwenden, fallen nach dem großen Gericht, das alle „nach ihren Werken richtet“ (Offb 20,12), in das Nichts der endgültigen Gottesferne. Sie kündigt sich an in den „schlimmen Geschwüren“ (Offb 16,2), die sie zersetzen, wie das Böse sich schließlich selbst zersetzt und aufhebt, denn es hat keinen eigenen Seinsgrund, es ist nur ein dunkles, saugendes Nichts (vgl. Balthasar 84). Endlich bricht dann der überströmende Glanz wieder so machtvoll hervor, dass ihn Johannes nur mühsam in Worte fassen kann. Es ist das Bild der großen Verheißung: ein „neuer Himmel und eine neue Erde“, die er „als heilige Stadt“, als das „neue Jerusalem“ vom Himmel herabschweben sieht. Alles ist unfassbar herrlich und von ungeheuren Dimensionen, es glänzt von Edelsteinen und Kostbarkeiten. Das Böse ist ausgetilgt, Tod und Trauer gibt es nicht mehr, und Gott gewährt seine unmittelbare Nähe. Er schenkt sich im „Wasser des Lebens, klar wie Kristall“, das wie ein Strom von seinem Thron und dem des Lammes ausgeht (Offb 22,1). Prochoros wird erschreckt gewesen sein über den Zustand seines Meisters, der mit leerem, nach innen gekehrtem Blick entrückt dasaß und auf seine Ansprache nicht reagierte. Als Johannes endlich benommen in diese Welt zurückgekehrt war, wusste er, dass er das Geschaute seinen Gemeinden mitteilen musste. „Schreib auf, was ich gesehen habe“, wird er zu Prochoros gesagt haben, wie es auch ihm die Stimme aufgetragen hatte. Johannes hat der Visionsaufzeichnung sieben Briefe an Gemeinden in Kleinasien vorangestellt. Stellvertretend für die gesamte Kirche mahnt er die Gemeinden darin, das von ihm Geschaute ernst zu nehmen und von den Irrwegen abzulassen, auf die er jeweils sehr konkret eingeht, denn er kannte die Gemeinden ja genau. Und er spricht ihnen in ihrer Bedrängnis Trost zu mit den Worten der großen Verheißung, die er selbst in seiner Schau aus dem Mund Christi gehört hat: „Wer siegt, dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens, der im Paradies Gottes steht“ (Offb 2,7). Heute ist die Höhle auf Patmos ein Hauptheiligtum der orthodoxen Kirche. Wer hier Johannes näherkommen will, sollte zunächst wie er zu Fuß hinaufgehen. Der alte Eselspfad führt durch das wilde Gestrüpp der Phrygana, das zwischen Felsgeröll und roh gefügten Trockenmauern wuchert. Die letzte Wegstrecke liegt im Schatten hoher Eukalyptusbäume
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und Pinien, die von Besuchern und Schülern der im 18. Jahrhundert gegründeten theologischen Hochschule angepflanzt worden sind. Das Gebäude der Hochschule, die während der türkischen Herrschaft als geistiges Zentrum zur Bewahrung der griechischen Kultur beigetragen hat, ist unweit des Apokalypseklosters in den Hang gebaut. Dunkle Zypressen säumen die Zufahrt zum Kloster. Seitlich parken Reisebusse. Eine Gruppe ukrainisch-orthodoxer Pilger aus Kanada, begleitet von Priestern und Diakonen in dunklen Gewändern, unter denen Sportschuhe hervorschauen, wird auf den Besuch der Grotte eingestimmt: „Take your time, it is 45 steps down.“ Ein winkeliges Treppenhaus mit Ausblicken über die Hafenbucht und den Küstenverlauf führt hinunter zu der als Kapelle eingerichteten Höhle der Apokalypse. Die Kapelle Ajia Anna schließt die Grotte, die zum Meer hin geöffnet war, nach vorne ab und bildet mit ihr zusammen eine kleine Doppelkirche. Nur wenige Schritte tief ist die halbdunkle Grotte im Fels, deren Zugang von einer tief herunterhängenden Wulst verengt wird. Der graue Stein ist voller Schrunden und Risse. Geheimnisvoll schimmern die Ikonen im Kerzenlicht. Ein unruhiges Schieben und Rücken entsteht, als die kanadische Gruppe den engen Raum betritt. Ihr Führer liest aus der Apokalypse die Abschnitte der sogenannten Beauftragungsvision vor, die auf der Ikonostase, der dreitürigen Bilderwand vor dem Altar, dargestellt ist. Die mehrfach wiederholten, weit ausholenden Kreuzzeichen der orthodoxen Pilger, die den Raum wieder verlassen, verschwimmen zu einer kreisenden Bewegung. Nachdem die Gruppe abgerückt ist, wird es still. Nur der helle Gesang eines Vogels draußen vor dem Fenster der Kapelle ist zu hören, während wir die Ikone mit der Beauftragungsvision betrachten. Der ganz menschlich, auf einer Wolke schwebend dargestellte Christus kann den unwirklichen, überströmenden Glanz nur andeuten, von dem die Offenbarung berichtet. Zwei Vertiefungen im Fels der Grotte hat man ehrfurchtsvoll mit Silber eingefasst. In die größere in Bodennähe soll Johannes beim Schlafen seinen Kopf gelegt haben, die zweite soll er als Griffmulde genutzt haben, wenn er aufstehen wollte. Ein Vorsprung an der hinteren Felswand hat Prochoros nach der Überlieferung als Schreibpult gedient. In den orthodoxen Klöstern auf Patmos verehrt man im Johannes der Offenbarung nach altkirchlicher Tradition den Apostel Johannes, der von Jesus als einer der Ersten in seine Nachfolge berufen wurde. Er war Fischer wie sein Vater Zebedäus und sein Bruder Jakobus der Ältere, der mit Johannes zusammen Jünger Jesu wurde (Mk 1,19). Die alte Kirche hat in ihm den Autor der sogenannten johanneischen Schriften gesehen, also des Johannesevangeliums, der drei Johannesbriefe und auch der Offenbarung. Inzwischen gibt es begründete Zweifel daran: Insbesondere das Jo-
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hannesevangelium zeigt eine hohe Bildung, die dem Fischer Johannes kaum zugetraut werden kann. Der Prolog hat mit seiner Botschaft vom „Wort, das Fleisch geworden“ ist, die Christuslehre der jungen Kirche auf einen spirituellen Höhepunkt geführt. Und es gibt Hinweise, dass der Apostel Johannes wie sein Bruder Jakobus der Ältere bereits früh den Märtyrertod gestorben ist. Wer aber war dann der Autor der johanneischen Schriften? Sicher scheint zu sein, dass er ein theologisch gebildeter Aristokrat judenchristlicher Herkunft war. Es könnte sich um einen Juden aus hochstehendem Haus mit Beziehungen zur Priesterschaft gehandelt haben, der als junger Mann dem Kreis um Jesus angehörte hatte. Das Evangelium nennt nicht den Namen des Autors, es spricht aber mehrfach von einem Jünger, „den Jesus liebte“ und „der all das bezeugt und aufgeschrieben hat“ (Joh 21,24). Wie Maler zuweilen ihr Selbstportrait in einer Figur des Gemäldes verbergen, könnte Johannes 18,15 – 16 ein versteckter Hinweis auf die Identität des Autors sein. Dort wird berichtet, dass Petrus sich nach der Gefangennahme Jesu Einlass in den Hof des hohepriesterlichen Palastes verschaffen konnte. Dabei bediente er sich der Hilfe eines Jüngers, der mit dem Hohenpriester persönlich bekannt war, also aus eben den Kreisen stammte, zu denen der Autor offenbar gehörte (Hengel 307 ff.). Mit der Fluchtwelle der Judenchristen in den sechziger Jahren ist dieser Jünger wahrscheinlich nach Kleinasien gekommen und hat dort als anerkannte Autorität vierzig Jahre lang in Ephesus gewirkt und eine eigene theologische Schule gegründet. Sein großer Einfluss stützte sich zum einen auf seine hohe theologische Bildung und zum anderen darauf, dass er als sehr junger Mann Jesus nachgefolgt war. Für die Tätigkeit eines solchen Lehrers und Wanderpredigers Johannes, der nicht mit dem gleichnamigen Apostel identisch ist, gibt es Belege in Fragmenten der Schriften des Papias von Hierapolis, der im ersten Drittel des zweiten Jahrhunderts als Bischof der jungen christlichen Kirche gewirkt und die verstreute Überlieferung aus der Jüngerzeit gesammelt hat. In seiner Vorrede nennt er als eine der Quellen einen noch lebenden Johannes, den er als den „Alten“ und als „des Herrn Jünger“ bezeichnet, aber deutlich vom Apostel Johannes unterscheidet (Papias 1070). Der Absender der Johannesbriefe nennt sich selbst „der Alte“, und das Johannesevangelium stammt mit großer Sicherheit auch aus der Feder dieses „Alten“ (Hengel 318 – 325). Bestritten wird heute dagegen, dass er die Offenbarung verfasst haben könnte. Trotz auffälliger Übereinstimmung in Bildern wie etwa dem vom „Wasser des Lebens“ seien die Unterschiede im Stil zu gravierend (Frey). Man könne höchstens von einem Schulzusammenhang sprechen. Das semitisch geprägte und unbeholfene Griechisch der Offenbarung sei untypisch für den Autor des Evangeliums.
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Gerade der semitisch geprägte Stil könnte aber für die Autorschaft des „Alten“ sprechen, denn die textvergleichenden Analysen gehen von der griechischen Fassung aus. Vergessen wird dabei, dass die Offenbarung in ihrer Urversion kein am Schreibtisch durchkomponiertes Werk war wie das Johannes-Evangelium, das eine über Jahrzehnte ausgebildete Lehrtradition zusammengefasst hat. Die Offenbarung ist in der seelischen Ausnahmesituation der Verbannung entstanden und unter dem überwältigenden Eindruck der Schauung, atemlos und benommen, stammelnd und nach Worten suchend. Es ist möglich, dass diese ersten Diktate oder Notizen in der hebräischen oder aramäischen Muttersprache des Johannes erfolgt sind. Die vielen alttestamentlichen Anklänge dabei werden dem schriftgelehrten Alten aus den Tiefen der geistigen Sehkraft zugeflossen sein, wie er sie tausendfach gehört und gelesen hat beim unablässigen Schriftstudium, und zwar in Hebräisch. Beim Ringen um Worte für das Unsagbare hilft am ehesten die Muttersprache. So wissen wir etwa, dass auch die syrische Baruchapokalypse ursprünglich in Hebräisch verfasst wurde (Giesen 13). Vielleicht hat Prochoros noch auf Patmos eine Übersetzung angefertigt, dabei dicht am ursprünglichen Atem des mündlichen Hebräisch seines Meisters bleibend, denn nicht umsonst heißt es im Schlussabschnitt der Offenbarung: „Wer etwas hinzufügt, dem wird Gott die Plagen zufügen, von denen in diesem Buch geschrieben steht“ (Offb 22,18). Später mag dann eine behutsame Überarbeitung der ursprünglichen Fassung von zweiter Hand im Sinne der Lehrtradition des Alten vorgenommen worden sein. In den Klöstern auf Patmos jedenfalls pflegt man die altkirchliche Tradition mit ihrem reichen Schatz an Legenden, die sich um den Aufenthalt des Johannes auf Patmos ranken und in ihm den Apostel Johannes sehen. Neben dem Apokalypsekloster ist das auf der Anhöhe oberhalb des Hafens gelegene Johanneskloster Hauptort seiner Verehrung. Am Aufgang zum Kloster, der durch die Gassen der Altstadt Chora führt, verkaufen Souvenirgeschäfte Ikonen, Weihrauch mit den dazugehörigen Räuchergefäßen und andere Devotionalien. Die Mittagshitze lastet auf dem zinnenbekrönten, wehrhaften Kloster, dessen hohe Mauern Schutz vor Seeräubern bieten sollten. Die Säulenarkaden im Innenhof spenden wohltuenden Schatten. Von hier aus lässt sich das Labyrinth der Treppenaufgänge, Kapellen, Umgänge und Arkaden des mächtigen Baus erschließen. Aus halbdunklen Gewölbehallen tritt man mitunter auf Dachterrassen, wo das gleißende Licht harte Schatten zeichnet. Im Katholikon, der Hauptkirche, hängt ein Hauch von Weihrauch, der reichlich Anwendung findet in der orthodoxen Liturgie. Die große geschnitzte Ikonostase schimmert golden,
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und an den Wänden drängen sich die verwitterten Fresken und Ikonen, meist in warmen Erdtönen gemalt, von denen sich das satte Gold der Heiligenscheine abhebt. Immer wieder ist Johannes dargestellt, in der Höhle mit Prochoros oder in Szenen aus den apokryphen Legenden. Beliebt ist die Geschichte von der Errettung des Seemannes, der bei einem Sturm während der Überfahrt von Ephesus nach Patmos über Bord gegangen war und nach dem Kreuzzeichen des Johannes von einer Welle wieder zurück auf das Schiff geworfen worden sei. Altes märchenhaftes Erzählgut ist seine Rivalität mit dem bösen Zauberer Kynops, den er schließlich besiegt und durch ein Kreuzzeichen in Stein verwandelt habe. Lohnend ist ein Besuch des Klostermuseums mit seiner Sammlung alter Ikonen, sakraler Kunst und kostbarer Handschriften. Nach der Ermordung des Kaisers Domitian im Jahre 96 konnte Johannes seinen Verbannungsort Patmos wieder verlassen. In Ephesus hat der Betagte durch die Ausstrahlung seiner Autorität weiter gewirkt. Zum Schluss soll er kaum noch gesprochen haben. Hatte er wie Thomas von Aquin, der auch nach einer überwältigenden spirituellen Erfahrung die Schreibfeder für immer beiseite gelegt hat, erkannt, dass alles Gesagte Spreu bleiben muss im Vergleich zu dem, was er auf Patmos geschaut hatte? Um 100 ist „der Alte“ als der letzte Jünger Jesu gestorben. Manche Kommentatoren der Offenbarung scheinen nicht mehr viel zu spüren von der ursprünglichen Wucht der Schauung, die Johannes kaum ertragen konnte. Sie suchen hinter dem Text vor allem altorientalische Überlieferungen, astralmythologische Bezüge und Parallelen zu den Schriften des Alten Testamentes wie etwa dem apokalyptischen Buch Daniel. Unter ihrer textkritischen Arbeit verlieren sie den Bezug zur visionären Tiefe der Bilder und ihrer zeitlosen Bedeutung. Es scheint ihnen kaum noch akzeptabel zu sein, dass die Bilder der Offenbarung unmittelbar geschaut sind, sie sehen eher einen Autor am Werk, der aus dem Traditionsgut schöpferisch seinen Text zusammengestellt hat. Unstreitig ist, dass zeitgeschichtliche Bezüge, wie etwa der Kaiserkult, und alttestamentliche Parallelen deutlich im Text erkennbar sind. Die mit einer mystischen Erfahrung verbundenen Visionen müssen sich vor dem allgemeinen Erfahrungshintergrund des Sehers ereignen. Er fließt notwendig mit ein in die visionäre Bild- und Tonwelt und gibt ihr Körper und Form. Die alttestamentliche Überlieferung etwa war dem schriftkundigen Johannes von Kind an vertraut. Ein kleiner Anstoß genügte dem Hochempfindsamen, um die inneren Bilder auszulösen, die dann mit überwältigender Kraft und Plastizität auf ihn einströmten, dabei die Zeitsituation, die großen Bilder aus dem Buch Daniel und anderes vertrautes Traditionsgut mit hinein-
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formend. Auch die herbe Natur auf Patmos wird ihr Bild- und Tonmaterial mitgeliefert haben: das Rauschen des Wassers in den Felsspalten der Grotte, der Widerhall des Donners, der gleißende Meersspiegel und die scheinbar schwebende Felseninsel draußen vor der Küste. Dem Reisenden auf Patmos liegt vor Augen, wo sich für den Seher die „Tür im Himmel“ geöffnet haben könnte und dass der „Thron im Himmel“ und das „gläserne Meer“ ihr reales Gegenbild haben. Die Natur auf Patmos hat schon immer die Fantasie der Menschen angeregt. Nach alter Volksüberlieferung etwa soll ein im Meer aufragender bizarrer Fels ein Piratenschiff gewesen sein, das der heilige Christodoulos, der Gründer des Johannesklosters, in Stein verwandelt hat (Chatzifotis 122). Aber dies alles ist nur Material im Geist des wirklichen Mystikers, aus dem sich in seinem Innersten etwas unerhörtes Neues formt, dessen Kern die gottgewirkte eingegossene Schau ist. Die Offenbarung des Johannes hat wie kaum ein anderes Buch die Menschen an- und aufgeregt. Große Kunstwerke nehmen ihre fantastische Bildwelt auf, wie etwa die Bamberger Apokalypse, eine Bibelhandschrift mit ottonischer Buchmalerei aus dem Jahre 1020, oder die fünfzehn Holzschnitte Dürers aus dem Jahre 1498. Obskure Sekten suchten in den Endzeitvisionen die Bestätigung für ihre Weltuntergangserwartung. Interessierte Theologen deuteten die Bilder des Sehers in ganz zeitgeschichtlichem Sinne gegen ihre Gegner aus. Auf protestantischer Seite etwa wurde im 16. und 17. Jahrhundert der Antichrist mit dem Papst identifiziert, auf katholischer sah man ohne Mühe im herabstürzenden Stern den Erzgegner Martin Luther (Böcher). Für uns heute kann dieses einzige prophetische Buch des Neuen Testamentes wieder die Trostbotschaft werden, die Johannes den sieben Gemeinden und der ganzen Kirche aller Zeiten übermitteln wollte (Guardini 574, Balthasar 102). Sie verbürgt die große letzte Verwandlung der Welt zum Guten: „Seht, ich mache alles neu“ (Offb 21,5), und den wahren und endgültigen Sinn für jeden Einzelnen: „Wer durstig ist, der komme. Wer will, empfange umsonst das Wasser des Lebens“ (Offb 22,17). Zugleich ist es ein Mahnbuch von bleibender Aktualität. Es macht deutlich, dass unser Leben Herausforderung ist und verfehlt werden kann, dass die Götzen – damals wie heute vor allem das „Goldene Kalb“ – uns vom Eigentlichen abziehen, auf das es ankommt. Johannes zeigt uns, dass die verzerrte Fratze des Bösen letztlich keinen Bestand haben kann. Wer beherzigt, was Johannes den Gemeinden und uns aufgetragen hat, nämlich: „Wer Ohren hat, der höre“, kann die „himmlische Liturgie“ (Balthasar 120 ff.) der Offenbarung erfassen und nachvollziehen, was Guardini in unnachahmlicher Weise darlegt: „In der Apokalypse waltet etwas Unendliches; es braust, drängt, steigt auf. Unendliches Leben drängt
Die Höhle der Apokalypse des Johannes auf Patmos
Praktische Hinweise:
herein, ewiges Leben, wird von dem endlichen Leben in der Zeit empfunden und von seiner Sehnsucht gerufen. Heiliges, aus Gott kommendes Leben“ (638). Der Geist der orthodoxen Spiritualität lässt sich auf Patmos auch in zahlreichen weiteren Klöstern und Einsiedeleien erfahren, etwa in der kleinen Einsiedelei Profitis Ilias. Der burgige Bau auf einer felsigen Kuppe mit weitem Blick über Meer und Insel umschließt hinter hohen weißen Mauern eine 1764 vom Mönch Neofitos Simiakos erbaute Kapelle. Mit dem Aufenthalt des Johannes auf der Insel wird auch eine als „Baptisterium des Johannes“ bezeichnete Höhle in Verbindung gebracht, in der er getauft haben soll. Tatsächlich wurden dort Reste einer frühchristlichen Basilika nachgewiesen.
Höhle der Apokalypse: an der Straße vom Hafenort Skala nach Chora.
Literatur:
Der Thron im Himmel
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Apokalypse – Offenbarung des Johannes, zitiert nach der Einheitsübersetzung. Balthasar, H. Urs von: Das Buch des Lammes. Zur Offenbarung des Johannes. Freiburg, 2004. Böcher, O.: Die Johannes-Apokalypse. Darmstadt, 1988. Chatzifotis, I. M. (Red.): Patmos – die heilige Insel der Ägäis. Athen, 1996. Frey, J.: Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften im Corpus Johanneum. In: Hengel, M.: Die johanneische Frage. Tübingen, 1993. Giesen, H.: Johannes-Apokalypse. Stuttgart, 2002. Guardini, R.: Der Herr – Betrachtungen über die Person und das Leben Jesu Christi. Würzburg, 1951. Hengel, M.: Die johanneische Frage – Ein Lösungsversuch. Tübingen, 1993. Koch, K.; J. M. Schmidt (Hrsg.): Apokalyptik. Darmstadt, 1982. Müller, U. B.: Die Offenbarung des Johannes. Würzburg, 1984. Papias: Fragmente. In: Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von K. Berger und Chr. Nord, Frankfurt a. M. und Leipzig, 2005.
Johannes-Kloster: nicht zu übersehen inmitten der weißen Häuser von Chora auf der hinter dem Hafenort Skala ansteigenden Anhöhe. Baptisterium des Johannes: an der Straße von Chora nach Grikos.
Augustinus Bis unser Herz ruht in Dir Ambrosius mbrosi mbrosiu der Brianza und das Baptisterium des Ambrosius in Mailand
E
s ist Erntezeit in der Brianza, dem Hügelland zwischen Mailand und den lombardischen Voralpen. Der Mais steht hoch und die Luft ist voll herber Gerüche des Spätsommers. Neben dem Ziegelrot der Ortschaften leuchtet das Weiß der Flachdächer ausgedehnter Gewerbebauten aus dem Grün der sanft gewellten Landschaft. Gegen Norden erhebt sich als grauer Sperrriegel ein Gebirgszug vom Monte Palanzone bis zum Monte Rai. Er verbindet die Spitzen der großen Schere, die von den bei Bellaggio zusammentreffenden Armen des Lago di Como und des Lago di Lecco gebildet wird. Nordöstlich von Lecco ragen, von hellem Dunst umschleiert, die fast zweitausend Meter hohen, gezackten Grate des Resegone. Kleinere Seen schieben sich vor bis in die Hügel der Brianza. Autobahnähnliche Zubringerstraßen, die Superstrada, recken sich wie Tentakel vom Ballungsraum Mailand bis nach Como, Erba und Lecco, tagtäglich genutzt von den Pendlern aus der Brianza. Ein dichtes Straßennetz verbindet die Orte und Streusiedlungen, durch deren Gassen sich der Verkehr seinen Weg sucht. Zahllose Kreisverkehre halten ihn in einem stetigen, unruhigen Fluss. Unweit der Landstraße von Como nach Bergamo, die in West-Ost-Richtung die Brianza durchschneidet, liegt Cassago Brianza, eine der vielen ineinander übergehenden Ortschaften der Gegend. Aller Wahrscheinlichkeit nach war hier Cassiciacum, das ländliche Anwesen des Verecundus, auf das sich Aurelius Augustinus im Jahre 386 mit einer kleinen Gruppe engster Vertrauter zurückgezogen hat. Gesundheitlich angeschlagen und angewidert von der Sinnleere seiner Tätigkeit als Rhetoriklehrer und Schreiber von Lobreden am kaiserlichen Hof in Mailand, war Augustin mit dem Beginn der Herbstferien, am 23. August, von seinem Amt zurückgetreten. Schon drei Wochen vorher
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hatte der einunddreißigjährige erfolgreiche Rhetor sich nach einer seelischen Krise entschieden, sein Leben von Grund auf zu ändern. Doch er wollte keinen spektakulären sofortigen Bruch, sondern einen stillen, aber endgültigen Rückzug vom käuflichen „Jahrmarkt der Geschwätzigkeit“ und dem „Lügenstuhl“, als den er seinen Lehrstuhl jetzt betrachtete. Nur der Wahrheit, die Gott ist, wollte er sich fortan verpflichten, nicht mehr leeres Wortgeklingel lehren für „verlogene Verrücktheiten und juristische Hahnenkämpfe“ (Aug. 1996, 224 f.). Groß war bis dahin sein Karrierestreben gewesen, vom Aufstiegsehrgeiz seiner kleinbürgerlichen Eltern früh in ihm erweckt. Nach seiner Kindheit im nordafrikanischen Provinzort Thagaste, wo er im Jahre 354 geboren wurde, hatte sein Vater, ein kleiner Beamter, ihm unter erheblichen Anstrengungen ermöglicht, im nahen Madaura und später in Karthago zu studieren. Mit achtzehn Jahren war er bereits Grammatiklehrer in seiner Heimatstadt Thagaste, zwei Jahre später Rhetoriklehrer in Karthago. Mit achtundzwanzig schaffte er den Sprung in das Zentrum des Weströmischen Reiches, erst nach Rom und schon im Herbst des Folgejahres durch Vermittlung einflussreicher Freunde und Förderer weiter nach Mailand an den kaiserlichen Hof. Die Beziehung zu seiner langjährigen Lebensgefährtin, mit der er einen etwa zehn Jahre alten Sohn hatte, glaubte Augustin opfern zu müssen für eine standesgemäße Heirat, schien doch sogar das Amt eines Provinzstatthalters erreichbar zu sein. „Ehre, Reichtum und Eheglück“ hatten ihm vorgeschwebt und waren nun in greifbarer Nähe, als er die radikale Lebenswende vollzog und alles aufgab, nach dem er jahrelang gestrebt hatte. Unerträglich war der Konflikt geworden zwischen dem äußeren Leben des in weltliches Getriebe verstrickten Rhetors und seiner quälenden Sehnsucht nach wahrem unvergänglichem Sinn und danach, „entzündet“ und „durchglüht“ zu werden von göttlicher Nähe (Aug. 1996, 203). Schon als Kind und Jugendlicher, dann immer wieder fand er sich wie vor einen „ungeheuren Abgrund“ gestellt, wenn sich unter dem dünnen Firnis seines scheinbar gesicherten Lebens die Brüchigkeit und Flüchtigkeit des Seins zeigte. Schwere Krankheiten schlugen ihn mehrfach, der Tod eines jungendlichen Freundes traf ihn hart, die unabweisbare Existenz des Bösen und die Vergänglichkeit der Welt beunruhigten ihn. Dann meldete sich die verzweifelte Frage, warum wir „in diese Welt wie in ein stürmisches Meer geworfen“ sind, „in dieses tödliche Leben, in diesen lebendigen Tod“ – immer wieder zurückgeschoben und übertönt vom Lärm der eigenen Geschäftigkeit, doch immer im Hintergrund quälend da und Antrieb seiner fortgesetzten Suche nach einem letzten absoluten Halt (Aug. 1972, 181; 1996, 53, 36). Der von der Mutter christlich erzogene Augustin lernte beten und suchte in seinen kindlichen
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Nöten Zuflucht beim christlichen Vatergott. Jugendliche Zerstreuung, die Ablenkungen des Studentenlebens und erste Erfolge entfremdeten ihn diesem einfachen kindlichen Glauben. Doch blieb ihm der „Hunger nach innerer Speise“. Eine Schrift Ciceros, die zur philosophischen Wahrheitssuche aufforderte, ließ seine Sehnsucht nach „unsterblicher Weisheit“ wieder mächtig aufflammen (Aug. 1996, 71, 76). Er griff nach den biblischen Schriften, legte sie aber enttäuscht beiseite. Ohne Anleitung fand er nicht den Schlüssel zu ihrer bildhaften Sprache, die ihm ganz ungeschliffen vorkam im Vergleich zu den lateinischen Klassikern. Von geheimnisvoller Tiefe und dabei gleichzeitig mit der Vernunft und philosophischen Argumenten nachvollziehbar schien ihm dagegen die Lehre der Manichäer zu sein. Alle beunruhigenden Welträtsel, vor allem die Existenz des Bösen, das nicht von einem guten Gott stammen kann, finden danach ihre Erklärung im Gegensatz zweier Seinsmächte. Das böse Reich der Finsternis und der stofflichen Welt liegt im unausgesetzten Kampf mit dem göttlichen Lichtreich, bis am Ende der Zeiten die durch ein urzeitliches Verhängnis im Dunkel der stofflichen Welt gefangenen Lichtelemente wieder zu ihrem Ursprung erlöst werden. Auch die lichthafte Seele des Menschen muss durch Askese und sexuelle Enthaltsamkeit befreit werden vom Gefängnis der leiblichen Materie, die zum Reich der Finsternis gehört. Diese vom Perser Mani (215/16 – 277) begründete Lehre des Manichäismus hatte sich über das Römische Reich ausgebreitet und wurde trotz wiederholter Verbotserlasse überall von einflussreichen Zellen getragen, denen sich Augustin nun anschloss. Zwar unterwarf er sich nicht der strengen Askese ihrer Elite, denn vor allem die sexuelle Enthaltsamkeit war für den mit einer kraftvollen Libido ausgestatteten jungen Mann nicht erreichbar, obwohl sie ihm nach dem Ideal der Zeit erstrebenswert erschien. Aber die feierlichen manichäischen Zusammenkünfte im Geheimen gaben ihm die starken Gefühle, die er suchte, und das Bewusstsein, zu einem Kreis besonders herausgehobener Erleuchteter zu gehören. Seine Mutter war über den zweifelhaften Umgang entsetzt und erteilte ihm zunächst sogar Hausverbot. Mehr als neun Jahre blieb er Manichäer, nie ganz überzeugt, aber doch missionarisch wirksam. Seine besten Freunde schlossen sich unter seinem Einfluss der Sekte an. Schließlich aber musste der tiefgründig denkende Augustin selbst erkennen, dass die manichäische Lehre von den zwei widerstreitenden Seinsmächten in sich widersprüchlich ist, denn keine andere Seinsmacht kann Gott gleichmächtig gegenüberstehen. Dazu kam, dass die kosmologischen Mythen der Manichäer nicht mit dem bereits gut durch Beobachtungen gesicherten astronomischen Wissen der Zeit in Einklang zu bringen waren. Eine Begegnung mit dem manichäischen Bischof Faus-
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tus, von dem er sich hierüber Aufklärung und neue Sicherheit versprochen hatte, verlief enttäuschend. Schnell durchschaute er als rhetorisch Geschulter dessen argumentative Tricks. Längst war dem gereiften Augustin klar, „dass etwas nicht deshalb als wahr angesehen werden darf, weil es beredt vorgetragen wird“ (Aug. 1996, 124). So dämmerte ihm langsam, dass er keine wirkliche geistige Speise gefunden hatte, sondern „nichtiges Hirngespinst“. Beim Tod eines jungen Freundes hatte er bereits erfahren, dass er nur weiter ins Bodenlose stürzte, wenn er hier Halt finden wollte. In der Rückschau schreibt er dazu: „Wenn ich meine Seele dort abzusetzen suchte, um ihr Ruhe zu verschaffen, sank sie durch einen leeren Raum und stürzte wieder auf mich herab“ (Aug. 1996, 101). Trotzdem blieb er der Sekte verbunden, nicht zuletzt wohl deshalb, weil sie über ein einflussreiches Netzwerk verfügte, das er für seine Karriere nutzen konnte. In Rom wohnte er bei einem Mitglied der Sekte, und als Symmachus, der Präfekt von Rom, ihn nach Mailand empfahl, hatten seine manichäischen Freunde hier entsprechend vorgearbeitet. Doch der innere Abstand wuchs und die Enttäuschung darüber, dass sich die zunächst so begeistert ergriffene Lehre als Hirngespinst herausgestellt hatte, trieb ihn in den Skeptizismus, also den Zweifel, dass man überhaupt etwas Wahres erkennen könne, wie er von der philosophischen Schule der Akademiker vertreten wurde. Erst die Entdeckung der neuplatonischen Philosophie, die Begegnung mit dem katholischen Bischof Ambrosius von Mailand und nicht zuletzt der beharrliche Einfluss seiner fest im Glauben stehenden Mutter Monnica, die ihm nach Italien gefolgt war, bahnten ihm den Weg zurück zu seinen verschütteten christlichen Wurzeln. Zunächst nur aus Neugier besuchte Augustin in Mailand die Predigten des Bischofs Ambrosius (339 – 397), von dem seine Mutter begeistert berichtet hatte, doch bald schon faszinierte ihn das vergeistigte Christentum, das er damit kennenlernte. Augustin, der auch mit dem Verstand nachvollziehen wollte, was er glauben sollte, erhielt nun Antworten, die ihm die einfache volkstümliche Religiosität, mit der er in Afrika aufgewachsen war, nicht gegeben hatte. Die nach allen Seiten hin ausgebaute und mit den Mitteln der platonischen Philosophie argumentierende Theologie des Ambrosius zeigte ihm, dass der christliche Gott nicht naiv vermenschlicht, sondern als ewig unveränderliches geistiges Sein aufzufassen ist. Ein Durchbruch für Augustin, der die naive Sicht für die christliche gehalten hatte und sich Gott nach der manichäischen Lehre nun materiell vorstellte als Lichtstoff und als „leuchtenden, riesigen Körper“, hineingezogen in ein dramatisches kosmisches Ringen (Aug. 1996, 114). Ganz neu und mit anderen Augen lernte er auch das Alte Testament lesen, das von
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den Manichäern als Machwerk finsterer Mächte angesehen wurde. Stellen, die dunkel und befremdlich klangen, wenn sie wörtlich genommen wurden, erhielten mit der bildhaften Auslegung des Ambrosius einen geistigen Sinn. Gleichzeitig entdeckte Augustin die Schriften der neuplatonischen Philosophen Plotin (204 – 269) und Porphyrios (etwa 230 – 300). Mit Erstaunen sah er die große Übereinstimmung der Lehre des Johannes-Evangeliums vom schöpferischen göttlichen Wort (Joh 1,1 – 14) mit der platonischen Lehre, nach der die Formen und Strukturen der Wirklichkeit in einer geistigen Welt der Ideen vorgebildet sind. Damit hatte er die Denkmittel, die ihn nun die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, seine Willensfreiheit und die Unsterblichkeit der Seele als Ergebnis des geistigen Seins im Menschen verstehen ließen. Seine Angst schwand, dass der Mensch nur ein verirrter Lichtfunke sein könnte, der zuletzt zu nichts vergeht in der großen einen Lichtsubstanz, und er gewann die frohe Gewissheit, dass die individuelle Seele ihre letzte Heimat bei Gott finden wird. Auch die Existenz des Bösen in der Welt, die ihn so lange beunruhigt hatte, konnte er nun neu begreifen als Mangel und Abfall von der in ihrem Ursprung guten Wirklichkeit, sodass dem Bösen kein eigenes Sein zukommt. Vor allem aber erkannte Augustin in den Predigten des Ambrosius die „innere Melodie“ seiner eigenen Sehnsucht wieder, wenn er dort etwa hörte: „Und solange wir hier auf Erden weilen, wollen wir durch Betrachten, Lesen und Suchen uns mit Gott vereinen, wir wollen ihn erkennen, so gut wir können“ (Ambrosius 1992, 77 f.). Zehn Jahre später, in seiner großen Lebensbeichte, den „Bekenntnissen“ (Confessiones), prägte Augustin dafür die Formel, die sein ganzes Leben und Streben bündig zusammenfasste: Herr, „auf dich hin hast du uns gemacht, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir“ (Aug. 1996, 33). Mit dem neu gewonnenen Blick auf das geistige Sein heilte auch das „Seelenauge“ seiner inneren Sehkraft, das so lange erblindet war, und öffnete sich für die unmittelbare Erfahrung Gottes. Die platonische Philosophie hatte ihn eine entscheidende Wegstrecke auf dem Weg zur Wahrheit getragen, aber der Gott der Philosophen war ein papierener Gott ohne innere Wirklichkeit und Gegenwart geblieben. Bebend vor „Liebe und Erschrecken“ wurde ihm nun auch der Überstieg hin zu dieser unmittelbaren Gegenwart geschenkt. Nur „im Blitz eines erzitternden Blicks“ zeigte sich „das Wesen, das wahrhaft ist“, aber sein Licht verscheuchte jeden Zweifel und ließ ihn die Wahrheit des lebendigen Gottes erfahren: „Ich trat also in mich ein, und mit dem Auge meiner Seele, so schwach es auch war, sah ich oberhalb dieses Seelenauges, oberhalb meines Geistes, das unveränderliche Licht. Nicht dieses irdisch-gewöhnliche, das allem Fleisch sichtbar ist, auch nicht eines, das von derselben Art, nur größer
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war, so als strahle irdisches Licht viel heller und erfülle alles mit seinem Schein. Nein, so war jenes Licht nicht, sondern anders war es, ganz anders als irdisches Licht. Und es war nicht in der Weise oberhalb meines Geistes, wie Öl über Wasser schwimmt oder der Himmel über der Erde steht. Es war höher, weil es mich gemacht hat, und ich war tiefer, weil von ihm gemacht. Wer die Wahrheit kennt, kennt es, und wer es kennt, kennt die Ewigkeit! Die Liebe kennt es. Ewige Wahrheit und wahre Liebe und geliebte Ewigkeit! Du bist mein Gott; ich seufze zu dir Tag und Nacht.“ So Augustin selbst in den „Bekenntnissen“ über seine erste mystische Erfahrung, die ihn weitertrieb auf seinem Weg „zur beseligenden Heimat“, die er jetzt „bewohnen“ wollte, nicht nur erkennen (Aug. 1996, 184 – 193). Als er nun wieder zu den biblischen Schriften griff, insbesondere zu den Briefen des Paulus, fand er alles durchsichtig und mit der Schöpfungslehre des Alten Testamentes zu einem einheitlichen Bild gefügt. Bestätigt wurde Augustin auf seinem Weg durch das große persönliche Vorbild des Bischofs Ambrosius und die allgemeine Hochstimmung der Gemeinde in Mailand. Hochgebildet und von römischem Adel hatte Ambrosius bereits bedeutende politische Ämter innegehabt, als er 374 zum Bischof von Mailand gewählt wurde. Mit fester Hand und politisch umsichtig, im Konfliktfalle mitunter auch unnachgiebig, festigte er den Einfluss der Kirche. Theologisch unterbaute er die mit den Konzilien von Nizäa (325) und Konstantinopel (381) festgeschriebene Lehre, nach der Christus „eines Wesens mit dem Vater ist“ und der Heilige Geist beide offenbart. Entsprechend scharf bekämpfte er die vom kaiserlichen Hof unterstützte arianische Konkurrenzkirche, deren Lehre nach ihrem Gründer Arius (um 260 – 336) die Gottheit Christi bestritt. Trotz der Anerkennung der christlichen Kirche durch Kaiser Konstantin (325 – 337) bereits vor einem Menschenalter, im Jahre 313, musste sie weiter um ihre gesellschaftliche Position kämpfen. Kaiser Julian (361 – 363) hatte noch einmal eine Renaissance der alten Kulte durchzusetzen versucht. Unter seiner Regierung brannten wieder Rauchopfer auf den Altären der Tempel. Heidnische Kräfte waren auch danach aktiv und einflussreich. Im Sommer des Jahres 384 gab es Bestrebungen, den unter Kaiser Constans (340 – 350) entfernten Altar der Siegesgöttin Victoria in Rom wieder aufzurichten. Der römische Präfekt Symmachus – derselbe, der Augustin im Herbst des Jahres an den Hof in Mailand empfahl – hatte eine entsprechende Eingabe an Kaiser Valentinian II. (383 – 392) gerichtet. Ambrosius stemmte sich mit aller Macht dagegen und drohte dem Kaiser sogar mit Exkommunikation. Er blieb schließlich Sieger, und die Siegesgöttin blieb in der Rumpelkammer. Theologisch war auch die Dreifaltigkeitslehre trotz einer gewissen abschließen-
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den Einigung auf den Konzilien von Nizäa und Konstantinopel weiterhin Gegenstand der Auseinandersetzung. Als der jugendliche Kaiser Valentinian II., beeinflusst durch seine Mutter Justina, die Übergabe einer Basilika in Mailand an den Bischof der Arianer forderte, widersetzte sich Ambrosius erneut. Ein wahrer Volksaufstand erhob sich zu seiner Unterstützung, der die ganze Stadt in Aufruhr versetzte. Die Staatsmacht, die mit Bewaffneten aufgezogen war, musste schließlich vor dem unbewaffneten Volk kapitulieren, das in die Basilika strömte. „Hymnen und Psalmen“ singend hielt es dort Tag und Nacht aus, bis der vollständige Sieg errungen war. Augustins alte Mutter war mit begeistertem Mut mitten unter ihnen. Er selbst stand noch abseits. Während er sich im Strom der aufgebrachten Menge durch die Straßen treiben ließ, wird Augustinus sich angesichts des Gemeinschaftsgefühls der Massen fremd und einsam gefühlt haben. Sicher sprang aber die allgemeine Begeisterung auch auf ihn über, und die Opferbereitschaft der Gläubigen wird ihn peinlich berührt haben im Kontrast zur Scheinwelt seiner bezahlten Lobreden. Dass der christliche Glaube die Wahrheit ist, die er suchte, wusste Augustin inzwischen mit Gewissheit. Mystisches Erleben hatte sie ihm beglaubigt, denn er war unmittelbar von Gott berührt worden, als „streichelte“ ihn seine „Hand“. Was er aber noch schmerzlich vermisste und wozu er sich nicht durchringen konnte, war die „Festigkeit“ der Lebensorientierung auf der Grundlage seines neuen Glaubens (Aug. 1996, 188, 196). Er hörte deutlich den Anruf Gottes, fand aber nicht die Kraft zur Lebenswende. „‚Gleich‘, ‚Ja, gleich‘‚ ‚Warte noch ein bisschen!‘“, klang es matt in ihm (Aug, 1996, 206). Erst im Sommer 386, als ihm ein Freund von zwei hohen kaiserlichen Hofbeamten berichtete, die sich nach dem Vorbild des Mönchsvaters Antonius zum kontemplativen asketischen Leben bekehrt hatten, brach die Unzufriedenheit mit seinem eigenen Leben übermächtig in ihm auf. Von Weinkrämpfen übermannt zog er sich in den Garten seines Hauses in Mailand zurück. Eine Stimme, wie ein Kehrreim aus Kindermund, weckte ihn aus seiner Verzweiflung. An ihn war offenbar die immer wiederholte Aufforderung gerichtet: „Nimm und lies, nimm und lies!“ (Aug. 1996, 220). Augustin griff zu den Schriften des Apostels Paulus, in denen er jetzt ständig las, und schlug sie auf. Die Zitatstelle, auf die sein Blick zuerst fiel, gab ihm die Klarheit, die er suchte: Es war die Aufforderung, sich vom weltlichen Streben und allen Bindungen an Vergängliches zu lösen (Röm 13,13 – 14). Alles Schwanken und Zögern fiel augenblicklich von ihm ab. Die Entscheidung zu einem kontemplativen Leben, zum Ausstieg aus seiner Karriere und auch zur Ehelosigkeit war gefallen. Noch vierzehn Tage bis zum Beginn der Ferien hielt er auf seinem Posten aus,
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Abb. 3:
Gartenszene in Mailand, „Nimm und lies“, Fresko von Benozzo Gozzoli (1465), San Gimignano
dann nahm er seinen Abschied und zog mit einer kleinen Schar Getreuer in das Hügelland der Brianza. Sein Kollege und Freund, der Grammatiklehrer Verecundus, hatte ihm dort sein Landhaus Cassiciacum zur Verfügung gestellt. In der Stille des Refugiums von Cassiciacum erholte er sich langsam von den gesundheitlichen Problemen, mit denen sein Körper auf den quälenden seelischen Zwiespalt in ihm reagiert hatte. Er war in den „Ha-
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fen“ eines neuen beglückenden Lebenssinnes eingelaufen, musste dort aber gewissermaßen noch festmachen, sich des Erreichten vergewissern und auch seine Freunde in diesem „Hafen sammeln“, denn Augustin war ohne Freunde um sich nicht denkbar (Aug. 1972, 185). In den langen Gesprächen und nächtlichen Diskussionen in Cassiciacum ging es um Grundfragen des christlichen Glaubens: die Unsterblichkeit der Seele, die Schöpfungsordnung, die Erkennbarkeit und das Wesen Gottes. Um dafür zunächst die Voraussetzung zu schaffen, begann er mit der Widerlegung des skeptischen Zweifels an der Möglichkeit wahrer Erkenntnis. Augustin argumentiert hier ganz eigenständig und modern von der Selbsterfahrung des erkennenden Ich aus, indem er den Irrtum und den Zweifel selbst als Zeugnis für die Möglichkeit wahrer Erkenntnis heranzieht, denn: Kann ich auch zweifeln, dass ich zweifle? Ist nicht die Einsicht, dass ich mich irre und zweifle, ein Beweis meiner eigenen Existenz und damit eine erste sichere Wahrheit? Augustin ließ die in Cassiciacum geführten Gespräche mitschreiben, es wurden seine ersten philosophischen Schriften. Man merkt ihnen das noch unsicher tastende Suchen an, waren doch auch die Gefährten, die ihn nach Cassiciacum begleitet hatten, oft nicht der Konsequenz und Tiefgründigkeit seines Denkens gewachsen. Die beiden Schüler Licentius und Trygetius, die Vettern Lartidianus und Rusticus, die „nicht einmal den Grammatikunterricht genossen“ hatten, sein Sohn Adeodat und sein Bruder Navigius mühten sich oft ab mit dem Fortgang des Gedankens. Am ehesten war Augustins Jugendfreund Alypius, der bei Augustin Rhetorik studiert hatte und später Jurist geworden war, dem bohrenden Fragen gewachsen. Augustins Mutter Monnica beschäftigte sich meist mit häuslichen Angelegenheiten, beteiligte sich aber auch an den Gesprächen. „Gott und die Seele möchte ich gerne erkennen. Nichts weiter? Bestimmt nicht“, heißt es in den auch in Cassiciacum entstandenen „Selbstgesprächen“, die Augustin im Dialog mit sich selbst verfasst hat (Aug. 1965, 23). Nur nach innen richtete er seinen Blick, hatte er doch dort das Licht der ewigen Wahrheit „geschmeckt“. Die anwachsende Barbarenflut hinter dem mächtigen grauen Gebirge im Norden war kein Thema für die kleine zurückgezogene Schar in Cassiciacum. Dabei ließ sich die Bedrohlichkeit der Lage nicht übersehen. 375 waren die Völker nördlich der Donau unter dem Druck der aus dem Osten immer weiter vordringenden mongolischen Hunnen zur sogenannten Völkerwanderung aufgebrochen. Die Westgoten hatten die Donau überschritten und das römische Heer in der Schlacht bei Adrianopel besiegt, in der Kaiser Valens fiel. Nur indem man sie auf Reichsgebiet ansiedelte, konnte man ihre kriegerischen Horden befrieden. Seit Jahrzehnten bedrohten Franken und Alemannen mit immer neuen Vorstößen
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die Rheingrenze. In Gallien herrschte der Heerführer Maximus, der sich mit Unterstützung seiner Legionen in Britannien zum Gegenkaiser aufgeworfen hatte. Die kaiserlichen Truppen hinter den Feldbefestigungen auf den Alpenpässen erwarteten das Vorrücken seiner Kriegsscharen auf die bedrohte Hauptstadt Mailand. Währenddessen ging das Leben in Cassiciacum seinen beschaulichen Gang. Es war die stille Zeit des Spätsommers, als Augustin in das grüne Hügelland nördlich von Mailand kam. Verecundus hatte ihm sein Anwesen wohl nur mit der Auflage überlassen, den Bauern bei der anstehenden Ernte zu helfen und die täglichen Obliegenheiten beim Unterhalt des Hauses zu erledigen. So kam man oft erst abends am Lieblingsplatz der Gruppe zusammen, um sich dann unter einem Baum, hingelagert auf die herbstlich duftende Wiese, bis zum Sonnenuntergang in das philosophische Gespräch zu vertiefen. Blieb genug Zeit, las man gemeinsam lateinische Klassiker wie Vergil, schrieb Briefe und Gedichte oder wanderte, die philosophischen Gespräche fortsetzend, über die Felder. Alles war einfach und ländlich, nichts lenkte von der geistigen Vertiefung ab, um die es Augustin selbst ging und zu der er seine jungen Schüler führen wollte. Hähne liefen auf dem Hof frei herum und nachts huschten Mäuse unter den Betten. Es war so still, dass Augustin im Halbschlaf das leise Fließen des Wassers in den hölzernen Röhren hinter dem Haus hören konnte. Das durch eine Verstopfung mit Laub verursachte zeitweise Stocken des Geräusches gab Anlass, mit den ebenfalls wach liegenden Gefährten bis in den Morgen über die Ordnungshaftigkeit des Seins zu philosophieren, nach der „nichts geschieht ohne Ursache“. Die fröhliche Ausgelassenheit der Jungen belebte zuweilen die nachdenkliche Stille, etwa wenn Licentius zum Ärger der strengen Monnica lauthals Psalmen sang, während er auf dem Plumpsklo im Hof saß (Aug. 1972, 255, 264). Alypius musste zuweilen geschäftlich in das einen Tagesmarsch entfernte Mailand gehen, das auch damals schon über die Via Busa, eine der römischen Hauptverbindungsstraßen, von der Brianza aus gut erreichbar war. Nach seiner Rückkehr ließ er sich die Gesprächsprotokolle vorlesen, um wieder an den Diskussionsstand anknüpfen zu können. Solange die Luft mild und der Himmel blau blieb, hielt man sich vor allem im Freien auf. Als die Bewölkung zunahm und es winterlich kalt wurde, zog man sich zu den Gesprächen in das Badehaus zurück, das auf keinem römischen Anwesen fehlen durfte. So war es auch am 13. November 386, Augustins zweiunddreißigstem Geburtstag. Nach einem gemeinsamen Frühstück versammelte sich der Freundeskreis dort zu einem Gespräch über das Glück, das mit der Einsicht des Mystikers schloss: „Wer daher durch die Wahrheit zum höchsten Maß gelangt ist, ist glücklich. Das heißt
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Abb. 4:
Fontana di Sant’Agostino im Archäologischen Park von Cassago Brianza
für den Geist, Gott zu haben, und das wiederum, Gott völlig zu genießen“ (Aug. 1972, 212). Wo genau das ländliche Anwesen des Verecundus gestanden hat, lässt sich nicht mehr sicher bestimmen. Die einheimische Überlieferung in Cassago und das gute Zusammenstimmen der Hinweise in Augustins Schriften mit den örtlichen Gegebenheiten dort sprechen dafür, dass Cassiciacum im Gemeindebereich dieser Ortschaft im Hügelland der Brianza lag. Archäologische Funde belegen die frühe römische Besiedlung der Gegend, und die Reste zweier Zisternen lassen darauf schließen, dass daraus römische Villen über Rohrleitungen mit Wasser versorgt wurden. Auch später haben reiche Patrizier und Adelsfamilien in der Brianza ihre Villen und Landhäuser errichtet. Auf dem Hügel hinter der Gemeindekirche in Cassago hatten die Pirovano und Visconti ein Schloss, bei dessen Bau Säulen und andere Bauteile aus römischer Zeit verwendet wurden. Nicht ausgeschlossen ist, dass dort vorher das Anwesen des Verecundus gestanden hat. Ein Quellrinnsal, das am Fuß des Hügels unterhalb der versunkenen Ruinen des in den 1960er Jahren abgerissenen Palazzo Pirovano-Visconti entspringt und sich in einem gemauerten Becken sammelt, wird nach einheimischer Tradition als „Fontana di Sant’Agostino“ bezeichnet und ver-
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ehrt. Reste römischen Mauerwerks sind in den Beckenrand mit einbezogen. 1986 hat die „Associazione Storico-Culturale S. Agostino“ im Bereich der Fontana einen archäologischen Park eingerichtet, der an die wichtige Zeit geistiger Reifung erinnert, die Augustin nach seiner Entscheidung zur Lebensumkehr hier verbrachte. In der Grünanlage, die bis zur Hügelkuppe hinaufreicht, hat man zusammengetragen, was an römischen Bauelementen beim Abriss des Visconti-Schlosses zum Vorschein kam oder in der Gegend gefunden wurde. Ein von Enrico Manfrini für den Park geschaffenes Bronzerelief zeigt Augustinus schreibend, vielleicht spät nachts. Die Mutter schiebt einen Vorhang beiseite und schaut herein. Beide sind einander innig zugeneigt, ihre Blicke dabei gleichzeitig wie auf ein unsichtbares Drittes gerichtet. Die Nachmittagshitze lastet auf der kleinen Parkanlage. Auf einer steinernen Bank sitzen Jugendliche mit einem Kofferradio. Eine ältere Signora ruft ängstlich ihr Enkelkind zurück, das auf dem Beckenrand der Fontana balanciert und Steine in das Wasser wirft. Palmen rascheln in einer sanften Brise von den Bergen her. Säulenstümpfe werfen lange Schatten. Das Plätschern in der gemauerten Rinne, die das Wasserbecken speist, erinnert an die nächtlichen Gespräche der Freunde in Cassiciacum über die „Ordnungshaftigkeit des Seins“, angestoßen durch das zunächst unerklärliche Stocken der Geräusche in der Wasserleitung hinter dem Haus. Oben auf dem Hügel hat man einen weiten Blick auf die Lombardischen Voralpen, die unvermittelt aus den sanften grünen Wellen der Brianza aufragen. Die ganz überwachsenen Ruinen und gefährlich klaffenden Keller des ViscontiSchlosses sind eingezäunt. Neben der Kirche hat die Associazione in einem Wohnhaus ein kleines Museum eingerichtet. Der alte Signore Colnago, eine der treibenden Kräfte der Associazione, zeigt stolz die mit römischen Scherben angefüllten Vitrinen. An einem Geländemodell der Gegend erklärt er mit der Übersetzerhilfe seines Sohnes die Lage der wichtigsten Fundorte. Über eine verwinkelte Stiege führt er uns hinauf zu den oberen Räumen, die mit Erinnerungsstücken vollgestellt sind. Auf den Tischen und in Kartons stapeln sich Bücher. Viel hat Signore Colnago noch zu berichten, so etwa über den Besuch einer Delegation aus Cassago in Augustins Geburtsort Thagaste, dem jetzigen Souk-Ahras in Algerien. Ein verblasstes Foto an der Wand zeigt Mitglieder der Associazione in Thagaste zusammen mit ihren arabischen Gastgebern. Als Abschiedsgeschenk bekommen wir eine Gedenkmedaille der Associazione und Signore Colnago mahnt uns, unbedingt wiederzukommen. Nur etwa ein halbes Jahr blieb Augustin in Cassiciacum. Im Frühjahr 387 kehrte er mit seiner kleinen Gruppe zurück nach Mailand, um sich auf die Taufe vorzubereiten, die seine Entscheidung zur Lebenswende
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besiegeln sollte. In der Osternacht vom 24. auf den 25. April war es dann so weit, zusammen mit seinem Sohn Adeodat und seinem Freund Alypius wurde er im Baptisterium neben der bischöflichen Basilika von Ambrosius getauft. Vielleicht erinnerte sich Augustin in den bewegenden Augenblicken, als er im weißen Gewand der neu Getauften die Basilika betrat, von der wartenden Gemeinde freudig begrüßt, an das, was Ambrosius den Katechumenen in der Taufvorbereitung mit auf den Weg gegeben hatte: „Du darfst also nicht lediglich nur deinen leiblichen Augen glauben. Mehr des Schauens bietet das Unsichtbare; denn Ersteres gewährt nur zeitlichen, Letzteres, das nicht mit den Augen sich sehen, wohl aber mit dem geistigen Sinn sich schauen lässt, ewigen Anblick“ (Ambrosius 1917, 282). Dies stimmte ganz mit dem überein, was er selbst schon erfahren hatte. Nach mehr als anderthalb Jahrtausenden ist das antike Mailand des Augustinus und des Ambrosius unter dem Schutt der Jahrhunderte versunken. Weniges existiert noch, das uns unmittelbar Fühlung nehmen lässt mit ihrer Zeit. Im modernen Mailand pulsiert das Leben wie eh und je. Mondän und wohlhabend ist diese zweite Stadt Italiens nach Rom, die lange die erste war und kaiserliche Residenz. Auf den breiten Corsi flanieren die jungen Erfolgreichen mit dem Handy am Ohr. Die prachtvollen klassizistischen Fassaden der Bürgerhäuser verbergen schattige Innenhöfe mit großblättrigen südlichen Pflanzen, diskreter Parkplatz für die Nobelkarossen der Bewohner. Pförtner warten unsichtbar in dunklen Verschlägen, bis sie das schmiedeeiserne Gitter vor der Zufahrt zu öffnen haben. „Si prega di chiudere il portone“, so mahnt ein Schild, das Tor wieder zu schließen. Silber, Gold und feine Mode bekannter Marken gibt es in der mit einer Glaskuppel gedeckten Galleria Vittorio Emanuele II. Man betritt sie durch einen monumentalen Triumphbogen vom Domplatz aus. Im Zentrum des weiten Platzes vor dem Dom steht ein Reiterstandbild, dem man eine Stachelkrone aus Draht zur Abwehr der Tauben aufgesetzt hat. Sie belagern jetzt den steinernen Löwen zu Füßen des Reiters und überziehen ihn langsam mit einer weißlichen Kruste. Die Fassade des Domes beherrscht den Platz. Sie zeugt vom unbedingten Willen der Erbauer, etwas Unvergleichliches zu schaffen. Das feingliedrige Maßwerk löst alles in Bewegung auf, sodass für das Auge nirgendwo ein Halten ist. Wie ein Flammengezüngel ragen zahllose gotische Ziertürmchen in den Himmel, auf denen Statuen balancieren, dass es einem schwindelig wird. Innen herrscht dann das dunkle Gleichmaß des gewaltigen fünfschiffigen Kirchenraumes. Nur wenige Besucher finden die Treppe gleich hinter dem Eingangsportal und steigen hinunter zu der unterirdischen Ausgrabungsstätte, wo man die Überreste der frühchristlichen Basilica di S. Tecla und des Baptisteriums
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Das Refugium des Augustinus und das Baptisterium des Ambrosius
S. Giovanni alle Fonti besichtigen kann. Hat man das automatische Drehkreuz passiert, ist man meist allein mit dem staubigen Gemäuer aus dem 4. Jahrhundert, das im Neonlicht wie eine Baustelle wirkt. So dürftig diese Reste auch sind, so ist es doch ergreifend, den beiden großen Kirchenvätern hier ganz nahezukommen. Ein Mauerstumpf der Apsis von S. Tecla ist erhalten. Ambrosius hat hier also zelebriert und gepredigt. Daneben sind die Umrisse des achteckigen Baptisteriums und des Taufbeckens zu erkennen, in dem er seine Katechumenen getauft hat. Damit sind wir trotz des unglaublichen zeitlichen Abstandes hier auch ganz dicht bei Augustin, der aller Wahrscheinlichkeit nach in der Osternacht des Jahres 387 in dieses Becken gestiegen ist und von Ambrosius die Taufe empfangen hat. An Ambrosius erinnert in Mailand auch die Basilica di S. Ambrogio, die von ihm selbst gegründet wurde. In der Krypta werden seine Reliquien in einem Sarg aus Silber und Kristall gezeigt, rechts und links flankiert von den beiden Märtyrern Protasius und Gervasius, deren Gebeine Ambrosius selbst aufgefunden hat. Alle drei sind festlich gekleidet: der Bischof in Weiß, den Bischofshut auf dem dunkelbraunen Totenschädel, die Märtyrer in Rot, nach einem Bild aus der Apokalypse Palmzweige in den Händen haltend. Die Lesekanzel in der Kirche liegt auf dem Sarg des Stilicho (um 365 – 408) auf, eines germanischen Heerführers in römischen Diensten, der ab 395 als Vormund des jungen Kaisers Honorius das Reich regierte und damit auch engen Kontakt mit Ambrosius hatte. Vom rechten Seitenschiff aus erreicht man die frühchristliche Kapelle S. Vittore in Ciel d’Oro, die Ambrosius selbst als Grablege für seinen Bruder Satyrus gestiftet hat. Ein Mosaik in der Kapelle aus dem Beginn des 5. Jahrhunderts ist ein wahrscheinlich lebensechtes Portrait des Bischofs Ambrosius. Gedankenverloren, mit dem nach innen gekehrten Blick des Mystikers, scheint er durch den Betrachter hindurchzuschauen. Nach Augustins Ausstieg aus seiner Karriere als Rhetor am kaiserlichen Hof gab es für ihn keinen Grund mehr, in Mailand zu bleiben. Bald nach der Taufe beschloss er zusammen mit seiner kleinen Anhängerschaft nach Afrika zurückzukehren, um dort im Sinne der neuen Berufung zu wirken. Seine Mutter Monnica aber sollte ihre Heimat nicht wiedersehen. Wohl in der Vorahnung des Todes wurde sie während der stillen und müßigen Tage des Wartens auf die Überfahrt mit Augustin zu einer gemeinsamen mystischen Vision erhoben. Am Fenster ihrer Unterkunft beim Hafen von Ostia wurden Mutter und Sohn in einem einzigartigen seelischen Zusammenklang plötzlich aus dem leise dahinfließenden Gespräch entrückt und berührten in einem kurzen „Aufzucken des Herzens“ die ewige göttliche Weisheit (Aug. 1996, 241). Wenig später starb Monnica nach kurzer
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Krankheit. Augustin kehrte im Jahre 388 mit seinen Freunden nach Afrika zurück und gründete auf dem kleinen elterlichen Besitz in Thagaste eine ganz dem geistlichen Leben gewidmete Gemeinschaft. Während Cassiciacum eher eine philosophische Landkommune gewesen war, noch voll der Unruhe des Suchens und der „Überheblichkeit der Schule“, wie Augustin in der Rückschau kritisch anmerkt, gab sich die Gemeinschaft jetzt die strenge Lebensform eines Klosters (Aug. 1996, 227). Augustin hatte damit eigentlich erreicht, was ihm vorgeschwebt hatte, denn seine Sehnsucht galt der Stille eines kontemplativen Lebens. Trotzdem ließ er sich schließlich als Priester und Bischof von der Kirche in die Pflicht nehmen. Die unruhige Weltlage, die geprägt war vom Niedergang der alten Ordnung des Römischen Reiches, stellte ihn vor schwierige politische und seelsorgerische Aufgaben. In der knappen Zeit, die ihm blieb, schuf er ein riesiges philosophisch-theologisches Werk. Seine „Bekenntnisse“, die er als Bischof von Hippo ab 397 geschrieben hat, sind Zeugnis seines inneren Kampfes bis zur Rückkehr nach Afrika. Nun kamen Kämpfe mit äußeren Gegnern. Freiheit und Gnade waren die Pole, um die sein Denken jetzt kreiste, deren schwierige Zusammenordnung er zu lösen versuchte. Scharfe theologische Dispute zwangen ihn hinein in polemische Überspitzungen, die später einseitig ausgelegt wurden und zu theologischen Fehlentwicklungen geführt haben (Gilson 272 – 288). Bei allem Lärm der täglichen Auseinandersetzungen blieb ihm immer die Fähigkeit, sich nach innen zu wenden und der göttlichen Nähe zu öffnen, die ihm auch immer wieder geschenkt wurde, wie er in seinen „Bekenntnissen“ durchblicken lässt: „Und zuweilen schickst du mich auf den Weg zu einer ganz ungewöhnlichen inneren Erfahrung, zu einem unbekannten Wohlbefinden, das, wenn es sich in mir vollenden würde, ich weiß nicht was wäre; gewiss wäre es nicht mehr das irdische Leben. Aber in dieses falle ich zurück durch quälende Gewichte“ (Aug. 1996, 299). Es ist eine vielgestaltige innere Erfahrung, geheimnisvoll übersetzt in eine geistige Entsprechung leiblicher Sinne, um sie der begrenzten Fassungskraft des Menschen verständlich zu machen, „eine Art von Licht, von Stimme, von Wohlgeruch, von Speise und von Umarmung“ (Aug. 1996, 256). Sein gesamtes weiteres Werk durchziehen Spuren dieser Erfahrung. In seinen Psalmenauslegungen kommt er auf die Fähigkeit der Seele zurück, „sich über sich selbst hinaus“ zu erheben und Gott zu „berühren“ (Aug. 1955, 85). Das zwölfte Buch seiner Schrift „Über den Wortlaut der Genesis“ ist einer differenzierten Analyse der Visionen gewidmet. Darin unterscheidet Augustin die körperlichen, einbildlichen und verstandesmäßigen Visionen. Körperliche Visionen erscheinen außerhalb des Leibes und werden über die körperlichen Sinne wahrgenommen, wie die
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Das Refugium des Augustinus und das Baptisterium des Ambrosius
schreibende Hand, die beim Gastmahl Beltschazzars an der Wand erschien (Dan 5,5). Einbildliche Visionen formen sich ohne Beteiligung der körperlichen Sinne als innere Bilder in unserer Geistseele, wie bei Johannes, dem Seher von Patmos. Die höchste und vollkommenste Stufe bilden die verstandesmäßigen Visionen, die bildlose, rein geistige Erfahrungen sind. Augustin geht hier sehr weit, wenn er schreibt, dass bei dieser höchsten Stufe der mystischen Erfahrung „die klare Wahrheit“ Gottes direkt geschaut wird, „nicht im Rätsel, sondern in ihrem Wesen“. Mose und Paulus wäre diese wesenhafte Schau zuteil geworden. Einschränkend ergänzt er immerhin: „soweit es eben menschlicher Verstand mit Hilfe der Gnade des emporhebenden Gottes zu fassen vermag“ (Aug. 1964, 279 ff.). Thomas von Aquin erläutert hierzu in seiner „Summa Theologica“ (q. q 180), dass die biblische Formulierung „von Angesicht zu Angesicht“ nur gleichnishaft aufzufassen ist, weil Gottes absolutes Sein die endliche Fassungskraft unserer leibgebundenen Existenz unendlich übersteigt. Augustinus selbst hat sich an anderen Stellen genauso geäußert, etwa in seinem großen Werk über die Dreieinigkeit (De Trinitate). Danach können wir Gott in unserem irdischen Dasein nur wie durch „Spiegel und Rätselbilder“ schauen (Aug. 1936, 247). Wir schauen ihn in uns selbst, denn das innere dreifaltige Leben Gottes ist dem geistigen Leben der Seele ebenbildlich eingeprägt. Im Bild Gottes in uns erfahren wir den Abglanz seines Wesens, wenn unser geistiges Auge nicht getrübt ist durch selbstverschuldete Blindheit für das, was in uns ist und uns zugleich unendlich übersteigt. Bis ins hohe Alter blieb Augustin unermüdlich tätig, und er versuchte bis zuletzt, seine afrikanische Kirche unbeschädigt durch die gefährlichen Wirren der Zeit zu führen. Im Jahre 410 war die alte Ordnung mit der Eroberung Roms durch die von Alarich angeführten Goten in ihren Grundfesten erschüttert worden. 429 hatte der Barbarensturm, der während seiner Zeit in Cassiciacum noch fern hinter den Alpen war, auch Afrika erreicht. Die Vandalen unter Geiserich setzten mit ihrer gesamten Stammesmacht von Spanien aus nach Mauretanien über und stießen die Küste entlang vor. 430 hatten sie Hippo, Augustins Bischofssitz, erreicht und schlossen die Stadt ein. Am 28. August starb der große Kirchenlehrer in der belagerten Stadt. Er wurde zunächst in Hippo beigesetzt. Als die katholischen Bischöfe im Jahre 512 von den Vandalen aus Afrika vertrieben wurden, nahmen sie seine Reliquien mit ins Exil nach Sardinien. Die Langobarden holten sie im 8. Jahrhundert in ihre Residenzstadt Pavia. Ihr König Liutprand (712 – 744) ließ sie in die Basilica di S. Pietro in Ciel d’Oro übertragen. In der mehrfach erneuerten, durch den Augustinerorden betreuten Kirche ruhen sie bis heute. Der Sarkophag aus dem 14. Jahrhundert ist jetzt
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im Chor der Kirche aufgestellt. Fein gearbeitete Reliefdarstellungen mit Szenen aus Augustins Leben zieren ihn. Augustin hat eine unvergleichliche Reise in die Innenwelt seiner Seele angetreten. Er hat die „riesige Halle“ seines Gedächtnisses durchstreift und erschauernd ihren „unendlichen Innenraum“ geschaut (Aug. 1996, 260 f.). Zurückgebracht hat er ein großes zeitloses Zeugnis mystischer Gotteserfahrung. Obwohl er in seinen „Bekenntnissen“ ganz leise und zurückgenommen über diese Erfahrungen spricht, spürt man das Zittern der Beglückung durch die unerhörte innere Berührung. Aber seine Wendung nach innen hat ihn zu weit von der Welt entfernt, ihre Schönheit und Gottgeschöpflichkeit aus dem Blick kommen lassen. Im Anschluss an Platon war er überzeugt, dass die leiblichen Sinne nur „trügerische Bilder liefern“. Die ewigen Wahrheiten erfassen wir nach Augustin nur mit dem „reinen Geiste“, der unmittelbar erleuchtet wird vom göttlichen Licht. Und so ruft er uns zu: „Geh nicht nach draußen, kehr wieder ein bei dir selbst! Im inneren Menschen wohnt die Wahrheit“ (Aug. 1983, 9, 123). Der dualistische Grundzug, der hier deutlich wird, hatte sein Denken auch nach der Trennung von den Manichäern weiter bestimmt. Im Neuplatonismus fand er auf andere Weise dafür Bestätigung. Zwar gibt es in der neuplatonischen Philosophie keine mit Gott konkurrierende böse Schöpfermacht, aber die Welt des Sichtbaren ist nach ihrer Auffassung ein Abstieg aus der wahren Welt des göttlichen Seins, weil sich dabei das Ideenhaft-Geistige mit dem Stofflichen verbindet und damit zu einem niedrigen und verminderten Sein wird, etwa in der Verbindung von Seele und Leib. Augustin hat sich das zu eigen gemacht. Die geschlechtliche Liebe, von der er lange wie besessen war, lehnte er nun ganz ab. Speisen wollte er nur noch „einnehmen“ wie „Arzneimittel“ (Aug. 1996, 283). Damit hat Augustin eine Weltverneinung und Leibfeindlichkeit in die Kirche hineingetragen, die auch durch den Realismus der aristotelisch geschulten Scholastik des Thomas von Aquin (1224/25 – 1274) nur theoretisch korrigiert werden konnte. Um ihre endgültige Überwindung wird bis heute gerungen. Zuletzt hat Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika „Deus Caritas est“ darauf hingewiesen, dass nach christlichem Verständnis der Mensch als leib-seelische Einheit aufzufassen ist: „Wenn der Mensch nur Geist sein will und den Leib sozusagen als bloß animalisches Erbe abtun möchte, verlieren Geist und Leib ihre Würde. Und wenn er den Geist leugnet und so die Materie, den Körper, als alleinige Wirklichkeit ansieht, verliert er wiederum seine Größe.“ Von zeitloser Bedeutung aber ist Augustins sehnsuchtsvoller Ruf: Herr, „auf dich hin hast du uns gemacht, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir“. Er war und ist Leitstern für die Mystiker und Gläubigen nach ihm.
Das Refugium des Augustinus und das Baptisterium des Ambrosius
Praktische Hinweise:
Wer auf den Spuren Augustins in die Lombardei reist, kann Kunst und Geschichte in Fülle erfahren. Wahre Höhepunkte liegen überall am Weg. So etwa die altehrwürdige, auf eine Gründung des 7. Jahrhunderts zurückgehende romanische Kirche S. Michele in Pavia. Als Krönungskirche des Langobardenreiches war sie einer der Schicksalsorte europäischer Geschichte. 1155 nahm sich Friedrich I. Barbarossa hier während seines ersten Italienzuges die lombardische Krone. In Augustins Grabkirche in Pavia werden auch Reliquien des Philosophen Boethius (ca. 480 – 524) aufbewahrt, der als Grundleger der mittelalterlich-scholastischen Philosophie gilt. Aufgrund einer Willkürmaßnahme des Ostgotenkönigs Theoderich wurde er in der Vicolo San Zeno in Pavia gefangengehalten und hat dort in der Zeit bis zu seiner Hinrichtung die einflussreiche Schrift „Trost der Philosophie“ verfasst. Eine Gedenktafel am Palazzo Malaspina erinnert daran. Später lebte hier Petrarca, der bei der Lektüre von Augustins „Bekenntnissen“ überwältigt wurde von der Einsicht, „dass nichts bewundernswert ist außer der Seele“.
Archäologischer Park in Cassago Brianza und Ausstellungsräume der Associazione Storico-Culturale S. Agostino mit römischen Fundstücken, Piazza Papa Giovanni XXIII Beato, Internet: www.cassiciaco.it (nördlich von Mailand, zwischen Como und Bergamo). Reste der frühchristlichen Basilica di S. Tecla und des Baptisteriums S. Giovanni alle Fonti in Mailand, Zugang zu der unterirdischen Grabungsstätte vom Dom aus, Internet: www.duomomilano.it. Basilica di S. Ambrogio in Mailand mit dem Grab des hl. Ambrosius und der frühchristlichen Kapelle S. Vittore in Ciel d’Oro, Piazza S. Ambrogio. Basilica S. Pietro in Ciel d’Oro in Pavia an der gleichnamigen Piazza, Grabkirche des hl. Augustinus und des Boethius, Internet: www.santagostinopavia.it.
Literatur:
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Ambrosius: Über die Mysterien. In: Pflichtenlehre und ausgewählte kleinere Schriften. Bibliothek der Kirchenväter. Kempten und München, 1917. Ambrosius: Der Tod, ein Gut. Freiburg, 1992. Augustinus: Philosophische Frühdialoge: Gegen die Akademiker. Über das Glück. Über die Ordnung. Zürich, 1972. Augustinus: Selbstgespräche. Soliloquiorum libri duo. München, 1965. Augustinus: Über die wahre Religion. De vera religione. Stuttgart, 1983. Augustinus: Die Auslegung der Psalmen. Christus und sein mystischer Leib. Paderborn, 1955. Augustinus: Bekenntnisse. Stuttgart, 1996.
Literatur:
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Augustinus: Dreieinigkeit. Bibliothek der Kirchenväter. München, 1936. Augustinus: Über den Wortlaut der Genesis. De Genisi ad litteram. Bd. 2, Buch VII – XII, Paderborn, 1964. Brown, P.: Augustinus von Hippo. München, 2000. Campenhausen, H.: Lateinische Kirchenväter. Stuttgart, 1995. Flasch, K.: Augustin – Einführung in sein Denken. Stuttgart, 2003. Fuhrer, T.: Augustinus. Darmstadt, 2004. Gilson, E.: Der heilige Augustin. Breslau, 1930 (frz.: Introduction à l’étude de S. Augustin. Paris, 1969). McGinn, B.: Die Mystik im Abendland. Bd. 1: Ursprünge. Freiburg, 1994. Ruh, K.: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. I., Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts. München, 2001.
Bernhard Bräutigam der Seele
von
Clairvaux lairva Bernhard von Clairvaux in Burgund
F
estlich mit bunten Wimpeln sind die Gassen geschmückt, die hinaufführen auf den Burgberg von Fontaine, nordwestlich von Dijon, der alten herzoglichen Hauptstadt von Burgund. Ein Spruchband am Eingang zur Grünanlage auf der Kuppe begrüßt die Besucher des Kirchweihfestes: „Bienvenue à la kermesse.“ Unter alten Linden findet eine Tombola für wohltätige Zwecke statt. Es riecht verlockend nach Saucisse, die auf dem Schwenkrost über offenem Feuer brutzelt. Ein Clown unterhält die Kinder mit Späßen und singt mit ihnen Chansons. Man schaut über die Wohnblocks von Dijon in der Ebene, die sich nach Süden bis an die Rebhänge der Côte d’Or erstreckt, dem bedeutendsten Weinbaugebiet Burgunds, und im Osten bis zum Bauernland an der Saône. Der Festplatz nimmt etwa die Fläche ein, auf der einst die Burg stand, die hier an strategischer Stelle den Zugang nach Dijon sichern sollte. Alte Abbildungen zeigen eine bescheidene Anlage im Stil der befestigten Gutshöfe, wie man sie in den ländlichen Ortschaften Burgunds antrifft. Ein Lehnsmann des Herzogs von Burgund war der Ritter Tescelin, der am Ausgang des 11. Jahrhunderts das Kommando über die Burg hatte und im Gefolge des Herzogs an den zeitüblichen Scharmützeln mit benachbarten Landesherren teilnahm – heute bestenfalls noch Gegenstand der Regionalgeschichte, wenn nicht eines der sieben Kinder Tescelins einer der bedeutendsten Männer der Kirche und der einflussreichste Mystiker des Mittelalters geworden wäre: sein Sohn Bernhard von Fontaine, der spätere heilige Bernhard von Clairvaux. Auf dem Burgberg von Fontaine-lès-Dijon ist er 1090 geboren worden. Noch lange danach blieb die Burg Adelssitz, bis sie 1613 an den zisterziensischen Reformorden der Feuillants kam, der sie zum Kloster um- und ausbaute. Im Bereich des Geburtshauses Bernhards wurden zwei Kapellen eingerich-
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tet, dem inzwischen heiliggesprochenen Bernhard und der Muttergottes geweiht. Wie an vielen anderen Orten hat die Französische Revolution hier keinen Stein auf dem anderen gelassen. Heute existieren von der Burg nur noch Fundamente, vom Kloster ein Portal. Ab 1821 wurden die Kapellen als „Maison natale de Saint Bernard“ wieder hergerichtet. Später kamen noch ein Turm im historisierenden Stil einer mittelalterlichen Burg, eine klassizistische Säulenhalle und eine Wallfahrtskirche hinzu. Vor der Bernhardstatue unter der Säulenhalle haben sich Jugendliche zum Kartenspiel niedergelassen. Die Theatralik im halbdunklen Innenraum der Kapellen erinnert an die bedrückenden Ehrenmale für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, wie man sie nicht weit entfernt auf den Schlachtfeldern an der Marne errichtet hat, wo die Schritte dumpf hallen über den Katakomben der Beinhäuser: „De profundis clamavi ad te“ – Aus der Tiefe rufe ich zu Dir. Im Schein der Opferkerzen kann man die Votivtafeln lesen, die zum Dank für Gebetserhörungen an den Wänden angebracht sind: „Danke Hl. Bernhard – Köln-Longerich 2000.“ Unter dem Datum des 9. November 1877 bedankt sich ein A. de B. für den erfolgreichen Abschluss seiner Examen. Ein handgeschriebener Zettel an der Tür zum Oratorium im Turm mahnt: „Dieu habite dans le silence“ – Gott wohnt in der Stille. Der junge Bernhard hat hier auf der Burg beides erfahren, was sein Leben und Wirken prägen und in einer ständigen Spannung zwischen schwer zu vereinbarenden Polen halten sollte: einerseits die stille tiefinnige Religiosität, in der ihn seine Mutter Aleth von Montbard erzogen hat, und andererseits das politisch-strategische Denken und Handeln, das ihm sein Vater und die Brüder vorlebten. Oft wird er ihnen zugehört haben, wenn sie die Pläne des Herzogs und die eigenen militärischen Schachzüge erörterten, zu ihren Füßen die herzogliche Stadt und das weite Umland mit seinen dörflichen Ansiedlungen und kleinen florierenden Ortschaften. Anders aber als seine Brüder, die das Kriegshandwerk erlernt hatten, wählte Bernhard schließlich die Stille eines abgelegenen und besonders strengen Reformklosters. Doch bereits nach wenigen Jahren in der klösterlichen Abgeschiedenheit wuchsen dem mit charismatischer Ausstrahlung und organisatorischer Intelligenz gleichermaßen begabten jungen Mönch weitgespannte Aufgaben zu, zuerst bei der Konsolidierung der noch in Ansätzen steckenden klösterlichen Reformbewegung, der er beigetreten war, und schließlich bei der Lösung politischer und kirchlicher Konflikte in ganz Europa. Nach seiner schulischen Ausbildung bei den Kanonikern in Châtillon-sur-Seine war durchaus noch nicht klar, welche Richtung er einschla-
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gen würde. Die Entscheidung für das Ordensleben traf erst der bereits Einundzwanzigjährige auf dem Weg nach Grancey, wo sein Vater und seine Brüder mit den Kriegsscharen des Herzogs den dort verschanzten Grafen von Saulx belagerten. Unterwegs, so berichtet die „Vita Prima“, die erste, noch zu seinen Lebzeiten begonnene Lebensbeschreibung, quälte ihn die Unfähigkeit, sein Leben sinnerfüllt auszurichten. Innere Unruhe trieb ihn in eine der kleinen Bauernkirchen. Während des Gebetes in dem Kirchlein lösten sich alle Unsicherheiten auf, und mit großer Gewissheit erkannte er nun, dass er Mönch werden wollte. Gut einen Tagesmarsch nördlich von Dijon, gänzlich verloren und verschollen im hügeligen Waldland an der Grenze zur Champagne, liegt noch heute das Landstädtchen Grancey-leChâteau auf einer Anhöhe mit den erhaltenen Befestigungsmauern, gegen die Bernhards Brüder mit dem Kriegsvolk des Herzogs angerannt sind. In der bäuerlichen Landschaft, wo oft im weiten Rund der bewaldeten Hügel kein Gebäude zu sehen ist, kann man sich in den einsamen Gang Bernhards im Jahre 1111 hineinversetzen. Für Bernhard als Spross des einheimischen Adels wäre es nun naheliegend gewesen, in eine der wohlhabenden und einflussreichen Benediktinerabteien einzutreten, die ihm einen sicher gebahnten Weg eröffnet hätten, vom Noviziat über die Priesterweihe bis zu möglicherweise hohen kirchlichen Ämtern. Saint-Bénigne im nahen Dijon, wo seine früh verstorbene Mutter beigesetzt war, oder auch das mächtige Cluny im Süden Burgunds wären in Frage gekommen. Aber Bernhards Entscheidung war eben keine nüchterne Wahl zum eigenen Vorteil, sie war das genaue Gegenteil, nämlich die mit der ganzen Persönlichkeit vollzogene Abkehr von allem Wollen für sich selbst. Die hier getroffene Grundentscheidung formulierte er später als das höchste Ziel seiner Mystik: An die Stelle der Selbstliebe muss eine Gottesliebe treten, in der man völlig von sich absieht und „Gott um seiner selbst willen“ liebt (BvC 1/119). Diese Liebe, die nichts will, bekommt doch alles, denn sie findet in Gott den einzigen vollen und endgültigen Sinn, während derjenige, der sich an endliche und flüchtige Ziele bindet, letztlich enttäuscht wird, weil zuletzt immer ein Ungenügen bleibt und ungestillte Sehnsucht. Vielleicht hatte Bernhard die Erfahrung seiner orientierungslosen Jugendzeit vor Augen, als er in seiner Schrift „Über die Gottesliebe“ schrieb: „Du kannst Leute sehen, die in königlichen Häusern und prächtigen Palästen wohnen und dennoch täglich Haus an Haus reihen und voll Sorge und Unruhe ständig bauen und wieder zerstören, Eckiges in Rundes verwandeln. Und wie ist es mit Menschen, die hohe Ehren genießen? Sehen wir nicht, wie sie in unersättlichem Ehrgeiz mit allen ihren Kräften immerzu nach Höherem streben? Und sie alle finden deshalb
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kein Ende, weil in all diesen Dingen nicht ein einzigartiges Höchstes oder Bestes gefunden werden kann“ (BvC 1/105). Aber auch das Streben nach einer selbstlosen Gottesliebe ist ein nie endender Annäherungsprozess, den Bernhard auf die folgende paradoxe Formel gebracht hat: „Voll Güte bist du, Herr, für die Seele, die dich sucht. Doch was bist du für die, welche dich findet? Doch darin besteht das Wunderbare, dass niemand dich suchen kann, der dich nicht schon gefunden hat. Du willst also gefunden werden, damit man dich sucht, und gesucht werden, damit man dich findet“ (BvC 1/111 ff.). Und alle Anstrengung ist vergebens, wenn Gott sich nicht zuerst zu uns herabneigt. Nur wenige erreichen in diesem Leben in wenigen herausgehobenen Augenblicken mystischer Entrückung eine noch höhere Stufe, wo „der Mensch auch sich selbst nur mehr um Gottes willen liebt“ (BvC 1/121). In der selbstlosen Gottesliebe erst findet der Mensch auch zu wahrer Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe. Ganz in diesem Sinne begann Bernhard sofort nach der vollzogenen Lebenswende, seine Brüder und Freunde davon zu überzeugen, sich ihm anzuschließen, denn er wollte möglichst viele auf dem Weg zum Heil mit sich nehmen. Es klingt unglaublich, aber die kriegserprobten Haudegen legten tatsächlich ihre Waffen beiseite und schlossen sich dem zarten jungen Mann mit der zwingende Ausstrahlung an, wie einst die Fischer ihre Netze liegen ließen, um Jesus zu folgen. Die um Bernhard versammelte Gruppe, die bald aus dreißig Männern bestand, wollte es sich nicht leicht machen und erst nach genauer Selbstprüfung entscheiden, wie ihr Weg ins Kloster aussehen sollte. Man zog sich auf ein Anwesen der Familie Bernhards zurück, um in ruhiger Abgeschiedenheit mit der klösterlichen Lebensform Erfahrungen zu sammeln. Schon hier wird Bernhard führend und prägend gewesen sein, denn in seinem zerbrechlichen Körper lebte ein eiserner Wille. Bald war klar, dass man eine Alternative zum traditionellen benediktinischen Mönchtum suchen wollte, das bis zum 11. Jahrhundert die einzige klösterliche Lebensform im katholischen Europa gewesen war. Im sechsten Jahrhundert vom asketischen hl. Benedikt gegründet, war es inzwischen zu behäbigem Wohlstand gekommen. Seine Kirchen hatten sich von Orten des stillen Gebets zu überlaufenen Wallfahrtsstätten und Grablegen für Herrscherfamilien gewandelt. Die sprudelnden Einnahmequellen aus Stiftungen und Zehntsteuern ermöglichten Prunk und Pracht. Vom „Bete und arbeite“, der Losung des Ordensgründers, war nur noch das ausgeuferte, den Tag fast ganz ausfüllende Chorgebet geblieben – zwar von kunstvoller Schönheit, aber ohne die harmonische Ausgewogenheit von tätigem und kontemplativem Leben, wie sie der hl. Benedikt gewollt hatte. Mit harten Worten wird sich Bernhard später in seiner Schrift „Apologia“ gegen solche Auswüchse wen-
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den: „O Eitelkeit über Eitelkeit, aber nicht weniger wahnwitzig als eitel! An den Wänden zeigt die Kirche ihren Glanz, an den Armen ihre Knickrigkeit. Ihre Steine bekleidet sie mit Gold, ihre Kinder lässt sie nackt. Mit dem, was für die Armen aufgewendet werden müsste, frönt sie den Augen der Reichen“ (BvC 2/195). Doch wie immer, wenn Verfall sich breitmacht, stehen auch Gegenkräfte dagegen auf. Romuald von Ravenna (951 – 1027) etwa hatte in Italien die Kamalduenser gegründet, die zurückwollten zum ursprünglichen mönchischen Ideal des asketischen Lebens als Einsiedler. Mit einem ähnlichen Programm war Bruno von Köln (1030/35 – 1101) in ein abgelegenes Hochtal bei Grenoble gezogen, um sich dort mit anderen Einsiedlern niederzulassen. Das erste Kloster des Kartäuserordens ist daraus hervorgegangen. Beide nahmen sich die Altväter zum Vorbild, die ab dem 3. Jahrhundert in der ägyptischen Wüste ihr einsames, dem Gebet gewidmetes Leben geführt hatten. Ein Ansatz zur Reform des in Gemeinschaften lebenden benediktinischen Mönchtums war das von Robert von Molesme im Jahre 1098 gegründete Kloster Cîteaux. Robert war bereits Abt des Klosters von Molesme gewesen, als er mit einer kleinen Schar Gleichgesinnter in die Waldeinsamkeit südlich von Dijon ging, um dort neu zu beginnen. Die Neugründung sollte den Geist der Regel Benedikts wiederbeleben. Damit Gebet und Arbeit wieder ins Gleichgewicht kommen konnten, wurde die ausgeuferte Liturgie gekürzt. Alles sollte zu mönchischer Schlichtheit zurückgeführt werden. Prunk und Pracht wurden aus Kloster und Kirche verbannt. Die Mönche trugen Kutten aus grober ungefärbter Wolle statt des schwarzen Ordenskleides der Benediktiner, das aus fein gewebtem Stoff geschneidert war. Dieser Reformversuch steckte noch in den Anfängen, als Bernhard und seine Schar hier im Jahre 1113 anklopften und um Aufnahme baten. Bernhards Charisma hat dazu beigetragen, dass von den bescheidenen Anfängen in Cîteaux bald eine gewaltige Bewegung ausgehen sollte, der neue einflussreiche Orden der Zisterzienser. Erste Tochterklöster konnten ab 1113 mit La Ferté und Pontigny gegründet werden. Bereits mit der dritten Gründung betraute man den jungen Bernhard, der gerade erst sein Noviziat abgeschlossen hatte. Die Gruppe, die ihn begleitete, bestand überwiegend aus den Familienmitgliedern und Freunden, die mit ihm in Cîteaux eingetreten waren. 1115 zogen Bernhard und seine Begleiter nach Zisterziensersitte in ein wildes, abgelegenes Tal beim Fluss Aube, nicht weit nördlich von Dijon, aber bereits in der südlichen Champagne gelegen. Die Mönche tauften den Ort, der bisher wegen der hier umherstreifenden Räuberbanden als verrufen und unsicher galt, Clairvaux (Helles Tal). Die Anfänge inmitten der noch unerschlossenen Gegend und in den schnell er-
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richteten hölzernen Bauten waren auch ohne die Askese, die sich die Mönche selbst auferlegten, äußerst karg. Die Nahrung bestand aus Bohnen, Erbsen, Hirse, Gerstenbrot, Bucheckern und Buchenblättern, Wurzeln und wilden Möhren, die man in der Umgebung fand – alles gänzlich fett- und fleischlos zubereitet. Die einfachen Behelfsbauten waren kalt und feucht. Bernhard wollte sich in jugendlicher Übertreibung noch härter in die Pflicht nehmen. Seinem ohnehin schwächlichen Körper mutete er zusätzliches Fasten und die Strapazen nächtlicher Gebetswachen zu, bis er schwer an einer Magenschleimhautentzündung erkrankte. Bernhard folgte, wie viele andere mittelalterliche Mystiker auch, mit brennendem Eifer einer unchristlichen Vorstellung, nach der man den Körper durch Selbstkasteiung und Askese abtöten müsse, da er mit seinen niedrigen Bedürfnissen nur Hindernis für ein geistiges und gottzugewandtes Leben sei. Dieser in seinem Ursprung neuplatonische Dualismus, wie er unter anderem von Augustinus in das christliche Denken hineingetragen worden ist, hat sich bis in die jüngste Zeit in einem oft verkrampften Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit ausgewirkt. Auf Betreiben des Bischofs Wilhelm von Champeaux, der Bernhard freundschaftlich verbunden war, ordnete die Äbteversammlung an, dass Bernhard sein Amt als Abt ruhen lassen musste, bis er sich auskuriert hatte. Entlastet von der harten Klosterdisziplin in einer abseits für ihn errichteten Hütte erholte er sich zwar, aber ein chronisches Magenleiden blieb ihm lebenslang und führte immer wieder zu quälenden Beschwerden. In der „Vita“ findet sich dazu folgender Bericht: „Als nun sein häufiges Erbrechen von Unverdautem und Rohem wegen des verdorbenen Magens den anderen recht unangenehm zu werden begann, am meisten, wenn sie im Chor sangen, begab er sich dennoch nicht aus der Gemeinschaft der dort versammelten Brüder, sondern ließ sich einen Behälter besorgen und bei seinem Platz in die Erde eingraben und kam dort, so gut er konnte, ziemlich lange seinem schmerzhaften Zwang nach“ (nach Dinzelbacher 38). Trotzdem war er unermüdlich tätig, um neue Mönche einzuwerben. Von dem hageren Asketen mit dem Blick des Mystikers muss eine bannende Ausstrahlung ausgegangen sein, denn immer wieder kam er von seinen „Fischzügen“, wie die „Vita“ seine Werbekampagnen nennt, mit zahlreichen eintrittswilligen Männern zurück. Bald konnten auch von Clairvaux aus Tochterklöster gegründet werden: Trois-Fontaines im Jahre 1118 und schon ein Jahr später Fontenay. Viele weitere Töchter und Töchter dieser Töchter sollten folgen. Auch Cîteaux und die anderen Tochtergründungen entwickelten eigene Zweige von Tochterklöstern. Mitentscheidend für diesen Erfolg war die 1119 von der Äbteversammlung beschlossene Ordensverfassung, die Charta caritatis. Danach mussten die gründenden Klös-
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ter ihre Tochterklöster visitieren, diese wiederum die von ihnen gegründeten, sodass ein durchgehendes Aufsichtssystem entstand – Qualitätssicherung durch Auditierung, wie man heute sagen würde. Mit dem jährlich tagenden Generalkapitel aller Äbte wurde ein zentrales Entscheidungsgremium geschaffen. Für die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die erfolgreiche Kultivierung der unwirtlichen Landstriche, in denen sich die Zisterzienser niederließen, sorgten eigene Werkstätten und eine eigene Landwirtschaft, denn man wollte den Lebensunterhalt durch Arbeit sichern und nicht durch Schenkungen, Stiftungen oder Einnahmen aus Zehntsteuern und Lehnsherrenrechten. Eine besonders große Zahl von Laienbrüdern, die sogenannten Konversen, die anders als die Chormönche keine Priesterweihe hatten, konnte so aufgenommen und versorgt werden. In Cîteaux, dem Mutterkloster aller Zisterzen, ist die Ordenstradition bis heute lebendig. Eine halbe Autostunde südlich von Dijon führen schnurgerade Straßen vorbei an goldgelben Getreidefeldern und ausgedehnten Flächen mit Mais und Raps. Dazwischen stehen dunkle Gehölze – Erinnerung an die einst unzugängliche Wildnis, die hier herrschte, bevor die Mönche die Gegend in fruchtbares Ackerland verwandelten. Eine hell gestrichene Mauer umfriedet das Klostergelände. Die moderne Kirche gleicht von außen einem belanglosen Zweckbau und die großen Wirtschaftsgebäude und Stallungen könnten auch zu einem landwirtschaftlichen Betrieb gehören. Wer aus kunsthistorischem Interesse das rein Museale sucht, ist hier falsch. Wenige alte Gebäude sind erhalten. Reste der Bibliothek aus dem 15. und das sogenannte Définitoire aus dem 17. Jahrhundert liegen verlassen und funktionslos außerhalb des heutigen Klosterbereichs. Nur der im 18. Jahrhundert errichtete klassizistische Konventbau wird noch von der Mönchsgemeinschaft genutzt. Alles andere ist abgetragen worden, nachdem im Jahre 1791, im Zuge der Französischen Revolution, das Kloster aufgehoben und als Steinbruch veräußert worden war. Nach fast siebenhundert Jahren klösterlicher Tradition richteten sich eine Zuckerfabrik und später eine Strafanstalt für Jugendliche auf dem Gelände ein. Doch 1898 kehrten die Mönche zurück. Die 1664 gegründete strenge zisterziensische Reformrichtung der Trappisten übernahm die heruntergekommenen Gebäude. So ist hier zwar wenig zu besichtigen, was uns die Vergangenheit näherbringt, aber der zisterziensischen Spiritualität kann man an diesem Ort des lebendigen Gebetes eher begegnen als an den eindrucksvollen, aber ihrer ursprünglichen Bestimmung entfremdeten musealen Orten. Am Parkplatz empfängt ein gedeckter Laubengang aus rohen Holzbalken die Besucher. In mehreren Sprachen sind dort Meditationsimpulse zu lesen: „Während du diesen Ort durchwanderst, lausche von ganzem Her-
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zen dem, der dich fand, bevor du selbst ihn suchtest: Er ist die Liebe, die aus dir strömt, unendlich und ständig neu – F. Olivier Quenardel, Abt von Cîteaux.“ Von hier aus führt ein „Weg des Schweigens“ zum Besuchereingang. Mosaiken teilen den Weg in Abschnitte, die jeweils hundert Jahre Klostergeschichte symbolisieren sollen. Es duftet nach frischem Heu. Die Blätter der großen Pappeln rascheln im Wind. In der Kirche, die als Gefängniskirche nach der Klosteraufhebung errichtet und 1998, anlässlich der 900-Jahr-Feier, umfassend erneuert wurde, erklingt siebenmal am Tag das Chorgebet der Mönche, von der Vigil um vier Uhr morgens bis zur Komplet um zwanzig Uhr. Es ist eine moderne Kirche, die im zisterziensischen Geist der Schlichtheit gestaltet ist. Die hell gestrichenen Wände sind kahl – nichts als Untergrund für das Spiel des Lichts, das aus den Obergaden und den sechs rechteckigen Fensteröffnungen im glatten Ostabschluss des Mönchschores hereinfällt. Wer Cîteaux besucht, sollte auch die tätige Seite des zisterziensischen Lebens kennenlernen. Ein Klosterladen verkauft Produkte aus klösterlicher Produktion, vor allem den berühmten cremigen Käse. Auf dem Papier, in das die Käselaibe eingeschlagen sind, steht zu lesen: „Prière & Travail“ – Gebet und Arbeit, die Losung des benediktinischen Mönchtums. Auch Clairvaux, Bernhards erste Gründung, wurde bald nach der Französischen Revolution verkauft und zunächst als Glas- und Papierfabrik genutzt, bis man die Gebäude ab 1811 in ein Gefängnis umwandelte. Erst seit 1971 werden die Häftlinge in einem auf dem Gelände neu errichteten Zellentrakt untergebracht. Eine private Gesellschaft bemüht sich um die Restaurierung der während der Nutzung als Gefängnis verwahrlosten und entstellten Klostergebäude und organisiert Führungen. Aus dem 12. Jahrhundert ist nur das Laienbrüderhaus erhalten. Die anderen Gebäude sind dem 18. Jahrhundert zuzuordnen. Die hohe Mauer, die einst das Kloster umgab, wird jetzt überragt von den Kanzeln der Wachtürme. Es ist Schichtwechsel. Dunkelblau uniformiertes Wachpersonal eilt zu den parkenden Autos, um heimzufahren. Vor der ehemaligen Klosterbibliothek und dem Torhaus, wo immer noch die Gefängnisverwaltung ihre Büros hat, warten Frauen und Kinder auf den Beginn der Besuchszeit. An den Fenstern hängen graue zerschlissene Gardinen, und die Schäden im Mauerwerk sind nur flüchtig verputzt. Ein paar verlorene Rosenstöcke verkümmern am Tennisplatz für das Wachpersonal gegenüber. Schwalben kreisen über verlassenen Gebäuden und fliegen durch zerschlagene Scheiben zu ihren Nestern. Die Abteigebäude tragen noch alle Spuren der Gefängniszeit: Manche Fenster sind vermauert, vor anderen hat man Gitter angebracht. Aus dem Mauerwerk ragen rostige Eisenstangen mit Isolatoren für
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die Elektrokabel, die man außen auf der Mauer entlanggeführt hatte. In einer Etage sind noch die engen Holzkäfige zu sehen, in denen man die Gefangenen nachts einschloss. Verdreckte Matratzen und ausgebaute Kloschüsseln liegen aufgeschichtet in ehemaligen Zellen. Im Kreuzgang hat man ein zusätzliches Zwischengeschoss eingezogen, um noch mehr Gefangene zusammenpferchen zu können, die von privaten Unternehmern in der Gefängnisfabrik profitabel ausgebeutet wurden. „1859 waren es 1650 Männer, 489 Frauen und 555 Kinder, nahezu 2700 Verurteilte“ (Vilain / Leroux 33). Trotz der Schändung durch die mehr als anderthalb Jahrhunderte andauernde barbarische Nutzung können die Klostergebäude ihre schlichte Würde nicht verleugnen, aber vom Geist Bernhards ist hier nichts mehr zu entdecken. Man erfasst eher die Extreme des menschlichen Lebens und lernt etwas über die Schrecken der jüngeren Sozialgeschichte. In der Trostlosigkeit des heutigen Clairvaux kann man sich nicht mehr vorstellen, dass hier zu Bernhards Zeit und noch Jahrhunderte danach das friedliche Gleichmaß mönchischen Lebens herrschte. Bernhard wird es als besonders heilsam empfunden haben, wenn er von seinen Reisen in diese Ruhe zurückkehrte, körperlich bis zum Äußersten erschöpft und aufgerieben durch die Kämpfe in der Welt draußen, denn immer öfter wurde er als Vermittler und Friedenstifter in politischen und kirchlichen Händeln eingeschaltet. In der Stille des Klosters konnte er wieder die stillen Weiten Gottes erfahren, in manchen Augenblicken mystischer Entrückung als absolute Geborgenheit. In einer seiner Predigten klingt dies nach, wenn er über den innersten Ort der Gottesbegegnung in der Seele schreibt: „Hier herrscht wahrhaftig Ruhe. Der ruhige Gott beruhigt alles, und ihn in seiner Ruhe zu erblicken bedeutet zu ruhen“ (BvC 5/347). 1135 kehrte Bernhard erst im November, nach einem Jahr fast ununterbrochener Aktivitäten, in das schon vorweihnachtlich gestimmte Clairvaux zurück. Im März des Jahres hatte er in Bamberg erfolgreich zwischen dem Kaiser Lothar und den Staufern Konrad und Friedrich vermittelt, die sich gegen Lothar erhoben hatten. Eilig musste er dann über die Alpen nach Pisa reiten, wohin zu Pfingsten Papst Innozenz ein Konzil einberufen hatte. Den ganzen Rest des Jahres blieb er im spannungsgeladenen Mailand damit beschäftigt, die Stadt nach einer umstrittenen Bischofswahl zu befrieden. Befreit vom Druck, als öffentliche Person in unzähligen Verhandlungen und Auftritten agieren zu müssen, durfte er sich nun zu Hause wieder fallenlassen in die Innenwelt seiner Seele, in der er oft gänzlich eingezogen lebte. Zeitgenossen berichten, dass er häufig nicht wahrnahm, was in seiner Umgebung geschah. Bei einer Reise zum Kloster der Kartäuser etwa soll er den Genfer See nicht bemerkt haben, an dem er mit seinen Begleitern vorbeigeritten
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war. Was er in seinen inneren Bildern fand, muss ihn im Advent 1135 besonders zur Meditation über das Hohelied angeregt haben, eine in den Kanon des Alten Testamentes aufgenommene altorientalische Liebesdichtung. Das in dieser Dichtung besungene zarte Spiel der Annäherung von Braut und Bräutigam ist schon früh bildhaft ausgelegt worden als das Verhältnis Gottes zu seinem Volk, als Sinnbild für die Einheit von Christus und seiner Kirche und als Gleichnis für die mystische Einung der Seele mit Gott. Bernhards erste, für seine Mitbrüder gehaltene Predigt über das Hohelied entstand in dieser vorweihnachtlichen Zeit als Beginn einer Predigtreihe, die er bis zu seinem Tod fortsetzen sollte. Sie ist sein mystisches Hauptwerk, in dem bisweilen verhalten eigene Erfahrungen anklingen. Mit der Einfühlung des Kontemplativen zeigt er an Bildern aus dem Hohenlied, dass sich die Seele und das göttliche Wort wie Braut und Bräutigam einander liebend zuneigen können zur mystischen Umarmung und Vermählung. Auch hier bleibt die Liebe sein großes Lebensthema, denn die selbstlose Gottesliebe ist das Ziel des mystischen Aufstieges, mit ihr wird alle Angst besiegt und wahrer Sinn gefunden: „Die Liebe verlangt außer sich selbst keinen Grund und keine Frucht. Ihre Frucht ist ihr Genuss. Ich liebe, weil ich liebe; ich liebe, um zu lieben. Etwas Großes ist die Liebe, aber nur, wenn sie zu ihrem Urgrund zurückkehrt, wenn sie sich ihrem Ursprung wieder schenkt, wenn sie zu ihrer Quelle zurückfließt und von ihr immer empfängt, wovon sie ständig strömen kann“ (BvC 6/615). In höchster Intensität kann uns das in herausgehobenen Augenblicken der Entrückung bereits in diesem Leben geschenkt werden, in seiner ganzen Fülle werden wir es erst im verklärten Leib der Auferstehung und im Angesicht Gottes erfahren. Bernhards mystische Erfahrung ist ganz geistige Berührung ohne bildhafte Visionen, reine „Bewegung des Herzens“ (BvC 6/501). Sie gestaltet „Geist und Sinn“ des Menschen um, damit er Gott gleichgestaltet wird in der Liebe. Diese „Vergöttlichung“ ist kein Aufgehen und Verschwinden der Seele in Gott, also keine „Vereinigung der Wesenheiten“, sondern die Einheit in der „Übereinstimmung der beiden Willen“ (BvC 1/123; 6/455). So gilt für Bernhard anders als etwa für Meister Eckhart, der die Grenzen des Göttlichen überschreiten will: „Das Ebenbild Gottes, und nicht Gott, ist die ‚Form‘ des Menschen“ (Gilson 1950, 107). Obwohl er in manchen Äußerungen der Bescheidenheit seine Unerfahrenheit betont, wird an vielen Stellen in seinem Werk deutlich, dass er weit auf dem Weg mystischer Erfahrung vorangeschritten war. Man spürt seine Erschütterung, wenn er davon berichtet, wie nach der Rückkehr aus der mystischen Umarmung alles „starr und kalt dazuliegen beginnt“ (BvC 6/501). So war es auch angemessen, dass ein verbreitetes Motiv der mittelalterlichen Bern-
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Abb. 5:
Bernhardsminne, Klosterkirche Bebenhausen, um 1490
hard-Ikonographie ihn unter dem Kreuz zeigt, von dem Christus sich zu ihm herabneigt zur innigen Umarmung, denn er hat selbst erfahren, dass die Herabneigung des göttlichen Wortes zur mystischen Einung mit der Seele eine kaum fassbare und „wunderbare Herablassung“ ist (BvC 6/401). Diese sogenannte Amplexus-Darstellung oder Bernhardsminne ist verknüpft mit einer legendarischen Begebenheit, die auf einen Bericht des Abtes Meinhard von Moris zurückgeht (Paffrath 192). In seltener Doppelbegabung war Bernhard nicht nur hoch kontemplativ, sondern auch organisatorisch-strategisch befähigt. Robert hatte mit der Gründung von Cîteaux die Initialzündung für die Reform gesetzt, seine Nachfolger Alberich und Stephan Harding haben sie dann mit großer Umsicht weitergeführt, aber Bernhard erst hat ihr die Schubkraft gegeben, die
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das schneeballartig sich über Europa ausbreitende Netzwerk von Zisterzienserklöstern hat entstehen lassen. Sein entscheidender Beitrag ist an der Anzahl der von Clairvaux aus gegründeten Klöster abzulesen: „Bei seinem Tod 1153 gab es 68 unmittelbare und 97 mittelbare, also zusammen 165 Tochterklöster. Das entsprach fast der Hälfte aller damals existierenden Zisterzen“ (Dinzelbacher 39). Fontenay, Bernhards zweite Tochtergründung von Clairvaux aus, liegt auch heute noch still und abgelegen in einem bewaldeten Tal, das die ursprüngliche Wildheit und Einsamkeit des Ortes ahnen lässt. Die Gebäude blieben erhalten, weil sie nach Enteignung und Verkauf des Klosters im Jahre 1791 als Papierfabrik genutzt wurden. Der kunstliebende Lyoner Bankier Édouard Aynard, in dessen Besitz die Anlage im Jahre 1906 kam, ließ die alte Baugestalt unter dem Schutt und den Veränderungen der Fabrikzeit wieder freilegen. So ist das mittelalterliche Fontenay heute als ein großartiges Zeugnis der frühen Zisterzienserarchitektur zu besichtigen. Stille und Maß bestimmen den Ort. Einfach und klar sollte alles sein, ohne den Prunk und das Himmelsstürmende der großen Benediktinerabteien Cluny und Saint-Denis. Nichts sollte ablenken vom Gebet und der kontemplativen Versenkung in die Ansprache des himmlischen Bräutigams. Funktionsgebäude wie die Schmiede unterscheiden sich kaum vom gedrungenen turmlosen Kirchenbau. Alle Lebens- und Arbeitsbereiche der Mönche sind um den Kreuzgang angeordnet – kurze Wege für den selbstgenügsamen Mikrokosmos der zurückgezogenen Mönchsgemeinschaft. Vom Dormitorium, dem Schlafsaal der Mönche, führt eine Treppe über den südlichen Querhausarm direkt in die Kirche und zum Mönchschor. Gegenüber der Treppe öffnet sich die „Pforte der Toten“ zum Friedhof hin. Gut sichtbar wird so, dass wir nur Pilger sind auf der Durchreise zu einer letzten Heimat. Ohne den aufwendigen zeitüblichen Kapellenkranz schließt der Chor mit einer geraden Ostwand ab. Große Fenster lassen sie in einer Lichtaura fast transparent erscheinen. Vom sparsam durchfensterten, halbdunklen Kirchenraum aus verstärkt sich dieser Eindruck noch. Der dreischiffige Kirchenraum selbst ist nüchtern und schmucklos, denn er hatte keinerlei Repräsentationsaufgaben zu erfüllen, er diente allein dem Gebet der Mönchsgemeinschaft. Alles ist maßvoll, aber doch nur wie der fossile Abdruck einer lebendigen Form, deren Schönheit wir noch am Maßvollen des Abdrucks erkennen, der aber selbst entseelt ist, weil alles Leben daraus gewichen ist. In der Schmiede simuliert elektrische Beleuchtung das Flackern des Feuers auf der Esse. Kein Hämmern ist zu hören, kein Läuten vom Glockenreiter ruft mehr zum Gebet, das Dormitorium und die Kirche sind nichts als leere Hallen. Man muss sich vorstellen, wie die Mönche
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Abb. 6:
Ehemalige Klosterkirche Fontenay, Blick zum Ostchor
zur Vigil, dem nächtlichen Gebet, die Treppe vom Dormitorium herunterkamen und im dürftigen Schein der Talglampen ihre Gebetbücher aufschlugen. Mit dem Einfluss des Ordens wuchs auch Bernhards Bekanntheit als moralische Autorität. Oft wurde er zu Hilfe gerufen, oft aber griff er auch ungefragt ein, insbesondere bei der Besetzung von Bischofsstühlen, denn die von ihm kritisierten Verfallserscheinungen waren nicht auf die
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Abb. 7:
Ehemalige Abtei Fontenay, Konventbau und Chor der Kirche (rechts)
Orden beschränkt. Viele kirchliche Amtsträger bereicherten sich hemmungslos und kümmerten sich weder um das geistliche noch das leibliche Wohl ihrer Anbefohlenen. Ämterkauf, Machtmissbrauch und Doppelmoral waren an der Tagesordnung. Bernhard wusste, dass sich die skrupellosen Ämterjäger nicht durch Weihrauch und fromme Worte von ihren Pfründen hätten vertreiben lassen. So spielte er mit auf dem unheiligen Spielfeld des Machtpokers. Alle ihm zu Gebote stehenden Mittel, vor allem sein immer einflussreicheres Netzwerk setzte er ein, um seine Kandidaten durchzuboxen oder unwürdige abzusetzen. Er selbst lehnte alle Bischofswürden ab, die ihm immer wieder angetragen wurden. Die Echtheit seiner schlichten Lebensführung wird mit zur Überzeugungskraft dieses asketischen Predigers beigetragen haben. So wuchs sein Einflussbereich weiter, bis er zum gesamtkirchlichen Mahner geworden war. Papst Innozenz II. etwa hat es Bernhards Eingreifen zu verdanken, dass er den Gegenpapst Anaklet aus dem Feld schlagen konnte. Aber wo Erfolg ist, sind meist auch Niederlagen nah, und wer handelt, ist nicht geschützt vor Fehlern und Fehleinschätzungen. So trägt man Bernhard bis heute zu Recht nach, dass er die Verurteilung der Lehren des
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Theologen und Philosophen Abaelard mit unfairen Mitteln durchgesetzt hat, ohne sich einer öffentlichen Disputation zu stellen und ohne seine Argumente gerecht zu würdigen. Abaelard gilt als einer der Wegbereiter der scholastischen Philosophie, die mit den Mitteln des schließenden begrifflichen Denkens die theologischen Fragen erhellen wollte. Bernhard dagegen war allein der Autorität der Heiligen Schrift verpflichtet und ihrer symbolisch-allegorischen Auslegung nach der Vätertradition. Die Lehren Abaelards erschienen ihm eine ungeheuerliche Selbstüberhebung der menschlichen Vernunft zu sein. Noch hundert Jahre sollte es dauern, bis die scholastische Philosophie des Thomas von Aquin dann zeigen konnte, wie sich Glaube und Vernunft in Harmonie verbinden lassen. Abaelards Lehren fehlte noch dieses Ausgleichende der reifen Scholastik, und ein moderner Subjektivismus kündigte sich in ihnen an. Bernhard hat das mit feinen Antennen gespürt. Gescheitert ist Bernhard mit seinem Einsatz gegen die Sekte der Katharer, die sich in Südfrankreich wie ein Flächenbrand verbreitete. Nur von kurzer Dauer war der Erfolg seiner Predigtreise in die Hochburgen dieser Bewegung, und noch lange nach Bernhards Tod hatte die Kirche mit dem Sektenwesen in Südfrankreich zu kämpfen. In modernen Geschichtsbüchern werden die Katharer oft romantisiert dargestellt als eine sozialreformerische und gegen die verluderte Kirchenhierarchie gerichtete Bewegung. Ihre Kirchenkritik, wie sie ja auch von innerkirchlichen Bewegungen wie den Zisterziensern vorgetragen wurde, traf in vielen Punkten zu, trotzdem muss man deutlich sehen, dass ihre Botschaft vor allem eine menschenfeindliche dualistische Lehre war, nach der die sichtbare Welt ein Werk des Satans ist und von Grund auf böse. Ritualisierter Selbstmord durch Nahrungsverzicht, die sogenannte Endura, kam bei ihnen regelmäßig vor, denn der Tod bedeutete die Befreiung der Seele aus dem zur bösen Welt gehörenden Leib. Auch heute hätte man sie möglicherweise (wie andere gefährliche Sekten mit Gruppenselbstmorden) unter polizeiliche Beobachtung gestellt. Dass Bernhard bei ihnen mit seinen Argumenten nicht durchdrang, lag wohl auch daran, dass er selbst in seinem Denken und Handeln nicht frei war von Weltverneinung und einem neuplatonischen Dualismus. Klar und philosophisch begründet lässt sich gegen jeden Dualismus argumentieren, dass die Welt von dem einen und einzigen Gott gut geschaffen und gewollt ist, und dass ein böses Weltprinzip als gleichmächtige Schöpferkraft dem Begriff Gottes in sich widerspricht. Bernhards Argumente klingen dagegen verquast, denn sie bestätigen indirekt, was sie verurteilen wollen. Mit ihrer Spitzfindigkeit konnten sie von den südfranzösischen Bauern kaum verstanden werden, etwa wenn Bernhard sich mit den Spei-
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sevorschriften des Sektierers auseinandersetzt: „Er verabscheut Milch und Milchprodukte, ja schließlich alles, was aus einer geschlechtlichen Beziehung stammt. Richtig und christlich wäre es, dies nicht deswegen zu tun, weil es aus einer geschlechtlichen Beziehung stammt, sondern damit es nicht zu einer solchen Beziehung verleitet“ (BvC 6/379). Das große Schlussdrama in Bernhards Leben war sein Einsatz bei der Vorbereitung des zweiten Kreuzzuges. Da die christlichen Kreuzfahrerstaaten im Heiligen Land durch den Fall von Edessa in Bedrängnis geraten waren, hatte der Papst zu einem neuen Kreuzzug aufgerufen. Anders als etwa der weitsichtig die Reichspolitik mitgestaltende Abt Suger von SaintDenis ließ sich Bernhard in die Pflicht nehmen und als impulsiver Gefühlsmensch schließlich sogar für die Kreuzzugsidee begeistern. Papst und König sahen in ihm den geeigneten Mann, der den noch widerstrebenden Adel überzeugen konnte. In Vézelay, einem bedeutenden Wallfahrtsort in Burgund am Pilgerweg nach Santiago de Compostela, fand am 31. März 1146 die legendäre Versammlung statt, mit der die Stimmungswende zugunsten des Kreuzzuges eingeleitet werden sollte. Weil selbst die große, auf Pilgermassen ausgelegte Wallfahrtskirche die zusammengeströmte Menge nicht fassen konnte, wurde die Zusammenkunft auf die weiten, zum Tal hin abfallenden Wiesenhänge im Norden der Stadt verlegt. Auf einem dort aufgebauten Holzpodest zeigte sich der französische König Ludwig an Bernhards Seite den Massen, umgeben von den Großen des Reiches. Ein Herold verlas den päpstlichen Kreuzzugsaufruf, und der König nahm als Erster das Kreuz aus der Hand Bernhards. Ob Bernhard auch zur Menge gesprochen hat, ist umstritten, die vermutete Kreuzzugspredigt jedenfalls ist nicht erhalten, anders als die brieflichen Kreuzzugsaufrufe an die Edlen ganz Europas, denen er zuruft: „Gürtet euch mannhaft und ergreift im Eifer für den Christennamen die heilbringenden Waffen!“ (BvC 3/655). Schon in einer Schrift für den Kreuzritterorden der Templer, die der junge Bernhard achtzehn Jahre vor der Kampagne für den zweiten Kreuzzug verfasst hat, unterscheidet er die verwerfliche Gewalt der Ritter, die zu Händeln und Raubzügen ausziehen, von der berechtigten Gewalt der „Ritter Christi“ zur Verteidigung der Christenheit und der heiligen Stätten. Ihre Gewalt ist danach immer nur letztes und aufgezwungenes Mittel, das überflüssig sein wird, wenn das Gottesvolk sich durchgesetzt hat. „Sicher sollen deshalb die Völker, die am Krieg Lust haben, zerstreut und zerhauen werden“, heißt es in der Templerschrift (BvC 1/279). Das idealisierte Bild des „neuen Rittertums“, das er hier zeichnet, hatte nichts mit der brutalen Wirklichkeit des ersten Kreuzzuges gemeinsam. Die Untaten der Kreuzfahrer gipfelten nach der Eroberung Jerusalems im Jahre 1099
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Abb. 8:
La Cordelle in Vézelay
in einem gnadenlosen Blutrausch, dem kaum einer der Einwohner entkommen konnte. Bernhard war nicht weltfremd, er wird gewusst haben, welch dunkle Wahrheit sich unter dem Rankenwerk der Legendenbildung verbarg. Wie es bei der großen Versammlung in Vézelay zugegangen sein muss, kann man vor Ort am besten erfassen. Schon von weitem sind die Türme des Ortes zu sehen, der auf einer Anhöhe erbaut ist. Der Weg hinauf führt über die westliche Flanke der Anhöhe, durch eine Gasse, aus der Vézelay im Wesentlichen besteht, bis zur Basilika Sainte-Marie-Madeleine – rechts und links Andenkengeschäfte, Pilgerherbergen, Wirtshäuser. Im Mittelalter fanden hier fünftausend Einwohner ihr Auskommen, heute noch fünfhundert. Vom Platz vor der Basilika führt ein Fußweg hinunter zu dem Ort, an dem die große Auftaktversammlung für den zweiten Kreuzzug stattgefunden hat. Ein großes Holzkreuz zeigt ihn an. Wo das Holzpodest gestanden hat, haben Benediktiner wenige Jahre danach eine Einsiedelei mit Kapelle gebaut. 1217 übernahmen Franziskaner die inzwischen verlassene Einsiedelei als ihre erste Niederlassung in Frankreich. Auch hier setzte die Französische Revolution ein Ende, bis 1949 wieder Brüder in
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die Einsiedelei zogen. „La Cordelle“ heißt das kleine Heiligtum nach der einfachen Kordel, mit der die Franziskaner sich umgürten. Die Kapelle ist ein schlichter Raum aus Bruchsteinen mit einer umlaufenden steinernen Bank. In der Apsis brennt eine Öllampe. Auf dem Altartisch steht ein einfaches Holzkreuz. Das Grün der Bäume leuchtet durch die ungefärbten Scheiben. Draußen rauscht der Regen auf die Blätter der großen Linden, die das kleine Gotteshaus überragen. Eine Fliege summt unter der Decke. Aus der Ferne kommt leises Gewittergrollen. Kaum fassbar ist hier die erregte Stimmung des Massenauflaufs von 1146. Besser vorstellen kann man sich die Szenerie, wenn man hinaustritt und über die ausgedehnten Wiesenhänge schaut, die auf der anderen Seite des Tals bei dem kleinen Ort Asquins wieder ansteigen. Man muss sich die Tausende vor Augen holen, die sich hier als unübersehbare Menge versammelt hatten. Kaum glaubhaft ist, dass Bernhard zu ihnen gesprochen hat. Er hätte Lautsprecher benötigt, um sich verständlich zu machen. Aber das wäre wohl gar nicht nötig gewesen, denn die großen symbolischen Gesten werden dem mittelalterlichen Menschen vollkommen ausgereicht haben: Der König nimmt das Kreuz aus Bernhards Hand, der König zeigt das Kreuz der Menge, Mönche eilen zu den Menschen und geben ihnen Stoffkreuze, die sie sich an die Kleider heften, Bernhard zerschneidet seinen Mantel zu Kreuzzeichen, als die vorgefertigten Stoffkreuze ausgehen, Bernhard segnet die Kreuzfahrer. Von Mund zu Mund wird es weitergesagt: „Das Kreuz“, „Gott will es“, und es schwillt zu einem Brausen an, in dem ohnehin jedes Wort eines Redners untergegangen wäre. So etwa lauten die Berichte der Zeitgenossen. Aus der Feder des Abtes Wilbald haben wir eine Beschreibung der Faszinationskraft, die von der bloßen Anwesenheit des hageren Asketen in seiner einfachen grauen Kutte ausging: „Seine durch Strenge und Fasten ausgemergelte Gestalt sowie seine Blässe verliehen ihm ein gleichsam vergeistigtes Aussehen, sodass der bloße Anblick dieses Mannes die Menschen überzeugte, bevor er den Mund auftat“ (nach Ruh 251). Stellen wir dies zu der Szenerie der großen Versammlung in Vézelay, haben wir das ganze Bild. Ein ähnliches Bild muss sich Weihnachten 1146 im Dom zu Speyer geboten haben, als Bernhard auch den noch zögernden deutschen König Konrad III. dazu brachte, das Kreuz zu nehmen. Doch schon im Vorfeld des Kreuzzuges kündigte sich an, dass die Unternehmung unter keinem guten Stern stand. In der aufgeheizten Aufbruchstimmung flackerten Judenpogrome auf, deren Brandschein vor allem im Rheinland züngelte, wo der Hassprediger Radulf die Menschen aufstachelte. Durch sein persönliches Erscheinen an den Orten des Aufruhrs konnte Bernhard dem erfolg-
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reich ein Ende setzen. Im Mai 1147 brach das deutsche Heer von Regensburg aus auf, das französische folgte im Juni. Man zog gegen den dringenden Appell Bernhards in getrennten Marschsäulen, und die militärischen Führer zerstritten sich. So kamen bald Hiobsbotschaften über das vollständige Scheitern des Feldzuges. Ein großer Teil des stolzen Heeres verblutete schon im anatolischen Bergland unter den Angriffen der seldschukischen Reiterschwärme. Die zerschlagenen Reste wurden bei dem strategisch unsinnigen Versuch Damaskus einzunehmen völlig aufgerieben. Vielleicht war es Unbeugsamkeit, vielleicht aber auch schon Altersstarrsinn, dass sich der gebrechliche Bernhard nun vehement für einen dritten Kreuzzug einsetzte, sich sogar zum Anführer dieses Unternehmens wählen ließ, ein Vorhaben, das schnell im Sande verlief. Bernhard ahnte wohl, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben würde, als er gewissermaßen als sein kirchenpolitisches und theologisches Testament mit „De consideratione“ eine Sammlung von Hinweisen und Ratschlägen für Eugen III. schrieb, der seit 1145 als erster Zisterzienser das Amt des Papstes innehatte. Eugen, tu dies, denk an das, heißt es darin vertraulich, wie es sich wohl nur der unantastbare, inzwischen über allem stehende Bernhard herausnehmen konnte. Er hoffte, dass der Zisterzienser auf dem Stuhl Petri die Reformen, die er selbst an vielen Stellen versucht hatte durchzusetzen, mit der Macht seines Amtes vorantreiben würde. Im abschließenden Kapitel mahnt Bernhard den Papst, über das notwendige Tun nicht die Besinnung auf die Schau dessen, was über uns ist, zu vergessen, denn das Handeln nach rein endlichen Zwecken, ohne auf dieses Höhere hingeordnet zu sein, greift zu kurz, es sät „zwar viel, erntet aber nichts“ (BvC 1/779). Noch mehr als sonst mag er sich nun in sich selbst zurückgezogen haben, und seine mystischen Erfahrungen könnten sich intensiviert haben, denn jetzt drängte es ihn, seinen Mitbrüdern davon zu berichten, während er sich sonst auf Andeutungen beschränkt hatte. In einer seiner letzten Predigten über das Hohe Lied ließ er sie einen tiefen Blick tun in das Innerste seiner Seele und gab uns damit eines der großen Selbstzeugnisse mystischer Erfahrung: „Ich gestehe, dass das Wort auch zu mir gekommen ist, und zwar öfters. Als Narr rede ich (2 Kor 11,17). Und obwohl es öfters bei mir eintrat, merkte ich mehrere Male nicht, als es eintrat. Ich merkte, wenn es da war, ich erinnere mich, dass es da gewesen ist; manchmal konnte ich auch sein Eintreten vorausahnen, fühlen niemals, nicht einmal sein Fortgehen (Ps 120,8) … Auf welchem Weg kam es also herein? Oder vielleicht kam es gar nicht herein, weil es nicht von draußen kommt? Denn es ist nicht eines von den Dingen, die draußen sind (1 Kor 5,12). Endlich kam es auch nicht aus meinem Inneren, denn es ist gut, und ich
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weiß, dass in mir nichts Gutes ist. Ich stieg auch in mein Höheres hinauf, und siehe, das Wort überragte auch dieses. Auch in mein Tieferes stieg ich als neugieriger Forscher hinab und fand trotzdem das Wort noch tiefer. Wenn ich hinausblickte, erfuhr ich, dass es außerhalb meines Äußersten war; blickte ich in mein Inneres, so war es noch innerlicher. Und ich erkannte, wie wahr es ist, was ich gelesen hatte: ‚Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir‘ (Apg 17,28). Aber selig ist jener, in dem das Wort ist, der ihm lebt, der von ihm bewegt wird“ (BvC 6/499 ff.). Der Stern Bernhards war bereits im Sinken, und die zisterziensische Reformbewegung zeigte erste Verfallserscheinungen, als er am 20. August 1153 in Clairvaux starb. Sein Grab in der Klosterkirche ist während der Französischen Revolution zerstört worden, die sterblichen Überreste wurden verstreut, allein Teile des Schädels konnte der letzte Abt von Clairvaux rechtzeitig in Sicherheit bringen. Sie werden heute in einem Reliquienschrein in der Kathedrale von Troyes verwahrt. Tief in die Wirrnisse und Umtriebe der europäischen Geschichte hineingezogen, hat Bernhard seine Zeit entscheidend mitgeprägt. Immer blieb er dabei zerrissen zwischen der Sehnsucht nach Stille und dem Willen, gestaltend Einfluss zu nehmen und vor allem die Verfallserscheinungen des Ordenslebens und der kirchlichen Organisation seiner Zeit zu heilen, wo immer er konnte – um den Preis, dass er oft weite Reisen unternehmen und monatelang seinem Kloster fernbleiben musste. Gleichberechtigt neben seiner organisatorisch-politischen Leistung steht sein theologisch-mystisches Werk, das aus biblischen Quellen lebt und die kirchliche Tradition selbstverständlich aufnimmt, aber doch eine außergewöhnliche Eigenschöpfung ist. Vor allem vermittelt durch ein unübersehbares volkstümliches Schrifttum, das an ihn anschloss, hat er die mittelalterliche Religiosität beeinflusst. Er hat den Weg gewiesen für die Mystiker nach ihm, die in ihrer eigenen Seele die mystische Brautschaft entdeckten und in Bernhards Brautmystik Bilder fanden, in die sie ihr eigenes Erleben übersetzen konnten. Im alten Kernland Burgunds gibt es sowohl die Stille abgelegener Landstriche, wie sie die Zisterzienser suchten, als auch Kultur und lebendige Städte in Fülle, so das alte Beaune mit dem mittelalterlichen Hospital Hôtel-Dieu und Dijon, die ehemalige Residenzstadt der Herzöge von Burgund. Die Ruinen des untergegangenen Cluny, einst Mutterkloster eines einflussreichen Klosterverbandes, liegen nahe bei einem der Kraftorte heutiger Spiritualität, der von Frère Roger 1949 gegründeten Communauté Taizé, wo sich jahrein, jahraus Tausende treffen zu Meditation und Gebet und wo in schlichter Andacht immer wieder erklingt: „Ubi caritas et amor, Deus
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Praktische Hinweise:
ibi est“ – Wo Güte und Liebe herrscht, da ist Gott – ein Leitwort, das auch Bernhards Mystik bestimmt hat, aber nicht immer sein politisches Handeln.
Fontaine-lès-Dijon: Burgberg mit dem Gebäudeensemble „Maison Natale“ am Place des Feuillants. Internet: www.fontainelesdijon.fr. Abtei Cîteaux, ca. 30 Kilometer südlich von Dijon bei Nuits-St.-Georges. Internet: www.citeaux-abbaye.com; Anmeldung zur Besichtigung über E-Mail: [email protected]. Ehemalige Abtei Clairvaux bei Bar-sur-Aube, Haute-Marne, heute Justizvollzugsanstalt, Besichtigung der historischen Gebäude ist nur nach Vorlage des Ausweises und mit Führungen möglich. Internet: abbaye-clairvaux.barsuraube.net. Ehemalige Abtei Fontenay bei Montbard. Internet: www.abbayedefontenay.com.
Literatur:
Vézelay: „Croix St.-Bernard“ und die Kapelle „La Cordelle“. Fahrweg links an der Basilika vorbei oder Fußweg beginnend beim Maison du Chapitre, ca. ein Kilometer. Internet: catholique-sens-auxerre.cef.fr/cordelle/index.htm.
Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke. Bd. 1 – 10, Innsbruck, 1990 – 1999. Bernhart, J.: Die philosophische Mystik des Mittelalters. München, 1922. Deremble, C.; P. Plagnieux: Abtei Fontenay. Moisenay, 2006. Dinzelbacher, P.: Bernhard von Clairvaux. Darmstadt, 1998. Frizot, J.; T. Perrin: Sur le pas de Bernard de Clairvaux et de Cisterciens. Rennes, 2006. Gilson, É.: Die Mystik des heiligen Bernhard von Clairvaux. Wittlich, 1936. Gilson, É.: Der Geist der mittelalterlichen Philosophie. Wien, 1950. Köpf, U.: Bernhard von Clairvaux in der Frauenmystik. In: P. Dinzelbacher; D. R. Bauer (Hrsg.): Frauenmystik im Mittelalter. Ostfildern, 1985. Köpf, U.: Religiöse Erfahrung in der Theologie Bernhards von Clairvaux. Tübingen, 1980. Leclercq, J.: Bernhard von Clairvaux – Ein Mönch prägt seine Zeit. München, 2005. McGinn, B.: Die Mystik im Abendland. Bd. 2: Entfaltung. Freiburg, 1996. Paffrath, A.: Bernhard von Clairvaux. Leben und Wirken – dargestellt in den Bilderzyklen von Altenberg bis Zwettl. Bergisch Gladbach, 1984. Ruh, K.: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. I.: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts. München, 2001. Vilain, G.; J.-F. Leroux: Die Abtei Clairvaux. Itinéraires du patrimoine. Paris, 2004.
Hildegard Die wahre Schau von Bingen Bin g Die Hildegard von Bingen an Rhein und Nahe
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o sich die weiten Wellen des Nordpfälzer Hügellandes und die einsamen Kuppen des Hunsrück treffen, erhebt sich weithin sichtbar der Disibodenberg über dem Zusammenfluss von Glan und Nahe. Wald bedeckt den Höhenzug und verbirgt die noch vorhandenen Gemäuer des einst mächtigen Klosters, das Benediktiner- und Zisterziensermönche dort errichtet hatten. Eine milde Herbstsonne wirft durch das Blattwerk des Waldes flirrende Netze aus Lichtpunkten und Schatten auf Säulenstümpfe, mittelalterliche Grabplatten und ragende Mauerreste. Wurzeln zwängen sich wie dicke Bohrer zwischen die Fugen des Gemäuers. Efeu rankt um die Bruchstücke von Steinmetzarbeiten. Lange war die im Gefolge der Reformation aufgegebene Anlage verwahrlost und schließlich von den umliegenden Ortschaften als Steinbruch genutzt worden. Der Romantik und ihrer Liebe für das Mittelalter ist es zu verdanken, dass die Ruinen nicht völlig abgetragen und versunken sind. Ab 1841 ließ der Eigentümer des ehemaligen Klostergutes, dem auch das Gelände auf dem Disibodenberg gehörte, die Reste der Anlage sichern und zu einer schaurig-schönen Kulisse umgestalten, wie sie die Ausflügler der damaligen Zeit liebten. Grabungen nach 1962 haben weitere Fundamente und Mauern freigelegt. Grundriss und Anordnung der Klostergebäude, die sich um den Kreuzgang und die Abteikirche gruppierten, lassen sich noch gut erkennen: Der Kapitelsaal, das Dormitorium, der Küchentrakt mit einem erhaltenen mittelalterlichen Backofen, Wirtschafts- und Pfortengebäude. Die Außenmauern des Hospizes und der Nordgiebel des Abteigebäudes aus zisterziensischer Zeit stehen noch. In der Blütezeit des Klosters pulsierte hier das Leben und Treiben eines großen einflussreichen Konventes. 1554, in der Zeit des Niederganges nach kriegerischen Wirren und Plünderung wäh-
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rend des Bayerischen Erbfolgekriegs, bewohnte schließlich nur noch der Abt mit einem einzigen Mönch die schon verfallenden Klostergebäude. Das Vordringen der Reformation brachte dann bald mit der Aufhebung des Klosters durch Herzog Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken das endgültige Aus. Die Besucher verlieren sich in dem weitläufigen Gelände. Eine Gruppe übt im Bereich des ehemaligen Chores vor dem dort neu aufgerichteten steinernen Altartisch die chinesische Bewegungsmeditation TaiChi. Die langsamen konzentrierten Bewegungen scheinen die Energie des Ortes aufzunehmen. Vielleicht ist noch etwas spürbar von dem geistigen Kraftstrom, der sich hier in der hochempfänglichen Seele der Hildegard von Bingen wie in einem Brennspiegel konzentriert hat. Ab 1112, von ihrem vierzehnten Lebensjahr an, lebte sie in einer dem Kloster unterstellten Frauenklause ganz von der Außenwelt abgeschlossen als sogenannte Inkluse. Ihre Eltern, adelige Gutsbesitzer aus Bermersheim bei Alzey, hatten früh erkannt, dass ihre Tochter ungewöhnliche Begabungen hatte. Von klein auf war sie durch Erzählungen über seltsame Gesichte aufgefallen. Schon die dreijährige Hildegard sah überwältigende Lichterscheinungen und unaussprechlich „große Wunderdinge“, wie sie später selbst berichtete (Kastinger 20; HvB 1965, 25). Ihre unerklärliche Andersheit, die sie schließlich vor anderen zu verbergen suchte, ängstigte und bedrückte sie. So war es wohl eine gute Entscheidung, das schwierige Kind von seinem achten Lebensjahr an gemeinsam mit der tief religiösen Jutta von Sponheim erziehen zu lassen. Bei der sechs Jahre älteren Grafentochter aus einem befreundeten Adelsgeschlecht fand sie Verständnis und Interesse für ihre Sehergabe. Beide Mädchen erhielten über mehrere Jahre Unterricht von der klösterlich lebenden Witwe Uda von Göllheim, dabei wohl auch Rat und Lenkung für ihre noch ungefestigte und religiös erregte Seele. In dieser Zeit wurde die Grundlage gelegt für die verschworene Frauengemeinschaft, die bis zum frühen Tod Juttas andauerte. Die charismatische Jutta wird mit ihren Plänen für ein ganz gottgeweihtes Leben begeisterten Widerhall bei der spirituell hochsensiblen und Orientierung suchenden Hildegard gefunden haben. Heiligenviten lieferten ihnen Vorbilder, etwa die des irischen Mönchs Disibod, der auf dem Disibodenberg im neunten Jahrhundert als Einsiedler gelebt hatte. Das dort neu gegründete Kloster, nicht weit entfernt von ihrer rheinischen Heimat, bot die Möglichkeit zur konkreten Umsetzung. Vier Jahre nach der Gründung des noch im Bau befindlichen Klosters war es dann so weit. Hildegard und Jutta bezogen zusammen mit einem weiteren jungen Mädchen die dort für sie eingerichtete Klause, begleitet von ihren Eltern und Verwandten. Die getragene, einer Beisetzungsfeierlichkeit gleichende Ab-
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schiedszeremonie sollte die endgültige Ablösung von allem Weltlichen symbolisieren, das von der vollständigen Hinwendung auf Gott ablenken konnte. Arbeiter vermauerten hinter den drei Mädchen den Eingang der Klause und besiegelten so auch äußerlich die endgültige Trennung von der Welt. Nur eine vergitterte Öffnung blieb für den Kontakt mit Besuchern; über eine Durchreiche erfolgte die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen. Die Familien der jungen adeligen Nonnen hatten durch entsprechende Schenkungen an das Kloster ihren Unterhalt auf Lebenszeit gesichert. Die Zellen waren spartanisch ausgestattet; immerhin schrieben die Regeln für das Inklusenwesen drei Fenster vor. An einer Öffnung zur Klosterkirche konnten die Klausnerinnen am Gottesdienst teilnehmen. Ein kleiner umfriedeter Kräutergarten ermöglichte etwas Bewegung im Freien. Die zwanzigjährige Jutta von Sponheim übernahm die Führung der in ihrer Einschließung nun ganz und gar mit sich selbst beschäftigten Frauengemeinschaft. Im Gleichmaß des klösterlichen Lebens flossen die Jahre und Jahrzehnte dahin. Die in den frühen Morgenstunden mit der Matutin beginnenden Stundengebete, einfache Handarbeiten, kurze Erholungsstunden und Arbeiten im Kräutergarten gliederten den immer gleichen Tagesablauf. Hildegards schon als Kind ausgeprägte visionäre Gabe wurde hier, unter Ausschaltung aller Ablenkungen, weiter geschärft. In der Abgeschiedenheit der Klause – schweigend oder beim meditativen Gebet – gab es wenig, das ihren Geist von den immer intensiver aufsteigenden inneren Bildern abziehen konnte. Im Winter, wenn die Fenster gegen die Kälte mit ölgetränktem Papier und Stofffetzen abgedichtet waren, wurde im spärlichen Schein der Talglichte und des Kaminfeuer alles zu Schemen und Schatten; im Sommer fiel durch die schmalen Öffnungen nur trübes Licht herein. In ihrer Seele aber sah sie einen „überhellen Glanz“, in dem sich ihr das „lebendige Licht“ Gottes zeigte. Sie konnte es nicht direkt schauen, es zeigte sich ihr nur als der „Schatten“ des lebendigen göttlichen Lichtes, das irdischen Augen nicht zugänglich ist. Darin aber schaute sie wie in einer Spiegelung ihre visionären Bilder, die so das Siegel des Überirdischen erhielten (HvB 1991, 5; 1965, 226 f.). Immer wieder spricht sie in ihren Briefen von der „wahren Schau“, die ihr so zuteil wurde. Aus der Enge ihrer Zelle wurde sie im Geiste emporgetragen „wie eine Feder“. In dem „kleinen Zelt“ ihrer Seele nahm die unermessliche Weite des Geistes Wohnung und ließ sie geradezu kosmische Dimensionen schauen, eine Überschau der Schöpfung von überwältigender Schönheit und Wohlordnung. Nie ließ sie ganz die „zitternde Furcht“ los angesichts des Geschauten. Krankheiten plagten sie nicht nur als Folge des ungesunden Lebens in den klammen Gemäuern. Auch die geistige Anstrengung und Beunruhigung zehrte an ihren körperlichen Kräf-
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ten. Jutta, die sich das Einsiedlerleben noch zusätzlich durch fortgesetzte Selbstkasteiungen schwergemacht hatte, starb nach vierundzwanzig Jahren in der Klause. Sie war nur vierundvierzig Jahre alt geworden. Ihre Mitschwestern, die den Leichnam für die Beisetzung vorbereiteten, fanden tief eingeprägte Male von eisernen Ketten, die sie unter ihrem Habit um den Leib getragen hatte. Als Ratgeberin für viele Menschen, die sie auf dem Disibodenberg aufsuchten, hatte sie aus der Enge der Klause in die Welt gewirkt. Hildegard, die als ihre Nachfolgerin die Führung der inzwischen zu einem kleinen Konvent von achtzehn Nonnen angewachsenen Frauengemeinschaft übernahm, folgte ihr auch darin. Noch zu Juttas Zeit war als Folge der geänderten Umstände die strenge Abschließung der Klause gelockert worden. Aus bescheidenen Anfängen war ein benediktinisches Nonnenkloster entstanden. Weitere fünf Jahre ging das Klosterleben seinen gewohnten Gang, bis schließlich an einem Tag im Jahre 1141 – Hildegard war zweiundvierzig Jahre alt – sich das Licht ihrer Visionen zu einem feurigen, blitzenden Licht steigerte: „Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand; es verbrannte nicht, war aber heiß, wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den ihre Strahlen fallen“, schildert sie es selbst in der Rückschau (HvB 1991, 5). Diese Vision wies ihr einen neuen Weg: Sie sollte aus der Verborgenheit heraustreten und das Geschaute, das sie die vielen Jahre und Jahrzehnte „in tiefem Schweigen“ begraben hatte, aufschreiben und mitteilen. Wie der apokalyptische Seher auf Patmos hörte sie eine Stimme sagen: „Verkünde es also laut, und schreib es so nieder!“ (HvB 1991, 5, 7). Die Visionen prägten sich ihr stets unverlierbar ins Gedächtnis ein, sodass sie auch später noch genau schildern und aufschreiben konnte, was sie gesehen hatte. Die biblischen Texte wurden ihr dabei in symbolischer Tiefe durchsichtig, als ob es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. Aber noch sträubte sie sich gegen den Schreibauftrag. Sie zweifelte, dass sie das Geschaute „bei der Vieldeutigkeit der menschlichen Worte“ richtig würde sagen können, denn die Worte ihrer Schau klangen ihr „nicht wie die aus Menschenmund, sondern sind wie eine blitzende Flamme und wie eine im reinen Äther sich bewegende Wolke“ (HvB 1991, 6; 1965, 227). An diesem inneren Konflikt erkrankte sie schwer, bis sie schließlich doch mit der Niederschrift begann. Es wäre wohl bei privaten, tagebuchartigen Aufzeichnungen geblieben, wenn nicht der Abt des Klosters erkannte hätte, dass die Vorsteherin der kleinen, seinem Kloster angeschlossenen Frauengemeinschaft Ungewöhnliches und Bedeutendes mitzuteilen hatte. Er ließ Hildegard gewähren und beauftragte sogar den Mönch Volmar, sie zu unterstützen. Ein Glücksgriff, denn Volmar machte sich begeistert ans Werk. Er übertrug die
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von Hildegard auf Wachstafeln notierten Visionen in Reinschrift und glättete ihr ungeschliffenes Latein. Zweiunddreißig Jahre bis zu seinem Tod blieb er Hildegards Sekretär und stand ihr in manchen schwierigen Auseinandersetzungen zur Seite. Ihre erste große, „Scivias“ (Wisse die Wege) genannte Visionsschrift entstand. Was sie uns in weit ausgreifender Überschau darin zeigt, ist die Harmonie der Schöpfung im Einklang mit dem Menschen und dem göttlichen Heilsplan. Sie zeigt es in großartigen Bildern, auf deren eigenwillige Symbolsprache man sich einlassen muss, um etwas von dem Widerschein der intuitiv geschauten „jenseitigen Wirklichkeit im Abglanz seiner lebendigen Fülle“ selbst erahnen zu können (Dempf 229). Die sechsundzwanzig, in drei Teile gegliederten und jeweils ausführlich kommentierten Visionen spannen den Bogen von der Schöpfung, die sie im Bild als unverrückbaren „eisenfarbenen Berg“ sieht, umfangen und überstrahlt vom schützenden Glanz göttlicher Herrlichkeit, bis zu den letzten Tagen: „Und alsbald erstrahlten alle Elemente in größter Heiterkeit, als wenn ihnen eine schwarze Haut abgezogen worden wäre. So verbrannte das Feuer nicht mehr, die Luft war nicht mehr getrübt, das Wasser tobte nicht mehr, und die Erde war nicht mehr vergänglich“ (HvB 1991, 581). Hildegards Symbolsprache vermag unmittelbarer das zu erfassen, was unserer sinnlichen Anschauung verschlossen und dem abstrakten begrifflichen Denken nie in seiner Fülle erreichbar ist, sie ist „Gespür für die Geheimnisse Gottes“ (HvB 1991, 118). Von großer Dichte etwa ist die zweite Vision des zweiten Teils von „Scivias“, in der sie in wenigen Sätzen ein Bild der göttlichen Dreifaltigkeit aufscheinen lässt: „Dann sah ich ein überhelles Licht und darin eine saphirfarbene Menschengestalt, die völlig von einem sanften rötlichen Feuer durchglüht war. Und das helle Licht überstrahlte das ganze rötliche Feuer und das rötliche Feuer das ganze helle Licht und das helle Licht und das rötliche Feuer die ganze Menschengestalt, sodass sie ein einziges Licht in derselben Stärke und Leuchtkraft (in una vi possibilitatis) bildeten“ (HvB 1991, 118). Von dem inneren Leben und der Einheit des ewig sich liebend verströmenden Seins der drei göttlichen Personen teilt sich darin mehr mit, als in einer theologischen Begriffssprache ausgesagt werden kann. So sind denn auch Hildegards eigene Kommentare zu ihren Visionen, die sich an der Mönchstheologie ihrer Zeit orientieren, oft weitschweifig und verlieren sich über lange Passagen in Erörterungen eher zeitgenössischer Probleme, wie dem richtigen Heiratsalter oder dem Verbot des Kirchganges für Frauen nach einer Geburt. Sie beanspruchte sehr selbstsicher auch hierfür höhere Inspirationen. Erst als gereifte Seherin erkannte sie, dass sie die Reichweite ihrer Schau wohl überschätzt hat: „Das, was ich schaue, kann ich nicht vollkommen wissen, solange ich in
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der Dienstbarkeit des Leibes und der unsichtbaren Seele bin; denn an beidem besteht beim Menschen ein Mangel“ (HvB 1965, 226). Hildegards Schrift „Scivias“ klingt aus in einem hymnischen Lobgesang, denn Gesang ist ihr zweiter Weg, sich mitzuteilen. So singt sie etwa in einem für ihre Schwesterngemeinschaft verfassten Antiphon: „Von der Tiefe bis hoch zu den Sternen überflutet die Liebe das All“ (HvB 1969, 229). Ihre Melodien bekommen Flügel und lösen sich aus der streng gebundenen Tradition der Gregorianik. Verschwebende Klänge scheinen sich in kosmische Weiten und Sphären auszustrecken wie ihre großen visionären Bilder auch. Besser als mit Worten kann sie in der gänzlich geistigen Sprache der Musik mitteilen, was sie geschaut hat, denn Gottes schöpferisches Wort ist Klang, der in der Harmonie der Welt widerklingt (HvB 1965, 39). Jahr um Jahr verging wiederum in der Abgeschiedenheit auf dem Disibodenberg über der Niederschrift von „Scivias“, die sie neben all den lebenspraktischen Aufgaben bewältigten musste, die mit der Leitung ihres Konventes verbunden waren. Es wird nicht immer leicht gewesen sein, den auf sich bezogenen Mikrokosmos der adeligen Nonnen im Gleichgewicht zu halten. Auch Hildegard selbst war Teil dieser emotionalen Dynamik. So wissen wir etwa von ihrer besonderen Zuneigung zu Richardis von Stade, Tochter der Markgräfin von Stade, die als junge Nonne ihrem Konvent angehörte. Wie der Mönch Volmar hat auch Richardis an der Aufzeichnung von Hildegards Visionen mitgewirkt. Als Richardis auf Betreiben ihrer Familie und gegen Hildegards Willen den Konvent verlassen wollte, um das Amt einer Äbtissin in einem anderen Kloster zu übernehmen, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Hildegards Verhalten dabei hatte wenig von der Gelassenheit einer geistlichen Leiterin. Noch als Richardis nach Intervention des Erzbischofs von Mainz ihr Amt übernommen hatte, schrieb sie ihr voll gekränkter Liebe: „Nun sage ich wiederum: Weh mir Mutter, weh mir Tochter! Warum hast du mich wie eine Waise zurückgelassen?“ (HvB 1965, 98). Möglicherweise hat auch der kaum erträgliche Widerstreit zwischen ihren Schuldgefühlen Hildegard gegenüber und dem Pflichtgefühl, den Erwartungen ihrer Familie entsprechen zu müssen, zum frühen Tod der Richardis beigetragen. Sie starb kaum ein Jahr später, nachdem sie Hildegards Konvent verlassen hatte. Wo genau sich die Frauenklause auf dem Disibodenberg befunden hat, lässt sich nicht mehr sicher bestimmen. Der Bereich südwestlich des Klosterkomplexes, der heute so bezeichnet wird, diente wahrscheinlich anderen Zwecken. Die mittelalterlichen Regeln für das Inklusenwesen sprechen eher für einen Bereich, der eng an die Klosterkirche angelehnt war. Der heute als Laientrakt bezeichnete Bereich westlich des Kreuzganges mit
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Abb. 9:
Klosterruine auf dem Disibodenberg, der sogenannte Laientrakt
der dort noch gut erkennbaren Einteilung in Zellen würde diese Voraussetzungen eher erfüllen (Nikitsch 44). Jedenfalls lässt sich hier ein Eindruck von der verwinkelten dunklen Enge gewinnen, wie sie in Hildegards Klause geherrscht haben mag. Wenn man über die erhaltenen Treppen hinuntersteigt in den von mannshohen Mauerstümpfen umgebenen, wabenartig gegliederten Bereich, wird lebendig fühlbar, welche Willensstärke erforderlich war, um sich Jahrzehnte, ja ein ganzes Leben als Inkluse von der Welt abzuschließen. Leise rauschen die Bäume, und nur manchmal sind aus dem Tal, von Odernheim her, weit entfernte Geräusche zu hören. So wird für die Inklusen die Welt draußen bald nur noch ein dunkler, ferner Klang gewesen sein. Dem Gedenken Hildegards ist eine kleine Kapelle gewidmet, die am Rande des Ruinenfeldes neu errichtet worden ist. Käfer krabbeln an der Außenseite der großen Fenster, die auf einen angrenzenden Rebhang und die Ortschaft im Tal schauen. Feldfrüchte, getrocknete Blumen und Vogelfedern sind auf dem einfachen runden Altartisch zu einem Stillleben ganz im Sinne Hildegards versammelt. Unterhalb der Ruine führt ein Meditationsweg an den Weinbergen entlang. Tafeln mit Zitaten aus Hildegards Werken laden zum Verweilen ein. Über einen breiten Feldweg geht es hinunter zum Hofgut Disibodenberg, wo in einem kleinen Museum Fundstücke und Steinmetzarbeiten vom Disibodenberg gezeigt werden.
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Mit der Niederschrift von „Scivias“ hatte Hildegard erst einen Teil des Auftrages erfüllt, den ihr die Vision erteilt hatte. „Verkünde es also laut, und schreib es so nieder!“, war ihr darin aufgetragen worden. Die „Verkündigung“ stand noch aus. Zwar kamen mehr und mehr Menschen auf den Disibodenberg, die, wie schon bei Jutta, Rat suchten bei der heiligmäßig lebenden und seherisch begabten Nonne. Aber Hildegard war sich ihrer Aufgabe noch unsicher. Sechs Jahre hatte sie bereits an „Scivias“ gearbeitet – doch konnten ihre Visionen nicht dunkle, krankhafte Einflüsterungen ohne Wert sein? Durfte sie damit an die Öffentlichkeit treten? In ihrer Not wandte sie sich mit einem Schreiben – es ist das erste erhaltene von ihrer Hand – an Bernhard von Clairvaux, den zu dieser Zeit bereits einflussreichsten Mann der Kirche neben dem Papst. Als Hildegard 1147 ihr Schreiben an ihn verfasste, zog Bernhard gerade landauf, landab, um predigend für einen neuen Kreuzzug zu werben. Entsprechend knapp fiel seine Antwort aus. Aber er hatte sich doch inmitten seiner zahllosen Verpflichtungen die Zeit genommen, der unbekannten Nonne zu antworten und sie zu ermutigen, „mit der ganzen Liebeskraft der Demut und Hingabe“ der ihr gewährten Gnade zu entsprechen (HvB 1965, 27). Intuitiv wird der große Seelenführer die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens und ihre Seelennot erfasst haben, denn aus eigener mystischer Erfahrung wusste er genau, wovon sie in ihrem Brief sprach. Man kann sich die Aufregung auf dem Disibodenberg vorstellen, als das Schreiben Bernhards dort eintraf und Hildegard es bebend vor Erregung las. Abt Kuno hat zweifellos erkannt, dass diese Bestätigung von Hildegards Sehergabe seinem Kloster neuen Aufschwung und Zulauf bringen würde. Ermutigt durch Bernhards positive Antwort, legte er Papst Eugen III., der im Winter 1147/48 im nahen Trier eine Synode abhielt, die bereits fertiggestellten Bögen von Hildegards „Scivias“ zur Prüfung vor. Eugen war angetan, ja begeistert. Auch Bernhard, der ebenfalls an der Synode teilnahm, könnte für Hildegard gesprochen haben. Das Urteil einer zum Disibodenberg ausgesandten Kommission war ebenfalls günstig. So hielt sie bald danach die Erlaubnis, ja die Aufforderung der höchsten kirchlichen Instanz in Händen, das von ihr Geschaute aufzuschreiben. Abt Kuno, der sein Kloster schon im Rang eines bedeutenden Wallfahrtsortes sah, sollte bald enttäuscht werden. So still und zurückgezogen Hildegard fast vierzig Jahre gelebt hatte, so wirkmächtig und unerhört selbstbewusst trat sie nun mit dem Rückhalt der päpstlichen Anerkennung aus der Verborgenheit hervor. Bereits zwei Jahre nach der Trierer Synode hatte sie gegen den heftigen Widerstand der Mönche vom Disibodenberg durchgesetzt, dass sie ein eigenes, unabhängiges Kloster gründen durfte. 1150 – Hildegard war 52 Jahre alt – übersiedelte sie mit 18 Frauen ihres Konventes auf
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den Rupertsberg bei Bingen am Rhein. Es erforderte eine lange Aufbauarbeit und zähen Durchhaltewillen, bis auf dem verwilderten Grundstück oberhalb der Nahemündung ein neues, stattliches Kloster entstanden war. Nach der schwierigen Anfangszeit wuchs der Konvent auf fünfzig Nonnen an. Es wird neben Hildegards charismatischer Persönlichkeit und ihrem visionären Ruf auch die auf dem Rupertsberg gepflegte besondere Spiritualität gewesen sein, die sie anzog. Hildegard ist es gelungen, etwas von dem Glanz ihrer Schauungen auf die Liturgie ihres Klosters zu übertragen. Sie hat Gesänge in einer neuen, ungewöhnlichen Musiksprache geschaffen, mit „Ordo virtutum“ sogar ein ganzes Singspiel, das ihre Nonnen mit verteilten Rollen auf dem Rupertsberg aufführten. Liturgie und Gottesdienst waren für sie die festliche Antwort auf das überwältigende Licht göttlicher Liebe und Herrlichkeit, das sie stets begleitete. Nicht gebeugt und verhüllt erschienen ihre Nonnen an Festtagen im Chor, sondern aufrecht mit offenem Haar und einem langen weißen Seidenschleier, der bis zum Boden reichte und von einem verzierten, goldenen Reif gehalten wurde. Es wird ein eindrucksvolles Bild gewesen sein, wenn die adeligen Nonnen gemessenen Schrittes in langem Zug hereinkamen und ihre Plätze im Chorgestühl einnahmen. Um den immer neuen Nachwuchs unterbringen zu können, gründete Hildegard 1165 auf der gegenüberliegenden Rheinseite in Eibingen bei Rüdesheim ein zweites Kloster in den leerstehenden Gebäuden eines ehemaligen Augustiner-Konventes. Mitten in den Aufbauarbeiten auf dem Rupertsberg – mit all den damit verbundenen Unzulänglichkeiten und Improvisationen – beendete Hildegard die auf dem Disibodenberg begonnene Visionsschrift „Scivias“. Und trotz der Beanspruchung durch ihre täglichen Aufgaben entstanden weitere umfassende Werke. Nach der Beendigung von „Scivias“ arbeitete sie sieben Jahre an ihren natur- und heilkundlichen Schriften, die als „Physica“ und „Causae et curae“ überliefert sind. Anders als ihre aus eigener Schau und Schöpferkraft entstandenen Visionswerke sind sie überwiegend aus dem überlieferten zeitgenössischen Wissen zusammengestellt. Es ist nicht genau gesichert, was aus ihrer Feder stammt, da nur spätere, von anderen Autoren veränderte und ergänzte Versionen erhalten sind. In diesen Schriften spiegelt sich das Fehler- und Lückenhafte des mittelalterlichen Wissens. So wird etwa die Einnahme des stark giftigen Maiglöckchens gegen Epilepsie empfohlen. Andere in der Naturheilkunde tatsächlich wichtige Pflanzen, wie die Kamille und der Fingerhut, sind gar nicht erwähnt. Es fehlen genaue Beschreibungen der Erkennungsmerkmale, der Verwechslungsmöglichkeiten und Standorte der Pflanzen, stattdessen wird auf die mythologische Bedeutung hingewiesen, etwa bei der Hainbuche, die gegen böse Geister schützen würde (Merz).
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Abb. 10: „Kosmosmensch“, Miniatur aus dem „Liber Divinorum Operum“, um 1240
1158 erschütterte sie erneut ein Visionserlebnis: „Als ich nun sechzig Jahre alt geworden, erlebte ich eine gewaltige und wunderbare Schau, und auch mit diesem Gesicht hatte ich ein halbes Jahrzehnt hindurch zu tun“ (HvB 1972, 27). Ihr „Liber vitae meritorum“, das „Buch der Lebens-
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verdienste“ entstand, ein Panorama der Tugenden und Laster, ihre Ethik gewissermaßen. Und wiederum 1163 hatte sie eine „geheimnisvolle und überwältigende Schau“, sodass sie „am ganzen Leib zutiefst erbebte“ (HvB 1998, 15). Dieses Mal wurden ihr wieder Bilder von kosmischer Weite zuteil. Die gereifte Visionärin sah jetzt schärfer; die Bilder von „Scivias“ vertiefen sich und legen sich weiter aus. In ihrem letzten großen und reifsten Werk, dem „Liber divinorum operum“ („Buch vom Wirken Gottes“), beschreibt sie den Kosmos als Weltenrad mit einem fein gestuften Schichtenbau, umfasst von der göttlichen Liebe, wie Christus in „Gestalt eines Menschen, dessen Antlitz von so großer Schönheit und Klarheit war, dass ich leichter in die Sonne hätte blicken können als in dieses Gesicht“ (HvB 1998, 19). Im Zentrum der konzentrischen Kreise des Weltenbaus erscheint die Weltenkugel mit dem Menschen, der vollkommen eingebunden ist in das verwobene Beziehungsgefüge der Schöpfung: „In der Mitte des dünnen Luftkreises war auch eine Kugel zu sehen, ringsum im gleichen Abstand von der starken, weißleuchtenden Luft. Der Durchmesser der Kugel entsprach der Tiefe des Raumes von der höchsten Stelle des obersten Kreises bis zu den äußersten Wolken oder von den äußersten Wolken bis zur Höhe dieser Kugel. In der Mitte dieses Rades erschien die Gestalt eines Menschen, dessen Scheitel oben und dessen Fußsohlen unten bis zu dem Kreis der starken, weißleuchtenden Luft reichten“ (HvB 1998, 35 f.). Die Handschriften aus dem Skriptorium vom Rupertsberg sind reich mit Miniaturen ausgestattet, eine der schönsten zeigt den „Kosmosmenschen“, der die zweite Vision aus dem „Liber Divinorum operum“ illustriert. Rätselhaft ist bis heute die von Hildegard aufgezeichnete „unbekannte Sprache“, ihre „Lingua ignota“ mit rund tausend fremd klingenden Wörtern wie „Orzchis für unermesslich; caldemia für Wohlduft; loifolum für Völker; crizanta für gesalbt; chorzta für glänzend, funkelnd“ (Horst 182). War es ein Versuch, dem Klang und Empfindungseindruck ihrer Visionen näherzukommen? Die Stimme hatte ihr ja aufgetragen: „Schreibe darüber nicht nach Menschenart“ (HvB 1991, 5). Heute sind auf dem Rupertsberg nur noch wenige Spuren von Hildegards Kloster zu finden. Während des Dreißigjährigen Krieges wurde es völlig zerstört. Nach vergeblichen Versuchen der Wiederbelebung übersiedelte der Konvent in das Tochterkloster in Eibingen und setzte dort die Rupertsberger Tradition fort. Die Ruine musste schließlich der Bahntrasse weichen, die entlang der Nahe in das Hochufer gesprengt wurde. Eine lebhafte Straße führt von Bingen über die Nahe, am Binger Bahnhof vorbei, hinauf nach Bingerbrück. Ein unscheinbarer Wegweiser zum „Rupertsberg“ zeigt nach links auf einen Parkplatz vor modernen Gewerbebauten.
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Von der Front eines Sonnenstudios kaum zu unterscheiden ist der Eingang zu den sogenannten Rupertsberger Gewölben. Hinter der modernen Glastür eines Ladenlokals führt eine Treppe hinunter in die Vergangenheit des Rupertsberges, in die gemauerten Keller, die sich unter Hildegards Kloster befunden haben. Hildegards Leichnam war hier bis zu ihrer Beisetzung aufgebahrt. Die langen einfachen Tonnengewölbe lassen noch die beträchtliche Ausdehnung des Klosters ahnen, obwohl ein großer Teil durch die Wegsprengung des Hochufers „abgeschnitten“ wurde. Der Besitzer der Gewerbebauten auf dem einstigen Klostergelände hat die Gewölbe in den 1970er Jahren wiederentdeckt und lässt sie nach und nach sanieren. Einige gähnen noch dunkel und staubig, so, wie sie Jahrhunderte in Vergessenheit dahingedämmert haben. Andere sind bereits schön wiederhergestellt und dienen kulturellen Veranstaltungen. Oben, vom Parkplatz aus, schaut man über die Gleise der Bahnlinie und die träge dem Rhein zufließende Nahe auf Bingen mit der Basilika direkt gegenüber und Burg Klopp auf einer Erhebung inmitten der Stadt. Auf der anderen Rheinseite, umgeben von Weinbergen liegt mit dunklen, leeren Fensterhöhlen das graue Gemäuer der ehemaligen Zollburg Ehrenfels. Seit mehr als tausend Jahren, also schon zu Hildegards Zeiten, überspannt die Drususbrücke die Nahe. Bereits die Römer hatten hier eine Brücke errichtet. Ein Ort also, der schon immer am Schnittpunkt wichtiger Verkehrswege gelegen hat, wie geschaffen, um von hier aus verkündigend in die Welt zu wirken. Ein aristokratischer, herausgehobener Platz zudem, hoch über der Stadt, wie eine herrscherliche Burg. Hildegard wird ihn mit Bedacht ausgewählt haben. Auch in Eibingen war ab 1802 das klösterliche Leben im Gefolge der Säkularisation erloschen. Dank einer Stiftung des Fürsten Karl zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg konnte oberhalb von Eibingen ein Kloster in der Tradition Hildegards neu errichtet werden. 1904 zogen die ersten Nonnen in den großen neuromanischen Bau ein. Den Innenraum der Abteikirche prägen Wandgemälde der Beuroner Kunstschule, die mit ihrer strengen Formensprache dem aristokratischen, unbeugsamen Geist Hildegards entsprechen. In der Pfarrkirche in Eibingen, die an der Stelle der alten Klostergründung errichtet wurde, ist der prachtvoll verzierte Schrein mit den Reliquien Hildegards aufgestellt. Hildegards neuer Lebensabschnitt nach der Übersiedelung auf den Rupertsberg stand voll und ganz im Dienst der Verkündigung. Die Menschen kamen zu ihr und wollten ihr Wort hören. Hochgestellte Persönlichkeiten baten sie um Rat. In der nahe Bingen gelegenen Kaiserpfalz zu Ingelheim traf sie den jungen Kaiser Friedrich I. Barbarossa auf dessen Einladung zu einem vertraulichen Gespräch. Selbst in theologischen Diskussi-
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onen wurde sie gehört. Gegen Magister Odo von Paris etwa bezog sie in einem Brief kundig und knapp Stellung zur Frage der Dreifaltigkeit. Dabei nahm sie wahrlich kein Blatt vor den Mund. Selbst Papst Eugen III. wurde von ihr ermahnt, strenger gegen die „üppig lebenden Prälaten“ einzuschreiten (HvB 1965, 44, 32). Als der Kaiser im Streit um die Vorherrschaft zwischen Reich und Kirche einen Gegenpapst mit Waffengewalt unterstützte, drohte sie ihm: „Wehe, wehe diesem bösen Tun der Frevler“ (HvB 1965, 86). Und sie ging zu den Menschen und predigte, ein ungeheuerlicher Vorgang für eine mittelalterliche Nonne. Mehrere Predigtreisen führten sie rheinauf und rheinab, die Mosel hinauf bis Lothringen, den Main entlang bis Bamberg. Noch mit zweiundsiebzig unternahm sie eine Reise bis ins Schwäbische. Überall prangerte sie kirchliche Missstände an. Bereitwillig ließ man sich von ihr den Kopf waschen und forderte später sogar eine Abschrift ihrer Predigt an. Immer ist es die „wahre Schau“, auf die sie sich beruft, als die eigentliche Autorität, die aus ihr spricht. Hochbetagt starb sie 1179 in ihrem 82. Lebensjahr auf dem Rupertsberg. Zahlreiche Legenden ranken sich um ihr Leben und Sterben. Hildegards Visionen sind wie ein Durchbruch in die Tiefe des Seins mit seiner großen Gesamtordnung, wie sie den leiblichen Augen verborgen bleibt; sie sind ein erster Abglanz der Visio beatifica, der beseligenden Schau, die uns erst im Angesicht Gottes zuteil wird – im „Lichtgewand“ der Seele (HvB 1969, 301). Aber sie sind eben nur Abglanz des unermesslichen Lichtes, aufgefangen, gefiltert und gebrochen im Spiegel der begrenzten menschlichen Sehkraft. Am Ende ihres Seherlebens, wenige Jahre vor ihrem Tod, hat sie das klar erkannt und in präziser Selbstbeobachtung in einem Schreiben an den Mönch Gembloux mitgeteilt. Danach erfuhr sie die mystische Nähe Gottes vor allem als Licht, das sie aber nur indirekt als „Schatten“ des eigentlichen göttlichen Lichtes sah. Die ihr darin zuströmenden visionären Bilder bauen sich auf aus Symbolen, Worten und Eindrücken ihrer Lebenswelt: „Und wie Sonne, Mond und Sterne in Wassern sich spiegeln, so leuchten mir Schriften, Reden, Kräfte und gewisse Werke der Menschen in ihm auf“ (HvB 1965, 227). Vieles hat sie so schärfer und in visionärer Klarheit erkannt. In der Fülle des überströmenden Glanzes stehend ist ihr aber auch manches als „wahre Schau“ erschienen, das lediglich zeitgenössische Meinung war. Die in der neueren Literatur sich durchsetzende Tendenz, ihr die mystische Erfahrung abzusprechen, stützt sich darauf, dass Hildegard nach eigenem Zeugnis ihre Schauungen ohne Ekstase bei klarem Bewusstsein gehabt hat. Aber sie sagt zugleich und mit großer Deutlichkeit, dass sie sich dabei in einer Art Entrückung befunden habe, „mit offenen leiblichen Augen“ zwar, aber schauend allein in der Seele, „durch
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die Augen und Ohren des inneren Menschen“. Ihre Seele wird in diesem Zustand wie „eine Feder“ zu einem geistigen Flug emporgehoben, ein Bild, das auch Teresa von Ávila verwendet. Und ganz aus mystischem Erleben spricht sie selbst von ihrer Erfahrung als einer göttlichen Berührung des „kleinen Zeltes“ ihrer Seele (HvB 1965, 227, 44, 40; 1991, 6). Mit Hildegard beginnt die mittelalterliche Frauenmystik, die zahlreiche eigenständige und bedeutende Werke hervorgebracht hat. Ihre Visionswerke lassen noch heute den, der sich für ihre Symbolsprache aufschließt, etwas von dem „lebendigen Licht“ ahnen, das sie ihr Leben lang begleitet hat. Sie gehört zu den Mystikern, die nicht bei sich geblieben sind in der Innerlichkeit erfahrener Gottesnähe, sondern mit der ihnen daraus zugeflossenen Kraft tätig und schöpferisch in die Welt gewirkt haben. In dem breiten Interesse, das heute vor allem die Naturheilkunde Hildegards findet, spricht sich die Sehnsucht nach einem ganzheitlichen Menschenbild aus, das in einer von technischen Prozessen beherrschten Welt immer weniger sichtbar ist. Auf der Suche danach können eher die Visionsschriften Hildegards weiterführen, die in zeitloser Weise den Menschen eingebunden zeigen in die alles umfassende und tragende göttliche Schöpfungsordnung. Dagegen wäre sie mit ihrer zupackenden Art die Erste gewesen, die überholte natur- und heilkundliche Rezepte und Lehren zum alten Plunder geworfen hätte. Es waren ja Mittel der praktischen Lebensbewältigung für ihre Klostergemeinschaft, die sie gerne durch bessere ersetzt hätte, denn sie war aufgeschlossen für wissenschaftliche und technische Neuerungen. So waren etwa alle Räume ihres Klosters auf dem Rupertsberg mit einem Wasseranschluss ausgestattet, wie der Mönch Gembloux in einem Brief bewundernd erwähnt. Eine Reise auf den Spuren Hildegards ist nicht vollständig ohne einen Besuch des Höhenparks auf dem Rochusberg oberhalb von Bingen. Weit reicht von dort der Blick über den Rhein nach Rüdesheim und Eibingen mit der Benediktinerinnenabtei, über die Weinberge und Burg Ehrenfels, über die Inseln und Sandbänke im Strom und nach Süden über die Höhenzüge des Nahetals. Die auf ein Pestgelübde zurückgehende, Ende des 19. Jahrhunderts nach einem Brand neu errichtete Rochuskapelle inmitten des Parks ist mit einem Hildegardaltar auch dem Andenken der großen Visionärin gewidmet. Das Hildegard-Forum der Kreuzschwestern an der Zufahrt zum Park bemüht sich mit Ausstellungen, Vorträgen, Lehrküche und Kräutergarten um die Vermittlung des Werkes der Hildegard von Bingen. Nördlich von Bingen, weltabgeschieden auf den Taunushöhen, liegt Kloster Schönau, die Wirkungsstätte der Elisabeth von Schönau (1129 – 1165), einer ekstatischen Nonne, die ebenfalls Visionsschriften ver-
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Praktische Hinweise:
fasst hat. Anders als die immer Maß und Ausgleich suchende Hildegard hat sie sich übertriebene Selbstkasteiungen auferlegt. Hildegard, mit der sie im Briefwechsel stand, ermahnte sie: „Lerne Maßhaltung.“ Ohne Erfolg, denn Elisabeth starb geschwächt durch übermäßige Askese bereits mit sechsunddreißig Jahren. Kloster Schönau ist jetzt „Eine-Welt-Haus“ des Bistums Limburg. Stromauf, bei Eltville, ist das gut erhaltene ehemalige Zisterzienserkloster Eberbach, mit dem Hildegard in engem Kontakt stand, einen Besuch wert.
Klosterruine Disibodenberg, Odernheim bei Bad Sobernheim am Zusammenfluss von Nahe und Glan, Internet: www.disibodenberg.de. Rupertsberg in Bingen-Bingerbrück, Am Rupertsberg 16, Ort der ersten Klostergründung Hildegards, Besichtigung der erhaltenen Kellergewölbe nur im Rahmen von Führungen, Anmeldung über Tourist-Information Bingen. Abtei St. Hildegard oberhalb von Eibingen bei Rüdesheim am Rhein, Klosterweg, Internet: www.abtei-st-hildegard.de. Historisches Museum am Strom in Bingen mit einem Ausstellungsteil zu Hildegard, Museumstraße 3, Internet: www.bingen.de. Auf dem Rochusberg in Bingen: Rochuskapelle mit Hildegard-Altar und Hildegard-Forum der Kreuzschwestern, Internet: www.hildegard-forum.de. Kloster Eberbach bei Eltville, Internet: www.kloster-eberbach.de.
Literatur:
Kloster Schönau, Wirkungsstätte der Elisabeth von Schönau, in Strüth im Taunus, südlich von Nastätten, Internet: www.loreley.de.
Dempf, A: Sacrum Imperium. Darmstadt, 1954. Diers, H.: Hildegard von Bingen. München, 2002. Hildegard von Bingen: Briefwechsel. Salzburg, 1965. Hildegard von Bingen: Lieder. Salzburg, 1969. Hildegard von Bingen: Der Mensch in der Verantwortung. Das Buch der Lebensverdienste (Liber Vitae Meritorum). Salzburg, 1972. Hildegard von Bingen: Wisse die Wege – Eine Schau von Gott und Mensch in Schöpfung und Zeit (Scivias). Augsburg, 1991. Hildegard von Bingen: Das Buch vom Wirken Gottes (Liber divinorum operum). Augsburg, 1998. Horst, E.: Hildegard von Bingen. München, 2003. Kastinger Riley, H. M.: Hildegard von Bingen. Reinbek, 1998. McGinn, B.: Die Mystik im Abendland. Band 2: Entfaltung, Freiburg, 1996. Merz, T.: Die Pflanzen der Hildegard in Bingen und Umgebung. Bad Kreuznach, 1998.
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Literatur:
Die wahre Schau
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Nikitsch, E. J.: Kloster Disibodenberg. Regensburg, 1998. Weiß, B.: Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild. Paderborn, Bd. 1 – 3, 2004.
Franziskus Der Engel des sechsten Siegels
Bonaventura Bonaventur Franziskus, Bonaventura und die Stätten der frühen franziskanischen Bewegung in Umbrien, Latium und der Toskana
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is an das hoch aufstrebende, mit einem blauen Sternenhimmel ausgemalte Kreuzgewölbe reichen die Fresken in der Oberkirche der Basilika San Francesco in Assisi. „Silenzio“, flüstert eine Stimme eindringlich aus verborgenen Lautsprechern, sobald die hereinströmenden Pilger und Touristen zu laut werden. Franziskanermönche führen Besuchergruppen zu den Fresken von Giotto und erklären die dargestellten Begebenheiten aus dem Leben des hl. Franziskus. Der Besucherstrom bewegt sich weiter hinunter zu den prachtvoll ausgestatteten Kapellen in der Unterkirche. Aber noch tiefer, in einer schlichten Krypta aus rötlichem Stein erst befindet sich der eigentliche Mittelpunkt dieses Heiligtums, das Grab des Franziskus von Assisi. Die schlichte Urne mit den Gebeinen des Heiligen ist in einen gemauerten Pfeiler eingelassen. Vier seiner engsten Gefährten sind in Wandnischen beigesetzt. Es ist ein machtvoller Kirchenbau, der sich über der Grabstätte des Franziskus erhebt, der selbst nichts sein wollte als der Einfachste der Einfachen, der Ärmste der Armen. Ein ausgedehnter Klosterkomplex umgibt die Kirche. Bogengalerien und wuchtige Bastionen schieben sich wie eine Rampe über die westliche Flanke des Hügels, auf dem sich die mittelalterlichen Häuser und Kirchen von Assisi aneinanderdrängen. Ein Kloster wie eine starke Festung, sodass der Papst hier sogar seinen Kirchenschatz aufbewahren ließ. Franziskus dagegen fasste Geld nicht einmal an. Häuser, die wohlmeinende Förderer für seinen Orden errichten ließen, wollte er abreißen. Die Minderen Brüder, wie Franziskus selbst seine Gemeinschaft nannte, sollten durch nichts beschwert und gebunden sein. Ganz wörtlich übernahm er für sich und seine Brüder die Anweisungen aus dem Missionsauftrag, mit dem Jesus seine Jünger ausgesandt hatte: „Nehmt nichts mit auf den Weg, keinen Wanderstab und keine
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Franziskus von Assisi und Bonaventura
Vorratstasche, kein Brot, kein Geld und kein zweites Hemd. Bleibt in dem Haus, in dem ihr einkehrt, bis ihr den Ort wieder verlasst“ (Lk 9,3 f.). Nach fünfundzwanzig Jahren einer sorglos in seiner Heimatstadt Assisi verbrachten Kindheit und Jugend hatte sich Franziskus im Jahre 1207 spektakulär und öffentlich von seinem Vater und damit auch vom Wohlstand des Vaterhauses losgesagt. Ein visionäres Erweckungserlebnis vor einem Kreuz in der halb verfallenen Kirche San Damiano war der letzte Anstoß für seine Lebenswende gewesen. In einer armseligen Kutte und von Almosen lebend zog er seitdem umher, äußerlich arm, aber beseligt von der erfahrenen Gottesnähe, lauthals und selbstvergessen in den Straßen von Gott singend. Man hielt ihn zunächst für verrückt, aber nach einem Jahr bereits hatte er erste Gefährten. Durch weitere visionäre Erfahrungen wurde Franziskus sich klar über den missionarischen Auftrag der kleinen Gruppe, die sich um ihn scharte. Ein vorbildhaftes, am Evangelium orientiertes Leben in radikaler Armut und großer Schlichtheit, ja Einfalt, sollte die Menschen und vor allem die durch Macht und Reichtum weithin verdorbenen kirchlichen Amtsträger zur christlichen Lebensweise zurückführen. In kontemplativer Abgeschiedenheit reiften seine Entscheidungen, während des zurückgezogenen Gebetes in abgelegenen Höhlen und Grotten über steilen Felsvorsprüngen – ganz alleine mit Gott, aber die Welt als Aufgabe in den weiten Tälern vor sich, etwa am Monte Subasio, der dunkel bewaldet über Assisi aufragt. Inmitten knotiger alter Steineichen liegt dort die Einsiedelei von Carceri. Sie umgibt einen Höhlenkomplex, in dem Franziskus meditiert und geschlafen hat. Ein enger winkeliger Gang führt hinunter in die kahle Behausung. Im Wald sind weitere Höhlen und Grotten der ersten Brüder unter bröckeligem Gestein. Die Einsiedelei liegt oberhalb eines Taleinschnittes, der den Blick freigibt auf die Ebene mit ihren Feldern und Streusiedlungen. Franziskus liebte solche Felsennester, sie waren die „Klöster“ seiner Gemeinschaft, die er und seine Brüder auf ihren Streifzügen immer wieder aufsuchten. Im Jahre 1209 war die Gruppe auf zwölf Brüder angewachsen, eine apostolische Zahl, aber nicht mehr als eine kleine Schar Wanderprediger in schäbigen Kutten. Und doch hatte sie bereits genug Selbstvertrauen und Sendungsbewusstsein, um in Rom bei Papst Innozenz III. vorzusprechen. Zwar hatte Franziskus die Unterstützung des Bischofs von Assisi, aber vor allem Innozenz selbst ist es zu danken, dass Franziskus die Genehmigung erhielt, mit seiner Gemeinschaft ohne Bindung an ein Kloster in Armut zu leben und Bußpredigten zu halten. Der Papst sah weitsichtig, dass die neue Bruderschaft eine kirchliche Antwort geben konnte auf die Herausforderung der überall entstehenden Laienbewegungen, die nach unbedingter
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Abb. 11: Höhle des Franziskus in der Einsiedelei von Carceri
religiöser Hingabe und radikal am Glauben ausgerichteten Lebensformen strebten. Insbesondere das neue städtische Bürgertum und immer mehr Frauen wurden davon erfasst. 1212 etwa stieß die achtzehnjährige, aus reicher adeliger Familie stammende Klara zu der Gruppe. Nachts war sie heimlich aus ihrem Elternhaus geflohen. Bald folgten weitere Frauen, die mit Klara in San Damiano ein streng in franziskanischer Armut lebendes Kloster gründeten, das erste Kloster der Klarissen. Auch die Anzahl der Brü-
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der nahm nun rasch zu. 1217, zehn Jahre nach dem einsamen Aufbruch des Franziskus, beschlossen die versammelten Brüder die Ausdehnung des neuen Ordens in alle wichtigen Länder Europas und in das Heilige Land. Unter den ersten Brüdern waren viele sympathische Sonderlinge, fröhlich, einfältig und gottbegeistert, denn für Franziskus war eine fröhliche Einfalt, die sich liebenswürdig und liebend den Geschöpfen und dem Nächsten zuwendet, gottgefälliger als jede Gelehrsamkeit. Die einzige Bibel, die seine kleine Schar in der Anfangszeit besaß, ließ er weggeben, damit eine Bedürftige mit dem Verkaufserlös unterstützt werden konnte. Bald aber schlossen sich auch Priester und Gelehrte seiner Gruppe an, und mit der wachsenden Zahl der Brüder und neuen Aufgaben in Seelsorge und Mission begann sich der Charakter des jungen Ordens langsam zu wandeln. 1221 versammelten sich zu Pfingsten bereits mehr als fünftausend Brüder bei der kleinen Kapelle Porziuncola im Tal unterhalb von Assisi zum jährlichen Generalkapitel. Franziskus hatte die in einem Wäldchen gelegene Kapelle mit den bei ihr errichteten Hütten zum Zentrum des Ordens bestimmt. Hier sollten die in alle Himmelsrichtungen ausgesandten Brüder immer wieder zusammentreffen. Er hatte selbst Hand angelegt, um sie wieder herzurichten. Heute ist die Kapelle überbaut mit der Patriarchalbasilika Santa Maria degli Angeli, einer der größten Kirchen der Christenheit. Unter ihrem hohen Gewölbe wirkt das Kirchlein verloren. Man hat ihm ein verspieltes Türmchen aufgesetzt und den Giebel mit einem goldgefassten Fresko verziert, sodass man es leicht für eine Attrappe halten könnte, soeben für ein Krippenspiel hier aufgebaut. Einst war es ein schmuckloses Bauernkirchlein, und wo jetzt rotweiße Bodenplatten sauber blinken, standen auf nacktem Boden die Hütten und Behelfsbauten der franziskanischen Frühzeit. Nach den Fioretti, einer franziskanischen Legendensammlung aus dem 14. Jahrhundert, sah man bei der großen Versammlung der Brüder zu Pfingsten 1221 „in der Ebene um Santa Maria (Porziuncola) herum die Brüder in Scharen sitzen, hier sechzig, da hundert, dort zweihundert und anderswo dreihundert auf einmal. Alle waren sie ausschließlich mit dem Gespräch über Gott, mit Gebet, Tränen und Übungen der Liebe beschäftigt … Auf jenem Feld aber standen Hütten, aus Weiden und Stroh geflochten, geordnet in Gruppen für die Brüder aus den verschiedenen Provinzen. Deshalb wurde jenes Kapitel Strohhütten- oder Mattenkapitel genannt. Ihre Betten waren die bloße Erde und ein wenig Stroh, wer es hatte. Die Kopfkissen waren Steine oder Holz“ (Fioretti 64 f.). Genauso hatte Franziskus seine Bewegung gewollt, in absoluter Armut, ohne feste Behausung, ohne Sorge und Vorsorge für den nächsten Tag. Zwei Dinge zeichnen sich jedoch in diesem Bericht bereits ab: Die Intimität der Frühzeit, als alle Brüder einan-
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der kannten und engen Austausch mit Franziskus selbst hatten, war verloren gegangen. Es bestanden bereits Ordensprovinzen, deren Brüder jeweils unter sich blieben. Und die logistische Aufgabe wird deutlich, die hier mit dem Unterhalt einer so großen Anzahl versammelter Brüder zu bewältigen war. Durch Gelegenheitsarbeiten und Betteln, womit sich die kleinen Gruppen der ersten Brüder durchgeschlagen hatten, war das nicht mehr zu leisten, auch wenn die Erzählung im weiteren Verlauf von wundersam motivierten Einwohnern der Umgebung berichtet, die mit allem herbeiströmten, was zur Versorgung der Brüder nötig war. Franziskus sah, dass seine Bewegung in Gefahr war, sich vom ursprünglichen Ideal „der heiligsten Armut“ zu entfernen. Deshalb beschwor er die Brüder in einer Ansprache: „Kraft des heiligen Gehorsams befehle ich euch allen, die ihr hier versammelt seid, dass sich keiner von euch Sorgen und Kummer mache um irgendetwas, weder um das Essen noch um das Trinken noch um irgendein Bedürfnis des Leibes, sondern sorgt euch allein um das Gebet und das Lob Gottes“ (Fioretti 65). Anders als Teresa von Ávila, die anfangs alle ihre Klöster ohne Einkünfte in Armut gründen wollte, dann aber realistisch auch alternative Lösungen suchte, wollte Franziskus nichts von den Veränderungen wissen, mit denen der Orden sich den neuen Umständen anpassen musste. Er hatte die Leitung des Ordens bereits abgegeben, war aber immer noch führend und prägend. Als ihm zu Ohren kam, dass man in Bologna ein Haus für die Brüder errichtet hatte, „gebot er den Brüdern, das Haus schleunig zu verlassen. Daraufhin wurde das Haus geräumt. Selbst die Kranken durften nicht zurückbleiben, sondern wurden mit den anderen hinausgeschafft“ (Celano 290). So berichtet es sein erster Biograph, Thomas von Celano, ein Bruder aus der Frühzeit des Ordens. Feste Häuser waren aber erforderlich, um in einer bedeutenden Universitätsstadt wie Bologna wirken zu können. Das absolute Geldverbot war zu einem Hindernis für die Aktionsfähigkeit des Ordens geworden. Ohne Vorsorge und Vorratshaltung ließen sich große Konvente nicht aufrechterhalten. Studien und theologische Ausbildung mit den dafür benötigten Büchern waren unerlässlich für die Seelsorge und den Predigtauftrag der Priester des Ordens. Die Einführung eines Noviziats war notwendig geworden, um in dieser Probezeit fragwürdige Charaktere erkennen zu können, die mit dem gewaltigen Zulauf zum Orden kamen. Klar gefasste Bestimmungen für die Ordenskleidung dienten der Abgrenzung von fahrendem Volk, das im Kielwasser des Ordens seinen Vorteil suchte. Zwar stimmte Franziskus 1223 schließlich der von Kardinal Hugolin in zähem Ringen mit ihm ausgehandelten pragmatischen Ordensregel zu, aber noch kurz vor seinem Tod wetterte er über seine Brüder in Leitungsfunktion, die dabei waren, aus der
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losen Bruderschaft einen formal verfassten und hierarchisch gegliederten Orden zu machen: „Wer sind die, die meinen Orden und den meiner Brüder aus meinen Händen gerissen haben? Wenn ich zum Generalkapitel komme, dann werde ich ihnen weisen, was mein Wille ist“ (Celano 410). Franziskus selbst setzte sein unbehaustes Wanderleben mit einer kleinen Gruppe engster Vertrauter bis zu seinem Tod fort, in zunehmender und für ihn schmerzlicher Entfremdung von dem entstehenden Großorden der Minderbrüder. Sein Leben war vor allem ein Zwiegespräch mit Gott und mit der belebten und unbelebten Natur, in deren Schönheit und Wohlordnung er die Spuren der göttlichen Schöpferhand erkannte. Sein Sonnenlied, das zu den wenigen schriftlichen Zeugnissen gehört, die wir von ihm haben, ist ein Hymnus auf Gott und seine Schöpfung. Die bekannten Legenden, etwa die von seiner Predigt an die Vögel, versinnbildlichen sein ehrfürchtiges Verhältnis zur Schöpfung, zu dem allerdings sein selbstquälerisches Verhalten dem eigenen Leib gegenüber in Widerspruch stand. Immer weiter zog er sich zurück in unzugängliche, einsame Einsiedeleien, wo sich seine mystischen Erfahrungen intensivierten bis zu dem außerordentlichen visionären Erlebnis am Berg La Verna, zwei Jahre vor seinem Tod, bei dem die Wundmale Christi an seinem Leib erschienen. Ausgezehrt von übertriebener Askese und den selbst auferlegten Lebensbedingungen ist der erst Fünfundvierzigjährige am 3. Oktober 1226 in Assisi gestorben, nackt auf dem Boden liegend, in letzter und endgültiger Armut, wie er es gewollt hat. Als der junge Bonaventura, der später zu einem der größten Theologen und mystischen Schriftsteller des Franziskanerordens werden sollte, im Jahre 1235 aus der im Kirchenstaat gelegenen Stadt Bagnoreggio zum Studium an die Universität Paris kam, war die Umwandlung der Minderen Brüder in einen Großorden in vollem Gange. 1230 hatte man die Gebeine des bereits heiliggesprochenen Franziskus in die prachtvolle Grabeskirche in Assisi übertragen. Sie und nicht die bescheidene Porziuncola war fortan Hauptkirche des Ordens. In Paris, wo man die Brüder nach dem Strick, mit dem sie sich umgürteten, Cordeliers nannte, bauten sie ab 1231 beim Universitätsviertel ein großes Ordenshaus mit der dazugehörigen Kirche, den Grand Couvent des Cordeliers. Dort ist Bonaventura in den Orden eingetreten, wahrscheinlich im Jahre 1243, nach Abschluss seines Studiums der Sieben Freien Künste, dem damaligen Fächerkanon der höheren Bildung. Der Ordensnachwuchs erhielt zu dieser Zeit bereits eine intensive akademische Ausbildung, und Franziskaner waren auch selbst in der Lehre tätig, denn der bedeutende Theologe Alexander von Hales, der 1236/37 schon betagt dem Orden beigetreten war, hatte seinen Lehrstuhl für Theologie
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mitgebracht. Der andere große, fast zeitgleich entstandene Bettelorden, die Dominikaner, hatte sogar zwei Lehrstühle, allerdings war er von Dominikus als Predigerorden gegründet worden, dessen Mitglieder möglichst gut ausgebildet sein sollten, damit sie im Einsatz gegen die überall aufkeimenden Sektenbewegungen über das nötige intellektuelle Rüstzeug verfügten. Nach dem Willen des Franziskus dagegen sollten seine Brüder durch ein vorbildliches Leben in Armut, Schlichtheit und Christusnachfolge wirken, als Wanderprediger ohne feste Bleibe, überall „nur zu kurzem Verweilen wie Fremdlinge und Pilger“ (Franziskus 72). Das Leben Bonaventuras im großen Konvent von Paris sah völlig anders aus. Das Kloster bot ein gesichertes Umfeld und ermöglichte ihm die Fortsetzung seiner Studien. Prägend für ihn war vor allem die hohe wissenschaftliche Bildung seines Lehrers Alexander van Hales, dann erst die ferne, schon legendarische Gestalt des Franziskus. 1248 hatte Bonaventura sein Theologiestudium abgeschlossen und sich intensiv in die Werke der großen geistlichen Schriftsteller eingearbeitet. Hieronymus, Ambrosius, Augustinus, Dionysius Areopagita, Gregor der Große, Bernhard und die Autoren der sogenannten Schule von St. Viktor gehörten ebenso dazu wie die klassischen Philosophen, also Platon und Aristoteles. Platon hatte über die neuplatonische Philosophie Plotins in das christliche Denken Eingang gefunden, während von den Werken des Aristoteles lange Zeit nur die „Logik“ bekannt war und studiert wurde. Nach dem, was man aus den Schriften arabischer Interpreten von den naturphilosophischen und metaphysischen Werken des Aristoteles wusste, schienen seine Lehren mit der christlichen Lehre unvereinbar zu sein. Avicenna und Averroes, die bedeutendsten der arabischen Philosophen, lehrten unter Berufung auf Aristoteles die Ewigkeit der Welt und lehnten die Unsterblichkeit der Seele ab, da die einzelne Seele lediglich Teil einer überindividuellen Menschheitsseele sei, in der sie nach dem Tod des Menschen wieder aufgehe. Erst der deutsche Dominikaner Albertus Magnus, der von 1245 bis 1248 an der Universität Paris als Magister lehrte, konnte zeigen, dass ihre Interpretationen einseitig sind und die aristotelische Metaphysik sogar besonders geeignet ist, die christlichen Glaubenslehren gedanklich zu durchdringen. Bonaventura wird ihn während des Studiums gehört haben und dabei auch dem jungen Dominikaner Thomas von Aquin begegnet sein, der als Schüler Alberts die christliche Philosophie auf aristotelischer Grundlage zu einem umfassenden System ausbauen sollte. Später hat Bonaventura sich gegen Thomas gewandt und eine eher an Augustinus orientierte franziskanische Richtung der Theologie begründet. Noch aber standen Franziskaner und Dominikaner Schulter an Schulter gegen die an der Universität lehrenden Weltgeistlichen, die in den erfolg-
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reichen und dynamischen Bettelorden eine unliebsame Konkurrenz sahen, deren Einfluss zurückgedrängt werden musste. Als Bakkalaureus hielt Bonaventura die vorgeschriebenen Lehrveranstaltungen über die Heilige Schrift und die Sentenzen des Petrus Lombardus, ein Kompendium mit Texten der Kirchenväter. Sein Kommentar zu den Sentenzen gilt als einer der herausragenden Texte der mittelalterlichen Philosophie. 1253 wurde er zum Magister promoviert und lehrte dann bis 1257 als vierter Nachfolger des Alexander von Hales auf dem franziskanischen Lehrstuhl für Theologie. Während dieser Zeit entstand sein „Breviloquium“, ein Lehrbuch für Theologiestudenten. Kurz, sein Leben war geprägt durch die akademische Welt und verlief in den vorgeschriebenen Bahnen der Qualifikationsschritte an einer mittelalterlichen Universität. Allerdings verschärften sich zu Beginn seiner Magisterzeit die Auseinandersetzungen mit den weltgeistlichen Lehrern der Universität. Erst im Herbst 1257 wurden er und Thomas von Aquin, der im Frühjahr 1256 auch promoviert hatte, auf Druck des Papstes offiziell in das Konsortium der Magister aufgenommen. Anfang 1256 war eine von Magister Wilhelm von Saint-Amour verfasste Kampfschrift erschienen, die das Existenzrecht der Bettelorden grundsätzlich in Frage stellte. Bonaventura antwortete darauf mit einer wohlbegründeten Entgegnung, die dazu beigetragen hat, dass die Thesen Wilhelms schließlich am 5. Oktober 1256 verurteilt wurden. Zusammen mit Albertus Magnus ist Bonaventura auch persönlich als Sprecher der Bettelorden beim päpstlichen Hof in Anagni vorstellig geworden. Seine souveräne Haltung in diesen Auseinandersetzungen wird einer der Gründe dafür gewesen sein, dass er am 2. Februar 1257 zum Generalminister des Ordens der Minderbrüder gewählt wurde, als siebter Nachfolger des Franziskus. Der Orden benötigte einen herausragenden Kopf an seiner Spitze, der einerseits den äußeren Gegnern des Ordens auf gleichem Niveau entgegentreten konnte, der aber auch ausgleichend genug war, um die im Orden selbst verschärft aufbrechenden Auseinandersetzungen um das wahre Erbe des Franziskus zu schlichten und die auseinanderstrebenden Flügel zu binden. Eine schwärmerische Richtung des Ordens, die sogenannten Spiritualen beharrten fundamentalistisch darauf, die Lebensform der Frühzeit, wie sie Franziskus vorgelebt und noch einmal in seinem Testament als verbindlich bekräftigt hatte, unverändert beizubehalten. Feste Häuser, Vorratshaltung und Vorsorge, jegliche Form des Besitzes oder der Geldverwendung, auch über Treuhänder, waren für sie Abfall vom Stifterwillen. Der gerade erst mächtig aufgeblühte Orden drohte wieder zu zerbrechen an der Spannung zwischen dem hohen, ja uneinholbaren Ideal des Franziskus und den praktischen Aufgaben und organisatorischen Notwendigkeiten, vor die sich der
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Orden gestellt sah, etwa bei den großen Herausforderungen der Weltmission, die Franziskus selbst seinen Brüdern als Auftrag mit auf den Weg gegeben hatte. Eine zusätzliche Verhärtung kam in diese Flügelkämpfe, weil die Spiritualen sich durch die Weissagungen des kalabrischen Abtes Joachim von Fiore (ca. 1130 – 1202) auf übernatürliche Weise bestätigt sahen. Joachim hatte die Weltzeit in drei Zeitalter eingeteilt, die er den drei Personen des dreieinigen Gottes zuordnete. Das erste Zeitalter ist das des Vaters, es entspricht dem Alten Testament. Das zweite Zeitalter beginnt mit dem Auftreten des Gottessohnes Jesus Christus und entspricht dem Neuen Testament. Ein drittes Zeitalter stehe unmittelbar bevor, es sei das des Heiligen Geistes, das dem in der Offenbarung des Johannes angekündigten „Ewigen Evangelium“ entsprechen werde (Offb 14,6). Joachim hatte seinen Beginn nach ausgeklügelten Ableitungen aus biblischen Texten für das Jahr 1260 vorhergesagt. Eine neue Heilsgestalt werde dieses dritte und letzte Zeitalter einleiten, auf die der Engel des sechsten Siegels der Offenbarung des Johannes hindeute, der „das Siegel des lebendigen Gottes hat“ und damit die Auserwählten siegelt (Offb 7,1 – 3). Die Auserwählten der kommenden Endzeit würden einen hochstehenden, rein beschaulichen Orden bilden, der das Evangelium wörtlich befolgt und die kommende Geistkirche trägt. Geradezu unheimlich mussten die ins Auge springenden Übereinstimmungen mit dem Leben des Franziskus wirken, wenn man seine Stigmatisierung als „das Siegel des lebendigen Gottes“ nahm, wie es die Brüder taten. Franziskus selbst schien bestätigt zu haben, dass er der Engel des sechsten Siegels war, indem er als sein Zeichen und „Siegel“ das Tau gewählt hatte, den letzten Buchstaben des hebräischen Alphabetes, das nach dem alttestamentlichen Propheten Ezechiel (9,3 f.) der Mann, „der das leinene Gewand anhatte“, den Männern auf die Stirn schrieb, damit sie vom Zorn Gottes verschont blieben. Das Tau war so etwas wie sein Wappenzeichen, mit dem er seine Schriftstücke und Briefe unterzeichnete, etwa den Segen für Bruder Leo, der in der Basilika San Francesco in Assisi in einem Reliquiar gezeigt wird. In der Kapelle der Magdalena in der Einsiedelei Fontecolombo im Rietital findet sich in einer Fensternische noch ein Tau, das Franziskus dort eingeritzt hat. Die von dieser apokalyptischen Spekulation angeregte Legendenbildung rückte Franziskus immer näher an die Gestalt Christi heran und schien die Einmaligkeit des Gottessohnes und seines Heilswerkes zu relativieren. Der fundamentalistische Flügel des Ordens sah sich bereits als der über alle anderen erhöhte Orden der Endzeit. Konnte dem nicht gegengesteuert werden, drohte die Gefahr, dass die Minderbrüder ins sektenhafte Abseits gedrängt würden. Die Gegner der Bettelorden nutzten die schwärmerischen Sonderlehren eines Teils der Franzis-
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kaner, um den ganzen Orden zu diskreditieren. Der Vorgänger Bonaventuras, Johannes von Parma, hatte auf Druck des Papstes sein Amt abgeben müssen, weil er den Lehren Joachims anhing und einen fundamentalistischen Kurs steuerte. Bonaventura, der über zwanzig Jahre im Hörsaal und auf dem Katheder verbracht hatte, stand damit vor außerordentlich schwierigen praktischen Aufgaben, als er das Amt des Generalministers übernahm. Er musste den Orden, der bereits über dreißigtausend Brüder und zweiunddreißig Provinzen hatte, durch eine seiner schwersten Krisen führen. Zu Bonaventuras ersten Amtshandlungen gehörte die Teilnahme an einer kirchlichen Untersuchung gegen seinen Vorgänger Johannes von Parma, der auf seinem Fundamentalismus beharrte und weiter die Lehren Joachims vertrat. Da Johannes Fürsprecher hatte, blieb ihm eine harte Verurteilung erspart. Er lebte noch bis 1289 zurückgezogen in der Einsiedelei Greccio im Rietital. Die Bitterkeit, mit der die Spiritualen Bonaventuras pragmatischen Kurs zur Kenntnis nahmen, wird in Legenden deutlich, die ihn als Abtrünnigen darstellen, der einen Teil vom „Kelch voller Geist des Lebens“ verschüttet hat (Fioretti 129 f.). Die noch lebenden Alten der Frühzeit begegneten ihm mit Vorbehalten, ja Feindschaft. Mit Langmut und Milde ertrug er ihre Grillen, wenn sie ihren Spott über ihn ausschütteten, etwa wenn Ägidius, der dritte Bruder, der sich Franziskus angeschlossen hatte, ausrief: „Paris, Paris, du bist der Ruin für den Orden des heiligen Franziskus!“ (Ägidius 109). Maßvoll und geduldig, aber doch unbeirrt und bestimmt folgte er seinem Kurs zur Konsolidierung des Ordens. Er wollte organisatorische Formen schaffen, die den neuen Aufgaben angemessen waren und gleichzeitig die Spiritualität des Franziskus lebbar machten unter den ganz andersartigen Rahmenbedingungen, unter denen die Brüder nun agieren mussten. Dabei handelte er nicht nur als nüchterner Sachwalter und Organisator. Es könnte durchaus etwas auf ihn übergesprungen sein von der glühenden Spiritualität des durchgeistigten Asketen Johannes von Parma, und in der Begegnung mit den noch lebenden Alten wie Ägidius, Rufinus und Leo wird er das Feuer der unbedingten Hingabe an ihr Ideal, ihre tiefe kindliche Gläubigkeit und ihr mystisches Erleben gespürt haben. Sehr genau hörte er zu, wenn sie von Franziskus und ihren eigenen Erfahrungen berichteten, denn er sah, dass sie in Bereiche vorgestoßen waren, die er mit den Schlussketten des wissenschaftlichen Denkens nicht hatte erreichen können. Ausdrücklich etwa beruft er sich auf die sieben Stufen der Beschauung, wie sie Ägidius lehrte, der mystisch höchst begnadet war (Bonaventura 1993, 203 ff.). Bonaventura wollte dem Geist des Franziskus und seiner ersten Brüder an den Orten der Frühzeit näherkommen, als er sich
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1259 auf die Spuren seines Ordensvaters begab, zuerst in das Rietital, dann auf den Berg La Verna. Das Hochtal von Rieti ist auch heute noch eine abgeschiedene Welt für sich. Von Terni aus windet sich die Passstraße steil hinauf, sodass die im Tal zurückbleibende Stadt bald zur Spielzeuggröße schrumpft. „Pericolo di morte“, Todesgefahr, warnt ein Schild an der Leitplanke, hinter der die Felskante steil ins Nirgendwo abstürzt. Hat man die kaum besiedelte Bergregion durchquert, wo sich die Sabiner Berge mit Ausläufern der Abruzzen treffen, öffnet sich ein Hochtal wie eine runde Scheibe, in deren Mitte die alte Bischofsstadt Rieti liegt. Eine überschaubare Welt im Kleinen, umschlossen von Gebirgszügen, wild aufragend und zu den Abruzzen hin mit kahlen, umwölkten Gipfeln. Nur Mais- und Sonnenblumenfelder sind zu sehen, denn das karge Land gibt wenig her. Franziskus fand hier ideale Bedingungen für seine Lebensform. Bereits ganz zu Anfang, 1208, als er noch Klarheit suchte über seine Berufung, war er mit seinen ersten drei Brüdern hierhergekommen. In den unwegsamen Höhenzügen gab es Grotten und Höhlen, die sich als Rückzugsorte eigneten, und in den Dörfern, die ringsum in die Hänge gebaut sind, ließ sich das Nötige für den Unterhalt erbetteln. Man konnte meist auf den Höhen in der Abgeschiedenheit bleiben und doch immer in wenigen Wegstunden zu einer der bäuerlichen Ansiedlungen oder in die Stadt Rieti hinuntersteigen. Vier franziskanische Klöster hüten Reste der Einsiedeleien des Franziskus als Heiligtum. Bei dem Dorf Poggio Bustone fand die Gruppe Unterschlupf in einer für ihre Verhältnisse fast luxuriösen Behausung. Benediktiner hatten ihnen eine aus Felssteinen solide gefügte Einsiedelei oberhalb des Dorfes zur Verfügung gestellt. Der einfache Raum mit schlichtem Tonnengewölbe ist noch heute im Franziskanerkloster von Poggio Bustone zu sehen. Umgetrieben von der Unsicherheit darüber, wohin er sich mit seinen Brüdern wenden sollte und was ihr Auftrag sei, stieg Franziskus immer wieder alleine hinauf in die Berge und verkroch sich meditierend in einer Höhle. In diesem dunklen steinernen Uterus schließlich, in tiefer Versenkung, ja Entrückung, wurde ihm die Gewissheit gegeben, dass ihm seine Sünden vergeben waren und dass er noch viele Brüder haben würde, die hinaus in die Welt ziehen sollten, um die Menschen zu bekehren. Über einen mit Felssteinen befestigten Weg geht man in einer halben Stunde durch den Bergwald hinauf zu dieser sogenannten Höhle der Offenbarung, dem „Santuario superiore“. Eine Kapelle mit Glockenreiter schließt sie nach vorne ab. An der Felswand, die über ihr aufragt, haben Pilger einfache Kreuze aus Zweigen niedergelegt. Wenige steigen den mühsamen, steilen Weg hinauf, sodass man sich in der Stille der halbdunklen Höhle ganz alleine auf eine gedankliche Zeitreise
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Abb. 12: Das Franziskanerkloster Greccio im Rietital
begeben kann, zurück in das Jahr 1208, als Franziskus hier auf dem kühlen Felsstein zusammengekauert im Gebet verharrte. Zweifellos hat Bonaventura diesen Gang zur Höhle unternommen, als er dreiunddreißig Jahre nach dem Tod des Ordensgründers die Gedächtnisstätten im Rietital besuchte. Auch in den Klöstern La Foresta und Fontecolombo sind noch Höhlen zu sehen, in die Franziskus sich immer wieder zurückgezogen hat. Eine Grotte in der Einsiedelei von Greccio war im Jahre 1223 Ort der wohl größten zeichenhaften Inszenierungen des Franziskus. Für die Feier der Heiligen Nacht ließ er dort einen Stall mit Krippe, Ochs und Esel aufbauen. Er wollte sich die Armut, in die der dreieinige Gott zu seiner Menschwerdung als Jesus Christus herabgestiegen war, bildhaft vor Augen führen. Diese erste Weihnachtskrippe der Welt geriet zu einer großen Zelebration, an der die Menschen des ganzen Tales teilnahmen. Mit Fackeln eilten sie herbei und erhellten die Szenerie des Stalls von Bethlehem, der in einer Grotte oberhalb einer Felswand wie auf einer Freilichtbühne zu sehen war. Von kindlicher Freude erfüllt sang Franziskus das Evangelium zum feierlichen Hochamt, das der Ortspriester an der Krippe zelebrierte. Franziskus predigte zu der zusammengeströmten Menge, doch am eindrücklichsten wirkte die Symbolik der ganzen Inszenierung auf die Menschen, denn sie prägte ihrem Herzen die Erinnerung an den Jesusknaben ein.
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Bonaventura wird dies und viele andere Einzelheiten aus dem Mund der noch lebenden Alten gehört haben. In Greccio bezog er in dem Kloster, das man über der ehemaligen Einsiedelei errichtet hatte, eine der winzigen Zellen, die noch heute in dem alten Gemäuer zu sehen sind, das aus dem Fels hervorzuwachsen scheint. Die Räume, Treppen und Gänge sind an den Hang gebaut, wie es der natürliche Fels vorschrieb, der sich oft wulstig in einen Raum vorwölbt oder eine lebendige Wand bildet. Das zentrale Heiligtum ist die als Kapelle eingerichtete Grotte der Weihnachtskrippe. Ein höhliger Gang diente Franziskus und seinen Brüdern als Schlafraum. In den Fels geritzte Kreuze bezeichneten die Schlafplätze. Aus späterer Zeit stammt der Zellentrakt, das sogenannte Dormitorium des hl. Bonaventura. Rechts und links eines schmalen Ganges, dessen rohe Holzdielen unter den Schritten knarren, liegen je sechs Zellen, die gerade Platz genug bieten für ein Bett und einen Schrank mit ausklappbarer Schreibplatte. Die Vorderfront zum Gang hin ist aus dunklem Holz, die Wände zwischen den Zellen aus lehmverputztem Flechtwerk. Die Kapelle am Ende des Ganges wurde bereits 1228, im Jahre der Heiligsprechung des Franziskus, geweiht. Im Refektorium, wo im Kamin das „gemeinschaftliche Feuer“ des Konventes brannte, hat Bonaventura den Alten zugehört, wenn sie von Franziskus und ihren eigenen Erfahrungen berichteten. Ganz genau behielt er ihre Worte im Ohr, sodass er noch gegen Ende seines Lebens Ägidius zitieren konnte, der ihn vor dem Streben nach Wissen ohne Liebe gewarnt hatte: „Siehe doch, dass eine Greisin, die nur einen kleinen Garten besitzt, weil sie allein die Liebe hat, eine bessere Frucht hütet als ein großer Lehrer mit dem größten Garten und mit dem Wissen um die Geheimnisse und die Naturen der Dinge“ (Bonaventura 1964, 579; Gilson 97). Immer besser gelang es ihm, sich in ihr symbolisches Denken und mystisches Erleben hineinzufühlen. Das begriffliche Denken nach der „Logik“ des Aristoteles behielt für ihn seine Gültigkeit als Erkenntnisweg, aber der Symbolismus, wie er auch die ältere Mönchstheologie geprägt hatte, wurde für ihn mehr und mehr zu der tieferen, über das begriffliche Denken hinausreichenden Erkenntnisweise. Diese Erkenntnisweise ist: „die Sinndeutung von sichtbaren oder sonst der Erfahrung gegebenen Weltdingen, von Sachverhalten oder Beziehungen zwischen den Dingen auf eine diese Weltgegebenheiten übersteigende, transzendente Wirklichkeit ... Die wissenschaftliche Metaphysik sucht das wahrhaft Wirkliche kritisch und diskursiv in einer abstrakten Sprache zu fassen, intuitive Symbolik erfasst vom konkreten Anlass und Zeichen aus ein Stück der jenseitigen Wirklichkeit im Abglanz seiner lebendigen Fülle“ (Dempf 229). Franziskus war ein Meister solcher symbolischen Deutungen, auf ihnen basierte seine Pädagogik, und sie erklären seine star-
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ke suggestive Wirkung. Neben der Krippeninszenierung in Greccio ist ein weiterer eindrucksvoller Beleg dafür die „Predigt durch Beispiel“ für die Nonnen von San Damiano. Klara und ihre Schwestern hatten ihn um eine Predigt gebeten, aber statt zu ihnen zu sprechen, „ließ er sich Asche bringen, streute davon um sich im Kreise auf den Boden, den Rest legte er auf sein Haupt. Da die Frauen in gespannter Erwartung auf den seligen Vater sahen, wie er innerhalb des Aschenkreises schweigend verharrte, entstand in ihrem Herzen nicht geringe Verwunderung. Plötzlich richtet sich der Heilige empor und zu ihrer Verblüffung betete er den Psalm ‚Miserere mei Deus‘ statt eine Predigt zu halten. Als er ihn beendet hatte, machte er sich schnell davon“ (Celano 429). Der Psalm Miserere beginnt mit: „Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen!“, und endet mit der Erkenntnis: „Schlachtopfer willst du nicht, ich würde sie dir geben; an Brandopfern hast du keinen Gefallen. Das Opfer, das Gott gefällt, ist ein zerknirschter Geist, ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz wirst du, Gott, nicht verschmähen“ (Ps 51,3 u. 18 f.). Das hat Franziskus versinnbildlichen wollen. In Greccio lebte auch Johannes von Parma. Bonaventuras aus dem Amt gedrängter Vorgänger hatte sich eine Zelle oberhalb des Klosters an den Fels bauen lassen. Man darf annehmen, dass Bonaventura ihn trotz der scharfen Auseinandersetzungen über seine Lehren dort öfter aufgesucht hat. Denn auch ihn faszinierten die Lehren des Joachim von Fiore, doch die Botschaft von Jesus Christus und das Neue Testament blieben für ihn die gültige und unüberholbare Weisung auch für die Endzeit. Bonaventura suchte einen Weg, die unvergleichliche und herausragende Bedeutung des Franziskus festzuhalten, ohne in die sektiererischen Übertreibungen der Spiritualen zu verfallen. Das war es sicher auch, was ihn bewegte, als er im Herbst des Jahres 1259 das zwischen Assisi und Rom gelegene Rietital verließ, um auf dem Berg La Verna in der Toskana das bis dahin einmalige Ereignis der Stigmatisierung des Franziskus am Ort des Geschehens besser zu verstehen. Er könnte vom Casentino- oder vom Tibertal aus hinaufgestiegen sein in die weltentlegene Gegend, wo unterhalb des Monte Penna (1283 m) auf einem La Verna genannten Felsplateau die Einsiedelei der Brüder lag, in der Franziskus im Jahre 1224 die Wundmale Christi empfangen hat. Im Jahre 1213 hatte Graf Orlando von Chiusi dem von ihm verehrten Franziskus die Berggegend als Rückzugsort geschenkt. Ab 1214 kam Franziskus etwa alle zwei bis drei Jahre zu längeren Fasten- und Meditationszeiten hierher. In dem ausgedehnten Klosterkomplex von heute, mit großen Kreuzgängen, Gästehaus und Jugendbegegnungsstätte, ist es schwierig, sich die Einsiedelei der Anfänge vorzustellen. Sie bestand nur aus Hütten am
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Rande der felsigen Klippen, die hier aus dem Wald aufragen. Vom zentralen Platz des jetzigen Klosterbereichs reicht der Blick weit über die Höhenzüge bis hin zu den Bergen des Pratomagno und den kleinen Ortschaften im Casentinotal. Wo Franziskus seine erste Hütte hatte, steht heute die Magdalenenkapelle. Wie Franziskus es liebte, liegt sie an einem steilen Absturz, oberhalb einer Sasso spicco genannten Schlucht, in die er zum zurückgezogenen Gebet hinuntersteigen konnte. Sie ist ein senkrechter, von
Abb. 13: Sasso spicco am La Verna
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Urgewalten in die schrundigen Felsen geschnittener Spalt, moosig überkrautet und beschattet von hohen Buchen. Ein gewaltiger Felsblock ragt von einer Seite über die dunkle Schlucht und bildet die Kuppel dieser natürlichen Kathedrale. Der Felsspalt trennt das Plateau von einem einzeln stehenden Felsturm, auf den sich Franziskus zuletzt zurückgezogen hatte, als sein Bedürfnis nach Einsamkeit immer größer wurde und die mystisch erfahrene Nähe Gottes immer überwältigender. Um seine dort eingerichtete Zelle zu erreichen, musste man über einen Baumstamm balancieren, den die Brüder über den Abgrund gelegt hatten. Nur Bruder Leo, sein engster Vertrauter, durfte zu ihm kommen, wenn er es ihm erlaubte. Mitte September 1224 gipfelten seine Erfahrungen in der Vision eines Engels mit sechs Flügeln. Im Alten Testament, bei Jesaja (6,2), sind solche Seraphim beschrieben, aber der Seraph in der Vision des Franziskus war gekreuzigt, ein Prägeengel, der ihm die Wundmale Christi aufprägte. Hören wir dazu die unter dem lebendigen Eindruck der Ereignisse verfasste FranziskusVita des Thomas von Celano: „Da sah er in einem Gottesgesichte einen Mann über sich schweben, einem Seraph ähnlich, der sechs Flügel hatte und mit ausgespannten Händen und aneinandergelegten Füßen ans Kreuz geheftet war. Zwei Flügel erhoben sich über seinem Haupt, zwei waren zum Fluge ausgespannt, zwei endlich verhüllten den ganzen Körper. Als der selige Diener des Allerhöchsten dies schaute, wurde er von übergroßem Staunen erfüllt, konnte sich aber nicht erklären, was dieses Gesicht bedeuten solle. Große Wonne durchdrang ihn und noch tiefere Freude erfasste ihn über den gütigen und gnadenvollen Blick, mit dem er sich vom Seraph betrachtet sah, dessen Schönheit unbeschreiblich war; doch sein Hangen am Kreuz und die Bitterkeit seines Leidens erfüllte ihn ganz mit Entsetzen. Und so erhob er sich, sozusagen traurig und freudig zugleich, und Wonne und Betrübnis wechselten in ihm miteinander. Er dachte voll Unruhe nach, was dieses Gesicht wohl bedeute, und um seinen innersten Sinn zu erfassen, ängstigte sich sein Geist gar sehr. – Während er sich verstandesmäßig über das Gesicht nicht klar zu werden vermochte und das Neuartige an ihm stark sein Herz beschäftigte, begannen an seinen Händen und Füßen die Male der Nägel sichtbar zu werden in derselben Weise, wie er es kurz zuvor an dem gekreuzigten Mann über sich gesehen hatte“ (Celano 169 f.). Als Bonaventura nach La Verna kam, war der Ort dieses Geschehens noch nackter Fels. Lediglich ein Holzkreuz, das Bruder Leo hatte aufstellen lassen, erinnerte an das Ereignis. Erst 1263 wurde die Stigmatakapelle errichtet. Bis auf ein Altarbild von Andrea della Robbia aus glasierter Terrakotta von 1481 ist sie schlicht ausgestattet. Pilger sitzen in stillem Ge-
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bet im dunklen Chorgestühl an den Seitenwänden. Im gefliesten Boden markiert ein sechseckiger, verglaster Rahmen aus rotem Marmor den Ort der Stigmatisierung. Ein junger Franziskanermönch kramt raschelnd aus einer Plastiktüte Medaillons und Andachtsbilder hervor, die er auf die Glasplatte legt. Er fächert sie sorgfältig auf wie Spielkarten, als ob sich die segnende Wirkung des Ortes so besser übertragen würde. Der gesamte Felsturm, auf dem die Zelle des Franziskus stand, ist heute mit einem Labyrinth aus Kapellen überbaut, wie es die Form des Felsens zugelassen hat. Ein gedeckter Prozessionsgang aus dem 16. Jahrhundert, der den klaffenden Spalt des Sasso spicco überbrückt, verbindet sie mit der Klosterkirche. Jeden Tag um fünfzehn Uhr ziehen hier die Brüder des Konventes in feierlicher Prozession mit den Gläubigen zur Andacht in die Stigmatakapelle. Neben dem Zugang zur Stigmatakapelle führt eine Treppe hinunter in die Kapelle des hl. Bonaventura. Es ist die Zelle, die er sich für seinen Aufenthalt dicht beim Ort des Geschehens errichten ließ. Von seinem Schreibpult aus brauchte er nur die Hand auszustrecken, um den kalten runzeligen Stein zu berühren, auf dem Franziskus in höchster mystischer Versenkung die Stigmata empfangen hat. Die intensiv nachempfundene Vision des Franziskus gab ihm den Grundgedanken zu seinem mystischen Hauptwerk, dem „Itinerarium mentis in deum“, seinem „Pilgerbuch der Seele zu Gott“, das die sechs Flügel des von Franziskus geschauten Engels auslegt als sechs Stufen zur mystischen Schau: „Sie beginnen bei den Geschöpfen und führen bis zu Gott, zu dem man in rechter Weise nur durch den Gekreuzigten gelangt.“ Es ist also Christus, der als „Leiter und Gefährt“ den vom Menschen selbst mit dem Sündenfall zerstörten Stufenweg zu Gott wiederherstellen muss, und es ist die franziskanische Weltfreude, von der Bonaventuras Weg des mystischen Aufstiegs ausgeht. Er beginnt nicht mit dem weltabgekehrten Blick nach innen, sondern geht aus von der Schöpfung als Zeichensprache Gottes, denn, so heißt es im „Itinerarium“: „Des Schöpfers höchste Macht, Weisheit und Güte leuchtet aber in den geschaffenen Dingen auf“ (Bonaventura 1961, 47, 149, 65). Im wilden Bergwald oberhalb von La Verna konnte er die Natur in ihrer Urtümlichkeit erfahren, wie sie Franziskus geliebt und zur Verherrlichung ihres Schöpfers in seinem „Sonnenlied“ in altitalienischer Sprache besungen hat. Über eine Treppe hinter der Klosterkirche geht man hinauf in den Wald am Monte Penna. Der Wind greift in die Wipfel der uralten Buchen und bringt sie rauschend zum Klingen. Es ist „frate vento“, Bruder Wind, wie ihn Franziskus liebevoll ansprach. Er scheint zu sprechen, er flüstert, er singt, heult und schweigt. Im „Sonnenlied“ heißt es: „Lob sei Dir, Du Herre mein, durch den Bruder Wind und durch Lüfte und Wolken und heiteren Himmel und jegliches Wetter,
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durch welche Du Deinen Geschöpfen den Unterhalt gibst“ (Franziskus 133). Felsknollen ragen aus der Erde mit klaffenden Spalten wie schnappende Fischmäuler, schwer und erlösungsbedürftig, seit Jahrtausenden unbeweglich in den Boden eingesunken. In Mulden und felsigen Rinnen sammelt sich erdig duftendes Laub – „nostra matre terra“, unsere Mutter Erde. Das Moos auf den Baumstämmen, die aus dem Fels herauszuwachsen scheinen, ist mit Wasser vollgesogen, Feuchtigkeit und Kühlung – „sor aqua“, Schwester Wasser. Sonnenlicht bricht durch das Dach der Buchenblätter und lässt es silbrig leuchten – „frate sole“, Bruder Sonne. Die Zeit auf La Verna hat Bonaventura verändert: „Das ‚Itinerarium mentis in Deum‘, das Bonaventura aus diesen Wochen der Einsamkeit mitbrachte, ist ein erstes Zeichen einer neuen geistigen Gestimmtheit. Von diesem Büchlein an tritt immer mehr die Gestalt des heiligen Franz beherrschend in die Mitte seines Denkens, und zwar jener Franz, den man zutreffend ‚das Christusbild des Mittelalters‘ genannt hat“ (Benedikt 6). Bonaventura sah realistisch, dass Franziskus in Regionen mystischer Erfahrung vorgedrungen war, die nur ganz wenigen vorbehalten sind. Aber er wollte den Pilgerweg seines Lebens so weit wie möglich geistig nachgehen, sich in ihn hineinversetzen und hineinleben, seinen Weg begehbar machen für andere und ein Itinerarium, eine Reisebeschreibung liefern für den Pilgerweg der Seele in Gott hinein. Dieser Weg ist kein sicher gebahnter Weg, den wir alleine finden können. „Denn wie sehr auch die Stufen in unserem Inneren wohlgeordnet sein mögen, es nützt nichts, wenn Gottes Hilfe uns nicht zur Seite steht. Die göttliche Hilfe aber begleitet jene, die aus demütigem und andächtigem Herzen bitten; und das heißt, zu ihm aufseufzen in diesem Tränentale, und geschieht durch feuriges Gebet. Das Gebet ist also Mutter und Ursprung aller Seelenerhebung“ (Bonaventura 1961, 55). Wer so sein Herz öffnet und sich bereitmacht, indem er sein Gewissen prüft und sich zum Guten wandelt, dem wird die gesamte Schöpfung zu einer „Leiter, die uns zu Gott emporführt“. In den Dingen erkennen wir die Spuren seiner Wirksamkeit. Seine gestaltenden Schöpferideen schimmern durch die nach Zahl und Maß geordnete Welt. Wer noch tiefer blickt, dem wird auf einer zweiten Stufe gegenwärtig, dass Gott auch in den Dingen ist als ihr tragender Grund. Die außer uns gegebenen Geschöpfe sind aber nur Schatten, Spuren und Echo, die auf Gott hindeuten. Schreiten wir fort zur dritten Stufe, indem wir uns nun nach innen wenden, so finden wir, „dass unsere Seele selbst ein Bild und Gleichnis Gottes ist“, ein Bild, das für die meisten Menschen unkenntlich geworden ist, weil sie all ihr Streben auf flüchtige Belanglosigkeiten richten. Zur vierten Stufe, auf der die verlorene geistige Sehkraft der Seele wiedergestellt wird, gelangt man nur durch den
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Glauben an Jesus Christus und durch sein vermittelndes Wirken als „Wort und Abglanz des Vaters“. Die inneren, geistigen Sinne, mit denen allein die göttliche Berührung erfahren werden kann, erwachen auf dieser Stufe. Die Seele ist dann vorbereitet, „um das Schönste wahrzunehmen, das Wohlklingendste zu hören, das Wohlriechendste zu empfinden, das Süßeste zu kosten und das Angenehmste zu verspüren“ (Bonaventura 1961, 55, 97, 113). Wer noch weiter vordringt, erfährt Gott bereits auf sehr unmittelbare Weise. Ihm wird gegenwärtig, dass Gott zwar in dem zeitlich und räumlich zerteilten Seienden anwesend ist als sein tragender Grund, aber nicht damit zusammenfällt, denn er ist Sein, das durch nichts begrenzt wird, das ganz aus sich selbst und „reiner Akt“ ist, wie sich Bonaventura mit der Begrifflichkeit der scholastischen Philosophie ausdrückt, das heißt, nichts an ihm ist bloße Möglichkeit, die noch auf Verwirklichung wartet. Dies zu erfahren ist die fünfte Stufe des Aufstieges zu Gott. Auf der sechsten schließlich wird auch das innere dreifaltige Leben Gottes der Schau des geistigen Auges gewiss. Der Weg dahin führt über das „Gute selbst“, über das hinaus nichts Besseres vorgestellt werden kann und das Gott selbst ist. Da zum Guten gehört, dass es sich in vollkommenster Weise liebend mitteilen will, folgt daraus, dass Gott sein inneres dreieiniges Leben entfalten muss. Würde das höchste Gute, das Gott ist, sich nicht liebend verströmen, gäbe es also kein „ewiges Mitprinzip des ewigen Prinzips –, also einen Geliebten und Mitgeliebten, einen Gezeugten und Gehauchten, nämlich Vater, Sohn und Hl. Geist, dann wäre es nicht das höchste Gut, weil es sich nicht auf die höchste Weise mitteilte“. Über diese sechs Stufen des Aufstieges vorbereitet kann man eintreten in die mystische Entrückung, „wo der wahrhaft Friedvolle in tiefer Ruhe der Seele wie im inneren Jerusalem Rast hält“. Der hl. Franziskus hat als „ein Vorbild vollkommener Beschauung“ den Weg zu diesem letzten Überstieg gewiesen. Es ist die Vergegenwärtigung des Kreuzesleidens in höchstmöglicher Identifikation mit Jesus Christus. Franziskus ist diesen Weg bis zum Äußersten gegangen, bis ihm schließlich in seiner SeraphVision auch die leibliche Verähnlichung mit dem leidenden Christus in der Stigmatisierung geschenkt worden ist, die zugleich höchste mystische Erhebung bedeutete: „Äußerlich gleichsam tot, fühlt er doch, soweit es im Pilgerstande möglich ist, was dem mit Christus am Kreuz hängenden Schächer gesagt wurde: ‚Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein‘“ (Bonaventura 1961, 137, 147, 151, 149). Bonaventura hat sich während seiner zurückgezogenen Zeit auf La Verna intensiv in Franziskus hineingelebt und sich durch sein Vorbild verwandeln lassen. In der Nachfolge des Franziskus, der vor allem durch Vorbild und Zeichen gewirkt hatte, wurde in ihm die Kraft der Bilder und
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Symbole immer mächtiger. Die Helle des Verstandes trat zurück hinter das Dunkel der Beschauung. Bildhaft-symbolische Auslegungen der Heiligen Schrift verdrängten zunehmend die philosophische Argumentation. Das „Hexaemeron“, sein unvollendetes Spätwerk, ist zuletzt ganz gewoben aus symbolisch ausgelegten Bezügen zur Heiligen Schrift – ein Dickicht aus Bildern, das vom heutigen Leser nur schwer zu durchdringen ist. Nach „Schaugesichten“ hat er dieses letzte Werk eingeteilt. Er gibt darin eine Geschichtstheologie, die wesentliche Lehren des Joachim von Fiore aufnimmt. Franziskus wird in seiner außerordentlichen heilsgeschichtlichen Rolle bestätigt, er ist der Siegelengel, aber nur als Vorausverkünder wie Johannes der Täufer. Auch Bonaventura erwartet einen Orden der Endzeit, einen seraphischen Orden, der vollkommen und in mystischer Gottesnähe leben wird. Aber er sieht ihn nicht im Orden der Minderbrüder verwirklicht, der für Bonaventura zwar höher steht als die alten monastischen Orden, aber noch nicht der seraphische Orden der Endzeit ist. Nur Franziskus scheint ihm angehört zu haben, worauf die Seraph-Vision hindeutet (Bonaventura 1964, 707). Auch die Erwartung eines dritten Zeitalters mit einem neuen „ewigen Testament“ lehnt Bonaventura ab. Christus und das Neue Testament sind die endgültige Offenbarung. Damit hat er eine Deutung des Franziskuslebens gegeben, die zentrale Lehren des fundamentalistischen Flügels aufnahm, ihnen aber die sektiererische Spitze abbrach. Bonaventuras Studien und schriftstellerische Arbeiten mussten neben den praktischen Aufgaben stattfinden, die er als Generalminister zu bewältigen hatte. Meist war er unterwegs, quer durch Europa zu den Brüderkonventen oder zu Generalkapiteln. Das Generalkapitel zu Narbonne im Jahre 1260 beauftragte ihn, eine Lebensbeschreibung des Ordensgründers zu verfassen, die das vorliegende Überlieferungsmaterial zu einer für den Orden gültigen Version zusammenfassen sollte. Es war notwendig geworden, die wuchernde und teilweise tendenziöse Legendenbildung zurückzuschneiden, die eine weitgehende Parallelisierung der Ereignisse im Leben Christi mit denen des Franziskuslebens anstrebte. Einen Versuch, ihn 1265 zum Bischof von York zu ernennen, konnte er abwehren. Bonaventura wusste, dass der Orden mehr denn je eine starke Führung benötigte, denn die Feindschaft gegen die Bettelorden verschärfte sich erneut. Die weltgeistlichen Lehrer an der Universität Paris versuchten mit einer theologisch untermauerten Kampagne, die Aufhebung der Bettelorden zu erreichen. Bonaventura und der Dominikaner Thomas von Aquin standen in diesen schweren Auseinandersetzungen wieder Seite an Seite. Das Konzil von Lyon im Jahre 1274 beschloss tatsächlich drastische Maßnahmen
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gegen kleinere, neu entstandene Bettelorden und religiöse Gemeinschaften. Die Franziskaner und Dominikaner wurden jedoch bestätigt. Sicher hat der Einfluss Bonaventuras das Seinige dazu beigetragen, aber die beiden großen Orden waren auch längst zu einem nicht mehr wegzudenkenden Faktor der kirchlichen Außenwirkung geworden. In dieser Auseinandersetzung waren die beiden Bettelorden durch gemeinsame Interessen vereint, zunehmend jedoch gerieten sie auf dem Feld der Theologie in eine Frontstellung gegeneinander. Die Dominikaner hatten mit den großen Lehrwerken des Thomas von Aquin eine Theologie entwickelt, die mit den Mitteln der aristotelischen Philosophie unterbaut war. Thomas schied das, was wir mit dem begrifflichen Denken durch die Philosophie erschließen können, von der Theologie, die aus der Offenbarung schöpft. Die Theologie steht für ihn höher als die Philosophie, und es kann für Thomas keinen Widerspruch zwischen beiden geben, aber es sind doch zwei unterschiedliche Erkenntniswege. Bonaventura und mit ihm eine sich entsprechend formierende theologische Schule seines Ordens sahen dagegen in einer sich verselbstständigenden Philosophie Gefahren für den Glauben, denn die auf sich selbst gestellte Vernunft könnte sich in letzter Konsequenz von Gott ganz losreißen. Eine philosophische Schule an der Universität Paris, der sogenannte lateinische Averroismus, hatte dies offenbar bereits vollzogen. Sie lehrte nach der Auslegung der arabischen Interpreten des Aristoteles die Ewigkeit der Welt und die Vergänglichkeit der individuellen Seele, sodass es auch keine Verantwortung vor Gott und keine letzte Vollendung geben konnte. Der Kampf dagegen hat Bonaventura schließlich zu einer grundsätzlichen Gegnerschaft gegen die aristotelische Philosophie und zuletzt sogar gegen die Philosophie überhaupt geführt. Die Vorbehalte des Franziskus gegen jede Gelehrsamkeit fand er mehr und mehr berechtigt. Bonaventura erinnert im „Hexaemeron“ an eine Begebenheit, die sich im Heiligen Land während eines Treffens zwischen Franziskus und Sultan Melk el-Kamel zugetragen hat: „Bedenke den seligen Franziskus, wie er dem Sultan predigte. Als der Sultan ihm auftrug, er solle mit seinen Priestern disputieren, sagte er, dass man gemäß der Vernunft über den Glauben nicht streitreden könne, der über der Vernunft liege, noch auch durch die Schrift, weil jene sie nicht annähmen.“ Bonaventura erläutert dazu: „Daraus geht hervor, dass den Glaubenden der Glaube nicht durch die Vernunft, sondern durch Schrift und Wunder erwiesen werden kann“, und ergänzt noch verschärfend: „In der Urkirche verbrannten sie die Bücher der Philosophie“ (Bonaventura 1964, 599 f.). So mündete Bonaventura, der als wissenschaftlicher Theologe an der Universität begonnen hatte, zuletzt sogar in einem ausgesprochenen Antiintellektualismus (Benedikt 151, 160).
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Der Dominikaner Thomas von Aquin sah dagegen im gedanklichen Durchdringen der Glaubensinhalte einen Weg, sie tiefer zu verstehen, und im vernünftigen Argumentieren eine Möglichkeit, die Glaubenswahrheiten auch Ungläubigen näherbringen zu können. Seine „Summe gegen die Heiden“ hatte er als Argumentationshilfe geschrieben für seine Brüder, die sich in der Mission mit muslimischen Geistlichen auseinandersetzen mussten. Im Jahre 1273 wurde Bonaventura vor seine letzte große Aufgabe gestellt. Die Nachricht, dass Papst Gregor X. ihn zum Kardinal ernannt hatte, erreichte den Bescheidenen beim Geschirrspülen im Konvent von Mugello bei Florenz. Diesmal konnte er sich nicht entziehen. Ihm war eine wichtige Rolle zugedacht bei der Vorbereitung und Durchführung des Konzils von Lyon, auf dem die Wiedervereinigung mit der Ostkirche besiegelt werden sollte. Die Versammlung der kirchlichen Würdenträger, die im Frühsommer 1274 in Lyon zusammenkam, muss ein beeindruckendes Bild geboten haben. Dreihundert Bischöfe, die Äbte der alten Klosterkongregationen, die Großmeister der Ritterorden, die Oberen der Bettelorden, die Patriarchen von Jerusalem und Byzanz und sogar eine Delegation aus der fernen Mongolei waren angereist. In diesem großen weltkirchlichen Rahmen hielt Bonaventura die Predigt während des Hochamtes, das gemeinsam mit den Vertretern der Ostkirche gefeiert wurde. Die Vorbereitung des Konzils war seine letzte große Kraftanstrengung. Unerwartet starb er noch während des Konzils nach kurzer Krankheit. In der Franziskanerkirche von Lyon wurde er beigesetzt. Während der Religionskriege im 16. Jahrhundert haben Hugenotten seine sterblichen Überreste verbrannt. Der Schädel konnte zwar gerettet werden, ging dann aber während der Französischen Revolution verloren. Lediglich eine Armreliquie ist erhalten, die in der Kathedrale seiner Heimatstadt Bagnoreggio in einem silbernen Reliquiar gezeigt wird. In Bagnoreggio wurde Bonaventura 1217 oder 1221 in der sogenannten Civita geboren, dem alten, jetzt fast verlassenen Zentrum der Stadt. Unweit des Bolsena-Sees liegt Civita auf einem Felskegel, der nur durch eine schmale Brücke über das tief eingeschnittene Tal mit dem neuen Zentrum von Bagnoreggio verbunden ist. Die Kuppe aus Tuffstein, auf der Civita erbaut ist, schwimmt unsicher auf einer Tonschicht, sodass Felsstürze an dem löcherigen und brüchigen Felskegel nagen. Während der Jahrhunderte hat sich die Fläche dadurch immer mehr verkleinert, und ganze Stadtteile sind im Abgrund verschwunden. Bonaventuras Elternhaus, in dem man eine Kapelle zum Gedächtnis des Heiligen eingerichtet hatte, ist im 19. Jahrhundert in die Tiefe gerissen worden. Eine Tafel an der Felskan-
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Abb. 14: Bonaventuras Heimatstadt Civita di Bagnoreggio
te in der Via S. Bonaventura erinnert daran. Im Jahre 1695 hat ein Erdbeben den endgültigen Niedergang von Civita eingeleitet. Nur noch eine Handvoll Einwohner lebt heute in den alten Häusern, deren gelber Naturstein löcherig zernagt ist und deren Terrassen schwindelerregend an den Abgrund gebaut sind. Eine alte Signora, die auf einer steinernen Bank vor ihrem Haus sitzt, weist uns den Weg zu einem Terrassengarten. „Grande Panorama“, verspricht sie, und es ist so. Man schaut auf die bizarren, von Wind und Wetter geformten Kreidefelsen im Tal, zerknittert und längs gefurcht wie das gebleichte Gerippe eines gestrandeten Wales. Den Horizont begrenzen langgestreckte Höhenzüge. Für den jungen Bonaventura eine beschützte Insel, weltentrückt, wie eine Himmelsstadt, wenn im Tal die Nebel lasten und nur die Stadt sich darüber erhebt, aber auch abgeschnürt und beengend. Hinter den gestaffelten Gebirgszügen in der Ferne lockte die Welt. Bei den Minderbrüdern, die in Bagnoreggio einen kleinen Konvent hatten, wird er etwas erfahren haben von dieser Welt, in der sie als Prediger unterwegs waren. Er ist wohl auch hier schon ihrer Spiritualität nähergekommen, und vielleicht war der Wunsch, in den Orden einzutre-
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ten, der Grund dafür, dass er dann zum Studium in das weit entfernte Paris gezogen ist. Eine besondere Beziehung zum Ordensgründer bestand auch dadurch, dass er von seiner Mutter gehört hatte, wie er als kleiner Junge von einer schweren Erkrankung geheilt worden war, nachdem sie sich mit einem Fürbittgebet an den hl. Franziskus gewandt hatte. Die Lokaltradition geht davon aus, dass er schon in Bagnoreggio dem Orden beigetreten ist. Die Historiker dagegen sind übereinstimmend der Meinung, dass er sich erst in Paris dazu entschlossen hat. Man muss jedoch fragen, warum er nicht im nahen Padua studiert hat, wo bereits im Studium der Sieben Freien Künste auf die Medizin ein besonderer Schwerpunkt gelegt wurde, denn Bonaventuras Vater war Arzt. Es spricht also einiges dafür, dass er sich schon früh anders orientiert und der Theologie zugewandt hatte, für die Paris besonders berühmt war. Diese frühe Prägung zumindest könnte er durch Kontakte zu den Brüdern des Franziskanerklosters seiner Heimatstadt erhalten haben, das in Sichtweite seines Elternhauses auf der anderen Seite des Tales lag. Wo es gestanden hat, ist heute eine Aussichtsplattform am Beginn der Brücke, die zur alten Civita hinüberführt. Bonavatura hat sein kontemplatives Leben mit einer außerordentlich erfolgreichen praktischen Wirksamkeit verbinden können. Er hat die franziskanische Bewegung aus einer ihrer schwersten Krisen herausgeführt, den Orden konsolidiert und ihm eine am Ordensgründer ausgerichtete Spiritualität gegeben, die zugleich unter den Bedingungen eines Großordens lebbar war. Daher gilt er zu Recht als der „zweite Gründer“ des Franziskanerordens. Eigene mystische Erfahrungen sind ihm wahrscheinlich versagt geblieben, aber seine Fähigkeit zur Einfühlung in fremdes Erleben hat ihn zu einem der einflussreichsten und meistgelesenen mystischen Schriftsteller des Mittelalters werden lassen. Asketische Exzesse, mit denen sich viele mittelalterliche Mystiker selbst zugrunde gerichtet haben, werden von ihm nicht berichtet. In der Tradition des Augustinus stehend, betont er Gefühl und Willen. Dem Vorbild seines Ordensvaters Franziskus folgend, der ganz in Symbolen und Bildern lebte, hat er die symbolistische Mönchstheologie des Mittelalters zu einem letzten großen Höhepunkt geführt und eine franziskanische, vor allem an Augustinus anknüpfende theologische Schule angeregt. Den Spuren des hl. Franziskus folgt man am besten auf Wanderungen durch die Wälder und Felder Umbriens, Latiums und der Toskana, etwa am Monte Subasio, am La Verna oder auf der Hochebene von Rieti. Hier hat der asketische Wanderprediger das Lob Gottes und seiner Schöpfung gesungen. Bonaventura folgte den Spuren des Heiligen, aber seine Wege führten ihn auch in die Zentren kirchlicher Macht, wo er als Oberer
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Praktische Hinweise:
eines sich konsolidierenden und zunehmend einflussreichen Ordens wirken musste. So lässt sich eine Reise auf seinen Spuren verbinden mit einem Besuch von Orvieto. In unsicheren Zeiten war die auf einem Felsplateau gelegene Stadt immer wieder Zufluchtsort der Päpste. Neben dem Dom, inmitten des noch ganz mittelalterlichen Stadtbildes, sind zwei ehemalige päpstliche Residenzen aus dem 13. Jahrhundert erhalten, die als archäologisches Museum und als Dommuseum zugänglich sind. Der ältere, quer zum Dom stehende Teil stand bereits, als Bonaventura im Jahre 1264 in Orvieto zur Einführung des Fronleichnamsfestes vor dem hier residierenden Papst Urban IV. gepredigt hat. Thomas von Aquin, der die Fronleichnamsliturgie geschaffen hat, befand sich zu dieser Zeit als Berater am päpstlichen Hof. Im Dom von Orvieto stellen Fresken in der Cappella del Corporale das Wunder von Bolsena dar, das den äußeren Anlass für die Einführung des Fronleichnamsfestes gegeben hat: Während ein Priester, der an der Wandlung von Brot und Wein zweifelte, die Eucharistie feierte, tropfte Blut aus der konsekrierten Hostie auf das Messtuch. Das blutige Tuch wird als Reliquie im Dom von Orvieto aufbewahrt. Das Wunder soll sich im Jahre 1263 in der Kirche S. Cristina in Bolsena ereignet haben, unweit von Bagnoreggio, dem Geburtsort von Bonaventura.
Stätten in Assisi/Umbrien, die mit dem Leben des hl. Franz und der hl. Klara verbunden sind, vor allem: Kirche und Kloster San Damiano, Ort der Berufung des hl. Franz und erstes Kloster der Klarissen. Die Basilika San Francesco mit dem Grab des Heiligen. Die Basilika Santa Chiara mit dem Kreuz von San Damiano und den Reliquien der hl. Klara. Am Monte Subasio oberhalb von Assisi die Einsiedelei Carceri. In der Ebene unterhalb der Altstadt von Assisi die Basilika Santa Maria degli Angeli mit der Kapelle Porziuncola. Die Hochebene von Rieti/Latium mit vier Klöstern am Ort ehemaliger Einsiedeleien des hl. Franziskus. Im Umkreis von 20 Kilometern um die Stadt Rieti liegen die Konvente von Fontecolombo, La Foresta, Greccio und Poggio Bustone. Das Kloster La Verna am Monte Penna mit der Stigmatakapelle bei Bibbiena/ Toskana, Internet: www.santuariolaverna.org. Bonaventuras Geburtsort Civita di Bagnoreggio/Latium, ca. 10 Kilometer östlich des Bolsena-Sees. Pilgerweg auf den Spuren des hl. Franziskus: „Cammino di Francesco“, Internet: www.camminodifrancesco.it.
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Literatur:
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Meister Das Seelenfünklein Eckhart Eck Meister Eckharts Kloster in Erfurt
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it einem weiten Vorplatz hält die Stadt respektvoll Abstand zum Domberg in Erfurt. Siebzig Stufen einer Freitreppe führen hinauf zum Mariendom und zur Severikirche, die auf einer Anhöhe allem weltlichen Treiben wie entrückt sind. Eine von wuchtigen Pfeilern unterfangene Plattform trägt den mächtigen, zur Stadt hin vorspringenden Chor des Doms. Er allein hat die Ausmaße einer Kirche, doch das hoch Aufstrebende der gotischen Fenster und aufgesetzten schlanken Fialen scheint ihm alle irdische Schwere zu nehmen. Am Rande des Domplatzes rattert die Straßenbahn entlang. Hinter einer Häuserzeile mit Fachwerkgiebeln beginnt die Altstadt – winkelige Viertel an den vielfach verzweigten Seitenarmen des Flüsschens Gera, prachtvolle Fassaden alter Handelshäuser und großzügige Plätze, auf denen schon zur Frankenzeit der Handel mit dem Osten abgewickelt wurde. Dort, ganz nah am Leben und Treiben der Menschen, haben Mönche des Bettelordens der Dominikaner ab 1229 ihr Kloster und die Predigerkirche erbaut. Der Hauptflügel des Konventbaus und die Kirche sind erhalten geblieben. Mitten im lebhaften Zentrum, am Ufer der Gera, stehen sie noch in der Schlichtheit, mit der die Bettelorden auch in der Formensprache der Architektur ihren Gegenentwurf gegen das Übermaß an kirchlicher Pracht- und Machtentfaltung zum Ausdruck brachten. Eine Gasse führt von der breiten Schlösserstraße auf den stillen Predigerhof. Von der kleinen Grünanlage aus überblickt man den langgestreckten Konventbau und den Chor der Predigerkirche mit dem später hinzugefügten bescheidenen Turm. Zwei Arme der Gera vereinigen sich auf der Höhe des Klosters. Rauschend und schäumend fließt ihr Wasser über eine Staustufe und treibt das Mühlrad der letzten erhaltenen Wassermühle Erfurts. Am gegenüberliegenden Ufer ragt das kahle Gerippe der im Krieg zerstörten
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Barfüßerkirche, die der zweite große Bettelorden, die Franziskaner, dort errichtet hatte. Die Namen Schuhgasse, Töpfer- und Fischmarkt in der Umgebung lassen das lebhafte mittelalterliche Gewerbetreiben ahnen, das die Gassen in der Nachbarschaft des Klosters tagein, tagaus mit Lärm und Gestank erfüllte. Anders als die alten Orden der Benediktiner und Zisterzienser suchten die Anfang des 13. Jahrhunderts neu entstandenen Bettelorden nicht die Einsamkeit abgelegener Einöden, sondern die Nähe des Volkes. Mit dem Vorbild einer überzeugenden Lebensform in Armut und Christusnachfolge wollten sie die Menschen zur Kirche zurückführen, deren Repräsentanten nach einer Zeit des Verfalls oft mehr mit Besitzerwerb, politischen Ränkespielen und Machterhalt beschäftigt waren als mit den Nöten der Menschen. Und die Nöte waren groß in dieser krisenhaften Zeit des Übergangs zur Neuzeit, in der sich die alten Ordnungsgefüge zunehmend auflösten, Kaiser- und Papsttum gleichermaßen ihre vereinheitlichende Kraft verloren und der Einzelne aus der selbstverständlichen Einbindung in Gemeinschaftsverbände heraustrat in die Individualität und Ungeborgenheit. Eine tiefe seelische Beunruhigung erfasste die Menschen. Die zum Himmel aufstrebenden Bauwerke der Gotik entstanden, Symbole für die Überwindung des bedrückenden Diesseits, Brückenschlag in die Transzendenz, wie die Kathedralen von Chartres, Reims und Köln. Immer mehr Menschen trieb es zu den überall aufblühenden Sektenbewegungen der Katharer, Waldenser, Lollarden, Begarden und Brüder vom freien Geiste. An versteckten Orten oder auch ganz offen auf den Marktplätzen verkündeten ihre „Propheten“ und Wanderprediger dualistische Lehren vom Kampf des bösen Schöpfers der materiellen Welt mit dem guten Gott des geistigen Seins, den Glauben an die Selbsterlösung der Erleuchteten und eine pantheistisch gedachte Vergöttlichung des Menschen, die ihn jeglicher moralischen Verantwortung enthob. Die von der Kirche oft nicht mehr gestillte Sehnsucht nach religiöser Vertiefung machte die Menschen empfänglich für die abstrusen und teilweise wahnhaften Gedanken der in immer größeren Horden umherstreifenden Sektierer. Papst Innozenz III. (gest. 1216) hatte weitsichtig erkannt, dass die innerkirchlichen Erneuerungskräfte der Bettelorden dem Sektenwesen entgegenwirken konnten, denn ihr Armutsideal und ihre innige Spiritualität gaben der religiösen Sehnsucht der Menschen ein glaubwürdiges Ziel. Nach den Franziskanern, die bereits 1209 vom Papst bestätigt wurden, erhielt 1216 auch der Bettelorden der Dominikaner, den Dominikus in Südfrankreich als Predigerorden zur Bekehrung der dort besonders aktiven Katharer gegründet hatte, die formelle Anerkennung Roms. 1229 kamen die Dominikaner dann bereits nach Erfurt, da die Lage der Stadt an der bedeutenden Reichsstraße Via re-
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gia, die vom Rhein bis weit in den Osten führte, günstige Bedingungen für ihren Predigtauftrag bot. Die Arbeiten an den Klostergebäuden waren weit fortgeschritten, und der Chor stand bereits in seiner heutigen Baugestalt, als wenige Jahrzehnte später der blutjunge Eckhart von Hochheim, der als Meister Eckhart bekannt werden sollte, sich an der Klosterpforte meldete und um Aufnahme bat. Wie viele andere bekannte Ordensmänner und religiöse Frauen seiner Zeit hatte auch er sich entschlossen, dem bequemen Leben den Rücken zu kehren, das er als Sohn eines Landadeligen auf dem elterlichen Gut hätte führen können. Albertus Magnus und Thomas von Aquin, beide Dominikaner wie Eckhart, die Begine Mechthild von Magdeburg und Klara von Assisi, die Gründerin der franziskanischen Frauenbewegung, alle aus gutem adeligen Hause, waren vor ihm diesen Weg gegangen. Frisch im Gedächtnis des Volkes war Abb. 15: Chor der Predigerkirche in Erfurt und östlicher Konventbau zu Eckharts Jugendzeit auch das kompromisslose, ganz dem Armutsideal verpflichtete Leben der Landgräfin Elisabeth von Thüringen. Thomas von Aquin, Klara und Mechthild hatten den Schritt in ein religiöses Leben in Armut gegen den Willen ihrer Eltern getan. Thomas von Aquin musste ein Jahr in elterlichem Hausarrest auf Burg Roccasecca ausharren, bis man ihn ziehen ließ. Was sie und wohl auch Eckhart antrieb, war dieselbe innere Unruhe und Sehnsucht nach religiöser Erfüllung, von der die Menschen der Zeit erfasst waren. Dazu kam die jugendliche Begeisterung für ein authentisches christliches Leben, die sich über alles hinwegsetzte, irdische Ehren und Besitztümer gering achtete im Vergleich zur Nähe Gottes, die es zu erringen galt. Ihr Weg war, nach einem Wort des EckhartSchülers Tauler, eine Abkehr von der „unaussprechlichen Finsternis in der
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Welt“, die damals schwer auf den Menschen lastete. Ob auch Eckhart gegen den Willen der Eltern aus seiner Heimat in der Gegend von Gotha die zwei Tagesmärsche, die man bis Erfurt benötigt, zu den Bettelmönchen gegangen ist, wissen wir nicht. Sein Persönlichkeitsbild, das von Selbstbewusstsein und Willensstärke geprägt ist, lässt es als möglich erscheinen, und die Gesamtumstände sprechen dafür. Hätten die Eltern ihn ins Kloster gegeben, wären eher die traditionellen Mönchsorden mit ihren wohlhabenden Abteien geeignet gewesen, ihm eine standesgemäße kirchliche Karriere zu ermöglichen. Aus den wenigen bekannten Lebensdaten Eckharts kann man erschließen, dass er um 1260 geboren ist und ab 1277 mit seiner theologischen Ausbildung begonnen haben muss. Da die Entscheidung für ein radikales Lebensprogramm, wie es die Dominikaner vertraten, ein selbständiges Urteil und die Unabhängigkeit eines jungen Erwachsenen erforderte, ist anzunehmen, dass er erst nach seiner schulischen Ausbildung an einer Domschule mit etwa siebzehn Jahren in den Orden eingetreten ist. Bald darauf könnte man ihn, wie auch bei Thomas von Aquin geschehen, außer Reichweite der Eltern gebracht haben, indem man ihn zu einem anderen Konvent weiterleitete. Wo genau Eckhart die intensive philosophisch-theologische Ausbildung des Ordensnachwuchses absolviert hat, ist nicht bekannt. Möglicherweise war er bereits in seinen Anfangsjahren auch am Kölner Konvent, jedenfalls hat er dort die letzten fünf Jahre seiner ordensinternen Ausbildungszeit verbracht, da sein späteres Studium in Paris eine entsprechende Vorbereitung am dortigen Generalstudium voraussetzte. Was ihn zunächst angetrieben hatte, waren jugendlicher Idealismus, unklares Sehnen und vor allem intensives religiöses Erleben. Während seiner Ausbildung an den Ordensschulen und später an der Universität Paris lernte er die methodisch hochgerüstete scholastische Philosophie kennen, die etwas unterkühlt mit reinen Vernunftschlüssen Antworten auf die Fragen nach Gott und der Seele suchte. Wenige Jahre vor seinem Klostereintritt hatte die Scholastik mit den großen Werken des Thomas von Aquin ihren Höhepunkt gefunden. Der hochbegabte junge Ordensmann Eckhart hat sie bald souverän beherrscht und ihre Methoden sicher gehandhabt, aber seine unstillbare Sehnsucht trieb ihn weiter, er wollte Gott unmittelbarer erfassen als durch nüchterne Vernunftschlüsse. Atemlos, ungeduldig ist dieser getriebene Geist, der in die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen vordringen will, himmelstürmerisch ist er, und – so beschreibt er in einer Predigt den Geist, der ganz zum Geist kommen will – „er dringt immerzu vor durch das Firmament hindurch und dringt durch den Himmel, bis er kommt zu dem Geiste, der den Himmel umtreibt ... Immer
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noch aber genügt’s dem Geiste nicht, er dringe denn weiter vor in den Wirbel und in den Urquell, darin der Geist seinen Ursprung nimmt“ (Eckhart 290). Das ist er selbst, und so will er es, „in diesem gegenwärtigen Nun“. Das dunkle Sehnen seiner Anfänge formte er hinein in seine eigene, philosophisch durchgebildete und hoch spekulative Lehre, die den Weg weisen will zum Ausstieg aus der Nichtigkeit des Diesseits und zum Überstieg hin zu einer erfahrenen Gottesnähe. Es ist die Gottesbegegnung, die „Gottesgeburt“ im tiefsten Seelengrund des Menschen, dem „Seelenfünklein“ oder „Bürglein“, wie er ihn auch nennt, um die sein Denken unaufhörlich kreisen wird. Alle Philosophie, die er später als Magister der Universität Paris (daher der Namenszusatz Meister) auf dem höchsten Niveau der damaligen Lehrtradition beherrschte, war ihm immer nur Mittel, diese altchristliche Lehre weiter auszulegen und neu zu fassen. Er prägte sie schließlich um im Sinne seiner eigenen mystischen Theologie, mit der er zuletzt nicht weniger wollte, als das Zusammenfließen der ebenbildlich geschaffenen Seele mit dem göttlichen Urbild zu begründen und über die göttliche Berührung der Seele hinaus ihre Göttlichkeit denken zu können. Eckhart hat sich nach dem Ordenseintritt wohl schon bald durch besondere Leistungen hervorgetan und Durchsetzungsfähigkeit gezeigt. So zeugt etwa das selbstgewisse: „Ich aber sage euch“, das er immer wieder in seinen Predigten spricht, nachdem er ein Wort der „anderen Meister“ angeführt hat, nicht von bescheidener Zurückhaltung. Die Ordensoberen haben offenbar seine Eignung für eine Leitungsposition erkannt und früh die Weichen dafür gestellt. Nach der fünfjährigen Ausbildung am Generalstudium in Köln schickte man ihn an die damals führende Universität Paris. Am 18. April 1294 hielt „frater Ekhardus“ dort als Sentenzenlektor die Osterpredigt. Das heißt, er hatte bereits den ersten akademischen Grad eines Bakkalaureus erworben und las über die Sentenzen des Petrus Lombardus, das Standardlehrbuch für Theologen, um sich auf das Amt eines Magisters vorzubereiten. Vermutlich wusste er bereits, dass seine zukünftige Verwendung im Orden eher eine administrative und seelsorgerische Funktion sein würde, denn er machte sich anscheinend nicht die Mühe, seinen Sentenzenkommentar zu veröffentlichen, um ihn der akademischen Öffentlichkeit als seine erste Referenzveröffentlichung vorzustellen, wie es üblich war (Ruh 236). Jedenfalls rief ihn der Orden unmittelbar nach Abschluss des einjährigen Sentenzenlektorats zurück an sein Heimatkloster in Erfurt, wo ihm das Amt des Priors übertragen wurde. Der Vierunddreißigjährige stand nun also bereits dem Konvent vor, in den er als junger Mann eingetreten war. Der Provinzial der deutschen Ordensprovinz, Dietrich von Freiberg, ernannte ihn außerdem zum Vikar von Thüringen. Als Prior war
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er Vorsteher des Konventes und zuständig für dessen Belange nach innen und außen, als Vikar war er oft unterwegs, um Klöster zu visitieren – mühevoll und zeitaufwändig bei den wenig komfortablen Reisebedingungen der damaligen Zeit. Weite Strecken legte er zu Fuß zurück, denn nach den Vorschriften der Bettelorden durfte er kein Reittier benutzen. Vier Jahre, bis 1298, hat er die beiden schwer zu vereinbarenden Ämter ausgefüllt. Zu systematischer theologisch-philosophischer Arbeit blieb keine Zeit. So war seine erste Schrift eine Zusammenstellung aus kurzen belehrenden Ansprachen für die jungen Brüder, mit denen er regelmäßig zu „abendlichen Lehrgesprächen“ zusammenkam (Eckhart 53). Es sind die unter dem Titel „Reden der Unterweisung“ überlieferten Texte. Hier ist er noch der behutsame Seelenführer und Pädagoge, der Ratschläge gibt, über Gehorsam und das rechte Beten, über Sünde und Vergebung, über ein ausgewogenes Verhältnis von tätigem und geistlichem Leben. Es ist noch nicht das unduldsam Einfordernde und über alle Grenzen Hinauszielende seiner späteren mystischen Predigten zu spüren. Nur bisweilen geht auch in diesen frühen Reden sein Temperament mit ihm durch, wenn er etwa mit leidenschaftlicher Ungeduld dazu auffordert, „die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen“. Klar spricht er bereits aus, was ihn zuinnerst bewegt, was das Ziel all seines Denkens und Strebens ist: Es geht ihm um den „wesenhaften Gott“, den man „schmecken“, erfahren, ja „ergreifen“ kann, nicht um einen nur „gedachten Gott“. Ganz „soll der Mensch von göttlicher Gegenwart durchdrungen und mit der Form seines geliebten Gottes durchformt und in ihm verwesentlicht sein“. Der Weg dahin ist ihm noch nicht wirklich deutlich. Noch leuchtet Gott ihm auch „in allen Dingen“, doch mehr und mehr sollte die völlige Abkehr „von den Dingen, die außer uns sind“, bei ihm die Oberhand gewinnen (Eckhart 60 ff., 96). 1298 wurde Eckhart durch Beschluss des Generalkapitels die Belastung des Doppelamtes abgenommen. Er behielt das des Vikars. Zum Studienjahr 1302/03 schickte ihn der Orden abermals nach Paris, wo er einen der beiden Lehrstühle des Ordens übernahm. Eine unruhige Zeit, denn der französische König und Papst Bonifaz VIII. kämpften erbittert um die politische Vorherrschaft. Auch die Universität Paris blieb von den Auseinandersetzungen nicht unberührt. Duns Scotus etwa, der große FranziskanerTheologe, musste Frankreich verlassen, weil er sich geweigerte hatte, ein gegen den Papst gerichtetes Dokument zu unterzeichnen. 1303 endete die Auseinandersetzung mit der völligen Niederlage des Papsttums, das auf lange Zeit in Abhängigkeit von der französischen Krone bleiben sollte. Trotz dieser Wirren konnte Eckhart 1303 mit dem Titel eines Magisters der Theologie nach Erfurt zurückkehren, gerade rechtzeitig, um das Amt des
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Provinzials für die neue Provinz Saxonia zu übernehmen, die man aus der überdehnten deutschen Provinz Teutonia ausgegliedert hatte. Damit waren ihm 47 Konvente in einem Gebiet unterstellt, das trotz der Aufteilung immer noch von den Niederlanden bis nach Ostdeutschland reichte. Zusätzlich bürdete man ihm das Amt des Generalvikars für Böhmen auf. Seinen Amtsitz nahm er im Dominikanerkloster zu Erfurt. Wieder waren seine Tage ausgefüllt mit Verwaltungsaufgaben, Klostervisitationen, Gründungsformalitäten für neue Klöster und anderen vielfältigen Leitungsaufgaben. Er gehörte nun, mit Anfang vierzig, zum ‚Topmanagement‘ seines Ordens und musste an den verschiedenen Provinzial- und Generalkapiteln teilnehmen, die teilweise weite Reisen erforderten, unter anderem nach Toulouse und Piacenza. Als Eckhart 1294, nach dem ersten Pariser Studienaufenthalt, an das Erfurter Kloster zurückkehrte, waren der Chor und das östliche Konventgebäude vollendet. Für viele Jahre blieben sie sein Lebensumfeld. Ihre Baugestalt ist im Wesentlichen so erhalten, wie Eckhart sie gesehen hat. Die Kirche wurde im Zuge der Reformation protestantisch, das Kloster ging in städtisches Eigentum über und diente als Schulgebäude. Die Haupträume im östlichen Konventbau werden jetzt von der evangelischen Gemeinde der Predigerkirche als Sakristei und Winterkirche genutzt. Die später gebauten Flügel, die den Kreuzhof des Klosters im Süden und im Westen abschlossen, sind abgetragen worden. Der Bereich des ehemaligen Kreuzhofes ist in den Schulhof des Evangelischen Ratsgymnasiums einbezogen. „Veni vidi ABI“, lautet ein Graffito an dem nüchternen Bau aus dem 19. Jahrhundert. Tauben gurren in dem samstäglich stillen Hof. Hinter den gotischen Spitzbogenfenstern des Konventbaus ist Licht. Sitzt dort nicht gerade der Prior Eckhart, vertieft in das „Lehrgespräch“ mit seinen jungen Brüdern, „die ihn zu diesen Reden nach vielem fragten“? Wir sehen ihn mit seiner sicher lebhaften Gestik vor uns und hören ihn eindringlich sprechen: „So kraftvoll soll man beten, dass man wünschte, alle Glieder und Kräfte des Menschen, Augen wie Ohren, Mund, Herz und alle Sinne sollten darauf gerichtet sein; und nicht soll man aufhören, ehe man empfinde, dass man sich mit dem zu vereinen im Begriffe stehe, den man gegenwärtig hat und zu dem man betet, das ist: Gott.“ Dann wieder hören wir ihn verhaltener sprechen, sich seiner pädagogischen Aufgabe erinnernd: „Wäre der Mensch so in Verzückung, wie’s Sankt Paulus war, und wüsste einen kranken Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich erachtete es für weit besser, du ließest aus Liebe von der Verzückung ab und dientest dem Bedürftigen in größerer Liebe“ (Eckhart 55, 67). Im Putz des Obergeschosses sind noch die Umrisse der vermauerten Fenster des Dormitoriums zu
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erkennen, wo die Mönche ihre zwei mal drei Meter großen Zellen hatten – gerade genug Platz für eine Bettstatt, einen Betstuhl und wenige Habseligkeiten. Das Obergeschoss ist jetzt Sitz des Evangelischen Zentrums für Kirchenmusik und innen völlig umgestaltet. Erhalten ist der aus kunstvoll behauenen Balken gefügte Dachstuhl von 1279, der ohne Zwischendecke und mit Holz verkleidet als spitz zulaufendes Tonnengewölbe das Dormitorium überspannte. Heute ist es die Westfassade der Kirche, die sich dem Besucher des ehemaligen Predigerklosters zuerst präsentiert. Sie folgt dem Querschnitt des einfachen Satteldachs und der beiden Seitenschiffe. Nur zwei große Strebepfeiler gliedern das glatte Sandsteinmauerwerk. Sparsam ist das Maßwerk der drei Fenster. Der spitze Giebel mit den beiden abgeschrägten Seitenschiffen erinnert an ein Zelt – Tabernakulum –: flüchtige Behausung für das ewige Wort, dessen rastlose Verkündigung sich die Bettelmönche zum Programm gemacht hatten. Eckhart hat ihn nicht mehr gesehen, denn die durch ihre Tiefenwirkung beeindruckende dreischiffige Basilika ist erst Ende des 14. Jahrhunderts fertiggestellt worden. Zu seiner Zeit stand noch die kleinere Vorgängerkirche, die provisorisch mit dem Chor verbunden war. Hinter einem großen Lettner sind die Chorschranken und das durch jahrhundertelangen Gebrauch rissige und abgenutzte Chorgestühl aus Eckharts Zeit erhalten. Wahrscheinlich ist es noch während seiner Priorzeit eingebaut worden, sodass wir sogar sagen können, wo er gesessen hat, denn der Prior hatte seinen Stuhl neben dem Zugang durch die Chorschranken. Hier sind wir ihm ganz nahe und können fast seine Schritte nachgehen. Wenn er zelebriert hat, stand er am steinernen Altartisch im Chorhaupt – der aufgesetzte Doppelflügelaltar ist aus späterer Zeit –, von dort ging er zu der in die Chorwand eingelassenen Nische mit einer Sitzbank für die Zelebranten. Während er weiter der Liturgie folgte, fiel sein Blick auf die gegenüberliegenden Chorfenster. Sie haben mit ihren vielfach verschlungenen farbigen Bandornamenten die Jahrhunderte überdauert, während die anderen nach Kriegszerstörung ersetzt werden mussten. Vom Chor aus führt ein Durchgang in die alte Sakristei, wo ein steinernes Becken für die Handwaschung der Zelebranten erhalten ist. Von dort gelangt man in die mit Kreuzrippengewölben überspannten Haupträume des Klosters, in den kleinen und den großen Kapitelsaal und schließlich in das Refektorium, die jetzige Winterkirche. Schlusssteine mit fein gearbeiteten Darstellungen der Schutzmantelmadonna und des Pelikans als Symbol für den Opfertod Christi verzieren das Gewölbe im Refektorium. Die ursprüngliche Farbigkeit der schlanken Pfeiler und schwungvoll aufgefächerten Gewölberippen ist wiederhergestellt. Hier, im Speisesaal des Klosters, hat Eckhart mit seinen Brüdern die Mahlzeiten eingenommen.
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Abb. 16: Refektorium im ehemaligen Predigerkloster zu Erfurt
Neue Töne waren von Eckhart zu hören, als er von seinem zweiten Pariser Aufenthalt zurückkam. In seinen Quästionen, den an der mittelalterlichen Universität üblichen akademischen Lehrgesprächen, hatte er bereits den Grund gelegt für seine Gotteslehre, nach der Gott kein Sein ist, denn er ist über allem Sein und schöpferisches „Ur-Sein“ vor aller Unterscheidung, aus dem erst die drei göttlichen Personen, Vater, Sohn und Heiliger Geist hervorgehen. Damit regte sich die neuplatonische Mystik des geheimnisvollen syrischen Mönchs Dionysius Areopagita jetzt mächtig in seinem Werk. Das im 5. Jahrhundert entstandene Buch des Dionysius war eines der einflussreichsten des Mittelalters. Eckhart hat es vermittelt über seinen Ordensbruder und Provinzial Dietrich von Freiberg und aus den Werkkommentaren des großen Dominikanergelehrten Albertus Magnus kennengelernt; sicher konnte er auch das Original am Pariser Konvent des Ordens einsehen (dazu auch Ruh 268 – 280). In den Quästionen hatte er die von Dionysius angeregte Gotteslehre noch im nüchternen Ton des Gelehrten und in lateinischer Fachsprache vorgetragen. In seinen auf Deutsch gehaltenen Predigten erhielt seine mystische Theologie nun ihre volle reife Gestalt, bekam Blut und Farbe. Mit unvergleichlicher sprachschöpferi-
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scher Kraft versuchte er, sich dem Unsagbaren zu nähern. Der Meister Eckhart der Deutschen Mystik wurde sichtbar. Seine Predigten nahmen die Motive der Quästionen auf und entwickelten sie weiter: „Gott wirkt oberhalb des Seins in der Weite, wo er sich regen kann; er wirkt im Nichtsein“, heißt es dort (Eckhart 196). Die Paradoxien überschlagen sich, mit denen er diese „überseiende Nichtheit“ in Sprache fassen will. Gott ist ein Nichts und ein Etwas zugleich, er ist „alles und er ist Eins“, er „ist ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild“, frei von jeder Unterschiedenheit, er ist „weiselos“, wie Eckhart sagt. Und doch ist er die vollkommenste, in sich selbst quellende Wirklichkeit, die eigentliche Heimat, in die der Menschengeist aus „der Fremde“ des Geschöpflichen zurückkehren will, und „in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Etwas zum Nichts“. Eckharts Sehnsuchtsbilder für diesen göttlichen Urgrund sind „die Weite“, „ein unergründliches Meer“, „die stille Wüste“ und „einfaltige Stille“, die „Weise ohne Weise“, „Über-Sein“, „Über-Leben“ und „Über-Licht“. Dorthin will er „durchbrechen“, es direkt erfassen, „ganz entblößt in seinem wesenhaften Sein“, und zwar ohne jedes vermittelnde Kreatürliche, seien es Bilder, vorbereitende asketische Übungen oder irgendein Menschlich-Zeichenhaftes, denn Gott „verneint alles andere“, das nicht seiner Weiselosigkeit gleichkommt. Schließlich unterscheidet Eckhart die über allem liegende weiselose Gottheit von Gott, in dessen trinitarischem Leben schon Unterscheidung ist, und der mit der Schöpfung am „Beginn der Kreaturen“ steht. So kann Eckhart sogar darum beten, dass er „‚Gottes‘ ledig“ werde, denn die Seele ruht nicht, bis sie im Urgrund der Gottheit ist, wo alle Unterscheidung aufhört, wo „die Fliege und die Seele gleich sind“. Sie will sich zuletzt von allem lösen und eingehen in die „Ungeborenheit“, jenseits der Bilder, wie sie war, als sie „noch nicht war“. Den Überstieg dorthin ermöglicht eine Kraft in der Seele, der „Seelenfunke“. Er kann den unendlichen Abstand, der uns von Gott trennt, überbrücken, denn er ist von Gott ebenbildlich geschaffen. Aber zunächst muss der Mensch alle Unterschiedenheit abstreifen. Und die Unterschiedenheit, das sind die Kreaturen, sie sind Bild, Zeitlichkeit, Vielheit, Körperlichkeit. Damit tragen sie „Bitterkeit“ an sich, „beflecken“ gar und sind letztlich „ein reines Nichts“ und „äußerer Schein“. Auch die „äußeren Werke“ sind flüchtig und vergehen. Wer das erkennt und sich ganz „von der Kreatur abwendet und abschält“, die Gelassenheit gewinnt, sie gänzlich zu lassen, zu dem neigt sich Gott gerne herab und gebiert sich mit seinem eingeborenen Sohn in diesem höchsten gottesebenbildlichen Teil der Seele zur mystischen Vereinigung. Dann, in der „Quelle der Gottheit“, „entwird“ auch Gott. Die ganze Schöpfung ist zu dieser mystischen Vereinigung unterwegs, das Sein und selbst Gott ruht
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nicht, bis alles wieder „in das verborgene Dunkel der ewigen Gottheit“ eingeht (Eckhart 159 – 438). 1310 wurde Eckhart, der ja bereits als Provinzial der Saxonia vorstand, auch vom Provinzialkapitel der Teutonia, der zweiten deutschen Ordensprovinz, zu ihrem Provinzial gewählt. Ein eigenartiger Vorgang, denn die beiden gerade erst aufgeteilten Provinzen wären damit wieder unter einer Leitung vereinigt gewesen. Man könnte vermuten, dass Eckharts Einfluss in den deutschen Konventen so weit gewachsen war, dass hier eine Art „Eckhart-Fraktion“ die treibende Kraft war, in der möglicherweise Eckhart selbst die Fäden zog. Vielleicht hoffte er sogar, seine mystische Theologie zur herrschenden Lehre des Ordens machen zu können. Das nötige Selbstbewusstsein hatte er, wenn er von anderen „kleinen Meistern“ spricht und sich „wider alle die Meister, die jetzt leben“, stellt (Eckhart 196, 361). Das Generalkapitel aber, das 1311 in Neapel tagte, bestätigte die Wahl nicht. Man schickte ihn stattdessen wieder als Hochschullehrer an die Universität Paris. Dieser allgemein als Auszeichnung angesehene Aufenthalt in Paris von 1311 bis etwa 1313 könnte auch dazu gedient haben, seinen Einfluss zu beschneiden, denn nach seiner Rückkehr wurde er in Straßburg als Generalvikar mit Sonderaufgaben eingesetzt, weit weg von seiner thüringischen Hausmacht. Er hatte die „cura monialium“ zu übernehmen, die im Orden nicht sehr geliebte Seelsorge für die Frauenklöster der Teutonia und die ihrer Betreuung anvertrauten Beginenhäuser. Sein Auftrag war, den bis in die Klöster reichenden schwärmerischen Einfluss der Sekten zurückzudrängen, die den ansteckend faszinierenden Gedanken verbreiteten, dass sich der Mensch aus eigener Kraft zur völligen Einswerdung mit Gott erheben könne. Besonders die Nonnen und Beginen waren von der gesteigerten religiösen Empfindsamkeit des ausgehenden Mittelalters erfasst. Die überhitzte Atmosphäre der Frauenkonvente und Beginenhäuser, in denen Selbstkasteiungen und die Sucht nach visionärer Ekstase weit verbreitet waren, grenzte oft an nervöse Überspanntheit. In ihrer hohen Sensitivität ließen sich die religiösen Frauen von den Vergottungsphantasien der oft – wie hohe Kleriker – in roten Gewändern auftretenden Sektenprediger hinreißen zu einer ekstatischen Hochsteigerung ihres Erlebens. Dies ging bis zur wahnhaften Vorstellung der körperlichen Vereinigung mit Christus oder der Einbildung, das Jesuskind an der eigenen Brust gesäugt zu haben (Grundmann 394 – 438). Die Wiener Begine Agnes Blannbekin (1244 – 1315) meinte, am Fest der Beschneidung Jesu, „ein kleines Hautstückchen wie die Haut eines Eies“ auf der Zunge zu spüren, als sie sich in frommer Rührung fragte, was mit der beschnittenen Vorhaut Jesu geworden sei (McGinn 330). Was Eckhart dämpfen sollte, scheint eher zu einem Kataly-
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sator geworden zu sein für eine Radikalisierung seiner mystischen Theologie. Oft wurde er wohl mitgerissen von der hochgestimmten Erwartungshaltung seiner Zuhörerinnen. Jedenfalls führte ihn seine Mystik nun in eine bedenkliche Nähe zum Gedankengut der Sektenbewegung. Die göttliche Berührung durch die Gottesgeburt im höchsten ebenbildlichen Teil der Seele, des Seelenfunkens, reichte ihm nicht mehr, jetzt wollte er das gänzliche Zusammenfließen des Ebenbildes mit dem Urbild. So heißt es etwa in einer seiner Predigten: „Ganz so, wie wenn im Sakramente Brot in unseres Herrn Leib verwandelt wird: …Ganz so werde ich in ihn verwandelt, dass er mich als sein Sein wirkt, (und zwar) als eines, nicht als gleiches; beim lebendigen Gotte ist es wahr, dass es da keinerlei Unterschied gibt“ (Eckhart 185 f.). Dies ist einer der Sätze, die Eckhart in den Verdacht der Häresie brachten, was dann bald auch zu seiner Anklage führen sollte. In Straßburg beobachtete man ihn anscheinend bereits argwöhnisch. Den Vorwurf der Missverständlichkeit wischte er weg mit dem achselzuckenden Hinweis, dass er nicht verantwortlich sei für das mangelnde Verständnis „grobsinniger Menschen“. In dem in Straßburg entstandenen „Buch der göttlichen Tröstung“ schreibt er: „Mir genügt’s, dass in mir und in Gott wahr sei, was ich spreche und schreibe“ (Eckhart 138). Der Orden musste ihn vermutlich zurückziehen, denn ab etwa 1323 lehrte er am Generalstudium in Köln und predigte daneben in den Kölner Konventen. Bald wurde er auch hier angefeindet. Der Bischof von Köln, der wie der Straßburger in harter Abwehr gegen das kaum noch einzudämmende Sektenwesen stand, musste hellhörig werden, wenn einer seiner führenden Geistlichen und Lehrer im Verdacht stand, sektiererisches Gedankengut zu verbreiten. Eckhart predigte brillant, aber oft so verstiegen, dass er die schlichten Gemüter überforderte. Manche einfache Nonne wird sich nach einer der hochfliegenden Predigten Eckharts verstört mit der Bitte um Aufklärung an ihren Spiritual gewandt haben. Gegner im eigenen Orden zeigten ihn schließlich an und sammelten belastendes Material. Bischof Heinrich leitete 1226 das Verfahren ein. Eckhart widersprach zunächst offensiv. Er bekannte sich ausdrücklich zu den Lehren, die ihm von „Neidern“, wie er sagte, als ketzerisch vorgehalten wurden, und bestritt die Zuständigkeit des Bischofs. Befragungen und Verhandlungen folgten, in denen er sich zu langen Listen mit Auszügen aus seinen Predigten und Schriften äußern musste. Manche seiner überspitzten Formulierungen, in die er sich im Eifer der Rede hineingesteigert hatte, erschienen ihm nun selbst als unklar und verwirrend. Vorsorglich widerrief er im Februar 1327 in einer öffentlich verlesenen Erklärung alle Sätze, die man missverstehen könnte, und appellierte an den Papst. Ende Februar 1327 machte sich Eckhart, der inzwischen hoch in den
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Sechzigern war, auf den langen Weg nach Südfrankreich, um seine Sache beim Papst in Avignon selbst vorzutragen. Aber auch die päpstliche Kommission folgte Eckharts Argumenten nicht, reduzierte allerdings die Liste der beanstandeten Sätze deutlich. Zermürbt, enttäuscht und auch verunsichert hinsichtlich seiner eigenen Lehre, wie manche seiner Aussagen erkennen lassen, starb er wahrscheinlich in Avignon noch vor Abschluss des Verfahrens. Sein Grab ist nicht bekannt. Die Verurteilung von 28 Sätzen Eckharts erfolgte erst nach seinem Tod im März 1329. Lange vergessen, scheinbar erloschen, nur glimmende Glut, überdeckt durch die offizielle Lehrtradition, wirkte Eckharts Lehre untergründig über die Jahrhunderte weiter. Seine Schüler Johannes Tauler (1300 – 1361) und Heinrich Seuse (1297 – 1366) haben in ihren Werken an ihn angeknüpft, ohne dabei seine Überspitzungen zu übernehmen. Luther hat die im Geiste Eckharts verfasst Schrift eines unbekannten Deutschordensherrn – „Frankforter“ genannt, weil er im Ordenshaus zu Frankfurt gewirkt hat – wiederentdeckt und neu herausgegeben. Auch über Tauler hat Eckhart auf Luther und die Reformation gewirkt, vor allem mit seiner Betonung der Innerlichkeit und der Nichtigkeit der menschlichen Werke vor dem göttlichen Willen. Luther wird dann von falscher „Werkgerechtigkeit“ sprechen. Nikolaus von Kues hat im 15. Jahrhundert viele Anregungen für seine Philosophie des Zusammenfalls der Gegensätze in der Unendlichkeit Gottes aus Eckharts Schriften bezogen. Von Nikolaus von Kues ausgehend und vermittelt durch Giordano Bruno und Spinoza, haben Gedanken Eckharts den deutschen Idealismus Hegels und Schellings beeinflusst. Die Nichtigkeit der Kreaturen bei Eckhart ist dem flüchtigen Aufblitzen des Individuellen in Hegels ewig selbstgenügsam in sich kreisendem Übersein des absoluten Geistes nahe verwandt. Zu Recht wird auf Eckharts Nähe zu östlichen Philosophien hingewiesen, für die das Viele und Einzelne auch nur „verdunkelnder Schleier des Einen“ und „Blendwerk“ ist (Otto 59). Wichtiger Anreger auf Eckharts Weg zu seiner mystischen Theologie war Albertus Magnus, der 1248 zusammen mit seinem großen Schüler Thomas von Aquin das Generalstudium der Dominikaner in Köln gegründet hatte. Von 1270 bis 1280 hat er im dortigen Konvent seinen Lebensabend verbracht. Eckhart könnte ihm also noch persönlich begegnet sein. Bekannt geworden ist Albert zwar vor allem als Bahnbrecher der aristotelischen Philosophie, aber nicht weniger intensiv hat er sich mit der Mystik des Dionysius Areopagita beschäftigt, dessen Werke er umfassend kommentierte. Albert, wie Eckhart auch, wollte nicht stehenbleiben bei dem, was wir philosophisch mit der Vernunft über Gott erschließen können oder aus den Zeugnissen der Offenbarung über ihn erfahren. Er wollte darüber
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hinaus zu einer Erkenntnis vordringen, die nicht von den Grundsätzen der Vernunft ausgeht, „vielmehr von einem göttlichen Licht“ (Albertus 235). Damit hat er eine neuplatonisch orientierte Richtung seines Ordens angeregt, zu der neben Eckhart auch dessen Ordensbruder und Provinzial Dietrich von Freiberg zu zählen ist (Ruh 128 f.), und er hat den Funken geschlagen, der in der sogenannten Deutschen Mystik Eckharts und seiner Schüler kräftig weiterbrennen sollte. Allerdings hat Eckhart die negative Theologie des Dionysios, die Albert und später vor allem sein Schüler Thomas von Aquin noch eingebunden hatten in ihre an Aristoteles und Platon gleichermaßen geschulte Philosophie, dann so weit ins Extrem getrieben, dass bei ihm Gott selbst an das Nichts streift. Das verneinende „Nicht“ des Dionysius, mit dem er sich Gott durch Ausschließung alles dessen, was Gott nicht ist, nähern will, ist bei Eckhart übermächtig, wird geradezu seinshaft konkrete Macht (Bernhart 40). In Eckhart brannte das Feuer der Gottessehnsucht, aber es war das kalte Feuer des geistig Abstrakten, das alles Stofflich-Sinnliche in seinem Werk ausgeglüht hat. Der dunkle, bildlose und schweigende Abgrund der Gottheit Eckharts droht das personhafte Antlitz des als Du ansprechbaren Vatergottes zu verlieren (Bernhart 48). Was Eckharts „Bildlosigkeit“ austreiben soll, die Symbole, die liturgischen Zeichen, die sprachlichen Analogien und Vergleiche, ist gerade die menschengemäße „Rede des verborgenen Letzten“ (Bernhart 56). Eckhart überspringt den überlieferten dreifachen Weg der Reinigung, Erleuchtung und Einigung. Er will Gott unmittelbar im Seelengrund ergreifen, ihn geradezu herbeizwingen und sich zu eigen machen – zu ihm „durchbrechen“, wie es immer wieder bei Eckhart heißt. Und er will ihn „unverhüllt, wie er in sich selbst ist“, erfassen, in seinem tiefsten Urgrund (Eckhart 316). Damit überschätzt er die Fassungskraft der leibgebundenen menschlichen Seele. Aus eigenem natürlichem Vermögen kann sie Gott nicht schauen, und auch bei einer gnadenhaften göttlichen Erhebung zu einer solchen Schau zeigt sich Gott nur indirekt in den Wirkungen, die er in den inneren Sinnen der Seele erweckt. Eckhart berichtet nirgendwo von eigenen mystischen Erfahrungen. Wäre er ein erfahrener Mystiker gewesen, hätte er die Grenzen des Schaubaren klarer gesehen. So muss man eher davon ausgehen, dass er seine mystische Theologie aus seiner neuplatonisch geprägten Gotteslehre gewonnen hat. Konsequent hat er aus seinem philosophischen Konzept vom göttlichen Sein als „überseiender Nichtheit“ die Vorstellung abgeleitet vom höchsten mystischen Zustand als Eingehen der Seele in die Bildlosigkeit der Ungeborenheit. Damit aber negiert er den Zuwachs an Menschlichkeit und Liebe, um deren willen wir auf Erden sind, wo wir Frucht am Weinstock sein sollen, eine Frucht, die bleibt, wie
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Praktische Hinweise:
Meister Eckharts Predigerkirche und Konvent in Erfurt, Predigerstraße, Internet: www.predigerkirche.de.
Literatur:
uns das Johannes-Evangelium versichert (Joh 15,16). Nach christlichem Verständnis ist die Schöpfung kein Nichts, sondern von Gott in ihrer Eigenwirklichkeit gewollt, erhalten und geliebt. Die menschliche Person ist mit Selbststand und Freiheit ausgestattet – bis hin zur Freiheit, sich von Gott abzuwenden. Auch durch ihren Tod wird sie keinesfalls zunichte im Dunkel der Ungeborenheit, sondern sie wird mit der Fülle ihres gelebten Lebens aufgehoben und gnadenhaft vollendet (Lakebrink 318 und Koch 299). Zu einer Reise nach Erfurt auf den Spuren Meister Eckharts gehört natürlich ein Besuch des Doms und der Severikirche, die den himmelstürmenden Geist der Gotik lebendig werden lassen. Besser erhalten als das ehemalige Kloster der Dominikaner ist das der Augustiner-Eremiten. Luther ist hier 1505 in den Augustiner-Orden eingetreten. In den Gebäuden, die schon zu Eckharts Zeit, ab 1277, erbaut wurden, ist im Rahmen einer Ausstellung zu Leben und Werk Luthers auch dessen Mönchszelle zu besichtigen.
Albertus Magnus: Ausgewählte Texte. Darmstadt, 1981. Bernhart, J.: Meister Eckhart und Nietzsche. Berlin, 1934. Grundmann, H.: Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Hildesheim, 1961. Kaiser, G.: Predigerkirche zu Erfurt. Regensburg, 2004. Koch, J.: Zur Analogielehre Meister Eckharts. In: Ruh, K. (Hrsg.): Altdeutsche und niederländische Mystik. Darmstadt, 1964. Lakebrink, B.: Hegels dialektische Ontologie und die thomistische Analektik. Düsseldorf, 1968. McGinn, B.: Die Mystik im Abendland. Bd. 3: Blüte – Männer und Frauen der neuen Mystik (1200 – 1350). Freiburg, 1999. Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate. Zürich, 1979. Otto, R.: West-östliche Mystik – Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung. Gütersloh, 1979.
Augustiner-Kloster in Erfurt, Augustinerstr. 10, Internet: www.augustinerkloster.de. Ehemaliges Dominikanerinnen-Kloster Unterlinden in Colmar, eines der FrauenKlöster, die Eckhart in seiner Straßburger Zeit zu betreuen hatte, jetzt Kunstmuseum, das neben anderen bedeutenden Kunstwerken den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald zeigt. Internet: www.musee-unterlinden.com.
Meister Eckharts Kloster in Erfurt
Literatur:
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Rahner, H.: Die Gottesgeburt – Die Lehre der Kirchenväter von der Geburt Christi aus dem Herzen der Kirche und der Gläubigen. In: Ders.: Symbole der Kirche. Salzburg, 1964. Ruh, K.: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. III: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik. München, 1996. Staemmler, J. (Hrsg.): Meister Eckhart und sein Kloster. Freiburg i. B., 2003. Wehr, G.: Meister Eckhart. Reinbek, 1989.
Teresa Seelenburg und dunkle Nacht Johannes Joha Johan M und Johannes vom Kreuz in Kastilien
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röstelnd im Schneegrieseln schieben die Menschen ihre Köpfe zwischen die Schultern. Sie warten auf den Beginn der Prozession, die wie jeden Tag während der Semana Santa, der in Spanien ausgiebig begangenen Karwoche, durch die Gassen von Ávila zieht. Von der Puerta del Rastro, einem der Tore im vieltürmigen Mauerkranz, der die Altstadt mit mittelalterlicher Wehrhaftigkeit umgibt, geht der Blick über die kahlen graubraunen Höhenzüge der Meseta. Ihre Wellen reichen im Süden bis hin zu den schneebedeckten Gipfeln der Sierra de Gredos und schließen im Westen unmittelbar an die steinige, kaum besiedelte Sierra de Ávila an. Eine Stachelkrone aus Windkrafträdern auf den Höhenzügen gewinnt dem rauen Klima der Hochebene Kastiliens etwas Nützliches ab. Aus dem Schneegrieseln wird ein eisiger Nieselregen. Die Menschen stellen sich unter die Arkaden des Marktplatzes oder drängen in die überfüllten Tapas-Bars. „Se permite fumar“ – Rauchen erlaubt. Langsam, mit gemessenem, wiegendem Schritt ziehen sie dann vorbei, die Hermandades, die verschiedenen Bruderschaften mit ihren Pasos, den traditionellen Prunksänften oder -wagen, auf denen mit überlebensgroßen Figuren die Stationen des Kreuzwegs dargestellt sind. So die „Hermandad de Nuestra Señora de la Esperanza“. Die Bruderschaft nennt sich nach einer Mariendarstellung, die sie auf ihrem Paso in einem Meer von Kerzen und überbordendem Blumenschmuck mitführt. „Nuestra Señora“ trägt einen schwarzen, goldbestickten Umhang über weißem Kleid. Wattiges Haar wallt unter einer Krone hervor, und ihre feingliedrigen Finger halten einen Rosenkranz aus bunten, glitzernden Steinen. Zwischen den Pasos gehen die Büßer der Bruderschaften in langen Gewändern mit spitzer Kapuze, die nur die Augen freilässt. Manche sind ganz in Schwarz oder Weiß gekleidet, andere in Weiß mit roter Ka-
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puze. Bläsergruppen spielen schrille, klagende Melodien, und Trommler schlagen erregte Rhythmen, die das dramatische Geschehen der Karwoche von Jesu Einzug in Jerusalem bis zur Kreuzigung und Auferstehung versinnbildlichen sollen. Die Bannerträger der Bruderschaften werden flankiert von „Damas“ in Schwarz mit Spitzenhauben. Fackeln sind wohl aus feuerpolizeilichen Gründen nicht mehr gestattet, so tragen die Kapuzenmänner jetzt batteriebetriebene Leuchtstäbe. Die Figurengruppen sind mit volkstümlicher Fantasie gestaltet. Jesus, der unter dem Kreuz fällt, ist mit dem goldbestickten Überwurf und der Rüschenbluse eines adeligen Hidalgos bekleidet. Auf dem langen schwarzen Haar, das sorgfältig in Wellen gelegt ist, sitzt eine silberne Dornenkrone. Der „Diario de Ávila“ berichtet am nächsten Tag von einem neuen Rekord bei der Ausstattung der Prozession. Mehr noch als wir Heutigen suchte der mittelalterliche Mensch die Veranschaulichung seines Glaubens. Die Heiligen sollten greifbar sein in der materiellen Gegenwart ihrer Reliquien, die Heilsgeschichte schaubar in Symbolen und Bildern. So wird die junge, 1515 in Ávila geborene Teresa de Cepeda y Ahumada oft vor den Gemälden und Reliefdarstellungen in der Kathedrale ihrer Heimatstadt gestanden haben, die ganz dem Bildprogramm der Osterprozessionen entsprechen. Im Rückblick auf ihren geistigen Weg schreibt die als Teresa von Ávila bekannt gewordene Heilige und Kirchenlehrerin: „Ich konnte an Christus nur als Menschen denken. Aber es ist so, dass ich ihn mir nie in meinem Innern vorstellen konnte ... Aus diesem Grund hatte ich Bilder so gern“ (TvA 2004a, 166 f.). Bilder waren ihr immer wieder Wegbegleitung oder gaben den Anstoß zur grundlegenden Neuorientierung. Als Kind fand sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter Trost vor einer Marienstatue, eine erste frühe Christusvision rüttelte sie auf und vor einem Bild des blutüberströmt dargestellten Jesus fasste sie den Entschluss zur Neuausrichtung ihres Lebens. Schließlich brachen visionäre Bilder mit überwältigender Macht in ihr Inneres ein. Die mit nichts zu vergleichenden mystischen Erfahrungen verunsicherten sie zutiefst. Es vergingen Jahre, bevor sie ihren eigenen Weg mit innerer Freiheit gehen konnte und ihre Erfahrungen selbst mit großer Klarheit einzuordnen lernte. Das letzte Buch der gereiften Mystikerin gibt dann eine aus genauer Selbstbeobachtung gewachsene Lehre. Der mystische Weg, wie sie ihn beschreibt, will die verborgenen innersten Kammern der Seele aufschließen, damit der göttliche Gast dort gerne Einzug halten will. Sie vergleicht die Seele mit einer „gänzlich aus einem einzigen Diamanten oder sehr klaren Kristall“ bestehenden Burg, deren Wohnungen konzentrisch „wie eine Zwergpalme, die viele Schalen hat“, um eine innerste Mitte angeordnet sind. Dort, im
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Abb. 17: Menschwerdungskloster in Ávila
tiefsten Inneren dieser Seelenburg ereignet sich die göttliche Berührung (TvA 2005, 78 ff., 94). Die junge Teresa war lebenslustig wie andere Jugendliche ihres Alters auch, las die populären Ritterromane, traf sich mit Freunden, liebte schöne Kleider und ging gerne aus. Sie selbst stilisiert ihre lebensbejahende Fröhlichkeit in ihren Erinnerungen zu einer oberflächlichen Flatterhaftigkeit. Tatsächlich war sie bereits als Kind von einem frühreifen Ernst geprägt und blieb wohl immer auf der Suche nach geistiger Orientierung. Glaubwürdige religiöse Vorbilder fand sie bei den Augustinerinnen, in deren Obhut sie ihr Vater nach dem Tod der Mutter gegeben hatte. Mit der geistlichen Literatur ihrer Zeit machte sie ein Onkel während ihrer ersten schweren Krankheit bekannt. Wie sie selbst schreibt, nahm sie aus diesen gemeinsamen Lesungen Worte mit, die sich ihrem „Herzen einprägten“ (TvA 2004a, 100). So gehört es eher zu der allgemeinen Tendenz ihrer Lebenserinnerungen, ihren geistigen Weg in Sündhaftigkeit beginnen zu lassen, wenn sie „knechtische Furcht“ vor der Hölle als Hauptgrund dafür anführt, dass sie dann Ende 1535, im Alter von zwanzig Jahren, in das Menschwerdungskloster in Ávila eintrat. Aber in dem großen Konvent von über 150 Nonnen fand sie nicht die erhoffte geistliche Begleitung. Das Kloster ge-
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hörte zwar zum Karmeliterorden, hatte aber seinen Ursprung in einer Gemeinschaft religiöser Frauen mit wenig geregelter Lebensform, den sogenannten Beatinnen. Nonnen aus wohlhabender Familie hatten geräumige Wohnungen mit mehreren Zimmern und eigener Küche, so auch Teresa selbst. Es herrschte lebhaftes Treiben mit Besuchern an der Pforte und zahlreichen Kontakten zur Stadt. Gegen Ende des dritten Jahres nach ihrem Klostereintritt brachte sie eine schwere Infektion an den Rand des Todes. Ihr Vater wollte die Hoffnung nicht aufgeben und konnte verhindern, dass man die Scheintote beerdigte. Als Teresa nach vier Tagen aus dem Koma erwachte, hatte sie das Wachs auf den Lidern, mit dem man den Toten die Augen versiegelte. Die Krankheit wurde für sie Krise und geistige Neuorientierung zugleich. In den Monaten, die sie während der Behandlung bei ihrer Familie verbrachte, kam sie zu der inneren Ruhe, die sie im Kloster nicht hatte finden können. Ihr Onkel gab ihr ein Meditationsbuch der bereits hoch entwickelten spanischen Mystik, „Das dritte geistliche ABC“ von Francisco de Osuna (ca. 1492 – ca. 1541). Die spirituelle Autodidaktin fand darin den Weg des inneren Betens, den sie in ihr eigenes ursprüngliches Erleben übersetzte „als Verweilen bei einem Freund, mit dem wir oft allein zusammenkommen, einfach um bei ihm zu sein, weil wir sicher wissen, dass er uns liebt“ (TvA 2004a, 156 f.). Das innere Beten sollte von nun an ihr Leben bestimmen. Erste mystische Erfahrungen stellten sich noch vor ihrer Rückkehr ins Kloster ein. Aber die in der Stille der Rekonvaleszenz gewonnene Sammlung verlor sich wieder in der Unruhe des großen Konventes. Sie hielt zwar weiter am inneren Beten fest und kehrte nach einer Krise, in der sie nur die vorgegebenen Gebete sprach, wieder zu diesem einfachen, aufmerksamen Bleiben in der Gegenwart Gottes zurück, nie aber hatte sie das Gefühl, zu innerer Freiheit und Ruhe gefunden zu haben. Es wurden mehr als anderthalb Jahrzehnte, die sie so verbrachte. Ihre Lebenserinnerungen fassen diese Zeit auf wenigen Seiten zusammen. Und doch war es wohl keine fruchtlose Zeit, denn durch Krisen, Rückschläge und qualvolle Perioden der Trostlosigkeit hindurch reifte Teresa zur erfahrenen Mystikerin. Sie selbst markiert die Wende in ihrem Leben durch zwei Erfahrungen im Jahre 1554, ihrem vierzigsten Lebensjahr: Ein Bild des vom Leiden gezeichneten Jesus, das man während der Fastenzeit in ihren Andachtsraum gebracht hatte, erschütterte sie zutiefst. Bald darauf kamen die gerade in spanischer Übersetzung erschienenen „Bekenntnisse“ des hl. Augustinus in ihre Hände. Beglückt erkannte sie darin ihre eigenen Erfahrungen wieder, und die Stimme, die Augustinus im Garten seines Hauses in Mailand zur Umkehr gerufen hatte, fand ihr Echo in Teresas
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Seele. Was sich über Jahre entwickelt hatte, aber nie vollkommen zur Entfaltung gekommen war, löste sich nun wie ein Dammbruch zu einer großen seelischen Befreiung und Intensivierung ihres mystischen Erlebens. Oft erfasste sie nun „ganz unverhofft ein Gefühl der Gegenwart Gottes“ mit der großen Gewissheit, dass er in ihrem „Innern weilte“ und sie „ganz in ihm versenkt war“ (TvA 2004a, 171). Zu den rein geistigen Erfahrungen der Gegenwart Gottes kamen bildhafte, mit „den Augen der Seele“ gesehene Visionen, innere Ansprachen und körperliche Auswirkungen, deren Intensität sie beängstigten. Sie sah Jesus in einem Glanz, der über alles irdisch Vorstellbare hinausgeht. Eine Art Wonneschmerz durchzuckte ihren Leib und ihre Seele. Falsche Ratschläge ihrer überforderten Beichtväter und geistlichen Berater verunsicherten sie noch mehr. Sie wusste natürlich von den Prozessen gegen Scharlatane und gegen die Bewegung der schwärmerischen „Alumbrados“ (Erleuchteten), die von der Inquisition mit den grausamen Methoden der Zeit verfolgt wurden. Sie selbst bewahrte immer eine nüchterne Haltung gegenüber den zu ihrer Zeit um sich greifenden wahnhaften Einbildungen, die mit Mystik nichts zu tun hatten und oft einfach Krankheitssymptome waren, die sich dem religiös aufgeladenen gesellschaftlichen Klima entsprechend ausprägten. Als sie schon eine bekannte Ordensgründerin war, befragte man sie zum Fall einer Frau, die behauptete, „dass schon seit vielen Tagen die Jungfrau Maria zu ihr komme, sich auf ihr Bett setze und mehr als eine Stunde lang mit ihr spreche“; sie erkannte das schnell als Unsinn (TvA 1998, 71). Um die Echtheit ihrer eigenen mystischen Erfahrungen zu prüfen, legte sie strenge Maßstäbe an. An den Auswirkungen zeigt sich nach Teresa, ob es sich um eine göttliche Berührung oder nur um Täuschung handelt. Vor allem muss sich danach ein Fortschritt an seelischer Reifung zeigen und eine zunehmende innere Freiheit von äußeren beengenden Abhängigkeiten, ein gelassener souveräner Abstand gegenüber allem, was sich in den Mittelpunkt des Lebens drängen will, in Wirklichkeit aber nichtig und flüchtig ist. Eine angemessene „mündigere vertrauensvolle Gottesfurcht“ ersetzt die unbegründeten lähmenden Ängste. Der Egoismus tritt zurück, der nach religiösen Wohlgefühlen strebt, mit denen man letztlich nur sich selbst meint, aber nicht Gott. Es stellt sich eine uneigennützige Gottesliebe ein, die nicht auf Wohlgefühle achtet und dafür umso mehr geschenkt erhält (TvA 2004a, 304 ff., 242). Zuletzt ist nicht die opulente Vision entscheidend und das erlebte Wonnegefühl, sondern vielmehr die Einung mit dem Willen Gottes, aus dem heraus wir in der Liebe wachsen. Ist dagegen das, was man erfahren hat, nichts als Täuschung, so bleiben nur Leere, Überdruss und Unruhe zurück, „und noch ein weiteres Merkmal, deutlicher als alle: Es ruft keine Wirkung hervor“
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Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz
(TvA 2004a, 360). Aber so viel Klarheit hatte sie am Anfang ihres mystischen Weges noch nicht. Trotz großer Gewissheit, dass es Gott selbst war, der sich ihr zeigte, blieb sie in Ängsten befangen. Auch die Anleitungen zu einer rein geistigen, bildlosen Gebetsweise, die sie bei Osuna und in anderen verbreiteten Meditationsbüchern gelesen hatte, verwirrten sie, denn sie ließen sich nicht mit ihrem eigenen Erleben zur Deckung bringen. Nachdem sie kurze Zeit versucht hatte, diesen Weg zu gehen, kehrte sie bald wieder zu ihrem christlichen Weg zurück, der Christus in den Mittelpunkt stellt als das in die Welt gesprochene göttliche Wort, in dem sich der Vater uns zeigt (Joh 14,9). Sie hielt daran fest, sich Jesus auch in der tiefsten Gebetsversenkung als Mensch gegenwärtig zu halten. Solche VorstelAbb. 18: Teresa von Ávila (1515 – 1582) lungen zurückzudrängen, um sie durch die Leere des Bewusstseins zu ersetzen, war für sie ein Weg, der in die Irre führt und zudem angesichts des Leidensweges Jesu unerträglich ist. So war es auch immer wieder die Eucharistie als bleibendes Zeichen der Gegenwart des Mensch gewordenen Gottes, die zum Ort ihrer mystischen Erfahrungen wurde. Sie sah sehr realistisch, dass unsere leibgebundene Natur nicht auf unmittelbare Weise Gott erfassen kann und auf die Vermittlung sinnlicher Zeichen angewiesen ist: „Wir sind keine Engel, sondern haben einen Leib. Uns zu Engeln aufschwingen zu wollen, während wir noch hier auf Erden leben – und dazu noch so sehr der Erde verhaftet, wie ich es war –, ist Unsinn, vielmehr braucht das Denken im Normalfall etwas, was ihm Halt gibt“ (TvA 2004a, 327 f.). Hebt Gott selbst auf der höchsten Stufe der mystischen Vereinigung alle Bilder auf, so ist dies seine Initiative, weil er sich uns noch viel unmittelbarer geben will. Schließlich fand sie Patres des 1540 gegründeten Jesuitenordens, die sie gut verstanden, denn die geistlichen Übungen, die Ignatius von Loyola,
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der Ordensgründer, entwickelt hatte, haben die ganz sinnenhaft meditierten Lebensstationen Jesu zum Gegenstand. Entscheidend für Teresa war dann aber eine Begegnung mit Pedro de Alcántara, einem der Führer der Reformbewegung innerhalb des Franziskanerordens, der das, was sie ihm berichtete, aus eigener mystischer Erfahrung einordnen konnte. Sie traf ihn im August 1560 in Ávila und ist später noch öfter mit ihm zusammengetroffen. Durch seinen Ratschlag beruhigt und ermutigt suchte sie bald nach Möglichkeiten, sich völlig auf das innere Beten konzentrieren zu können, ohne die Ablenkungen des großen anonymen Klosters. In einem Kreis von Schwestern, die sich um sie geschart hatten, kam der Gedanke auf, ein eigenes Kloster zu gründen, das sich in Abgeschlossenheit und Einfachheit einer vertieften Spiritualität widmen sollte. 1562 war das scheinbar Unmögliche erreicht: Teresa verließ mit einer kleinen Gruppe Schwestern das Menschwerdungskloster und gründete in Ávila das Kloster San José. Es wurde der Anfang eines neuen reformierten Zweiges ihres Ordens, der sogenannten „Unbeschuhten Karmeliter“. Schon vor Teresas Gründung gab es reformierte Orden in Spanien, die nach ihrer betont einfachen Lebensweise „unbeschuht“ genannt wurden, da sie barfuß oder in einfachen Sandalen gingen. Teresa aber hatte mehr im Auge als die einfache Rückkehr zu einer größeren Strenge und Askese. Das eigentliche Ziel ihrer Reform war vor allem die Hinwendung zu einer innerlichen Gebetshaltung. Im Auftrag des Ordens kehrte Teresa Jahre später noch einmal in das Menschwerdungskloster zurück, nun aber, um es nach ihren Vorstellungen zu reformieren. Nur etwa 10 Minuten hatte Teresa vom Kloster der Menschwerdung zu gehen, um durch die Puerta del Mariscal in die Stadt zu gelangen, wenn sie dort Besuche absolvierte. Heute ist das Kloster eingeschlossen von den uniformen Reihenhaussiedlungen der sich über den mittelalterlichen Mauerkranz hinaus ausdehnenden Stadt. Der Eingangsbereich an der alten Pforte und ein Teil des Klosters sind als Museum zugänglich. Manches dort zeigt das Bild einer einseitigen Askese. Ein Holzklotz als Kopfkissen etwa ist nicht kennzeichnend für das, was Teresa wollte. Immerhin erhält man einen Eindruck von dem recht gehobenen Lebensstandard der Nonnen in diesem Kloster, bevor Teresa es reformiert hat. In der großzügigen, mit roten glasierten Bodenfliesen ausgelegten Vorhalle sind lederbespannte Sessel, Gemälde und Holztruhen aus den Mitgiften zu sehen. Auch eines der von den wohlhabenden Nonnen bewohnten „Appartements“ mit Kamin und Kochstelle ist zu besichtigen. Will man einen lebendigen Bezug zu Teresas Spiritualität gewinnen, sollte man als Beter an einer Messe im Kloster teilnehmen, das bis heute von Karmelitinnen bewohnt ist. Im hin-
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teren Bereich der Kirche sind zwei große eiserne Gitter in die Wand eingelassen, die den Nonnenchor vom Laienschiff trennen. Der Raum hinter den Gittern ist dunkel, sodass man nur schemenhaft die weißen Chormäntel der dort versammelten Nonnen erkennen kann. Während der Messe hört man ihre hellen Stimmen im liturgischen Wechselgesang antworten. Nach der Kommunionfeier geht der Priester zuerst zu der Klappe zwischen den beiden Eisengittern. „Corpus Christi“, flüstert er, wenn er den Nonnen die Hostie hindurchreicht, ganz genau so wie vor fast fünf Jahrhunderten, als Teresa hier die Kommunion empfangen hat. Von Teresas Geburtshaus in Ávila ist kaum etwas erhalten. Die wenigen Reste hat man einbezogen in die ihr zu Ehren errichtete Kirche des Convento de Santa Teresa. Eine Seitenkapelle der Kirche wird als ihr ehemaliges Zimmer bezeichnet. Der barocke Wandschmuck dort schimmert dunkel golden. Eine Statue der Heiligen im Stil der Prozessionsfiguren mit kostbar besticktem Überwurf ist in einer Nische aufgestellt. Die Darstellung über dem Hauptaltar der Kirche greift eine Vision Teresas auf, deren Prunk für ihr Gebetsleben eher untypisch ist: Maria und Josef legen ihr eine Goldkette mit einem wertvollen Kreuz um den Hals. Näher bringt sie uns der kleine, von der Kirche aus einsehbare Innenhof, der zu ihrem Elternhaus gehört hat. Teresa und ihr Bruder haben in dem beschützten Geviert unter hohen berankten Mauern gespielt. Die Kinderfiguren aus Gips, die dort aufgestellt sind, muss man sich wegdenken. Hier ist das Urbild der „inneren Burg“, ihr zentrales Bild für den Wesenskern des Menschen, in dem die mystische Gottesbegegnung stattfindet – ein Bild, das sich ihr in ihrer kastilischen Heimat auch später überall aufgedrängt hat: Die nach außen abweisenden Adelspaläste mit käfigartigen Eisengittern vor den wenigen Fenstern sind ganz nach innen gerichtet, zu ihrem Zentrum, dem hellen, freundlichen und mit Topfpflanzen geschmückten Innenhof. In größerem Maßstab wiederholt sich dies in der Stadt, die sich mit einem machtvollen Mauerring nach außen verschließt und nach innen zur großen, von Arkaden umgebenen Plaza im Zentrum orientiert. Vom Vorplatz der Kirche aus gelangt man in eine Reliquienausstellung. Am Eingang gibt es die üblichen Andenken zu kaufen: bemalte Porzellan-Teresas in verschieden Größen, Schlüsselanhänger, Medaillons. In der Ausstellung ist dann aber doch einiges zu sehen, was uns mehr von Teresas Leben verstehen lässt, etwa die Sohle einer der einfachen, aus Hanf gefertigten Sandalen Unbeschuhter Karmelitinnen. Das Museum unter der Kirche zeigt weitere interessante Exponate, vor allem Autographen von Teresas Hand in ihrer exakten, makellosen Handschrift und Meditationsanleitungen ihrer Zeit, etwa den „Tratado de la oración, meditación y devoción“ des für sie so wichtigen Pedro de Alcántara.
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Bevor Teresa ihr eigenes Kloster San José gründen konnte, hatte sie große Widerstände zu überwinden. Im Menschwerdungskloster lief man Sturm gegen ihre Pläne und der Provinzial des Ordens zog seine schon gegebene Erlaubnis zurück. Doch Teresa gab nicht auf. Mit Unterstützung ihres Bruders Lorenzo, der in Südamerika zu Wohlstand gekommen war, kaufte sie ein kleines Haus und ließ es als Kloster umbauen und einrichten. Mitten in den Vorbereitungen für die Gründung wurde sie von ihrem Provinzial nach Toledo zu der hochadeligen Luisa de la Cerda geschickt, die Teresa zu ihrer geistlichen Erbauung angefordert hatte. Das mondäne Leben, das Teresa in ihrem Haus kennenlernte, beeindruckte sie nicht, denn sie hatte längst das Unbefriedigende alles Habens und aller Statussymbole erkannt: „Das ist eine Knechtschaft, eine der Lügen der Welt, solche Menschen Herrschaften zu nennen, die nach meinem Dafürhalten nichts sind als Sklaven von tausenderlei Dingen“ (TvA 2004a, 504). Sie nutzte die Zeit, um eine erste Fassung ihrer Lebenserinnerungen zu schreiben. Erst im Sommer 1561 konnte sie nach Ávila zurückkehren und ihre Gründung vorantreiben. Im großen Menschwerdungskloster sah sie keine Möglichkeit mehr, ihre Vorstellungen zu verwirklichen. Sie stellte sich eine abgeschlossen in Klausur lebende Gemeinschaft von nicht mehr als dreizehn Schwestern vor. Pedro de Alcántara und der einflussreiche Velázquez Dávila aus dem Adel Ávilas erreichten beim Bischof von Ávila, dass er die Gründung möglich machte, indem er das neue Kloster unter seine Zuständigkeit nahm und damit dem Einfluss des Ordens entzog. Die feierliche Einweihung am 24. August 1562 mit der Aufnahme von vier Novizinnen geriet zum öffentlichen Skandal. Die Priorin des Menschwerdungsklosters beorderte Teresa zurück. Der Provinzial wurde eingeschaltet, Stadtrat und Domkapitel erhoben Einspruch gegen die Gründung. Die Verhandlungen zogen sich hin, und alles schien verloren, bis die Fürsprache ihrer einflussreichen Freunde und Förderer das Blatt wenden konnte, sodass man Teresa im Dezember des Jahres gestattete, mit vier Schwestern ihres alten Klosters nach San José überzusiedeln. Damit konnte der kleine Konvent sein intensives geistliches Leben in der selbstgewählten strengen Abgeschlossenheit beginnen. Teresa nahm den Ordensnamen „Teresa de Jesús“ an als Zeichen, dass Abstammung und familiärer Hintergrund keine Rolle mehr spielten vor dem neuen geistigen Adel, den man selbst erwerben muss. Orientierung für das Zusammenleben in diesem neuen Unbeschuhten Karmelitinnenkloster sollte die Regel sein, die 1247 Papst Innozenz IV. dem Orden gegeben hatte, nicht die gemilderte Regel aus dem Jahre 1432. Die von Teresa verfassten Bestimmungen für den Klosteralltag nehmen zwar die Strenge der älteren Regel auf, betonen aber ebenso die
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Gleichheit und Familiarität. Nichts ist Selbstzweck, alles ist auf geistiges Wachstum ausgerichtet. Streng wird jede Ichbezogenheit behandelt: „Sie sollen die Haare kurz schneiden, um keine Zeit mit Kämmen zu verlieren. Nie soll ein Spiegel vorhanden sein oder sonst etwas Besonderes, dafür gänzliche Selbstvergessenheit.“ Dazu gehört auch, dass niemand bevorzugt werden darf: „Die Putzordnung beginne mit der Mutter Priorin.“ Vor allem aber soll alles – und das ist das Besondere an Teresas Reform im Vergleich zu anderen Strömungen, die das Heil nur in größerer Askese sahen – auf die Vertiefung des inneren Betens konzentriert sein: „Alle Schwestern sollen einmal im Monat der Priorin Rechenschaft darüber ablegen, wie sie beim inneren Beten vorangekommen sind und wie sie unser Herr führt“ (TvA 2004b, 411, 416, 427). Um ihren Schwestern hierfür Anleitung zu geben, wurde sie selbst zur geistlichen Schriftstellerin. In San José schrieb sie die zweite Fassung ihrer Lebenserinnerungen und das Buch „Weg der Vollkommenheit“. Es sind Erfahrungsberichte, Gebetsanleitungen und Beschreibungen der verschiedenen mystischen Erscheinungsformen mit Verhaltensregeln, die ihren Schwestern Irrungen, Ängste und Selbstzweifel ersparen sollten, unter denen sie selbst lange Zeit gelitten hatte. Im Rückblick auf die in San José nach der Gründung verbrachten Jahre schreibt sie: „Wie ich jetzt denke, werden dies wahrscheinlich die ruhigsten meines Lebens gewesen sein, aufgrund jenes Friedens und der Gelassenheit, die meine Seele oft vermisst“ (TvA 1998, 13). Teresas erste Gründung in der östlichen Vorstadt von Ávila, das Monasterio de San José, besteht bis heute fort. Die hohen Außenmauern grenzen an die Calle Duque de Alba. In den Auslagen eines Geschäftes dort warten italienische Markenschuhe und teure Parfümeriewaren auf Käufer. Die Schriftzüge auf einem aufgeschlagenen steinernen Buch, das in die Außenmauer des Klosters direkt gegenüber eingelassen ist, scheinen nicht geschäftsschädigend zu wirken. „Todo se pasa, Sólo dios basta“ – „Alles vergeht, Gott nur genügt“, heißt es dort. Es sind Zeilen aus einem Gedicht, das man nach Teresas Tod auf einem Zettel gefunden hat, der in ihr Gebetbuch eingelegt war. Ursprünglich hat man es Teresa selbst zugeschrieben, heute nimmt man an, dass sie es von Johannes vom Kreuz erhalten hat, ihrem Mitstreiter bei der Gründung des ersten Männerklosters der Unbeschuhten Karmeliten (Körner 77 f.). Eine Seitenstraße führt zu dem stillen Platz vor dem Kloster. Die Kapelle aus den Anfängen der Gründung ist erhalten. In den sechs Seitenkapellen der später erbauten Kirche sind Förderer ihrer Reform und Familienangehörige beigesetzt. Rechts im Chor ist das Grab des Bischofs Álvaro de Mendoza, der die Gründung von San José durch seine Schirmherrschaft erst möglich gemacht hat. Gegenüber ist der Non-
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nenchor hinter einem mit Eisendornen bewehrten Gitter. Die erste Kapelle im linken Seitenschiff diente zu Teresas Zeit der Schwesterngemeinschaft als Kapitelsaal. Hier prägte sie die kleine Schar der ersten Stunde in ihrem Geist. Auf Bitten der Schwestern hat sie diese zunächst mündlich gehaltenen Unterweisungen dann aufgeschrieben. Darin ermutigt sie vor allem immer wieder, den Weg des inneren Betens zu gehen, in Schlichtheit, ohne übertriebene Bußübungen oder komplizierte Meditationstechniken, einfach als aufmerksame Anwesenheit vor dem Herrn: „Ich bitte euch ja gar nicht, dass ihr an ihn denkt oder euch viele Gedanken macht oder in eurem Verstand lange und subtile Betrachtungen anstellt; ich will nicht mehr, als dass ihr ihn anschaut“ (TvA 2003, 225). Mit der Ruhe war es bereits fünf Jahre nach der Gründung von San José vorbei, als 1567 der Ordensgeneral nach Ávila kam. Er erkannte die Erneuerungskraft der Reform Teresas und bevollmächtigte sie, weitere Klöster zu gründen. Rastlos war sie von da an unterwegs, unter schwierigsten Bedingungen und gegen Widerstände ankämpfend. Schon im ersten Jahr gründete sie ein Kloster in Medina del Campo, im Folgejahr in Malagón und Valladolid. Die während einer dieser Reisen zurückgelegten 55 Kilometer von Ávila nach Arévalo etwa erschienen ihr ein zu geringes Tagespensum. Eine Strapaze muss schon dies gewesen sein, wenn man bedenkt, dass sie mit einfachen, von Eseln oder Ochsen gezogenen Karren unterwegs war. Sie und die sie begleitenden Schwestern saßen verschleiert auf dem geschlossenen Wagen, denn die strenge Abgeschlossenheit sollte möglichst auch unterwegs gewahrt bleiben. In den Unterkünften zogen sich die Schwestern sofort zurück. Der Messe folgte man zur Not „durch einige Ritzen in einer Tür“. Die Verhältnisse, mit denen sich die Reisegruppe zufriedengeben musste, waren äußerst einfach. Oft gab es zum Schlafen nur Strohsäcke und „nicht einmal ein Stück Brennholz, um eine Sardine zu braten“. Manchmal brannte die Sonne unerbittlich, dann wieder „hörte es den ganzen Tag nicht auf zu schneien“. Teresa, die immer wieder unter Krankheiten litt, musste oft fiebrig und mit Schmerzen auf dem rumpelnden Gefährt aushalten (TvA 1998, 26, 116, 133). In einem neu gegründeten Kloster blieb sie, bis alles nach ihren Vorstellungen geordnet war. Immer nahm sie einige Schwestern mit, die den Kern der Gründung bildeten und ihren Geist weitertrugen. Es war ein Geist der Milde, der die Grenzen der Belastbarkeit sehr genau im Auge hatte und nicht das Heil in bloßer Askese suchte. „Darauf müssen wir gut aufpassen: dass wir nicht etwas anordnen, was uns selbst hart vorkommen würde“, weist sie ihre Priorinnen an (TvA 1998, 135). Aus ihren Briefen erfahren wir, dass sie keineswegs die kleinen Freuden des Lebens verachtete. Sie aß gerne „gezuckerte Orangenblüten“, freute sich über
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Truthennen, die sie geschenkt bekam, und über eine Sendung Thunfisch aus Malagón: „Er war roh und in gutem Zustand. Er hat uns gut geschmeckt“ (nach Münzebrock 127 und Herbstrith 157, 165). Gleich zu Beginn ihrer Gründungstätigkeit bemühte sich Teresa um die Ausdehnung der Reform auf den männlichen Zweig des Ordens und erhielt die Genehmigung, zwei Männerklöster zu gründen. Noch während der Gründung in Medina ging sie diese für eine Ordensfrau ungewöhnliche Aufgabe entschlossen an. Im Kloster der Karmeliten zu Medina gewann sie den dortigen Prior, Pater Antonio de Heredia, für ihre Reform, wenig später auch den jungen Karmeliten Pater Juan de Santo Matía, der sich zu einem Heimaturlaub in Medina aufhielt. Beide Männer hatten einen Hang zum eremitischen Leben und spielten daher mit dem Gedanken, in den Kartäuserorden überzutreten. Teresa überzeugte sie, dass es besser wäre, ihre Ideale innerhalb des eigenen Ordens zu verwirklichen. Pater Juan hatte gerade erst seine Priesterweihe erhalten und war noch dabei, seine Studien abzuschließen. Er kam aus armen Verhältnissen und war nach dem frühen Tod des Vaters mit seiner Mutter nach Medina del Campo gekommen. Der Leiter des dortigen Hospitals, in dem Juan als Pfleger arbeitete, entdeckte seine Begabung und förderte ihn. Bald nach seinem Eintritt bei den Karmeliten in Medina hatte man ihn zum Studium an die Universität von Salamanca geschickt, wo er bei dem bedeutenden Theologen Luis de León studierte. Die Gründung des ersten Klosters der Unbeschuhten Karmeliten konnte ins Werk gesetzt werden, als Pater Antonio sein Priorat aufgegeben hatte und der junge Pater Juan mit seinen Studien fertig war. Ein Edelmann aus Ávila hatte Teresa ein Haus für die Gründung übereignet. Es lag im abgelegenen Dorf Duruelo, am Rande der steinigen Sierra de Ávila. Das baufällige Haus wurde notdürftig instand gesetzt, sodass die Einweihung Ende November 1568 stattfinden konnte. Antonio nahm den Ordensnamen Antonio de Jesús an, Juan nannte sich nun Juan de la Cruz (Johannes vom Kreuz). Auf dem Weg zur Gründung in Toledo im Februar 1569 kam Teresa nach Duruelo, um zu sehen, wie es mit dem kleinen, in wahrhaft raue Erde gesetzten Pflänzchen vorangehe. Im Haus fand sie alles mit Kreuzen und Totenschädeln behängt, ein Memento mori, das sich auch auf vielen Heiligendarstellungen der Zeit findet. Teresa berichtet über den Besuch in ihrem Buch über die Klostergründungen: „Niemals werde ich ein kleines Kreuz aus Holz vergessen, das für das Weihwasser bestimmt war und ein Papierbild mit einem Christus aufgeklebt hatte – es schien einen mehr in Andacht zu versetzen, als wenn es sehr fein geschnitzt gewesen wäre. Als Chor diente der Dachboden, der in der Mitte höher war, sodass man das Stundengebet beten konnte. Man musste sich
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jedoch sehr bücken, um eintreten und die Messe hören zu können. In den beiden Ecken zur Kirche hin waren zwei kleine Klausen, wo man sich nur liegend oder sitzend aufhalten konnte, voller Heu (weil der Ort sehr kalt war und das Dach einem fast auf den Kopf fiel). Sie hatten zwei kleine Fenster zum Altar hin und zwei Steine als Kopfkissen – und auch hier gab es Kreuze und Totenköpfe.“ Teresa wird ihren Eifer geschätzt haben, nicht aber ihre übertriebene Askese und Selbstkasteiung, sodass sie die beiden Klausner vor der Weiterfahrt eindringlich bat, „in Sachen der Abtötung nicht so streng vorzugehen“ (TvA 1998, 105 f., 108). Das baufällige Haus, in dem die ersten Unbeschuhten Karmeliten ihr Ordensleben begonnen haben, ist längst verschwunden. Trotzdem kann man sich in der immer noch abgelegenen ländlichen Einöde von Duruelo die Umstände dieser Gründung gut vorstellen. Von Ávila aus geht der Weg zunächst durch eine kahle steinige Wüstenei, die Ausläufer der Sierra. Im Regendunst wirkt die trostlose Gegend wie eine vor Urzeiten verlassene Trümmerlandschaft. Weithin ist alles mit großen grauen Felssteinen übersät. Auf dem überweideten Boden wachsen nur Moose, Flechten und stacheliges Gestrüpp, hier und da sieht man einen Ginsterbusch und die kugeligen dunklen Kronen der Steineichen. Wie Walfischrücken durchbrechen felsige Buckel den braungrauen Pelz, darauf liegen knollige Felssteine, vielfach vom rauen Wetter gespalten, zu Barrieren oder Pyramiden übereinandergetürmt. Einzelne Steine balancieren in prekärem Gleichgewicht auf kleineren. Andere liegen weit verstreut, wie durcheinandergeworfene Spielsteine auf dem Brettspiel eines kindlichen Riesen. Kleinere Steine sind beiseitegeräumt und zu Trockenmauern aufgeschichtet, hinter denen Rinder und Schafe weiden. Die Schäfer Kastiliens mussten auf dem Höhepunkt der Wollindustrie im Spätmittelalter mit ihren Herden jedes Jahr hunderte von Kilometern zurücklegen, um die Tiere durchzubringen. Man kommt durch wenige Ortschaften. Schilder am Straßenrand bieten Honig zum Verkauf an. Nach einer Dreiviertelstunde hören die Steine auf und die Landschaft öffnet sich zu ausgedehnten welligen Weideflächen. Immer wieder stehen in den Ortschaften Häuser leer. Die Dächer sind eingestürzt, die Fenster verbrettert. „Se vende“ – Zu verkaufen. Von den niedrigen Häusern, die ohne erkennbaren Plan erbaut sind, blättern Farbe und Putz großflächig ab. An Betonpfeilern sind Elektrokabel über die Straße gespannt, die zu den Häusern verzweigen, dann auf den Hauswänden als schwarze Schlangen weiterlaufen, bis sie in einem Mauerloch verschwinden. Auf den aus Felssteinen roh gefügten Glockenreitern der kleinen Dorfkirchen nisten Störche. Ab Blascomillán beginnt ein schmaler, schlecht befestigter Wirtschaftsweg. Wir zweifeln, dass wir richtig sind. Ein Brun-
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nendenkmal am Wegrand mit einer Inschrift zum Gedächtnis des Johannes vom Kreuz zeigt dann aber an, dass wir im legendären Duruelo, dem Ort der ersten Gründung des männlichen Zweiges der Unbeschuhten Karmeliter angelangt sind. Teresa selbst hat hier nur schwer hingefunden. In ihrem Buch über die Klostergründungen erinnert sie sich: „Da der Ort wenig bekannt ist, gab es auch kaum Wegweiser. An jenem Tag war die Reise sehr mühsam, weil die Sonne sehr stark schien. Als wir uns dem Ziel schon nahe glaubten, mussten wir noch einmal so weit fahren. An die Müdigkeit und die Orientierungslosigkeit, die wir auf jenem Weg erlebten, werde ich mich immer erinnern. So kamen wir erst kurz vor Einbruch der Nacht an. Beim Betreten des Hauses fanden wir es in einem solchen Zustand vor, dass wir es nicht wagten, dort zu übernachten“ (TvA 1998, 99). Immer noch führen nur unbefestigte schlammige Pisten durch das Dorf. Am Wegrand liegen verrostete Fässer. Ein Bauer transportiert mit dem Frontlader Silage in die Viehställe. Die wenigen, gut ausgestatteten Villen der Viehzüchter sehen durchaus nach Wohlstand aus. In einer Senke fließt der Río Almar, gerade so breit, dass man ihn mit einem langen Schritt überqueren kann. Ein Ort für Einsiedler, aber nicht für Seelsorger, wie Teresa bald erkannte: „Um zu predigen, gingen sie eineinhalb, zwei Meilen, und zwar ohne Schuhe (damals hatten sie ja noch keine Hanfschuhe, wie man sie ihnen später anzuziehen befahl), bei viel Schnee und Kälte. Nachdem sie gepredigt und Beichte gehört hatten, kehrten sie erst sehr spät zum Essen nach Hause zurück“ (TvA 1998, 106). So wurde das Kloster bereits zwei Jahre später an einen geeigneteren Ort verlegt. Erst seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es wieder einen Karmel in Duruelo, den eine besonders strenge, von der spanischen Karmelitin María Maravillas gegründete Richtung des Ordens zusammen mit einem spirituellen Zentrum hier errichtet hat. Der Konvent, der die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht mitvollzogen hat, lebt ganz abgeschirmt in strenger Klausur. Unentwegt war Teresa weiter auf Gründungsreisen. Nach Duruelo folgten die Klöster in Toledo, Pastrana, Salamanca und Alba de Tormes. Zu den aufreibenden Gründungsaktivitäten kamen Belastungen durch ein Inquisitionsverfahren, das aufgrund einer Anzeige der Prinzessin Éboli gegen Teresa eingeleitet wurde. Die Prinzessin war nach dem Tod ihres Mannes mitsamt ihrem Hofstaat in das von ihr gestiftete Kloster in Pastrana eingetreten. Die exzentrische Dame setzte im Kloster ihr gewohntes Leben fort und spannte zusätzlich die Schwestern zu ihrer Bedienung ein. Teresa musste die Gründung schließlich aufgeben und ihre Schwestern abziehen. Die gekränkte Prinzessin übergab das Manuskript mit den Lebenserinne-
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rungen Teresas der Inquisition. Die Untersuchung endete allerdings mit der völligen Rehabilitation Teresas. Von 1571 bis 1574 konnte sie nicht weiter gründen, denn sie wurde als Priorin in das Menschwerdungskloster berufen, um es zu reformieren. Zu ihrer Unterstützung bei dieser schwierigen Aufgabe holte sie Johannes vom Kreuz als Beichtvater an das Kloster. Er bezog dort ein Gartenhaus und wirkte in seiner leisen zurückhaltenden Art im Sinne von Teresa auf die Schwestern ein. Seine Ratschläge und Hinweise gab er den Nonnen auf Zetteln mit, gewissermaßen als geistliche Rezeptverschreibungen. Die uns überlieferten Merksätze sind von großer Dichte und lassen bereits den mystischen Schriftsteller erkennen, zu dem er später werden sollte; so heißt es dort etwa: „Ein Wort hat der Vater gesprochen, und das war sein Sohn, und er spricht dieses immerfort in ewigem Schweigen; und im Schweigen soll es vom Menschen gehört werden.“ Ein weiterer Merksatz lautet: „Am Abend wirst du in der Liebe geprüft. Lerne zu lieben, wie Gott geliebt sein möchte, und lass deine Eigenheit“, denn mit Teresa war er darin einig, dass die Selbstbezogenheit eines der großen Hindernisse für inneres Wachstum ist. Wie für Teresa war auch für ihn das Streben nach frommen Gefühlen um ihrer selbst willen nichts anderes als Egoismus. Das hatte er im Sinn, als er einer zu sehr mit sich selbst beschäftigten Nonne aufschrieb: „Die Fliege, die am Honig klebt, behindert ihren Flug; und ein Mensch, der sich am geistlichen Verkosten festhalten will, behindert sein Freiwerden und seine Kontemplation“ (JvK 2003b, 125, 118, 110 f.). So nachhaltig er im direkten menschlichen Umgang wirkte, so wenig konnte und wollte der Selbstvergessene sich Einfluss und Positionen sichern. Bald kamen andere, die sich auf diplomatisch-kirchlichem Parkett besser zurechtfanden als der aus einfachen Verhältnissen stammende Johannes vom Kreuz. Glanzvoller Aufsteiger wurde Jerónimo Gracián, der 1572 zum Orden gestoßen war. Er hatte die Voraussetzungen, die Johannes fehlten. Er stammte aus einer angesehenen Familie, hatte geschliffene Umgangsformen und kannte sich bei Hof aus, denn sein Vater war einer der Sekretäre des Königs. Auch Teresa war bald mehr dem blutvollen Gracián zugeneigt als dem für sie weniger greifbaren, ganz vergeistigten Johannes. Ja, sogar zarte weibliche Gefühle für den jungen Mann regten sich bei der sechzigjährigen Nonne. Schon bald nach Abschluss seines Noviziates wurde Gracián zum Visitator beider Ordenszweige ernannt. Seinem politischen Geschick und seinen Beziehungen bei Hof ist es zu verdanken, dass die Reform Teresas überleben konnte, denn starke Kräfte im Stammorden wollten die Reform einfrieren und möglichst sogar zurückdrängen. Erschwerend kam dazu, dass auch der neue Nuntius in Madrid gegen die Reform Teresas arbeitete. Für ihn war Teresa ein „unruhiges Frauenzimmer, herum-
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streunend, ungehorsam und verstockt“ (nach Herbstrith 125). Die Auseinandersetzungen im Orden spitzten sich zu, und das Gewicht schien sich zugunsten des nichtreformierten Zweiges zu verschieben. Teresa musste ihre Gründungstätigkeit 1575 einstellen und sich in ein Kloster ihrer Wahl zurückziehen. Inzwischen hatte sie bereits wieder in Segovia, Beas, Sevilla und Caravaca neue Klöster errichtet. 1577 wurden die Maßnahmen gegen die Reform massiver. Ihre organisatorischen Leiter, wie Gracián, und ihre geistigen Symbolfiguren, wie Johannes vom Kreuz, wurden in Klöstern des Stammordens festgesetzt. Besonders hart war die Haft, die Johannes in einem Klostergefängnis bei den Karmeliten in Toledo erdulden musste. Neun Monate saß er in einem dunklen Gelass, das vorher als Abort benutzt worden war. Was man ihm zu essen gab, reichte kaum zum Überleben, und nur kurze Zeit pro Tag durfte er sein Gefängnis verlassen und sich im angrenzenden Raum bewegen. Einer der Mönche, die mit seiner Beaufsichtigung beauftragt waren, versuchte sein Möglichstes, um die Haftbedingungen zu mildern. Er gab Johannes auch Papier und Schreibzeug, sodass er die in den langen dunklen Stunden entstandenen Gedichte aufzeichnen konnte. Sie sind ein Versuch, die während seiner Haftzeit erfahrenen mystischen Gnaden in Worte zu fassen. Sein „Geistlicher Gesang“ entstand, ein Liebesgedicht an den göttlichen Bräutigam in der Tradition der HoheliedDichtung. Es setzt ein mit der Klage der Braut über die Abwesenheit des Geliebten, die gleichzeitig ein Schrei der Verlassenheit des Gefangenen ist (JvK 2003a, 28): „Wo hast du dich verborgen, Geliebter, und ließest mich mit Seufzen? Wie ein Hirsch entflohst du, hattest mich verwundet; ich ging hinaus und schrie nach dir, doch du warst fort.“ Und es gipfelt in Bildern, die uns die Zärtlichkeit der göttlichen Berührung vermitteln wollen (JvK 2003a, 33): „Das Hauchen des Windes, den Gesang der süßen Nachtigall, den Wald und seine Anmut in der hellen Nacht mit der Flamme, die verzehrt und doch nicht weh tut.“ Die Blätter mit seinen Gedichten trug er am Körper, als er endlich fliehen konnte. Es war ihm gelungen, heimlich die Schrauben am Schloss seiner Zellentür zu lösen, sodass er sich nachts selbst befreien und von einem Fenster des angrenzenden Raumes an zusammengeknotetem Bettzeug herunterhangeln konnte. Im Kloster der Unbeschuhten Karmeli-
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tinnen in Toledo fand der völlig Entkräftete erste Aufnahme. Irgendwo durch die winkelige Altstadt von Toledo muss er nach seiner Flucht den Weg gefunden haben – ohne Straßenbeleuchtung, durch kaum vom Mondlicht erhellte Gassen, unter den dunklen Fassaden der mehrstöckigen, fast fensterlosen Palacios, mehr tastend, fallend, kriechend als zielgerichtet gehend, aber beglückt durch die endlich wiedergewonnene Freiheit, wie es in seinem nach der Flucht entstandenen Gedicht „Dunkle Nacht“ Ausdruck gefunden hat, dessen erste Strophe lautet (JvK 1999, 45): „In einer dunklen Nacht, mit Sehnsuchtswehen, in Liebe entflammt, – o glückliches Geschick! – ging ich hinaus, ohne bemerkt zu sein: mein Haus war schon zur Ruh’ gekommen.“ Im Hospital Santa Cruz hat man den abgezehrten Johannes vom Kreuz anderthalb Monate unter falschem Namen versteckt und gepflegt. Teresa war 1576 nach Toledo gegangen, um sich gemäß Anordnung in das dortige Kloster zurückzuziehen. Als man Johannes im Dezember 1577 dorthin verschleppte, war sie bereits wieder in Ávila. In dieser Zeit erzwungener Untätigkeit entstand ihr Hauptwerk „Die Wohnungen der inneren Burg“, mit dem sie die spirituelle Frucht ihres Lebens einbrachte, während sie zusehen musste, wie ihr Gründungswerk unterzugehen drohte. Was sie in ihren früheren Werken unter dem Druck der Umstände hastig und ungeordnet aufgezeichnet hat, ist hier systematisch ausgearbeitet und am Bild der ineinandergeschachtelten Wohnungen der Seelenburg erläutert. Teresa verwendet zwar Fachbegriffe, die sie aus den Werken der spanischen Mystik kannte, stützt sich aber letztlich auf ihre Selbstbeobachtung und unterscheidet unvergleichlich genau die verschiedenen Stufen und Erscheinungsformen der mystischen Erfahrung. Sechs Wohnungen der Seelenburg sind zu durchschreiten, bis man in die siebte, in die „innerste Mitte“ gelangt, „in der die höchst geheimnisvollen Dinge zwischen Gott und der Seele vor sich gehen“ (TvA 2005, 80). Dies ist kein geradliniger Weg, denn es gibt Umwege und Rückschläge, ja man kann sogar hinter das Erreichte zurückfallen. Und es ist kein Weg, den man sich mit frommen Praktiken oder ausgefeilten Meditationstechniken selbst bahnen kann. Nur am Anfang kommt man durch eigene Anstrengung voran, indem man zuerst die Hindernisse beiseiteräumt, die vor allem in egoistischem Selbstbezug oder einengendem Haften an Äußerlichkeiten bestehen. So wird man frei dafür, sich still und aufmerksam Gott zuzuwenden, denn „das Eingangstor zu dieser Burg“ ist das innere Beten – rein betrachtend oder auch verbunden mit dem gesprochenen Gebet. Zuletzt aber kann man nur
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noch anklopfen und warten, dass einem aufgetan wird (TvA 2005, 84). Gerade dann, wenn man nichts erzwingen will und wenn man am wenigsten daran denkt, ereignen sich die „übernatürlichen Dinge“, die mit der vierten Wohnung beginnen, also die mystischen Erfahrungen im engeren Sinne. Mit dem inneren Wachstum, das sie schenken, fällt die beklemmende Hülle der Ängste, der Ichbezogenheit und der Abhängigkeiten von Besitz und Prestige ab wie der Kokon von der verpuppten hässlichen Seidenraupe, wenn der schöne Schmetterling ausschlüpft, wie Teresas bekannter Vergleich dafür lautet (TvA 2005, 184 ff.). Das den Menschen zur Gänze umwandelnde Heilmittel ist das „himmlische Wasser“, das nun aus „der Tiefe in uns“ hervorzuquellen beginnt als die eigentliche Sinnerfüllung, die aus der Einung mit Gottes Willen erwächst (TvA 2005, 154). Es sind vielfältige mystische Gnaden, die damit verbunden sind: geistige Erfahrungen der Nähe Gottes, Visionen, Verzückungen und Entrückungen, manchmal wie ein „Geistesflug“, dann wie ein „Durchzucken“ des ganzen Menschen, „wie wenn ein feuriger Pfeil daherkäme“ oder als ob „Wärme“ und „Duftrauch“ Seele und Leib durchdringen würden (TvA 2005, 261, 321, 154). Mit dem Fortschreiten auf dem mystischen Weg kann sich das alles zu Ekstasen steigern, bis schließlich, im Innersten der Seelenburg angelangt, die heftigen äußeren Begleiterscheinungen der mystischen Erfahrungen abklingen und der gelassenen Sicherheit weichen, dauerhaft so eng mit Gott verbunden zu sein, als ginge er an unserer Seite. Diese innigste Gotteinung, wie sie Teresa beschreibt, hat nichts mit dem Verlöschen des Ich oder der Leere des Geistes zu tun, wie sie manche nichtchristliche Meditationstechniken anstreben, sondern sie ist die intensivste Beziehung der menschlichen Person zum personalen Gott, den Teresa in geistiger Berührung als den dreifaltigen Gott erfahren hat (TvA 2005, 333 f.). Aus dieser Begegnung wächst dem Menschen Kraft zu für das tätige Hinausgehen aus der Seelenburg, denn es ist nicht der Sinn des mystischen Weges, in wohligem Selbstgenuss bei sich zu bleiben. Als negatives Gegenbild hält Teresa ihren Schwestern diejenigen vor, die in Eigenliebe vor allem darauf achten, dass „ihnen beim Verkosten der Wonne und Andacht nur ja nichts entgeht“. Daran sehe man, „wie wenig sie von dem Weg verstehen, auf dem man zur Gotteinung gelangt, wo sie glauben, das ganze Geschäft würde darin bestehen“, und sie ergänzt vehement: „Aber nein, Schwestern, nein! Werke will der Herr!“ (TvA 2005, 202). Teresa erlebte 1580 noch die durch König Philipp II. unterstützte Wende zugunsten ihrer Reform. Sie selbst hatte dem König geschrieben, und die Beziehungen Graciáns werden maßgeblich dazu beigetragen haben, dass ein päpstlicher Erlass schließlich die Gründung einer eigenen Pro-
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vinz der Unbeschuhten Klöster ermöglichte. Gracián wurde 1581 auf dem ersten Kapitel der Provinz zu ihrem Provinzial gewählt. Und noch einmal brach Teresa auf zu neuen Gründungen, nach Villanueva, Palencia und Soria. Als sie sich nach Burgos aufmachte, war sie bereits schwer an Krebs erkrankt. Unterwegs litt sie unter heftigen Schmerzen und Fieberschüben. Dazu kamen schwierige Reisebedingungen. Es war bitterkalt, und die Wege waren durch lange Regenfälle verschlammt. Eine zu überquerende Behelfsbrücke stand unter Wasser. Nach der Ankunft in Burgos verschlimmerte sich ihr Zustand noch, sodass sie die erforderlichen Verhandlungen nur vom Krankenbett aus führen konnte. Trotzdem hielt sie eisern an ihrer Klausur fest: „Im Liegen redete ich mit meinen Besuchern, durch ein vergittertes Fenster, vor das wir einen Schleier hängten“ (TvA 1998, 278). Auch vor Ort gestaltete sich diese Gründung schwierig, aber zuletzt gelang ihr auch diese sechzehnte, Duruelo nicht mitgezählt. Noch einmal musste sie weiter zu einer letzten und dann zu ihrer allerletzten Reise. Die Herzogin von Alba hatte sie zu sich rufen lassen. Zu Tode erschöpft kam sie in Alba de Tormes an. Im dortigen, von ihr selbst 1571 gegründeten Kloster starb sie in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1582. Alba de Tormes liegt auf dem Weg von Ávila nach Salamanca. Wenn man sich der Stadt nähert, sieht man bereits von weitem den wuchtigen zylindrischen Turm des ansonsten bis auf die Grundmauern abgetragenen Schlosses der Herzöge von Alba auf einer Anhöhe über der Altstadt. Man fährt an Silos, Düngemittelhandlungen und anderen Zulieferbetrieben für die Dörfer der Umgebung vorbei. Von den Balkonen der Mietskasernen in der Vorstadt flattert die Wäsche im Wind. Die Altstadt beginnt an der Brücke über den Río Tormes, der hier zu ansehnlicher Breite gestaut ist und seinen Weg um mehrere Inseln sucht. Eine dreischiffige Basilika zur Verehrung der hl. Teresa, deren Bau Ende des 19. Jahrhunderts begonnen wurde, ist aus Geldmangel nie fertiggestellt worden. Wo die Fenster nicht mit Fliegengitter geschützt sind, hat man sie eingeworfen. Auf den nutzlos ragenden Säulenstümpfen haben Störche ihre Nester gebaut. Im offenen Kirchenschiff flattern Tauben. Auf einem Absatz der als Zugang zur Basilika geplanten Freitreppe steht verloren eine große Statue der Teresa, die auf Altglascontainer und einen verwahrlosten Parkplatz schaut. An einer Plaza hinter der Basilika liegt das Kloster der Karmelitinnen. In der Kirche steht in einer Nische hoch über dem Altar ein Prunksarkophag aus schwarzem Marmor mit Teresas sterblichen Überresten, soweit man sie nicht als Reliquien entnommen hat. Von der Kirche aus kommt man in ein kleines Museum mit Reliquien, Erinnerungsstücken, Bildern und Dokumenten. Vor allem Teresas Herz, das in einem gläsernen Reliqui-
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ar gezeigt wird, berührt zutiefst. Es ist zur Größe eines Tannenzapfens geschrumpft und faserig-dunkelbraun wie vermodertes Holz. Deutlich ist eine Vernarbung zu erkennen, die mit einer Vision Teresas in Verbindung gebracht wurde, in der ihr ein Engel einen langen goldenen Pfeil ins Herz stieß. Inzwischen hat man verschiedene medizinische Erklärungen für diese Auffälligkeit vorgeschlagen. Wie auch immer es sich verhält, hier sollte man ihre Visionsschilderung aus ihrem „Buch meines Lebens“ zur Hand nehmen (426 f.). In ihren „Geistlichen Erfahrungsberichten“ hat sie diese Vision auf ihren mystischen Kern hin ausgelegt. Dort heißt es: „Eine andere ganz gewöhnliche Weise des Betens ist eine Art Wunde, bei der es der Seele vorkommt, als stieße man ihr einen Pfeil ins Herz oder in sie hinein. Das verursacht einen großen Schmerz, der sie zum Seufzen bringt, der aber zugleich so köstlich ist, dass sie ihn nie vermissen wollte. Dieser Schmerz ist nicht im Sinnenbereich, noch ist er eine körperliche Wunde, sondern im Innern der Seele, und so tritt er als körperlicher Schmerz nicht in Erscheinung“ (TvA 2004b, 293). Vom Museum aus kann man Teresas Sterbezimmer einsehen, das als Kapelle eingerichtet ist. Ein Bett ist dort aufgebaut, unter dessen sorgfältig festgesteckter Decke eine als Nonne bekleidete Puppe wie schlafend liegt, ein Kreuz in der Hand. Der Todeskampf, den Teresa hier zu bestehen hatte, wird anders ausgesehen haben. Johannes vom Kreuz war bei Teresas Tod schon an den Rand gedrängt. Man hatte ihn in das ferne Andalusien geschickt, wo er als Prior in den dortigen Gründungen wirkte. Als Mann der ersten Stunde genoss er immer noch großes Ansehen im Orden, das er aber selbst nicht einsetzte, um sich Einfluss zu verschaffen. Trotzdem hielt man ihn sicherheitshalber fern vom Zentrum der Ordensaktivitäten. Seiner über Teresa an Gracián herangetragenen Bitte, ihm wieder eine Verwendung in seiner kastilischen Heimat zu geben, wurde kein Gehör geschenkt. Johannes eignete sich wohl auch nicht für die weitreichenden politisch-organisatorischen Aufgaben, die nun anstanden: Die Ausdehnung der Reform über die spanischen Grenzen hinaus musste durchgesetzt werden, und neue administrative Strukturen für die Lenkung der wachsenden Ordensgemeinschaft waren zu schaffen. Er war praktisch begabt und umsichtig im überschaubaren Umfeld eines Konventes, für „Networking“ und „Fundraising“ aber, wie man heute sagen würde, hatte er keinen Sinn. Man rügte ihn, weil er als Prior zu wenig Kontakt mit den Einflussreichen der Stadt hielt und damit zu wenig Spenden für das Kloster einwarb. Er sah es wohl als Zeitverschwendung an, denn sein Blick ging ganz nach innen. In den Jahren, die Johannes vom Kreuz in Andalusien verbrachte, entstanden seine großen mystischen Werke. Er selbst hatte wenig schrift-
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stellerischen Ehrgeiz, aber Abschriften seiner Gedichte und Merkzettel gingen im Orden bereits von Hand zu Hand, und die Schwestern, denen er seine Gedichte auslegte, baten ihn um etwas Schriftliches dazu. Schließlich ließ ihn die Einsicht zur Feder greifen, dass seine Erfahrungen und seine spirituellen Lehren für „viele Menschen“ nützlich sein könnten, die auf dem Weg zur Einung mit Gott durch die Läuterung des ganzen Menschen hindurchgehen müssen. Die „dunkle Nacht“ ist sein zentrales Bild für diese tiefgreifende Umwandlung des Menschen, die ihn bereit macht für das „Einströmen Gottes“ (JvK 1995, 190, 103). Es ist ein Bild, das von der neuplatonischen Theologie des Dionysius Areopagita angeregt ist. In ihr ist Gott dunkel, weil der Mensch ihn „eher über das kennenlernen muss, was er nicht ist, als über das, was er ist“, wie Johannes vom Kreuz anmerkt (JvK 1999, 328). Während der monatelangen Haft in Toledo hatte die Erfahrung der Dunkelheit für ihn existentielle Wirklichkeit gewonnen, sodass er das nach seiner Flucht aus der Klosterhaft entstandene Gedicht „Dunkle Nacht“ zur Grundlage nahm für seine beiden ursprünglich als Einheit konzipierten Werke „Aufstieg auf den Berg Karmel“ und „Die dunkle Nacht“. Der aktive Beitrag des Menschen zu seiner Läuterung wird im „Aufstieg“ behandelt. Das dem Menschen entgegenkommende, umwandelnde Wirken Gottes, das notwendig ist, damit der „alte Mensch“ ganz abstirbt, ist Gegenstand der „Dunklen Nacht“ (JvK 1995, 158). Besonders im „Aufstieg“ ist Johannes stark von der neuplatonisch inspirierten Theologie seiner Zeit beeinflusst, nach der die Schöpfung ein Abstieg der göttlichen Ideen in die Unvollkommenheit des Stofflichen ist und der Leib nur Kerker der Seele. Auch Teresa war nicht ganz frei von zeitgenössischer Weltverneinung, lebte aber doch letztlich mehr aus eigenem Erleben, an dem sie das prüfte, was sie in den Büchern fand (TvA 2004a, 322). Während Teresas Verhältnis zu Gott das eines vertrauensvollen Umganges mit einem Freund war, begegnete Johannes ihm mit ehrfurchtsvollem Erschauern. Vor allem im „Aufstieg“ betont er den unendlichen Abstand, der die Geschöpfe von Gott trennt: „Derartig ist es, dass wir in dieser Hinsicht sagen können, dass alle Geschöpfe nichts sind und die Neigungen zu ihnen noch weniger als nichts, denn sie verhindern und entziehen die Gleichgestaltung mit Gott.“ Für die aktive Läuterung fordert er dementsprechend die Ablösung von allem Geschöpflichen, wobei er Formulierungen verwendet, die an östliche Lehren erinnern, etwa, wenn er von „äußerster Nacktheit und Leere des Geistes“ oder von „formloser Leere“ spricht, in die man eintreten muss (JvK 1999, 67, 151, 335). In der „Dunklen Nacht“ wird dann deutlicher, dass es ihm letztlich darum geht, unreife Haltungen und Ich-Bezogenheit zu überwinden, damit der Mensch „in allem die umfassende Freiheit des Geistes“
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gewinnt, die ihn vorbereitet für die Berührung Gottes (JvK 1995, 123). Johannes verwendet dafür den theologischen Fachbegriff „eingegossene Kontemplation“ und gibt eine der schönsten und dichtesten Definitionen dafür: „Kontemplation ist ja nichts anderes als ein geheimes, friedliches und liebendes Einströmen Gottes, sodass er, wenn man ihm Raum gibt, den Menschen im Geist der Liebe entflammt“ (JvK 1995, 71). Sind der „Aufstieg“ und die „Dunkle Nacht“ noch mit neuplatonischer Theologie befrachtet und eingespannt in eine starre Systematik, singt er in den beiden danach entstandenen Werken, „Der geistliche Gesang“ und „Die lebendige Liebesflamme“, aus tiefer Beseligung von den erfahrenen mystischen Gnaden. Auch diese Werke sind Gedichtinterpretationen. Das Gedicht zum „Geistlichen Gesang“ entstand während der Klosterhaft in Toledo, die Liedstrophen zur „Lebendigen Liebesflamme“ schrieb er für Ana del Mercado y Peñalosa, eine kontemplativ lebende Adelige, die er als Beichtvater begleitete. Johannes traut selbst seinen Bildern nicht angesichts des Unsagbaren, von dem er eine Ahnung geben möchte. Es ist nichts weniger als das „Fest des Heiligen Geistes“ im Wesenskern des Menschen, das er anzudeuten versucht (JvK 2000, 56): Es ist wie „ein sehr zartkosendes Berühren und Fühlen von Liebe“, „ein Hauch, den Gott zur Seele hin atmet“ und wie von „Ausströmungen göttlichen Balsams“ (JvK 2003a, 234, 128; 2000, 191). Ähnlich wie Teresa erfährt er die göttliche Nähe als sehnsuchtsvolle „zärtliche Verwundung“, und wie bei ihr „fließt zuweilen die Salbung des Heiligen Geistes in den Leib über und dann genießt das ganze sinnenhafte Wesen, alle Glieder und Knochen bis ins Knochenmark“ (JvK 2000, 54, 98). Auch die Geschöpfe werden nun in ihrem Eigenwert gesehen als von Gott gut geschaffen und gewollt. In ihnen kann Gott erkannt werden, „denn die Geschöpfe sind wie eine Spur des Hindurchschreitens Gottes, durch die sich seine Größe, Macht und Weisheit und andere göttliche Vorzüge abheben“ (JvK 2003a, 60). Die Vergottungsfantasien schwärmerischer Sekten, von denen Meister Eckhart sich hatte anstecken lassen, weist er klar zurück, weil der Mensch auch in der tiefsten mystischen Einung „seinem Wesen nach nicht zu Gott werden kann“. Und es wird deutlich, dass die mystische Erfahrung des Johannes vom Kreuz nichts gemein hat mit dem Versinken des Ich in einem allgemeinen Sein oder Urgrund, wie es manche nichtchristlichen spirituellen Wege lehren. Ganz in Übereinstimmung mit Teresa ist es auch für ihn der dreieinige personale Gott, der sich dem Menschen zeigt, es sind „die drei Personen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit – Vater, Sohn und Heiliger Geist“ (JvK 2000, 110, 83). Während Johannes vom Kreuz in Andalusien mit ruhiger Beständigkeit seine Aufgaben wahrnahm, ging der Kampf um die Führung des
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Abb. 19: Karmel in Segovia (Mitte links), vom Alcázar aus gesehen
Reformordens weiter. Neue Kräfte formierten sich um Nicolás Doria, einen ehemaligen Geschäftsmann aus einer italienischen Bankiersfamilie, der als Spätberufener erst mit Ende dreißig Theologie studiert hatte und dann 1577 zum Orden gestoßen war. Schnell stieg er in hohe Ämter auf und bereits beim Provinzkapitel 1583 hatte er genug Hausmacht, um gegen Gracián aufzutreten. Er warf Gracián vor, dass er sein Amt als Provinzial nicht energisch genug führe. Noch wurde ein Antrag auf Amtsenthebung Graciáns abgelehnt, aber bereits 1585 löste er Gracián als Provinzial ab und nahm entschlossen die Leitung in die Hand. 1587 wurde durch päpstlichen Beschluss die Gründung einer Kongregation der Unbeschuhten zugelassen. Damit war die vollständige Ablösung vom Stammorden vollzogen. Doria wurde der erste Generalvikar des Ordens. In ein neu eingerichtetes Leitungsgremium, die Consulta, wurden zwar auch Gracián und Johannes vom Kreuz gewählt, aber damit erhielten sie lediglich eine Schonfrist. Die Brüder und Schwestern der ersten Stunde, die sich in der Intimität des kleinen Kreises entfalten konnten, kamen jetzt unter die Räder einer anonymen Großorganisation, in der sie nur noch Namen waren, deren Glanz verblasste. Der Orden wurde nun straff geführt und erfolgreich ausgedehnt, aber der Geist der Milde und Innerlichkeit litt darunter. Es fehlte eine geistig prägende Gründergestalt im Männerorden, die gleichzeitig organisatorisch begabt war wie Teresa. Drei Jahre später war der Kampf endgültig entschieden. Gracián
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wurde aus dem Orden ausgeschlossen, und Johannes vom Kreuz verlor alle Ämter. Man bot ihm an, mit einer Gruppe Karmeliten in die Mission nach Mexiko zu gehen. Bei den Vorbereitungen dafür starb er in Úbeda. Die letzten Lebensjahre hatte er, bevor man ihn völlig kaltstellte, noch in seiner kastilischen Heimat verbringen dürfen. Als Prior in Segovia sollte er das dortige Kloster zur Ordenszentrale ausbauen. Nach seinem Tod setzten die Stifter des Klosters, Luis de Mercado und die ihm eng verbundene Ana del Mercado y Peñalosa, die Umbettung seiner sterblichen Überreste nach Segovia durch. Johannes vom Kreuz hat bei den handwerklichen Arbeiten zur Erweiterung des Klosters in Segovia auch selbst mit Hand angelegt. Das lag ihm mehr als politisches Taktieren in den Sitzungen der Leitungsgremien. Die schmucklosen Gebäude aus gelbem Sandstein sind gegen einen felsigen Hang gebaut. Jenseits des Flüsschens Eresma liegt die Altstadt auf einem Höhenzug, überragt vom machtvollen Alcázar. Zypressen säumen die Freitreppe zur Klosterkirche mit dem Grab des Johannes vom Kreuz. Vielleicht noch mehr als der Heilige wird in Spanien der Lyriker Johannes vom Kreuz verehrt, als der wohl größte spanischer Zunge und als „Patrono de los Poetas“. Auch hier, im Kloster von Segovia, sind es wieder die auf den ersten Blick unscheinbaren Dinge, die uns unmittelbar mit dem Leben des Mystikers Fühlung nehmen lassen. In den Ausstellungsvitrinen im Eingangsbereich der Kirche ist es eine Federzeichnung des Gekreuzigten, die Johannes während seiner Zeit als Beichtvater im Menschwerdungskloster angefertigt hat, vielleicht in zurückgezogener Kontemplation in seinem abgeschiedenen Gartenhaus. Es stellt den Gekreuzigten in ungewohnter Perspektive dar, als befinde man sich über dem in einer leeren Weite nach oben schwebenden Kreuz. Das in ein Reliquiar eingefasste, kaum mehr als briefmarkengroße Original wird im Menschwerdungskloster in Ávila gezeigt. Auch im großen Garten des Klosters, der sich den felsigen Hang hinter dem Kloster hinaufzieht, kommt man dem Mystiker nahe. Hier finden sich abgelegene Winkel, in die sich Johannes zu Gebet und Kontemplation zurückzog. Nie hat er wohl ganz das eremitische Ideal seiner Jugend aus den Augen verloren, und der felsige Garten von Segovia wird ihn an den Karmelberg im Heiligen Land erinnert haben, auf dem die Urväter des Ordens ihre Einsiedlerhöhlen hatten. Einer seiner Mitbrüder hat darüber berichtet: „Oft sah ich ihn aus seiner Zelle zu dem Felsen hinaufgehen, der zum Konventgarten gehört. Er zog sich in eine kleine Höhle zurück, die gerade so groß war, dass sie einem gebückten Menschen Platz bot. Von hier aus kann man den weiten Himmel, die Flüsse und Felder sehen“ (nach Dobhan/Körner 172).
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Im Werk der beiden großen spanischen Mystiker erkennen wir die befreiende, lösende Weite, die mit der erfahrenen Nähe Gottes geschenkt wird – die Liebe, die nicht sich selbst meint, sondern ganz von sich absieht und gerade dadurch zur tiefen Beglückung wird, weil sie echte und ursprüngliche Sinnerfüllung ist. Ihr mystischer Weg ist vor allem Einstimmung in den Willen Gottes, ohne Sucht nach Visionen, frommen Gefühlen oder wunderbaren Vorgängen. Zielbild ist die gelassene, gesammelte Ruhe in andauernder Liebeseinigung mit Gott, die den Menschen zum Guten hin verwandelt und ihm Kraft verleiht für Werke tätiger Mitmenschlichkeit. Ihre mystische Erfahrung ist Begegnung mit dem personalen Gott im Antlitz seiner Dreieinigkeit als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Abb. 20: Der Gekreuzigte, Zeichnung von Johannes vom Kreuz Besucht man Kastilien auf den Spuren von Teresa und Johannes vom Kreuz, kann man der Seele des Landes in diesem alten spanischen Kernland sehr nahekommen. Vieles erinnert an die lange Herrschaft der Mauren, die bis zum Fall von Granada im Jahre 1492 große Gebiete der Iberischen Halbinsel kontrolliert haben. Maurische Stilelemente finden sich etwa im kunstvollen Bandmuster der Holzdecke des Kreuzganges im Franziskanerkloster San Juan de los Reyes in Toledo. Der bedeutende Kulturbeitrag der spanischen Juden wird sichtbar in den ehemaligen Synagogen La Blanca und El Tránsito in Toledo. Vor allem aber war das Katholische identitätsstiftend und hat Städte und Traditionen geprägt, immer in enger Verbindung mit dem Königtum. Die herbe unwirtliche Landschaft und das lange zähe Ringen um die Wiedereroberung des Landes von den Mauren erklärt die unerbittliche Härte der Menschen gegen sich selbst, die sich in Bußprozessionen und streng asketischen Ordensbewegungen ausdrückt, und zugleich die Unduldsamkeit gegen Abweichungen, die sich mit der spanischen Inquisition ihr ausführendes Organ geschaffen hat. Sinnbild für
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beides ist das abweisende, grau-granitene Geviert des Escorial, das Philipp II. auf einem Plateau der Sierra de Guadarrama als seine letzte Behausung erbauen ließ. Es war Schaltzentrale unumschränkten Herrschertums, dynastisches Grabmal und ein gewaltiger Klosterkomplex zugleich. Die nach außen gepanzerte Härte und die Weite der Landschaft mit ihren fernen, leeren Horizonten mag den Blick nach innen reflektiert haben, wo in den Tiefen des Seelengrundes die großen spanischen Mystiker Gott begegnet sind.
Praktische Hinweise:
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Kirche am Ort des Geburtshauses Teresas in Ávila und Museum: Convento de Santa Teresa, Plaza de la Santa 2. Teresas Taufkirche San Juan in Ávila bei der Plaza del Mercado Chico. Erster Klosteraufenthalt der jugendlichen Teresa bei den Augustinerinnen in Ávila: Monasterio de Nuestra Señora de Gracia, Cuesta de Gracia. Kloster der Menschwerdung in Ávila und Museum: Monasterio de la Encarnación, Paseo de la Encarnación. Teresas Klostergründung in Ávila und Museum: Monasterio de San José, Las Madres 4. Kloster der Karmelitinnen, Museum, Sterbezimmer und Grabkirche der Teresa von Ávila in Alba de Tormes, Plaza Santa Teresa 5. Geburtsort und Taufkirche des Johannes vom Kreuz in Fontiveros, zwischen Ávila und Salamanca, nördlich der N-501. Mittelalterliche Gebäude der Universität Salamanca mit dem Hörsaal des Theologen und Mystikers Luis de León am Patio de las Escuelas. Ort der ersten Klostergründung Unbeschuhter Karmeliten in Duruelo bei Blascomillán, zwischen Ávila und Salamanca, südlich der N-501. Stätten in Toledo, die mit dem Leben des Johannes vom Kreuz verbunden sind: der Paseo del Carmen oberhalb der Alcántara-Brücke, wo das Kloster stand, in dem er gefangengehalten wurde, der Konvent der Karmelitinnen an der Plaza de Santa Teresa sowie das ehemalige Hospital und jetzige Museum Santa Cruz. Karmelitinnenkloster mit dem Grab des Johannes vom Kreuz in Segovia: Convento de Carmelitas Descalzos, Centro San Juan de la Cruz, Paseo de Segundo Rincón.
Literatur:
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Behn, I.: Spanische Mystik. Darstellung und Deutung. Düsseldorf, 1957. Dobhan, U.; R. Körner: Johannes vom Kreuz. Freiburg, 1992. Herbstrith, W.: Teresa von Ávila. Lebensweg und Botschaft. München, 1996. Johannes vom Kreuz: Aufstieg auf den Berg Karmel. Freiburg, 1999. Johannes vom Kreuz: Dunkle Nacht. Freiburg, 1995. Johannes vom Kreuz: Die lebendige Liebesflamme. Freiburg, 2000. Johannes vom Kreuz: Der geistliche Gesang. Freiburg, 2003a. Johannes vom Kreuz: Worte von Licht und Liebe. Briefe und kleinere Schriften. Freiburg, 2003b. Körner, R.: Dunkle Nacht – Mystische Glaubenserfahrung nach Johannes vom Kreuz. Münsterschwarzach, 2006. Lorenz, E.: Wege in die Weite. Die drei Leben der Teresa von Ávila. Freiburg, 2003. Münzebrock, E.: Teresa von Ávila. Freiburg, 2004. Teresa von Ávila: Das Buch meines Lebens. Freiburg, 2004a. Teresa von Ávila: Die Klostergründungen. Wien, 1998. Teresa von Ávila: Wohnungen der inneren Burg. Freiburg, 2005. Teresa von Ávila: Wege der Vollkommenheit. Freiburg, 2003. Teresa von Ávila: Gedanken zum Hohenlied, Gedichte und kleinere Schriften. Freiburg, 2004b.
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Bildnachweis Abb. 1, Seite 20: Der Hafen von Patmos mit dem Kloster der Apokalypse (Rechte beim Autor). Abb. 2, Seite 22: Johannes und Prochoros, 1. Hälfte des 14. Jahrhunderts, Cod. Theol. gr. 300, fol. 134 v (ÖNB/Wien, Bildarchiv). Abb. 3, Seite 40: Gartenszene in Mailand, „Nimm und lies“, Augustinus im Garten seines Hauses in Mailand, die Paulusbriefe lesend, Fresko von Benozzo Gozzoli (1465), San Gimignano, Chiesa di Sant’ Agostino (Città Nuove Editrice/Nuova Biblioteca Agostiana). Abb. 4, Seite 43: Fontana di Sant’ Agostino im Archäologischen Park von Cassago Brianza (Rechte beim Autor). Abb. 5, Seite 63: Bernhardsminne, Klosterkirche Bebenhausen, um 1490 (Landeskundliches Bildarchiv/EBV, Stuttgart). Abb. 6, Seite 65: Ehemalige Klosterkirche Fontenay, Blick zum Ostchor (Rechte beim Autor). Abb. 7, Seite 66: Ehemalige Abtei Fontenay, Konventbau und Chor der Kirche (Rechte beim Autor). Abb. 8, Seite 69: La Cordelle in Vézelay (Rechte beim Autor). Abb. 9, Seite 81: Klosterruine auf dem Disibodenberg, der sogenannte Laientrakt (Rechte beim Autor). Abb. 10, Seite 84: „Kosmosmensch“, Miniatur aus dem „Liber Divinorum Operum“ der Hildegard von Bingen, um 1240 (Biblioteca Statale, Lucca; © Photo Scala). Abb. 11, Seite 93: Höhle des Franziskus in der Einsiedelei von Carceri (Rechte beim Autor). Abb. 12, Seite 102: Das Franziskanerkloster Greccio im Rietital (Rechte beim Autor). Abb. 13, Seite 105: Sasso spicco am La Verna (Rechte beim Autor). Abb. 14, Seite 113: Bonaventuras Heimatstadt Civita di Bagnoreggio (Rechte beim Autor). Abb. 15, Seite 119: Chor der Predigerkirche in Erfurt und östlicher Konventbau (Rechte beim Autor). Abb. 16, Seite 125: Refektorium im ehemaligen Predigerkloster zu Erfurt (Rechte beim Autor). Abb. 17, Seite 135: Menschwerdungskloster in Ávila (Rechte beim Autor). Abb. 18, Seite 138: Teresa von Ávila (1515 – 1582), unbekannter Meister des 17. Jahrhunderts (Provinzialat des teresianischen Karmel, München). Abb. 19, Seite 155: Karmel in Segovia, vom Alcázar aus gesehen (Rechte beim Autor). Abb. 20, Seite 157: Der Gekreuzigte, Federzeichnung des Johannes vom Kreuz, Menschwerdungskloster in Ávila (Provinzialat des teresianischen Karmel, München).