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German Pages 332 Year 2014
Jürgen Mittelstraß Die griechische Denkform
Jürgen Mittelstraß
Die griechische Denkform
Von der Entstehung der Philosophie aus dem Geiste der Geometrie
ISBN 978-3-11-033618-4 e-ISBN 978-3-11-033970-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Kuno Lorenz, dem Freund und philosophischen Wegbegleiter, gewidmet
VII
Vorwort Keine Epoche der Philosophie übt eine derartige Faszination auf den philosophischen Verstand aus wie die Epoche der griechischen Philosophie. Mit ihr beginnt nicht nur die Philosophie im europäischen Sinne, sondern, aufs engste mit ihr verbunden, auch die Wissenschaft und werden die thematischen und methodischen Grundlagen für Philosophie und Wissenschaft gelegt. Kein Wunder, daß sich nicht nur Philosophen an ihr versuchen – bis hin zu Heidegger, der in der vorsokratischen Philosophie die Philosophie in ihrem Wesen zu erkennen glaubt –, sondern auch Wissenschaftler bis hin zu Heisenberg und Schrödinger, die wiederum im vorsokratischen Denken die Anfänge der Physik im modernen Sinne nachzuweisen suchen. Das hat etwas mit der Faszination von Anfängen allgemein zu tun, aber auch damit, daß hier Formen des Denkens – des philosophischen wie des wissenschaftlichen Denkens – entdeckt werden, in denen Philosophie und Wissenschaft auch heute noch denken. Ein Hinweis auf die Theorieform des Denkens genügt, um das zu verdeutlichen. Sie wird im griechischen Denken entdeckt und ausgearbeitet, und zwar in paradigmatischer Weise sowohl für die weitere philosophische als auch für die weitere wissenschaftliche Entwicklung. Die in diesem Band zusammengefaßten Arbeiten sollen das verdeutlichen – im Rahmen allgemeiner Studien, die dieser Form des griechischen Denkens nachgehen, und im Rahmen besonderer Studien, die exemplarisch vor Augen führen, wie sich das Allgemeine, eine Denkform, im Besonderen, im Begrifflichen wie im Methodischen, spiegelt. Kapitel 10 und 11 wurden zusammen mit Kuno Lorenz in einem gemeinsamen Erlanger Arbeitskontext verfaßt, Kapitel 12 zusammen mit Peter Schroeder-Heister in einem gemeinsamen Konstanzer Arbeitskontext. Denn auch das lehrt das griechische Denken: das Denken, das philosophische wie das wissenschaftliche, hat eine dialogische, das Argumentative zur Form nehmende Struktur, hier näher durch den Sokratischen Dialog charakterisiert. In Erlangen und Konstanz wurde dies auf eine sehr konkrete, die philosophische Arbeit fördernde Weise zur Geltung gebracht. Der Umstand, daß die Arbeiten unabhängig voneinander entstanden sind, bringt es mit sich, daß sich in einigen Fällen Analysen überschneiden und dabei zu Wiederholungen führen. So wird mehrfach das Beispiel der griechischen Geometrie und der griechischen Astronomie angeführt, um eine theoretische Denkform darzustellen, die in eben diesen disziplinären Zusammenhängen zum Ausdruck kommt und zum Kern der griechischen Philosophie- und Wissenschaftsidee gehört, die wiederum im wesentlichen auch noch unsere Idee ist. Desgleichen wird wiederholt auf die Platonische Ideenlehre verwiesen, weil sich hier zweierlei zeigen läßt: Erstens die Art und Weise, wie Platon den Begriff des theoretischen Satzes, der in der griechischen Geometrie gebildet wird, durch den
VIII
Vorwort
Begriff des theoretischen Gegenstandes ergänzt und damit die Theorieform des Wissens begründet, zweitens die Fortsetzung theoretischer und methodischer Untersuchungen, die in die Prolegomena zur Logik führen. Schließlich dient ein wiederholter Rekurs auf Besonderheiten der Aristotelischen Physik unter wechselnden Fragestellungen der Verdeutlichung des Unterschieds zwischen den die griechische Naturphilosophie und den die neuzeitliche Naturwissenschaft organisierenden Ideen. Ein wiederholter Anschluß an schon behandelte Fragen hätte sich nur vermeiden lassen, wenn diese aus ihren jeweiligen Zusammenhängen herausgenommen und die entsprechende Darstellung auf eine Stelle konzentriert würde. Das ist hier nicht geschehen – zugunsten der Vollständigkeit jener Zusammenhänge, die auch eine Vollständigkeit der jeweiligen Fragestellungen in ihrer Beantwortung betrifft. Kleinere, bei der Durchsicht vorgenommene Änderungen beschränken sich auf wenige sprachliche und formale Dinge. Als Einleitung wurde eine Fragestellung gewählt, die einerseits den schon griechischen Gesichtspunkt der Einheit von Philosophie und Wissenschaft aufnimmt, andererseits der weiteren philosophischen und wissenschaftlichen Entwicklung Rechnung trägt, um wiederum der ursprünglichen Idee der Einheit philosophischer und wissenschaftlicher Rationalitäten zu folgen. Dabei geht es auch um die Aufgabe der Philosophie gegenüber sich selbst, nämlich Ausdruck eines genauen Denkens zu sein. Eben das war schon, auf Sokratischen Spuren, die das Denken organisierende Idee bei Platon und Aristoteles. Den Abschluß bilden zwei Studien, die das griechische Denken unmittelbar mit modernen Entwicklungen in Zusammenhang bringen – unter einer wissenschaftstheoretischen, die Logik der Forschung betreffenden, und unter einer bildungstheoretischen, Schule und Universität betreffenden Perspektive. Salzburg, im Sommer 2013
Jürgen Mittelstraß
IX
Inhalt
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
0. Statt einer Einleitung: Philosophie und Wissenschaft – Philosophie als Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.1 Der Geist der Gründlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.2 Rationale Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.3 Philosophische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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19 19 22 26
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36 41
I.
Konstruktionen
1.
Griechische Anfänge des wissenschaftlichen Denkens . . . . 1.1 Anfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der griechische Kosmos der Wissenschaft . . . . . . . . 1.3 Thaletische Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Wissenschaftliche Rationalität als Konstruktion oder: Platonische Theoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Wissenschaftliche Rationalität als Rekonstruktion oder: Aristotelische Empeiria . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Die Einheit von Theorie und Erfahrung . . . . . . . . . .
2. Die Kosmologie der Griechen . . . . . . . 2.1 Mythische Eier . . . . . . . . . . . . . 2.2 Thales-Welten . . . . . . . . . . . . . 2.3 Alles ist voller Götter . . . . . . . . . 2.4 Griechische Astronomie . . . . . . . . 2.5 Rettung der Phänomene . . . . . . . . 2.6 Aristotelische Kosmologie. . . . . . . 2.7 Aristoteles-Welt und Platon-Welt . . . 2.8 Noch einmal: die Göttlichkeit der Welt 2.9 Griechischer Idealismus. . . . . . . .
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43 43 45 46 50 55 56 61 68 71
3. Die geometrischen Wurzeln der Platonischen Ideenlehre 3.1 Die Ideen, die der Geometrie zugrundeliegen . . . . 3.2 Ursprünge der Ideenlehre . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Philosophie der Ideenlehre . . . . . . . . . . . .
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72 73 78 83
X
Inhalt
II. Vernunft und Leben 4. Der Sokratische Dialog . . . . . 4.1 Philosophische Orientierung 4.2 Dialektik . . . . . . . . . . . 4.3 Theoria. . . . . . . . . . . . 4.4 Vernunft . . . . . . . . . . . 4.5 Philosophie . . . . . . . . . 4.6 Dialogisches Wissen . . . . 4.7 Dialogische Vernunft . . . . 5.
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93 94 96 99 102 104 107 109
Eros – der älteste Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Das Schöne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Diotima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
113 113 118
III. Metaphysik 6. Platons Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen 6.1 Die Mathemata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Mathematikkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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125 126 132 139
7. Ontologia more geometrico demonstrata . 7.1 Ideenzahlenlehre . . . . . . . . . . . 7.2 Mathematik und Ontologie . . . . . . 7.3 Geschichte und Ontologie. . . . . . . 7.4 Begründung der Mathematik? . . . .
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145 146 148 154 157
8. Aristotelische Physik und Metaphysik 8.1 Der Stagirite . . . . . . . . . . . . 8.2 Die Aristotelische Physik . . . . . 8.3 Die Aristotelische Metaphysik . .
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161 161 165 169
9. Der Begriff der Kausalität . . 9.1 Werden und Vergehen. . 9.2 Platonische Ursachen . . 9.3 Aristotelische Ursachen .
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177 178 179 183
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XI
Inhalt
IV. Logik 10. Theaitetos fliegt – Zur Theorie wahrer und falscher Sätze in Platons Sophistes (mit Kuno Lorenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193 194 207
11. On Rational Philosophy of Language – The Programme in Plato’s Cratylus Reconsidered (mit Kuno Lorenz) . . . . . . . . . . . . . 11.1 How to Do Things with Words. . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Nature-Theory vs. Convention-Theory . . . . . . . . . . . . 11.3 Rational Reconstruction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Nicholas Rescher on Greek Philosophy and the Syllogism (mit Peter Schroeder-Heister) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.1 The Discovery of Rationality . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Cosmos and Logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 From Evolutionary Thought to Logical Analysis . . . . . . 12.4 Galen and the Fourth Figure . . . . . . . . . . . . . . . . 12.5 Rescher and the Fourth Figure . . . . . . . . . . . . . . . 12.6 Ecthesis, Modal Syllogistics, and the Metaphysical Basis of Logic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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230 230 233 240
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247 247 249 250 254 259
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266
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V. Griechische Gegenwart 13. Griechische Bausteine der neuzeitlichen Rationalität . 13.1 Die Idee der wissenschaftlichen Rationalität . . . 13.2 Erfahrungsform und Theorieform. . . . . . . . . . 13.3 Das griechische Wesen neuzeitlicher Rationalität .
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275 275 280 284
14. Die Gegenwart der Antike in Schule und Universität . . . 14.1 Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.2 Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3 Klassische Bildung und Expertenwelt . . . . . . . . 14.4 Das humanistische Gymnasium . . . . . . . . . . . 14.5 Die griechische Form des Wissens und der Vernunft
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291 292 294 296 299 302
Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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XII
Inhalt
Vorbemerkung
1
0. Statt einer Einleitung: Philosophie und Wissenschaft – Philosophie als Wissenschaft? Vorbemerkung Die Frage, ob Philosophie eine Wissenschaft ist, scheint an die Fundamente der Philosophie zu rühren. Beantwortet man sie mit Ja, lädt man sich, z.B. im Methodischen, gewaltige Begründungspflichten auf, beantwortet man sie mit Nein – z.B. weil man ein empiristisches Mißverständnis von Philosophie zu vermeiden sucht –, gerät man in die Gefahr, aus dem akademischen System der Wissenschaft herauszufallen. Tatsächlich richtet sich diese Frage, von außen gestellt, gegen jedwede wissenschaftliche Geltungsansprüche der Philosophie; von innen gestellt führt sie in erhebliche Verlegenheiten. Also vermeidet man sie in der Regel – entweder (von außen betrachtet) aus Taktgefühl oder (von innen betrachtet) aus Bequemlichkeit, wenn nicht aus Überlebensgründen. Das griechische Denken dachte anders. Dabei scheint die Frage, oberflächlich gesehen, aus heutiger Sicht eigentlich leicht beantwortbar zu sein. Wenn disziplinäre Bezeichnungen wie ‚Geschichtswissenschaft‘ und ‚Literaturwissenschaft‘, wenn Beschäftigungen mit Geschichte und Literatur im Universitätsrahmen und auf ihren wissenschaftlichen Gehalt bezogen als unproblematisch gelten, warum dann nicht auch die Bezeichnung ‚Wissenschaft‘, angewendet auf die Philosophie? Die ist schließlich in historischen Dingen bestens bewandert, geht mit ihren Texten nicht weniger sorgfältig um wie die Literaturwissenschaften und hat zudem in Sachen Wissenschaftstheorie jenseits der Geisteswissenschaften, zu denen sie – übrigens ein wenig unglücklich, weil in dieser Form von anderen Wissenschaftswelten isoliert – gezählt wird, engste Bezüge zur wissenschaftlichen Welt, im Rahmen gewohnter Kooperationen heute etwa mit der Mathematik, der Physik und den Neurowissenschaften. Eben dies aber mag als zu oberflächlich gelten. Konventionalitäten, hier im semantischen und institutionellen Sinne, liefern keine wirklichen Begründungen. Deshalb werden, wenn es um die Wissenschaftlichkeit der Philosophie geht, in der Regel auch stärkere Argumente bemüht. So z.B. von Husserl in seinem berühmten Aufsatz über Philosophie als strenge Wissenschaft. Husserl wendet sich gegen naturalistische und historistische Tendenzen der Philosophie seiner Zeit und plädiert für „eine Neubegründung der Philosophie im Sinne strenger Wissenschaft“1, damit für einen ausgezeichneten wissenschaftlichen Status der Philosophie,
1 E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, Logos 1 (1919/1911), 293.
2
Philosophie und Wissenschaft – Philosophie als Wissenschaft?
versteht darunter allerdings eine „wissenschaftliche Wesenserkenntnis des Bewußtseins“2. Damit hat man wiederum gleich zwei Probleme: was heißt hier ‚Wesenserkenntnis‘, wissenschaftlich betrieben, und was bedeutet ein Rekurs auf ‚Bewußtsein‘, einen Begriff, mit dem sich nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wissenschaft, etwa in Form der Psychologie und der Kognitions- und Neurowissenschaften, noch immer mehr oder weniger vergeblich herumschlagen? Der von Husserl empfohlene „Wille zu strenger Wissenschaft“3 sollte denn auch eher als der Wille zu einem strengen oder genauen Denken verstanden werden. Was darunter gemeint ist, läßt sich durchaus unter Vermeidung der philosophischen Begriffe einer Wesenserkenntnis und des Bewußtseins deutlich machen – und soll auch hier, mit Blick auf die Aufgaben der Philosophie im Kontext von Wissenschaft und Lebenswelt, vorbereitend auf eine Analyse des griechischen Umganges mit Philosophie und Wissenschaft, versucht werden.
0.1 Der Geist der Gründlichkeit Schon bei Platon und, in nunmehr disziplinärer Strenge, bei Aristoteles ist die Philosophie Ausdruck eines genauen Denkens, einer expliziten Begründungsorientierung und, mit Kant gesprochen, des Geistes der Gründlichkeit4. Dieses Denken oder dieser Geist steht gegen alles Spekulative, das Kant in der herkömmlichen Metaphysik am Werke sah, und alles Beliebige, als dessen modernes Beispiel das postmoderne Denken, ein synkretistisches Denken, gelten kann, in dem nicht nur alle formalen und thematischen Dinge beliebig werden, sondern dies auch noch, in Form des so genannten Dekonstruktivismus, gegen ein genaues Denken, als wäre Genauigkeit (oder Gründlichkeit) nur der Gipfel philosophischer Mißverständnisse. Ein wildes Denken als Inbegriff alles Philosophischen? Was man Nietzsche noch durchgehen lassen kann – dessen Denken lädt geradezu zu rekonstruktiven Bemühungen ein –, wird bei kleineren Geistern, zu denen wohl die meisten Postmodernen, Dekonstruktivisten und auch die so genannten Post- und Transhumanisten gehören, die im wissenschaftsgetriebenen Verschwinden des Menschen dessen seltsame Zukunft sehen5, zur unerträglichen Zumutung.
2 3 4 5
A.a.O., 300. A.a.O., 292. Kritik der reinen Vernunft B XXXVI. Vgl. J. Mittelstraß, Evolution und die Natürlichkeit des Menschen, in: J. Oehler (Ed.), Der Mensch – Evolution, Natur und Kultur, Heidelberg etc. 2010, 247–260, hier 253–256 (Der perfekte Mensch?).
Der Geist der Gründlichkeit
3
Bedeutet das, daß nur das Genaue, das nach allen Regeln der Logik Begründete, das durch Gründlichkeit Ausgewiesene gilt? Philosophie auf das Wissenschaftliche in diesem Sinne, und auf die damit verbundenen Aufgaben, festlegend? Etwa nach der Devise: Alles, was sich sagen läßt, läßt sich genau sagen? Ist damit schon alles gesagt? Wohl nicht, jedenfalls dann nicht, wenn damit alles dem Ideal oder dem Postulat des Genauen, begrifflicher und methodischer Genauigkeit, unterworfen werden soll – und dies nicht nur hinsichtlich der Rolle der Philosophie im Kontext der Wissenschaften, sondern auch im Kontext der Lebenswelt. Drei Einwände. Erster Einwand: Genauigkeit ist ein konstitutives Element des Wissenschaftlichen und des Technischen, aber nicht unbedingt des Lebensweltlichen. In der Wissenschaft gilt nur, was begrifflichen, methodischen und theoretischen Standards gerecht wird. Die exakte Form ist hier vom Inhaltlichen nicht zu trennen. In der Technik gilt nur, was technischen Normen entspricht, in der Konstruktion wie in der Anwendung. Im Lebensweltlichen ist es umgekehrt: ein lebensweltlicher Zweck bestimmt das Maß der erforderlichen Genauigkeit. Beispiel: das Kommunikationswesen, in dem mittlerweile Genauigkeiten erreicht werden können, die lebensweltlich sinnlos sind, etwa im Stereobereich in Form von Tonlagen, die das menschliche Ohr gar nicht mehr zu erfassen vermag. Zweiter Einwand (anschließend): Das Wissenschaftliche und das Technische verschaffen sich ihren eigenen Kontext, im Lebensweltlichen ist es umgekehrt: das Lebensweltliche ist der Kontext selbst, und er ist weiter als der wissenschaftliche und technische. Hier ist es der (lebensweltliche) Kontext, der den Einsatz wissenschaftlicher und technischer Genauigkeit bestimmt und sich dieser Genauigkeit als Mittel, nicht als Zweck, bedient. Es sind die lebensweltlichen Zwecke, die hier die Mittel bestimmen, auch die wissenschaftlichen und die technischen, oder, wiederum in anderen Kontexten, auch von ihnen absehen lassen. Beispiel: die Kunst, die das Genaue ebenso wie das Ungenaue als Form- und Stilmittel einsetzt. In der Welt des Romans verwischt sich, wie in der Welt der Gefühle, die Grenze zwischen Idealen des Genauen und Regeln des Ausdrucks; sie wird irrelevant. Dritter Einwand (wiederum anschließend): Nicht alles, was sich genau sagen läßt, dient der Lebenswelt, im Gegenteil: das Genaue kann auch den lebensweltlichen Zwecken und einer entsprechend gelingenden Praxis im Wege stehen. Beispiel: Daß es keine genaue Definition dessen gibt, was als Obst und was als Gemüse zu gelten hat, ist auf dem Markt hilfreich, nicht etwa hinderlich. Definitionsideale machen vor lebensweltlichen Praxen halt – zu deren Nutzen. Was hat das alles mit dem Thema Philosophie – und spezieller noch: mit dem Thema griechische Philosophie – zu tun? Philosophie ist ein Denken, das als genaues Denken nicht nur ein ebensolches Denken fördern, sondern auch sagen soll, wohin es gehört und wohin nicht. Wer überall auf Genauigkeit besteht,
4
Philosophie und Wissenschaft – Philosophie als Wissenschaft?
kommt in ihr um, d.h., er verliert die Sache, um die es ihm, jenseits wissenschaftlicher Ansprüche, geht, und wird selbst lebensunfähig. Das allein rechtfertigt allerdings noch nicht die theoretischen Entwürfe der so genannten Lebensphilosophie (etwa Kierkegaards oder Bergsons) und der so genannten Existenzphilosophie (etwa Sartres oder Jaspers’), wohl aber ihre Ansprüche gegenüber einem Denken, das dem Genauen universale Gültigkeit zu verschaffen sucht. Eine Philosophie, die überall auf Wissenschaftlichkeit pocht, verwechselt die Welt, wie sie ist, mit einer wissenschaftlichen Welt, macht sie insgesamt zu einer Konstruktion, die sie in Wahrheit nur in Teilen, nicht als ganze ist. Das wird z.B. vom so genannten Radikalen Konstruktivismus übersehen, der unter Rückgriff auf kybernetische, neurobiologische sowie entwicklungs- und sprachpsychologische Konzeptionen alles Erkennen – damit strenggenommen auch sich selbst – auf naturalistischer Basis – Husserl läßt grüßen! – als etwas Konstruiertes darzustellen sucht.6 Doch auch im Blick auf eine nicht-wissenschaftliche Welt, die Lebenswelt, gilt, daß philosophische Aussagen, die sich auf sie beziehen, z.B. hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Lebenswelt selbst, in dem Sinne genau zu sein haben, daß sie einer argumentativen Prüfung standhalten. Die Ungenauigkeit des Gegenstandes, hier die Strukturen und Zwecke einer Lebenswelt, rechtfertigen ein ungenaues Sprechen über ihn nicht. Man sollte ihm lediglich nicht mehr Genauigkeit, und damit nicht mehr Objektivität, abverlangen, als er hergibt, ohne seine Natur zu verlieren. Science fiction beschreibt eine mögliche Welt, keine mögliche Lebensform. Das übersehen sowohl diejenigen, die, wie die schon erwähnten Post- und Transhumanisten, an Science-fiction-Welten glauben, als auch diejenigen, die daraus die Zulässigkeit ableiten, über faktische Lebenswelten in der Sprache dieser Welten zu reden. Beispiel: die Existenzphilosophie, wenn sie eine philosophische Analyse (der Situation des Menschen) selbst in einer ‚existentiellen‘ Sprache zum Ausdruck bringt, aber auch der späte Heidegger, der mit einer poetisch und philologisch aufgeladenen Sprache das Sein – eine höchst rekonstruktionsbedürftige Kategorie des traditionellen metaphysischen Denkens – zu beschwören sucht. Auch hier gilt, daß sich ein Sprechen über die Welt in unterschiedlichen Sprachen Ausdruck zu verschaffen vermag, daß aber nur diejenige Sprache philosophische Relevanz zu beanspruchen vermag, die selbst Kategorien eines begrifflichen und methodischen Denkens entspricht.
6 Vgl. P. Janich, Konstruktivismus, radikaler, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, Stuttgart/Weimar 22010, 321–322.
Rationale Rekonstruktion
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0.2 Rationale Rekonstruktion An der Wiege der modernen Wendung zu einem Philosophiebegriff, der sich unter Kriterien eines genauen Denkens, der Begründung und der Gründlichkeit definiert, stehen der Logische Empirismus, d.h. die zweite Phase der so genannten Analytischen Philosophie nach dem linguistic turn, und der Methodische Konstruktivismus Erlanger Provenienz.7 Der eine mit einer Metaphysikkritik, die hinsichtlich ihrer Radikalität und der hier eingesetzten logischen Mittel selbst ihr Kantisches Vorbild in den Schatten stellt, der andere mit einem Konstruktionsgedanken, der alle Begründungsstrategien an ihre operative (und dialogische8) Voraussetzung bindet und diese gleichzeitig in methodisch geklärter Form zur Verfügung stellt. Gegenüber diesen Ansätzen haben klassische philosophische Konzeptionen nur noch geringe Chancen, und diese auch nur gegenüber einem Rekonstruktionspostulat, das beide Richtungen, wenn auch in unterschiedlicher Form, zum Kriterium bestandener bzw. nicht bestandener Geltungsprüfung nehmen. Im Logischen Empirismus besagt Rekonstruktion die Revision unklarer Wissenschaftssprachen durch exakte Sprachkonstruktionen, realisiert durch den Aufbau eines ‚Konstitutionssystems‘, das „eine rationale Nachkonstruktion des gesamten, in der Erkenntnis vorwiegend intuitiv vollzogenen Aufbaus der Wirklichkeit ist“9, im Methodischen Konstruktivismus die Substitution eines begrifflichen Zusammenhanges K durch eine Konstruktion K', die K nicht nur in allen wesentlichen Teilen korrekt wiedergibt, sondern zugleich diejenigen systematischen Intentionen, die K zu erfüllen sucht, besser, zumindest nicht schlechter, erfüllt als K.10 Hier geht es nicht nur um ein Verstehen im üblichen hermeneutischen Sinne, sondern um ein systematisches philosophisches Begreifen.
7
Vgl. K. Lorenz, Philosophie, analytische, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie III, Stuttgart/Weimar 1995, 139–145; Chr. Thiel, Konstruktivismus, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, Stuttgart/ Weimar 22010, 314–319. 8 Vgl. K. Lorenz, Konstruktivismus, dialogischer, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, Stuttgart/Weimar 22010, 319–321. 9 R. Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Leipzig 1928, Hamburg 21961 (mit: Scheinprobleme in der Philosophie), 31966, 139. Vgl. W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie IV/1 (Personelle Wahrscheinlichkeit und Rationale Entscheidung), Berlin/Heidelberg/New York 1973, 8. 10 J. Mittelstraß, Forschung, Begründung, Rekonstruktion. Wege aus dem Begründungsstreit, in: H. Schnädelbach (Ed.), Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt 1984, 117–140, ferner in: J. Mittelstraß, Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie, Frankfurt 1989, 257–280. Bei P. Janich findet sich dieser Rekonstruktionsbegriff eingebettet in die Schrittfolge Gegenstandskonstitution, Konstruktion und Reflexion
6
Philosophie und Wissenschaft – Philosophie als Wissenschaft?
Und doch: können wir es uns so einfach machen? Sind die hier formulierten Kriterien derart, daß ältere Konzeptionen ihnen eigentlich nur zum Opfer fallen können? Steht solchen Konzeptionen das philosophische Scheitern bereits auf der sprachlichen Stirn geschrieben? So scheint es zumindest Carnap zu halten: Inhaltliche Fragen, in seiner Terminologie Objektfragen, die „z.B. die Dinge an sich, das Transzendente, das Absolute, die objektive Idee, den Urgrund der Welt, das Nicht-Seiende; ferner Werte, absolute Normen, das absolute Sollen“ betreffen, gelten ihm als Scheinfragen, Sätze, die diese Gegenstände betreffen, als Scheinsätze.11 Also eine Logik der Bestimmtheit gegen eine Logik des Scheins? Vielleicht fehlt manchmal nur der geeignete Übersetzer, eine geduldige Rekonstruktionsbemühung. Drei Beispiele. Erstes Beispiel: Platons Ideenlehre. Nach üblicher, auch philosophischer Ansicht wagt sich mit Platons Ideenbegriff das Denken in das Reich der reinen Spekulation, in einen Idealismus, der den Boden unter den philosophischen Füßen zu verlieren droht. Ausdruck dieser Vermutung ist eine schon in der Antike selbst entwickelte Zweiweltenlehre, die ontologisch zwischen einer Welt, wie sie ist, und einer Welt, wie sie idealerweise ist oder gedacht werden kann, unterscheidet. In diesem Falle stünden Dinge dieser Welt einer ‚intelligiblen Welt‘ im Abbildverhältnis gegenüber, so etwa in der neuplatonischen Rezeption der Ideenlehre, wobei eine ‚intelligible Welt‘ (mundus intelligibilis) ihren Sitz in einem hypostasierten, mit dem Platonischen Demiurgen (im „Timaios“) identifizierten Nus hat. Im christlichen Platonismus werden schließlich aus den (platonisch und neuplatonisch so verstandenen) Ideen die Gedanken eines die Welt nach diesen Ideen schaffenden Gottes.12 Noch Kants Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich scheint eine Erinnerung an die so verstandene Platonische Unterscheidung zu wahren, auch wenn sich Kant gegen eine ‚mystische Deduktion‘ der Ideen in der Platonischen Konzeption wendet.13 Doch ist die Frage, ob man hier der Tradition folgen muß, um Platon zu verstehen. Tatsächlich geht es Platon gar nicht darum, eine Welt zu konzipieren, die nicht unsere Welt ist – weder im ontologischen noch im erkenntnistheoretischen Sinne. Sein Problem ist vielmehr, wie
(Wissenschaft als Konstruktion und Rekonstruktion, in: J. Mittelstraß [Ed.], Der Konstruktivismus in der Philosophie im Ausgang von Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen, Paderborn 2008, 213–226; Hermeneutik und Rekonstruktion, in: P. Bernhard/V. Peckhaus [Eds.], Methodisches Denken im Kontext. Festschrift für Christian Thiel. Mit einem unveröffentlichten Brief Gottlob Freges, Paderborn 2008, 371–381). 11 R. Carnap, Logische Syntax der Sprache, Wien/New York 21968, 203–204. 12 Vgl. J. Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips, Berlin 1962, bes. 178–197 (IV.5 Der christliche Platonismus). 13 Kritik der reinen Vernunft B 371 Anm.
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man über theoretische Gegenstände reden kann oder reden sollte, solche nämlich, von denen in den theoretischen Sätzen der Wissenschaft, im konkreten Falle der Geometrie, die Rede ist. Eine Rekonstruktion der Ideenlehre in diesem Sinne vermag sich durchaus auf die Texte zu stützen und dem Schein, daß hier der Boden philosophischer Begründungen verlassen wird, zu wehren. Eben dies wird in den folgenden Studien unter unterschiedlichen systematischen Perspektiven gezeigt. Zweites Beispiel: Leibnizens Monadenlehre. Die gilt als ein Musterexempel einer metaphysischen, vermeintlich logisch und systematisch nicht rekonstruierbaren Begriffs- und Theoriebildung. Schon Kant wirft ihr (auf dem Hintergrund seiner Unterscheidung zwischen Erscheinungen und Dingen an sich) eine Verwechslung von reinem Verstandesobjekt und Erscheinung vor; Leibniz habe die Erscheinungen irrtümlich mit seiner Monadenlehre ‚intellektualisiert‘.14 Doch der Schein trügt. Leibniz sucht eine Ordnung der Welt nicht über eine Ordnung der Sprache, sondern – in der Sprache der philosophischen Tradition – über eine Ordnung einfacher Substanzen, deren symbolische Repräsentationen die Dinge sind, darzustellen und beantwortet die Frage nach der Existenz elementarer Einheiten über die Bestimmung begrifflicher Einheiten, bezeichnet als ‚individuelle Substanzen‘, ‚substantielle Formen‘, ‚metaphysische Punkte‘ oder (seit 1696) als ‚Monaden‘. Dabei erfolgt die Kennzeichnung individueller Substanzen bzw. Monaden über individuelle Begriffe, die ihrerseits als vollständige Begriffe konstruiert sind, d.h. als (unendliche) Konjunktion aller einem Individuum zukommenden Prädikate (also vollständigen Kennzeichnungen). Logische Rekonstruktion greift, auch dort, wo metaphysische Orientierungen die Oberhand zu gewinnen scheinen. Das kommt etwa darin zum Ausdruck, daß die bekannte Leibniz-These einer Repräsentanz des Universums in jeder Monade (Monaden ‚spiegeln‘ das Universum) auf der mit der Konstruktion vollständiger Begriffe gegebenen Möglichkeit beruht, Aussagen über beliebige Gegenstände als Aussagen über ein und denselben Gegenstand darzustellen. Es kommt ferner darin zum Ausdruck, daß sich die ebenso bekannte Leibniz-These einer prästabilierten Harmonie begreifen läßt als die Anwendung einer derartigen Möglichkeit auf die (allerdings problematische) Annahme eines durch einen vollständigen Begriff darstellbaren unendlichen Gesamtsystems. Der Leibnizsche Satz, daß es keine Interaktion zwischen Monaden gebe, jede Monade eine Welt für sich sei, ist lediglich die dazu komplementäre Bedeutung. In diesem Zusammenhang wird im übrigen auch klar, daß der Zusam-
14 Kritik der reinen Vernunft B 326–327. Dazu J. Mittelstraß, Leibniz und Kant. Erkenntnistheoretische Studien, Berlin/New York 2011, 1–12 (Einleitung oder: die verborgene Einheit der Philosophie Leibnizens und Kants).
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menhang einfacher und zusammengesetzter Substanzen, um den es in der Monadenlehre geht, „den Zusammenhang eines Gegenstandes mit seiner sprachlichen, genauer: begrifflichen, Repräsentation – mit dem Hilfsmittel des aus einer vollständigen Kennzeichnung bestehenden Namens – betrifft“15. Die Welt der Sprache und die Welt der Monaden, hier die wissenschaftliche und die philosophische Welt, verbinden sich in einer philosophischen Analyse. Selbstverständlich sind die Körper aus Teilen zusammengesetzt; eben deren Einheit aber liegt wieder in ihrer begrifflichen Artikulation, Leibniz: in einer Monade. Es gibt damit durchaus systematische, logische Wege in ein philosophisches System, das auf den ersten Blick hermetisch gegenüber Rekonstruktionsbemühungen abgeriegelt erscheint. Wer sich hier, wie Carnap, nur an die gegebene Terminologie hält, gibt zu früh auf. Drittes Beispiel: Heideggers Spätphilosophie. Hier führt der Weg aus einer Marginalisierung der philosophischen Anthropologie, die sich in „Sein und Zeit“ durchaus noch gegen diese Intention lesen läßt, in eine ‚Seinsgeschichte‘, hinter der der Mensch und mit ihm alles Philosophische zu verschwinden scheinen, desgleichen in ein ‚Haus des Seins‘, das Heidegger in der Sprache, nicht in einer philosophischen, sondern in einer dichterischen Sprache, gefunden zu haben glaubt: „Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und die Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung.“16 Damit wird auch das Dichten zum eigentlichen Ort der Wahrheit17; das Subjekt, auch das philosophische, das nicht Sprache ist, löst sich auf.18 Ansätze für eine philosophische oder logische Rekonstruktion? Sie könnten vielleicht an Wilhelm v. Humboldts Einsichten, wonach in jeder Sprache eine ‚eigentümliche Weltansicht‘ liege, anknüpfen oder an anthropologische Konzeptionen, in denen das Gegebene, das Faktische wieder ein größeres Gewicht gegenüber dem Konstruierten, Gemachten erhält – in Wilhelm Kamlahs Anthropologie etwa im Begriff des Widerfahrnisses ausgedrückt19 –, doch dürfte dem wenig Glück beschieden sein. Im
15 K. Lorenz, Die Monadologie als Entwurf einer Hermeneutik, in: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses Hannover, 17.–22. Juli 1972, III (Metaphysik, Ethik, Ästhetik, Monadenlehre), Wiesbaden 1975 (Studia Leibnitiana Supplementa XIV), 323. Vgl. J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, 477–528 (§ 14 Logik und Metaphysik). 16 M. Heidegger, Über den „Humanismus“, in: ders., Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den „Humanismus“, Bern 21954, 70. 17 M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: ders., Holzwege, Frankfurt 1950, 62. 18 Vgl. J. Mittelstraß, Über philosophische Sprache, Bonn 2000 (Bonner philosophische Vorträge und Studien 11), 24–27. 19 Vgl. W. Kamlah, Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik, Mannheim/Wien/Zürich 1972.
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Unterschied zu Leibniz scheint es gerade die philosophische Intention Heideggers zu sein, sich allen Rekonstruktionsmöglichkeiten zu entziehen, das philosophische ‚Sagen‘ aus allen Begründungskontexten herauszunehmen. Wo an die Stelle menschlicher Entwürfe und ihrer argumentativen Darstellung ‚Schickungen des Seins‘ treten, verschließt eine fatalistische Grundannahme auch der Philosophie selbst den Mund. Diese kommt allenfalls noch ‚von außen‘, etwa mit einer derartigen Feststellung, kaum mehr ‚von innen‘, in rekonstruktiver Absicht, an diese Vorstellung heran. Vermutlich wird hier ein Platon- und Leibniz-Freund, selbst wenn er bisher ganz anders gedacht haben mag, applaudieren, und ein Heidegger-Freund heftig protestieren, mit dem zusätzlichen Hinweis, daß so zu argumentieren nur Heideggers Vorwürfe an die Adresse eines genauen Denkens, dem das Wesentliche entginge, bestätige. Aber darauf kommt es unter einer systematischen Perspektive auch gar nicht an. Gezeigt werden sollte hier nur, daß im einen Falle (Platon und Leibniz) Übersetzungsmöglichkeiten, und damit auch Anschlußmöglichkeiten, gegeben sind oder daß man hier grundsätzlich auch lernen kann, im anderen Falle (Heidegger) nicht. Das läßt sich auch in eine Interpretationsmaxime fassen: Nur wo ein Text, wo eine Konzeption in eine andere, begrifflich und argumentativ geklärte Sprache übersetzt werden kann, liegt eine anschlußfähige Konzeption vor, können Geltungsansprüche geprüft und kann für sie, mit ihr oder gegen sie argumentiert werden. Diese Maxime sichert das philosophische (systematische) Element in einer Auseinandersetzung und verweist alles andere vermeintlich Philosophische in das Reich sprachlicher Fiktionen, in dem man sich zwar bewegen, das man aber nicht begreifen oder begreifbar machen kann. Eben das sollte hier mit den Beispielen, zwei positiven und einem negativen, gezeigt werden. Im übrigen realisiert sich ein genaues Denken, wenn es sich auf das wissenschaftliche Denken direkt bezieht, in wissenschaftstheoretischer Form, befaßt mit Problemen der Theorienstruktur, der Theoriendynamik und der Theorienexplikation. Unter dem Stichwort Theorienstruktur geht es der Philosophie um Strukturen einer Wissenschaftssprache, um Strukturen wissenschaftlicher Gesetze und Erklärungen sowie um den Aufbau von Theorien. Hier entscheidet nicht eine Disziplin jeweils allein darüber, wie sie es mit der wissenschaftlichen Sprache, mit Gesetzen, Erklärungen und einem theoretischen Aufbau halten will; sie folgt vielmehr in der gesamten scientific community geltenden, sich an einer bewährten theoretischen Praxis und einer ständigen systematischen Reflexion orientierenden Regeln, die vor allem wissenschaftstheoretisch reflektierte Regeln sind. Das gleiche gilt vom Stichwort Theoriendynamik. Dieses bezieht sich auf eine Rekonstruktion wissenschaftlicher Entwicklungen, wobei es im engeren theoretischen Sinne vor allem um Probleme einer semantischen Reduzierbarkeit verschiedener
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Theorien aufeinander und um das Problem transtheoretisch anwendbarer Kriterien im Leistungsvergleich von Theorien untereinander geht. Wissenschaftsnäher, nämlich in die Theorienbildung eingreifend, sind schließlich Gesichtspunkte der Theorienexplikation. Hier geht es unter anderem um Fragen wie: Gibt es eine physikalische Grundlage für die Anisotropie der Zeit oder deren Einsinnigkeit, d.h. eine (nicht nur definitorische) Auszeichnung der Zukunft? Ist eine Geometrie des Raumes nach Festlegung der Kongruenzdefinition eindeutig empirisch bestimmbar? Bezieht sich die Wellenfunktion in der Quantenmechanik auf ein Einzelteilchen oder auf ein Teilchenensemble (Kopenhagener versus statistische Deutung)? Es dürfte klar sein, daß derartige Fragen selbst wissenschaftliche Fragen sind, aber eben auch solche, die eine wissenschaftsnahe Philosophie mit ihren (wissenschaftstheoretischen) Mitteln zu beantworten sucht. Und wie es scheint, nehmen derartige Fragen in der Wissenschaft zu, d.h. Fragen, die auch Fragen einer wissenschaftsnahen Philosophie sind. Wer auf sie verzichtet, desgleichen auf Fragen der Theorienstruktur und der Theoriendynamik, erfaßt philosophisch nur noch die lebensweltlichen Teile unserer Wirklichkeit, nicht die wissenschaftlichen Teile, zugleich eine Grenze ziehend, die der modernen Wirklichkeit, der Wirklichkeit einer Leonardo-Welt20 nicht mehr entspricht, in der artifizielle, wissenschaftlich und technisch geprägte Strukturen zunehmen, natürliche, oder doch so verstandene, Strukturen abnehmen.
0.3 Philosophische Probleme Wie steht es aber, wenn sich die Philosophie nicht unmittelbar mit wissenschaftstheoretischen und interpretatorischen Aufgaben, also mit Rekonstruktionsaufgaben im engeren Sinne, befaßt, mit Aufgaben, die sie ihrem herkömmlichen Verständnis entsprechend selbst als Disziplin betreffen? Wenn die Wissenschaften nicht zuletzt über die Probleme definiert werden, die sie lösen, und zu diesen Problemen auch die selbst gestellten gehören, welches sind dann die Probleme, die die Philosophie löst, wenn sie nicht gerade Wissenschaftstheorie (wie dargestellt und in zumeist metatheoretischer Form) treibt? Gibt es überhaupt philosophische Probleme? Was physikalische und was juristische Probleme sind, und daß sie mit physikalischen bzw. juristischen Mitteln gelöst werden, wissen wir, aber was sind Probleme oder Fragen, die per definitionem philosophische Probleme oder Fragen sind und die sich auch nur mit philosophischen Mitteln lösen bzw. beant-
20 Vgl. J. Mittelstraß, Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung, Frankfurt 1992.
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worten lassen? Sind philosophische Probleme und Fragen etwa der Art, wie sie Aristoteles im zweiten Buch der „Metaphysik“, als Gegenstand einer „Ersten Philosophie“, stellt und die sich selbst als philosophiegenerierend herausstellen?21 Oder doch eher der Art, was Leben und was Kausalität ist, also solche, die auch im Kontext anderer Disziplinen auftauchen? Und wenn es philosophische Probleme und Fragen gibt, was sind philosophische Mittel? Der Art etwa, wie die Physik physikalische Probleme oder die Jurisprudenz juristische Probleme mit jeweils ihren Mitteln lösen. Während es schwerfallen dürfte, Probleme und Fragen zu benennen, denen gewissermaßen auf der Stirn stünde, daß sie philosophische Probleme und Fragen sind, scheint die Frage nach philosophischen Mitteln, d.h. Methoden, schnell beantwortet zu sein. Hier scheint es eher zu viele als zu wenige zu geben.22 Da ist z.B. von dialektischer, transzendentaler, phänomenologischer, analytischer und konstruktiver Methode die Rede. Sie stehen alle für eine bestimmte philosophische Konzeption und sind insofern auch selbst, wie schon bei Aristoteles, philosophiegenerierend. Aber beantworten sie auch die Frage, was ein philosophisches Problem ist? Jede philosophische Orientierung steht hier für sich, beantwortet diese Frage auf je eigene Weise, indem sie die Identifikation philosophischer Probleme mit dem eigenen Vorgehen verbindet. So löst die Dialektik (wenn es denn gut geht) dialektische Probleme, die Phänomenologie (wenn es denn gut geht) phänomenologische Probleme, die analytische Philosophie (wenn es denn gut geht) analytische Probleme. Sind alle diese Probleme – also z.B. das Problem der Vermittlung des Mittelbaren und des Unmittelbaren in der Dialektik, das Problem der eidetischen Variation in der Phänomenologie, das Problem der Abbildbeziehung (zwischen Sprache und Welt) in der analytischen Philosophie – per definitionem philosophische Probleme, d.h. als solche erkennbar auch außerhalb des jeweiligen konzeptionellen Rahmens? Hier sieht es eher so aus, daß jede philosophische Konzeption jeweils für sich selbst bestimmt, was ein philosophisches Problem ist. Das kann in einigen Fällen durchaus auf Konvergenzen hinauslaufen, z.B. in der Beurteilung der notorischen philosophischen Frage nach der Existenz der Außenwelt, in anderen Fällen, z.B. in der Beurteilung der Frage nach der Existenz von Dingen an sich, nicht. Mit anderen Worten, philosophische Probleme treten in der Regel innerhalb philosophischer Konzeptionen auf, diese definieren, was ein philosophisches Pro-
21 Met. B2.995b5–996a17. 22 Das Folgende in direktem Anschluß an J. Mittelstraß, Philosophische Probleme zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, in: J. Schulte/U. J. Wenzel (Eds.), Was ist ein ‚philosophisches‘ Problem?, Frankfurt 2001, 134–144.
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blem ist. Keine sehr überzeugende Vorstellung. Sie hat daher auch in der Philosophie selbst zu der schon genannten Vorstellung geführt, daß es sich bei so genannten philosophischen Problemen ohnehin um Scheinprobleme handelt. Unter diesen sind Probleme zu verstehen, die sich nicht nur falsch gestellten Fragen verdanken – dieser Umstand könnte durch die Umformulierung von Fragen behoben werden –, sondern prinzipiell unlösbar sind, weil sich kein Verfahren angeben läßt, das für eine Lösung in Frage kommt. So sind für Carnap alle philosophischen, insbesondere im Rahmen der Tradition der Metaphysik aufgeworfenen Probleme Scheinprobleme, insofern sie sich gegenüber einem empiristischen Sinnkriterium (in Form eines Verifikationsprinzips zur Unterscheidung zwischen sinnvollen und sinnlosen Sätzen) als sinnlos erweisen. Sie gelten als Hindernisse auf dem Wege zu einer wissenschaftlichen Philosophie, die sich allein noch als Wissenschaftslogik zu bewähren habe.23 Aus philosophischen Problemen werden damit wissenschaftliche Probleme, beantwortbar in einem wissenschaftlichen Kontext. Nicht weniger radikal ist die von Wittgenstein vertretene Lösung. Nach Wittgenstein hat ein philosophisches Problem die Form „Ich kenne mich nicht aus“24. Als Beispiele dienen ein Mensch, der sich in einem Zimmer gefangen glaubt, weil er übersieht, daß die Tür offensteht25, und eine Fliege im Fliegenglas26. Philosophische Probleme werden damit zu Symptomen einer Krankheit, deren Therapie die Probleme verschwinden läßt. Diese Therapie ist eine Sprachtherapie; sie löst philosophische Probleme durch „Einsicht in das Arbeiten unserer Sprache“27 – und durch Rückkehr in die Lebenswelt. Wo diese und die Sprache, die sie spricht, erreicht werden, verschwinden alle philosophischen Probleme; sie werden nicht, wie bei Carnap, (in Teilen) zu wissenschaftlichen Problemen, sondern lösen sich einfach auf. Hat die Lebenswelt keine Probleme, die man noch als philosophische Probleme bezeichnen könnte? Und lassen sich jenseits lebensweltlicher Verhältnisse – und das gilt auch jenseits wissenschaftlicher Verhältnisse – keine Probleme mehr identifizieren, die sich als philosophische Probleme einer Reduktion
23 R. Carnap, Logische Syntax der Sprache, 203–210. Vgl. G. Gabriel, Scheinproblem, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie III, Stuttgart/Weimar 1995, 689–690. 24 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen 123 (L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen, Frankfurt 1960, 345). 25 Berichtet von N. Malcolm, Ludwig Wittgenstein. A Memoir, London 1958, 51 (dt. Erinnerungen an Wittgenstein, Frankfurt 1987, 73). 26 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen 309 (a.a.O., 407). 27 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen 109 (a.a.O., 342).
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auf lebensweltliche Probleme widersetzen bzw. in diese nicht transformiert werden können? Wittgensteins Lösung des Problems philosophischer Probleme ist zu einfach, um wahr zu sein. So wäre z.B. für Kant die Vorstellung, auf diese Weise ließen sich alle philosophischen Probleme, unter ihnen etwa das Freiheitsproblem, zum Verschwinden bringen, kein plausibler Gedanke, und dies ist er auch heute, nach der Transformation der Vernunftkritik Kants in eine Wissenschafts- und Sprachkritik (etwa analytischer und konstruktiver Art), nicht. Dies hat unter anderem mit Konstitutionsproblemen zu tun, nämlich damit, daß auch lebensweltliche Gegenstände nicht einfach gegeben sind, sondern in der Weise konstituiert werden, daß sich der Verstand reflektierend auf ein primäres Erkennen und Handeln (in einem lebensweltlichen Kontext) bezieht. Einerseits begreift sich das Denken, auch das theoretische Denken in Wissenschaft und Philosophie, als in vor-theoretischen Zusammenhängen fundiert – etwa durch die Herausarbeitung eines Unterscheidungsapriori und eines Herstellungsapriori, die zusammen ein lebensweltliches Apriori bilden, das wiederum im Sinne eines sowohl genetisch als auch logisch unhintergehbaren Anfanges auch die Grundlage eines methodischen Aufbaus wissenschaftlicher Theorien darstellt28 –, andererseits erweist sich die Lebenswelt nicht einfach als das (unproblematische) Gegenüber einer theoretischen Welt, sondern (wie mit dem Stichwort ‚Leonardo-Welt‘ bereits erwähnt) als in Teilen selbst durch theoretische Leistungen (in Wissenschaft und Philosophie) konstituiert. Dies gilt sowohl in einem ‚ontologischen‘, Welt als Produkt des wissenschaftlichen und des technischen Verstandes begreifenden Sinne als auch in einem erkenntnistheoretischen Sinne. Hegelianisch ausgedrückt: Wie wir die Welt ansehen – mit unseren Begriffen, Erfahrungen, Theorien –, so sieht sie uns an; eine einfache Vernunft der Tatsachen, der unser Wissen einfach folgen könnte, und eine Welt an sich, in der wir uns mit unserem Wissen orientieren könnten, gibt es nicht. In beiden Fällen, einer ‚ontologischen‘ und einer erkenntnistheoretischen Perspektive, besteht die Schwierigkeit einer Antwort darin, in einer Klassifikation von Fragen und Problemen Platz für Fragen und Probleme zu finden, die sich auch ohne Rekurs auf eine bestimmte philosophische Konzeption und ohne Rekurs auf eine besondere Sicht der Welt, als philosophische Fragen und Probleme bezeichnen lassen. Beides ist nicht plausibel, was umgekehrt wiederum bedeutet, daß philosophische Fragen überall gestellt und philosophische Probleme überall liegen können, in jeder philosophischen Konzeption und in jeder Sicht
28 Vgl. J. Mittelstraß, Das lebensweltliche Apriori, in: C. F. Gethmann (Ed.), Lebenswelt und Wissenschaft. Studien zum Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie, Bonn 1991, 114–142.
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der Welt, natürlich auch in einer wissenschaftlichen Sicht der Welt. Oder ist das Problem der Rede von Naturgesetzen allein ein physikalisches Problem und das Problem der Rede vom Leben allein ein biologisches Problem? Es ist wohl das Charakteristikum jener Fragen und Probleme, die wir als philosophische bezeichnen möchten, daß sie gewissermaßen zwischen Himmel und Erde, zwischen den Sphären der Wissenschaft und den Sphären der Lebenswelt angesiedelt sind und sich dort auch nicht einfach – entweder in Richtung Himmel (Wissenschaft) oder in Richtung Erde (Lebenswelt) – vertreiben lassen. Also gibt es auch philosophische Probleme: solche, die wie die 15 Aristotelischen Aporien innerhalb einer philosophischen Konzeption auftreten, solche, die in einem wissenschaftstheoretischen Kontext auftreten, und solche, die sich wie das Nachdenken Kants über die Architektur der Vernunft und die Vollendung der Vernunft einer philosophischen Sicht der Dinge verdanken. Entscheidend ist bei alledem, daß sich ein philosophisches Denken als genaues Denken, als ein begründungsorientiertes Denken und als Ausdruck des Geistes der Gründlichkeit zu erkennen gibt, womit wir zum Anfang unserer Überlegungen zu den Stichworten Philosophie und Wissenschaft zurückgekehrt wären.
Schlußbemerkung Philosophisches Denken zeichnet sich seit seinem Beginn durch eine eigentümliche Rationalität aus, die ihren Ausdruck darin findet, auch dort noch auf Klarheit in analytischer und konstruktiver Form zu dringen, wo sich das wissenschaftliche und das lebensweltliche Bewußtsein mit faktisch akzeptierten Überzeugungen, nur allzu oft in modischer Form, schon zufriedengeben. Diese Rationalität macht zugleich ihre beanspruchte (wenn auch selten eingelöste) Voraussetzungslosigkeit aus. Seit Platon gilt in der Philosophie der Grundsatz, daß nichts für (theoretische oder praktische) Orientierungsbemühungen Relevante einer begründungsorientierten und in diesem Sinne philosophischen Reflexion entzogen werden kann und soll. Mit ihrer Orientierung an Maßstäben der Genauigkeit, der Begründung und der Gründlichkeit erweist sich die Philosophie damit weniger als eine besondere Wissenschaft unter den Wissenschaften im traditionellen Sinne, sondern als eine besondere (wissenschaftliche) Rationalitätsform. In der Universität, wo sich die Philosophie in disziplinärer Form zum Ausdruck bringt, erweist sich diese besondere Form als Reflexionsschule. Sie vermittelt ihre Rationalitätsform, nämlich die einer philosophischen Reflexion, im Forschungs- und Lehrkontext und nimmt dabei zugleich die in der modernen Universität heimatlos gewordene Aufgabe einer Bildung durch Wissenschaft (Humboldt) bzw. einer bildenden wissen-
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schaftlichen Rationalität wahr. Darin liegen in der Universität ihre, allerdings nur selten so wahrgenommenen, Aufgaben. Oder anders und wieder ganz allgemein formuliert: Es ist nicht die Aufgabe der Philosophie, in Konkurrenz zu den Fachwissenschaften wissenschaftliche Probleme zu lösen, es ist nicht die Aufgabe der Philosophie, sich in lebensweltliche Normalitäten aufzulösen, und es ist – möglicherweise in Kontrast zu Sokratischen Auffassungen – auch nicht die Aufgabe der Philosophie, Seelen zu retten. Es ist die Aufgabe der Philosophie, das Denken (in Wissenschaft und Lebenswelt) zu orientieren. Und sollte eine derartige Bemühung, genau und streng ausgeführt, nicht auch ‚wissenschaftlich‘ heißen dürfen? Jedenfalls kann auch die Wissenschaft, kann auch das wissenschaftliche Denken im Normalsinne, ebenso wie die Lebenswelt, auf eine solche philosophische Orientierung nicht verzichten. Auch das wußte schon das griechische Denken.
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I. Konstruktionen
Anfänge
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1. Griechische Anfänge des wissenschaftlichen Denkens 1.1 Anfänge Anfänge sind schwierig – nicht nur für diejenigen, die sie machen, sondern auch für diejenigen, die sie zu entdecken suchen. Meist verliert sich ein Anfang in Entwicklungen, die ihm vorausgehen, gründet ein Anfang in Voraussetzungen, die er selbst nicht bereitzustellen vermag, lösen sich Geschichten in Vorgeschichten und mit ihnen Anfänge, die man zu erkennen glaubt, in vorausgegangene Anfänge auf. Für den Historiker ist das eine gewohnte Erfahrung und für den Handelnden, der nicht zu beschreiben, sondern anzufangen, mit seinem Handeln einen neuen Anfang zu setzen sucht, auch. Eine Kontinuumvorstellung, die wir häufig mit unserem Handeln verbinden, und ein Handeln, an dem auch der Historiker nicht vorbeizukommen scheint, legt sich wie ein Nebel über das Selbstverständnis des Handelnden und auf den Versuch, im schon Geschehenen, auf den Spuren vergangenen Handelns Anfänge zu entdecken, die den Ausweis des Neuen, gar des völlig Neuen mit sich führen. ‚Nichts Neues unter der Sonne‘, das scheint nur zu oft das Resultat allen Suchens und Findens, aller Aufbrüche und Orientierungen zu sein. Um so mehr muß dies gelten, wenn nicht irgendwelche Anfänge des Denkens und im Denken aufgesucht werden sollen, sondern der Anfang des Denkens, hier des wissenschaftlichen Denkens, selbst. Ein politischer Gedanke, eine militärische Tat, ein künstlerisches Produkt – sie alle mögen die ersten ihrer Art, folgenreich für alles Folgende gewesen sein oder doch so angesehen werden können. Aber ein Anfang des wissenschaftlichen Denkens? Ein absoluter Anfang insofern, als alles, was vorher war, das Prädikat ‚wissenschaftlich‘ nicht verdiente? Und wie, wenn mit der Rede von einem Anfang (oder von Anfängen) des wissenschaftlichen Denkens auch noch ein Anfang des rationalen Denkens überhaupt, der Rationalität selbst, gemeint sein sollte? Scheint ein solcher Versuch nicht schnurstracks aus allen Entwicklungen, aus der Geschichte herauszuführen? Absolute Anfänge scheinen ohnehin nicht von dieser Welt zu sein, zumindest nicht von einer Welt, in der sich der Historiker oder der Archäologe auskennen. Noch einmal: beim genauen Hinsehen lösen sich Geschichten in Vorgeschichten, Handlungen in Handlungskontexte, Entwicklungen in Voraussetzungen, die ihrerseits Entwicklungen sind oder in ihnen gründen, auf. Um wieviel mehr muß das vom Denken selbst – das ja auch eine Form des Handelns ist – gelten? Vom Denken, das in seinen philosophischen und wissenschaftlichen Manifestationen seinen stärksten, paradigmatischen Ausdruck findet? Ist das (philosophische und wis-
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Griechische Anfänge des wissenschaftlichen Denkens
senschaftliche) Denken, ist die theoretische Vernunft, wie Kant sagt, überhaupt etwas, das man entdecken oder mit dem man einfach anfangen kann? So gestellt sind derartige Fragen unbeantwortbar. Man muß ja irgendwie schon mit dem Denken, dem wissenschaftlichen wie dem philosophischen Denken, begonnen haben, um nach dessen wirklichen Anfängen fragen zu können. Was wir suchen, wäre einfach schon da, als das Bekannte, Gewohnte, Geübte. Es wäre das Medium, in dem sich (philosophisch und wissenschaftlich) alles bewegt, nichts, das einmal nicht da und dann da war, also kein Denken aus dem Nichts. Gibt es überhaupt ein Denken aus dem Nichts, ein Denken, dem kein Gedanke vorausging? Nun ist hier nicht vom Denken allgemein die Rede, sondern vom wissenschaftlichen und (in einem Grundlegungskontext) vom philosophischen Denken. Nicht alles Denken ist wissenschaftlich, und nicht alles Denken ist philosophisch. Selbst Rationalität (in unserem Sinne) muß nichts sein, das immer schon war, das synonym mit Denken ist, sich folglich, wenn immer schon Denken war, so lange es Menschen, selbst als denkende Wesen definiert, gibt, mit diesem die Geschichte teilt. Wie man sieht, zeigt sich hier ein Schlupfloch für die Freunde von Anfängen, auch solchen, die man nicht bei sich selbst, sondern in der Geschichte sucht: Wenn nicht alles Denken gleich wissenschaftliches oder philosophisches Denken ist, auch wenn dieses als das eigentliche Paradigma von Rationalität begriffen wird, dann ist jedenfalls die Frage nach einem Anfang oder nach Anfängen wissenschaftlichen (und philosophischen) Denkens nicht von vornherein eine unbeantwortbare und deshalb auch sinnlose Frage. Doch es kommt noch ein weiteres Problem hinzu. Wie kann, so ließe sich nämlich weiterfragen, etwas einen Anfang, oder Anfänge, erklären, das selbst Teil einer mit diesem Anfang gegebenen Entwicklung ist? Etwas, das sich nicht außerhalb dieser Entwicklung, und damit auch dessen Anfang, setzen kann? Können wir, anders formuliert, Anfänge in einem theoretischen Rahmen begreifen, der selbst ein Resultat dieser Anfänge ist? Schließlich fragen wir mit einem wissenschaftlichen und/oder philosophischen Interesse nach dem Anfang des wissenschaftlichen Denkens. Wir wissen also immer schon, was wir suchen; wir sind das, was wir suchen, selbst. Wie aber sind da Anfänge zu bestimmen? Fragen dieser Art sind verwirrend, zumal dann, wenn man nun als Anfang des wissenschaftlichen und des philosophischen Denkens das griechische Denken bestimmt.1 Denn warum ist gerade das wissenschaftliches Denken oder Phi-
1 Vgl. dazu die hübsche, von E. Kapp in seiner bekannten Studie über den Ursprung der Logik bei den Griechen (1942) mitgeteilte Bemerkung E. Panofskys: „Wir Kunsthistoriker gehen von der Annahme aus, daß niemand jemals etwas erfunden hat, während Ihr klassischen Philolo-
Anfänge
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losophie, was um –700 in Ionien beginnt? Warum fallen aus dieser Datierung z.B. die babylonische Astronomie und die altindische Kosmogonie (Entstehung von Himmel und Erde aus der Teilung eines Welteis) heraus? Was bedeutet die (europäische) Identifikation des Anfangs des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens mit dem Anfang der Vernunft? Gab es vorher nur Unvernunft? Was heißt überhaupt Vernunft? Kann diese methodisch, wie die griechische Mathematik, und zugleich spekulativ, wie die griechische Metaphysik, sein? Fragen über Fragen, zugleich Fragen, die selbst Ausdruck dessen sind, was wir im Rahmen des europäischen Denkens als philosophische oder wissenschaftliche Rationalität zu bezeichnen pflegen. Erneut stellt sich damit das Problem, wie etwas einen Anfang zu erklären vermag, das selbst Teil dieses Anfangs bzw. einer mit diesem Anfang gesetzten Entwicklung ist. Wir sind es gewohnt, das, was wir über philosophisches und wissenschaftliches Wissen denken, in der Sprache des griechischen Wissens zu denken. Unser Begriff des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens und unser Begriff der philosophischen und wissenschaftlichen Rationalität haben eine griechische Geschichte. Damit holt uns aber – und eben darin steckt nicht nur anspruchsvolle Verwirrung, sondern ein ernstzunehmendes Problem des Begreifens – das griechische Denken nicht nur historisch ein – als historisches Bewußtsein, das sich epochisiert –, sondern auch systematisch: auch die Form unseres Wissens und Fragens ist durch jene Rationalität bestimmt, deren Anfang wir mit dem griechischen Denken beschreiben. Eine Folge davon ist, daß wir uns nicht ‚außerhalb‘ (der Form) des griechischen Denkens denken können, und das heißt auch: daß wir dessen Anfang nicht ‚von außen‘, in der Rolle des unbeteiligten Beobachters, sondern nur ‚von innen‘, als Teil seines Wirkungszusammenhanges, denken können. Methodologisch (und erkenntnistheoretisch) formuliert: Unsere Rekonstruktionen des griechischen Anfangs des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens und der sich in diesem Denken verwirklichenden Rationalität sind unvermeidbar durch (begriffliche) Orientierungen bestimmt, die wir dem zu Rekonstruierenden selbst entnehmen. Das muß nicht zirkulär und der Methode nach nicht historistisch sein. Im Kern kommt es vielmehr darauf an, zu begreifen, daß in der (Geschichte der) griechischen Philosophie und Wissenschaft ein wesentliches Stück unseres philosophischen und wissenschaftlichen Selbstverständnisses beschlossen liegt. Denn wenn es richtig ist, daß uns im Rahmen der hier gestellten Fragen das griechische
gen von der Annahme ausgeht, daß die Griechen alles erfunden haben“ (E. Kapp, Der Ursprung der Logik bei den Griechen, Göttingen 1965, 7). In Sachen Philosophie und Wissenschaft stehen hier die Philosophen auf der Seite der klassischen Philologen.
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Griechische Anfänge des wissenschaftlichen Denkens
Denken historisch und systematisch einholt, unsere Form des Denkens durch die griechische Form des Denkens festgelegt ist, dann erforschen wir uns selbst, wenn wir das griechische Denken erforschen.2 Und dies nicht nur, insofern wir Philosophie und Wissenschaft treiben, sondern insofern wir überhaupt die Bemühung um rationale Orientierungen zum wesentlichen Begriff des Menschen nehmen. In diesem Sinne sind wir, als Angehörige einer rationalen Kultur, auch heute noch griechisch, und in diesem Sinne gibt es zum griechischen Denken und dem durch dieses Denken in die Welt gekommenen Vernunft- bzw. Rationalitätsbegriff keine Alternative. In der Sprache der griechischen Philosophie formuliert: der Anfang ist das Wesen – der griechische Anfang des philosophischen und wissenschaftlichen Denkens und seines Vernunft- bzw. Rationalitätsbegriffs ist sein Wesen.
1.2 Der griechische Kosmos der Wissenschaft Läßt man Probleme des Anfangs für einen Augenblick noch dort, wo sie nach Meinung des wissenschaftlichen Bewußtseins gut aufgehoben sind, nämlich bei den für Subtilitäten zuständigen Philosophen, und blickt man auf die üblichen Darstellungen der Wissenschaftsgeschichte, so gehören zu den bedeutendsten, Anfänge markierenden Leistungen griechischer Wissenschaft die folgenden. In der Arithmetik erste zahlentheoretische Sätze sowie die symmetrische Auflösung linearer Gleichungen mit mehreren Unbekannten (Thymanidas von Paros); quadratische Gleichungen werden in geometrischer Form gelöst (Methode der Flächenanlegung). Bei dem späthellenistischen Mathematiker Diophant treten Lösungen mit Hilfe algebraischer Umformungen auf (Lösungsmethoden für lineare und quadratische Gleichungen sowie für einen trivialen Fall einer kubischen Gleichung). In der Geometrie, dem mathematischen Kernfach der Griechen, sind vor allem die Entdeckung inkommensurabler Streckenverhältnisse (Hippasos von Metapont) und die Lösung des Problems der Inkommensurabilität im Rahmen einer geometrischen Proportionenlehre und einer Theorie des mathematischen Kontinuums (Eudoxos) hervorzuheben. Hinzu treten die Begründung der Trigonometrie und deren Anwendung vor allem in der Astronomie (Aristarch von Samos, Hipparchos); die Archimedischen Formeln z.B. für Kugelvolumen und Kugeloberfläche und deren Beweis über die Exhaustionsmethode sowie Parabelquadraturen; schließlich eine einheitliche Theorie der Kegelschnitte bei Apollonios von Perge. Ferner die Entwicklung der sphärischen Geometrie (z.B.
2 Vgl. J. Mittelstraß, Die Modernität der Antike. Zur Aufgabe des Gymnasiums in der modernen Welt, Konstanz 1986 (Konstanzer Universitätsreden 158).
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bei K. Ptolemaios) und der projektiven Geometrie (bei Pappos von Alexandreia) sowie die Systematisierung des geometrischen Wissens in axiomatischer Form in den 13 Büchern der Euklidischen „Elemente“, die seither hinsichtlich ihrer Struktur das Paradigma eines geordneten Aufbaus wissenschaftlicher Theorien und einer begründeten Darstellung wissenschaftlichen Wissens bilden. Methodisch basiert der griechische Primat der Geometrie gegenüber der Arithmetik bzw. die methodische Rückführung der Lösung von Gleichungen auf geometrische Konstruktionen darauf, daß jedes (ganzzahlige) Zahlenverhältnis einem geometrischen Streckenverhältnis entspricht und die Umkehrung nicht gilt (nicht jedes Streckenverhältnis läßt sich arithmetisch darstellen, Arithmetik definiert als Theorie der ganzen Zahlen). Die dabei vorgenommene Beschränkung der Konstruktionsmittel auf Zirkel und Lineal (zur Unterscheidung geometrischer Idealität von den Bewegungsphänomenen der Physik) ergibt die klassischen Probleme der Würfelverdoppelung (Delisches Problem), der Winkeldreiteilung und der Quadratur des Kreises. Deren Lösung über kinematische Näherungsverfahren führt wiederum zur Entdeckung neuer Kurven (Quadratrix, spirale Conchoide, Kegelschnitte usw.). In der Astronomie werden die Planetenbewegungen – im Rahmen der Eudoxischen und der Ptolemaiischen Astronomie – zum ersten Mal nicht mehr nur, wie in der babylonischen Astronomie, in protokollierten Beobachtungen, sondern in qualitativen kinematischen Modellen erfaßt. In diesen Modellen sind die Planetenbewegungen (einschließlich der vermeintlichen Sonnenbewegung) geometrisch auf Kurvenbewegungen um die als ruhend oder um ihre Achse rotierend gedachte Erde zurückgeführt. So erfolgen im Eudoxischen homozentrischen System alle planetarischen Bewegungen mit gleichförmiger Winkelgeschwindigkeit auf Kreisbahnen, deren Achsen durch das Erdzentrum gehen. Das System weist 27 konzentrische Sphären auf, wobei die äußerste die Fixsternsphäre ist und je 3 Sphären die Sonnen- und die Mondbewegung, je 4 Sphären die Bewegungen der übrigen (damals bekannten) Planeten erklären. Durch Superposition der einzelnen sphärischen Bewegungen (d.h., die Rotationsachse der nächstäußeren Sphäre bewegt sich jeweils mit der vorigen Sphäre mit) erfolgt eine Erklärung der Planetenanomalien. Das Ptolemaiische System stellt dann ein um exzentrische und epizyklische Bewegungen sowie Bewegungen um fiktive Ausgleichspunkte erweitertes Eudoxisches System dar. In sachlichem Zusammenhang mit der astronomischen Theoriebildung stehen Ansätze zu einer (monokausalen) physikalischen Erklärung der Entstehung der Welt und ihrer Ordnung sowie deren Einbettung in kosmologische Konzeptionen. Nach zunächst noch recht archaisch anmutenden Vorstellungen der so genannten ionischen Naturphilosophie – als Beispiele seien genannt: die Vorstellung einer wasserumschlossenen Scheibenwelt unter einer Himmelshalbkugel
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bei Thales von Milet, die einer Zylinderwelt im Mittelpunkt des Universums, verbunden mit der Deutung des Kosmos als einer Rechtsgemeinschaft der Dinge, bei Anaximander – erfolgt bei Aristoteles die Festlegung der die weitere Entwicklung bestimmenden physikalischen Elemente: (1) Der Aufbau einer Elemententheorie und einer Theorie natürlicher Örter (der Elemente), die kosmologisch ein geozentrisches System zur Folge hat bzw. die geozentrischen astronomischen Modelle physikalisch begründet.3 (2) Die Annahme, daß jede Orts- und Geschwindigkeitsänderung die Existenz einer wirkenden Kraft voraussetzt, womit in kosmologischen Zusammenhängen die Annahme eines ‚unbewegten Bewegers‘4 erforderlich wird. (3) Die Teilung des Kosmos in einen sublunaren Teil (‚Welt unter dem Mond‘), der in einer terrestrischen Physik ‚natürlicher‘ und ‚erzwungener‘ Bewegungen erfaßt wird, und einen supralunaren Teil unveränderlicher Sphärenharmonie (‚Welt über dem Mond‘), dessen Darstellung Gegenstand der Astronomie ist. (4) Die Annahme undurchdringbar fester Äthersphären. Die Aristotelische Physik hat damit kosmologisch die Unterscheidung zwischen einer ‚mathematischen‘ (nämlich kinematischen, d.h. kräftefreien) und einer ‚physikalischen‘ (nämlich dynamischen) Astronomie zur Folge. Nach dem Aristoteleskommentator Simplikios ist es Aufgabe der physikalischen Astronomie, das Wesen des Himmels und der Gestirne zu erforschen – wozu die Aristotelische Physik bis in die beginnende Neuzeit hinein eine konkurrenzlose Voraussetzung bot –, Aufgabe der mathematischen Astronomie, zu beweisen, daß die supralunare Welt wirklich ein Kosmos, d.h. ein nach geometrischen Gesichtspunkten geordnetes System, ist5 – was durchaus auf der Basis unterschiedlicher, darunter auch heliozentrischer Annahmen, wie bei Aristarch von Samos, geschehen konnte. Im Gegensatz zur Aristotelischen Physik ist die griechische Mechanik eine Theorie (der Wirkungsweise) zusammengesetzter Werkzeuge. Als ‚mechanische Kunst‘ (mhxanikÎ twxnh) ist Mechanik im griechischen Sinne keine Theorie (der Wirkungsweise) natürlicher Körper, sondern eine Theorie von Artefakten, dazu entworfen, das zu leisten, was die Natur gerade nicht leistet, z.B. das Heben von Lasten. In Aristotelischer Terminologie hat es Mechanik damit im Gegensatz zur
3 Vgl. die detaillierte Rekonstruktion unterschiedlicher Aristotelischer Ansätze bei G. A. Seeck, Über die Elemente in der Kosmologie des Aristoteles. Untersuchungen zu ‚De generatione et corruptione‘ und ‚De caelo‘, München 1964 (Zetemata. Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft 34). 4 Phys. U6.258b10–260a19; Met. L7.1072a19–1073a13. 5 Vgl. Simpl. In Arist. phys. 290ff.. Nach Poseidonios, den Simplikios hier zustimmend referiert, ist es nicht die Aufgabe der Astronomen, gemeint ist eine mathematische Astronomie, zu erforschen, „was seiner Natur nach ruhend und wie beschaffen das Bewegte ist“ (Simpl. In Arist. phys. 292, 23–31).
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(Aristotelischen) Physik nicht mit ‚natürlichen‘, sondern mit ‚naturwidrigen‘ Bewegungen zu tun; ihre Anwendung im Naturzusammenhang (z.B. in Form von Bewässerungsmaschinen) erklärt nicht Natur, sondern Menschenwerk. Beispiele einer wissenschaftlichen Befassung mit Mechanik sind z.B. die Herstellung mechanischer Geräte zur Lösung geometrischer Probleme, die über die Konstruktionsmittel von Zirkel und Lineal hinausgehen (Archytas von Tarent), die Bestimmung des Schwerpunktes und der Wirkungsweise einfacher Maschinen wie Hebel, Rad und Flaschenzug (Archimedes) und Ansätze zu einer Mechanik des Kontinuums (Heron von Alexandreia). Die griechische Statik gewinnt im Rahmen der Archimedischen Statik den Rang einer mathematischen Theorie. Ihre wesentlichen Teile sind die Formulierung des Hebelgesetzes und Arbeiten zu Problemen der Berechnung von Flächeninhalten bzw. Volumina krummliniger Figuren sowie zur Hydrostatik unter Anwendung von Exhaustionsmethoden (d.h. der Berechnung geometrischer Größen durch Approximation von Kurven wie Kegelschnitten etc.). Vergleichbares gilt von der griechischen Entwicklung der Optik. Hervorgehoben sei hier die Bestimmung von Brechungswinkeln und die Formulierung von Gesetzen der ebenen und sphärischen Spiegel (Archimedes), die Formulierung des Satzes von der Gleichheit des Einfalls- und Reflexionswinkels sowie die Konstruktion von Vexierspiegeln und Spiegelkombinationen (Heron von Alexandreia), ferner die erste lehrbuchmäßige Darstellung der Optik bei Ptolemaios. Schließlich darf die Begründung nicht-mathematischer Disziplinen wie Medizin, Botanik, Zoologie und Geographie nicht unerwähnt bleiben, desgleichen nicht die Begründung der (formalen) Logik in Form der Aristotelischen Syllogistik. Kaum eine wissenschaftliche Disziplin also, deren Anfänge nicht im griechischen Denken lägen. Dabei wird nicht etwa nur der Kosmos des (zukünftigen) Wissens ausgemessen, sondern dieses Wissen in Teilen schon soweit ausgearbeitet, daß es über Jahrhunderte, zum Teil bis in die Neuzeit hinein, nahezu unverändert bleiben konnte. Dies gilt z.B. für die Euklidische Geometrie, die Aristotelische Physik, die Ptolemaiische Astronomie und die Archimedische Statik. Das wiederum lag nicht etwa daran, daß schlichte Einfallslosigkeit die post-griechischen Zeitalter gehindert hätte, über das griechische Denken hinauszugehen, sondern an dem besonderen Charakter theoretisch begründeter und theoretisch so auch erfaßter systematischer Abgeschlossenheit dieses Wissens. So sind etwa weder die Euklidische Geometrie, noch die Archimedische Statik, noch die Aristotelische Physik in ihren konzeptionellen Grenzen in einem wesentlichen Maße ergänzungs- oder korrekturbedürftig. Zugleich bilden die wissenschaftlichen Leistungen der Griechen eine wesentliche Voraussetzung für spätere Entwicklungen, selbst die der neuzeitlichen Physik: „Man kann die Leistung Newtons nicht richtig einschätzen und verstehen, ohne die antike Wissenschaft heranzuziehen.
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Newton schuf nicht aus dem Nichts. Ohne das umfassende Werk des Ptolemaios, das die antike Astronomie vollendete, wäre Keplers Astronomia Nova und damit auch Newtons Mechanik undenkbar. Ohne die ‚Kegelschnitte‘ des Apollonius, die Newton durch und durch kannte, wäre seine Herleitung des Gravitationsgesetzes unmöglich gewesen. Auch seine Integralrechnung ist nur zu verstehen, wenn man sie als Fortführung der Flächen- und Rauminhaltsbestimmungen des Archimedes betrachtet. Die Geschichte der Mechanik als exakte Wissenschaft hebt mit den Schwerpunktbestimmungen des Archimedes und mit seiner Herleitung des Hebelgesetzes und des Auftriebgesetzes für schwimmende Körper an. Kurz, alle Entwicklungslinien, die sich bei Newton vereinigen – die der Mathematik, der Mechanik und der Astronomie –, fangen in Griechenland an.“6
1.3 Thaletische Rationalität Der knappe Überblick über bedeutende wissenschaftliche Leistungen des griechischen Geistes dokumentiert Umfang und Gewicht dieser Leistungen. Dokumentiert er aber, im Sinne unserer Ausgangsüberlegungen, auch den Anfang des wissenschaftlichen Denkens und der in diesem Denken eingeschlossenen philosophischen und wissenschaftlichen Rationalität? Allein sicher noch nicht. Dazu bedarf es vielmehr zusätzlicher Klärungsbemühungen, die nicht nur die Inhalte, sondern vor allem die Form des griechischen Denkens betreffen – im Sinne der zuvor formulierten Behauptung, daß die Form unseres Wissens und Fragens noch immer durch jene Rationalität bestimmt sei, deren Anfang wir mit dem griechischen Denken beschreiben. Dabei kommt es darauf an, systematische Einsichten sowohl gegen den (naiven) Mythos geschichtsloser Anfänge als auch gegen den (reflektierten) Mythos vom Gleichmacher Geschichte darzustellen und zu beurteilen. Im Falle des Mythos geschichtsloser Anfänge (‚absoluter‘ Anfänge) wird der Umstand übersehen, daß auch Wissenschaft Teil der historischen Praxis des Menschen ist und sich insofern nicht außerhalb von Entwicklungen stellen kann. Im Falle des Mythos vom Gleichmacher Geschichte (Auflösung aller Anfänge in einem Kontinuum Geschichte) wird übersehen, daß systematisches Wissen nicht etwa deswegen schon von der Geltung einer Behauptung über Entwicklungen abhängig ist. Im günstigsten Falle handelt es sich bei historischen Prozessen um Stufen einer vernünftigen Entwicklung. Die hier vertretene Behauptung lautet, daß eine solche Entwicklung mit dem griechischen Denken einsetzt und daß dieses zugleich den
6 B. L. van der Waerden, Erwachende Wissenschaft, Basel/Stuttgart 21966, 14–15.
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Anfang der wissenschaftlichen Rationalität bedeutet – einer Rationalität, die in der weiteren Entwicklung wiederum das eigentliche Paradigma des Rationalitätsbegriffs rationaler Kulturen bildet.7 Worin besteht die besondere Form griechischer Wissenschaft, die eine derartige Behauptung rechtfertigen könnte? Sie besteht in deren Theorieform, d.h. in der Formulierung allgemeiner (‚theoretischer‘) Sätze und dem Beweis dieser Sätze in bestimmten Konstruktions- und axiomatisch wie deduktiv geordneten Zusammenhängen. Diese Theorieform ist in der vorgriechischen Entwicklung der Wissensbildung, speziell in der vorgriechischen Astronomie und Mathematik in Ägypten, Babylonien und Indien, unbekannt. So begnügte man sich in der Astronomie mit einer tabellarischen Dokumentation von Beobachtungsdaten, in der Mathematik mit einer (in spätbabylonischen Texten auch systematisch geordneten) Zusammenstellung von Aufgaben sowie von praktischen Lösungsregeln und Lösungsverfahren in Rezeptform. Dabei kannten die Babylonier bereits Lösungen quadratischer Gleichungen; auch kubische Gleichungen treten auf. Ferner wurde faktisch bereits nach dem so genannten Pythagoreischen Lehrsatz gerechnet; doch wurde dieser Lehrsatz niemals unabhängig von konkreten vorgegebenen Aufgaben und ihren Lösungsanweisungen als ein ‚allgemeiner‘ Satz über Hypotenusenquadrat und Kathetenquadrate formuliert. Entsprechend gab es auch keine mathematische Argumentation, einschließlich mathematischer Beweise, im engeren Sinne: „Der allgemeine Satz mit Wahrheitsanspruch (lfigo« $pofantikfi« im aristotelischen Sinne) und Beweis ($pfideiji«) ebenso wie das dialektische Argument sind erst griechisch.“8 Die ersten allgemeinen (‚theoretischen‘) Sätze mit Wahrheitsanspruch und die ersten bewiesenen Sätze, von denen wir wissen, sind die Sätze der Thaletischen Geometrie. Es handelt sich dabei um die folgenden elementargeometrischen Sätze: (1) der Kreis wird durch jeden seiner Durchmesser halbiert9, (2) die Scheitelwinkel sich schneidender Geraden sind gleich10, (3) die Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck sind gleich11, (4) zwei Dreiecke, die in einer Seite und den anliegenden Winkeln übereinstimmen, stimmen in allen Stücken über-
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Vgl. dazu und zum Folgenden auch J. Mittelstraß, Griechische Bausteine der neuzeitlichen Rationalität, in: W. Schuller (Ed.), Antike in der Moderne, Konstanz 1985 (Xenia. Konstanzer althistorische Vorträge und Forschungen 15), 195–209 (in diesem Band 275–290). O. Becker, Das mathematische Denken der Antike, Göttingen 21966, 11. Procli Diadochi in Primum Euclidis elementorum librum commentarii, ed. G. Friedlein, Leipzig 1873, 157,10–13. Procl. in Eucl. 299,1–5 Friedlein (Eudem Fr. 135, ed. F. Wehrli, Die Schule des Aristoteles VIII, Basel 1955). Procl. in Eucl. 250,20–251,2 Friedlein.
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ein12, (5) der Peripheriewinkel im Halbkreis ist ein rechter13. Das Besondere an diesen Sätzen ist, daß sie allgemein von gewissen Eigenschaften von Figuren gelten; sie sind ‚Sätze über Winkel‘ und ‚Sätze über Verhältnisse im Kreis‘. Diese Sätze stehen methodisch gesehen an der Stelle von Konstruktionsanweisungen zur Lösung individueller Aufgaben in der vorgriechischen Mathematik, und zwar als Sätze über alle möglichen, d.h. konstruierbaren, geometrischen Figuren, nicht über individuelle, konkrete Figuren, die als Realisierungen der Konstruktionsidee jener ‚theoretischen‘ Sätze stets nur unzureichende ‚Abbildungen‘ sind.14 Dem liegt die Einsicht zugrunde, daß bei der Lösung spezieller geometrischer Aufgaben nur relevante Eigenschaften von geometrischen Figuren betrachtet werden müssen, Eigenschaften, die unabhängig von ihren individuellen ‚Trägern‘, z.B. in den Sand oder an die Tafel gezeichneten Figuren, also, wenn man so will, mit den Augen des Geistes betrachtet werden. Diese Eigenschaften werden in den theoretischen Sätzen der Thaletischen Elementargeometrie formuliert. Die Entdeckung der Möglichkeit derartiger Sätze könnte dabei wiederum aus einer Reflexion auf das Funktionieren jener Lösungsrezepte und Konstruktionsanweisungen der vor-griechischen Geometrie hervorgegangen sein. Das ist allerdings nur eine Vermutung. Zeugnisse für den Weg, den das griechische Denken von der vorgriechischen Mathematik zur Thaletischen Geometrie gegangen ist, gibt es nicht. Auch ohne derartige Zeugnisse, d.h. Auskünfte über den faktischen Gang dieser Entwicklung, aber darf als sicher gelten, daß mit der Thaletischen Geometrie zum ersten Mal die Möglichkeit theoretischer Sätze entdeckt wurde. Diese Sätze bilden zugleich ein wesentliches Element des griechischen Theoria-Begriffs, dem die Idee einer wissenschaftlichen Theorie bis heute verbunden bleibt. Auch das zweite, bereits genannte Formelement griechischer Wissenschaft verknüpft sich methodisch gesehen mit der Thaletischen Geometrie. Von Thales wird berichtet, daß er seine Sätze bewiesen habe.15 Auch die Beweismethode ist bekannt: Sie beruht in einem so genannten ‚Klappbeweis‘, dem Aufeinanderlegen von Figuren, dokumentiert etwa in dem als 7. Axiom bei Euklid formulierten Kongruenzaxiom (‚was einander deckt, ist einander gleich‘16). Gemeint sind einfache Symmetriebetrachtungen, z.B. an Hand der so genannten Thaletischen
12 Procl. in Eucl. 352,14–18 Friedlein (Eudem Fr. 134 Wehrli). 13 Diog. Laert. I, 24–25. 14 Zur detaillierten Analyse und historischen Rekonstruktion der Thaletischen Geometrie vgl. J. Mittelstraß, Die Entdeckung der Möglichkeit von Wissenschaft, Archive for History of Exact Sciences 2 (1962–1966), 410–435, ferner in: J. Mittelstraß, Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt 1974, 29–55, 209–221. 15 Procl. in Eucl. 157,10–11 Friedlein, zu Satz (1). 16 Opera omnia, I–IX, ed. J. L. Heiberg/H. Menge, Leipzig 1883–1916, I, 10.
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Grundfigur, eines Rechtecks mit Diagonalen und umschriebenem Kreis, die deutlich machen, daß gewisse Homogenitätsforderungen am Objekt erfüllt sind. Ein solcher Beweis ist weder empirisch in einem trivialen, wiederum an babylonische Verfahren erinnernden Sinne noch axiomatisch nach dem Muster der Euklidischen Geometrie, d.h., er setzt noch keinen geordneten Zusammenhang von Sätzen voraus. Wichtiger als diese Eigentümlichkeit, in deren Rahmen sich die Thaletische Geometrie als ein Stück logikfreier Elementargeometrie darstellt, ist unter den hier leitenden Gesichtspunkten der Umstand, daß auch die Beweisidee eine für den griechischen Theoria-Begriff konstitutive Entdeckung ist. Diese Entdeckung hängt offenbar systematisch mit der Entdeckung der Möglichkeit theoretischer Sätze zusammen: Beweise sollen ‚zeigen‘, etwa durch die Erzeugung von Evidenzen an empirischen Figuren, wovon in diesen Sätzen die Rede ist. Sie bilden damit – im Rahmen der Thaletischen Geometrie in Form von beweisenden Symmetriebetrachtungen, später, im Rahmen der Euklidischen Geometrie, in Form axiomatisch geordneter Satzzusammenhänge – eine systematisch einleuchtende Ergänzung der mit der Formulierung theoretischer Sätze entdeckten neuen Form wissenschaftlichen Denkens. Mit anderen Worten, in der Thaletischen Geometrie tritt die Wissensbildung mit der Entdeckung der Möglichkeit theoretischer Sätze und der Entdeckung der Möglichkeit des Beweisens unter ihre das wissenschaftliche Denken seither charakterisierende Theorieform. Damit ist – ohne den genannten alternativen Mythen geschichtsloser (‚absoluter‘) Anfänge und anfangsloser Entwicklungen (in einem Kontinuum Geschichte) zu verfallen – tatsächlich für das rationale Denken ein methodischer Anfang kenntlich gemacht. Dieser Anfang betrifft nicht nur die Geometrie im engeren Sinne, sondern alle Formen theoretischen Wissens, darunter auch dessen philosophische Formen. Denn auch das in der Platonischen und Aristotelischen Philosophie als Kriterium einer philosophischen Wissensbildung genannte ‚Denken des Allgemeinen‘ stellt nichts anderes als die hier beschriebene Möglichkeit der Theoriebildung dar. Zugleich wird, vor allem in der Wissenschaftstheorie der Aristotelischen „Zweiten Analytiken“, die Theorieidee des griechischen Denkens philosophisch weiter ausgearbeitet. Die eigentümliche Abstraktheit dieser Ausarbeitung und des ihr folgenden wissenschaftlichen Denkens erweist sich dabei in allen Teilen der Wissensbildung, auch in ihren eher spekulativen philosophischen Teilen, als eine Konsequenz der griechischen Theorieidee bzw. der paradigmatischen Theorieform des griechischen Wissens. Es gehört dabei zu der besonderen Reflektiertheit der griechischen Theorieidee, daß ihr sogleich ein realistisches Bild philosophischer und wissenschaftlicher Wissensbildung an die Seite gestellt wird. Dieses Bild mißt die Distanz zur alltäglichen Praxis und gibt sich (bei Platon) bewußt als Karikatur: Thales, der,
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den Blick forschend den Sternen zugewandt, in einen Brunnen fällt und von einer einfachen thrakischen Magd, im Namen des gesunden, mit beiden Beinen fest auf der Erde stehenden Menschenverstandes, ausgelacht wird17, Philosophen und Wissenschaftler, die nicht einmal ‚den Weg zum Markt‘ kennen und ‚Feste mit Flötenspielerinnen‘ nicht einmal im Traum besuchen18. Philosophen und Wissenschaftler also als dürftige Zeitgenossen und, angeführt von Thales, als solche, die ‚aus Unerfahrenheit in Gruben und allerlei Verlegenheit‘ fallen19. Platon hat allerdings auch Tröstliches parat: Der aufrechte Gang des Philosophen führt zwar häufig in ‚Gruben‘ und ‚Verlegenheiten‘, aber er führt unter der ‚sterblichen Natur‘ auch zur ‚Verähnlichung mit Gott‘20. Daran sollte man allerdings keine falschen Hoffnungen knüpfen. Schließlich bleiben auch den Göttern der Griechen, wenn man ihren Erzählern Glauben schenken darf, thaletische Mißgeschicke ‚unter der sterblichen Natur‘ nicht erspart, was sie wiederum uns, den Unähnlichen, so ähnlich macht. Die Theorieform des Wissens, die wir den Griechen verdanken und die seither das wissenschaftliche Denken und seine Rationalität, jedenfalls unter Darstellungsaspekten, definiert, bleibt die Form eines ‚menschlichen‘ Wissens. In Platonischer und Aristotelischer Terminologie formuliert: sie bleibt ‚philosophisch‘ – Philosophie dabei verstanden als eine subjektive Bemühung um transsubjektive (oder objektive) Orientierungen in einer gemeinsamen, Thales und die thrakische Magd wieder einschließenden Welt.
1.4 Wissenschaftliche Rationalität als Konstruktion oder: Platonische Theoria Für das griechische Denken sind Philosophie und Wissenschaft Ausdruck ein und derselben Rationalität. Das bedeutet unter anderem, daß auch in der philosophischen Reflexion, die wir heute, vielleicht allzu voreilig, von der Arbeit der Wissenschaften zu trennen pflegen, wissenschaftliche Probleme eine wesentliche Rolle spielen. Dabei folgt häufig die philosophische Theoriebildung unmittelbar der fachwissenschaftlichen. Das gilt z.B. in wesentlichen Aspekten selbst von einer so spekulativ anmutenden Theoriebildung wie der Platonischen Ideenlehre. Diese Konzeption wird in geometrischen Zusammenhängen entwickelt, die ihrerseits
17 18 19 20
Theait. 174a. Theait. 173d. Theait. 174c. Theait. 176a/b.
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noch einmal den Thaletischen Ursprung der griechischen Geometrie vor Augen führen. Aufschlußreich ist hier vor allem die berühmte Mathematikerkritik Platons am Ende des 6. Buches im „Staat“. Es heißt dort, daß die Mathematiker „das Gerade und das Ungerade, die Figuren und die drei Sorten von Winkeln“ voraussetzen, „als ob sie dies schon wüßten“, und daß sie „es nicht für nötig halten, sich selbst oder anderen darüber Rechenschaft zu geben“. Vielmehr täten sie so, „als sei dies schon jedermann klar“, und gingen sogleich von diesen Voraussetzungen aus zur Durchführung (nämlich der Beweise) über, „bis sie schließlich dorthin gelangen, auf dessen Untersuchung sie es abgesehen hatten.“21 Für den modernen Leser sieht es so aus, als mache Platon die Mathematiker auf ihre Begründungspflicht gewissen (ersten) Sätzen gegenüber aufmerksam. Explizit ist von Époùwsei« die Rede22, worunter Platon an anderen Stellen, darunter auch in mathematischen Zusammenhängen, durchaus im modernen Sinne Hypothesen, also Sätze in der Funktion von Annahmen, versteht. Nur macht ein solches Verständnis hier erhebliche Schwierigkeiten: (1) Weil als Beispiel für Époùwsei« nicht Sätze, sondern ‚das Gerade und Ungerade, die Figuren und die drei Sorten von Winkeln‘ genannt werden, (2) weil die Aufforderung, Rechenschaft zu geben (lfigon didfinai), im Sinne späterer Bemerkungen in unserem Zusammenhang verstanden werden muß als die Beantwortung der Frage ‚was (etwas) ist‘ und nicht ‚warum (etwas) ist.‘ So heißt es, daß die Geometrie „zwar träumt von dem Seienden (tÌ òn), ordentlich wachend es aber nicht wirklich zu erkennen vermag, solange sie, Annahmen voraussetzend, diese unbeweglich läßt, indem sie davon keine Rechenschaft geben kann“23. Der Logos, der hier verlangt wird, ist die ‚Erklärung des Wesens‘ (lfigo« tá« o\s›a«) eines Gegenstandes, nicht die Begründung von Sätzen. Also handelt es sich an unserer Stelle auch nicht um Unklarheiten über Sätze, sondern, wie die Beispiele zeigen, um Unklarheiten über Gegenstände, genauer um Unklarheiten der arithmetischen und geometrischen Rede über Gegenstände wie ‚das Gerade und Ungerade‘, Kreis und Winkel etc..24 Da die Gegenstände der Geometrie keine empirischen Gegenstände,
21 Pol. 510c/d. Zum Folgenden J. Mittelstraß, Die geometrischen Wurzeln der Platonischen Ideenlehre, Gymnasium 92 (1985), 399–418 (in diesem Band 72–89), ferner ders., Die Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen (Buch VI 510b–511e und Buch VII 521c–539d), in: O. Höffe (Ed.), Platon, Politeia, Berlin 1997 (Klassiker Auslegen VII), 229–249, bes. 236–243 (in diesem Band 125–144, bes. 132–139). 22 Pol. 510c6. 23 Pol. 533b/c. 24 Dies ist vor allem von W. Wieland im Rahmen seiner detaillierten Analyse des Platonischen Wissensbegriffs herausgearbeitet worden (Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982, 209).
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in den Sand oder auf eine Tafel gezeichnete Figuren sind, stellt sich z.B. die Frage: Wenn der Satz, daß zwei Dreiecke, die in einer Seite und den anliegenden Winkeln übereinstimmen, in allen Stücken übereinstimmen, wahr ist, von welchen Dreiecken ist er dann wahr? Platon macht hier auf Unklarheiten aufmerksam, die sich eindeutig der Theorieform der Thaletischen Geometrie verdanken. Und diese Unklarheiten sind für ihn deswegen gravierend, weil die Theoriebildung der Geometrie, wie die der Arithmetik, Astronomie und Musik (gemeint ist rationale Harmonienlehre), im Rahmen der pädagogischen Konzeption des „Staates“ eine besondere Rolle spielt: die Beschäftigung mit diesen Mathemata soll die Vernunft auf den Weg bringen. Da im Sinne des griechischen Theoria-Begriffs in Theorien alle Abhängigkeiten als beherrscht gelten, bilden Theorien wie die geometrische das Paradigma des Übergangs von einer abhängigen zu einer unabhängigen Praxis, in Platons Worten: das Paradigma des Übergangs von der Welt des ‚Werdens‘ zur Welt der ‚Wahrheit‘ und des ‚Seins‘.25 Platons Antwort auf die Frage, wovon denn die theoretischen Sätze und die Beweise der Geometrie handeln, lautet: von Ideen. Die Platonische Ausarbeitung des Ideenbegriffs, orientiert an der geometrischen Theorieform, stellt entsprechend in diesem Zusammenhang nichts anderes dar als die Bemühung, den Begriff des theoretischen Satzes um den Begriff des theoretischen Gegenstandes zu ergänzen. Dabei wird, insofern diese Ergänzung speziell an Hand der geometrischen Theoriebildung erfolgt, zum ersten Mal in einem methodisch faßbaren Sinne auf die Idealität theoretischer Gegenstände, auf die sich die Rede von relevanten Eigenschaften geometrischer Figuren bezieht, abgehoben. Gleich im Anschluß an die referierte Kritik an der mathematischen Theoriebildung heißt es gegenüber dem bereitwillig zustimmenden Dialogpartner Glaukon: „Nicht wahr, das weißt du, daß sie [die Mathematiker] sich der sinnlich-sichtbaren Dinge bedienen und ihre Demonstrationen auf jene beziehen, während doch nicht auf diese als solche [als sinnlich-sichtbare Dinge] ihre Gedanken zielen, sondern nur auf das, wovon jene sinnlich-sichtbaren Dinge nur Schattenbilder sind. Nur des Vierecks an sich, nur der Diagonale an sich wegen machen sie ihre Demonstrationen.“26 Wenig später wird die Geometrie als das ‚Wissen des immer Seienden‘27 bezeichnet. Im 7. Brief ist es wiederum die Idee des Kreises, die als Beispiel für die Explikation eines stufenförmigen Ganges der Erkenntnis dient.28
25 26 27 28
Pol. 525c5–6; vgl. Pol. 521c/d. Pol. 510d5–8. Pol. 527b7–8. Epist. 342aff.
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Terminologisch ist hier ferner von Belang, daß dem Begriff des theoretischen Gegenstandes der Begriff der Noesis zugeordnet ist; mit ihr, nicht mit den Augen, betrachtet bzw. erkennt der Verstand29, ihr erschließt sich die ‚Natur der Zahlen‘30. ‚Noesis‘ (nfihsi«) bei Platon bedeutet im terminologischen Sinne nicht wissen, daß etwas der Fall ist, bezieht sich also nicht auf die Wahrheit oder Falschheit von Sätzen, sondern das Wissen (oder die Erkenntnis) von etwas, und zwar im Sinne einer nicht-sinnlichen Wahrnehmung. Die Geometrie und die anderen (exakten) Mathemata stellen ein solches Wissen dar; auf dieses beziehen sich ihre theoretischen Sätze und Beweise. Es gibt bei Platon im Hinblick auf die Ideenlehre also ein klares Verständnisproblem – das Problem der Rede von theoretischen Gegenständen – und eine klare Antwort, auch wenn diese Antwort nicht in jeder Weise systematisch erschöpfend ist. Dagegen spricht schon die mangelnde Abgrenzung gegenüber naiven Existenzbehauptungen, auf die Aristoteles hinweist. Dessen Vorschlag, die geometrischen Gegenstände als mögliche, wenn auch niemals vollkommen realisierte Formen wirklicher Gegenstände zu betrachten, ist andererseits problemlos mit Platons Ideenkonzeption, die den nicht-empirischen Charakter dieser Gegenstände unterstreicht, verträglich. Und noch etwas, das im Blick auf die Theorieform des Wissens wesentlich ist: In der Platonischen Analyse der geometrischen Theoriebildung verbindet sich der Begriff des theoretischen Gegenstandes methodisch mit dem Begriff der Konstruktion. Dieser Begriff dient zunächst dazu, die geometrischen Gegenstände und die Wissensbildung von diesen Gegenständen gegenüber anderen Gegenständen und Wissensformen abzugrenzen. Einschlägig ist hier das Liniengleichnis im „Staat“31, d.h. das Bild einer Linie, in deren unterem Teil die Sphäre der empirischen Gegenstände (Erscheinungen), unterteilt in die Sphären der konkreten Dinge und deren Bilder, in deren oberem Teil die Sphäre der theoretischen Gegenstände (Ideen), unterteilt in die Sphären der mathematischen Ideen und der nicht-mathematischen Ideen, aufgetragen ist. Die Sphären stehen zudem in einem festen Verhältnis zueinander. So verhält sich die Sphäre der Erscheinungen zur Sphäre der Ideen wie die Sphäre der Bilder zur Sphäre der konkreten Dinge und die Sphäre der mathematischen Ideen zur Sphäre der nicht-mathematischen Ideen. Der Grund für diese Proportionen ist unklar, klar hingegen der Versuch, in einer Hierarchisierung aller Gegenstände, der eine Hierarchisierung der zugeordneten Erkenntnisweisen des (bloßen) Meinens und (sicheren) Wissens entspricht, die mathematischen
29 Pol. 529b2–3. 30 Pol. 525c2–3. 31 Pol. 509d-511e.
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Ideen im Bereich der theoretischen Gegenstände den übrigen Ideen nachzuordnen. Möglicherweise liegt der Grund für diese Nachordnung der mathematischen Ideen eben im Begriff der Konstruktion und seinen sachlichen Implikationen: Mathematische Konstruktionen (und dies gilt eben nicht nur von der Geometrie, sondern auch von der Arithmetik) sind Konstruktionen von Objekten in der Anschauung, d.h., im Bilde der Linie und in der Terminologie Kants gesprochen, die Mathematik bildet ihr Wissen in der reinen Anschauung (d.s. Verfahren der Konstruktion mathematischer Gegenstände) und in der empirischen Anschauung (d.s. empirische Aktualisierungen mathematischer Konstruktionen). Dagegen ist die Stellung des nicht-mathematischen Denkens bzw. der nicht-mathematischen Ideen nach Platon genau dadurch ausgezeichnet, diesen Bedingungen nicht zu unterliegen. So problematisch dieses Kriterium in sachlicher Hinsicht auch sein mag, die Fundierung der Mathematik im Konstruktionsbegriff, die explizit später von Kant vorgenommen werden wird32, ist bereits ein wesentliches Element der Platonischen Begründung der griechischen Theorieform. Das geht auch aus dem Umstand hervor, daß nach Platon die Theoriebildung der mathematischen Wissenschaften selbst die Form von Konstruktionen besitzt. Beispiel hierfür ist neben der Mathematik insbesondere die Astronomie in ihrem zuvor skizzierten griechischen Aufbau. In Form von qualitativen kinematischen Modellen sind astronomische Systeme zur Erklärung der Planetenbewegungen nichts anderes als geometrische Konstruktionen. Wenn Platon im „Staat“ und im „Timaios“ planetarische Bewegungsformen beschreibt, dann hat er selbst derartige Modelle unmittelbar vor Augen – im 10. Buch des „Staates“ das Modell einer Spindel, deren Wirteln (acht ineinandergepaßte Kugelschalen) die Planetenbahnen darstellen33, im „Timaios“ ein Bändermodell mit konzentrisch angeordneten beweglichen Ringen zur Darstellung der Haupthimmelskreise astronomischer Koordinatensysteme (Horizont, Ekliptik, Äquator)34. Das Bändermodell ist dabei dem Spindelmodell insofern überlegen, als in ihm die Schiefe der Ekliptik dargestellt werden kann. Die Ränder der Kugelschalen im aufgeschnittenen Wirtelmodell erscheinen ‚von oben‘ betrachtet hingegen als Kreise, die auf einer Ebene liegen. Es ist dann eine Konsequenz der Platonischen Ideenlehre, daß die Gegenstände der Astronomie, d.h. die Planeten und ihre Bahnbewegungen, im Rahmen derartiger Modelle selbst als Konstruktionen aufgefaßt werden. Im „Staat“ empfiehlt Platon entsprechend eine ‚Astronomie des Unsichtbaren‘ (Glaukon, der un-
32 Vgl. Kritik der reinen Vernunft B 741ff.. 33 Pol. 616aff.. 34 Tim. 34bff..
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willkürlich, als die Rede auf die Astronomie kommt, den Blick zum Himmel hebt, wird gescholten35), in den „Nomoi“, d.h., nachdem Platon die Eudoxische Astronomie kennengelernt hatte, wird die Welt im Sinne der dann von Aristoteles weiter ausgearbeiteten Konzeption in zwei Teile zerlegt, in einen sublunaren, bei Platon noch theorieunzugänglichen Teil und in einen durch sichtbar gewordene ideale Verhältnisse gekennzeichneten supralunaren Teil.36 Auch das Erklärungsprinzip der griechischen Astronomie – s”zein t@ fainfimena (‚die Rettung der Phänomene‘) – wird Platon zugeschrieben, stammt aber wohl eher von Eudoxos selbst.37 Es besagt, daß die ‚Phänomene‘, d.h. die Bahnbewegungen der Planeten, erklärt (‚gerettet‘) sind, wenn eine Rückführung der augenscheinlichen Unregelmäßigkeiten dieser Bewegungen auf kreisförmige Bewegungen mit gleichförmiger Winkelgeschwindigkeit gelingt.38 Gleichförmigkeit (d.h. gleichförmige Winkelgeschwindigkeit) und Kreisförmigkeit bilden hier die beiden Prinzipien einer sich gegenüber der empirisch orientierten vor-griechischen Astronomie in Form qualitativer kinematischer Systeme darstellenden griechischen Astronomie. Qualitativ sind diese Systeme bzw. entsprechende Modelle, weil sie für die Kreisform der Bewegungen keine Angaben über die Größe der entsprechenden Radien enthalten, und weil mit Ausnahme etwa der Unterscheidung von täglicher und jährlicher Rotation keine Geschwindigkeiten angegeben werden. Das wird erst bei Hipparch anders, bei dem charakteristischerweise wieder babylonischer Einfluß erkennbar ist und der zugleich über die für quantitative Betrachtungsweisen in der Astronomie unentbehrliche Trigonometrie verfügt.39 Wichtiger als theoretische Einzelheiten ist bei all dem der Umstand, daß in der Platonischen Philosophie die zuerst in der Thaletischen Geometrie entwikkelte Theorieform einen normativen Charakter gewinnt. Nicht nur in der Astronomie, sondern auch in der Optik und in der Statik bestimmt diese Theorieform die
35 Pol. 529a/b. 36 Vgl. Nom. 889aff.. Dazu J. Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips, Berlin 1962, 130–139. 37 Dazu J. Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene, 149ff.. Das Erklärungsprinzip bzw. das mit ihm verbundene Forschungsprogramm wird von Simplikios in seinem Kommentar zu „De caelo“ fälschlich Platon zugeschrieben, gestützt auf Informationen aus Eudems Astronomiegeschichte, die über Sosigenes, den Lehrer von Alexander von Aphrodisias, zu Simplikios gelangten (In Arist. de caelo 488,16–24). 38 Simpl. In Arist. phys. 292,17–18. 39 Hipparch (Theon von Smyrna, Expositio rerum mathematicarum ad legendum Platonem utilium, ed. E. Hiller, Leipzig 1878, 166, 188) ist es auch, der, wie Apollonios von Perge (Ptolemaios, Synt. XII, 1 [Opera omnia II, ed. J. L. Heiberg, Leipzig 1903, 450, 456]), exzentrische und epizyklische Bewegungen einführt, die dann Ptolemaios mit der zusätzlichen Annahme von Ausgleichspunkten kombiniert.
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wissenschaftliche Forschung. Sie weist diese (ganz im Platonischen Sinne) als mathematische Konstruktion aus. In der Optik führte dies etwa zu einer Beschränkung auf die perspektivischen Formen des Sehens und deren deduktive Begründung aus gewissen Postulaten nach dem Vorbild der Euklidischen „Elemente“. Gleiches gilt für die Archimedische Statik. Deren geometrischer Charakter ist darin dokumentiert, daß Archimedes die Axiome und Postulate der Euklidischen Geometrie einfach um sieben weitere Sätze ergänzt. Aus diesem erweiterten Euklidischen Satzbestand werden dann die Sätze der Archimedischen Statik abgeleitet. Empirische Bedingungen können dabei außer Betracht bleiben. Das theoretische Vorgehen besteht darin, von geometrischen Gleichgewichtsbetrachtungen auf physikalisches Gleichgewicht zu schließen. Dabei wird lediglich die Homogenität des Körpers, d.h. seine konstante Dichte, vorausgesetzt. Sieht man hier einmal von dem Problem ab, daß sich die Homogenität von Körpern hinsichtlich ihrer schweren Massen eigentlich nur mit Hilfe des Hebelsatzes bestimmen läßt, den man dann, zur Vermeidung eines Zirkels, unabhängig von der Forderung nach Homogenität schon gewonnen haben müßte, besitzt die Archimedische Statik die Besonderheit, daß in ihrem Rahmen Experimente überflüssig sind. Was experimentell prüfbar wäre, ist die tatsächliche Homogenität betrachteter Körper, d.h. aber nur: die Voraussetzung, unter der Sätze der Statik über Körper formuliert werden. Daß homogene Körper sich so verhalten, wie es die Sätze seiner Statik ausdrücken, weiß Archimedes a priori, d.h. ohne Rekurs auf Empirie. Als erweiterte Euklidische Geometrie erfüllen damit Optik und Statik ebenso wie die Astronomie in ihrer griechischen Entwicklung die Platonische Vorstellung von der Theorieform des wissenschaftlichen Wissens in paradigmatischer Weise. Die Platonische Theoria – das ist ihrer systematischen Konzeption nach nicht Spekulation oder Meditation, sondern Wissenschaft (mit den genannten Disziplinen auch Naturwissenschaft) in den Grenzen konstruktiver, und in diesem Sinne nicht-empirischer Wissensbildung. Zugleich liegt in der Platonischen Identifikation dieser Wissensform mit dem Begriff der wissenschaftlichen Rationalität das griechische Konstruktionsmodell der Rationalität begründet.
1.5 Wissenschaftliche Rationalität als Rekonstruktion oder: Aristotelische Empeiria Das Konstruktionsmodell der wissenschaftlichen Rationalität, ausgedrückt durch die Platonische Theorieform des Wissens, ist schon innerhalb der griechischen Entwicklung nicht konkurrenzlos geblieben. Ihm steht die Aristotelische Ausarbeitung eines Erfahrungsbegriffs gegenüber, in dessen Rahmen die Wissensbildung in Wissenschaftsform als theoretische Ausarbeitung eines ‚vor-theo-
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retischen‘, nämlich unmittelbar erfahrungsbezogenen Wissens verstanden wird. Erfahrung (ãmpeir›a) – das ist nach Aristoteles als ein ‚Wissen des Besonderen‘ die lebensweltlich erworbene Fähigkeit sicherer Orientierung, das Vertrautsein mit elementaren Sachzusammenhängen und das Beherrschen von Unterscheidungen, die unmittelbar aus der Praxis des Unterscheidens hervorgehen.40 Erfahrung in diesem Sinne führt daher auch nicht auf induktive, sondern auf exemplarische, sich auf Beispiele und Gegenbeispiele ‚in der Anschauung‘ stützende Weise zu einem elementaren Wissen, auf das – nunmehr als eine ‚Wahrnehmung des Allgemeinen‘ charakterisiert – auch theoretisches Wissen bezogen bleibt. Der methodische Charakter dieses Bezugs kommt bei Aristoteles in einem Postulat zum Ausdruck. Danach soll auch für abstrakte Gegenstände (etwa die Gegenstände der Mathematik) und für theoretische Satzzusammenhänge (etwa die Propositionen der Physik) schrittweise ein Konstitutionszusammenhang gebildet werden, der stets auf konkrete Unterscheidungen (‚in der Sinnlichkeit‘, wie Kant sagen würde) gegründet ist. Von der Existenz eines solchen Konstitutionszusammmenhanges soll der wissenschaftliche Wert einer Aussage methodisch abhängen. Mit anderen Worten: Nach Aristoteles sind alle zentralen Begriffe und Sätze auch des wissenschaftlichen Wissens erfahrungsabhängig in der Weise, daß sie als Generalisierungen partikularer Erfahrungen, in der Regel Wahrnehmungsurteilen, aufgefaßt werden können. Als Beispiel mag die Aristotelische Physik bzw. Kosmologie dienen. Ob man hier an das Aristotelische Fallgesetz denkt, wonach die Fallgeschwindigkeit eines Körpers proportional seinem Gewicht und umgekehrt proportional der Dichte des Mediums ist, oder an den Aristotelischen ‚Trägheitssatz‘, wonach alles Bewegte von einem anderen bewegt wird, oder an die Aristotelische Elemententheorie, nach der z.B. ‚unten‘ heißt, wo die Füße stehen, und ‚oben‘, wo der Kopf ist – in allen Fällen entspricht dem das Erfahrungswissen des Alltags, auch wenn der argumentative Zusammenhang zwischen Sätzen der Theorie und dem Wahrnehmungsurteil des Einzelnen, der ‚Erfahrung‘, die der Einzelne ‚macht‘, oft wesentlich komplizierter ist. Entscheidend ist, daß hier über ein methodisches Postulat ein genetischer Zusammenhang zwischen Sätzen der Theorie und der alltäglichen Erfahrung hergestellt wird, der deren Übereinstimmung auf eine analytische Weise sichert und zugleich alle Sätze als nicht-wissenschaftliche Sätze ausschließen läßt, für die eine derartige Übereinstimmung in endlich vielen, auf konkrete Unterscheidungen zurückgehenden Schritten nicht nachweisbar ist. Der Aristotelische Begriff der Erfahrung spielt damit in der wissenschaftlichen Wissensbildung sowohl eine konstitutive als auch eine wissenschaftskritische
40 Met. A1.980b28ff.; an. post. B19.100a3ff..
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Rolle. Da er direkt auf der Explikation eines ‚natürlichen‘, nämlich vor-theoretischen Wissens aufgebaut ist, handelt es sich dabei um den Begriff einer phänomenalen Erfahrung – im Gegensatz zum neuzeitlichen Begriff einer instrumentalen Erfahrung, in dessen Rahmen, etwa in der neuzeitlichen Physik, Erfahrungen nicht gegeben sind, sondern experimentell allererst methodisch erzeugt werden. Und eben dieser Umstand, die Existenz unterschiedlicher Erfahrungsbegriffe und deren methodischer Einsatz, ist es denn auch, der den eigentlichen Unterschied zwischen der Aristotelischen und der neuzeitlichen Physik ausmacht, nicht etwa der Umstand, daß die Aristotelische Physik keine empirische Physik wäre. Die Aristotelische Physik ist in der Tat ebenso wie die neuzeitliche Physik empirisch, nur eben auf eine andere Weise. Ihr Kontrollbegriff ist nicht die experimentelle oder instrumentale, sondern die phänomenale Erfahrung. Und im Gegensatz etwa zum Galileischen Satz über die Fallbewegung ‚lehrt‘ die phänomenale Erfahrung, daß Körper unterschiedlichen Gewichts – archaische Beispiele sind noch immer Stein und Feder – nicht mit gleicher Geschwindigkeit fallen; im Gegensatz zum Galileischen Satz über die Trägheitsbewegung ‚lehrt‘ die phänomenale Erfahrung, daß bewegte Körper, auf die keine bewegenden Kräfte mehr einwirken, zur Ruhe kommen. Die entsprechenden Aristotelischen Sätze sind denn auch nicht einfach falsch, sie gehören nur einem anderen begrifflichen und konzeptionellen Rahmen an als etwa die Sätze der Galileischen Physik. Daß diese eine Naturbeherrschung ermöglichen, während jene sich mit einer Naturbeschreibung zufriedengeben, ist dann die wesentliche Differenz, die die post-Galileische Wissenschaft daran hindert, noch oder wieder Aristotelische Physik zu treiben. Wichtig im Unterschied zur Konstruktionsidee der Platonischen Theorieform, in deren Rahmen auch die Gegenstände des wissenschaftlichen Wissens Konstruktionen ‚im Geiste der Geometrie‘ sind, ist nun, daß nach Aristoteles das ‚Wissen des Besonderen‘ in der vor-theoretischen Erfahrung bereits ein begriffliches, d.h. ein in stabilen Unterscheidungen begründetes Wissen ist. Der Aristotelischen Konzeption nach gilt das auch für die Gegenstände der Wissensbildung selbst, d.h. für die (konkreten) Phänomene. Aristoteles bezieht sich in diesem Zusammenhang unmittelbar auf das auch in der Platonischen Analyse eine besondere Rolle spielende astronomische Beispiel: „Was die Angabe und Bereitstellung der Prinzipien der Wissenschaften betrifft, so ist das Sache der Erfahrung. Die Prinzipien der Astronomie hat z.B. die astronomische Erfahrung anzugeben. Denn nach adäquater Feststellung der Phänomene sind auf Grund derselben die astronomischen Beweise gefunden worden. Ebenso verhält es sich mit jeder anderen Kunst und Wissenschaft.“41 Nicht Konstruktionen also, wie bei Platon, son-
41 An. pr. A30.46a17–22.
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dern die Feststellung bzw. Bestimmung der Phänomene (tiùwnai t@ fainfimena) steht nach Aristoteles am Anfang der Wissensbildung in Wissenschaftsform. Die ‚Phänomene‘ (fainfimena) wiederum sind nicht einfach empirische Daten (etwa im Sinne der Erkenntnistheorie des neuzeitlichen Empirismus), sondern, in Aristotelischer Terminologie, öndoja, d.h. übliche Vorstellungen von einem Gegenstand, und legfimena, d.h. etwas begrifflich Strukturiertes und sprachlich stets schon Vergegenwärtigtes. Das heißt, nach Aristoteles besitzt die Welt der Phänomene bereits eine begriffliche Struktur.42 Deren Explikation erfolgt im Aristotelischen Erfahrungsbegriff. Das läßt sich auch durch einen Seitenblick auf den Aristotelischen Naturbegriff weiter verdeutlichen. Dieser Begriff bezieht sich nicht auf einen ‚Naturzusammenhang im ganzen‘, sondern auf das einzelne natürliche Ding. Physik im Aristotelischen Sinne ist nicht Theorie der Natur, sondern Theorie des natürlichen Dinges, definiert als eines Gegenstandes, der ein Prinzip der Bewegung in sich selbst hat.43 Seine Intelligibilität ist wiederum durch die selbst teleologisch und kausal strukturierte Erfahrung gesichert. Verständlich wird damit auch die für das griechische Denken insgesamt gesehen sachliche Verbindung des Begriffs der Natur (f÷si«) mit dem Begriff des Wesens (o\s›a): Ein als erfahrungsbestimmt ausgewiesenes Wissen von den Dingen der Natur wird als ein Wissen von der Natur der Dinge definiert – im griechischen Physisbegriff ist diese dialektische Nuance, auf der Aristoteles seine phänomenale Physik aufbaut, von Anfang an angelegt. Deshalb kennt die Aristotelische Physik im übrigen auch keine Atome. An ihrer Stelle stehen die so genannten minima naturalia, d.h. kleinste Teile eines Stoffes, die dessen Teilbarkeit unter Wahrung der jeweiligen substantiellen Form eine natürliche Grenze setzen.44 Aristoteles hat seiner Auffassung von der Erfahrungsform des wissenschaftlichen Wissens im ersten Buch der „Metaphysik“ einen großartigen erkenntnistheoretischen Ausdruck verliehen. Zugleich hat er in den „Zweiten Analytiken“ die Theorieform dieses Wissens in einer hinsichtlich der weiteren wissenschaftlichen Entwicklung paradigmatischen wissenschaftstheoretischen Normierung
42 Vgl. G. E. L. Owen, tiùwnai t@ fainfimena, in: Aristote et les problèmes de méthode, Paris 1961, 83–103. 43 Vgl. W. Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 21970, 231–254. Zur Geschichte des Aristotelischen Naturbegriffs J. Mittelstraß, Das Wirken der Natur. Materialien zur Geschichte des Naturbegriffs, in: F. Rapp (Ed.), Naturverständnis und Naturbeherrschung. Philosophiegeschichtliche Entwicklung und gegenwärtiger Kontext, München 1981, 36–69. 44 Phys. A4.187b13ff., Z10.241a32-b3.
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(nämlich durch Festlegung auf einen axiomatisch-deduktiven Aufbau) beschrieben. Ein methodischer Gegensatz zwischen beiden Wissensformen bzw. beiden Ansätzen, dem erkenntnistheoretischen und dem wissenschaftstheoretischen, besteht dabei nicht. Während nämlich die wissenschaftstheoretische Normierung die Darstellung des Wissens in Theorieform betrifft, erfassen die erkenntnistheoretischen Analysen die Wissensbildung im Aspekt der Forschung.45 Die Erfahrungsform des Wissens ergibt sich dabei, wie schon erwähnt, auf der Grundlage eines Unterscheidungswissens, von Aristoteles als (Unterschiede ‚klarmachendes‘) Wahrnehmungswissen und als Erinnerungswissen beschrieben. Das hat auch hier nichts mit induktiver Empirie im Sinne der neuzeitlichen Methodologie empirischer Wissenschaften zu tun, sondern betrifft die Wissensbildung in Formen eines Lern- und insofern Bildungsprozesses. Entsprechend ist der berühmte Einleitungssatz der „Metaphysik“ – „alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“46 – weder empirisch (etwa als Resultat einer Fragebogenaktion), noch definitorisch (im Sinne einer ‚abstrakten‘ Bestimmung des Menschen). Er bringt vielmehr, wie die folgenden Analysen zeigen, formelhaft zum Ausdruck, daß sich der Mensch immer schon in Wissensbildungsprozessen erkennt, und diese Prozesse, schließlich unsere (wahrnehmungsbezogenen) Erfahrungen, weiter reichen, als unsere besonderen intentionalen Akte reichen. Anders ausgedrückt: Wir lernen, schon in einfachen Orientierungshandlungen, stets mehr (mehr Unterscheidungen), als wir faktisch zu bestimmten Zwecken benötigen. Auch die ‚Liebe zu den Sinneswahrnehmungen‘47, die Aristoteles als Beleg für seinen Einleitungssatz anführt, beruht in der ‚Überschüssigkeit‘ des über die Sinnlichkeit, speziell den Gesichtssinn, vermittelten Unterscheidungswissens – wir ‚sehen‘ stets mehr, als wir ‚sehen wollen‘, und deshalb treffen wir auch stets mehr Unterscheidungen als erforderlich. Die Erfahrungsform des Wissens besteht dann in der Überführung konkreter (sinnlicher) Unterscheidungen in ein begriffliches (allgemeines) Wissen, auf der Ebene der Gegenstände gesprochen: in der Explikation der begrifflichen Struktur der Phänomene. Damit wird von Aristoteles dem Platonischen Konstruktionsmodell der (wissenschaftlichen) Rationalität ein Rekonstruktionsmodell gegenübergestellt. Wissensbildungsprozesse werden im Begriff der Rekonstruktion von Erfahrungs-
45 Zu dieser Unterscheidung K. Lorenz, The Concept of Science. Some Remarks on the Methodological Issue ‚Construction‘ versus ‚Description‘ in the Philosophy of Science, in: P. Bieri u.a. (Eds.), Transcendental Arguments and Science, Dordrecht 1979, 177–190, ferner in: K. Lorenz, Logic, Language and Method. On Polarities in Human Experience, Berlin/New York 2010, 109–123. 46 Met. A1.980a21. 47 Met. A1.980a22.
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strukturen beschrieben. Das bedeutet einerseits eine Relativierung der Platonischen Identifikation wissenschaftlicher Rationalität mit der Theorieform wissenschaftlichen Wissens, andererseits aber auch eine Ergänzung des Platonischen Modells durch die Unterscheidung zwischen der Theorieform und der Erfahrungsform des Wissens. Wissenschaftliche Rationalität schließt nach Aristoteles beide Formen ein.
1.6 Die Einheit von Theorie und Erfahrung Es sind die Ergänzung des Platonischen Konstruktionsmodells der (wissenschaftlichen) Rationalität durch das Aristotelische Rekonstruktionsmodell und die Unterscheidung zwischen der Theorieform und der Erfahrungsform des Wissens, die dem griechischen Denken endgültig jenes methodische Profil verleihen, das seither den Begriff wissenschaftlicher (wie auch philosophischer) Rationalität bestimmt. Wissenschaftstheoretisch betrachtet handelt es sich in der Aristotelischen Einheit von Erfahrungsform und Theorieform des Wissens um die wissenschaftliche Einheit von Forschung und Darstellung. Forschung, das ist nach den im griechischen Denken getroffenen Unterscheidungen die Feststellung und Bestimmung der Gegenstände, d.h. ihre Konstitution, und zwar sowohl in der Weise der ‚Entdeckung‘ (Åstor›a) als auch in der Weise der begrifflichen Rekonstruktion (ãmpeir›a). Die Aristotelische Formel dafür lautet: ‚Feststellung‘ der Phänomene (tiùwnai t@ fainfimena). Entsprechend werden die Gegenstände (fainfimena) im Modus der Entdeckung als prˇgmata bzw. (sofern wahrnehmungsbezogen) als aåsùhtˇ bestimmt, die Gegenstände im Modus der Konstruktion als ònta bzw. (in Aristotelischer Terminologie) als öndoja oder legfimena. Unter Darstellung wiederum ist das erklärende Reden über Gegenstände und die Geltungssicherung gegenstandsbezogener Aussagen zu verstehen. Die griechische Formel dafür lautet: ‚Rettung‘ der Phänomene (s”zein t@ fainfimena). Hier handelt es sich nicht um die Konstitution von Gegenständen, sondern um Konstruktionen, die beschreiben, wie die als fainfimena konstituierten Gegenstände sind. Im Aspekt der Forschung erweist sich Wissenschaft damit als Erfahrungsrationalität, im Aspekt der Darstellung als Theorierationalität. In griechischer Terminologie: Empeiria und Theoria bilden die beiden ‚Stämme‘ des wissenschaftlichen Wissens und seiner Rationalität, formuliert in einem Forschungsprinzip (tiùwnai t@ fainfimena) und in einem Darstellungs- bzw. Erklärungsprinzip (s”zein t@ fainfimena). Die Frage nach dem griechischen Anfang des wissenschaftlichen Denkens ist damit durch eine Rekonstruktion der besonderen Erfahrungs- und Theorieform dieses Denkens beantwortet. Zusammen mit den zu Beginn vorgestellten materialen Theoriebildungen konstituiert sich im griechischen Denken die wissenschaft-
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liche Rationalität im Doppelaspekt von Forschung (Empeiria) und Darstellung (Theoria). Sofern eben dieser Doppelaspekt aber unverändert auch unseren Begriff der wissenschaftlichen Rationalität ausmacht, ist nunmehr klar, was es heißt, daß wir uns selbst erforschen, wenn wir das griechische Denken erforschen, und daß der Anfang des wissenschaftlichen Denkens und seiner Rationalitätsidee sein Wesen ist. Daß dies nicht immer klar ist und in der Geschichte der europäischen Rationalität nicht immer klar war, gehört dann wieder zu den besonderen Umständen unserer Geschichte – und zu einer eigentümlichen Paradoxie der Rationalität überhaupt. Rationalität ist niemals einfach da – klar wie ein junger Morgen oder klar wie die sinnliche Evidenz –, sie bedarf vielmehr stets zusätzlicher ‚hermeneutischer‘ Bemühungen, die zeigen, was Rationalität, auch wissenschaftliche Rationalität, wirklich ist. Diese Bemühungen aber konstituieren nichts anderes als die Philosophie. Auch das können wir aus der griechischen Geschichte unserer Rationalität lernen.
Die Einheit von Theorie und Erfahrung
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2. Die Kosmologie der Griechen 2.1 Mythische Eier Wir leben heute in einem wissenschaftlichen Weltbild, ohne Wenn und Aber. Wer wissen will, wie die Welt beschaffen ist, fragt, wenn er nicht von allen guten Geistern verlassen ist, nicht Gurus, die sich auf der Rückseite dieses Weltbildes zu drängeln beginnen, oder Seherinnen, die auch heute noch ihr gutes Auskommen haben. Er fragt vielmehr die Zunft der Naturwissenschaftler und diejenigen, die deren Welt durch soziale und philosophische Konstruktionen der Wirklichkeit – ‚philosophisch‘ hier im weitesten, das Erkenntnisinteresse aller Geisteswissenschaften einschließenden Sinne – ergänzen und erweitern. Dieses Weltbild ist, wie wir heute ebenfalls wissen, nicht in allen Hinsichten komfortabel und problemlos, doch immer noch das beste, das wir haben, solange wir auf Rationalität und nicht auf deren Widersacher setzen. Auch hat dieses Weltbild Platz für viele kleine private Weltbilder; es füllt den Kopf und hält die Seele für andere Dinge frei – im wiederum rationalen Vertrauen darauf, daß die Uhren der wissenschaftlichen Welt richtig gehen. Auch die Lebenswelt, die inmitten und am Rande der wissenschaftlichen Welt ihre eigene Wirklichkeit und ihre eigene Selbständigkeit bewahrt, weiß eben, daß die Trinkwassergewinnung aus verdreckten Flüssen keine Hexerei und ein Blitzableiter etwas ungemein Praktisches, auch dem Blitzeschleuderer Zeus Standhaltendes ist. Wer heute das wissenschaftliche Weltbild verlassen will, muß weit gehen – nach Außen oder nach Innen. Was selbstverständlich ist, wie das wissenschaftliche Weltbild, war es in der Regel nicht immer. Meist ist das Selbstverständliche aus dem Unverständlichen entstanden, durch dessen Verständlichmachen. Auch das Selbstverständliche hat eine Geschichte und einen Anfang, im Werden des Menschen und im Werden seiner Welt. So auch im Falle des wissenschaftlichen Weltbildes selbst. Mit dem griechischen Denken schreiben wir den Anfang dieses Weltbildes als Anfang der (wissenschaftlichen) Kosmologie. Warum erst mit dem griechischen Denken? Gab es vorher keine Vorstellungen von der Welt, in der wir leben? Kein Ausmessen dieser Welt in der Erfahrung, in der Phantasie, in dem, was rationale Kulturen hochmütig den Aberglauben nennen? Gewiß gab es derartige Vorstellungen, vor allem in Form kosmologischer Mythen, in denen die Welt das Resultat der Zerstörung eines Urwesens ist. Hübsche, wenn auch manchmal nicht gerade besonders friedliche Beispiele sind die Entstehung von Himmel und Erde aus der Teilung eines Welteies in der altindischen Kosmogonie, aus einem anderen Ei, das Thot als Ibis auf einem Urhügel inmitten der Urflut legte, im ägyptischen Mythos, aus dem Zerfall des Urwesens
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Die Kosmologie der Griechen
Panku in der chinesischen Kosmologie, der Spaltung Tiamats durch den Gott Marduk im babylonischen Mythos, des urzeitlichen Riesen Ymir in der germanischen Kosmogonie. Meist waren Größere zugange als wir, als es um die Entstehung und Ordnung der Welt ging. Kosmische Dimensionen verlangen – das leuchtet schließlich jedem ein – von denjenigen, die da tätig werden, selbst ein kosmisches Format. Kosmogonie ist nichts für Zwerge, auch wenn diese dann häufig für die Welt, die da entsteht, charakteristisch bleiben. Nicht anders im Falle des biblischen Mythos von der Erschaffung der Welt. Auch hier schafft ein Gott, dessen Geist über dem Wasser schwebt, der seine Sache allerdings wesentlich friedlicher als in den meisten der zuvor genannten Mythen tut – und intelligenter, nämlich durch das Wort. Außerdem ist die ‚erste‘ Welt hier ein Garten, kein Schlachtfeld mit gespaltenen Kriegern oder dem Kampf von Tag und Nacht, der Elemente und irgendwelcher subalterner Götter. Und die Griechen? Ging es bei diesen anders zu, so daß wir sagen könnten, hier beginne unser wissenschaftliches Weltbild? Zunächst keineswegs. Die alten Kosmogonien im antiken Griechenland sind Theogonien. Wer wissen will, wie die Welt beschaffen ist, wird in endlose Familienstreitigkeiten unter Göttern hineingezogen. Da ist Homer mit dem genealogischen Anfang von Okeanos, Uranos, Kronos und Zeus, Hesiod mit seinen Urwesen Chaos, Gaia und Eros, später den Titanen, unter denen Kronos mit der Entmannung seines Vaters, offenbar einer besonders bemerkenswerten kosmogonischen Tat, viele andere überragt. Da ist ein Fragment des Musaios, das alles aus Tartaros und Nyx (der Nacht) werden läßt, und in der orphischen Dichtung wiederum die Nacht, die sich mit dem Winde vermählt und ein silbernes Ei legt, aus dem Eros schlüpft. Daß Eros in vielen dieser Mythen eine bedeutende Rolle spielt, versöhnt zweifellos mit den sonst wenig angenehmen kosmogonischen Umweltbedingungen und macht alles ungemein lebensweltlicher, nicht jedoch wissenschaftlicher. Was also bedeutet die Rede von einem wissenschaftlichen Anfang der Kosmologie bei den Griechen? Sie bedeutet, daß die Geschichte bisher unvollständig erzählt wurde. Es fehlt der Hinweis auf den aus unserer Sicht schließlich erfolgreichen Versuch, in der physischen Welt mit kausalen Erklärungen Fuß zu fassen, und es fehlt, damit zusammenhängend, das, was vor allem die Philosophen unter den Wissenschaftlern den Anfang der Vernunft nennen. Nun ist so, vom Anfang der Vernunft, zu reden, nicht weniger geheimnisvoll als die mythische Rede vom Anfang der Welt. Allerdings ist hier nicht von Eiern die Rede, aus denen Himmel und Erde und Eros schlüpfen, sondern vom Werden einer Rationalität, die auch noch die unsere ist. Deren Paradigma aber ist die wissenschaftliche Rationalität, der erst sehr viel später, nämlich in der Neuzeit, selbst, wie den mythischen Eiern, eine Teilung bevorstehen wird: die Teilung in eine wissenschaftliche und eine philosophische Rationalität. Wenn wir in den Texten nicht der mythischen Dichter, sondern der
Thales-Welten
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Vorsokratiker und der Athener Klassik (mit Platon und Aristoteles) lesen, dann lesen wir die Entdeckung dieser (noch ungeteilten) Rationalität, zu der auch die kosmologische gehört. Nun birgt auch die Rede von Entdeckung, bezogen auf den Anfang der Rationalität (oder der Vernunft) erhebliche Schwierigkeiten. Schließlich werden die Dinge nicht so einfach gewesen sein, daß eines Tages (vermutlich in der Nähe Milets) die Vernunft die Augen aufschlug, sich über Regenbögen, Planetenbewegungen, Magnetsteine und einiges andere wunderte und alsbald zur Erklärung dieser wunderbaren Dinge schritt. Doch soll es hier auf derartige Schwierigkeiten nicht ankommen.1 Festgestellt sei nur, daß einige Erklärungen, auf die wir bei den Griechen in bisher unbekannter Form stoßen, physikalischer Art waren. Mit ihnen beginnt die wissenschaftliche Kosmologie. Die Fakten oder: wie die Kosmologie jung war und wie sie erwachsen wurde.
2.2 Thales-Welten Der Kosmos beginnt seine wissenschaftliche Karriere in archaischer Schlichtheit. So jedenfalls aus unserer Sicht. Aus der Sicht der Zeitgenossen mag das ganz anders ausgesehen haben. Schließlich wird man auch einen Mann wie Thales nicht deswegen zu den (schon damals wenigen) Weisen gezählt haben, weil er sich auf das Einfache verstand. Trotzdem ist sein Kosmos einfach: eine wasserumschlossene Scheibenwelt unter einer Himmelshalbkugel. Bei Anaximander wird diese Scheibenwelt zu einer Zylinderwelt im Mittelpunkt einer Vollkugel, die das Universum darstellt – mit einer erstaunlichen astronomischen Komponente: im Anaximandrischen Modell drehen sich die Planeten auf festen Kreisbahnen unter der Erde durch. Man hat sich diese Bahnen wie um die Zylinderwelt im Mittelpunkt des Kosmos gelegte, poröse Fahrradschläuche vorzustellen, die eine feurige Sphäre einschließen und aus deren Löchern diese Sphäre leuchtet: die Planeten. Parmenides, der Eleate, fügt dieser Vorstellung die tägliche Rotation des sphärischen, endlichen Kosmos hinzu, Anaxagoras und Empedokles die Annahme von Zentrifugalkräften in einem kosmischen Wirbel, Philolaos die Annahme einer ‚kosmischen Homogenität‘ aller Himmelskörper einschließlich der Erde. Keine Rede mehr von gespaltenen Urwesen, Eiern und dem Bündnis von Tartaros und Nyx.
1 Das Problem und die Weise einer Entdeckung der Möglichkeit wissenschaftlicher Rationalität sind unter Rekurs auf die hier eine besondere Rolle spielende Thaletische Geometrie näher dargestellt in: J. Mittelstraß, Die Entdeckung der Möglichkeit von Wissenschaft, Archive for History of Exact Sciences 2 (1962–1966), 410–435, ferner in: J. Mittelstraß, Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt 1974, 29–55, 209–221.
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Die Kosmologie der Griechen
Der Kosmos nimmt eine diesseitige Form an. Dasselbe gilt von seinem Werden. An die Stelle der Götter treten physische Stoffe und Prinzipien wie das Thaletische Wasser, das grenzenlose Apeiron (¡peiron) Anaximanders, die Elemente des Empedokles, die allerdings bei diesem wieder sehr menschliche Leidenschaften, nämlich Liebe und Streit, in Bewegung halten. In der hier entstehenden Kosmologie sind Mensch und Welt – ein Mensch mit welthaften Orientierungen in kosmologischen Dingen und eine Welt mit menschlichen Zügen – unter sich. Nicht ganz. Der Weg ‚vom Mythos zum Logos‘, wie man den griechischen Beitrag zur europäischen Geistesgeschichte einmal genannt hat2, ist nicht mit einem Schritt getan. Eine derartige Vorstellung wäre auch zu platt, wie umgekehrt die Vorstellung, in den kosmologischen Erklärungen zumal der vorsokratischen Philosophie spiegele sich ein neues Verhältnis zum Sein, zu metaphysisch wäre. Naturphilosophie, mit der wir es hier in Form von Kosmologie zu tun haben, schließt beides ein: eine neue Richtung des Erklärens – sie ist die eigentliche Entdeckung, von der zuvor die Rede war – und die Transformation älterer, zumal mythischer Orientierungen in diese Richtung. Das kommt besonders deutlich in der Verbindung griechischer naturphilosophischer Vorstellungen mit religiösen oder (im philosophischen Sinne) theologischen Elementen zum Ausdruck.
2.3 Alles ist voller Götter Wer nach einer Formel suchen sollte, die diese Verbindung wiedergibt, stößt auf den Thales zugeschriebenen Satz ‚alles ist voller Götter‘ (pˇnta pl‹rh ueân).3 Dieser Satz gilt üblicherweise im Rahmen der Naturphilosophie als Indiz für Hylozoismus, d.h. für die Annahme, daß Leben bzw. ein Vermögen der Selbstbewegung eine Eigenschaft der Materie bzw. des Stoffes ist, aus dem die Dinge sind. Eine derartige Einordnung aber ist höchst problematisch. Sie erfolgt nämlich auf dem Hintergrund einer dualistischen Konzeption von Geist (Seele) und Materie, die zumindest der milesischen Naturphilosophie, auf die sie hier bezogen wird, ebenso unbekannt war wie die Platonische Unterscheidung zwischen Leben bzw. Seele als dem Prinzip der Selbstbewegung und Materie als dem (in einigen Fällen) durch dieses Prinzip ‚Beseelten‘.4 Hylozoismus besagt daher in diesem Falle auch nicht eine (explizite) Negation des Gegensatzes von belebter und unbelebter Ma-
2 W. Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart 21942. 3 Aristoteles, de an. A5.411a7–8; vgl. Platon, Nom. 899b8–9. 4 Vgl. Platon, Phaidr. 245eff., Nom. 896a.
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terie bzw. lebendem und unbelebtem Stoff, sondern die schlichte Nicht-Existenz eines solchen Gegensatzes. Wo dieser Unterschied, der Unterschied zwischen Negation und Nicht-Existenz, vernachlässigt wird, nimmt eine naturphilosophische Vorstellung einen theoretischen Charakter an, der ihr ursprünglich gar nicht angehört. Im Thaletischen Falle wird dies im übrigen durch die Aristotelische Verbindung der Nachricht über die ‚Beseelung‘ des Magnetsteins5 mit dem zitierten Satz von der Allgegenwart der Götter geschehen sein. Dieser Satz zeugt denn auch weder von der Vorwegnahme eines Platonischen oder Aristotelischen Begriffs der Seele, noch von irgendwelchen animistischen Vorstellungen auf einem dualistischen Hintergrund. Was er vielmehr zum Ausdruck bringt, ist ein neuartiges Vertrauen in die Wohlordnung der Welt. Diese wird hier als eine vom Göttlichen durchzogene Ordnung angesehen, auf die sich nunmehr die wachsende Vorstellung von der Verläßlichkeit des Wissens über die (physische) Welt zu stützen beginnt. Und das ist keine mythische oder im Sinne von Hylozoismus spekulative Vorstellung, sondern eben jene Vorstellung, die sich dann in der Entwicklung der griechischen Philosophie und Wissenschaft zunehmend konkretisiert. Heraklits Satz „Tretet ein, auch hier sind Götter“6 läßt sich als eine geistreiche Anspielung auf den Thaletischen Satz auffassen.7 Ist diese Deutung des Thaletischen Satzes richtig, hätten wir das Entscheidende über die beibehaltene Rolle des Göttlichen in der griechischen Naturphilosophie schon in den Blick genommen. In dieser Naturphilosophie ist das Göttliche ein innerweltliches Moment der Ordnung und der Verläßlichkeit. Oder anders ausgedrückt: in der Göttlichkeit der Welt liegt ihre eigentliche Intelligibilität. Insofern wäre aber auch der Umstand, daß etwa in der Naturphilosophie des Empedokles alle wesentlichen Prinzipien und Elemente Götternamen tragen, nichts dieser naturphilosophischen Konzeption Äußerliches, sondern Ausdruck einer Religiosität, die eine wissenschaftliche Rolle zu spielen beginnt. Ähnlich bei Anaximander und Heraklit. So werden in dem berühmten Spruch des Anaximander Werden und Vergehen als ein Rechtsprozeß dargestellt, in dem göttliches Recht zur kosmologischen Ordnung wird: „Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit: denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.“8
5 De an. A2.405a19–21. 6 Aristoteles, de part. an. A5.645a17–21. 7 Vgl. G. Patzig, Die frühgriechische Philosophie und die moderne Naturwissenschaft, Neue deutsche Hefte 7 (1960/1961), 310. 8 VS 12 B 1 (VS = H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch [Berlin 1903], I–III, ed. W. Kranz, Berlin 61951/1952).
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In diese von Dike gestiftete Rechtsgemeinschaft der Dinge werden schließlich auch die Götter selbst eingebunden – aus einer Verrechtlichung der kosmologischen Sprache, die in manchem noch an Hesiod erinnert, wird eine Kosmologisierung der theologischen Sprache. Das Göttliche geht in einer neuen, einer naturphilosophischen Ordnung der Welt auf. Nach Heraklit ist Gott „Tag Nacht, Winter Sommer, Krieg Frieden, Sattheit Hunger“9, d.h., auch hier verknüpft sich die Idee natürlicher Strukturen (unter Hervorhebung periodischer und gegensätzlicher Elemente) mit Gesichtspunkten einer göttlichen Ordnung, für deren innere Dynamik bei Heraklit wiederum das Feuer, also ein Element des Kosmischen, steht.10 Noch deutlicher Diogenes von Apollonia: die Ordnung der Welt wäre „nicht möglich ohne Denken; daß die Welt von allem Maße hat, von Winter und Sommer, Nacht und Tag, Regen und Wind und Sonnenschein. Auch das übrige kann man, wenn man nachdenken will, so geordnet finden: so schön wie nur irgend machbar“11. Die Wohlordnung der Welt verweist im griechischen Denken auf ihre innere Göttlichkeit. Dabei ist es dieselbe Semantik, die hier die Ausdrücke, die für das Göttliche stehen (tÌ ueÖon, Ç uefi«, uefi« ohne Artikel), miteinander verbindet. Diese Semantik legt weder auf einen Polytheismus noch auf einen Monotheismus fest. Die Rede von ‚dem Gott‘, die sich auch in der griechischen Naturphilosophie findet, ist nicht anders zu verstehen als die Rede von ‚dem Menschen‘.12 Daß bei Platon die Rede von Gott im Zusammenhang steht mit der Rede von einem ‚Urheber und Vater der Welt‘13, ändert daran nichts. Gemeint ist ein prädikativ bestimmbares Sein, eben das göttliche, das für die Ordnung der Welt und ihren Bestand, zumal in kosmologischer Bedeutung, steht. Entsprechend ist auch der Ausdruck ‚Theologie‘ (ueolog›a) zu verstehen. Er besagt, so bei seinem vermutlich ersten Auftreten bei Platon14, nichts anderes als das ‚Reden über Gott bzw. das Göttliche‘, Wendungen, die z.B. auch bei Xenophanes15 und Empedokles16 greifbar sind. Was sich ändert, ist das Verhältnis zur ‚Mythologie‘, zum mythischen Reden über Gott bzw. das Göttliche. Die Perspektive wechselt von der mythischen Vergewisserung zur erklärenden Naturphilosophie.
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VS 22 B 67. Vgl. VS 22 B 31, B 67. VS 64 B 3. Vgl. I. Düring, Aristoteles. Darstellung und Interpretation seines Denkens, Heidelberg 1966, 214. Tim. 28c. Pol. 379a. VS 21 B 34. VS 31 B 131.
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Zugleich wird auf dem Wege der Übertragung des Prädikats ‚göttlich‘ auf die in der Naturphilosophie herausgestellten Prinzipien der Akzent von den ‚Göttern‘ auf das ‚Göttliche‘ (ueÖon) verschoben. Was ‚alles umfaßt‘, ‚alles lenkt‘, was immer ist und war, wie das Apeiron bei Anaximander, ist, auch weil es dieselbe Funktion einnimmt, die bei den Dichtern, etwa bei Homer und Hesiod, im ‚mythischen Reden‘17 die Götter haben, selbst ‚göttlich‘, das ‚Göttliche‘. Das Apeiron, so Aristoteles, „ist das Göttliche. Denn es ist unsterblich und unvergänglich, wie Anaximander und die meisten Naturphilosophen sagen.“18 Die Vorstellung von der Göttlichkeit der Welt, d.h. einer vom Göttlichen durchzogenen und ‚gelenkten‘ Welt, ist also nicht einfach ein mythischer Rest, der sich hartnäckig in philosophischen Konzeptionen einer geordneten und intelligiblen Welt hält. Sie widerspricht auch nicht der sich im griechischen Denken entwickelnden Idee des rationalen Denkens und der rationalen Naturforschung. Diese Vorstellung bringt vielmehr eben diese Idee und die mit ihr verbundene Idee der Intelligibilität einer geordneten Welt philosophisch prägnant zum Ausdruck. Rationale Naturforschung gibt sich hierin als ein Geschenk des Himmels und der Erde zu erkennen. Eines griechischen Himmels, an dem nach gemeingriechischer Überzeugung die Götter sichtbar werden, und einer griechischen Erde, auf der die Ordnung von Werden und Vergehen ewigen und daher göttlichen Regeln folgt. Naturwissenschaft und Theologie der sichtbaren Welt sind Ausdruck ein und derselben Idee, der Idee, in der sichtbaren Welt wissenschaftlich Fuß zu fassen. Die eine, die Naturwissenschaft der sichtbaren Welt, betont die Rationalität der Forschung, die andere, die Theologie der sichtbaren Welt, die Intelligibilität ihres Gegenstandes. Insofern steht nun aber auch die griechische Idee der Naturforschung in Gegensatz zu der dann bei Augustin einsetzenden Vorstellung, daß es gerade die Entgöttlichung der Welt ist, die die eigentliche Voraussetzung für eine rationale Naturforschung bildet. Für diese Vorstellung ist es entscheidend, daß der forschende Blick in die Welt eben nicht auf Götter oder göttliche Ordnungen trifft, sondern ‚nur‘ noch auf Natur und Gesetze, unter denen Natur steht. Nicht göttliche Gesetze, sondern Naturgesetze. Deswegen ist aber auch in späteren Entwicklungen mit der Vorstellung einer entgöttlichten Welt, die nur noch in Form einer geschaffenen Welt eine Erinnerung an Göttliches mit sich führt, die Vorstellung einer Enttheologisierung der Wissenschaft verbunden. Mit beiden Vorstellungen, einer Entgöttlichung der Welt und einer Enttheologisierung der Wissenschaft, verlassen Philosophie und Wissenschaft ihren griechischen Anfang.
17 Vgl. Aristoteles, Met. B4.1000a18f.. 18 Phys. G4.203b13–15.
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Auch in dieser Perspektive aber nimmt dieser Anfang keinen mythischen Charakter an. Der Grund ist, daß die Rede vom Göttlichen und einer rationalen Naturforschung als Theologie im griechischen Denken einen anderen Sinn hat als in der mit Augustinus einsetzenden Entwicklung. Die Rationalitätsidee selbst ist davon nicht berührt. Sie betrifft im griechischen wie im späteren Denken die Aufgabe und Voraussetzung, in der sichtbaren Welt wissenschaftlich Fuß zu fassen. Allerdings geschieht dies im griechischen Denken auf eine Weise, die einer ursprünglichen Religiosität entgegenkommt: in der kosmologischen Sprache der griechischen Naturforschung ist das Göttliche selbst Teil der zu erforschenden Welt. Mehr noch: es ist auch Teil der forschenden Vernunft selbst. In den „Troerinnen“ läßt Euripides Hekabe beten: „Du, der du die Erde trägst und auf ihr ruhst, wer immer du bist, schwer zu erahnen und zu wissen, Notwendigkeit der Natur oder Geist der Menschen, ich bete dich an: auf lautlosem Wege wandelnd, führst du die Dinge der Sterblichen nach dem Recht.“19 Es ist wohl diese Einheit von Rationalität und Religiosität, die der griechischen Naturforschung und damit der griechischen Idee von Philosophie und Wissenschaft ihr eigentümliches Profil verleiht. Der Spruch des Anaximander mit seiner Verrechtlichung der kosmologischen Sprache bzw. seiner Kosmologisierung der rechtlichen und religiösen Sprache stellt in diesem Sinne nicht nur eine Episode im griechischen vernünftigen Denken dar. Sein Sinn ist auch in Hekabes Gebet präsent. Allerdings in den erläuternden Worten Walter Burkerts so, daß sich in der Tragödie „die kosmisch verwurzelte göttliche Gerechtigkeit nicht minder denn die menschliche als Illusion (erweist); auch das ‚neue‘ Gebet verhallt ins Leere“20. Wo der Blick in die Welt existentielle Züge annimmt, werden die Unterschiede zwischen griechischen und nicht-griechischen Orientierungen blaß.
2.4 Griechische Astronomie Der auch im modernen Sinne exakte Kern der griechischen Kosmologie, die in ihrem Wesen eine neue Form philosophischer und wissenschaftlicher Rationalität, in ihrer Sprache die beschriebene Einheit von Rationalität und Religiosität darstellt, ist die Astronomie. In der griechischen Astronomie werden die Planetenbewegungen zum ersten Mal nicht lediglich in protokollierten Beobachtungen, wie
19 Tro. 884–888. Zitat nach W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart etc. 1977 (Die Religionen der Menschheit 15), 470. 20 Ebd.
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dies in der babylonischen Astronomie der Fall war, sondern in qualitativen kinematischen Modellen erfaßt. In diesen Modellen werden die Planetenbewegungen (einschließlich der Sonnenbewegung) geometrisch auf Kurvenbewegungen um die als ruhend oder um ihre Achse rotierend gedachte Erde zurückgeführt. Sie stellen darin ein geozentrisches Weltsystem dar; Weltzentrum und Erdzentrum sind identisch. Von Anaximanders Schläuchen bis zu Eudoxos’ homozentrischen Sphären ist es dabei nur ein kleiner Schritt, allerdings ein exakter. In der Darstellung dieses Schrittes will ich mich hier auf wenige modellbeschreibende Bemerkungen beschränken, um im Folgenden die wissenschaftstheoretischen und philosophischen Aspekte der griechischen Kosmologie, letztere im Anschluß an die eben vorgetragenen Überlegungen zur Einheit von Rationalität und Religiosität, stärker hervorzuheben. Das Eudoxische System stellt vielleicht die bedeutendste Leistung der griechischen Astronomie dar. Mit ihm beginnt eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt im Ptolemaiischen System findet, das dann seinerseits die nach-griechische Entwicklung bis hin zu Kopernikus bestimmt. Mit Eudoxos fallen gewissermaßen die astronomischen Würfel. Was sie zeigen, bleibt der Form nach das wissenschaftliche Wesen der Astronomie. Dabei erfolgen im Eudoxischen System alle planetarischen Bewegungen mit gleicher Winkelgeschwindigkeit auf Kreisbahnen, deren Achsen durch das Erdzentrum gehen (Abb. 1). Das System weist 27 konzentrische Sphären auf, wobei die äußerste die Fixsternsphäre ist und je 3 Sphären die Sonnen- und die Mondbewegung, je 4 Sphären die Bewegungen der übrigen (damals bekannten) Planeten erklären. Die Rotationsachsen der sich gleichförmig, aber mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegenden Sphären sind verschieden orientiert. Durch Superposition der einzelnen sphärischen Bewegungen (d.h., die Rotationsachse der nächstäußeren Sphäre bewegt sich jeweils mit der vorigen Sphäre mit) erfolgt eine Erklärung der Planetenanomalien, z.B. der so genannten Hippopede der äußeren Planeten (d.h. einer Kurvenbewegung in Form einer liegenden 8). Von einem geozentrischen Weltbild spricht man nicht nur dann, wenn wie im Eudoxischen System alle Planetenbewegungen geometrisch auf Kurvenbewegungen um die als ruhend oder um ihre Achse rotierend gedachte Erde zurückgeführt werden, sondern auch dann, wenn diese Bewegungen um fiktive ‚exzentrisch‘ gelegene Punkte erfolgen. Eben dies charakterisiert die nach-Eudoxische Entwicklung der griechischen Astronomie. Eudoxos hatte die periodischen Schleifenbewegungen der Planeten durch Kombinationen gleichförmiger Kreisbewegungen erklärt, doch war es ihm noch nicht gelungen, Schwankungen der Planetenabstände sowie Geschwindigkeitsänderungen darzustellen. Aus diesem Grunde benutzen bereits Apollonios von Perge (um die Wende vom 3. zum 2. vorchristlichen Jahrhundert) und Hipparchos von Nikaia (im 2. vorchristlichen Jahr-
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Abb. 1: Das System der homozentrischen Sphären zur Erklärung der Bewegung eines Planeten P um die Erde E. Die Drehung der Sphäre 1 liefert die jährliche Planetenbewegung von W nach O, die Drehungen der Sphären 2 und 3 liefern neben den jährlichen Haltepunkten die Rückläufigkeit des Planeten sowie die Veränderung in der Breite.21
hundert) exzentrische und epizyklische Bewegungen, die Ptolemaios mit der zu21 sätzlichen Annahme von Ausgleichspunkten kombiniert (Abb. 2). Im Ptolemaiischen System bewegt sich ein Planet kreisförmig um einen fiktiven Punkt P, der seinerseits auf einem gegenüber der Erde E exzentrisch gelegenen Kreis, dem Deferenten, um die Erde läuft. Da die Beobachtungen zur Annahme einer ungleichförmigen Bewegung des Epizykelmittelpunktes P zwingen, womit das Axiom der Gleichförmigkeit dieser Bewegungen verletzt wäre, bestimmt Ptolemaios einen weiteren fiktiven Punkt A, als Ausgleichspunkt (punctum aequans) bezeichnet, auf den bezogen die Planetenbewegung gleichförmig verläuft und der insofern die Planetenbewegung wieder ‚gleichförmig macht‘. Der Ausgleichspunkt liegt auf der Apsidenlinie, der Linie zwischen Perigäum (Punkt größter Erdnähe) und Apogäum (Punkt größter Erdferne), der Erde symmetrisch in Bezug auf den Deferentenmittelpunkt D gegenüber. Die Bewegung eines Planeten läßt sich nunmehr exakt beschreiben, wenn man nicht den Ra-
21 Abbildung nach G. Wolters, Eudoxos, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie II, Stuttgart/Weimar 22005, 426–427.
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Abb. 2
diusvektor DP, sondern den Radiusvektor AP relativ zur Apsidenlinie gleichförmig rotieren läßt. Allerdings ist damit die Gleichförmigkeit der Planetenbewegung nur über die Einführung einer fiktiven Kreisbahn, eben den Kreis um A mit dem Radius AP' (circulus aequans), zurückgewonnen. Die Bewegung von P auf dem Deferenten bleibt dagegen ungleichförmig, ein Umstand, der bis hin zu Kopernikus dann der eigentliche Angelpunkt der Kritik am Ptolemaiischen System bleiben wird. Die Einführung der Epizykeln dient der Erklärung der beobachteten zeitweilig retrograden, d.h. dem üblichen Umlaufsinn entgegengesetzten, Bewegungen: In der Nähe des Perigäums sind die Umlaufgeschwindigkeiten des Planeten auf Deferent und Epizykel einander entgegengesetzt, so daß (bei entsprechender Anpassung der Umdrehungsgeschwindigkeiten) eine retrograde Bewegung auftritt. Dieses Modell erklärt zugleich, warum die scheinbare Helligkeit des Planeten gerade bei seinen Retrogressionen maximal wird: in diesem Falle ist er nämlich der Erde am nächsten (Abb. 3). Im Ptolemaiischen System ist die Bewegung aller Planeten mit der Sonnenbewegung verknüpft. Dies zeigt sich z.B. daran, daß für die (kopernikanisch ausgedrückt) äußeren Planeten der Radiusvektor P–Planet stets parallel zur Richtung der Sonne, wie sie von der Erde aus gesehen wird, ist. Daher beträgt die Umlaufzeit eines Planeten auf seinem Epizykel gerade ein Erdjahr. Dieser Befund wird innerhalb des Ptolemaiischen Systems nicht weiter erklärt. In gleicher Weise ist die Behauptung AD = DErde eine rein empirische Anpassung ohne theoretische Rechtfertigung. Die relative Größe von Deferent und Epizykel kann aus Beobachtungsdaten erschlossen werden.
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Abb. 3
Das Ptolemaiische System erlaubt, abgesehen von der Merkurbewegung (extreme Exzentrizität), eine exakte Beschreibung der Planetenbahnen, die später selbst von Keplers System nur wenig übertroffen wird. Bei kleiner Exzentrizität der Ellipse, in deren einem Brennpunkt im Keplerschen System die Sonne steht, gleicht diese ohnehin weitgehend einer exzentrischen Kreisbahn und verhält sich ihr anderer Brennpunkt nahezu wie der Ausgleichspunkt im Ptolemaiischen System. Beide Systeme sind zudem durch Koordinatentransformationen in Bezug auf Sonne und Erde ineinander überführbar. Auch bei geometrischer Äquivalenz von geozentrischer und heliozentrischer Hypothese, die bereits Hipparchos geläufig war, entsprach allerdings das geozentrische Ptolemaiische System trotz Exzentern, Epizykeln und Ausgleichspunkten der herrschenden Aristotelischen Physik in stärkerem Maße, als dies heliozentrische Hypothesen jemals konnten. Auch heliozentrische Hypothesen gab es dabei bereits in der Antike, bei Aristarch von Samos (4. und Anfang des 5. Jahrhunderts) und Seleukos von Seleukeia (um dieselbe Zeit). Als kinematische (kräftefreie) Modelle der Planetenbewegungen waren sie allerdings aus dem schon genannten Grunde geozentrischen Hypothesen unterlegen: diese gelten auch als dynamisch, nämlich durch die Aristotelische Physik, ausgezeichnet. Außerdem blieb heliozentrischen Modellen das Fehlen von Parallaxen, d.s. Richtungsänderungen der Fixsterne, unter den griechischen astronomischen Entfernungsvorstellungen unerklärbar. Erwähnt seien schließlich auch noch das Planetenmodell des Philolaos, eines Pythagoreers um die Mitte des 5. Jahrhunderts, das ein Zentralfeuer an die Stelle der Erde im geozentrischen System setzt und durch die intelligente Erfin-
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dung einer Gegenerde die Zahl der Himmelskörper auf die in pythagoreischen Kreisen so geschätzte Zehnzahl (‚Tetraktys‘) bringt, sowie heliozentrische Annahmen bei Herakleides Pontikos, einem Schüler Platons und Mitglied der älteren Akademie. Dabei wird Herakleides Pontikos wohl zu Unrecht die Begründung des so genannten ‚ägyptischen‘ Systems zugeschrieben, in dem sich die beiden inneren Planeten, Venus und Merkur, um die Sonne drehen, die sich ihrerseits wie die übrigen Planeten, der Mond und die Fixsternsphäre um die Erde dreht. Dieses System ist zwar in der Antike geläufig und stellt – was wiederum den entwickelten Charakter der antiken Astronomie vor Augen führt – eine modifizierte Vorwegnahme des so genannten Tychonischen Systems dar, wahrscheinlich wurde es jedoch erst nach 200 v. Chr., auf der Basis der Epizykelntheorie, entwikkelt. Kosmologisch vertrat Herakleides ferner, vermutlich von Demokrit beeinflußt, die Annahme einer (räumlichen) Unendlichkeit der Welt.
2.5 Rettung der Phänomene Soweit ein Blick auf die inhaltlichen und modellhaften Vorstellungen der griechischen Astronomie. Deren hohem sachlichen Niveau entspricht ein hohes methodologisches oder wissenschaftstheoretisches Niveau. Die dargestellten planetarischen Modelle sind nämlich nicht einfach irgendwelche Erfindungen, die sich, im Glücksfall in Verbindung mit empirischen Daten, einer ungewöhnlichen, eben griechischen Phantasie verdanken, sondern auch (und in erster Linie) Ausdruck eines Forschungsprogramms, das sich selbst über bestimmte astronomische Prinzipien organisiert. Auch dieses Programm und diese Prinzipien sind eine großartige Leistung des griechischen Denkens. Die Formel für Programm und Prinzipien lautet: s”zein t@ fainfimena (‚Rettung der Phänomene‘). Sie wird Platon zugeschrieben, stammt aber wohl eher von Eudoxos.22 Das Programm besagt, daß die ‚Phänomene‘, d.h. in diesem Falle die Bahnbewegungen der Planeten, erklärt (‚gerettet‘) sind, wenn eine Rückführung der augenscheinlichen Unregelmäßigkeiten dieser Bewegungen auf kreisförmige Bewegungen mit gleichförmiger Winkelgeschwindigkeit gelingt. Gleichförmigkeit (d.h. gleichförmige Winkelgeschwindigkeit) und Kreisförmigkeit bilden hier die beiden Prinzipien einer sich gegenüber der allein empirisch orientierten vor-griechischen Astronomie in Form qualitativer kinematischer Systeme darstellenden griechischen Astronomie. Konstitutiv sind dabei
22 Vgl. J. Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips, Berlin 1962, 140ff..
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(1) die Unterscheidung zwischen einer wirklichen (oder wahren) Bewegung und einer scheinbaren Bewegung, (2) die Identifikation der wirklichen (oder wahren) Bewegung mit einer kreisförmigen und gleichförmigen Bewegung und (3) die Erklärung der scheinbaren Bewegung, d.h. der Bahnanomalien, als der wirklichen (oder wahren) Bewegung, wie sie einem Beobachter auf der Erde erscheinen muß. Qualitativ sind die diesem Forschungsprogramm entsprechenden Modelle, weil sie für die Kreisform der Bewegungen keine Angaben über die Größe der entsprechenden Radien enthalten und weil mit Ausnahme etwa der Unterscheidung von täglicher und jährlicher Rotation keine Geschwindigkeiten angegeben werden. Das wird erst bei Hipparchos anders, bei dem charakteristischerweise wieder babylonischer Einfluß erkennbar ist und der zugleich über die für quantitative Betrachtungsweisen in der Astronomie unentbehrliche Trigonometrie verfügt. Bis in die Neuzeit hinein werden alle astronomischen Erklärungen dem Programm einer ‚Rettung der Phänomene‘ und den diesem Programm zugrundeliegenden Prinzipien der Kreisförmigkeit und der Gleichförmigkeit aller planetarischen Bewegungen methodologisch verbunden bleiben. Selbst das Kopernikanische System ist in dieser Hinsicht nicht revolutionär, sondern eher konservativ und griechisch. Erst die Keplersche Astronomie beendet die griechische Geschichte der Astronomie, indem sie gleich beide Prinzipien fallenläßt. Die Keplersche Wende ist daher auch die eigentliche ‚kopernikanische‘ Wende in der Geschichte der Astronomie.23
2.6 Aristotelische Kosmologie Die Keplersche Wende beendet aber nicht nur die im engeren Sinne griechische Geschichte der Astronomie, sie beendet auch die griechische Geschichte der Kosmologie, die untrennbar mit der Geltung der Aristotelischen Physik verbunden ist. Die kinematischen Modelle der griechischen Astronomie finden nämlich ihre dynamische Erklärung in der Aristotelischen Physik, speziell in der Aristotelischen Elemententheorie. Das führt zugleich zur Auszeichnung geozentrischer Modelle, historisch zur Dominanz des Ptolemaiischen Systems, weil nur diese, nicht die heliozentrischen Alternativen, der Aristotelischen Physik entsprechen
23 Dazu J. Mittelstraß, Wissenschaftstheoretische Elemente der Keplerschen Astronomie, in: F. Krafft/K. Meyer/B. Sticker (Eds.), Internationales Kepler-Symposium. Weil der Stadt 1971. Referate und Diskussionen, Hildesheim 1973, 3–27.
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(oder besser, nämlich im Blick auf die Besonderheiten des Ptolemaiischen Systems mit Exzentern, Epizykeln und Ausgleichspunkten: zu entsprechen scheinen). Aristoteles hat sich dabei seine für das kosmologische und astronomische Denken so folgenreiche Vorstellung von der physikalischen Ordnung der Welt nicht leicht gemacht. Davon zeugen z.B. seine Überlegungen zur Elemententheorie, die hier zur Demonstration dieses Umstandes in aller Kürze vorgestellt werden sollen. In den Aristotelischen Schriften finden sich mehrere Varianten einer solchen Theorie. Diese Varianten treten häufig in ein und derselben ‚Vorlesung‘ auf, z.B. in „De caelo“. Das ist für den Leser außerordentlich verwirrend, zumal man sich nicht einmal sicher sein kann, ob hinter den astronomischen Partien von „De caelo“ durchgängig das (in B 12 faßbare) Eudoxische System steht oder ob man sich nicht (z.B. in B 10) mit einer wesentlich primitiveren ‚Timaios-Theorie‘, einer Theorie, die nur eine Bewegungsform für jeden Planeten kennt, begnügen muß. In diesem Falle stünden dann in Wahrheit zwei verschiedene Astronomien an der Wiege der Aristotelischen Kosmologie. Darauf soll es hier aber nicht ankommen, sondern allein darauf, daß die Aristotelische Kosmologie kein leicht hingeworfenes spekulatives Stück einer unerwachsenen Naturphilosophie ist. Aristoteles entwickelt vielmehr unterschiedliche Konzeptionen, stellt sie nebeneinander, wägt sie gegeneinander ab. Die Bilanz fällt nicht eindeutig aus. Aristoteles ist kein genialer, sondern ein gründlicher Mann. Begriffliche Arbeit nimmt die durch das Schwächerwerden mythischer Vorstellungen freiwerdende Stelle phantasievoller Visionen ein. Ausdruck dieser Arbeit sind die genannten Varianten seiner Elemententheorie. In seiner Arbeit über „Werden und Vergehen“ (B 1–5) geht es Aristoteles um ein System, in dessen Rahmen den ringförmig angeordneten vier Elementen jeweils zwei Eigenschaften zugeschrieben werden (Feuer: warm–trocken, Luft: warm–feucht, Wasser: kalt–feucht, Erde: kalt–trocken). Diese Eigenschaften sind von Element zu Element austauschbar. Der dadurch mögliche Übergang der Elemente ineinander erfolgt im Falle einander gegenüberliegender Elemente (Erde – Luft bzw. Feuer – Wasser) in der Regel über ein Nachbarelement, ist aber auch ‚direkt‘ möglich und geht in diesem Falle nur ‚schwerer‘ vor sich, weil sich gleich zwei Eigenschaften auf einmal wandeln müssen. Voraus liegt natürlich die Annahme, daß es überhaupt vier Elemente gibt (Aristoteles: ‚die vier einfachen Körper unserer Erfahrung‘), gesucht ist eine Begründung für die angegebene Zahl, die diese Annahme rechtfertigt. Die hier skizzierte Elemententheorie besteht dann im wesentlichen einfach darin, daß zwei Paare konträrer physikalischer Eigenschaften auf alle möglichen Weisen miteinander kombiniert werden. Die Paare selbst liefert eine vorausgehende Überlegung, in der die bekannten Eigenschaften auf vier reduziert werden.
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Gewisse einschränkende Bedingungen stecken dabei bereits in der gewählten Formulierung: um konträre Eigenschaften handelt es sich, weil ‚warm‘ und ‚kalt‘ bzw. ‚trocken‘ und ‚feucht‘ nicht zusammen auftreten können: die Eigenschaftspaare sollen kombiniert werden, weil es auf die Reihenfolge der jeweiligen Eigenschaften nicht ankommt. Diese Konzeption bildet die Grundlage für weitere Überlegungen in „De caelo“. Hier wird versucht, die Elemente und ihre Zahl nicht im Hinblick auf äußere Eigenschaften, sondern durch die Analyse zusammengesetzter Körper zu bestimmen. Zugrunde liegt die auch aus der Aristotelischen Metaphysik (D 3) geläufige Definition, wonach als Element gelten soll, was selbst nicht mehr der Art nach teilbar ist. Was nicht teilbar ist, lehrt die Erfahrung. Erfahrung trat dabei schon in der zuvor beschriebenen Konzeption als fundierend auf. Allerdings leistet die jetzt vorgetragene Theorie der Elemente nicht, was sich Aristoteles von ihr erwartet. Die Situation erweist sich als der in der vorausgegangenen Konzeption entgegengesetzt: „Dort finden wir eine ausgeführte Theorie, vermissen aber eine gültige Definition des Elements, hier dagegen haben wir die Definition, es fehlt aber die Theorie.“24 Auch das ist bei Aristoteles nicht das letzte Wort in dieser Sache. In „De caelo“ (D 1–5) finden wir zwei weitere Ansätze zu einer Elemententheorie, die nun explizit im Rahmen einer kinetischen Theorie der Elemente, einer Theorie, die von ‚natürlichen‘ Bewegungsformen ausgeht, diskutiert werden. Aristoteles geht dabei wie bei der Betrachtung von Bewegungen im allgemeinen so auch bei der Ortsbewegung im besonderen erneut von der alltäglichen Erfahrung aus. Diese lehrt, daß z.B. Feuer immer steigt und Erde immer fällt, wenn sie sich selbst überlassen bleiben. Das führt bei Aristoteles zur Annahme eines ‚natürlichen‘ Verhaltens der Dinge, terminologischer ausgedrückt: zu einer Theorie des ‚natürlichen Dinges‘ (f÷sei òn). Eine kosmologische Theorie, die über die Natur im ganzen spricht, ist nach Aristoteles erst möglich aufgrund dieser spezielleren Theorie. Ein größerer Zusammenhang wird erst über die (durch die Erfahrung nahegelegte) Annahme ‚artspezifischer‘ Bewegungen hergestellt. Die physikalischen Eigenschaften ‚schwer‘ und ‚leicht‘ sind in diesem Sinne ‚artspezifische‘ Bewegungen. ‚Schwer‘ ist, was eine Bewegung nach unten, ‚leicht‘, was eine Bewegung nach oben ausführt, wobei ‚schwer‘ und ‚leicht‘ in einer absoluten Bedeutung verstanden werden. Feuer und Luft sind also immer
24 G. A. Seeck, Über die Elemente in der Kosmologie des Aristoteles. Untersuchungen zu ‚De generatione et corruptione‘ und ‚De caelo‘, München 1964 (Zetemata. Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft 34), 94. Dazu und zu den Analysen Seecks im einzelnen J. Mittelstraß, Über die Elemente in der Kosmologie des Aristoteles, Philosophische Rundschau 14 (1966), 47–60.
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leicht, Wasser und Erde immer schwer. Damit ist aber zugleich eine auf ein System zweier natürlicher Bewegungen hin entworfene Elemententheorie selbst ein ‚zweipoliges‘ System (Seeck). In der Tat sieht es auch so aus, als ob dort, wo ein derartiges System die Ordnung von vier Elementen leisten soll, dies nur durch weitreichende Umbildungen der Konzeption möglich ist. Ohne derartige Umbildungen lassen sich stets nur zwei Paare von Elementen voneinander unterscheiden, nicht aber die beiden jeweils zu einem Paar zusammengefaßten Elemente selbst. Dazu muß die hier zugrundeliegende Theorie der natürlichen Bewegung durch eine Theorie der natürlichen Örter ersetzt werden, was in einem weiteren Kapitel (D 4) zu einer neuen Konzeption führt. Nun läßt sich die eben geschilderte Theorie der natürlichen Bewegung durchaus auch als eine Theorie der natürlichen Örter auffassen, sofern hier nämlich den beiden auftretenden Örtern (‚oben‘ und ‚unten‘) jeweils genau eine Bewegung zugeordnet ist. Wenn die in der ursprünglichen Konzeption wirksame Vorstellung, wonach die Elemente im idealen Fall schalenförmig um den Weltmittelpunkt gelagert sind, also von einem System mit zwei Elementen unterschieden sein soll, muß jetzt unter dem ‚natürlichen‘ Ort eines Elements etwas anderes verstanden sein. Tatsächlich überschneiden sich an dieser Stelle zwei gelegentlich sogar terminologisch voneinander unterschiedene Bedeutungen von ‚Ort‘, nämlich als ‚Zielpunkt‘ der Bewegung (tfipo«) und als ‚Raum‘, den ein Element einnimmt (xØra): „In der Schichtentheorie ist der ‚Zielpunkt‘ der drei unteren Elemente (Erde, Wasser, Luft) derselbe (nämlich der Erdmittelpunkt), der ‚Raum‘ ist für jedes ein anderer. Dieser Raum kann dann für die relative Bewegung als Zielpunkt gelten.“25 Die Eigenschaften ‚schwer‘ und ‚leicht‘ treten hier in einer relativen Bedeutung als ‚unter und über etwas treten‘ auf, da den ‚Zwischenelementen‘ Wasser und Luft im Rahmen der ursprünglichen ‚Schichtentheorie‘ beides zukommt: Wasser tritt unter Luft und über Erde, Luft unter Feuer und über Wasser. Nicht genug mit dieser ergänzten und modifizierten Konzeption. Es gibt noch eine weitere. Der Vier-Elementen-Theorie der bisherigen Überlegungen tritt ebenfalls in „De caelo“ (A 1–4) eine Fünf-Elementen-Theorie gegenüber. Die ‚irdischen‘, sublunaren Elemente werden durch ein ‚himmlisches‘, supralunares Element ergänzt. Damit versucht Aristoteles, den mit dem Eudoxischen System scheinbar besiegelten ‚ontologischen Riß‘ zwischen sublunarer und supralunarer Welt mit physikalischen Mitteln wieder zu überwinden. Zwar wird dabei in gewissem Sinne genau das Gegenteil erreicht, insofern es auch Aristoteles gerade auf die Sonderstellung des fünften Elements ankommt, doch überwiegt bei all
25 G. A. Seeck, a.a.O., 120.
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dem ein harmonisierendes kosmologisches Interesse, das einer erfolgreichen Astronomie mit einer von Hause aus durchaus ‚irdischen‘ Elemententheorie unter die Arme zu greifen sucht. In jedem Falle ist die Fünf-Elementen-Konzeption bei Aristoteles eine physikalische, nicht etwa eine metaphysische Hypothese. Diese Hypothese läßt sich als eine Erweiterung des vorausgegangenen ‚Zweiersystems‘ verstehen, insofern zu den zwei natürlichen Bewegungen der irdischen, jeweils paarweise zusammengefaßten Elemente nun eine dritte natürliche Bewegung tritt. Diese ist als kreisförmige Bewegung die ‚elementare‘ Bewegung der himmlischen Körper. Trotzdem bedeutet diese Erweiterung der Elemententheorie um ein fünftes Element eine schwerwiegende Modifikation. So gilt für das fünfte Element z.B. nicht mehr die Konzeption eines natürlichen Ortes, sofern diese die Ruhestellung eines Elements nach Erreichen dieses Ortes vorsieht, das fünfte Element sich aber in seinem natürlichen Ort, der supralunaren Sphäre, beständig gleichförmig bewegt. Diesen seinen Ort soll es außerdem nicht verlassen können, was im Rahmen des ‚Zweiersystems‘ die Preisgabe der Möglichkeit einer der natürlichen Bewegung (kat@ f÷sin) immer zugeordneten naturwidrigen Bewegung (par@ f÷sin) bedeutet. Mehr noch. Es entsteht das Problem, wie sich unter Rekurs auf eine einfache Theorie der einfachen geometrischen Kurven (Kreis und Gerade), also auf ein mit zwei Größen operierendes System, die Annahme dreier natürlicher Bewegungen begründen läßt. Damit hängt auch eine weitere Schwierigkeit zusammen, die sich mit dem Versuch verbindet, die Elemente auf einfache Bewegungen zurückzuführen, d.h. aus einer Theorie einfacher Bewegungen eine Theorie einfacher Körper abzuleiten. Der Aristotelische Satz „der einfache Körper muß eine einfache Bewegung haben“ erweist sich als nicht umkehrbar, da es einerseits im System der irdischen Elemente immer zwei einfache Körper gibt, die eine der beiden hier auftretenden Bewegungen gemeinsam haben, und andererseits nach Aristoteles auch die zusammengesetzten Körper ‚gemäß dem Überwiegenden‘ eine einfache Bewegung ausführen. Verwirrend? Gewiß. Doch zeigt die Wiedergabe nur (und dies sollte sie zeigen), daß die Aristotelische Kosmologie nicht einfach ein dogmatisches Lehrstück ist, das der astronomischen und physikalischen Forschung die eigentliche Zukunft (im neuzeitlichen Sinne) ohne Begründung in der Sache versperrt. Vielmehr stellen die Aristotelischen kosmologischen Überlegungen selbst ein anspruchsvolles Stück einer neuen naturwissenschaftlichen Rationalität dar.
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2.7 Aristoteles-Welt und Platon-Welt Allerdings ist mit der Aristotelischen Kosmologie, zu der auch eine Modifikation des Eudoxischen Systems gehört (Met. L 8), über die weitere Entwicklung, die erst in der Keplerschen Wende ihr Ende findet, entschieden. Ihre wesentlichen, eine geozentrische Kosmologie begründenden Elemente sind (stark vereinfacht)26: (1) Der Aufbau einer Elemententheorie und einer Theorie natürlicher Örter (der Elemente), die kosmologisch ein geozentrisches System zur Konsequenz haben. (2) Die Annahme, daß jede Orts- und Geschwindigkeitsänderung die Existenz einer wirkenden Kraft voraussetzt, womit in kosmologischen Zusammenhängen die Annahme eines ‚unbewegten Bewegers‘ (von der gleich noch die Rede sein wird) erforderlich wird. (3) Die Teilung des Kosmos in einen sublunaren Teil (‚Welt unter dem Mond‘), der in der terrestrischen Physik ‚natürlicher‘ und ‚erzwungender‘ Bewegungen erfaßt wird, und einen supralunaren Teil (‚Welt über dem Mond‘), bestimmt durch eine berückende Sphärenharmonie, die wiederum Gegenstand der Astronomie ist. (4) Die Annahme undurchdringbarer fester Äthersphären. Im übrigen hat die Aristotelische Physik kosmologisch die Unterscheidung zwischen einer mathematischen (kinematischen, d.h. kräftefreien) und einer physikalischen (dynamischen) Astronomie zur Folge. Nach dem Aristoteles-Kommentator Simplikios ist es die Aufgabe der physikalischen Astronomie, das Wesen des Himmels und der Gestirne zu erforschen (wozu die Aristotelische Physik eine konkurrenzlose Voraussetzung bot), die Aufgabe der mathematischen Astronomie, zu beweisen, daß die supralunare Welt wirklich ein Kosmos, d.h. ein nach geometrischen Gesichtspunkten geordnetes System, ist (was durchaus auf der Basis unterschiedlicher, also auch heliozentrischer Annahmen geschehen konnte).27 Die Welt der Griechen, die bis ins 16. Jahrhundert im wesentlichen unverändert bleiben wird, ist zur Aristoteles-Welt geworden. In der Aristoteles-Welt verbindet sich ein wissenschaftliches Weltbild mit Elementen einer philosophischen Kosmologie. Was zu Beginn über die Einheit von Rationalität und Religiosität gesagt wurde, die das naturphilosophische Denken der Griechen bestimmt, findet hier seinen (nun selbst ein wenig neben der Sprache der Rationalität gesprochen) überwältigenden Ausdruck. Bevor ich dies deutlich zu machen suche, aber noch ein Blick auf eine andere Welt, die nicht we-
26 Vgl. K. Mainzer/J. Mittelstraß, Kosmologie, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, Stuttgart/Weimar 22010, 370–375. 27 In Aristotelis physica commentaria, I–II, ed. H. Diels, Berlin 1882/1895, II, 290–291.
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niger eindrucksvoll und nicht weniger griechisch ist als die Aristoteles-Welt: die Platon-Welt. In der Platon-Welt, d.h. in der kosmologischen Konzeption, die Platon im „Timaios“ entwickelt, wird die Idee einer philosophischen Kosmologie geboren. Im „Timaios“ schafft ein gewaltiger Handwerker, der Demiurg, die Welt nach einem idealen Plan oder Muster, dem ‚Kosmos‘ der Platonischen Ideen. Nach dem Vorbild eines ‚vollkommenen Lebewesens‘, als welches dieser Kosmos hier erscheint, entsteht der Kosmos als ein selbst beseeltes, vernünftiges Lebewesen28, als ein sichtbarer Gott in Gestalt einer vollkommenen Kugel29. Seine Seele, die ‚Weltseele‘, hat ein astronomisches Sein: sie wird durch die (mathematische) Ordnung der Kurvenbahnen der Planeten gebildet. Zugleich fungieren die Himmelskörper als ‚Werkzeuge der Zeit‘30: die Zeit (xrfino«), mit dem Himmel entstanden, ist ein Abbild der Ewigkeit (aåØn).31 Die Himmelskörper für sich genommen sind ‚sichtbare und entstandene Götter‘32, die Erde ‚die erste und ehrwürdigste Göttin innerhalb des Himmels‘33. Der Mensch ist in diesem Kosmos, der aus lauter Göttlichem gebildet selbst ein lebendiger Gott ist, eine ‚Pflanze‘, die „nicht in der Erde, sondern im Himmel wurzelt“34: er verbindet die Erde mit dem (ihm verwandten) Himmel35. Und so weiter. Zu diesem Kosmos gehören noch andere, nicht weniger phantastisch anmutende Elemente. Darunter der Raum als ‚Amme des Werdens‘36, Elemente, die aus stereometrischen Körpern gebildet sind37, Seelen, die allesamt ihren eigenen Stern besitzen, zu dem sie nach dem Tode des Körpers zurückkehren38. Ist das, so möchte man noch einmal verwundert fragen, das neue vernünftige Denken, das sich aus dem Mythos erhebt und den Anfang von Philosophie und Wissenschaft bildet? Ist das Wahrheit, die neue kosmologische Wahrheit, oder Dichtung, die Phantasie Homers und seiner Welt? Oder haben wir es vielleicht nur mit einer Fiktion zu tun, mit der auf anschauliche Weise, nämlich durch die Erzählung einer Geschichte, beschrieben wird, was selbst ungeworden und als Kosmos Gegenstand einer ganz andersartigen Forschungsform ist?
28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Tim. 30a/b. Tim. 34a; vgl. 68e, 92c. Tim. 42d. Tim. 38c. Tim. 40d. Tim. 40c. Tim. 90a. Ebd. Tim. 49a-52c. Tim. 52dff.. Tim. 42b.
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Vieles spricht dafür, daß die zuletzt genannte Alternative den Intentionen Platons entspricht. Dies läßt sich durch einen Blick auf Platons Ideenlehre verdeutlichen, auf die die Kosmologie des „Timaios“ ausdrücklich Bezug nimmt. In ihrer klassischen Konzeption erlaubt diese Ideenlehre eine Wissenschaft von der Natur, d.h. dem sichtbaren Bereich des Werdens und Vergehens, nicht. Hier, im „Timaios“, aber wird der Kosmos als das Produkt eines planvollen Herstellungsvorgangs, als ein Artefakt, vorgestellt. Und Artefakte erlauben in der Platonischen Konzeption einen sie erklärenden Rückgriff auf ideentheoretische Verhältnisse. Das heißt: Die Vorstellung, die physische Welt lasse sich dadurch erklären, daß man sie als eine ‚ins Werk gesetzte‘ Welt, eben als ein Artefakt, sehen lernt, nähert die kosmologische Rede, wie wir ihr im „Timaios“ begegnen, der geometrischen Rede über geometrische Ideen und deren (stets unvollkommene) Realisierungen an, die den Standardeinführungstext der Ideenlehre darstellt. In der Verwendung von Modellen, etwa mechanischen Modellen der Planetenbewegungen, aber auch in stereometrischen Modellen der Elementenbildung gewinnt, zumindest im Prinzip, die kosmologische Konzeption Platons ein methodisches Profil, das ohne diesen Zusammenhang in reiner Phantastik unterzugehen droht. Platon scheint es mit der Andeutung eines derartigen Zusammenhangs im „Timaios“ auf sich bewenden zu lassen. Ihn interessiert ohnehin die Frage, wie sich die Seele „vom Werden zur Wahrheit und zum Sein“ umlenken lasse39, mehr als die Frage, wie Naturphilosophie als Wissenschaft möglich sei. Im „Timaios“ heißt es dazu unmißverständlich: „Wir wollen uns klarmachen, daß Gott uns eben darum das Gesicht erdacht und geschenkt hat, damit wir die Umläufe des Weltgeistes am Himmel wahrnehmen und von ihnen Gewinn hätten für die unerschütterten Umläufe des Denkens in uns, die jenen unerschütterlichen verwandt sind.“40 Platons Auffassung der Mathemata, die nach seiner pädagogischen Konzeption im „Staat“ die Vernunft auf den Weg bringen, nämlich Geometrie, Arithmetik, Astronomie und rationale Harmonielehre, bestätigt diese Vorstellung. Die Vernunft hat es mit Konstruktionen zu tun, nicht mit empirischen Verhältnissen, die nach Auskunft der Ideenlehre ohnehin nicht wissenschaftsfähig sind. Das kommt vor allem in Platons Beurteilung der Astronomie zum Ausdruck, sofern diese sich geometrischer Modelle bedient. Im „Staat“41 ist dieses Modell eine Spindel, deren Wirteln die planetarischen Bewegungen darstellen. Genauer stellen die Wirteln, die einen Wulst um die Spindelachse bilden, acht ineinandergepaßte Kugelschalen dar, die jeweils eine eigene Bewegung um die gemeinsame
39 Pol. 525c. 40 Tim. 47b. 41 Pol. 615d-617c.
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Abb. 4
Achse ausführen. Insofern Platon dabei ineinandergepaßte Kugelhälften beschreibt, erscheint das ganze System aufgeschnitten. Es erlaubt dem Betrachter einen Einblick in seine Funktionsweise und gibt sich insofern auch als ein mechanisches Modell zu erkennen. Im „Timaios“42 ist es ein Bändermodell, das im systematischen Zusammenhang mit der Bildung der Weltseele die Haupthimmelskreise der astronomischen Koordinaten (Horizont, Ekliptik, Äquator) zur Darstellung bringt (Abb. 4): Der Hinweis, daß in diesem Modell die entsprechenden Bänder ‚von außen‘ und ‚von innen‘ herumgeführt werden, obgleich sie gleich lang sein sollen und darum eigentlich ohne Verformung des inneren Bandes nicht ineinanderpassen würden, macht deutlich, daß auch hier nicht nur eine geometrische Konstruktion, sondern tatsächlich ein mechanisches Modell gemeint ist. Beide Modelle entsprechen im übrigen einander. Die acht ineinandergeschlungenen Bänder, die die Planetenbahnen im „Timaios“ darstellen, treten in dem zuerst beschriebenen Modell
42 Tim. 34cff..
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als die Ränder der Kugelschalen auf, wenn man sie in der Aufsicht betrachtet. Das Bändermodell ist allerdings dem Kugelschalenmodell insofern überlegen, als in letzterem die Schiefe der Ekliptik nicht dargestellt werden kann: die Ränder der Kugelschalen erscheinen ‚von oben‘ als Kreise43, die auf einer Ebene liegen. Auffallend ist nun wiederum, daß Platons Beschreibung astronomischer Modelle kaum einem astronomischen Forschungsprogramm wie dem einer ‚Rettung der Phänomene‘, sondern eher mythischen Erzählungen folgt. Im „Staat“ ist das astronomische Modell Teil der Beschreibung eines Ortes, den die Seelen betreten, um über ihr zukünftiges Schicksal zu entscheiden. Die Spindel dreht sich im ‚Schoße der Notwendigkeit‘44, ihre Wirteln, auf denen singende Sirenen sitzen, werden durch die Moiren Lachesis, Klotho und Atropos in Bewegung gehalten. Im „Timaios“, dessen Kosmologie zu Beginn ausdrücklich in die Nähe mythischer Rede gesetzt wird45, bilden die astronomischen Verhältnisse, wie schon hervorgehoben, die Weltseele ab. Auch im „Phaidros“ vereinigt sich die wandernde Seele für einen Moment mit der Bewegung des Himmels46; im „Phaidon“ wird in einem als ‚schönes Wagnis‘47 bezeichneten Mythos die ‚wahre Erde‘ beschrieben, eine Erde, die sich auf keiner Landkarte der Geographen findet, sondern in einem Himmel, den auch die Götter bewohnen. Nur mythische Wanderer wie der Pamphylier Er im „Staat“ scheinen Zugang zu dieser Welt zu haben, deren Topographie auf eine eigentümliche Weise mit dem Schicksal der Seele zusammenzuhängen scheint. In jedem Falle ist der Abstand zur Erklärung einer phänomenalen Welt groß – und durch die Platonische Ideenlehre vorgegeben. Danach gehört auch die planetarische Welt zur Sphäre der Erscheinungen, von denen es nach Platons Vorstellung keine Wissenschaft gibt. Also handelt es sich hier um eine Art Astronomie des ‚Unsichtbaren‘. Glaukon, der, als die Rede auf die Astronomie kommt, unwillkürlich den Blick zum sichtbaren Himmel hebt, wird gescholten.48 Das ist allerdings nicht Platons letztes Wort in Sachen Astronomie. Die Wende bringt auch hier die Eudoxische Astronomie. Unter ihrem Einfluß identifiziert Platon in seinem Spätwerk, den „Nomoi“, den astronomischen Himmel seiner intellektuellen Mythen mit dem empirischen Himmel, dem Himmel über Athen. Denn diese Astronomie war in der Lage, die Phänomene zu ‚retten‘, d.h. empirische Unregelmäßigkeiten als bloße – auf den Betrachter und seine Stel-
43 44 45 46 47 48
Pol. 616e. Pol. 617b. Tim. 29c/d. Phaidr. 247c. Phaid. 114d. Pol. 529a/b.
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lung im astronomischen System bezogene – Erscheinungen geometrischer und in mechanischen Modellen erfaßbarer Regelmäßigkeiten zu erklären. Was man zu ahnen begonnen habe, daß nämlich ein den Himmelskörpern innewohnender Nus diese zu wunderbar genauen Bewegungsformen führe, ist nach Platon nun bewiesen49; zugleich werden in ungewöhnlicher Schärfe die ‚Materialisten‘ unter den Naturphilosophen kritisiert. Was also läge näher, damit die Tür zu einer Wissenschaft von der phänomenalen Welt, der konkreten Natur, weit geöffnet zu sehen? Das Merkwürdige ist, daß Platon offenbar anders dachte. Statt die genannte Konsequenz zu ziehen, zerlegt er die phänomenale Welt in zwei Teile, denen wir schon bei Aristoteles begegnet sind: in eine Welt über dem Mond, in der, wie die Eudoxische Astronomie zeigt, gewissermaßen ‚ideale‘ Verhältnisse herrschen, und in eine Welt unter dem Mond, auf die die alten Platonischen Beurteilungen über die Theorieunfähigkeit der Erscheinungen weiterhin zutreffen. Das heißt, Platon akzeptiert unter dem Eindruck der Eudoxischen Astronomie den Umstand, daß die Unterscheidung zwischen Ideen und Erscheinungen selbst in gewissem Sinne sichtbar geworden ist; aber für ihn resultiert daraus kein über die Astronomie hinausgehendes Programm der Naturforschung. Stattdessen ist die Erleichterung unverkennbar, mit der er im Blick auf die gemeingriechische Gestirnfrömmigkeit eine Konsequenz dieser astronomischen Rückkehr von einem jenseitigen Himmel zum Himmel über Athen registriert: aus einer intellektualisierten Frömmigkeit kann wieder der Glaube an die alten Götter werden. Der astronomische Logos, so heißt es in den „Nomoi“, hat dem ‚alten Nomos‘, daß die Götter existieren, wieder Gültigkeit verschafft.50 Die Dinge sind nicht einfach, aber sie fügen sich nach dem zuvor über die griechische Einheit von Rationalität und Religiosität Gesagten: Der Gewinn, den die ‚neue‘ Astronomie auch in Platons Augen darstellt, wird in erster Linie nicht naturwissenschaftlich, sondern theologisch ausgewiesen. Die Theoria der Astronomie hat die Verbindung auch zu religiösen Lebensformen wieder hergestellt. Und das hat bei Platon nun selbst Weiterungen für seine politische Philosophie. Platons ‚zweitbester‘ Staat, wie ihn die „Nomoi“ entwerfen, nimmt Züge einer Theokratie an. Religion wird erneut, diesmal auf dem Boden des vernünftigen Denkens, zum tragenden Element aller Institutionen; das Wichtigste ist, von den Göttern die ‚richtigen Vorstellungen‘ zu haben und entsprechend gut oder nicht gut zu leben51. ‚Atheismus‘ ist nicht nur aus religiösen, sondern auch aus theore-
49 Nom. 967b. 50 Nom. 890d. 51 Nom. 888b.
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tischen Gründen unzulässig52: die ‚sichtbaren‘ Götter dokumentieren die Existenz des Göttlichen in der Welt. Wer sie leugnet, verstößt nicht nur gegen die Gesetze des Volksglaubens, er gerät auch in Widerspruch zum Wissen der Astronomie. Er ist theoretisch ‚blind‘, versteht die vernünftige Ordnung der Welt (jedenfalls der supralunaren) nicht, zu der nun die Ordnung des Menschen in eine neue Harmonie treten soll – was wiederum ganz vorsokratisch gedacht ist. Bei Philippos von Opus, einem Schüler Platons, geht das sogar so weit, daß den Gestirnen ein Anspruch auf Opfer, Gebete und Feste zugesprochen wird.53 Die kultische Praxis erhält durch die Naturforschung, gerade auch durch die noch in unserem Sinne exakte, in diesem Falle astronomische Forschung, neue Impulse. Bei Platon selbst bleibt allerdings die in eine neuartige Nähe zur Naturforschung geratende Religiosität intellektuell. Sie entspricht ohnehin einem ekstatischen Moment, das immer schon Bestandteil seiner Konzeption einer philosophischen Theoria war. Gemeint ist die Verbindung von Göttern und Seelen, die sich gleicherweise an einem imaginären Himmel in der Anschauung der Ideen verlieren. Nicht zufällig greift Platon dabei auf mythische Rede zurück. Nicht das noch nicht vernünftig Gesagte, sondern eine dem vernünftigen Sagen zugrundeliegende transrationale Erfahrung kommt hier in ihrer eigenen Form zu Wort. Am eindruckvollsten wohl im „Phaidros“, wo die Seele einem Wagenlenker mit einem geflügelten Pferdegespann mit zwei ungleichen Pferden, einem gutwilligen und einem bösartigen, gleicht: „Der große Führer am Himmel, Zeus, fährt in seinem geflügelten Wagen voran, alles ordnend und besorgend; ihm folgt das Heer der Götter und Dämonen, in elf Abteilungen geordnet. (…) Vielfältig und selig sind die Schau und die Bewegung innerhalb des Himmels, wo sich das Geschlecht der seligen Götter bewegt, indem ein jeder das Seine tut; ihnen folgt, wer will und kann; denn Neid steht außerhalb des Chors der Götter. Wenn sie aber zum Mahl und Gelage ziehen, wenden sie sich steil hinauf zur höchsten Wölbung über dem Himmel. Da fahren die Gespanne der Götter, die gleichmäßig dem Zügel gehorchen, mit Leichtigkeit, die andern aber mit Schwierigkeit. Denn das Pferd, das an Schlechtigkeit Anteil hat, drückt nach unten. (…) Den Ort über dem Himmel hat noch keiner der hiesigen Dichter besungen, und nie wird ihn einer nach Gebühr besingen. (…) Das ungefärbte, ungeprägte, unberührte Sein, das wahrhaft ist, das nur vom Nus, dem Lenker der Seele, zu schauen ist, mit dem es die Art wahren Wissens zu tun hat, dies ist es, was diesen Ort einnimmt.“54 Im Kosmos geht es auch nach Platon wahrhaft göttlich zu.
52 Nom. 886a. 53 Epin. 988a; in Ansätzen schon bei Platon, Nom. 821d. 54 Phaidr. 246aff.. Übersetzung nach W. Burkert (wie Anm. 19), 477.
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Die Kosmologie der Griechen
2.8 Noch einmal: die Göttlichkeit der Welt Nüchterner, wie immer, Aristoteles. Auch dessen kosmologische Konzeptionen aber haben Konsequenzen, die über das, was Philosophie und Wissenschaft in ihren naturphilosophischen Bahnen zu sagen haben, weit hinausreichen. Und auch diese Konsequenzen bedienen sich in zentralen Stücken einer theologischen Sprache. Das kommt schon in dem Gesichtspunkt der Göttlichkeit der Welt zum Ausdruck, der sich auch bei Aristoteles wiederfindet. So muß z.B. in dem verlorenen Aristotelischen Dialog „Über die Philosophie“ die Anknüpfung an Platons Vorstellungen im „Timaios“ mit Händen zu greifen gewesen sein. Auch Aristoteles spricht hier vom Kosmos als einem ‚großen sichtbaren Gott‘55, auch wenn dieser nicht geschaffen, wie bei Platon, sondern ungeworden und ewig ist. Dabei nimmt die Aristotelische These von der Ewigkeit der Welt der Vorstellung von der Göttlichkeit der Welt nichts von ihrer ursprünglichen Überzeugungskraft. Im Gegenteil, sie verstärkt diese noch: ‚ungeworden‘ und ‚unvergänglich‘ sind alte Eigenschaften des Göttlichen; sie werden hier zu Eigenschaften nicht nur der Prinzipien der Welt – wie des Apeiron bei Anaximander –, sondern auch dieser selbst. Ausführlich muß Aristoteles in diesem Zusammenhang Fragen des Ursprungs des Gottesbegriffs und des Zusammenhangs von kosmischer Ordnung und göttlichem Wesen erörtert haben, bis hin zu der (uns gleich wieder begegnenden) Verbindung der Begriffe des Göttlichen und des reinen Geistes.56 Im einzelnen lassen sich zwei kosmologische Konzeptionen der Göttlichkeit der Welt bei Aristoteles unterscheiden. Die erste Konzeption, die sich in „De caelo“ findet, ist eine unverändert Platonische: Das Ganze des Himmels wird „aåØn genannt, wobei der Name von $eÏ eÚnai abgeleitet ist, denn er ist unsterblich und göttlich; und abhängig von ihm haben alle anderen Dinge ihre Existenz und ihr Leben, einige deutlicher, andere undeutlicher. Denn wie in den populärphilosophischen Werken über das Göttliche oft dargelegt worden ist, muß das Göttliche als Erstes und Höchstes völlig unveränderlich sein. Jetzt sehen wir, daß dem so ist, und diese Worte finden ihre Bestätigung. Denn es gibt nichts Höheres, das ihn bewegen könnte (…) – wenn es das gäbe, wäre ein solches Wesen noch göttlicher – noch enthält es irgend etwas Schlechtes, noch fehlt ihm irgend etwas an der ihm zukommenden Vollkommenheit. Er befindet sich auch in unaufhörli-
55 Fragment 18. 56 Dazu im einzelnen B. Effe, Studien zur Kosmologie und Theologie der Aristotelischen Schrift „Über die Philosophie“, München 1970 (Zetemata. Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft 50).
Noch einmal: die Göttlichkeit der Welt
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cher Bewegung, was auch dem Beweis entspricht; denn die Dinge hören nur auf, sich zu bewegen, wenn sie den ihnen angemessenen Ort erreicht haben; aber für einen kreisförmig bewegten Körper fallen Ausgangs- und Endpunkt zusammen“57. Der Himmel als ‚erster Körper‘ (prâton sâma) – was sich auch als eine Konsequenz der Platonischen, unter dem Eindruck der Eudoxischen Astronomie erfolgten Zerlegung des Kosmos in eine sublunare und eine supralunare Welt verstehen läßt – und darin, wiederum ganz Platonisch, als das sichtbar gewordene Göttliche. Wesentlich weiter geht die zweite Konzeption, die wir im 8. Buch der „Physik“ und im 12. Buch der „Metaphysik“ finden. Teils in Anspielung auf die an der Selbstbewegung der Seele orientierte Platonische Idee einer Selbstbewegung der Gestirne, teils als Konsequenz eines Aristotelischen Endlichkeitsprinzips für Ursachen, formuliert Aristoteles hier die Idee eines ersten, unbewegt Bewegenden, eines ‚unbewegten Bewegers‘ (prâton kinoÜn $k›nhton $›dion). Da nach Aristoteles die uneingeschränkte Geltung des Prinzips, daß alles, was bewegt wird, von einem anderen bewegt wird58, in einen unzulässigen infiniten Regreß, und die Annahme eines Anfangs der Bewegung in logische Widersprüche führt (Anfänge erfolgen in einem ‚Jetzt‘, das seinerseits Ende einer Dauer ist59), muß, was in einer kausal geordneten Bewegungskette den Anfang bildet, in kosmologischen Zusammenhängen die oberste Sphäre bzw. deren Bewegungsursache bewegen, ohne selbst bewegt zu sein. In Aristotelischer Terminologie: ein ‚erstes Prinzip‘, das selbst ‚ewig‘ und ‚unbewegt‘ ist. Wie aber geht das, wenn dabei nicht das Endlichkeitsprinzip für Ursachen außer Kraft gesetzt werden soll? Die Aristotelische Antwort ist genial: „In dieser Weise (…) bewegt das Begehrte und das Gedachte; es bewegt, wiewohl es nicht bewegt wird.“60 Lebensweltliche Erfahrung und kosmologische Reflexion greifen ineinander, methodische Prinzipien (in diesem Falle Endlichkeitsprinzipien für Ursachen und Begründungen) werden zu kosmologischen. Das Ganze dient – auch noch in der hochspekulativen, im Grunde wieder auf Platonische Vorstellungen zurückgreifenden Annahme einer Pluralität von unbewegten Be-
57 De cael. A9.279a25-b3. Zur Entwicklung der ‚kosmologischen‘ Theologie des Aristoteles vgl. W. K. C. Guthrie, The Development of Aristotle’s Theology, The Classical Quarterly 27 (1933), 162–171, 28 (1934), 90–98 (dt. Die Entwicklung der Theologie des Aristoteles, in: F.-P. Hager [Ed.], Metaphysik und Theologie des Aristoteles, Darmstadt 1969, 75–113). Zitierte Stelle nach dieser deutschen Übersetzung, 87. 58 Vgl. Phys. H1.241b34–37, H4.249a26–5.250a20. 59 Met. L6.1071b6–7. 60 Met. L6.1072a26. Übersetzung hier wie im Folgenden nach F. F. Schwarz, Aristoteles. Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, Stuttgart 1970.
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wegern, genauer von 56 unbewegten Bewegern, entsprechend der hier angenommenen Anzahl planetarischer Bewegungsformen61 – als begriffliche Konstruktion zur Darstellung einer phänomenologisch so nicht erfaßbaren Einheit der Welt. Von einem derartigen Prinzip, dem Prinzip des unbewegt Bewegenden, so schließt Aristoteles diese Konstruktion ab, „hängt der Himmel ab und die Natur“62. Aber das ist noch nicht alles. Das unbewegt Bewegende, allein im Denken erfaßt, nimmt in der Aristotelischen Darstellung selbst göttliche Züge an. Es ist als das, was ‚zuletzt‘ begriffen wird, auch das ‚höchste‘ Begriffene, als das, wovon Himmel und Erde abhängen, auch das Göttliche, Gott. Zugleich ist die Weise, in der es begriffen wird, auch seine eigene Weise, nämlich Denken. Das höchste Prinzip ist selbst die reine Gegenwart, die reine Aktualität des Denkens bzw. der Vernunft. Vernunft aber ist, nach Aristoteles, Inbegriff des Lebens63; also lebt das unbewegt Bewegende: „Wir sagen also, daß der Gott ein lebendes, ewiges und bestes Wesen ist. Dem Gott kommt demnach ununterbrochenes, fortdauerndes und ewiges Leben zu; denn das ist eben der Gott.“64 Wenn aber im Denken das Denken und das Gedachte eins werden65, dann gilt das nicht nur für die göttliche, sondern auch für die menschliche Gegenwart des Denkens. Die von Aristoteles in diesem Zusammenhang geprägte Formel vom sich selbst denkenden Denken (nfihsi« no‹sev«66) erfaßt auch das philosophische Denken selbst. Aus einem kosmologischen Prinzip, wie es der Begriff des unbewegt Bewegenden darstellt, wird eine metaphysische Chiffre für die Vernunft und für die Theoria. Oder anders formuliert: in der nfihsi« no‹sev«, dem sich selbst denkenden Denken, wird die Struktur des Kosmos, versinnbildlicht durch das unbewegt Bewegende bzw. den unbewegten Beweger, zur inneren Struktur des Wissens bzw. der Vernunft oder des Geistes. Daß Theoria und Vernunft (Nus) immer ‚bei sich‘ sind, macht sie zu Inbegriffen einer vernünftigen (oder eben göttlichen) Autonomie.
61 62 63 64 65 66
Met. L8. Met. L7.1072b13–14. Met. L7.1072b26–27. Met. L7.1072b28–30. Met. L7.1072b21. Met. L7.1072b19–20 (aÉtÌn dÍ noeÖ Ç noÜ« kat@ metˇlhcin toÜ nohtoÜ).
Griechischer Idealismus
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2.9 Griechischer Idealismus Damit geht der Weg des griechischen Denkens, der griechischen Kosmologie, von der Göttlichkeit der Welt zur Göttlichkeit der Vernunft, des Nus.67 Das griechische Denken hat eine neue Qualität erreicht: Die Philosophie der Natur führt in einer äußersten ‚Anstrengung des Begriffs‘ zur Philosophie des Geistes und mißt dabei selbst Dimensionen aus, in denen wir, weit später, nämlich im Rahmen des so genannten Deutschen Idealismus, das idealistische Denken zu beschreiben pflegen. Allerdings nicht auf dem Hintergrund eines metaphysischen Dualismus von Geist und Natur. Und das ist zugleich das Besondere und Großartige an diesem griechischen Denken. Ihm gelingt noch, im Sinne einer selbstverständlichen Voraussetzung, was dem Idealismus zum Problem werden wird: in einer philosophischen Kosmologie die ursprüngliche Einheit von Geist und Natur zu denken. So gesehen aber ist es mit der vermeintlichen Überlegenheit der neuzeitlichen profanen Vernunft gegenüber der griechischen Vernunft nicht allzu weit her. Tatsache ist, daß die neuzeitliche Vernunft mit ihrem Verlust der ursprünglichen Einheit von Geist und Natur auch einen wesentlichen Teil ihrer Orientierungsfunktionen verliert. In der griechischen Vernunft waren Wissen und Leben, desgleichen Leben und Natur, Natur und Geist noch ineinandergearbeitet, in der neuzeitlichen Vernunft fällt das alles auseinander. Wir verstehen uns nicht mehr, wir verstehen die Welt, die wir gemacht haben, nicht mehr und wir verstehen die Welt, die wir nicht gemacht haben, nicht mehr. Was wir nicht mehr verstehen, verstand das griechische Denken, in Philosophie und Wissenschaft, als das im eigentlichen Sinne Göttliche. Für uns mag das heute nicht mehr als eine Chiffre sein für etwas, über das die Entwicklung, auch und gerade die des vernünftigen Denkens längst hinweggegangen ist. Nur sieht es so aus, als hätten wir nichts mehr an seine Stelle zu setzen.
67 Erkennbar auch schon bei Platon, Phileb. 30d.
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Die geometrischen Wurzeln der Platonischen Ideenlehre
3. Die geometrischen Wurzeln der Platonischen Ideenlehre Vorbemerkung Auch die Philosophie, zumal wenn sie nicht ohne historische Bildung ist, hat ihre Lieblingsthemen. Die Ideenlehre Platons ist ein solches Thema, zugleich ein eindrucksvolles Beispiel für den beharrlichen Willen der Philosophie, sich nicht abzufinden mit dem, was die Welt von sich her bietet, und dem, wie sich der Mensch mit seinen Zwecken in dieser Welt einzurichten sucht. Das geht nicht ohne Kühnheit der Gedanken und ohne Phantasie ab – für viele Ausweis der Überlegenheit philosophischer Reflexion gegenüber den pragmatischen Rationalitäten des Alltags und der Wissenschaften, für viele aber auch Ausweis des unausrottbaren Hanges der Philosophie, sich über das Wissen zu erheben (häufig hämisch applaudiert als die Kehrtwendung eines Teils der entstehenden europäischen Rationalität ab in den spekulativen Schein). Die Ideenlehre Platons, so wird in diesem Zusammenhang gesagt, ist ein Teil, und zwar ein historisch überaus wirksamer Teil dieses Scheins. Kein geringerer als Kant scheint das zu bestätigen: „Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Eben so verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseit derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes.“1 Platons Ideenlehre also gewissermaßen als Landnahme der Philosophie, weit draußen, wohin der wissenschaftliche Verstand, aus Einsicht, nicht reicht. Und doch: was hier als das Spekulative, als der geträumte Flug der Taube durch den luftleeren Raum erscheint, ist auch nach Kant im Kern das Wahre: „Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicher Weise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, jemals mit ihnen kongruieren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keinesweges bloße Hirngespinste (sind).“2 Wenn Kant dabei ausdrücklich die Annahme von Ideen als ‚wirkende Ursachen‘
1 Kritik der reinen Vernunft B 8–9 (I. Kant, Werke in sechs Bänden, ed. W. Weischedel, Frankfurt, Darmstadt 1956–1964 [im Folgenden zitiert als: Werke], II, 51). 2 Kritik der reinen Vernunft B 370–371 (Werke II, 322).
Die Ideen, die der Geometrie zugrundeliegen
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im Sittlichen wie ‚in Ansehung der Natur selbst‘ rechtfertigt3, so im Hinblick auf seine Konzeption der Idee als eines Vernunftbegriffs. Hingegen weist er die Platonische Konzeption mathematischer Ideen zusammen mit der, wie er sagt, ‚mystischen Deduktion‘ der Ideen bei Platon betont zurück.4 Kant trennt damit aber die Ideenlehre von ihren Wurzeln, von dem nämlich, was sie nicht nur historisch, sondern auch systematisch als Kernstück der Philosophie Platons verständlich macht. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden. Die Behauptung lautet, daß die Ideenlehre Platons auf geometrischen Füßen steht und die Schwierigkeiten, die sie einer nüchternen Analyse bereitet, daher rühren, daß schon Platon selbst (nachträglich) versucht hat, sie auch noch auf manch andere Füße zu stellen. Wenn es richtig ist, daß man Gedanken nur unvollständig begreift, wenn man sich nicht die Fragen vergegenwärtigt, deren Beantwortung sie dienen, dann sind hier zwei Fragen zu beantworten: (1) Welche Verständnisprobleme soll die Ideenkonzeption Platons lösen? (2) Wie und aus welchem Grunde verselbständigt sich diese Konzeption gegenüber den ursprünglichen Problemen, deren Lösung sie dient? Unterstellt wird also in Bezug auf die Ideenlehre Platons ein Problemlösungszusammenhang und ein Verselbständigungszusammenhang; mit dem einen verbindet sich, wie zu zeigen sein wird, der wissenschaftliche Sinn der Idee (nach Platon), mit dem anderen ihr spekulativer Sinn (auch nach Platon).
3.1 Die Ideen, die der Geometrie zugrundeliegen Die Ideenlehre ist kein philosophischer Einfall, mit dem Platon nur die Imaginationsfähigkeiten der entstehenden griechischen Rationalität bereichern wollte. Das machen bereits die geometrischen Zusammenhänge deutlich, in denen sie auftritt und in denen sie im engeren Sinne entwickelt wird. Aufschlußreich ist hier vor allem die berühmte Mathematikerkritik Platons am Ende des 6. Buches im „Staat“. Dort heißt es im Rahmen einer Erläuterung des Liniengleichnisses, in dem Platon die Sphären des Wissens und des (bloßen) Meinens in verschiedene Gegenstandsbereiche einteilt (darunter in der Sphäre des Wissens der Bereich der geometrischen Gegenstände), daß die Mathematiker „das Gerade und das Ungerade, die Figuren und die drei Sorten von Winkeln“ voraussetzen, „als ob sie dies schon wüßten“, und daß sie „es nicht für nötig halten, sich selbst oder anderen darüber Rechenschaft zu geben“. Vielmehr täten sie so, fährt Platon an dieser
3 Kritik der reinen Vernunft B 374 (Werke II, 324f.). 4 Kritik der reinen Vernunft B 371 Anm. (Werke II, 322).
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Stelle fort, „als sei dies schon jedermann klar“, und gingen sogleich von diesen Voraussetzungen aus zur Durchführung (nämlich der Beweise) über, „bis sie schließlich dorthin gelangen, auf dessen Untersuchung sie es abgesehen hatten.“5 Für den modernen Leser sieht es auf den ersten Blick so aus, als mache Platon die Mathematiker auf ihre Begründungspflicht gewissen (ersten) Sätzen gegenüber aufmerksam. Explizit ist von Épouwsei« die Rede6, worunter Platon an anderen Stellen, darunter auch in mathematischen Zusammenhängen, durchaus im modernen Sinne Hypothesen, also Sätze in der Funktion von Annahmen, versteht. Nur macht ein solches Verständnis hier erhebliche Schwierigkeiten: (1) weil als Beispiele für Épouwsei« nicht Sätze, sondern ‚das Gerade und das Ungerade, die Figuren und die drei Sorten von Winkeln‘ genannt werden, (2) weil die Aufforderung, Rechenschaft zu geben (lfigon didfinai), im Sinne späterer Bemerkungen in unserem Zusammenhang verstanden werden muß als die Beantwortung der Frage ‚was (etwas) ist‘ und nicht der Frage ‚warum (etwas) ist‘. So heißt es, daß die Geometrie „zwar träumt von dem Seienden (tÌ òn), ordentlich wachend es aber nicht wirklich zu erkennen vermag, solange sie Annahmen voraussetzend, diese unbeweglich läßt, indem sie keine Rechenschaft davon geben kann“7. Der Logos, der hier verlangt wird, ist die ‚Erklärung des Wesens‘ (lfigo« tá« o\s›a«) eines Gegenstandes, nicht die Begründung von Sätzen. Welchen Sinn sollte es auch haben, hinsichtlich eines Satzes zu fragen ‚was (etwas) ist‘. Die Frage müßte vielmehr lauten ‚warum etwas der Fall ist‘ oder ‚warum etwas wahr ist‘. Also handelt es sich an dieser Stelle auch nicht um Unklarheiten über Sätze, sondern, wie die Beispiele belegen, um Unklarheiten über Gegenstände, genauer: um Unklarheiten der arithmetischen und geometrischen Rede über Gegenstände wie ‚das Gerade und das Ungerade‘, Kreis und Winkel etc..8
5 6 7 8
Pol. 510c/d. Pol. 510c6. Pol. 533b/c. Daß mit der Rede von ‚Hypothesen‘ an dieser Stelle nicht Sätze gemeint sind, betonen bereits K. v. Fritz, Die ARXAI in der griechischen Mathematik, Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1955), 13–103, hier 38ff., ferner in: K. v. Fritz, Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, Berlin/New York 1971, 335–429, hier 361ff.; R. M. Hare, Plato and the Mathematicians, in: R. Bambrough (Ed.), New Essays on Plato and Aristotle, London 1965, 21–38; E. M. Manasse, Bücher über Platon, Philosophische Rundschau. Sonderheft Platonliteratur II [Beiheft 2] (1961), 156; J. Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/New York 1970, 37; W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982, 209. – Selbstverständlich kennt Platon neben diesem eingeschränkten Sprachgebrauch auch die vertrauter anmutende Verwendung von Épouwsei« als Sätzen, auch im mathematischen Sinne (vgl. Men. 86eff., Phaid. 100a). Dazu Wieland (a.a.O., 150–159 [§ 9: Idee
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Welcher Art könnten diese Unklarheiten sein, die Platon in der Mathematik seiner Zeit entdeckt zu haben glaubt? Nun, offenbar solche, die sich auf den Status z.B. geometrischer Gegenstände, also der Gegenstände, von denen die Geometrie handelt, beziehen. Die entscheidende Frage ist, was diese Gegenstände sind, wenn nicht empirische Gegenstände. Und daß empirische Gegenstände nicht gemeint sein können, war natürlich auch schon für den Zeitgenossen Platons durch einen einfachen Blick auf gezeichnete oder in den Sand gezogene Figuren erkennbar. Diese bleiben stets hinter den ‚Vorstellungen‘ zurück, die sich etwa mit Sätzen über Winkel oder Sätzen über Verhältnisse im Kreis verbinden. Anders ausgedrückt: wenn der Satz9, daß zwei Dreiecke, die in einer Seite und den anliegenden Winkeln übereinstimmen, in allen Stücken übereinstimmen, wahr ist, von welchen Dreiecken ist er dann wahr? Platon macht hier auf Schwierigkeiten aufmerksam, die sich eng mit der griechischen Idee der Geometrie verbinden. Die vorgriechische Geometrie hatte diese Schwierigkeiten nicht, insofern etwa in altbabylonischer Zeit Sätze wie der angeführte Satz über Dreiecke unbekannt waren. Geometrie hatte die Form eines Rezeptwissens, bestehend aus Konstruktionsanweisungen bzw. Regeln, die in die Darstellung und Lösung individueller Aufgaben eingingen. Ihre Leistungsfähigkeit war damit keineswegs gegenüber der späteren griechischen Geometrie wesentlich eingeschränkt. So wurde z.B. faktisch bereits der Pythagoreische Lehrsatz ‚verwendet‘, wie sich aus Aufgaben, deren Lösung auf die Berechnung der zweiten Kathete in einem rechtwinkligen Dreieck hinausläuft, ersehen läßt, und doch gibt es keinerlei Anzeichen dafür, daß dieser Satz jemals allgemein als Satz über Hypotenusenquadrat und Kathetenquadrate formuliert worden wäre.10 Eben diese Möglichkeit aber ist die Entdeckung der griechischen Geometrie. Schon die Thales zugeschriebenen elementargeometrischen Sätze sind in diesem Sinne allgemeine Sätze, die der Konstruktion individueller Figuren vorausgehen, d.h. Sätze über gewisse Eigenschaften konstruierbarer Figuren, auf die sich dann die Konstruktion individueller Figuren, nach altbabylonischer Weise in Form von Konstruktionsanweisungen, beziehen kann. Dies mag im übrigen auch der Grund für die Entdeckung der Möglichkeit derartiger theoretischer Sätze, d.h. genereller Sätze über alle möglichen, d.h. konstruierbaren, Figuren, gewesen sein. Sie geben an, warum die Rezepte der vorgriechischen Geometrie funktionieren, indem sie verdeutlichen, daß es bei der
und Hypothese]) und (zur mathematischen Bedeutung) Á. Szabó, Anfänge des euklidischen Axiomensystems, Archive for History of Exact Sciences 1 (1960–1962), 37–106, hier 43–64. 9 Bei Proklos als Thaletischer Satz überliefert: Procl. in Eucl. 352,14–18 Friedlein (Eudem Fr. 134 Wehrli [F. Wehrli [Ed.], Die Schule des Aristoteles VIII, Basel 1955]). 10 Vgl. J. Mittelstraß, a.a.O., 23.
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Lösung spezieller Aufgaben nicht auf die Besonderheiten konkreter Gegenstände (gemeint sind etwa Umfänge von Bäumen, Kreise in Form von Rädern oder gezeichneten Figuren) ankommt, sondern auf relevante Eigenschaften, Eigenschaften, die die in Frage stehenden Gegenstände mit beliebig vielen anderen ‚gleicher Art‘ (diese Rede wird jetzt in einem präzisen Sinne möglich) teilen. Zusammen mit der ebenfalls in Thaletische Zeit fallenden Entdeckung der Möglichkeit des Beweises theoretischer (geometrischer) Sätze und des späteren axiomatischen Aufbaues der Geometrie, in dem in Beweiszusammenhängen ursprünglich einfache Symmetriebetrachtungen anhand der so genannten Thaletischen Grundfigur, eines Rechtecks mit Diagonalen und umschriebenem Kreis, durch Rekurs auf geordnete logische Abhängigkeiten zwischen Sätzen ersetzt werden, bildet die Geometrie das historisch früheste Paradigma des griechischen Theoriebegriffs.11 Auf diesen Begriff aber beziehen sich Platons angeführte Bemerkungen im „Staat“. Seine Mathematikerkritik ist eingebettet in eine pädagogische Konzeption, in deren Rahmen die als exakte Wissenschaften ausgezeichneten Theoriebildungen der Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musik (gemeint ist rationale Harmonielehre) eine entscheidende Rolle spielen. Sie, d.h. die Beschäftigung mit ihnen, soll die Vernunft auf ihren Weg bringen. Insofern dem griechischen Theoria-Begriff entsprechend in Theorien alle Abhängigkeiten als beherrscht gelten, bilden Theorien wie die geometrische das Paradigma des Übergangs von einer abhängigen zu einer unabhängigen, d.h. autonomen Praxis, in den Worten Platons: das Paradigma des Übergangs von der Welt des ‚Werdens‘ zur Welt der ‚Wahrheit‘ und des ‚Seins‘12. In diesem Zusammenhang muß nun der Umstand, daß offenbar Unklarheit über den Status der Gegenstände einer mathematischen Theorie herrscht, schwer wiegen. Tatsächlich gibt es vor Platon keine sich direkt auf das Vorgehen theoretischer Wissenschaften beziehende Reflexion, die die Frage beantwortet hätte, wovon denn die theoretischen Sätze, z.B. die Sätze der Geometrie, reden. Platons Antwort lautet: von Ideen. Mit anderen Worten: die Platonische Ausarbeitung des Ideenbegriffs, orientiert an der geometrischen Theoriebildung, stellt nichts anderes dar als die Bemühung, den (in der Thaletischen Geometrie gebildeten) Begriff des theoretischen Satzes um den Begriff des theoretischen Gegenstandes zu ergänzen.
11 Zum Thaletischen Ursprung dieses Theoriebegriffs vgl. J. Mittelstraß, Die Entdeckung der Möglichkeit von Wissenschaft, Archive for History of Exact Sciences 2 (1962–1966), 410–435, ferner in: ders., Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt 1974, 29–55, 209–221. 12 Pol. 525c5–6; vgl. Pol. 521c/d.
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Insofern diese Ergänzung speziell anhand der geometrischen Theoriebildung erfolgt, wird hier zum ersten Mal in einem methodisch faßbaren Sinne auf die Idealität theoretischer Gegenstände abgehoben. Gleich im Anschluß an die referierte Kritik Platons an der mathematischen Theoriebildung heißt es gegenüber dem bereitwillig zustimmenden Dialogpartner Glaukon: „Nicht wahr, das weißt du, daß sie (die Mathematiker) sich der sichtbaren Dinge bedienen und ihre Demonstrationen auf jene beziehen, während doch nicht auf diese als solche (als sichtbare Dinge) ihre Gedanken zielen, sondern auf das, wovon jene sichtbaren Dinge nur Schattenbilder sind. Nur des Vierecks an sich, nur der Diagonale an sich wegen machen sie ihre Demonstrationen.“13 Wenig später wird die Geometrie entsprechend als das ‚Wissen des immer Seienden‘14 bezeichnet. In Platons berühmtem 7. Brief ist es die Idee des Kreises, die als Beispiel für die Explikation eines stufenförmigen Ganges der Erkenntnis zu den Ideen dient.15 Terminologisch ist hier ferner bedeutsam, daß dem Begriff des theoretischen Gegenstandes der Begriff der Noesis zugeordnet ist; mit ihr, so heißt es, nicht mit den Augen, betrachtet der Verstand16, ihr erschließt sich die ‚Natur der Zahlen‘17. ‚Noesis‘ bei Platon bedeutet im terminologischen Sinne nicht ‚wissen, daß etwas der Fall ist‘, bezieht sich also nicht auf die Wahrheit oder Falschheit von Sätzen, sondern das Wissen (oder die Erkenntnis) von etwas, und zwar im Sinne einer nicht-sinnlichen Wahrnehmung. Die Geometrie und die anderen exakten Mathemata stellen ein solches Wissen dar; auf dieses Wissen beziehen sich ihre theoretischen Sätze und Beweise. Es gibt bei Platon also ein klares Verständigungsproblem und eine klare Frage, auf die sich die Ausarbeitung des Ideenbegriffs beziehen läßt. Damit ist der systematische Ort der Ideenkonzeption bestimmt. Anders ausgedrückt: bevor sich Platon (nach Kant) auf den ‚Flügeln der Ideen‘ in spekulative Höhen erhebt, hat er deutlich gesagt, wozu es im Rahmen sehr konkreter, auf fachwissenschaftliche Theorienbildung bezogener Überlegungen der Rede von Ideen bedarf. Sie soll das Problem der Rede von theoretischen Gegenständen lösen. Das bedeutet im übrigen nicht, daß Platons Antwort auf die von ihm gestellte Frage in allen Punkten befriedigend und hinreichend ist. Dagegen spricht bereits die mangelnde Abgrenzung gegenüber unzulässigen Existenzbehauptungen, auf die dann Aristoteles hinweist.18 Der Aristotelische Vorschlag, die geometrischen Gegenstände als mög-
13 14 15 16 17 18
Pol. 510d5–8. Pol. 527b7–8. Epist. 342aff.. Pol. 529b2–3. Pol. 525c2–3. Vgl. Met. A9.991a8ff. (Ideen als die ausgelagerten Naturen bzw. Wesen [o\s›ai] der Dinge [991b2–3]).
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liche, wenn auch nie vollkommen realisierte Formen wirklicher Gegenstände zu betrachten, ist andererseits problemlos mit Platons Ideenkonzeption, die den nicht-empirischen Charakter dieser Gegenstände unterstreicht, verträglich. Gerade dieser Umstand macht denn auch noch einmal deutlich, warum es schon Platon in seiner Rede von Ideen, die der Geometrie zugrundeliegen, ging: nicht um eine ‚andere Welt‘, die nur erreichbar wäre, wenn wir ‚unsere Welt‘ verließen, sondern um eine Möglichkeit, die Ungenauigkeiten einer in konkreten Konstruktionszusammenhängen mit konkreten Formen (gezeichneten Kreisen und Winkeln etc.) befaßten Geometrie als Mängel von Realisierungsverfahren zu begreifen. Anders formuliert: es geht schon Platon im Kern um eine geklärte Rede über geometrische Gegenstände, die es erlaubt, unvollkommene Realisierungen so zu behandeln, als ob sie idealen Konstruktionsanforderungen genügten. Daß derartige Anforderungen faktisch nicht streng realisierbar sind, schränkt die Geltung geometrischer Sätze nicht ein, macht allerdings deutlich (und darauf kam es Platon an), daß sich geometrische Ausdrücke wie ‚Kreis‘, ‚orthogonal‘ und ‚parallel‘ strenggenommen nicht auf empirische Objekte, sondern auf theoretische Objekte, eben auf Ideen beziehen. In der Wissenschaftstheorie zur Geometrie und Physik werden die genannten geometrischen Ausdrücke entsprechend nicht als Prädikate für konkrete geometrische Formen, sondern im Hinblick auf die mit ihnen postulierten idealen Eigenschaften als Ideatoren bezeichnet.19 Ideen treten damit – in einem der Begriffsbildung durchaus vergleichbaren, Synonymitätsrelationen auszeichnenden Abstraktionsvorgang – als Bedeutungen von Ideatoren auf. Und diese Bedeutungen, da hat Platon recht, sehen wir nur ‚mit den Augen des Geistes‘.
3.2 Ursprünge der Ideenlehre Die bisher vorgetragenen Überlegungen Platons könnten wie eine späte Konstruktion erscheinen, mit der eine bereits ausgearbeitete Ideenlehre auf zeitgenössische wissenschaftliche Theoriebildungen bezogen wird. Das ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr verbindet sich die Ausarbeitung der Ideenlehre bei Platon von Anfang an mit mathematischen, speziell geometrischen, Problemen. Wo sie in ethischen oder ästhetischen Kontexten auftritt, liegt zumindest die Parallelität zu
19 Vgl. P. Lorenzen/O. Schwemmer, Konstruktive Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie, Mannheim/Wien/Zürich 21975, 228–229; P. Janich, Die Protophysik der Zeit. Konstruktive Begründung und Geschichte der Zeitmessung, Frankfurt 1980, 99; ders., Ideation, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie III, Stuttgart/Weimar 22008, 515–516.
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geometriebezogenen Explikationen auf der Hand. Deren Auftreten erklärt geradezu (in Zusammenhängen, die zunächst keine mathematischen Darlegungen erwarten lassen) die Orientierungsfunktion, die die Konzeption zumal geometrischer Ideen im Rahmen der Genese der Ideenlehre hat. Zwei Beispiele (zugleich klassische Beispiele) aus dem „Menon“ und dem „Phaidon“ seien erwähnt. Thema des Dialogs „Menon“ ist das Problem der Lehrbarkeit der Tugend. Um es zu lösen, muß vorab erläutert werden, was Tugend ist. Auf die Frage, ob man suchen könne, was man nicht kennt (hier ein genaues Verständnis von Tugend), antwortet Platon mit seiner Anamnesis-Lehre: Wissen wird im Modus der Wiedererinnerung (an ein ‚vorgeburtliches‘ Wissen) verfügbar. Demonstriert wird diese These wiederum an einem geometrischen Beispiel.20 Es geht um das Problem der Verdoppelung eines Quadrats und dessen Lösung. Indem die Lösung jedoch durch einen mathematischen Laien, argumentativ geführt durch Sokrates, vorgenommen wird, treten hinter dem konkreten geometrischen Problem und seiner Funktion als Exempel für die These von der Wiedererinnerung zwei weitere systematische Gesichtspunkte hervor: (1) die Vorstellung eines selbständigen Lernens im Rahmen der exemplarischen Explikation einer Lehr- und Lernsituation, (2) die Demonstration theoretischer Zusammenhänge anhand empirischer Zusammenhänge. Der zweite Gesichtspunkt ist für die Genese der Ideenlehre der entscheidende. Der geometrische Laie lernt im Fortgang seiner Problemlösungsversuche, daß er das schließlich zur Lösung führende Wissen Schritt für Schritt selbst erzeugt. Es wird ihm weder als bereits gewonnenes Wissen vorgehalten, noch vermag er es anhand von in den Sand gezeichneten Figuren einfach wahrzunehmen. So lernt er schließlich sein Wissen zu verstehen als ‚an einem anderen Ort‘, d.h. nicht in der Empirie, nicht durch andere, gewonnenes Wissen. Damit zeigt sich als der eigentliche Kern der zur Demonstration anstehenden Wiedererinnerungslehre das Problem der Einsicht in theoretische Zusammenhänge. Formuliert wird dieses Problem als die Frage nach der Herkunft theoretischen Wissens. Sachlich geht es dabei, wie auch die parallel konzipierte Darstellung der Sokratischen Hebammenkunst im „Theaitetos“21 und die Wiederaufnahme des Lehrstücks von der Anamnesis in einem Mythos im „Phaidros“22 deutlich machen, weniger um das Vermögen der Erinnerung oder um ein Stück mythischer Anthropologie. Es geht vielmehr um die Vergegenwärtigung idealer (theoretischer) Zusammenhänge. Die mythische Rede von einem ‚vorgeburtlichen‘ Wissen, an das sich die Seele angesichts empirischer Gegenstände ‚erinnert‘, hat ei-
20 Men. 82b-85b. 21 Theait. 194d-151d. 22 Phaidr. 249b/c.
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nen methodischen Kern: neben der Vorstellung des selbständigen Lernens im dialektischen Zusammenhang von Produktion und Reproduktion des Wissens betrifft dieser auch hier im engeren Sinne den Status nicht-empirischer (theoretischer) Gegenstände. Diese, nämlich die Ideen, hat die Seele, wie es im Anschluß an das geometrische Beispiel im „Menon“ heißt, an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit ‚geschaut‘. Die Ideenlehre in einer Form, wie sie Platon im Rahmen seiner Mathematikerkritik heranzieht, ist die methodische Explikation dieser mythischen Metapher.23 Dies macht auch das zweite Beispiel aus dem „Phaidon“ deutlich. In diesem Dialog führt Platon bekanntermaßen zentrale terminologische Bestandteile der Ideenlehre ein. So wird die Unterscheidung zwischen Dingen (prˇgmata) und dem Seienden (ònta) getroffen24, in Bezug auf diese Unterscheidung von ‚zwei Sorten des Seienden‘ (d÷o eúdh tân òntvn) gesprochen25, das Verhältnis beider als ‚Teilhabe‘ im Sinne von ‚Abbild‘ und ‚Urbild‘ bezeichnet26 und mit der Unterscheidung zwischen ‚Wahrnehmung‘ (aúsuhsi«) und ‚Denken‘ (diˇnoia) erkenntnistheoretisch parallelisiert. Entscheidend ist, daß wiederum, und zwar in explizitem Anschluß an die Erörterung der Anamnesis-Lehre im „Menon“, ein im weiteren Sinne geometrisches Beispiel, nämlich die Rede von ‚gleich‘ und ‚Gleichheit‘, den Ausgangspunkt bildet. Es heißt dort: „Wir nennen doch etwas ‚gleich‘ – ich meine nicht ein Holz dem andern oder einen Stein dem andern noch irgend etwas dergleichen, sondern außer diesem allen etwas anderes, das Gleiche selbst. (…) Woher nahmen wir aber diese Erkenntnis (des Gleichen selbst)? Nicht aus dem, was wir eben sagten, wenn wir Hölzer oder Steine oder irgend andere gleiche Dinge sahen. (…) Also sind (weil gleiche Dinge bisweilen gleich, bisweilen ungleich erscheinen, dies aber für ‚das Gleiche selbst‘ nicht gelten kann) jene gleichen Dinge und dieses Gleiche selbst nicht dasselbe.“ Wer dies bemerkt, muß also „notwendig jenes vorher kennen (…), dem, wie er sagt, das andere zwar gleiche, hinter dem es aber doch zurückbleibe.“27 Heute verstehen wir unter Gleichheit eine rein logisch definierbare zweistellige Relation, die seit Leibniz auch als Ununterscheidbarkeit anhand von Aus-
23 Dazu ausführlicher J. Mittelstraß, Versuch über den Sokratischen Dialog, in: ders., Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universität, Frankfurt 1982, 138–161, hier 145–148, ferner in: K. Stierle/R. Warning (Eds.), Das Gespräch, München 1984 (Poetik und Hermeneutik XI), 11–27, hier 16–18 (in diesem Band 93–112, hier 99–102). 24 Phaid. 99d/e. 25 Phaid. 79a. 26 Phaid. 100bff.. 27 Phaid. 74a9–74e4.
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sagen eines vorgegebenen Aussagenbereichs bezeichnet wird. Zwei Gegenstände n und m heißen demnach (logisch) gleich, wenn jede beliebige Aussage über n stets denselben Wahrheitswert hat wie die entsprechende Aussage über m. Die (logische) Gleichheit gehört unter den zweistelligen Relationen zu den so genannten Äquivalenzrelationen, d.h., es gelten die auch als ‚Gleichheitsaxiome‘ bezeichneten Prinzipien der Reflexivität (n = n), der Symmetrie (n = m ´ m = n) und der Transitivität (l = m ∧ m = n ´ l = n). Für Platon, der auf derartige Ausarbeitungen nicht zurückgreifen konnte, entspricht der hier vorliegende Sachverhalt dem in den geometrischen Sätzen über Verhältnisse im Kreis oder über Winkel gegebenen, d.h., er faßt Gleichheit als Idee auf, deren stets unvollkommene Realisierungen die gleichen Dinge sind. Dabei war aus seiner Sicht eine Klärung des Begriffs der Gleichheit wiederum gerade aus geometrischen Gründen geboten. Schon mit dem Beweis Thaletischer Sätze (etwa des Satzes, daß der Kreis durch jeden seiner Durchmesser halbiert wird) verbindet sich nämlich die Vorstellung eines ‚empirischen‘ bzw. ‚kinematischen‘, nämlich Bewegung voraussetzenden, Verfahrens, in dessen Rahmen Gleichheit (bzw. Kongruenz) von Figuren durch deren Übereinanderlegen bzw. Aufeinanderklappen bewiesen wurde.28 Bei Euklid tritt dieses Verfahren als Kongruenzaxiom in der Formulierung auf: „was einander deckt, ist einander gleich“. Es wird von Euklid lediglich zum Beweis dreier Sätze, darunter der erste Kongruenzsatz, verwendet, obgleich sich gewisse Ungenauigkeiten in den Gleichheitsdefinitionen Euklids durch häufigere Anwendung dieses Axioms hätten vermeiden lassen. Der Grund für seinen sparsamen Gebrauch dürfte dabei noch immer derselbe sein, der schon Platon die Rede von Gleichheit als problematisch erscheinen ließ: die Bestimmung von Gleichheit wird hier mit empirischen Verfahren in Verbindung gebracht, und diese sind im strengen Sinne niemals exakt, Verglichenes im Sinne dieses Verfahrens ist stets nur annähernd gleich, Gleichheit also etwas, das sich eigentlich nicht zeigen läßt, das man vielmehr schon kennen muß, und zwar bevor man Gleichheit feststellt oder demonstriert.
28 Vgl. K. v. Fritz, a.a.O. [oben Anm. 8], 72ff. (Grundprobleme, 396ff.); K. v. Fritz, Gleichheit, Kongruenz und Ähnlichkeit in der antiken Mathematik bis auf Euklid, Archiv für Begriffsgeschichte 4 (1959), 7–81, ferner in: K. v. Fritz, Grundprobleme, 430–508; Á. Szabó, Wie ist die Mathematik zu einer deduktiven Wissenschaft geworden?, Acta Antiqua 4 (1956), 109–151, hier 131ff.; K. v. Fritz, DEIKN°MI, als mathematischer Terminus für „beweisen“, Maia. Rivista di letterature classiche N.S. 10 (1958), 106–131, hier 115–117; J. Mittelstraß, a.a.O. [oben Anm. 11], 415ff. (Entdeckung, 34ff.). Einen derartigen Klappbeweis erwähnt Proklos für den oben angeführten Thaletischen Satz, daß der Kreis durch jeden seiner Durchmesser halbiert wird (Procl. in Eucl. 157,17–158,2 Friedlein).
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Eben dies bringt auch die zitierte Stelle aus dem „Phaidon“ zum Ausdruck, wobei wiederum, wie schon im „Menon“, der theoretische Charakter der Rede von ‚gleich‘ und ‚Gleichheit‘ in eine mythische Metapher gekleidet wird: „Bevor wir anfingen zu sehen oder zu hören oder die anderen Sinne zu gebrauchen, mußten wir schon irgendwie die Erkenntnis des eigentlich Gleichen gewonnen haben, was es ist, wenn wir doch das Gleiche in den Wahrnehmungen auf jenes beziehen sollten, das dergleichen alles zwar strebt zu sein wie jenes, aber doch immer schlechter ist.“29 Daß Gleichheit als identifizierbarer Teil von Wahrnehmungen (wahrgenommenen Gegenständen) sich selbst nicht (im strengen Sinne) in Wahrnehmungen bildet, sondern diese als gleiche allererst ermöglicht, ist der Grund für Platon, auch hier von einer Idee zu sprechen, die der Rede von ‚gleich‘ und ‚Gleichheit‘ zugrundeliegt. Damit stabilisiert sich in der Platonischen Analyse theoretischer Zusammenhänge am Leitfaden der Geometrie eine Konzeption, die wir als die Ideenlehre Platons zu bezeichnen pflegen. Unmittelbar im Anschluß an die zitierte mythische Metapher, die die Annahme einer Idee der Gleichheit mit dem Rahmen der Anamnesis-Lehre verbindet, verallgemeinert Platon nämlich seinen Befund im Hinblick auf ethische und ästhetische Analysen, die im Zentrum zumal der frühen Dialoge stehen. „Wir erkannten auch schon“, heißt es, „ehe wir wurden und sobald wir da waren, nicht das Gleiche nur und das Größere und Kleinere, sondern alles dieser Art insgesamt. Denn wir reden ja nicht mehr nur von dem Gleichen, sondern auch von dem Schönen selbst und dem Guten selbst, dem Rechten und Frommen und, wie ich sage, von allem, was wir als ‚dies selbst, was ist‘ (a\tÌ ¯ östi) bezeichnen, in unseren Fragen, wenn wir fragen, und in unseren Antworten, wenn wir antworten.“30 Greift man hier die ethischen bzw. moralphilosophischen Beispiele heraus, so besteht die Verallgemeinerung (ohne daß das an dieser Stelle näher ausgeführt werden soll) darin, daß zur Sicherung auch des praktischen Wissens oder der Lehrbarkeit der Tugend, wie Platon sagt, analog zur Rede von den idealen (nicht-empirischen) Gegenständen der Geometrie die Rede von idealen moralischen Gegenständen eingeführt wird. Als Ideen bzw. Ideale der Moralität (etwa vollkommene Gerechtigkeit oder das gute Leben) weisen diese moralische Handlungen oder Haltungen wiederum (wie im paradigmatischen Falle der Geometrie) als stets unvollkommene Realisierungen ‚der Idee nach‘ geforderter Handlungen oder Haltungen aus. Damit kommt den moralischen Ideen dieselbe Funktion zu wie den geometrischen Ideen: in ihnen gelten normative Forderungen als erfüllt, diese Forderungen zugleich als Richtschnur,
29 Phaid. 75b4–8. 30 Phaid. 75c7-d3.
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in diesem Falle nicht herstellender, sondern moralischer Handlungen bzw. Haltungen. In Platons Ethik stehen also Ideen an der Stelle erfüllter Normen, die insofern, bezogen auf das moralische Handeln oder moralische Haltungen, sowohl eine regulative als auch eine konstitutive Rolle spielen: nur soweit eine Handlung als Realisierungsversuch idealer Postulate an das Handeln verstanden werden kann, ist sie auch als moralische Handlung identifizierbar. Maßstab z.B. des gerechten Handelns ist das Gerechte (die Idee des Gerechten), Maßstab des guten Handelns ist das Gute (die Idee des Guten). In dieser Analogisierung der Rede von den Ideen der Geometrie und der Rede von den Ideen der Moralität kommt die eigentümliche Intellektualität der Platonischen Position in der praktischen Philosophie zum Ausdruck: das Wissen geht dem Handeln voraus und ‚übersteigt‘, transzendiert es sowohl im Falle der geometrischen als auch im Falle der moralischen Gegenstände. Kant wird später einen klaren Beweis für sich in Anspruch nehmen, „daß alles, was in der Moral für die Theorie richtig ist, auch für die Praxis gelten müsse“31, und dabei von der ‚Idee der Pflicht‘ sprechen. Umgekehrt argumentiert Aristoteles: Maßstab der Gerechtigkeit ist der Gerechte, Maßstab des guten Handelns ist der Gute. Für ihn, Aristoteles, ist die Rede von Ideen allemal eine unerlaubte Hypostasierung der Rede über Eigenschaften, d.h. eine Verdinglichung abstrakter Gegenstände. Nur wird dabei auch bei Aristoteles nicht völlig klar, wie über abstrakte bzw. theoretische Gegenstände wie Kreis, Gleichheit oder Gerechtigkeit anders als hinsichtlich ihres ‚idealen‘ Charakters gesprochen werden kann. Die Konzeption von Ideen ist eben allein noch kein Indiz für unerlaubte Verdinglichung. Das gilt natürlich auch für ästhetische Analysen, für die bei Platon ebenfalls die Orientierung an Ideen, etwa an der Idee der Schönheit, in Anspruch genommen wird.
3.3 Die Philosophie der Ideenlehre Es gehört zum besonderen Profil der Ideenlehre Platons, daß sich ihre Ausarbeitung nicht auf eine Begründungskonzeption etwa zur Geometrie oder zur Ethik beschränkt, diese Ausarbeitung vielmehr (zumindest zeitweilig) unter dem Gesichtspunkt ihrer universellen Anwendung erfolgt. Das heißt, die Unterscheidungen innerhalb der Ideenkonzeption werden universalisiert und dabei um solche Elemente ergänzt, die ihre Anwendung auch in anderen als den genannten und
31 Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793) A 231 (Werke VI, 143).
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für die ursprüngliche Konzeption selbst konstitutiven Bereichen erlauben. Dazu gehören: (1) Die in geometrischen Zusammenhängen auf den ersten Blick wenig problematische Terminologie von ‚Urbild‘ und ‚Abbild‘. Diese Terminologie, die in der Geometrie verdeutlichen soll, daß konkrete geometrische Formen (unvollkommene) Realisate idealer Formen sind, wird jetzt (und zwar schon im „Phaidon“) im Rahmen des Gegensatzes von Idee und Erscheinung verallgemeinert. Die Welt der Erscheinungen konstituiert sich nach Platon analog dem Verhältnis einer in den Sand gezogenen Figur zu ihrer Idee. Das heißt: es wird von dem Umstand, daß derartige Figuren Artefakte und als solche stets unvollkommene Realisierungen sind, abgesehen – ‚ontologisch‘ (wie man auf der Basis speziell solcher Platonischer Gliederungen sagt) ist die sichtbare Welt nichts anderes als eine Abbildung, ein unvollkommenes Realisat idealer Verhältnisse. Diese bestehen aus den nohtˇ (intelligiblen Gegenständen), auf die sich speziell die nfihsi« (die nicht-empirische Wahrnehmung) richtet; jene besteht aus den aåsuhtˇ (den Wahrnehmungsgegenständen), auf die sich die aúsuhsi« (die empirische Wahrnehmung) richtet. (2) Das Urbild-Abbild-Verhältnis wird – und das ist bereits gegenüber seinem ursprünglichen, geometrischen Sinn ein Schritt ins Unverständliche – kausalistisch erweitert, d.h., es wird nach Art eines Ursache-Wirkung-Verhältnisses interpretiert. Im „Phaidon“ heißt es: „Wenn mir jemand sagt, weswegen irgend etwas schön ist, entweder weil es eine blühende Farbe hat oder Gestalt oder sonst etwas dieser Art, so lasse ich das andere – denn durch alles übrige werde ich nur verwirrt gemacht – und halte mich ganz einfach und kunstlos und vielleicht einfältig bei mir selbst daran, daß nichts anderes es schön macht als eben jenes Schöne (…). Vermöge des Schönen werden alle Dinge schön.“32 Damit liegt hier aber, insofern es kausale Verhältnisse zwischen abstrakten Gegenständen und konkreten Gegenständen nicht geben kann, zumindest der Tendenz nach jene Verdinglichung der Ideen vor, die Aristoteles kritisiert. Ausdrücklich dient das zitierte Beispiel der Erläuterung des Platonischen Begriffs der Ursache.33 (3) Die Klasse der mathematischen Ideen und die Klasse der ethisch-ästhetischen Ideen wird um zwei weitere Klassen ergänzt, die Klasse der biologischen Ideen, zu denen Platon neben der Idee des Menschen auch die Idee der (nach griechischer Vorstellung ‚belebten‘) Elemente zählt, und die Klasse der Ideen belangloser und verächtlicher Dinge wie Haar und Schmutz. Diese Gliederung er-
32 Phaid. 100c10–100d8. 33 Phaid. 100b.
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folgt im „Parmenides“34 und zeugt bereits von Problemen, die nicht etwa durch die Ideenlehre gelöst werden sollen, sondern die allererst durch die Ideenlehre, genauer: durch die universale Anwendung der Ideenlehre auf beliebige Gegenstandsbereiche, entstehen. Nicht nur der Idee des Kreises widerfährt nichts, was empirischen Kreisen hinsichtlich unvermeidlicher Realisierungsmängel widerfährt, heißt es im 7. Brief, „dasselbe gilt von dem Geraden und Kreisförmigen, von Gestalt und Farbe, von dem Guten, Schönen und Gerechten, von jedem, ob nur durch Kunst erzeugten oder von Natur entstandenen Körper, von Feuer, Wasser und allem derartigen, von jedem Lebenden und der den Seelen innewohnenden Gesinnung und von dem gesamten Tun und Leiden“35. Es ist insbesondere die Erweiterung der Rede von Ideen auf den Bereich natürlicher Gegenstände, die gegenüber der ursprünglichen Konzeption zu spezifischen Schwierigkeiten führt. Hier werden auch Naturdingen ideale Gegenstände, eben Ideen von Naturdingen, zugeordnet; was für Handlungen an geometrischen Figuren oder in moralischen Verhältnissen gilt, soll auch für beliebige andere Dinge, z.B. die natürlichen, gelten. Mit anderen Worten: wie Dinge wie die natürlichen existieren, wird nach Platon dadurch beurteilbar, daß man angibt (vorsichtiger: anzugeben sucht), welches ihre idealen Entsprechungen sind. Das aber geht nicht mehr über ideale Konstruktionsanweisungen wie im Falle geometrischer Formen oder über Postulate wie im Falle des moralischen Handelns bzw. der Bildung moralischer Haltungen, sondern nur noch über Behauptungen. Ihres normativen Charakters im engeren, handlungsbezogenen Sinne entkleidet, führt die Rede von Ideen zur Fiktion einer weiteren, idealen Welt, deren Gegenstände sich (unvollkommen) in den Gegenständen unserer Welt ‚spiegeln‘. Das heißt, die von den großen Platoninterpreten Paul Natorp und Julius Stenzel gerade als besondere Leistung Platons hervorgekehrte Identifikation der Rede von Ideen mit derjenigen von Begriffen, die Interpretation der Ideenlehre als Theorie der Begriffsbildung, führt schon bei Platon selbst in unerledigte Schwierigkeiten, in der Tradition des Platonismus zu spekulativen Erweiterungen (Transzendenz der Begriffe etc.). Es ist genau umgekehrt: Gerade weil von Platon in bestimmten Kontexten, nämlich im Zuge einer universellen Anwendung der Ideenlehre, zwischen Ideen als den Bedeutungen von Ideatoren und Begriffen als den Bedeutungen von Prädikatoren (Prädikaten im logischen Sinne) nicht unterschieden wird, nimmt die Ideenlehre schon bei ihm gelegentlich jenen spekulativen Charakter an, der sich in der Geschichte der Philosophie seit jeher mit ihr verbindet.
34 Parm. 130b-c. 35 Epist. 342d3–8.
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Weiteres Indiz einer derartigen Verselbständigung der Ideenlehre gegenüber den ihr ursprünglich zugrundeliegenden Intentionen ist der Versuch einer Hierarchisierung von Ideen und der ihnen zugeordneten Gegenstände. Aristoteles weist wiederholt darauf hin, daß Platon die mathematischen Gegenstände (t@ mauhmatikˇ) als dritte Klasse des Seienden zwischen den Dingen und den (nichtmathematischen) Ideen angeordnet habe.36 Als Begründung wird von ihm angeführt, daß die mathematischen Gegenstände, gemeint sind die mathematischen Ideen, zwar ‚ewig‘ und ‚unbewegt‘, aber (gegenüber der üblichen Ideenkonzeption) ‚zahlreicher‘ seien.37 Diese Einschätzung wiederholt noch im 5. Jahrhundert Proklos in seinem einflußreichen Euklidkommentar. „Wie (…) die Erkenntnisarten von einander unterschieden sind“, heißt es in der Vorrede, „so unterscheiden sich auch von Natur aus die Erkenntnisobjekte, und zwar übertrifft die intelligible Welt alle anderen durch die Unwandelbarkeit ihrer Substanzen; die Sinnenwelt aber bleibt in allem hinter dem höchsten Sein zurück. Die mathematischen Objekte endlich und überhaupt die Objekte des vermittelnden Denkens behaupten ihren Platz in der Mitte. Vor dem Intelligiblen haben sie vermöge ihrer Trennung voneinander die größere Menge voraus, vor der Sinnenwelt haben sie den Vorzug der Immaterialität; ersterem stehen sie nach in Hinsicht auf Einfachheit, letztere überragen sie durch ihre Exaktheit und dadurch, daß sie schärfere Bilder des intelligiblen Seins bieten als die Sinnendinge.“38 In derartigen Formulierungen wird der Eindruck erzeugt, als habe Platon zwischen Ideen und mathematischen Objekten, die dann zwischen Ideen und empirischen Objekten stünden, unterschieden. Dies ist jedoch nicht der Fall. Allerdings weist Platon den mathematischen Ideen eine nachgeordnete Stellung zu. Klassischer Beleg dafür ist das so genannte Liniengleichnis im „Staat“39, in dem zunächst im Sinne einer Anordnung auf einer (senkrecht stehenden) Linie in deren unterem Teil die Sphäre der empirischen Gegenstände (Erscheinungen), unterteilt noch einmal in die Sphären der konkreten Dinge und deren Bilder, in deren oberem Teil die Sphäre der theoretischen Gegenstände (Ideen), unterteilt noch einmal in die Sphären der mathematischen Ideen und der nicht-mathematischen Ideen, aufgetragen ist. Die Sphären stehen zudem in einem festen Verhältnis zueinander. So verhält sich die Sphäre der Erscheinungen zur Sphäre der Ideen wie die Sphäre der Bilder zur Sphäre der konkreten Dinge und die Sphäre der mathematischen Ideen zur Sphäre der nicht-mathematischen Ideen. Der
36 Vgl. Met. A6.987b14–18, B1.995b15–18, B2.997a35-b3, K1.1059b3–8. 37 Vgl. Met. A6.987b14–18, B6.1002b14–16. 38 Proclus Diadochus, Kommentar zum ersten Buch von Euklids „Elementen“, ed. M. Steck (dt. v. L. Schönberger), Halle 1945, 164. 39 Pol. 508a-509b.
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Grund für diese Proportionen ist unklar, klar hingegen der Versuch, in einer Hierarchisierung aller Gegenstände, der eine Hierarchisierung der zugeordneten Erkenntnisweisen des (bloßen) Meinens und (sicheren) Wissens entspricht, die mathematischen Ideen im Bereich der theoretischen Gegenstände den übrigen Ideen nachzuordnen. Darüber hinaus führt Platon mit der Idee des Guten eine höchste, alle anderen Ideen ‚transzendierende‘ Idee (ãpwkeina tá« o\s›a«40) ein, die diese Hierarchisierung nach oben abschließen soll. Nach dem Sonnengleichnis, das dem Liniengleichnis vorausgeht, verhält sich diese Idee zu den übrigen Ideen und den auf sie bezogenen Erkenntnissen wie die Sonne zu den empirischen Gegenständen und den auf sie bezogenen Vernehmensweisen: sie ‚schafft‘ sie und sichert gleichzeitig ihre Erkennbarkeit. Derartige Hierarchisierungen – das dürfte auch in diesen kurzen Hinweisen deutlich geworden sein – lassen sich aus erkenntnistheoretischen und (im engeren Sinne) wissenschaftstheoretischen Gründen kaum legitimieren, zumal die von Platon in der Geometrie diagnostizierte Unklarheit über den Status theoretischer Gegenstände, wie er selbst zu zeigen bemüht ist, eine behebbare Unklarheit ist. Also dürften wohl auch, wenn man Platon nicht seinerseits neue Unklarheiten unterstellen will, andere Gründe für diese Hierarchisierungen ausschlaggebend gewesen sein. Bezogen auf die Idee des Guten könnte ein solcher Grund darin bestehen, daß es nach Platon die eigentliche Aufgabe der Vernunft ist, praktisch zu sein, d.h., ein gutes Leben zu ermöglichen. Auch die mathematiktreibende Vernunft hat sich diesem obersten Ziel unterzuordnen und sich insofern – das lehrt vor allem die Pädagogik des auf das Liniengleichnis folgenden Höhlengleichnisses – mit einer propädeutischen Funktion zu begnügen. Diese Einordnung über eine erkenntnistheoretische bzw. wissenschaftstheoretische Beurteilung der Gegenstände der Mathematik zu legitimieren, ist offensichtlich der Zweck der (sachlich dann unzureichend begründeten) Hierarchisierungsbemühungen.41
40 Pol. 509b9. 41 Für die nachgeordnete Stellung der mathematischen Ideen bzw. des mathematischen Denkens läßt sich allerdings unter Zuhilfenahme weiterer Unterscheidungen auch ein erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischer Grund anführen: Mathematische Konstruktionen sind Konstruktionen von Objekten in der Anschauung. Im Bilde des Liniengleichnisses und in der Terminologie Kants gesprochen bildet die Mathematik ihr Wesen in der reinen Anschauung (gemeint sind Verfahren der Konstruktion mathematischer Gegenstände) und in der empirischen Anschauung (gemeint ist die empirische Aktualisierung mathematischer Konstruktionen), während nach Platon (und dies wäre dann die eigentlich problematische Behauptung) die Stellung des nicht-mathematischen Denkens bzw. der nicht-mathematischen Ideen eben darin ausgezeichnet ist, diesen Bedingungen nicht zu unterliegen. – Zur Interpretation des Liniengleichnisses vgl. R. C. Cross/A. D. Woozley, Plato’s Republic. A Philosophical Commentary, London, New York 1964, 1979, 201–230; T. Ebert, Meinung und Wissen in der Philosophie
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Damit sei zum Verständnis der Ideenlehre Platons folgendes Ergebnis festgehalten: Es gibt bei Platon eine Philosophie der Geometrie – diese führt, zusammen mit parallelen ethischen und ästhetischen Konzeptionen, zur Ideenlehre. Es gibt aber auch eine Philosophie der Ideenlehre – und diese führt zu einer Verselbständigung gegenüber denjenigen Problemzusammenhängen, deren Lösung die Ideenlehre ursprünglich dienen sollte. Insofern wäre jetzt auch, wenn die gegebene Darstellung korrekt ist, die zweite der anfangs formulierten Fragen, nämlich die Frage nach Weise und Grund einer solchen Verselbständigung, beantwortet.
Schlußbemerkungen Der Übergang von einer Philosophie der Geometrie zu einer Philosophie der Ideenlehre führt bei Platon nicht nur zu einer Verselbständigung der philosophischen Forschung gegenüber den ihr ursprünglich zugrundeliegenden Problemen, sondern auch zu Bemühungen um eine ideentheoretische Fundierung einer Wissenschaft von der Natur. Hierhin gehört sowohl die Konstruktion astronomischer Modelle (im „Staat“ und „Timaios“) als auch der Versuch, Probleme einer Elemententheorie als geometrische Probleme zu diskutieren und über die Anwendung stereometrischer Konstruktionen zu lösen (im „Timaios“). Die darin liegende Idee einer Geometrisierung der Natur geht Hand in Hand mit der Darstellung der Welt als eines Artefakts. Im Zuge dieser Darstellung erfährt die Behauptung der Existenz idealer Entsprechungen empirischer Gegenstände eine Wendung, die es ermöglicht, auch kosmologische Sachverhalte mit der ursprünglichen Konzeption der Ideenlehre ‚im Geiste der Geometrie‘ wieder zu verbinden. Die Vorstellung nämlich, die physische Welt lasse sich womöglich dadurch erklären, daß man sie als eine (durch einen Demiurgen) ‚ins Werk gesetzte‘ Welt, eben als Artefakt, sehen lernt, nähert die kosmologische Rede, wie wir ihr im „Timaios“ begegnen, wieder der geometrischen Rede über geometrische Ideen und deren (unvollkommene) Realisierungen in empirischen Objekten. Doch dies führt bei Platon noch zu keiner Konkretisierung der astronomischen und physikalischen Forschung, in der Geschichte des Platonismus dagegen zur Verfestigung einer Zweiweltenlehre. Zugleich gewinnt im Platonismus die Ideenlehre ihren vermeintlich so monolithischen Charakter im Zentrum des Platonischen Denkens.
Platons. Untersuchungen zum ‚Charmides‘, ‚Menon‘ und ‚Staat‘, Berlin/New York 1974, 173–193; J. Mittelstraß, Liniengleichnis, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, Stuttgart/Weimar 22010, 581–583; G. Patzig, Platons Ideenlehre, kritisch betrachtet, Antike und Abendland 16 (1970), 113–126; W. Wieland, a.a.O. (oben Anm. 8), 201–218.
Schlußbemerkungen
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Diese Vorstellung ist vermutlich ein Irrtum. Der übliche Versuch, die Analysen etwa des „Phaidon“, des „Staates“, des „Parmenides“, des „Kratylos“ und des „Sophistes“ als integrale Teile ein und derselben Konzeption, eben der Ideenlehre, zu verstehen, führt zumeist nur zu ungeeigneten (die Bemühungen Platons in dieser Richtung noch übertreffenden) Verallgemeinerungen und Vereinfachungen. Ein schon genanntes Beispiel dafür ist die Bemühung, die Ideenlehre als Begriffstheorie zu rekonstruieren. In der philosophisch lobenswerten Absicht, die Ideenlehre von ihrem spekulativen Charakter zu befreien, werden wesentliche Unterscheidungen zugedeckt, darunter die Unterscheidung zwischen Idee und Begriff, die selbst Gegenstand der Philosophie Platons und nicht (jedenfalls nicht von vornherein) als aufgehobene Unterscheidung so etwas wie das organisierende Prinzip dieser Philosophie ist. Richtig ist, daß der Begriff des theoretischen Gegenstandes, Probleme der Rede von Ideen und Begriffen den Angelpunkt der Platonischen Analysen ausmachen. Erörtert werden diese Probleme zum einen in speziellen, sachbezogenen Zusammenhängen, also z.B. in Geometrie, Ethik und Ästhetik, zum anderen in Form von vereinheitlichenden Konzeptionen (‚Philosophie‘ der Ideenlehre, später auch der so genannten Ideenzahlenlehre). Platons Überlegungen schließen sich jedoch nirgends im strengen Sinne zu einem System. Dies bleibt eine Erfindung des Platonismus – und wohl auch des scheinbar unausrottbaren Interesses der Philosophie, Einsichten in einem System zusammenzuschließen. Für die Nachfolgenden entsteht daraus die in der Regel mühsame Aufgabe, sie unter dem dogmatischen Schein des Systems wieder hervorzuholen. So auch im Falle der Platonischen Ideenlehre.
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II. Vernunft und Leben
Schlußbemerkungen
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4. Der Sokratische Dialog „ein Gespräch wir sind“, F. Hölderlin, Friedensfeier Im Unterschied zur Unterhaltung, die der gegenseitigen Darstellung dessen, was man ist und was man meint, und der gegenseitigen Mitteilung dessen dient, was der Fall ist und was der Fall sein soll, folgt der philosophische Dialog als eine von dieser und anderen Formen des Gesprächs abgehobene Form sprachlicher Verständigung dem Zweck der (philosophischen) Wissensbildung. In seiner Eigenschaft als Sokratischer Dialog gilt für ihn zudem die Unterstellung, daß neben bzw. ineins mit Wissensbildung auch die Bildung einer philosophischen Orientierung und die Bildung eines philosophischen Subjekts Zweck seiner Veranstaltung ist. Das heißt: der philosophische Dialog ist seiner Idee nach diejenige Form des Gesprächs, zu dessen Wirkungen von vornherein die Bildung oder Beförderung von philosophischem Wissen und philosophischer Orientierung sowie die Bildung oder Beförderung eines autonomen (philosophischen) Subjekts gehören sollen. Insofern treten im philosophischen Dialog neben die allen Formen des Gesprächs gemeinsamen ‚theoretischen‘ Elemente Frage und Antwort, Behauptung und Bestreitung die Elemente Beweis und Widerlegung und neben die wiederum allen Formen des Gesprächs gemeinsamen ‚praktischen‘ Elemente Streit und Verständigung das Element der (in ihren Wirkungen aufzusuchenden) Reziprozität von Lehren und Lernen oder die Bildung eines gemeinsamen (philosophischen) Subjekts der Wissensbildung. Diese Idee des philosophischen Dialogs ist eine Sokratische, der Sokratischen Gesprächspraxis entnommene Idee, und sie ist, weil von Platon um ihre theoretische Darstellung in literarischen Dialogen ergänzt, auch eine Platonische Idee. Die Frage ist, ob sie allein zur historischen Orientierung der Philosophie, der Beschäftigung der Philosophie mit sich selbst bzw. dem, was Philosophie einmal war, oder zur Idee der Philosophie selbst gehört, d.h., ob sie (noch immer) etwas mit dem zu tun hat, wie die Philosophie philosophisches Wissen bildet und wie die Philosophie zu einer philosophischen Orientierung, damit auch zu philosophischen Subjekten, führt. Beides, die Analyse der Sokratisch-Platonischen Idee des philosophischen Dialogs und die Beantwortung der Frage, ob und gegebenenfalls was eine solche Idee für die Praxis einer ‚philosophischen Forschung‘ taugt, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen und ihrer Formulierung in sieben Sätzen.
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Der Sokratische Dialog
4.1 Philosophische Orientierung Die Wirkung des philosophischen Dialogs ist eine philosophische Orientierung, in der philosophische Situations- und Selbstverständnisse die Idee des Menschen als eines Vernunftwesens befördern. Im philosophischen Dialog stehen nicht irgendwelche Meinungen oder Probleme, sondern die Subjekte der philosophischen Wissensbildung auf dem Spiel. Darin beruht der agonale und der Sokratische Charakter dieser Dialogform. Es ist nicht so sehr das Handeln selbst, auf das sich eine Vernunftvermutung bezieht, sondern das Vermögen, vergangenes Handeln (auch in institutionellen Zusammenhängen) zu vergegenwärtigen und zu beurteilen und zukünftiges Handeln unter vergegenwärtigten, und das heißt auch: unter vorweggenommenen Alternativen zu planen. Nicht das Handeln, sondern gerade das Nicht-Handeln, die Möglichkeit, Handlungsketten zu unterbrechen, um ‚nachdenklich‘ die Wirkungen eigenen und fremden Handelns und die zukünftigen Wirkungen fortgesetzten Handelns zu erwägen, macht uns in erster Linie zu dem, was wir der Idee nach und auf die Gattung bezogen sind: vernünftige Wesen. Wir sagen, daß etwas – eine Handlung, ein Handlungszusammenhang, ein handelnd verwirklichter Zustand – ‚vernünftig‘ ist, und wir meinen damit, daß das, was ist – eine Handlung, ein Handlungszusammenhang, ein Zustand – Wirkung einer vernünftigen Erwägung ist. Die Forderungen nach Klarheit, Begründung und Rechtfertigung, die sich auf das Handeln und seine Wirkungen beziehen, gebieten in diesem Sinne Einhalt – das Handeln wird unterbrochen –, sie machen das Handeln zu einem Gegenstand des Nachdenkens. (Daß auch derjenige, der nachdenkt, ebenso wie derjenige, der redet, in einem besonderen Sinne handelt, ist eine sprachpragmatische Einsicht, die von dieser Unterscheidung zwischen ‚handanlegendem‘ Handeln und ‚nachdenklichem‘ Nicht-Handeln unberührt bleibt.) Wer das Handeln unterbricht, um nachzudenken, ist sich seiner Sache nicht mehr gewiß. (Handlungs-)Zweck und (Handlungs-)Folgen treten auseinander, die Einheit der Handlung, die stets Einheit von gebildetem und verwirklichtem Zweck ist, zerbricht, sie wird ‚in Frage gestellt‘, sie wird zum ‚Problem‘. Probleme sind natürlich keine (alleinige) Wirkung des Nicht-Handelns, d.h. Folge des Nachdenkens, sie sind vielmehr in der Regel einfach ‚da‘, drängen sich dem Handelnden auf. Sich seiner Sache nicht mehr sicher sein, ist in diesem Sinne etwas, das einem ‚passiert‘, eine Wirkung der Welt, und zwar sowohl der Welt, die wir, im Blick auf das, was wir getan haben, können (die gesellschaftlich verfaßte Welt), als auch der Welt, die wir, im Blick auf das, was wir von jeher sind, nicht können (die Natur, die wir in Teilen selber sind). Probleme, die sich dem Handeln stellen, werden auf der Grundlage von Beratungen gelöst oder erweisen sich nicht zuletzt in der Form einer vergebliches oder
Philosophische Orientierung
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in seiner intendierten Einheit zerbrochenes Handeln begleitenden Beratung als unlösbar. Philosophieren ist eine Form der Beratung. Das gilt selbst für den Monolog: „Wer philosophiert, fingiert einen Dialog und scheitert, wenn der Dialog sich nicht verwirklichen läßt.“1 Der philosophische Dialog, dessen Idee auch den philosophischen Monolog organisiert, ist allerdings eine Beratung über Probleme, die in der erwähnten Weise nicht so sehr ‚da‘ sind, die vielmehr, in der Form der Beratung, vorweggenommen werden. Vorweggenommen nicht in der Weise, daß sie etwa auch einer Beratung nach dem Modell technischer Problemlösungskompetenz, d.h. nach dem Expertenmodell technischer Kulturen, prinzipiell zugänglich wären, sondern so, daß hier Fragen gestellt werden, die der technische Verstand nicht stellt, und Antworten gesucht werden, die technisches Anwendungswissen transzendieren. Der philosophische Dialog fingiert in gewisser Weise Probleme (Probleme, die die Welt und die handelnden Subjekte nicht haben); die Verwirklichung ihrer Lösung aber soll zur Bildung ‚wahrer‘ Situationsund Selbstverständnisse führen. Der philosophische Dialog also als der Ort, an dem die Bildung wahrer Situations- und Selbstverständnisse auf eine der Idee vernünftiger Orientierungen verpflichteten Weise geschieht. Wo Probleme sind, da sind auch verschiedene Meinungen – Problementstehungsmeinungen, Problemvermeidungsmeinungen, Problemlösungsmeinungen usw.. Auch das Umgekehrte gilt: wo es keine verschiedenen Meinungen gibt, da gibt es auch keine Probleme, da ist offenbar alles klar, scheint die Einheit des Handelns (und des Lebens) ungestört. Daß dies auch dann ein bloßer Schein ist, wenn ein solcher Zustand wirklich sein sollte, ist ein Wissen, das der philosophische Dialog bildet. Seine Perspektive ist ja nicht, Probleme zum Verschwinden zu bringen (etwas, womit der technische Sachverstand beschäftigt ist), sondern Auskunft über die Idee des Menschen als eines Vernunftwesens und die Idee eines vernünftigen Lebens zu gewinnen. Mit anderen Worten: der philosophische Dialog ist seinem Wesen nach eine Beratung über Probleme, die wir, unter dem Gesichtspunkt einer Verwirklichung der genannten Ideen, haben sollen. Weil die Ideen des Vernunftwesens und des vernünftigen Lebens sich nicht an Problemlösungen binden lassen, die der technische Verstand bewirkt, sondern nur an die Herstellung einer philosophischen Orientierung, die diesen Ideen und ihrer Verwirklichung dienlich ist, ist die Philosophie immer ‚im Streit‘ und der philosophische Dialog ein Mittel, diesen Streit selbst noch unter der Idee
1 K. Lorenz, Elemente der Sprachkritik. Eine Alternative zum Dogmatismus und Skeptizismus in der Analytischen Philosophie, Frankfurt 1970, 13. Zu den einleitenden Bemerkungen über Bestimmungen des (philosophischen) Dialogs vgl. K. Lorenz, Dialog, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie II, Stuttgart/Weimar 22005, 189–191.
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Der Sokratische Dialog
eines vernünftigen Miteinanders auszutragen. Ihr Nachdenken, das das Handeln (in Natur und Gesellschaft) unterbricht, hat zudem mit einer philosophischen Wissensbildung die Veränderung der beteiligten Subjekte und die Bildung eines gemeinsamen Subjekts (des Subjekts der philosophischen Wissensbildung) zum Ziel. Derartige ‚subjektive‘ Leistungen, im philosophischen Dialog erbracht, sind nur in einem Für und Wider möglich, das nicht Meinungen, sondern die Subjekte selbst erfaßt. Wirkung des philosophischen Dialogs ist mit einer neuen, philosophischen Orientierung ein ‚neues‘ Subjekt, das im Untergang des alten, daher unvermeidlich ‚im Streit‘, ‚im Kampf‘ entsteht. Im philosophischen Dialog stehen die Subjekte, nicht ihre Meinungen, auf dem Spiel. Nicht im Sinne ihrer drohenden Zerstörung, sondern im Sinne einer (natürlich auch verfehlbaren) Annäherung an die Idee des Vernunftwesens, ihrer ‚Verähnlichung mit Gott‘, wie es bei Platon (unter der entlastenden Perspektive der Lächerlichkeit des Philosophen) heißt.2 Wo dieses Ziel Inhalt des philosophischen Dialogs ist, ist der Dialog Sokratisch. Sein agonaler Charakter leitet sich aus dem Ernst der Auseinandersetzung her, in der nicht irgendwelche Meinungen oder Probleme, sondern die Subjekte selbst auf dem Spiel stehen.
4.2 Dialektik Die in einer Verständigungsorientierung zum Ausdruck kommende praktische Intention und die in einer Begründungsorientierung zum Ausdruck kommende theoretische Intention philosophischer Dialoge transzendieren die in der Agonalität des Anfangs der Vernunft beschlossene Bedingung einer Besonderung der Subjekte. Dialektik, durch diese Intentionen charakterisiert, ist der Weg, auf dem sich das Ziel philosophischer Forschung, nämlich eine philosophische Orientierung, bereits verwirklicht. Im philosophischen Dialog spiegelt sich der agonale Anfang der Vernunft. Der Herakliteische Satz, daß der Krieg Vater aller Dinge sei3, gilt im Umkreis der Sokratischen und Platonischen Konstitution des philosophischen Dialogs auch für die Genesis einer philosophischen Orientierung. Das heißt: Selbstständigkeit wird hier ebenso wie in allen anderen Aspekten, die die Bildung des autonomen Subjekts betreffen, nicht gewährt, sondern errungen – gegen die Welt (herrschende ‚objektive‘ Orientierungen) und gegen sich selbst (herrschende ‚subjek-
2 Theait. 176b. 3 VS 22 B 53 (H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch [Berlin 1903], I–III, ed. W. Kranz, Berlin 61951/1952, I, 162).
Dialektik
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tive‘ Orientierungen). Daß die Agonalität des Anfangs der Vernunft mit dem Ziel der Bildung eines gemeinsamen Subjekts (des Subjekts der philosophischen Wissensbildung) verträglich ist, nicht im Dienst der Vereinzelung der Subjekte, sondern der Überwindung ‚geteilter‘ Subjektivität steht, ist die Sokratische Einsicht und das Sokratische Postulat gegenüber philosophischen Dialogen. In der Sokratischen Dialektik, die sich aus der Gegenseitigkeit von Dialogbeziehungen herleitet, transzendiert die Agonalität des Anfangs der Vernunft ihre eigene, in der Besonderung der Subjekte liegende Bedingung. ‚Dialektik‘ kommt von dialwgesuai: ‚sich etwas auseinanderlegen‘, ‚überlegen‘, ‚sich besprechen‘, in transitiver Verwendung: ‚etwas (mit anderen) besprechen‘. Dialektik charakterisiert (ursprünglich) den Dialog in der Funktion der Beratung. Dialwgesuai, das ist, wie Xenophon über die Sokratische Form des Philosophierens berichtet4, ‚zusammenkommen und gemeinsam beraten‘ (synifinta« koinÕ boyle÷esuai), ‚Dialektiker‘ (nach Platon) derjenige, ‚der zu fragen und zu antworten weiß‘5. Wo ferner die Beratung im Dialog unter Regeln gebracht bzw. institutionalisiert wird, dient ‚dialektisch‘ der Kennzeichnung des Gebrauchs derartiger Regeln bzw. einer institutionell gefaßten dialogischen Praxis. Dies ist zugleich der Punkt, an dem sich historisch und systematisch die Wege der Dialektik in einen sophistischen und einen Sokratischen Weg trennen. Auf dem sophistischen Weg wird die ‚dialektische Kunst‘ (dialektikÎ twxnh) ein zu beliebigen Zwecken einsetzbares ‚eristisches‘ Argumentationsverfahren, das durch eine geschickte Wahl von Ausgangsunterscheidungen und Argumenten Behauptungen, darunter (gewissermaßen zur Dokumentation ‚dialektischer‘ Allmacht) die Negation bereits ‚begründeter‘ Behauptungen6, begründen läßt: „Wer die Kunst der Rede kennt, der wird auch über alles richtig reden können. Denn wer richtig reden will, der redet über das, was er weiß. Er wird folglich alles wissen. Denn er kennt ja die Kunst aller Reden; alle Reden aber beziehen sich auf das, was es gibt.“7 Wer über alles reden kann, der kennt alles. Vernunft erscheint hier als ein sprachliches, nämlich dialektisches Vermögen, aber so, daß eristische Kunstfertigkeit an die Stelle einer forschenden Wissensbildung tritt. Agonalität ist damit zum Selbstzweck geworden, Rechthaben zum (vermeintlichen) Ausweis von Rechttun. Auch der Sokratische Weg der Dialektik kennt den ‚Streit mit Worten‘ und die Widerlegung des Dialogpartners, doch werden im Sokratischen Dialog eristische
4 Mem. IV 5, 12. Vgl. L. Sichirollo, Dialwgesuai – Dialektik. Von Homer bis Aristoteles, Hildesheim 1966, 18–33. 5 Krat. 390c. 6 Vgl. Euthyd. 271c-272a. 7 DissoÏ lfigoi, VS 90 A 8,3–5 (H. Diels, a.a.O. II, 415).
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Der Sokratische Dialog
Elemente, die der faktischen Durchsetzung der eigenen Meinung und des eigenen Willens dienen, durch elenktische Elemente ersetzt. Diese charakterisieren denjenigen Argumentationsteil, der Scheinwissen als solches erkennbar werden läßt. Darum ist auch das elenktische Verfahren nicht, wie das eristische Verfahren, durch den ‚Betrug mit Worten‘, sondern durch die Befolgung eines Wahrhaftigkeitspostulats bzw. eines expliziten Betrugverzichts8 charakterisiert. Sein Ziel ist die begründete Übereinstimmung (Homologie), nicht die Durchsetzung partikularer Positionen. Unterstellt man mit Sokrates und Platon, daß der Wille zum Rechthaben nicht der eigentliche intentionale Gehalt von Dialogen, darunter philosophischen Dialogen, ist, dann stellt sich die Eristik bzw. die von Platon (historisch zu Recht oder nicht) durch Eristik charakterisierte Sophistik als die Perversion einer ursprünglichen dialektischen Intention, nämlich des verständigungsund begründungsorientierten Dialogs dar. Dialektik, in der nach Sokrates und Platon die Agonalität des Anfangs der Vernunft die in ihr liegende Bedingung einer Besonderung der Subjekte unter einer Vernunftvermutung transzendiert, ist daher auch durch eine praktische Intention, die auf Verständigung bzw. Übereinstimmung geht, und durch eine theoretische Intention, die auf Begründung geht, charakterisierbar. Verständigung aber hat die Befolgung eines Postulats der Wahrhaftigkeit, Begründung die Befolgung eines Postulats begrifflicher Strenge zur Grundlage. Im Platonischen lfigon didfinai sind beide Elemente, das praktische und das theoretische, vereinigt; Dialektik wird, was sie im Sinne einer dialektischen Intention immer schon war, nämlich zum Inbegriff des philosophischen Dialogs. Umgekehrt konstituiert das Fehlen der praktischen Intention und die Reduktion der theoretischen Intention auf eine ‚Kunst des Widerspruchs‘ ($ntilogikÎ twxnh), d.h. die Deduktion von Widersprüchen, den eristischen Dialog: dialektische Intention
sophistische (eristische) Intention
Sokratische (elenktische) Intention
Verständigungsintention (praktische Intention)
8 Vgl. Theait. 167d/e.
Begründungsintention (theoretische Intention)
Theoria
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Im Sokratischen Dialog bzw. in der Sokratischen Form einer dialektischen Intention verwirklicht sich schon im Weg, nicht erst mit Erreichen eines materialen Wissens, das eigentliche Ziel einer philosophischen Bemühung, nämlich eine philosophische Orientierung. Eine Überwindung der sophistischen Intention erfolgt nicht durch besseres Wissen, sondern durch besseres Tun; Dialektik im Sokratisch-Platonischen Sinne ist nicht nur eine Form der Argumentation, sondern auch und in wesentlicher Absicht eine (philosophische) Lebensform. Während Platon in der Vergegenwärtigung Sokratischer Orientierungen den in seiner dialektischen Form praktischen Anfang der Vernunft darzustellen sucht, stellt Aristoteles ihren theoretischen Anfang dar: eine Vernunftvermutung wird über die erkenntnistheoretische Explikation der These, daß alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben9, begründet. Zugleich bleibt jedoch mit der Charakterisierung der Dialektik als eines ‚Denkens in Alternativen‘10 der dialektische Ursprung des philosophischen Wissens und die Bestimmung einer philosophischen Orientierung durch praktische Postulate auch bei Aristoteles präsent. Weil die Menschen (schon nach Heraklit) nicht wissen, was sie tun, und nicht wissen, was sie sagen, ist der philosophische Dialog der ausgezeichnete Ort, an dem diese anthropologische Verlegenheit vergegenwärtigt und über die Herstellung einer philosophischen Orientierung überwunden wird. Dies macht noch einmal, auch bei Aristoteles, die Agonalität des Anfangs der Vernunft aus.
4.3 Theoria Platons Anamnesis-Theorem (Wissen als Wiedererinnerung) errichtet keine Hinterwelt des Geistes, sondern dient der Sicherung des konstruktiven Charakters theoretischen Wissens und einer Autonomieunterstellung. Es ergänzt das dialektische Modell der Wissensbildung und des Anfangs der Vernunft durch die Idee der ‚Theoria‘ und des selbständigen Lernens. Der Leser Platonischer Dialoge, insbesondere der so genannten ‚Sokratischen‘ Dialoge, stößt im Zusammenhang mit Erläuterungen der Wissensbildung auch auf ein ganz anderes Modell des Anfangs der Vernunft: das Modell der ‚Wiedererinnerung‘ ($nˇmnhsi«). Im Gegensatz zum dialektischen Modell erfolgt der Anfang der Vernunft im anamnetischen Modell nicht ‚in der Rede‘ und nicht agonal, sondern ‚in der Seele‘ und kontemplativ. Nicht wer ‚zu fragen und zu antworten weiß‘, wäre auf dem richtigen Wege, sondern derjenige, der über die bessere
9 Met. A1.980a1. 10 Vgl. An. pr. 24a25.
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Der Sokratische Dialog
Erinnerung verfügt. Die erkenntnistheoretischen Würfel sind, so scheint es, schon gefallen, bevor sich die philosophischen Subjekte um eine vernünftige Orientierung und Wissensbildung dialektisch bemühen. Wer die Anamnesislehre Platons so versteht, hat den Platonischen Wortlaut, möglicherweise aber nicht die Platonische Einsicht, die mit diesem Wortlaut verbunden ist, auf seiner Seite. Das läßt sich schon im Einführungszusammenhang dieses Kernstücks des erkenntnistheoretischen Platonismus verdeutlichen. Im „Menon“ geht es um das Problem der Lehrbarkeit der Tugend. Um dieses Problem zu lösen, soll vorab erläutert werden, was Tugend ist. Auf die Frage, ob man suchen könne, was man nicht kennt (in diesem Falle ein klares Verständnis von Tugend), antwortet Platon mit der Explikation seiner Anamnesislehre: Wissen wird im Modus der Wiedererinnerung verfügbar. Dieser behauptete Sachverhalt wird anhand eines geometrischen Beispiels, des Problems der Verdoppelung eines Quadrats, demonstriert.11 Ein geometrischer Laie, durch Sokrates argumentativ, jedoch nicht belehrend geführt, löst dieses Problem; sein Problemlösungswissen wird durch Hinweis auf ein ‚vorgeburtliches‘ Wissen erklärt. An dieses Wissen ‚erinnert sich‘ die Seele angesichts empirischer Gegenstände (anschaulicher Figuren im Sand) und empirischer Handlungen (Konstruktionshandlungen an anschaulichen Figuren). Auf den ersten Blick scheint damit tatsächlich ein Stück mythischer Anthropologie (zu erkenntnistheoretischen Zwecken) vorzuliegen, zumal Unsterblichkeitsbeweise (im „Phaidon“) den Kontext der Anamnesislehre bilden: Ein mythischer Wanderer wie der Pamphylier Er, dem es zu astronomischen Demonstrationszwecken (im 10. Buch der „Politeia“) vergönnt ist, aus dem Totenreich auf die Erde zurückzukehren, erinnert sich. Doch dies ist nur ein Stück metaphorischer Vergegenwärtigung. In Wahrheit geht es bei dem Platonischen Anamnesis-Theorem gar nicht um beibehaltene archaische Wiedergeburtsvorstellungen in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen, sondern um drei (für Platon wohl gleichgewichtige) systematische Dinge: (1) Die Lösung eines konkreten geometrischen Problems – dieser Teil ist mathematikhistorisch relevant. (2) Die Darstellung theoretischer Zusammenhänge und theoretischer Gegenstände anhand empirischer Zusammenhänge und empirischer Gegenstände – dieser Teil ist für die Ausbildung der Platonischen Ideenlehre (die Rede von den Ideen als den ‚Urbildern‘ empirischer Gegenstände) und damit wissenschaftstheoretisch für die Ergänzung des Begriffs des theoretischen Satzes durch den Begriff des theoretischen Gegenstandes relevant.12 (3) Die
11 Men. 82b-85b. 12 Vgl. dazu J. Mittelstraß, Platon, in: O. Höffe (Ed.), Klassiker der Philosophie I (Von den Vorsokratikern bis David Hume), München 1981, 38–62, hier 45–49.
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Vorstellung der Idee eines selbständigen Lernens – dieser Teil ist für die Bildung der Idee eines philosophischen Subjekts als des Subjekts der Wissensbildung relevant. Alle drei Teile sind darin aber nicht Gegensatz, sondern Korrelat einer dialektischen Vorstellung des Zusammenhangs von Produktion und Reproduktion des Wissens. Die ‚anamnetische‘ Fiktion, die die Wissensbildung als Vergewisserung dessen erscheinen läßt, was man schon weiß, dient hier der Sicherung des konstruktiven Charakters theoretischen Wissens und einer Autonomieunterstellung. Es sind unsere Konstruktionen, die das theoretische Wissen ausmachen, d.h., wir verdanken unser Wissen weder einer ‚Aufdringlichkeit‘ der Dinge noch einer ‚Laune der Götter‘, sondern allein uns selbst: wir ‚können schon‘, was wir tun, und wir ‚wissen schon‘, was wir erkennen. Die Rede von einem ‚anderen Ort‘, an dem die Seele ‚geschaut‘ hat, was sich als Wissen in konkreten Problemlösungssituationen bildet13, ist nichts anderes als metaphorischer Ausdruck einer theoretischen, auf die ‚Objektivität‘ des (zumal theoretischen) Wissens bezogenen, und einer praktischen, auf die ‚Subjektivität‘ der Wissensbildung und ihre autonomen Strukturen bezogenen Leistung. Sinnbild dieser Leistung ist die Theoria (in ihrer Platonischen und Aristotelischen Konzeption). Mit anderen Worten: das Anamnesis-Theorem ist keine Lehre von einer Hinterwelt des Geistes, sondern erneut eine – mit dem dialektischen Modell verträgliche – (metaphorische) Formel für den Anfang der Vernunft und die Form des Wissens. Der Platonismus des Anamnesis-Theorems Platons ist eine Erfindung des Platonismus und seiner Gegner. Damit ist auch gezeigt, daß die Sokratische Formel vom wissenden NichtWissen nicht etwa im Gegensatz zum Anamnesis-Theorem steht. So wie die Frage einen bestimmten Wissenshorizont, ein rahmenartiges Situations- und Selbstverständnis, voraussetzt, so die Feststellung des Nicht-Wissens ein thematisches Vor-Wissen (dessen, worum es in der Frage geht). Und wie jemand fragt, weil er etwas nicht mehr weiß oder etwas noch nicht weiß, dabei aber weiß, worum es ihm fragend geht (was ‚in Frage steht‘), so weiß auch derjenige, dem wie dem Sokrates der Sokratischen Dialoge ein Nicht-Wissen klar wird, wonach er zu suchen hat. Die Feststellung des Nicht-Wissens ist nicht das Ende einer Bemühung (wie im eristischen Dialog), sondern selbst eine Stufe des Wissens. Unser Nicht-Wissen ist Teil unseres Wissens, und zwar dialektischer Teil. Es ist in der Tat derselbe Sokrates, der die Formel vom wissenden Nicht-Wissen und das Anamnesis-Theorem vertritt; er ist, wie Platon selbst, kein Platonist. Wichtiger als die Verträglichkeit von Formel und Theorem ist allerdings, unter den Konstitutionsbedingungen des philosophischen Dialogs, der Umstand,
13 Vgl. Men 81c/d; Phaid. 74aff..
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daß im Sokratischen Dialog Wissensbildungsprozesse in erster Linie als Bildungsprozesse aufgefaßt werden, d.h. als Prozesse, in denen nicht nur ‚objektiv‘ gültiges Wissen, sondern auch ‚subjektive‘ Autonomie erzeugt wird. Wissen kann nach Sokratischer und Platonischer Überzeugung nicht von der Person dessen, der weiß bzw. Wissen erwirbt, abgekoppelt werden. Zumindest gilt dies für ein philosophisches Wissen. Dahinter steht die Einsicht, daß Wissen etwas mit dem Leben des Einzelnen zu tun hat, mit dessen (subjektiver) Autonomie. Anders ausgedrückt: der Sokratisch-Platonische Begriff der Person wird über Leistungen definiert, die praktischer und theoretischer Teil von Wissensbildungsprozessen sind. Daher rührt auch der so genannte Intellektualismus der Sokratischen Ethik, d.h. die Behauptung, daß sich wider besseres Wissen bzw. wider bessere Einsicht in das, was zu tun ist, nicht handeln läßt. Jedenfalls nicht unter Gefährdung der Einheit von Person und Handlung.
4.4 Vernunft Im Sokratischen Dialog erfolgt der Anfang der Vernunft weder unter Berufung auf fremde noch unter Berufung auf eigene Autorität. ‚Sich im Denken (im Dialog) orientieren‘ heißt nicht, sich an die Stelle anderer zu setzen, sondern mit anderen die Vernunftstelle zu finden. Mit dem anamnetischen Modell ist in der Platonischen Theorie des philosophischen Dialogs das maieutische Modell der Wissensbildung und des Anfangs der Vernunft systematisch und genetisch verbunden. Im Sinne der behaupteten Selbständigkeit des Lernens lehrt der Platonische Sokrates nicht; er assistiert lediglich, wenn auch so, daß der vernunft- und wissensbildende Dialog als ein Lernprozeß verstehbar bleibt. Die Sokratische Formel vom wissenden Nicht-Wissen erscheint hier als Kernstück einer epistemischen Maieutik, deren Funktion es ist, den Übergang vom Zustand des bloßen Meinens, in dem die Menschen nicht wissen, ‚was sie tun und sagen‘, und der eristisch herbeigeführten Aporie, in der mit dem vermeintlichen Wissen auch das Meinen seine Selbstverständlichkeit verloren hat, in den Zustand der Wissensbildung methodisch zu machen. Die Sokratische Rolle ist dabei die Rolle dessen, der den Forschungsprozeß in Bewegung hält, ihn durch Erschütterung vermeintlicher Sicherheit (Sokrates als ‚Zitterrochen‘14) und durch Beihilfe zur Selbständigkeit (Sokrates als ‚Hebamme‘15) fördert. Der Umstand, daß der Platonische Sokrates mehr weiß, als er zu erken-
14 Men. 80a-d. 15 Theait. 148d-151d.
Vernunft
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nen gibt, ist dabei systematisch ohne Belang. Es ist ja gerade das Ziel dessen, der im Dialog den Part der epistemischen Maieutik vertritt, sich selbst überflüssig zu machen. Es wäre allerdings ein Mißverständnis, wollte man in der epistemischen Zurückhaltung des Platonischen Sokrates nur ein Stück philosophischer Regie sehen, die den Dialog ‚in Gang hält‘, indem sie dem Wissenden den Mund verschließt. Vielmehr geht es unter dem Gesichtspunkt der Konstitution des philosophischen Dialogs darum, nicht nur die Berufung auf fremde Autorität (darunter geltende Meinungen), sondern auch die Berufung auf eigene Autorität als der Sache der Vernunft abträglich abzuwehren. Inhalt vernünftiger Selbständigkeit, die der philosophische Dialog verwirklichen soll, ist ein Denken, das sich weder auf fremde noch auf eigene Autorität beruft. Anders ausgedrückt: zu den Schwierigkeiten eines philosophischen Dialogs gehört auch, sich nicht selbst an die Stelle anderer zu setzen, wenn es darum geht, ‚sich im Denken zu orientieren‘. Vorausgesetzt ist dabei natürlich, daß es im philosophischen Dialog nicht um den Transport gesicherten Wissens von einem Subjekt zum anderen geht, sondern um den Anfang der Vernunft und den Eintritt in selbständige Wissensbildungsprozesse, kurz: um eine philosophische Orientierung. Der philosophische Dialog ist jene ‚anthropologische‘ Stelle, an der versucht wird, im Rahmen von Wissensbildungsprozessen die Singularität des Anderen und die eigene Singularität zum Verschwinden zu bringen. Daß dabei nicht die Subjekte verschwinden, d.h. eine richtig verstandene Subjektivität preisgegeben wird, ist eine weitere Eigenschaft des philosophischen Dialogs. Sie unterscheidet ihn z.B. von der Meditation, in der sich mit der Aufgabe eigener Ansprüche auch das Subjekt verliert. Subjekt des philosophischen Dialogs ist der Philosoph – nicht als magister artium, sondern als Gesprächspartner des Sokrates. Die Platonische Definition des philosophischen Dialogs über dialektische, anamnetische und maieutische Eigenschaften fordert auch hier Bescheidenheit. Eine Annäherung an die Idee des Vernunftwesens, die der philosophische Dialog leisten soll, geht für Beteiligte und Unbeteiligte, wie eine Platonische Karikatur vorsorglich erkennen läßt, nicht ohne erhebliche Beeinträchtigungen ‚weltlicher‘ Perspektiven ab. Philosophen „wissen nicht einmal den Weg zum Markt“16, „Feste mit Flötenspielerinnen“ zu besuchen, „fällt ihnen im Traum nicht ein“17, ihre Seelen schweifen „unter der Erde“ und „über dem Himmel“, nur nicht „im Staate“, wo allein ihr Körper wohnt18. Thales, der, von einer thraktischen Magd verspottet, in einen Brunnen
16 Theait. 173c/d. 17 Theait. 173d. 18 Theait. 173e.
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Der Sokratische Dialog
fiel, weil seinem Sternenblick das, was vor seinen Füßen lag, unbekannt blieb, ist, seit Platon dieser Anekdote zu philosophischem Ausdruck verhalf, das Sinnbild des Philosophen, der „aus Unerfahrenheit in Gruben und in allerlei Verlegenheit fällt“19; aber eben auch Sinnbild dessen, der, unbemerkt von Thrakerinnen und dem, was man den gesunden (und geschäftigen) Menschenverstand nennt, nicht „schwindelnd von der Höhe herüberhängt“, wenn von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Glück und Elend die Rede ist20. Der aufrechte Gang führt zwar häufig in „Gruben“ und „allerlei Verlegenheiten“, aber er führt, nach Platon, „unter der sterblichen Natur“ auch zur „Verähnlichung mit Gott“21. Daran sollten allerdings wieder keine falschen Hoffnungen geknüpft werden. Schließlich bleiben auch den Göttern der Griechen, wenn man ihren Erzählern Glauben schenken darf, thaletische Mißgeschicke ‚unter der sterblichen Natur‘ nicht erspart, was sie wiederum uns, den Unähnlichen, ähnlich macht. Eine philosophische Orientierung ist offenbar etwas, das zwischen Menschen und Göttern ausgemacht werden muß – mit leichten Vorteilen übrigens (in griechischer Perspektive) auf Seiten der Menschen, was die Bereitschaft und die Fähigkeit betrifft, in einen philosophischen Dialog zu treten.
4.5 Philosophie Philosophie läßt sich nicht sagen (in Form von Lehrbuchwissen), sondern nur tun (in Form von philosophischen Dialogen bzw. einer verwirklichten philosophischen Orientierung). Philosophie ist argumentatives Handeln unter einer Vernunftperspektive und insofern eine Lebensform. Wenn der philosophische Dialog Medium der (philosophischen) Wissensbildung und der philosophischen Orientierung ist, dann in Form konkreter Dialoge. Der Grund ist selbst ein dialogischer: das geschriebene Wort antwortet nicht. Ist sie „einmal geschrieben, so irrt auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht“22. Das heißt erstens, daß erst die Möglichkeit von Frage und Antwort einen Dialog konstituiert. Wo nicht mehr gefragt und nicht mehr geantwortet wird, geht ein Dialog direkt in Forschung über. Resultate der Forschung lassen sich aufschreiben, Forschungsprozesse im
19 20 21 22
Theait. 174c. Theait. 175c/d. Theait. 176b. Phaidr. 275d/e (Übersetzung hier wie bei anderen Zitaten nach F. Schleiermacher, Platons Werke, I–VI, ed. W. F. Otto/E. Grassi/G. Plamböck, Hamburg 1958–1960).
Philosophie
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strengen Sinne nicht. Wichtig ist dabei vor allem eine pragmatische Perspektive; es geht um das Zustandekommen von Dialog und (mittelbar) Forschung, nicht um Bedeutungen, d.h. um eine semantische Ebene. Das führt zweitens zur These Platons, daß sich Philosophie „nicht in Worte fassen läßt“23. Wo Philosophie in Worte gefaßt, d.h. aufgeschrieben wird, verliert das, was gesagt wird, seinen pragmatischen Zusammenhang mit der Situation (dem Dialog), in der (in dem) es gesagt wird. Selbst unter Berücksichtigung des möglichen exemplarischen Charakters einer derartigen Situation, auf den auch die ‚geschriebenen‘ Platonischen Dialoge abheben, kommt es zu einer Verselbständigung des geschriebenen Wortes: das geschriebene Wort ‚irrt umher‘; es vermag die Rolle philosophischer Dialoge, nämlich Träger einer philosophischen Orientierung zu sein, nicht oder doch nur in der Weise eines Berichts zu übernehmen. Es trägt Bedeutungen, keine Praxis.24 Zudem geht das, was philosophisches Wissen im Dialogkontext von bloßer Meinung unterscheidet, im schriftlichen Kontext verloren. Mittelbarkeit philosophischen Wissens ist nach Platon durch Transformation von Einsichten in Meinungen erkauft. Wo der pragmatische Zusammenhang fehlt, ist die eigentliche Leistung des philosophischen Dialogs, nämlich die Überführung von Meinungen in habituelle Einsichten, damit Teile einer philosophischen Orientierung, wieder rückgängig gemacht. Einsichten und Meinungen haben nur pragmatisch eine verschiedene, semantisch dieselbe Struktur. In diesem Sinne ist Philosophie nach Platon stets argumentatives Handeln unter einer Vernunftperspektive oder, wie es zuvor unter dem Stichwort Dialektik hieß, eine Lebensform. Gegensatz dieser Form der Philosophie ist die monologische Meditation, in Platons Erfahrungsbereich etwa das ‚dunkle‘ Denken Heraklits, und die eristische Auseinandersetzung, in Platons Erfahrungsbereich repräsentiert durch die Sophistik. Die Platonische ‚Schriftkritik‘ ist demnach nicht etwa ein Hinweis auf den systematisch unvollendeten Charakter der Dialoge, wie unter dem Stichwort der ‚ungeschriebenen Lehre‘ häufig behauptet wird25, sondern Ausdruck der mit der
23 Epist. VII 341c. 24 Vgl. dazu auch die einschlägigen Analysen bei W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982. 25 Vgl. H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der Platonischen Ontologie, Heidelberg 1959 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philos.-hist. Kl. 1959, 6. Abh.), 24ff., 400ff.; H. J. Krämer, Retraktationen zum Problem des esoterischen Platon, Museum Helveticum 21 (1964), 137–167, hier 143ff.; K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 21968, 3, 588. Kritisch dazu: K. v. Fritz, Die philosophische Stelle im siebten platonischen Brief und die Frage der ‚esoterischen‘ Philosophie Platons, Phronesis 11 (1966), 117–153, hier 144ff.; J. Mittelstraß, Ontologia more geometrico demonstrata, Philosophische Rundschau 14 (1966), 47–60 (in diesem Band
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Wahl der Dialogform selbst schriftlich ‚versinnlichten‘ Einsicht, daß sich philosophisches Wissen, d.h. eine philosophische Orientierung, dessen Träger der konkrete philosophische Dialog ist, nicht in ein Lehrbuchwissen transformieren läßt. Deshalb unterscheidet Platon auch zwischen dem Wissen (ãpist‹mh) der Wissenschaften und einem ‚dialektischen‘ Wissen (toÜ dialwgesuai ãpist‹mh)26, ohne damit die heute geläufige Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Philosophie zu treffen, die von einem semantischen Mißverständnis auf der Ebene der Sätze herrührt (Unterscheidung zwischen empirischen und analytischen Sätzen auf der einen Seite, ‚metaphysischen‘ Sätzen auf der anderen Seite). Gemeint ist vielmehr, daß erst der dialektische Umgang mit dem Wissen dieses zu dem macht, was es nach Platon sein soll, nämlich zu einem philosophischen Wissen. Orientierungen in der Wissensbildung der Wissenschaften sollen als philosophische ausgewiesen, die Idee der Wissensbildung um ihre dialektischen Anfänge wieder ergänzt werden. In diesem Sinne besagt auch die auf den ersten Blick so spekulativ anmutende Platonische Konzeption einer ‚Idee des Guten‘, die sowohl die ‚Wahrheit der Dinge‘ als auch das ‚Vermögen der Erkenntnis‘ gewährleistet27, nichts anderes, als daß die praktische und die theoretische Intention der Dialektik im Wissen der Wissenschaften verwirklicht werden sollen. Platons berühmte Mathematikerkritik, die der Unterscheidung zwischen dem Wissen der Wissenschaften und einem dialektischen Wissen vorausgeht28, macht denn auch deutlich, daß diese Ergänzung nicht etwa eine Einbuße an wissenschaftlicher Rationalität bedeutet, sondern Lücken, in diesem Falle Anfänge, die keine sind, erkennbar macht.29 Damit ist auch dem Eindruck falscher Esoterik gewehrt, den die Formel, daß sich Philosophie ‚nicht in Worte fassen läßt‘, nahelegt. Es geht hier nicht um Erfahrungen, die sich jeder Kontrolle entziehen, auch nicht um ein ‚höheres‘ Wissen, das nur ‚Eingeweihte‘ zu gewinnen vermögen, sondern um die Vermittlung
26 27 28 29
145–160); ferner, im Rahmen einer umfassenden Dokumentation der einschlägigen Texte und ihrer Interpretation, W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy IV (Plato. The Man and His Dialogues: Earlier Period), Cambridge 1975, 56ff., V (The Later Plato and the Academy), Cambridge 1978, 418–442. Pol. 511b/c. Pol. 508d-509b. Pol. 510c-e. Vgl. J. Mittelstraß, Die Entdeckung der Möglichkeit von Wissenschaft, Archive for History of Exact Sciences 2 (1962–1966), 410–435, hier 425ff., wiederabgedruckt in: J. Mittelstraß, Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt 1974, 29–55, 209–221, hier 43ff.. Zur näheren Erläuterung des Verhältnisses von ‚Mathematik‘ und ‚Philosophie‘ in der „Politeia“, im wesentlichen am Begriff des ‚hypothetischen Verfahrens‘ orientiert, vgl. R. C. Cross/A. D. Woozley, Plato’s Republic. A Philosophical Commentary, London/New York 1964, 231ff..
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von Einstellungen, die die Vernunft, auch die Vernunft in den Wissenschaften, gerade befördern sollen. So ist z.B., und auch dies ist Teil der erwähnten Mathematikerkritik Platons, die Verdeutlichung des lfigon didfinai, d.h. die Herausstellung einer (theoretische und praktische Elemente einschließenden) Begründungsverpflichtung, zentraler Teil der Platonischen Philosophie. Als solcher ist diese Verpflichtung gerade nicht esoterisch – sie wendet sich an jede Form der Wissensbildung –, aber auch nicht bloß methodologisch – ihre Übernahme ist abhängig vom ‚guten Willen‘, vom Eintritt in die mit ihr gegebene philosophische Orientierung. Zu einer solchen Übernahme soll im philosophischen Dialog geführt werden; demonstrieren läßt sie sich nicht. Heute wird an dieser Stelle in der Ethik von einem ‚Dezisionismusrest‘, eben einer ‚Entscheidung‘ für die Vernunft, gesprochen.30 Damit wird im SokratischPlatonischen Sinne etwas Richtiges gesehen und häufig gleichzeitig etwas Falsches suggeriert. Richtig ist, daß keine Demonstrationen und keine Deduktionen zu einer philosophischen Orientierung führen, falsch ist, daß der Eintritt in eine philosophische Orientierung der gleichen Art sei wie ein unüberlegtes Handeln (nach der Formel ‚ich tus, weil ichs will‘). Im Grunde ist dabei schon die Rede von einem ‚Eintritt‘ in eine philosophische Orientierung mißverständlich. Ein solcher Punkt läßt sich in Wahrheit gar nicht isolieren, auch nicht in einem philosophischen Dialog. Dieser muß vielmehr durch sich selbst zeigen, daß eine philosophische Orientierung existiert bzw. daß die Subjekte in einem philosophischen Dialog eine philosophische Orientierung verwirklichen. Darüber hinaus läßt sich über die Vernunft des Einzelnen nichts sagen.
4.6 Dialogisches Wissen Dialogwissen ist nur in einem Dialog darstellbar. Während Lehrbuch und philosophischer Traktat unter dem Zwang systematischer Vollständigkeit stehen, transportiert der literarische (philosophische) Dialog in exemplarischer und das Allgemeine konkretisierender Form Erfahrungen mit dem Denken und einer philosophischen Orientierung. Indem Platon die philosophische Wissensbildung in Form von Dialogwissen darstellt, trägt er seiner Formel, daß sich Philosophie ‚nicht in Worte fassen läßt‘,
30 Vgl. dazu F. Kambartel, Wie ist praktische Philosophie konstruktiv möglich? Über einige Mißverständnisse eines methodischen Verständnisses praktischer Diskurse, in: F. Kambartel (Ed.), Praktische Philosophie und konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt 1974, 9–33, hier 10ff..
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Der Sokratische Dialog
Rechnung, ohne damit von vornherein auf die Möglichkeit der Weitergabe einer philosophischen Orientierung zu verzichten. Angesichts der Sokratischen Dialogpraxis stellt Platon in den Dialogen seine Erfahrung mit dieser Praxis dar. Das ist theoretisch konsequent und literarisch einsichtig. Die Dialogform von Texten, insbesondere wenn es sich dabei um philosophische Texte handelt, vermag deren Textcharakter teilweise aufzuheben: der Leser wird in den Dialog über Identifikations- und Beurteilungsleistungen hineingezogen, auch wenn es sich dabei in erster Linie nicht um koargumentierende Leistungen, sondern um Illusionsleistungen handelt. Mit anderen Worten: der Dialog ist diejenige Form der Schriftlichkeit, die noch am ehesten fähig ist, das Ziel der Herstellung einer philosophischen Orientierung mit Rezeptionsvorgängen zu vermitteln. Verwechslungsmöglichkeiten mit einem Lehrbuchwissen entfallen, aporetische Strukturen unterstreichen den situationsvarianten Charakter einer Philosophie, die nicht objektives Wissen, sondern philosophische Einstellungen zu transportieren sucht. Zwanglos ergeben sich dabei aus der Wahl der Dialogform, die der Platonischen Definition der Philosophie als eines argumentativen Handelns unter einer Vernunftperspektive folgt, auch gewisse Darstellungsvorteile gegenüber den sonst üblichen Lehrbuch- oder Traktatformen. Ein Dialog nach Art der Platonischen Dialoge erlaubt (1) das Ausklammern bestimmter Fragestellungen und Probleme für den Fall, daß diese nicht oder noch nicht befriedigend behandelt werden können, (2) den Vortrag von Meinungen und Teilen geltenden (darunter z.B. auch wissenschaftlichen) Wissens ohne explizite Stellungnahme, (3) die Zurückhaltung eigener Positionen z.B. für den für Platon relevanten Fall, daß diese mit der von Sokrates im Dialog vertretenen Position nicht übereinstimmen oder selbst noch nicht in diskutierbarer Form festgelegt sind. In allen genannten Fällen wird das, was nicht erörtert werden soll oder kann, im Dialog einfach nicht erwähnt; ein Zwang zur systematischen Vollständigkeit, unter dem Lehrbücher und Traktate stehen, besteht nicht. Ein Dialog erlaubt aber auch (4) die Revision von Positionen im Laufe der Erörterung, ohne daß dies die Notwendigkeit nach sich zöge, die vorausgegangenen Teile, die nun nicht mehr stimmen bzw. nicht mehr vertreten werden sollen, neu zu schreiben (wiederum im Gegensatz zur systematischen Form der Lehrbuch- und Traktatliteratur, die nicht zuläßt, daß man auf Seite 188 sagt, man habe sich auf Seite 73 geirrt). Und ein Dialog erlaubt schließlich ohne Bruch der literarischen Form (5) den Einsatz literarischer Mittel wie Situationsbeschreibungen (die natürlich für die Darstellung philosophischen Wissens als Dialogwissens wesentlich sind), Ironie und mythische Erzählungen. So dienen die in den Platonischen Dialogen zunächst überraschend zahlreichen Mythen einerseits veranschaulichenden und erläuternden Zwecken, die dialogisch nicht darstellbar sind, andererseits der Vergegenwärtigung dessen, was
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in einer systematisch kontrollierbaren Form noch nicht zur Verfügung steht, z.B. die Rede über die Seele und deren Unsterblichkeit (im „Phaidon“ und „Phaidros“). Mit diesen Darstellungsvorteilen, die die Dialogform mit sich bringt, entlastet der (geschriebene) philosophische Dialog keineswegs nur (zugunsten literarischer Qualitäten) von gewissen systematischen Zwängen, denen Lehrbuch und Traktat unterliegen, er begegnet vielmehr auch wirkungsvoll deren unter Systematisierungszwängen entstehenden Tendenz zur dogmatischen Form. An die Stelle theoretischer (dogmatischer) Vollständigkeit tritt hier die exemplarische Vergegenwärtigungsleistung als wesentliche Eigenschaft philosophischer Wissensbildung und ihrer literarischen Vermittlung. Insofern der Dialog nicht so sehr theoretisches, sondern exemplarisches Wissen vermittelt, zudem ein Wissen, mit dessen Bildung sich der Leser (als dialogisches Ich) selbst (zumindest partiell) zu identifizieren vermag, den er sogar fortführen kann (wozu andere literarische Formen wie Roman und Drama keine Veranlassung bilden), erfüllt er auch die Aristotelische Charakterisierung der Poesie, nämlich ‚philosophischer‘ (wissenschaftlicher) zu sein als die Geschichtsschreibung31, in besonderem Maße: der philosophische Dialog stellt das Allgemeine, hier in Form einer philosophischen Orientierung dar. In seiner exemplarischen und das Allgemeine konkretisierenden Leistung steht er damit zwischen dem faktischen Dialog, in dem die Philosophie nicht gesagt, sondern getan wird, und dem wissenschaftlichen Text, der durch sich allein keine philosophische Orientierung zu vermitteln vermag. Der philosophische Dialog gibt in Form eines aufgeschriebenen Dialogs, nach Platon, in exemplarischer Weise eine philosophische Dialogerfahrung wieder, und indem er dies tut, vermag auch er (mittelbar) zu lehren, was Philosophie ist.
4.7 Dialogische Vernunft Vernunft ist nicht demonstrierbar, sie zeigt sich im philosophischen Dialog. Sie ist insofern ihrem Wesen nach dialogische Vernunft wie Transsubjektivität als ‚Inhalt‘ der philosophischen Orientierung eine Leistung von Subjekten, der lebensweltlichen Subjektivität, ist. Die Rede vom Sokratischen Dialog unterstellt, daß mit der philosophischen Wissensbildung die Bildung einer philosophischen Orientierung und die Bildung eines philosophischen Subjekts verbunden sind. Nur im Medium einer philosophischen Orientierung und nur über in einer philosophischen Orientierung ste-
31 Art. poet. 9.1451b5–6.
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hende Subjekte erfolgt eine philosophische Wissensbildung. Dies macht die Idee des philosophischen Dialogs im Sokratisch-Platonischen Verständnis der Philosophie sowie die Vorstellung aus, daß Wissensbildungsprozesse in erster Linie als Bildungsprozesse aufgefaßt werden müssen. Diese Vorstellung ist wiederum nicht nur geeignet, ein besseres Verständnis der Philosophie und philosophischer Forschung zu vermitteln, sie läßt sich auch auf eine Analyse der Konstitutionsbedingungen nicht-philosophischen Wissens anwenden. So gehört es zum Begriff der Rekonstruktion wissenschaftlichen Wissens, daß dieses als Resultat sowohl eines historischen als auch eines argumentativen Prozesses begreifbar ist. Jedes Wissen hat eine ‚Geschichte‘ und eine, in Platonischen Kategorien gesprochen, dialektische Struktur. Eine solche Vorstellung hat denn auch mit der Unterscheidung zwischen interner und externer Geschichte Eingang in die neuere Theorie der Wissenschaftsgeschichte gefunden. Bei Lakatos bestimmt sie sogar wieder die Form der Darstellung selbst: im Rahmen historischer Fallstudien zur Mathematik enthält ein Dialog zwischen ‚Lehrer‘ und ‚Schülern‘ die interne Geschichte (z.B. der Descartes-Eulerschen Vermutung, daß zwischen Eckenzahl E, Kantenzahl K und Flächenzahl F eines Polyeders die Beziehung E – K + F = 2 besteht), während historische und ‚biographische‘ Informationen, die dieser Konzeption entsprechend die externe Geschichte ausmachen, in den Anmerkungen stehen.32 Der Dialog ist der Darstellung nicht äußerlich, sondern gibt die innere Struktur wissenschaftlicher Entwicklungen wieder („the dialogue form should reflect the dialectic of the story“33). Was hier für wissenschaftliche Entwicklungen geltend gemacht wird, gilt in besonderem Maße für philosophische Entwicklungen. Diese sind ohne Inanspruchnahme dialektischer Orientierungen, d.h. ohne die Unterstellung, daß ihre Wissensbildung die Struktur von Dialogbeziehungen aufweist, in Wahrheit kaum verständlich, selbst wenn ihre (historischen) ‚Erscheinungen‘ eher auf das Gegenteil schließen lassen, philosophische Entwicklungen geradezu als Monumente monologischer Vereinzelung erscheinen. Die Anwendbarkeit des dialogischen Modells der Wissensbildung auf wissenschaftliche und philosophische Entwicklungen ist allerdings nicht das Ent-
32 I. Lakatos, Proofs and Refutations. The Logic of Mathematical Discovery, ed. J. Worrall/E. Zahar, Cambridge etc. 1976. Zur Unterscheidung zwischen ‚interner‘ und ‚externer‘ Geschichte vgl. I. Lakatos, History of Science and Its Rational Reconstructions in: R. C. Buck/R. S. Cohen (Eds.), PSA 1970. In Memory of Rudolf Carnap (Proceedings of the 1970 Biennal Meeting Philosophy of Science Association), Dordrecht 1971 (Boston Studies in the Philosophy of Science VIII), 91–136, hier 105ff., wiederabgedruckt in: I. Lakatos, Philosophical Papers, I–II, ed. J. Worrall/G. Currie, Cambridge etc. 1978, I, 102–138, hier 118ff.. 33 Proofs and Refutations, 5.
Dialogische Vernunft
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scheidende. Sollte sie sich nämlich als nicht gegeben erweisen, ist damit nicht auch schon die Sokratische Idee des philosophischen Dialogs selbst hinfällig geworden. Entscheidend ist vielmehr, daß dieser Idee nach der philosophische Dialog, und nur er, Träger und einlösende Instanz von Vernunftvermutungen ist. Vernunft ist eben nichts, das sich in irgendeiner Weise demonstrieren ließe, sondern etwas, das sich im philosophischen Dialog zeigt. Sie zeigt sich in rechtverstandener Agonalität: die Subjekte arbeiten ihre Subjektivität aneinander ab. Transsubjektivität als ‚Inhalt‘ der philosophischen Orientierung ist daher auch stets eine Leistung konkreter Subjekte; andernfalls wäre sie auch von ‚Objektivität‘ als einer Eigenschaft instrumentalen Wissens nicht unterscheidbar. Mit anderen Worten: Transsubjektivität ist etwas, das nur Subjekte können, das nur die konkrete lebensweltliche Subjektivität kann. Der philosophische Dialog, dem es weder um die Demonstration subjektiver Überlegenheit (in Verfolgung einer sophistischen Intention) noch um den bloßen Austausch von Meinungen, sondern um die Herstellung einer philosophischen Orientierung und Transsubjektivität der philosophischen Subjekte (Sokratische Intention) geht, ist damit das Medium dessen, was Platon als ‚in der Philosophie leben‘ bezeichnet hat.34 Philosophie insofern, noch einmal, nicht als ein gegenüber den Wissenschaften konkurrierendes Modell der Wissensbildung, sondern als eine Lebensform. Teil dieser Lebensform ist dann auch die philosophische Forschung in Form von theoretischen Ausarbeitungen (z.B. in Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie), begrenzt durch Einschränkungen, die sich die dialogische Vernunft, d.h. Vernunft, die sich nur im Dialog zeigt, selbst setzt. Ihre Grenzen sind Grenzen der Transsubjektivität, nicht Grenzen der Dinge oder der Methoden. Dies widerspricht keineswegs der prinzipiellen Offenheit des Dialogs, die in dessen Form liegt. Der philosophische Dialog demonstriert daher auch die prinzipielle Offenheit der philosophischen Forschung: über eine philosophische Orientierung läßt sich nicht abschließend befinden. Platon, der die Idee des philosophischen Dialogs, gebildet auf dem Hintergrund einer Sokratischen Dialogerfahrung, der Philosophie zu ihrem Wesen macht, hat bereits selbst damit begonnen, die philosophische Forschung gegenüber der Lebensform, dessen Teil sie ihrer Sokratischen Form nach ist, allmählich zu verselbständigen. Neben die Weitergabe der Sokratischen Dialogerfahrung tritt der Aufbau eines philosophischen Wissens, das, wenngleich noch immer unter kooperativen Perspektiven, seinen ‚Sitz‘ in einer Lebensform zunehmend verbirgt. Die Sokratische Einheit der philosophischen Orientierung tritt zurück; die Gefahr des Übergangs von einem dialogischen oder dialektischen systematischen
34 Theait. 174a/b.
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Der Sokratische Dialog
Denken zu einem monologischen Denken in Systemen wird zu einem in der Geschichte der Philosophie immer größer werdenden Schatten der ursprünglichen Platonischen Idee philosophischer Wissensbildung. Der Platonismus holt Platon ein. Mit dem Platonismus konkurriert (nach Ryle) die Universität: „Die Unpersönlichkeit der späten Dialoge Platons, wie die der Vorlesungen des Aristoteles, spiegelt die Entstehung der Philosophie als Forschung mit eigenem Antrieb, eigenen Techniken und selbst mit einem eigenen akademischen Curriculum wider. Platon ist nun mit der Schaffung einer professionellen philosophischen Prosa befaßt. Wie der Disput um des Sieges willen der Diskussion um der Entdeckung willen weicht, so die Literatur der elenktischen Auseinandersetzung der Literatur einer kooperativen philosophischen Untersuchung. Die Universität ist entstanden.“35 Eine Universität, in der mit dem philosophischen Dialog auch eine philosophische Orientierung zu verschwinden beginnt. Auch die Universität unserer Tage hat noch Philosophie (als ein Fach unter Fächern), aber sie hat – Sokrates und Platon, aber auch Kant, Fichte und Hegel sei es geklagt – keine philosophische Orientierung mehr. Insofern ist auch der hier vorliegende Versuch über den Sokratischen Dialog wohl eher ein Beitrag zur Vergangenheit als zur Gegenwart der Philosophie und der Universität.
35 Plato, in: P. Edwards (Ed.), The Encyclopedia of Philosophy VI, London/New York 1967, 333.
Das Schöne
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5. Eros – der älteste Gott 5.1 Das Schöne Das „Symposion“ ist vielleicht das faszinierendste, mit Sicherheit wirkungsvollste Werk Platons. In der Antike bildet es mit der Hypostasierung des Schönen und des Guten den Angelpunkt sowohl für die spekulativen Formen des Platonismus (Plotin) als auch für ihre christliche Transformation (Augustin), in der Renaissance feiert man mit seiner Wiederentdeckung (überliefert sind, vollständig oder in Teilen, über 50 griechische Handschriften1) sich selbst, einerseits in der Doppelgestalt der Aphrodite, andererseits in der (schon damals reichlich mißverständlichen) Entdeckung der ‚Platonischen Liebe‘. Mit dem Cambridger Platonismus und dem Deutschen Idealismus, insbesondere Hölderlins „Diotima-Gedichten“, mit Klassik und Romantik, z.B. in Friedrich Schlegels früher Arbeit „Über die Diotima“ (1795) und in dem ‚offenen‘ Roman „Lucinde“ (1799), einschließlich seiner Elemente der ‚reizenden Verwirrung‘ und des ‚künstlich Geordneten‘2, setzt sich die Wirkung dieses Dialogs, meist an den Diotima-Passagen festgemacht, bis hin zur Identifikation mit der Platonischen Philosophie fort. Und noch in T. S. Eliots „The Cocktail Party“ (1949), von der es allerdings wenig Philosophisches zu berichten gibt, spiegelt sich das Platonische Muster (wie auch das der Euripideischen Tragödie „Alkestis“) wider. Was macht das „Symposion“ in der Rezeption so einzigartig? Das Thema Erotik? Das Aufeinandertreffen des Dionysischen und des Apollinischen? Die Verbindung des Sublimen mit dem Groben? Die raffinierte szenische Aufbereitung, von der noch, quasi in einer Momentaufnahme, das monumentale Gemälde „Gastmahl des Plato“ (1869) von Anselm Feuerbach zeugt (Abb. 1)? Dabei handelt es sich um eine höchst verzwickte Geschichte, nicht nur unter philosophischen, sondern auch unter kompositorischen Aspekten. So weist der Dialog merkwürdig distanzierende, das Geschehen in weite Ferne rückende Elemente auf. Apollodoros aus (dem athenischen Viertel) Phaleron, ein als anhänglich, aber auch ein wenig schlicht beschriebener Schüler des Sokrates, erzählt, was ein Nichtgenannter, der zum Zeitpunkt des Geschehens noch ein Kind gewesen war, von Aristodemos, ebenfalls einem Sokrates-Schüler, vor langer Zeit er-
1 Vgl. Chr. Brockmann, Die handschriftliche Überlieferung von Platons Symposion, Wiesbaden 1992 (Serta Graeca. Beiträge zur Erforschung griechischer Texte 2). 2 Dazu J. Mittelstraß, Die Kunst, die Liebe und Europa. Philosophische Seitenblicke, Berlin 2012, 134–152 (Platon, die Liebe und was daraus wurde).
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Eros – der älteste Gott
Abb. 1: Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Platon, ÖL/LW, 1869, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle, erste Fassung.
fahren habe. Also ein Bericht um drei Ecken. Wesentlicher Teil der Rede des Sokrates ist wiederum ein Bericht über dessen Gespräch mit Diotima, einer (wohl fiktiven) Priesterin, aus dem in Arkadien gelegenen Mantinea, und seiner Unterweisung in das Wesen des Eros durch Diotima. Eine Erzählung wird erzählt, eine Stellungnahme einer anderen in den Mund gelegt. Offenbar sollen Aspekte des kunstvoll Aufbereiteten, des Umwegigen, Fiktiven betont, das Romanhafte der beschriebenen Situation hervorgekehrt werden. Die Geschichte ist schnell erzählt. Der attische Tragiker Agathon feiert in kleinerem Kreise seinen am Vortag errungenen und bereits festlich begangenen ersten Sieg im tragischen Agon (dem dichterischen Wettkampf an den Lenäen, d.h. dem Gott Dionysos gewidmeten Festspielen, 416 v. Chr.). Sokrates kommt wie immer zu spät; er ist gedankenverloren vor dem Nachbarhaus stehengeblieben. Als er schließlich eintrifft, ist das Gastmahl vorbei. Man hat sich auf Vorschlag des Eryximachos, der als erfahrener Arzt vom üblichen unmäßigen Trinken abrät – die Feier am Vortag wirkt wohl noch nach – und gleich auch noch dafür sorgt, daß die zunächst anwesenden Flötenspielerinnen wieder verschwinden, darauf geeinigt, Lobreden auf den Eros zu halten. Dieser werde, wie der ebenfalls anwesende Phaidros, Titelgeber des großen anderen Dialogs Platons mit erotischen Zügen, gesagt habe, in der Dichtung arg vernachlässigt. Das läßt man sich nicht zweimal sagen. Es werden sieben Reden gehalten. Den Anfang macht Phaidros selbst, dann folgen Pausanias, Eryximachos, Aristophanes und Agathon, auf dessen Rede Sokrates kritisch antwortet, um anschließend von seiner Unterweisung durch Diotima zu berichten. Den Abschluß bildet Alkibiades, der betrunken hereinstürzend die Ordnung des Symposions durch-
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einanderbringt, mit seiner Lobrede auf Sokrates, in der die Erosthematik mit dem Wesen der Sokratischen Lebensform verschmilzt. Das Ganze endet in einem wüsten Trinkgelage mit hereinströmenden Nachtschwärmern. Gegen Morgen sind nur noch Agathon, Aristophanes und Sokrates wach; man trinkt und diskutiert, immer wieder angetrieben von Sokrates, weiter. Schließlich schlafen auch Agathon und Aristophanes ein. Sokrates geht wie jeden Tag ins Lykeion, ein außerhalb der Stadtmauern Athens gelegenes Gymnasion, und kehrt erst abends nach Hause zurück. Phaidros erfüllt mit seiner Rede die üblichen Erwartungen, indem er unter Hinweis auf den frühgriechischen Dichter Hesiod („Eros, der schönste unter den unsterblichen Göttern“3) und Parmenides Eros, selbst elternlos, als einen der ältesten Götter und die päderastische Liebe preist. Dabei klingen bereits Motive der folgenden Reden an: Während die Liebesgöttin Aphrodite im Gegenstand der Liebe ist, als eine Macht, die Liebe auf sich zieht, ist Eros im Liebenden, als eine Macht, die den Liebenden treibt. Fast ein wenig seltsam wirkt, daß dabei nicht so sehr das Faktum Liebe, d.h., was sie tut, hervorgehoben wird, sondern deren mittelbare Wirkung, nämlich die von ihr bewirkte schamhafte Abstinenz des Liebenden gegenüber allem Häßlichen und Schändlichen unter den Augen des begehrten Menschen. Kein Wunder, daß diese Rede in ihrem konventionellen Charakter nicht zündet. Pausanias, Repräsentant der Sophistik, hakt an den Unzulänglichkeiten der Rede des Phaidros ein, indem er auf zwei unterschiedliche Eroten hinweist, kultisch in Form zweier Aphroditen, nämlich (nach Hesiod) einer himmlischen Aphrodite, der mutterlosen Uranos-Tochter (daher auch Urania genannt), und (nach Homer) einer gemeinen Aphrodite, der Tochter des Zeus und der Dione. Der entsprechend doppelte Eros – ohne Eros keine Aphrodite – ist dann einerseits der allein auf körperliche Befriedigung ausgerichtete, ‚gemeine‘ Eros, andererseits der diese Befriedigung mit seelischer (moralischer) Bildung, damit auch erstrebter Dauerhaftigkeit der Beziehung verbindende, hier wiederum auf seine päderastische Variante bezogene Eros. In der Darstellung des Pausanias gewinnt der uranische Eros allerdings unverkennbar Züge sexueller Lust, wenn auch in vermittelter, dem seelisch Schönen verpflichtender Form. Eigentlich wäre als nächster Aristophanes an der Reihe, doch der hat einen Schluckauf und kann nicht reden – zweifellos eine sublime Rache an der karikaturhaften Darstellung des Sokrates in der Aristophanischen Komödie „Die Wolken“. So kommt Eryximachos dran, dessen Rede denn auch in einem erkennbaren Zusammenhang mit der des Pausanias steht.
3 Theogonie 120 (Theogonie, ed. K. Albert, Sankt Augustin 1993, 52/53).
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Eryximachos, der im Namen der Wissenschaft auftritt – ein Zug, der in der gesamten Darstellung seiner Rede in ironischer Brechung zum Ausdruck kommt –, führt in vorsokratische Verhältnisse zurück. Aus einer personalen Beziehung, dem Einanderbegehren zweier Menschen, wird ein natürliches Prinzip, das zusammenführt und trennt, wie bei Empedokles Liebe und Streit, nur daß es jetzt, wie bei Pausanias, zwei unterschiedliche Formen des Eros sind, die dieses Naturprinzip, die Herrschaft des Eros über alles Seiende und Werdende, repräsentieren. Erotisch ist in diesem Sinne die Natur selbst, nicht nur deren menschlicher Teil. Eryximachos ist, wie Empedokles, Arzt, weshalb sich dann in seiner Rede auch die Verbindung des guten Eros mit dem Gesunden und des schlechten Eros mit dem Kranken findet. Sexualität, so Eryximachos, ist ein Naturphänomen und als solches erklärbar, mehr nicht. Aristophanes, vom Schluckauf und einem sich anschließenden heftigen Niesen befreit, tut seiner dichterischen Kompetenz alle Ehre, und zwar mit einem wunderbaren komischen Mythos, einer „Mischung von Tiefsinn und sprühendem Ulk“4. Danach waren die Menschen ursprünglich in den Varianten männlichmännlich, weiblich-weiblich, männlich-weiblich Kugelmenschen. Diese Urmenschen besaßen acht Gliedmaßen (je vier Arme und Beine), zwei Gesichter und zwei Geschlechtsteile (beide männlich, beide weiblich, gemischt). Der männliche Urmensch stammte von der Sonne, der weibliche von der Erde, der androgyne vom Mond. Die Fortbewegung erfolgte durch Radschlagen. Ihr aus Selbstüberschätzung gefaßter Plan, die Götter anzugreifen, wird von Zeus mit ihrer Halbierung beantwortet – bei Androhung einer weiteren Halbierung. Der Kopf wird nach erfolgter Halbierung herumgedreht, damit sich der neue Mensch seiner Zerschnittenheit bewußt bleibt, die Haut wird zum Bauch zusammengezogen und zum Nabel zusammengebunden, die Geschlechtsteile werden von der Außenseite auf die Innenseite, das ist nun die neue Vorderseite, verlegt. Während die Urmenschen in die Erde zeugten (wie nach griechischer Vorstellung die Zikaden), zeugen sie nunmehr ineinander, wobei selbst Mann und Mann wie Frau und Frau, wenn sie in der gesuchten Form aufeinandertreffen, Befriedigung erfahren. Eros ist damit in dieser gestörten Kugelwelt nichts anderes als das Verlangen nach Wiedervereinigung des ursprünglich Ungeteilten. Das heißt auch, daß im Sinne des Mediziners Eryximachos einem Naturprinzip insofern Rechnung getragen wird, als nunmehr klar ist, welche Kausalitäten hier walten, und zugleich darauf verwiesen wird, daß der tiefere Sinn des Eros die Einheit, eine wiederhergestellte oder eine allererst zu erreichende, ist. Nur stellt sich diese dann in ganz
4 B. Snell, Platon. Sokrates im Gespräch. Vier Dialoge. Nachwort und Anmerkungen, Frankfurt 1986, 198.
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anderer Weise und als eine in keiner Weise naturphilosophisch erklärbare Einheit heraus, ganz abgesehen davon, daß das alles wie eine Notlösung wirken muß: auch die Vereinigung der einander Begehrenden stellt die ursprüngliche Natur des Kugelmenschen, seine Ganzheit, nicht wieder her: „Der Mensch ist ein Experiment der Götter. Er ist so umgedreht und umgestaltet worden, daß nichts ihn heilen kann.“5 Der Gastgeber beschließt zunächst den Reigen. Er sucht – was bisher vernachlässigt worden war – zwischen Wesen und Wirkung des Eros zu unterscheiden, kommt allerdings über eher zufällig wirkende Charakterisierungen nicht hinaus. Über dem Preis des Eros als des Jugendlichen, Schönen und Tugendhaften, als des Stifters der Künste und Wissenschaften geht in einem rhetorischen Gewitter eine auf Unterscheidungen bedachte, konzeptionelle Intention gänzlich verloren. Das Dichterische und Rhetorische gerät – zweifellos nun wiederum die Intention Platons – in ein schiefes Licht; die Darstellung nimmt gegenüber dem Dichterischen parodistische Züge an: „Der tragische Stil, den er (Agathon) in naiver Eitelkeit handhabt, wird im Finale seiner Rede unverkennbar zur Parodie (…). Während der Mythos des Aristophanes (…) eine dramatische Handlung enthielt, behält Agathon vom Drama nur den tragischen Klang (…): seine ‚Tragödie‘, die alles wirklich Tragische verpönt, ist eine komische Tragödie.“6 Vorläufiges Fazit: Der Eros, wie er in den fünf Reden beschrieben und gepriesen wurde, erfüllt sich in der erotischen Befriedigung, d.h., er bleibt Teil jener Sinnlichkeit, die, göttlich oder nicht, den Menschen gefangenhält. Aus dieser Gefangenschaft befreien Sokrates und Diotima. Sokrates bewundert all die „schönen Nomina und Verba“7; seine Kritik an der schwelgenden Rhetorik Agathons betrifft auch die vorausgegangenen Reden: Niemand verstand im Grunde, wovon er sprach, insofern es stets und allein um irgendwelche Eigenschaften des Eros ging. Sokrates spitzt zu: Liebe begehrt, was sie nicht hat. Wenn folglich – was immer wieder anklang – Liebe Liebe zum Schönen ist, dann hat auch Eros die Schönheit nicht. Ist Eros nicht schön?
5 S. Benardete, On Plato’s Symposium/Über Platons Symposion, München 1994 (Carl Friedrich von Siemens Stiftung. Themen LVII), 50. 6 G. Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt 1939, 61992, 137–138. 7 Symp. 198b5.
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5.2 Diotima An dieser Stelle, auf die nicht nur die dramatischen, sondern auch die philosophischen Linien im Dialog zulaufen, setzt die Wiedergabe dessen ein, was Sokrates von Diotima, der mantineischen Priesterin, gelernt haben will.8 Es ist zunächst die Bestätigung dessen, was Sokrates mit seiner Kritik an den bisher vorgetragenen Meinungen sagen will: Eros, der das Schöne und Gute liebt, ist nicht selbst schön oder gut, wie er auch nicht häßlich oder schlecht ist. Er stellt vielmehr etwas Mittleres dar zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. An die Stelle dichterischer Überschwenglichkeit tritt nunmehr philosophischer Ernst, ein Umstand, der einen kleinen Umweg über einen ironischen Mythos, der von der Geburt des Eros handelt, nicht ausschließt9: Die Götter veranstalten anläßlich der Geburt Aphrodites ein Fest. Unter den Gästen befindet sich Poros (Reichtum, Überfluß), der Sohn der Metis (einer der Töchter des Okeanos und erster Frau des Zeus). Hinzu kommt Penia (Armut, Mangel), gelegentlich als Göttin erwähnt, die zur Arbeit und zu den (technischen) Künsten erzieht. Sie legt sich neben den schlafenden Poros und empfängt Eros. Daher ist Eros Begleiter der Aphrodite, alles Schöne liebend, als Sohn der Penia arm und bedürftig, als Sohn des Poros forsch und übermäßig. Selbst weder sterblich noch unsterblich vermittelt Eros, der ‚große Dämon‘10, zwischen der Welt des Sinnlichen und der Welt des Schönen und Guten, die sich zwar in der Bedürftigkeit alles Sinnlichen bereits zum Ausdruck bringt, aber erst in der Überwindung dieser Bedürftigkeit im ‚Schönen selbst‘ und im ‚Guten selbst‘11, wie es auch sonst bei Platon heißt, ihre Wahrheit findet. Das Gute dabei immer verstanden als das eigentliche Ziel des Handelns, als das, ‚wonach alles strebt‘, wie Aristoteles dann sagen wird. Das schließt Ignoranz, Irrtum und bewußtes Mißverstehen, die Verwechslung des für gut Gehaltenen mit dem vernünftig bestimmten Guten, nicht aus – gerade weil das vernünftig bestimmte Gute der eigentliche Maßstab des Handelns, nicht dessen beliebig bestimmbares Gut ist. Auch hier wird Eros zu einem Prinzip, allerdings keinem naturphilosophischen (wie bei Eryximachos), sondern zu einem Prinzip, in dem das Ästhetische, das Ethische und das Epistemische miteinander verschmelzen. Erst in einer ‚Verähnlichung mit Gott‘, wie es an anderer Stelle, im Platonischen Dialog „Theaite-
8 Vgl. K. Sier, Die Rede der Diotima. Untersuchungen zum platonischen Symposion, Stuttgart/ Leipzig 1997. 9 Symp. 203b1-c1. 10 Symp. 202d13. 11 Symp. 210e2ff..
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tos“, vom Philosophen heißt12, in einer philosophischen Lebensform, Einsicht (frfinhsi«) suchend und auf Einsicht gründend, verwirklicht sich der Mensch als vernünftiges Wesen. Eros wiederum geht auf die Zeugung und Geburt (des Guten) im Schönen.13 Mit der Sokrates-Diotima-Rede wird das Schöne, das zuvor als Eigenschaft des Eros beschrieben wurde, zum eigentlich philosophischen Thema; zugleich führt Diotima, indem sie das Schöne mit dem Guten verbindet, nicht nur in die Liebe ein – ein Moment, das alsbald literarische Karriere (bis hin zu Schlegels „Lucinde“) macht –, sondern auch in die Ideenlehre: als Führerin in die Welt der Ideen. In ihrer Konzeption, die zugleich eine der Kernstellen für die Platonische Ideenlehre ist, stellt sich die Schau der Ideen, hier die Schau des ‚Schönen selbst‘, als Endpunkt eines Aufstiegs aus der Welt des Sinnlichen in die Welt des Geistes dar – über die Liebe zum schönen Leib, zum Sinnlich-Schönen allgemein, von diesem zur Schönheit der Seele (dem moralisch Schönen) und zur Schönheit des Wissens, in dem sich schließlich auch die Idee des Schönen als die ‚Schönheit selbst‘ zu erkennen gibt.14 Die Gegenwart (der Idee) des Schönen im Schönen findet ihren Grund im Schönen selbst, geleitet durch die Macht des Eros. Damit wiederum ist, wie schon die Verbindung zwischen dem Schönen und dem Guten deutlich macht, mehr ins Auge gefaßt als eine neue Form der Ästhetik. Gemeint ist, daß das Leben – ein vernünftiges oder, wie Platon sagt, ein glückseliges Leben – der Führung durch Ideen bedarf: Gerecht ist nur, wer der Idee der Gerechtigkeit folgt, gut (in allen teleologischen und moralischen Aspekten) ist nur, wer der Idee des Guten (in typisch griechischer Verbindung mit der Idee des Schönen) folgt. Diese Ideen wiederum werden nicht der Erfahrung entnommen – in diese Richtung wird Aristoteles, wiewohl an Platonischen Einsichten festhaltend, gehen –, sondern der Einsicht, die in der Sokratischen und Platonischen Konzeption ihre volle Kraft erst in der Unabhängigkeit des Denkens von aller Sinnlichkeit entfaltet. Noch anders ausgedrückt: In der Ideenschau wird die Sterblichkeit und damit die Endlichkeit des Menschen nicht aufgehoben, aber die Präsenz des Ewigen konkret (in Platons Dialog „Timaios“ heißt es, daß das erfüllte Leben die Ewigkeit abbildet, die ‚bewegte‘ Zeit das Leben, in dem sich die Ewigkeit verzeitlicht15). Eros vermittelt zwischen dem Ewigen und dem Zeitlichen und bringt damit das Sterbliche und das Endliche vor sein ewiges Wesen.
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Theait. 176b1. Symp. 206e5. Symp. 210c6ff.. Tim. 37d1ff..
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Was im Sokrates-Diotima-Teil so aussieht, als ob aus dem souveränen Dialogführer Sokrates ein Schüler wird, ist nur vermeintlich so. In Wahrheit erlaubt es diese Komposition Sokrates, seiner selbstgewählten Rolle des suchenden Nichtwissenden, des selbst nicht Lehrenden treu zu bleiben. Dabei folgt Diotima selbst Sokratischen (allerdings frühen, hier eigentlich Platonischen) Spuren. Ihre Unterweisung bereitet die folgenden Sokrates-Beiträge vor, indem sie ihnen alles Lehrhafte abnimmt. Bleibt für manche nur die Frage: warum Diotima? Seltsamerweise wird immer wieder darüber nachgedacht, warum eine Frau und nicht ein Mann in die Wahrheit über den Eros einführt.16 Dabei wird gelegentlich auch über die sexuellen Vorlieben Platons gerätselt (über die des Sokrates weniger). Die Frage sollte wohl eher lauten: warum nicht? Schließlich waren es in der Antike häufig Priesterinnen, gesellschaftlich ihren männlichen Kollegen gleichgestellt, die in die Mysterien der Liebe einführten bzw. in Sachen Liebe ein besonderes Verhältnis zum Göttlichen hatten (wie Pythia zu Apollon), ist die Semantik von Zeugen und Gebären, einschließlich der Selbstdarstellung des Sokrates in einer Hebammenrolle17, und nicht nur in diesem Dialog, ständig präsent, und geht es wesentlich um Schönheit. Wem aber fielen da schon damals nicht gleich Aphrodite (ob in einer Doppelrolle wie bei Phaidros oder nicht) und Helena ein, um derentwillen sich Griechen und Trojaner 10 lange Jahre schlugen. Allerdings ist auch der päderastische Rahmen des Dialogs unübersehbar. Soll hier ein wenig gegengesteuert werden? Vieles spricht dafür: „What started as a pederastic idyl ends up in transcendental marriage.“18 Auf den philosophischen, ‚apollinischen‘ Höhepunkt folgt dramaturgisch der ‚dionysische‘; das Philosophische weicht in der Rede des Alkibiades auf Sokrates dem Komödiantischen. Die Wahrheit der Diotima wird im (dialogischen) Wirken des Sokrates wiedererkannt, allerdings in den Ausfällen des efeubekränzten, von Flötenspielerinnen gestützten, dem weinseligen Dionysos ähnlichen Betrunkenen in einer Weise, die die dramatischen Linien wieder an ihren Anfang, in Formen bedürftiger Sinnlichkeit zurückführt. Den Preis erhält Agathon; in Sokra-
16 Vgl. D. M. Halperin, Why Is Diotima a Woman? Platonic Eros and the Figuration of Gender, in: D. M. Halperin/J. J. Winkler/F. I. Zeitlin (Eds.), Before Sexuality. The Construction of Erotic Experience in the Ancient Greek World, Princeton N.J. 1990, 256–308, erweitert ohne Untertitel in: D. M. Halperin, One Hundred Years of Homosexuality and Other Essays on Greek Love, New York/London 1990, 113–151, 190–211; E.-M. Engelen, Zum Begriff der Liebe in Platons Symposion, oder: Warum ist Diotima eine Frau?, Bochumer Philosophisches Jahrbuch für Antike und Mittelalter 6 (2001), 1–20. 17 Theait. 150c3–8. 18 G. Vlastos, Sex in Platonic Love, in: G. Vlastos, Platonic Studies, Princeton 1973, 42.
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tes, seinem früheren Lehrer, preist Alkibiades den Besonnenen, der sich hinter einer Maske verbirgt, genauer in einer Silenenfigur, in dessen aufklappbarem Inneren sich ein Götterbild befindet. Sokrates gleiche in seiner Häßlichkeit äußerlich dem Satyr Marsyas, dem phrygischen Flußgott und Entdecker des Flötenspiels, in seinem Inneren verborgen sei die wahre Philosophie. So sucht Alkibiades der überlegenen Sokratischen Ironie ironisch mit dem Vorwurf der Verstellung zu begegnen und macht sich in seiner schamlosen Selbstdarstellung doch nur lächerlich. Auch das gehört zur Komposition des Dialogs: „Durch den Gegensatz des Sokrates und Alcibiades kommt endlich jene dämonische Doppelnatur des Eros selbst zur Anschauung, jenes Mitteninnen zwischen Göttlichem und Menschlichen, Geistigem und Sinnlichem.“19 Das sind in der Tat die Stichworte, um die sich das turbulente Geschehen im „Symposion“ mit all seiner theatralischen Aufmachung, mit kunstvoll eingesetzten Zufälligkeiten, lockender Thematik, bunter literarischer, bisweilen bizarrer Phantasie, subtiler Ironie dreht. Gleichzeitig zeugt dieser Dialog von großem philosophischen Ernst. Schließlich geht es nicht nur um ein der griechischen Komödie nachgestelltes Geschehen, sondern um eine philosophische Lebensform und um das eigentliche Kernstück der Platonischen Philosophie: um die Einsicht in das wahre Streben des Philosophen und den ‚Aufstieg‘ zu den (lebenswirksamen) Ideen des Schönen und des Guten. Was noch der Deutsche Idealismus und die Romantik an Platons Denkweise und seiner visionären, das Leben mit der Welt der Ideen verbindenden Kraft so faszinierte, hier kommt es sinnlich und intellektuell zu meisterhafter Darstellung. Es ist, so Platon – und so hat ihn wohl durch alle platonistischen und neuhumanistischen Irrfahrten hindurch die Tradition richtig verstanden –, dasselbe Prinzip, das uns in der empirischen und in der intellektuellen Welt führt: die Liebe zum Schönen und Guten oder eben Eros, der aus Bedürftigkeit und schöpferischer Kraft geborene, älteste Gott.
19 F. Nietzsche, Ueber das Verhältniß der Rede des Alcibiades zu den übrigen Reden des platonischen Symposions. 1864, Nachgelassene Aufzeichnungen April 1864 bis September 1864, 17 [2], Werke. Kritische Gesamtausgabe, ed. G. Colli/M. Montinari u.a., I/3 (Nachgelassene Aufzeichnungen Herbst 1862 – Sommer 1864), Berlin/New York 2006, 387.
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III. Metaphysik
Vorbemerkung
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6. Platons Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen Vorbemerkung Platons Explikation einer ‚dialektischen‘ Philosophie und der Rolle der Wissenschaften, die diese auf dem Wege zu einer derartigen Philosophie spielen, steht in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der im Höhlengleichnis1 wiedergegebenen philosophischen Pädagogik, dem ‚Aufstieg‘ zum Wissen, und der mit dieser Pädagogik verbundenen politischen Idee einer Philosophenherrschaft (‚Philosophenkönige‘).2 Es geht um die Ausbildung der zukünftigen Herrscher im (idealen) Staat und, sofern es sich dabei um ‚philosophische‘ Herrscher handeln soll, um den Anfang der Vernunft. Dieser Anfang wird verstanden als ein ‚Umlenken der Seele‘3, dieses wiederum verstanden als Umkehr der Seele vom Werden bzw. Werdenden zum Sein.4 Die Frage ist, wie eine derartige Umkehr, die im Höhlengleichnis dem Aufstieg aus der Höhle entspricht, bewirkt werden kann; Platons Antwort lautet: durch die ‚größten Mathemata‘5, d.h. durch die – später in den organisatorischen Formen des Quadriviums gelehrten – exakten Wissenschaften, nämlich die Arithmetik, die Geometrie, die Astronomie und die (rationale) Harmonienlehre.6 ‚Exakt‘ bedeutet dabei schon bei Platon: sich mathematischer Mittel bedienend und mit mathematischen Mitteln darstellbar. Daß die so ausgezeichneten Mathemata in diesem Zusammenhang nur eine instrumentelle bzw. propädeutische Rolle spielen, macht dann der Begriff der Dialektik, einer ‚dialektischen Episteme‘7, deutlich, dessen Darstellung wiederum an eine Mathematik- bzw. Mathematikerkritik anschließt, zunächst in Verbindung mit einer kritischen Analyse des im Liniengleichnis8 dargestellten mathematischen Wissens9, dann im Anschluß an die Vorstellung der Mathemata10.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Pol. 514a-521b. Pol. 473c11–473d6. Pol. 521c6. Pol. 521d3–4; vgl. 525c5–6: Umkehr der Seele vom Werden zur Wahrheit und zum Sein. Pol. 503e4. Pol. 521c-531c. Pol. 511c5. Pol. 508a-509b. Pol. 510b-511e. Pol. 533b-c.
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Dahinter steht wiederum die im Rahmen des Sonnengleichnisses11 hervorgehobene Stellung einer Idee des Guten12, mit der unter anderem (neben der ideentheoretischen Auszeichnung als noch ‚jenseits des Seins stehend‘13) zum Ausdruck gebracht werden soll, daß es die eigentliche Aufgabe der Vernunft ist, praktisch zu sein, d.h. das Leben zu orientieren. Die Wissenschaften als Ausdruck der theoretischen Vernunft dienen nach Platon der Realisierung der praktischen Vernunft, hier in Form eines pädagogischen Programms, das aus unaufgeklärten Verhältnissen (im Bild der Höhle) zu aufgeklärten Verhältnissen (im Begriff der Philosophenherrschaft) führen soll. Platons Intellektualismus, der ihn in den Augen der weiteren philosophischen Entwicklung zum Idealisten macht, kommt insofern nicht nur in der Ideenlehre, sondern auch in wissenschaftstheoretischen Zusammenhängen, nämlich in der Verbindung der Förderung der exakten Wissenschaften mit einer praktisch-philosophischen Absicht, hier im Begriff der Dialektik selbst unter allgemeinen methodischen, sich auf eine Mathematikkritik stützenden Gesichtspunkten entwickelt, zum Ausdruck. In diesem Sinne ist Wilhelm v. Humboldts Programm der Bildung durch Wissenschaft auch schon ein Platonisches Programm.
6.1 Die Mathemata Die Darstellung der Mathemata setzt ein mit der Formulierung der gestellten pädagogischen Aufgabe, die zugleich eine erkenntnistheoretische Aufgabe ist: Was ist in der Lage, den Anfang der Vernunft zu bewirken? Wodurch wird jenes ‚Umlenken‘ der Seele vom Werden zur Wahrheit und zum Sein geleistet?14 Durch Gymnastik und Musik nicht, so wird sogleich, unter Hinweis auf frühere Beurteilungen, festgestellt; sie erweisen sich als Teile des Werdenden und Vergänglichen.15 Das gleiche gilt für die Künste, d.h. für praktische Fähigkeiten. Diesen aber liegen, obgleich in der Regel unbemerkt, gewisse allgemeine Strukturen zugrunde, die hier mit den Begriffen Zahl ($riumfi«) und Rechnung (logismfi«) bezeichnet werden, Begriffen, mit denen im Sinne ausgeübter Fähigkeiten auch die Wächter, bevor einige von ihnen mit den Mathemata befaßt werden, vertraut sein müssen.16 Entscheidend ist zunächst jedoch, daß die Lebenswelt bzw. (erkennt-
11 12 13 14 15 16
Pol. 508a-509b. Pol. 508e2–3. Pol. 509b9. Pol. 521c-d. Pol. 521e4–5. Pol. 522a6–7.
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nistheoretisch gesprochen) die Sinnenwelt selbst über bestimmte Formen der Wahrnehmung, solche nämlich, die nicht von vornherein das Sinnliche fraglos erfassen, über sich hinausweist, d.h. die Vernunft herbeiruft.17 So ist es etwas anderes, ob die Wahrnehmung z.B. die Frage beantwortet, ob man es mit einem Finger zu tun hat (die Antwort lautet: dies ist ein Finger) oder mit der Frage, ob ein Finger groß oder klein sei.18 Eine Antwort auf diese Frage setzt das Vertrautsein mit den Prädikatoren ‚groß‘ und ‚klein‘ voraus19, denen in einem Einführungskontext zweistellige Prädikatoren (‚größer als‘ und ‚kleiner als‘) zugrundeliegen und die zugleich den Übergang von Prädikatoren in apprädikativer Verwendung (für Eigenschaften) zu eigenprädikativer Verwendung (für Gegenstände) bezeichnen: Im Gegensatz zur Wahrnehmung faßt die ‚Seele‘ Prädikatoren wie ‚groß‘ und ‚klein‘ als Eigenprädikatoren auf, in Platons Terminologie als Ideen. Der Übergang zur Darstellung der Arithmetik20 als ausgezeichnetem Mathema, d.h. als Form reiner Wissensbildung, erfolgt in diesem, zunächst auf eine direkte ideentheoretische Erörterung hindeutenden Zusammenhang in der Weise, daß auf den Umstand hingewiesen wird, daß sich alles Sinnliche als etwas Bestimmtes (‚Eines‘) und immer zugleich als etwas Unbestimmtes (‚unendlich Vieles‘) zeige.21 Dagegen stelle die Arithmetik reine Einheiten dar, d.h., sie befasse sich nicht mit zählbaren Dingen, sondern mit den Zahlen, ihrer Natur, selbst.22 In diesem Sinne führt denn auch, wie es im „Philebos“ heißt, der Weg von einer lebensweltlichen oder Gebrauchsarithmetik (Arithmetik der vielen Dinge) zu einer philosophischen, d.h. wissenschaftlichen Arithmetik.23 Zählen und Rechnen, die zunächst als Teil praktischer Fähigkeiten und Orientierungen bezeichnet worden waren, werden in der wissenschaftlichen Arithmetik auf Konstruktionen mit Hilfe des Zahlbegriffs eingeschränkt. Wie in der programmatischen Rede vom ‚Umlenken‘ der Seele vom Werden zur Wahrheit und zum Sein heißt es hier, daß die Seele in die Höhe geführt und ‚genötigt‘ werde, sich mit den Zahlen selbst zu beschäftigen24, und das heißt eben auch: sich der Vernunft (nfiesi«) selbst zu bedienen.25
17 Pol. 523a-b. 18 Pol. 523c-d. 19 Vgl. W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy IV (Plato. The Man and His Dialogues: Earlier Period), Cambridge etc. 1975, 522; N. Pappas, Plato and the Republic, London/New York 1995, 149. 20 Pol. 521d-526e. 21 Pol. 525a4–5. 22 Pol. 525c2, vgl. 525b5. 23 Phileb. 56d4–6. 24 Pol. 525d6. 25 Pol. 526b2.
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Über eigene Vorstellungen zur Arithmetik, speziell zur Zahlentheorie, oder die zeitgenössische Arithmetik (z.B. in Form erster zahlentheoretischer Sätze, der symmetrischen Auflösung linearer Gleichungen mit mehreren Unbekannten und quadratischer Gleichungen in geometrischer Form), auf die sich Platon zweifellos an dieser Stelle bezieht, wird nichts gesagt, auch nichts über die in der Vorlesung über das Gute26 und in der Spätform der Platonischen Ideenlehre auftretende Ideenzahlenlehre (Zurückführung der Erzeugung der Zahlen auf die beiden Prinzipien der Einheit und der ‚unbestimmten Zweiheit‘27). Das gleiche gilt von der folgenden Darstellung der Geometrie.28 Wie im Falle der Arithmetik konzentriert sich Platon auch hier allein auf den Gesichtspunkt, daß die Geometrie Wissen des immer Seienden29 sei und dazu nötige, das Sein anzuschauen.30 Platon orientiert sich hier an dem frühesten Paradigma des griechischen Theoriebegriffs31, insofern in der griechischen Geometrie, mit einigen elementargeometrischen Sätzen bis in die Zeit des Thales zurückreichend, sowohl die Begriffe des theoretischen Satzes und des Beweises als auch die Idee eines axiomatischen Theorieaufbaus gebildet werden.32 Oder anders ausgedrückt: In der griechischen Geometrie treten die Wissensbildung und das wissenschaftliche Denken allgemein unter ihre das wissenschaftliche Denken seither charakterisierende Theorieform. Kein Wunder, daß sich darum für Platon die Geometrie auch in besonderem Maße als förderlich für ein philosophisches Denken erweist.33 Sie nimmt, wie die Arithmetik, ihren Ausgang von einer lebensweltlichen oder Gebrauchsgeometrie, die auch die Wächter beherrschen müssen, und zeichnet sich als wissenschaftliche Geometrie diesen gegenüber neben ihrer Theorieform wiederum dadurch aus, daß ihre Gegenstände nicht der Welt des Werdens, sondern der Welt der Ideen angehören – was allerdings, wie noch deutlich werden wird, selbst keine ganz unproblematische Feststellung ist.
26 Vgl. H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philos.-hist. Kl. 1959, 6. Abh.), 249–318; K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 1963, 21968. 27 Vgl. Aristoteles, Met. A6.987b33–35. 28 Pol. 526c-527c. 29 Pol. 527b7–8. 30 Pol. 526e6. 31 Vgl. J. Annas, An Introduction to Plato’s Republic, Oxford 1981, 289. 32 J. Mittelstraß, Die Entdeckung der Möglichkeit von Wissenschaft, Archive for History of Exact Sciences 2 (1962–1966), 410–435, ferner in: J. Mittelstraß, Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt 1974, 29–55, 209–221. 33 Pol. 527b10.
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Auch an dieser Stelle hätte es nahegelegen, auf eigene Vorstellungen zur Geometrie, z.B. hinsichtlich des Zusammenhangs mit Teilen der Ideenlehre wie im Falle des Zusammenhangs zwischen der Lösung eines geometrischen Problems und dem Anamnesis-Theorem im „Menon“34, hinzuweisen. Doch jeder Hinweis dieser Art fehlt ebenso wie ein Hinweis auf den Stand der zeitgenössischen Geometrie (z.B. die Entdeckung inkommensurabler Streckenverhältnisse und die Lösung des Problems der Inkommensurabilität im Rahmen einer geometrischen Proportionenlehre und einer Theorie des mathematischen Kontinuums) oder ein Hinweis auf den (für das griechische Denken typischen) Primat der Geometrie sowohl bei der Einführung der Ideenlehre im Rahmen der Platonischen Philosophie als auch, mathematikhistorisch von Bedeutung, gegenüber der zuvor hervorgehobenen Arithmetik. Letzterer, d.h. die methodische Rückführung der Lösung von Gleichungen auf geometrische Konstruktionen, beruht darauf, daß jedes (ganzzahlige) Zahlenverhältnis einem geometrischen Streckenverhältnis entspricht und die Umkehrung nicht gilt (nicht jedes Streckenverhältnis läßt sich arithmetisch darstellen, Arithmetik dabei definiert als Theorie der ganzen Zahlen), wobei im übrigen die Beschränkung der Konstruktionsmittel auf Zirkel und Lineal die klassischen Probleme der Würfelverdoppelung (Delisches Problem), der Winkeldreiteilung und der Quadratur des Kreises ergibt. Platons Aufmerksamkeit gilt allein der besonderen Leistungsfähigkeit der Geometrie, den Blick von der Welt des Werdens, d.h. von Wahrnehmungsverhältnissen, auf eine Welt, gemeint sind theoretische Verhältnisse, zu lenken, die nur mit den ‚Augen des Geistes‘ bzw. der Vernunft35 erfaßt werden kann. Und hierin, in der Fähigkeit, den Anfang der Vernunft zu bewirken, unterscheidet sich die Geometrie in keiner Weise von der Arithmetik. Das gleiche trifft auf die Erwähnung der Stereometrie, d.h. einer Geometrie des dreidimensionalen euklidischen Raumes, im folgenden Astronomieteil zu36, die noch wenig entwickelt erscheint, von der Platon aber im „Timaios“ in Form der so genannten Platonischen Körper, d.h. der fünf regulären Polyeder, beim Aufbau einer Elemententheorie Gebrauch macht.37 Daß Platon unter dem Gesichtspunkt eines Anfanges der Vernunft tatsächlich nur theoretische Verhältnisse, d.h. in diesem Falle: die Bildung eines erfahrungsfreien oder apriorischen Wissens, interessieren, wird sodann in besonderem Maße an der Darstellung der Astronomie deutlich.38 Diese scheint zunächst
34 35 36 37 38
Men. 81c-86e. Vgl. Pol. 529b2–3. Pol. 528a-c. G. Vlastos, Plato’s Universe, Seattle 1975, 66–97. Pol. 528e-530c.
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eine Wissenschaft bewegter Körper (daher auch der stereometrische Einschub an dieser Stelle), nämlich konkreter Himmelskörper zu sein, damit in ausgearbeiteter Form eine Theorie (eines Teiles) der sichtbaren Welt. Doch dies würde bedeuten, daß der Weg vom Werden zum Sein, der mit Arithmetik und Geometrie beschritten wurde, wieder zurück in das Werden führte. Deswegen heißt es auch, daß diejenigen, die (so Glaukon) sich in astronomischen Dingen genötigt fühlen, ‚nach oben‘ zu blicken, in Wahrheit ‚nach unten‘ blicken39, nämlich in die Sinnenwelt. Aus dieser wiederum sollen die Mathemata, unter ihnen die Astronomie, gerade herausführen, nicht in diese hineinführen, weshalb es auch heißt, daß man das, was am Himmel ist, lassen solle, wenn es darum gehe, sich im Sinne des gesuchten Anfangs der Vernunft mit der Astronomie zu befassen.40 Zwar könne man den sichtbaren Himmel für das Beste und Vollkommenste seiner Art (gemeint ist alles Sichtbaren) halten, doch bliebe er weit hinter dem zurück, womit sich die wahre Astronomie zu befassen habe.41 In das wissenschaftliche Auge wird damit eine Astronomie des Unsichtbaren42 gefaßt, d.h. eine Astronomie, die es nicht mit dem, was am Himmel ist, sondern dem, was dort ist, wo auch die Zahlen und die geometrischen Figuren sind, zu tun hat. Das klingt gewiß seltsam und philosophisch als Ausweis einer Zweiweltentheorie, die wiederum eine Erfindung des Platonismus, nicht Platons selbst ist. Gemeint ist denn auch etwas ganz anderes.43 In seiner Darstellung der wahren Astronomie bezieht sich Platon auf qualitative kinematische Modelle planetarischer Bewegungsformen, d.h. auf geometrische Konstruktionen. Derartige Modelle scheint er unmittelbar vor Augen zu haben, im 10. Buch der „Politeia“ das Modell einer Spindel, deren Wirteln, d.h. acht ineinandergepaßte Kugelschalen, die Planetenbahnen darstellen44, im „Timaios“ ein Bändermodell mit konzentrisch angeordneten beweglichen Ringen zur Darstellung der Haupthimmelskreise astronomischer Koordinatensysteme (Horizont, Ekliptik, Äquator).45 Das Bändermodell ist dabei dem Spindelmodell insofern überlegen, als in ihm die Schiefe der Ekliptik dargestellt werden kann; die Ränder der Kugelschalen im aufgeschnittenen Wirtelmodell erscheinen von oben betrachtet hingegen als Kreise,
39 40 41 42 43
Pol. 529a1–7. Pol. 530b7-c1. Pol. 529c7-d5. Vgl. Pol. 529b5. Vgl. J. Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips, Berlin 1962, 117–139. 44 Pol. 615d-617c. 45 Tim. 34a-36d; vgl. G. Vlastos, Plato’s Universe, 49–62.
Die Mathemata
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die auf einer Ebene liegen. Es ist dann eine Konsequenz der Platonischen Ideenlehre, daß die Gegenstände der Astronomie, d.h. die Planeten und ihre Bahnbewegungen, im Rahmen derartiger Modelle selbst als Konstruktionen aufgefaßt werden. Eben das bedeutet die in der „Politeia“ empfohlene Astronomie des Unsichtbaren. Daß es dabei im übrigen nicht bleibt, machen später die „Nomoi“ deutlich. Hier wird, nachdem Platon offenbar die Eudoxische Astronomie kennengelernt hatte, die Welt im Sinne der dann von Aristoteles weiter ausgearbeiteten Konzeption in zwei Teile zerlegt, in einen sublunaren, bei Platon im wesentlichen, nämlich mit Ausnahme der Naturphilosophie im „Timaios“, noch theorieunzugänglichen Teil und in einen durch sichtbar gewordene ideale Verhältnisse gekennzeichneten, daher auch theoriezugänglichen Teil.46 In der „Politeia“ bleibt Astronomie hingegen, wie Arithmetik und Geometrie, eine im strengen Sinne erfahrungsfreie, apriorische Disziplin. Das gilt auch für die letzte der vier ausgezeichneten Mathemata, nämlich die Musik, gemeint ist die Harmonienlehre.47 Diese wird als Geschwister der Astronomie vorgestellt, was so zu verstehen ist, daß sich zum einen die Harmonienlehre zum Ohr verhält wie die Astronomie zum Auge48, zum anderen schon bei den Pythagoreern Astronomie und Harmonienlehre in der Konzeption einer Sphärenharmonie, d.h. in der Übertragung der Gesetze musikalischer Harmonie auf die Bewegungen der Planeten („der ganze Himmel ist Harmonie und Zahl“49), systematisch miteinander verbunden sind. Auf diese Verbindung bezieht sich Platon50, wobei wiederum, wie im Falle der Astronomie, auf die Verwechslung der ‚wahren‘ Harmonien mit den gehörten Harmonien hingewiesen wird (hier wird, so heißt es, das Ohr höher geschätzt als die Vernunft51). Im Pythagoreismus52 beruht die Konzeption einer Sphärenharmonie auf der der Platonischen Konzeption der Mathemata entgegenkommenden Vorstellung, daß alles Zahl sei, die ihrerseits auf Untersuchungen über die so genannten Pythagoreischen Zahlen, d.h. Tripel natürlicher Zahlen a, b und c, zwischen denen die Beziehung a2 + b2 = c2 besteht (Beispiel: das Tripel 3, 4, 5), und die durch die Vierergruppe der Zahlen 6, 8, 9 und 12 gebildete so genannte Tetraktys zurückgeht, ferner auf der Entdeckung,
46 47 48 49 50 51 52
J. Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene, 130–139. Pol. 530c-531c. Pol. 530d6–7. Aristoteles, Met. A5.986a3: vgl. de cael. B9.290b12ff.. Pol. 530d8–9. Pol. 531a8-b1; vgl. W. Bröcker, Platos Gespräche, Frankfurt 1964, 290–292. Vgl. W. Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962, 170ff., 328ff..
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daß Tonintervalle als kleine ganzzahlige Verhältnisse von Saitenlängen formulierbar sind: Die Tetraktys zeichnet Zahlen aus, die zur Wiedergabe der Proportionen 2 : 1, 3 : 2 und 4 : 3 geeignet sind, die wiederum die symphonen Intervalle Oktave, Quinte und Quarte abbilden. Nach dieser Konzeption erzeugen die in harmonischen Abständen von der Erde angeordneten Planeten hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Geschwindigkeiten Töne, die der (siebentonigen) diatonischen Tonleiter entsprechen und nur für das ‚geistige‘ Ohr hörbar sind. Eben darum geht es, unabhängig von der Konzeption einer Sphärenharmonie, auf die hier nicht näher eingegangen wird, Platon in der Darstellung des vierten Mathema. Dieses ist ein weiteres Beispiel für eine exakte mathematische Disziplin; sein Zusammenhang mit Musik als einer Kunstfähigkeit ist der gleiche wie im Falle von Arithmetik, Geometrie und Astronomie: Diese bilden allenfalls den Ausgangspunkt einer Untersuchung, die selbst in allen Teilen theoretisch, d.h. ohne Rekurs auf faktische Verhältnisse (in der ‚Sinnenwelt‘), erfolgt.
6.2 Mathematikkritik Darstellung und Analyse der vier Mathemata mögen den Eindruck erzeugt haben, daß in Platons Augen Konzeption und Aufgabe dieser Mathemata nicht nur in jeder Hinsicht klar sind, sondern diese auch in ihrer zeitgenössischen disziplinären Wirklichkeit in allen hier interessierenden wesentlichen Hinsichten, die ihren theoretischen Status, bezogen auf die Fähigkeit, die Vernunft auf den Weg zu bringen, betreffen, leisten, was von ihnen erwartet wird. Doch das ist nicht der Fall. Platon stellt zwar die vier Mathemata als Paradigmen theoretischen Wissens im Sinne eines erfahrungsunabhängigen, apriorischen Wissens53 oder der später so genannten Formalwissenschaften dar, aber er stellt auch gravierende Mängel fest, die in seinen Augen offenbar nicht immer behebbar, damit auch prinzipieller Natur sind. Dies kommt in der bekannten Mathematik- bzw. Mathematikerkritik im Anschluß an das Liniengleichnis zum Ausdruck, die nach der Darstellung der Mathemata im Rahmen der Explikation des Dialektikbegriffs noch einmal wiederholt wird. Im Liniengleichnis54 wird der Mathematik in Form mathematischer Ideen und einer diesen Ideen zugeordneten besonderen Wissensform (diˇnoia) gegen-
53 Vgl. R. C. Cross/A. D. Woozley, Plato’s Republic. A Philosophical Commentary, London etc. 1964, 254–255. 54 Pol. 508a-509b.
Mathematikkritik
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über den nicht-mathematischen Ideen und deren besonderer Wissensform (nfiesi«) eine nachgeordnete Stellung zugewiesen.55 Eine Linie (Abb. 1) ist hier in zwei ungleiche Teile x und y geteilt, die ihrerseits jeweils wieder im Verhältnis x : y der beiden ungleichen Teile geteilt sind56: x = a + b und y = c + d, wobei a : b = x : y = c : d.
Abb. 1
Wegen a : b = c : d gilt auch a : c = b : d bzw. b = ad : c. Daher ist x : y = (a + b) : y = (a + ad : c) : y = (ac + ad) : cy = a(c + d) : cy = a : c (weil c + d = y ist). Insbesondere ist a : c = a : b, woraus folgt, daß b = c ist; letzterer Umstand spielt in Platons Deutung der Linie jedoch keine Rolle. In einer Verbindung von erkenntnistheoretischen und ontologischen Aspekten stellt Abschnitt a Bilder und Schatten empirischer Gegenstände57 bzw. täuschende Wahrnehmungsformen58, Abschnitt b die empirischen Gegenstände (natürliche Dinge und Artefakte) selbst59 bzw. die Form des Fürwahrhaltens60, Abschnitt c mathematische Gegenstände61 bzw. die Wissensform der Dianoia62 und Abschnitt d (nicht-mathematische) Ideen63 bzw. die Wissensform der Noesis64 dar (Abb. 2). Die den Erscheinungen (a + b), d.h. der sichtbaren Welt (Çratfin65) bzw. der Welt der Meinung (dojastfin66), zugeordneten
55 Vgl. R. C. Cross/A. D. Woozley, Plato’s Republic, 230ff.; J. Mittelstraß, Liniengleichnis, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, Stuttgart/Weimar 22010, 581–583. 56 Pol. 509d6–8. 57 Pol. 509e1–510a3. 58 Pol. 511e2. 59 Pol. 510a6. 60 Pol. 511e1. 61 Pol. 510b4–6. 62 Pol. 511d8. 63 Pol. 510b6–9. 64 Pol. 511d8. 65 Pol. 509d4. 66 Pol. 510a9.
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Platons Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen
Formen der Wissensbildung bilden zusammen den Begriff der Meinung (dfija), die den nicht-empirischen Gegenständen (c + d), d.h. den mathematischen und nicht-mathematischen Ideen, zugeordneten Formen der Wissensbildung den Begriff des Wissens (ãpis‹mh67).
Abb. 2
Was es mit der nachgeordneten Stellung der Mathematik auf sich hat, wird in der kritischen Stellungnahme gegenüber der mathematischen Praxis deutlich.68 Hier heißt es, daß die Mathematiker „das Gerade und das Ungerade, die Figuren und die drei Sorten von Winkeln“ voraussetzen, „als ob sie dies schon wüßten“, und daß sie „es nicht für nötig halten, sich selbst oder anderen darüber Rechenschaft zu geben“. Vielmehr täten sie so, „als sei dies schon jedermann klar“, und gingen
67 In Pol. 533e7–534a8 tauschen nfihsi« und ãpist‹mh die terminologischen Plätze. 68 Die folgende Analyse folgt in Grundzügen der Darstellung in: J. Mittelstraß, Die geometrischen Wurzeln der Platonischen Ideenlehre, Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistische Bildung 92 (1985), 399–418 (in diesem Band 72–89).
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sogleich von diesen Voraussetzungen aus zur Durchführung (nämlich der Beweise) über, „bis sie schließlich dorthin gelangen, auf dessen Untersuchung sie es abgesehen hatten.“69 Damit sieht es so aus, als mache Platon die Mathematiker seiner Zeit auf Begründungspflichten gewissen (ersten) Sätzen gegenüber aufmerksam. Ausdrücklich ist von Hypothesen (Épouwsei«) die Rede70, worunter Platon an anderen Stellen, darunter auch in mathematischen Zusammenhängen71, Hypothesen, also Sätze in der Funktion von Annahmen, versteht. Im „Phaidon“ wird dieser Hypothesenbegriff eingebettet in ein dreigliedriges Verfahren, das (1) die Wahl einer am überzeugendsten erscheinenden Annahme, (2) Folgerungen aus dieser Annahme, die entsprechend als begründet bzw. wahr gelten72, und (3) die Begründung der Annahme durch erneute Anwendung des Verfahrensschrittes (2) vorsieht, d.h., die Annahme wird selbst als Folgerung aus anderen, ‚höheren‘ Annahmen zu begründen versucht.73 Hier ist zugleich mit der Vorstellung eines Rückgangs auf ‚höhere‘ Voraussetzungen die Verbindung zur Metaphorik des ‚Aufstiegs‘ zu einem nicht mehr Hypothetischen im Kontext der Mathematikkritik in der „Politeia“74 gegeben. Dennoch ist die Frage, ob für die Mathematikkritik Platons ein derartiger Hypothesenbegriff zutrifft. Zwei Schwierigkeiten springen sofort ins Auge: (1) Als Beispiele für Voraussetzungen, die die Mathematiker treffen, werden nicht Sätze, sondern „das Gerade und das Ungerade, die Figuren und die drei Sorten von Winkeln“ genannt. (2) Die Aufforderung, Rechenschaft zu geben (lfigon didfinai75) muß im gegebenen Zusammenhang verstanden werden als Beantwortung der Frage, ‚was (etwas) ist‘ und nicht als Beantwortung der Frage ‚warum (etwas) ist‘. Entsprechend heißt es auch an der späteren Stelle (nach Darstellung der Mathemata), daß die Geometrie „zwar träumt von dem Seienden (tÌ òn), ordentlich wachend es aber nicht wirklich zu erkennen vermag, solange sie, Annahmen voraussetzend, diese unbeweglich läßt, indem sie keine Rechenschaft davon geben kann“76. Der Lo-
69 Pol. 510c2-d3. 70 Pol. 510c6. 71 Vgl. Á. Szabó, Anfänge des euklidischen Axiomensystems, Archive for History of Exact Sciences 1 (1960–1962), 37–106, hier 43–64. 72 Phaid. 100a. 73 Phaid. 101d-e. Vgl. J. Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene, 33–34; R. Robinson, Plato’s Earlier Dialectic, Oxford 21966, 123–145; P. Stemmer, Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge, Berlin/New York 1992, 262–267; L. C. H. Chen, Acquiring Knowledge of the Ideas. A Study of Plato’s Methods in the Phaedo, the Symposium and the Central Books of the Republic, Stuttgart 1992, 29–35. 74 Pol. 511b6. 75 Pol. 510c7. 76 Pol. 533b6-c3.
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gos, der hier angemahnt wird, ist die Erklärung des Wesens von (geometrischen) Gegenständen77, nicht die Begründung von (geometrischen) Sätzen. Welchen Sinn sollte es auch haben, bezogen auf einen Satz zu fragen, ‚was (etwas) ist‘? Die Frage müßte vielmehr lauten: ‚warum etwas der Fall ist‘ oder ‚warum etwas wahr ist‘. Insofern handelt es sich in der vorgetragenen Kritik Platons aber auch nicht um Unklarheiten über Sätze, sondern, wie die Beispiele belegen, um Unklarheiten über Gegenstände, genauer um Unklarheiten der arithmetischen und geometrischen Rede von Gegenständen wie ‚dem Geraden und Ungeraden‘, Kreis und Winkel etc..78 Wie 510c2-d3 deutlich macht, geht es vor allem um den Status geometrischer Gegenstände, d.h. um die Frage, was diese geometrischen Gegenstände sind, wenn nicht empirische Gegenstände. Empirische Gegenstände können nicht gemeint sein, aus den in der Darstellung der Mathemata genannten Gründen, aber auch aus einem ganz einfachen, schon der Gebrauchsgeometrie vertrauten Grund: Gezeichnete oder in den Sand gezogene Figuren bleiben unter Genauigkeitsgesichtspunkten immer hinter den Vorstellungen zurück, die sich z.B. mit Sätzen über Winkel oder Sätzen über Verhältnisse im Kreis verbinden. Im Beispiel formuliert: Wenn der (vermutlich Thaletische) Satz, daß zwei Dreiecke, die in einer Seite und in den anliegenden Winkeln übereinstimmen, in allen Stücken übereinstimmen79, wahr ist, von welchen Dreiecken ist er dann wahr? Platon macht hier auf Schwierigkeiten aufmerksam, die sich eng mit der griechischen Idee der Geometrie verbinden, d.h. mit ihrer Theorieform, auf die er sich in der Darstellung der Mathemata bezieht und die er mit eben dieser Darstellung wesentlich befördert. Die vorgriechische Geometrie kannte diese Schwierigkeiten nicht. Sätze wie der angeführte Satz waren unbekannt; Geometrie bestand allein aus Konstruktionsanweisungen bzw. Regeln, die in die Darstellung und Lösung individueller Aufgaben eingingen. Dabei wurde – was die beachtliche Leistungsfähigkeit dieser vorgriechischen Geometrie dokumentiert – z.B. faktisch bereits der Pythagoreische Lehrsatz verwendet, wie sich aus Aufgaben, deren Lösung auf
77 Pol. 534b3–4. 78 So auch K. v. Fritz, Die ARXAI in der griechischen Mathematik, Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1955), 13–103, hier 38ff.; ferner in: K. v. Fritz, Grundprobleme der Geschichte der antiken Wissenschaft, Berlin/New York 1971, 335–429; R. M. Hare, Plato and the Mathematicians, in: R. Bambrough (Ed.), New Essays on Plato and Aristotle, London 1965, 21–38; W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982, 209. 79 Procl. in Eucl. 352,14–18 Friedlein (Proclus Diadochus, In primum Euclidis elementorum librum commentarii, ed. G. Friedlein, Leipzig 1873 [dt. Kommentar zum ersten Buch von Euclids „Elementen“, ed. M. Steck, Halle 1945]) = Eudem Fr. 134 Wehrli (F. Wehrli, Die Schule des Aristoteles VIII, Basel 1955).
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die Berechnung der zweiten Kathete in einem rechtwinkligen Dreieck hinausläuft, ersehen läßt, und doch gibt es keinerlei Anzeichen dafür, daß dieser Satz jemals allgemein als Satz über Hypotenusenquadrat und Kathetenquadrate formuliert worden wäre. Eben diese Möglichkeit, und mit ihr die Theorieform, aber ist, wie bereits hervorgehoben, die eigentliche Entdeckung der griechischen Geometrie. In diesem Zusammenhang wiegen natürlich Unklarheiten über den Status der Gegenstände einer mathematischen Theorie, die Platon hier zum ersten Mal vor Augen führt, schwer. Bisher war die Frage, wovon denn die theoretischen Sätze, z.B. die Sätze der Geometrie, reden, nicht gestellt, geschweige denn befriedigend beantwortet worden. Platons Antwort, im Liniengleichnis noch einmal bestätigt, lautet: von Ideen, womit die Platonische Ausarbeitung des Ideenbegriffs, von Anfang an, d.h. im „Menon“ und im „Phaidon“, orientiert an der geometrischen Theoriebildung, nichts anderes darstellt als die Bemühung, die in der griechischen Geometrie gebildeten Begriffe des theoretischen Satzes und des Beweises um den Begriff des theoretischen Gegenstandes zu ergänzen. Damit wird zugleich zum ersten Mal in einem auch methodisch faßbaren Sinne auf die Idealität theoretischer Gegenstände abgehoben. Unmittelbar im Anschluß an die Kritik Platons an der mathematischen Theoriebildung heißt es gegenüber dem bereitwillig zustimmenden Glaukon: „Nicht wahr, das weißt Du, daß sie (die Mathematiker) sich der sichtbaren Dinge bedienen und ihre Demonstrationen auf jene beziehen, während doch nicht auf diese als solche (als sichtbare Dinge) ihre Gedanken zielen, sondern auf das, wovon jene sichtbaren Dinge nur Schattenbilder sind. Nur des Vierecks an sich, nur der Diagonale an sich wegen machen sie ihre Demonstrationen.“80 In eben diesem Sinne wird dann auch in der Darstellung der Mathemata die Geometrie als das Wissen des immer Seienden bezeichnet und im 7. Brief die Idee des Kreises als Beispiel für den Aufstieg zu den Ideen angeführt.81 Damit ist nicht nur eine in der bisherigen griechischen Mathematik übersehene Grundlagenfrage, nämlich nach dem Status mathematischer Gegenstände, gestellt, sondern auch, zumindest in einem ersten Anlauf, der auf die Idealität theoretischer Gegenstände verweist, beantwortet. Zugleich erlaubt es die Platonische Antwort, Ungenauigkeiten z.B. in konkreten geometrischen Konstruktionszusammenhängen als Mängel von Realisierungsverfahren zu begreifen. So verstanden ginge es Platon in seiner Kritik um einen geklärten Begriff des mathematischen, speziell geometrischen Gegenstandes, der es erlaubt, unvollkom-
80 Pol. 510d5–8. 81 Epist. 342b-d.
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mene Realisierungen so zu behandeln, als ob sie idealen Konstruktionsanforderungen genügten. Daß diese sich niemals streng realisieren lassen, schränkt die Geltung geometrischer Sätze nicht ein, macht aber deutlich – und darauf kommt es Platon im Liniengleichnis an –, daß sich geometrische Ausdrücke wie ‚Kreis‘, ‚orthogonal‘ und ‚parallel‘ strenggenommen nicht auf empirische Objekte, sondern auf theoretische Objekte, eben auf Ideen beziehen. In einem modernen wissenschaftstheoretischen Kontext werden diese geometrischen Ausdrücke entsprechend nicht als Prädikate für konkrete geometrische Formen, sondern im Hinblick auf die mit ihnen postulierten idealen Eigenschaften als ‚Ideatoren‘ bezeichnet. Ideen treten hier – in einem der Begriffsbildung vergleichbaren, Synonymitätsrelationen auszeichnenden Abstraktionsvorgang – als Bedeutungen von Ideatoren auf. Und diese Bedeutungen, da hat Platon auch heute noch recht, sehen wir nur mit den ‚Augen des Geistes‘. Nun soll gar nicht behauptet werden, daß Platon in seiner Mathematikkritik ausschließlich das Problem, wovon in den mathematischen Sätzen die Rede ist, im Auge hat. Dagegen könnten schon einige weitere Bemerkungen sprechen, die (1) dem voraussetzungshaften Vorgehen der Mathematik den Begriff des Nichtvoraussetzungshaften ($nypfiueton82) entgegensetzen (der der Dialektik vorbehalten sein soll), (2) auf unzureichend begründete Anfänge ($rxa›) bzw. eine unzulässige Identifikation von Hypothesen und Anfängen, hinter die vermeintlich nicht mehr zurückgegangen werden könne, aufmerksam machen83 und (3) im Sinne des hypothetischen Verfahrens, wie es im „Phaidon“ dargestellt wird, von methodischen ‚Aufstiegen‘ und ‚Abstiegen‘ handeln. Derartige Bemerkungen lassen auf einen offenen Hypothesenbegriff schließen, der z.B. auch Definitionen, Existenzsätze und Axiome einschließt, ferner auf die Möglichkeit, Methodenanalysen der hier gegebenen Art wieder mit Elementen der Sokratischen Elenktik in Verbindung zu bringen.84 Schließlich ist es auch kein Zufall, daß in diesem Zusammenhang immer wieder von der Aristotelischen Unterscheidung unvermittelter Prinzipien in Axiome, Definitionen und Hypothesen, hier reine Existenzsätze85, her argumentiert wird.86 Es wäre schließlich auch ungewöhnlich, wenn auf diesem schwierigen Felde zwischen wissenschaftlicher Methodologie, Erkenntnistheorie, Logik und Wissenschaftstheorie von Anfang an – und Platons Überlegungen machen hier einen philosophischen Anfang –
82 83 84 85 86
Pol. 511b6. Pol. 511b5. P. Stemmer, Platons Dialektik, 152–270. An. post. 72a14ff.. Vgl. H. P. Stahl, Interpretationen zu Platons Hypothesis-Verfahren: Menon, Phaidon, Staat, Kiel (Diss.) 1956, 72ff..
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alles völlig klar wäre, Alternativen entschieden und hinreichend begründet wären. Anders steht es mit der Frage, ob Platon im faktischen Vorgehen der Mathematik behebbare (begriffliche und methodische) Mängel der von ihm dargestellten Art (Unwissenheit der Mathematiker über den Status ihrer Gegenstände und über ihr eigenes Vorgehen) oder einen prinzipiellen, gewissermaßen im Wesen der Mathematik liegenden Mangel, der sich dann in der Konzeption Platons auch auf die anderen Mathemata, Astronomie und (rationale) Harmonienlehre, übertrüge, gesehen hat. Für die erste Möglichkeit könnte der Umstand sprechen, daß die Gegenstände der Mathematik Ideen sind, dies nur den Mathematikern (noch) nicht bewußt ist87, für die zweite Möglichkeit der Gegensatz zur Dialektik bzw. die Absetzung aller Mathemata gegenüber der Dialektik und die nachgeordnete Stellung der mathematischen Ideen und der mathematischen Erkenntnisform gegenüber den nicht-mathematischen Ideen und der dieser zugeordneten Wissensform. Das sei abschließend unter dem Stichwort Dialektik dargestellt.
6.3 Dialektik Es ist nach Platon die Dialektik, ein dialektisches Vermögen88 bzw. ein dialektisches Wissen89, das die besondere Wissensform ausmacht, die dem mathematischen Wissen, d.h. dem in den Mathemata gegebenen Wissen, offenbar nicht nur vorübergehend (bis die Mängel der Mathemata behoben sind), sondern prinzipiell überlegen ist. Eben dies wird im Rahmen des Liniengleichnisses in der nachgeordneten Stellung der Mathemata zum Ausdruck gebracht. Diese beruht darin, daß mathematische Konstruktionen Konstruktionen von Objekten in der Anschauung sind (die Mathematik bedient sich dessen als Bilder, „was von den unteren Dingen dargestellt wird“90), d.h., in der Terminologie Kants gesprochen, daß die Mathematik ihr Wissen in der reinen Anschauung (über Verfahren der Konstruktion mathematischer Gegenstände) und in der empirischen Anschauung (über die empirische Aktualisierung mathematischer Konstruktionen) bildet, während die Stellung des nicht-mathematischen, dialektischen Denkens bzw. der nicht-mathematischen Ideen nach Platon eben darin ausgezeichnet ist, diesen Bedingungen, die im Liniengleichnis die Abschnitte c und b verbinden, nicht
87 F. Fine, Knowledge and Belief in Republic V–VII, in: St. Everson (Ed.), Epistemology, Cambridge etc. 1990, 110–111. 88 Pol. 511b4. 89 Pol. 511c5. 90 Pol. 511a6–7.
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zu unterliegen. Die Dialektik, so heißt es hier, betrachtet ihre Gegenstände allein mit dem Verstand, nicht mit den Sinnen.91 Hervorgehoben wird damit in erster Linie ein erkenntnistheoretischer, unterschiedliche Wissensformen betreffender, weniger ein ontologischer, unterschiedliche Gegenstandsbereiche betreffender Unterschied, obgleich auch dieser mit der Ordnung des Liniengleichnisses gegeben ist. Nur dürfte dies kaum genügen, mit Aristoteles festzustellen, daß Platon die mathematischen Gegenstände als ‚dritte‘ Sorte des Seienden zwischen den empirischen Dingen und den nichtmathematischen Ideen angeordnet habe.92 Als Begründung dafür wird von Aristoteles angeführt, daß die mathematischen Gegenstände, gemeint sind die mathematischen Ideen, zwar ‚ewig‘ und ‚unbewegt‘, aber ‚zahlreich‘ seien.93 Diese Einschätzung wiederholt noch im 5. nachchristlichen Jahrhundert Proklos in seinem Euklidkommentar (die mathematischen Gegenstände haben „vor dem Intelligiblen […] vermöge ihrer Trennung voneinander die größere Menge voraus, vor der Sinnenwelt haben sie den Vorzug der Immaterialität“94). Wenn Platon selbst von einer ‚Zwischenstellung‘ spricht95, dann soll lediglich, auf Wissensformen bezogen, die Sonderstellung der Mathematik gegenüber der Empirie und der Dialektik, d.h. dem empirischen und dem dialektischen Wissen, hervorgehoben werden. Im übrigen dürften auch die dialektischen Ideen der Ethik und der Ästhetik ohne eine Anschauungsbasis in der Lebenswelt kaum auskommen können (so auch im „Symposion“ bei der Hinführung zur Idee des Schönen verdeutlicht96), ein Umstand, der die erläuterte Sonderstellung der Mathematik zumindest relativiert. Schwierigkeiten bereitet damit nicht nur der Mathematikbegriff, wie er im Liniengleichnis und der folgenden Mathematikkritik zum Ausdruck kommt, sondern auch der Dialektikbegriff selbst. Die Erläuterungen fallen hier außerordentlich allgemein aus, etwa wenn nach der Darstellung der Mathemata die Dialektik bzw. die besondere Fähigkeit des Dialektikers als ‚Erklärung des Seins‘97 bezeichnet wird und von einer besonderen Befähigung zur ‚Zusammenschau‘98, d.h. einem Vermögen zur Systematik, die Rede ist, im übrigen aber alle weiteren Erläuterungen darauf hindeuten, daß hier in der Tat an die Sokratische Elenktik
91 92 93 94 95 96 97 98
Pol. 511c7–8. Vgl. Met. A6.987b14–18, B1.995b15–18, B2.997a35-b3. Vgl. Met. A6.987b14–18, B6.1002b14–16. Procl. in Eucl. 4,20–21 Friedlein (dt. 164). Pol. 511d4. Symp. 210a-212a. Pol. 534b3–4. Pol. 537c7.
Dialektik
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erinnert wird99: Nachdrücklich wird auf den Vorzug und die Stärke einer dialektischen Bildung hingewiesen, auf angemessene ‚wissenschaftliche‘ Weise zu fragen und zu antworten100, und Dialektik in diesem Sokratischen Sinne von der (sophistischen) Eristik abgegrenzt.101 Das Hauptgewicht der Darstellung liegt ohnehin auf dem ‚Ort‘ der Dialektik im Rahmen der Pädagogik des Höhlengleichnisses. Die dialektische Ausbildung, die nur den Fähigsten, d.h. den Festesten, Tapfersten und Fleißigsten zugutekommt102, soll nicht zu früh einsetzen, aber immerhin in Form der Ausbildung in den Mathemata schon in der Jugend beginnen103, als dialektische Ausbildung im engeren Sinne mit etwa 30 Jahren. Diese dauert fünf Jahre; anschließend haben die so Ausgebildeten 15 Jahre in der Höhle zu dienen, d.h. Wächterämter zu übernehmen.104 Erst danach werden einige, möglicherweise auch nur einer105, in der Lage sein, im Sinne der Idee einer Philosophenherrschaft zu philosophieren und zu herrschen. Bei aller verbleibenden Unbestimmtheit, die sowohl das Verhältnis zwischen den Abschnitten c und d der Linie als auch den Begriff der Dialektik betrifft106, das in Platons Augen Wesentliche dürfte klar sein. Dialektik steht hier für ein Wissen und Können, das weder über ein bestimmtes Sachwissen noch disziplinär definierbar ist. Wäre Dialektik ein bestimmtes Sachwissen, verlöre sie die (ihr hier zugesprochene) Fähigkeit und Rolle, für alle und für alles in einer ausgezeichneten Begründungsform zu sprechen. Wäre sie disziplinär definiert, träte sie unter dieselbe Wissensform wie die Wissenschaften, nämlich die dargestellten Mathemata. Auch in der Identifikation mit Philosophie (im späteren, auch noch heutigen Sinne) entginge sie dieser Einschränkung nicht, sofern Philosophie in ihrer akademischen Form selbst Teil, und zwar wiederum disziplinärer Teil des Wissenschaftssystems ist. Was als Dialektik, als dialektisches Wissen und Können beschrieben wird, müßte damit auch denselben Rationalitätsstandards entsprechen, über die sich die Wissenschaften in ihrer wissenschaftlichen Form definieren. Eben dies aber soll gerade nicht der Ausweis der Dialektik sein: sie realisiert nicht wissenschaftliche, hier die in den Mathemata liegenden Standards, sondern beurteilt sie. Platons Mathematikkritik ist selbst Beispiel einer derartigen Be-
99 Vgl. neben P. Stemmer (Platons Dialektik) auch W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy IV, 224–226. 100 Pol. 534d8–10. 101 Pol. 537e1–4. 102 Pol. 585aff.. 103 Pol. 536d1–3. 104 Pol. 539dff.. 105 Vgl. Pol. 502b. 106 Vgl. J. Annas, An Introduction to Plato’s Republic, 285ff..
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Platons Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen
urteilung und insofern auch Beispiel für die sonst nicht näher bestimmte Dialektik selbst. Es gehört dann zum intellektualistischen oder idealistischen Profil der Platonischen Philosophie bzw. der Konzeption einer ‚dialektischen Episteme‘, daß diese als ein besonderes Wissen und Können gleichwohl auf das wissenschaftliche Wissen und Können, auf die Mathemata bezogen bleibt, nicht im Sinne eines paradigmatischen Status der Mathemata, sondern im Sinne der propädeutischen Rolle, die ihnen im Rahmen der Pädagogik des Höhlengleichnisses zukommt. Das wissenschaftliche Wissen und Können realisiert nicht selbst, was hier als dialektisches Wissen und Können beschrieben wird, aber es versetzt mit der Installierung des Anfangs der Vernunft in die Lage, auch deren ‚Ende‘, d.h. ihr dialektisches Wesen, zu verwirklichen. Das eigentliche Problem für die Interpretation des Verhältnisses zwischen wissenschaftlichem und dialektischem Wissen im Anschluß an das Liniengleichnis unter den pädagogischen Gesichtspunkten des Höhlengleichnisses liegt darin, daß hier der Weg zum dialektischen Wissen und Können selbst in einer methodologischen Begrifflichkeit beschrieben wird. Wenn davon die Rede ist, daß das dialektische Vermögen die Voraussetzungen (zuvor war von den Voraussetzungen der Mathematik die Rede) nicht zu Anfängen ($rxa›), sondern wirklich zu Voraussetzungen (Épouwsei«) macht107, dann sieht es so aus, als sei das Ziel und sei der Weg zu diesem Ziel selbst eine methodologisch bestimmte Aufgabe. Den Schwierigkeiten der Mathematiker mit einem hypothetischen Verfahren wird hier eine Möglichkeit, diese Schwierigkeiten zu überwinden, mit dem schon erwähnten Erreichen eines nicht mehr Voraussetzungshaften ($nypfiueton) entgegengehalten108 bzw. ein Weg angedeutet, wie sich zunächst in Form eines voraussetzungsreichen ‚Aufstiegs‘, dann in Form eines ideentheoretisch geklärten ‚Abstiegs‘ Voraussetzungen in einem Voraussetzungslosen, sei dieses nun intuitiv (im Sinne eines nicht-argumentativen Begreifens) erfaßt109 oder nicht, ‚aufheben‘110 lassen. Das dialektische Wissen und Können, die ‚dialektische Episteme‘, scheint damit selbst unter einem mathematischen, zumindest einem Methodenparadigma zu stehen. Doch das ist, obgleich an dieser Stelle eine methodologische Perspektive dominant ist, nicht die ganze Wahrheit. Die Idee des Guten, von der es im Rahmen des Sonnengleichnisses hieß, daß sie ‚jenseits des Seins‘ stehe111, also nicht von dessen Art sei, kann eben unter unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachtet
107 108 109 110 111
Pol. 511b5. Pol. 511b6. P. Stemmer, Platons Dialektik, 215. Pol. 533c8. Pol. 509b9.
Dialektik
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werden, und einer dieser Gesichtspunkte ist, im Kontext des Liniengleichnisses und der Rolle der Mathemata für den Anfang der Vernunft, ein methodologischer, genauer: ein begründungstheoretischer Gesichtspunkt, denn es geht hier ja nicht um eine isolierte wissenschaftliche Methode, sondern um ein methodisches, Begründungs- und Fundierungsprobleme in den Vordergrund schiebendes Vorgehen überhaupt. Deswegen ist im übrigen auch ein Streit um Identität oder NichtIdentität der Idee des Guten und des nicht mehr Voraussetzungshaften müßig. Es mag so sein, daß die Charakterisierung der Idee des Guten als des nicht mehr Voraussetzungshaften112 sonst nicht auftritt113, doch besagt dies nicht, daß beide Konzeptionen nichts miteinander zu tun hätten. Außerdem setzen derartige Überlegungen wohldefinierte Begriffe, hier des Guten und des Voraussetzungslosen, voraus, und diese sind nicht gegeben. Gerade hier, im Kernbereich der Platonischen Philosophie und Wissenschaftstheorie, sollte man denn auch dem Text nicht mehr Genauigkeit abverlangen, als er wirklich hergibt. Der Dialektiker als der bessere Mathematiker? Wer die Frage so stellt, verschiebt nicht nur den Ort der Mathemata in der Wissenschaftskonzeption Platons (zu der auch gehört, daß der Mathematiker im Sinne des Platonismus als der eigentliche ‚Platoniker‘ erscheint114), sondern hebt auch die spezifische Differenz zwischen dem mathematischen und dem dialektischen Wissen auf. Der Dialektiker ist gewiß nicht der bessere Wissenschaftler, aber er wird hier als jemand beschrieben, der – mit einer soliden Ausbildung in den Mathemata – methodische und andere Defizite der Mathemata, z.B. die zuvor hervorgehobene Unklarheit über den Status mathematischer Gegenstände, erkennt und philosophisch, d.h. vor allem begründungsorientiert, zu beheben weiß. Weder ist damit die Philosophie als eigenständige Disziplin neben (und über) den Wissenschaften entdeckt, noch die Dialektik als Inbegriff der Philosophie (im späteren Sinne) bestimmt, sondern die begründungsorientierte bzw. grundlagenorientierte Intention des Begründungsgebots (lfigon didfinai) in einem selbst methodischen bzw. erkenntnistheoretischen Zusammenhang unterstrichen. Was die Mathematik in den Augen Platons faktisch nicht leistet und in einigen wesentlichen Aspekten auch nicht leisten kann, soll nicht eine andere Disziplin übernehmen, sondern durch eine Bemühung geleistet, besser: geklärt werden, die schließlich auch die Mathemata in ihren (Platonischen) Grenzen als Repräsentanten des griechischen Theoriebegriffs erkennen läßt. Schließlich lassen sich die erkenntnistheoretischen und ontologischen Unterscheidungen des Liniengleichnisses, auf denen Platon
112 So z.B. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 216. 113 So z.B. W. Bröcker, Platos Gespräche, 276. 114 Vgl. W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 214.
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Platons Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen
seine Konzeption der Mathemata aufbaut, auch so verstehen, daß immer dann, wenn von Gegenständen als konkreten Gegenständen (in der Sinnlichkeit) gesprochen wird, dies im Modus bloßen Meinens (dfija) geschieht, wenn hingegen von Gegenständen begrifflich (hier auf dem Hintergrund von ideentheoretischen Konstruktionen) gesprochen wird, der Modus des Wissens (nfihsi« bzw. ãpist‹mh) gegeben ist.115 Platon ist eben weder ein Platonist, der einer Zweiweltentheorie nachträumt, noch ein Szientist, für den die Wissenschaften alles sind. Nicht nur, weil er die Darstellung der Mathemata mit deren Kritik verbindet, sondern weil die Ausbildung in den Mathemata, auch im Sinne einer Bildung durch Wissenschaft, von vornherein einen propädeutischen Charakter besitzt. Sie soll ein Umlenken der Seele116, d.h. die Umkehr der Seele vom Werden zum Sein117, bewirken. So steht denn auch, wie bereits zu Beginn hervorgehoben, die Konzeption der Idee des Guten für den Primat der praktischen Vernunft gegenüber der theoretischen Vernunft, die ihrerseits für die Mathemata steht. Dazu gehört ferner, daß die Idee des Guten nicht nur für ein dialektisches Wissen, sondern auch für ein Können steht, das nicht das theoretische Wissen direkt, sondern den Umgang mit diesem Wissen betrifft. Die Charakterisierung dieser Idee als jenseits des Seins stehend ist in dieser Hinsicht nicht Ausdruck einer theoretischen Distanz oder einer hierarchischen Ordnung, die an der Spitze ‚übersprungen‘ wird, sondern Ausdruck eines Ebenen- oder Dimensionswechsels und einer wissenstranszendierenden Ordnung von praktischer und theoretischer Vernunft. In diesem Sinne geht es in der Pädagogik des Höhlengleichnisses, die im Verhältnis von Dialektik und Wissenschaft ihre systematische Ausarbeitung findet, um die Erreichung eines praktischen (philosophischen) Zweckes auf theoretischen (wissenschaftlichen) Wegen.
115 Pol. 534a1–5. 116 Pol. 521c6. 117 Pol. 521d3–4.
Vorbemerkung
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7. Ontologia more geometrico demonstrata Vorbemerkung Der von Julius Stenzel unternommene Versuch, die insbesondere von Aristoteles bezeugten Agrapha Dogmata1 Platons zu ermitteln und systematisch darzustellen, hat seit dem ersten Erscheinen des hierfür grundlegenden Buches „Zahl und Gestalt bei Platon und Aristoteles“ (1924) in zahlreichen subtilen Untersuchungen eine würdige Fortsetzung gefunden. Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von P. Wilpert, C. J. de Vogel, Ph. Merlan und H. J. Krämer. Die in diesen Arbeiten zum Teil schon geleistete Rekonstruktion einer esoterischen Lehre Platons orientiert sich dabei besonders an den Nachrichten über perÏ t$gauoÜ, jene geheimnisvolle Vorlesung, die lediglich in einigen Notizen aus Nachschriften greifbar ist und immerhin auch von jenen als ein zusätzliches Stück Platonischer Philosophie akzeptiert wird, die wie H. Cherniss die Existenz einer esoterischen Lehre Platons überhaupt bestreiten.2 Es geht hierbei in der Regel darum, einen bisher über der Interpretation der Dialoge zu kurz gekommenen Aspekt Platonischer Lehrtätigkeit ergänzend vor Augen zu führen und gleichzeitig jene überlieferten Hinweise auf Eigentümlichkeiten der Platonischen Lehre verständlich zu machen, die sich anhand der Dialoge allein nicht hinreichend präzisieren lassen. In seiner Tübinger Habilitationsschrift geht Konrad Gaiser einen beträchtlichen Schritt weiter.3 Er begnügt sich nicht mehr mit dem ergänzenden Charakter einer Bemühung um die in einer Art Altersvorlesung Platons entworfene und als esoterisch geltende Lehre, sondern behauptet im Anschluß an eine von H. J. Krämer aufgestellte These, daß es sich bei dieser esoterischen Lehre nicht um eine Spätform Platonischen Philosophierens, sondern um einen grundlegenden Entwurf handele, der von Anfang an, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, hinter der Philosophie der Dialoge stehe.4 Mit dieser Behauptung ist dann zugleich der
1 Ausdrücklicher Hinweis auf ¡grafa dfigmata: Arist. Phys. D1.209b15; weitere Textstellen aufgeführt bei W. D. Ross, Plato’s Theory of Ideas, Oxford 1951, 142–153. 2 Vgl. H. Cherniss, The Riddle of the Early Academy, Berkeley 1945, bes. 20ff.. Cherniss räumt ein, daß noch Alexander von Aphrodisias eine Aristotelische Nachschrift von perÏ t$gauoÜ benutzte, vgl. Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy, Baltimore 1944, 119 Anm. 77; The Riddle of the Early Academy, 28. 3 K. Gaiser, Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule, Stuttgart 1963. 4 H. J. Krämer, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Heidelberg 1959 (Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissen-
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Ontologia more geometrico demonstrata
Weg für den monumentalen und in dem vorliegenden Werk, wie bei Krämer, bereits begonnenen Versuch frei, die gesamte exoterische Lehre von dieser erst zu erschließenden esoterischen Lehre her neu in den Griff zu bekommen.
7.1 Ideenzahlenlehre Eine Platonische Esoterik wurde bisher fast ausschließlich im Rahmen der Ideenzahlenlehre diskutiert, die man trotz des Einspruchs von Cherniss mit guten Gründen als das Kernstück der Vorlesung perÏ t$gauoÜ ansehen darf. Wichtigster Beleg ist hier eine Stelle in Aristoteles’ Metaphysik5, nach der Platon neben dem õn eine $firisto« dyˇ«6, eine ‚unbestimmte Zweiheit‘, als Prinzip eingeführt habe, weil die Zahlen mit Ausnahme der ersten (öjv tân prØtvn) auf natürliche Weise, wie aus einem bildsamen Stoff, aus ihr hervorgingen. Dieses zweite Prinzip, das unter anderem auch unter der Bezeichnung mwga kaÏ mikrfin in der Platonischen Philosophie auftritt7 und einer terminologischen Fixierung immer wieder große Schwierigkeiten bereitet, scheint jedenfalls in diesem ‚zahlentheoretischen‘ Kontext einen verständlichen Sinn zu haben: es ist ‚zwei-machend‘ (dyopoifi«8) und ‚erzeugt‘ gemeinsam mit dem õn die Zahlen, indem durch Begrenzung der $firisto« dyˇ« durch das õn zunächst die Zweiheit, aus dieser (bestimmten) Zweiheit durch wiederholtes Einwirken der $firisto« dyˇ« die Vierheit entsteht usw..9 Ein präziser Interpretationsvorschlag für diese Theorie findet sich im Rahmen der Stenzel-Tradition, die ein dihairetisches Modell auch der Zahlerzeugung zugrundelegt, bei O. Becker.10 Dieser Vorschlag, mit dem Becker eine frühere Er-
5 6 7 8 9 10
schaften, philos.-hist. Kl. 1959, 6. Abh.), 21, 24, 341 und öfter. Immerhin vermag sich Krämer auf den hierbei wichtigen Hinweis zu stützen, daß nicht schon der originale Bericht bei Aristoxenos (Harm. 30,16ff. Macran), sondern erst sekundäre Versionen bei Themistios (Or. 21, 245Cff.) und Proklos (In Plat. Parm. 688 Cousin) die zumeist angenommene Einmaligkeit der $krfiasi« perÏ t$gauoÜ bezeugen (20–21, 404ff.). Met. A6.987b33–35. In der genannten Stelle aus A fehlt die Charakterisierung der dyˇ« als $firisto«, doch ist, wie die folgenden Stellen aus M zeigen, auch hier die unbestimmte Zweiheit gemeint. Vgl. Alex. Aphr. In Arist. Met. 56,8ff. Hayduck, Simpl. in Arist. Phys. 453,33ff. Diels. Met. M7.1082a13–15, M8.1083b35–36. Vgl. Arist. Met. M7.1081a23–35; zur Entstehung der Vierheit: M7.1081b21–22, 1082a13–14. O. Becker, Zum Problem der platonischen Idealzahlen (Eine Retraktation), in: O. Becker, Zwei Untersuchungen zur antiken Logik, Wiesbaden 1957 (Klassisch-Philologische Studien 17), 1–25, bes. 6–10.
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Ideenzahlenlehre
klärung11 modifiziert, sei zur Verdeutlichung der Situation in diesem Zweig der Platoninterpretation kurz angeführt. Becker geht davon aus, daß es sich bei den zunächst erzeugten Zahlen um die Potenzfolge von 2 handelt: 2
4
8
16
32
64
128
…
2n
2n+1
…
Aus dieser Folge lassen sich durch ein- oder mehrmalige Bildung des arithmetischen Mittels, d.h. ein- oder mehrfache Halbierung der zwischen den Zweierpotenzen liegenden Zahlstrecken, alle weiteren Zahlen erzeugen. In der Durchführung ergibt sich dabei das folgende Schema12: 1 2 4 8
9
5 10
11
3 6 12
13
7 14
15
2 4 8 16
In diesem Schema werden alle Zahlen durch Verdoppelung und Differenzhalbierung nach Art der arithmetischen Mittelbildung gewonnen, was dem Aristotelischen Wortlaut zu entsprechen scheint und zusammen mit der Erklärung, daß es sich bei der in 987b34 hervorgehobenen Wendung öjv tân prØtvn um den Hinweis auf das õn und die $firisto« dyˇ« handele, jedenfalls ein einleuchtender und konsistenter Rekonstruktionsvorschlag sein dürfte. Auch Gaiser widmet der Ideenzahlenlehre einen Abschnitt seines Buches13, schränkt jedoch den esoterischen Bereich der Platonischen Philosophie nicht auf dieses Lehrstück ein, sondern sucht es selbst noch als spezielle Form einer sehr viel weiter gefaßten Konzeption darzustellen. Dieser Konzeption gilt sein eigentliches Interesse. Er glaubt sie insbesondere in den Beziehungen zwischen Mathematik und Ontologie einerseits und Geschichte und Ontologie andererseits nachweisen zu können. Mit „Mathematik und Ontologie“ und „Geschichte der Ontologie“ sind denn auch die beiden Hauptteile des Buches überschrieben; ein dritter, kürzerer Teil behandelt „Platons Stellung in der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens“, in dem Gaiser Platon vor allem für die Begründung der Mathematik als Wissenschaft verantwortlich machen möchte. Einem umfangreichen Anmerkungsteil, der teilweise außerordentlich gründliche Auseinandersetzungen mit benachbarten Veröffentlichungen enthält, folgt im Anhang14 verdienstvollerweise noch ein mit kurzen Anmerkungen versehener Abdruck der
11 O. Becker, Die diairetische Erzeugung der platonischen Idealzahlen, Berlin 1931 (Quellen und Studien zur Geschichte der Mathematik, Astronomie und Physik, Abt. B 1), 464–501. 12 A.a.O., 7. 13 A.a.O., 115–145. 14 A.a.O., 441–557.
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Ontologia more geometrico demonstrata
neben dem Corpus Platonicum wichtigen und im Laufe der Arbeit herangezogenen Texte zur „Schule Platons“ (A, Nr. 1–21) und „Lehre Platons“ (B, Nr. 22–72).
7.2 Mathematik und Ontologie In einigen einleitenden Bemerkungen über das Ziel seiner Untersuchung nimmt Gaiser an einer Stelle bewußt das Ergebnis zumindest des ersten und dritten Teiles der Arbeit vorweg, wenn er betont, „daß Platon einerseits das Gebiet der Mathematik als Modell- und Vergewisserungsbereich für die allgemeine Ontologie auswertete, andererseits die Mathematiker immer wieder durch die philosophische Forderung einer strengen Systematik zu methodisch sicherem Ausbau des mathematischen Wissens anregte“15. Problematisch ist hier offensichtlich vor allem der erste Teil dieser Feststellung. Zweifellos spielt für Platon wie für Aristoteles die Mathematik in der Frage, wie eine strenge Wissenschaft aussehen und wie sie verfahren soll, die Rolle einer exemplarischen Wissenschaft. Sie ist, um mit Gaiser zu reden, der ‚Modell- und Vergewisserungsbereich‘ für eine allgemeine, von Aristoteles dann in den „Zweiten Analytiken“ aufgebaute Wissenschaft. Fraglich ist nur, wie sie diese Rolle im Bereich der Ontologie, in dem auch bei Platon primär keine methodologischen Fragen diskutiert werden, spielen soll. Tatsächlich aber geht es, wie die zitierte Feststellung bereits zeigt, Gaiser genau um diese Rolle, d.h., mit anderen Worten, um den Nachweis, daß wir es bei der Platonischen Ontologie durchweg mit einer Konstruktion aus dem Geiste der Mathematik zu tun haben. Natürlich genügt für diesen Nachweis weder eine Betrachtung der Ideenzahlenlehre im herkömmlichen Rahmen noch der Rekurs auf die Dialoge, Gaiser muß vielmehr andere Quellen erschließen, ein Versuch, der von vornherein durch die ‚Notwendigkeit‘ belastet ist, „bei der Rekonstruktion der platonischen Lehre verschiedentlich einzelne Züge, die sich nicht ausdrücklich und direkt durch Zeugnisse belegen lassen, von der Sache her zu ergänzen“16. Es muß im einzelnen dem kritischen Leser überlassen bleiben, wie viel er hier als Ergänzung, die auch nach Gaiser nur hypothetischen Charakter haben soll, und wie viel er als wahrhaft erschlossen ansehen will. Hier soll es genügen, die für den Zusammenhang entscheidenden Argumentationen vorzuführen. Für das Verhältnis von Mathematik und Ontologie sind es im wesentlichen zwei Überlegungen, die das Gewicht der Argumentation tragen. Sie betreffen einmal das, was Gaiser die ‚Dimensionenfolge‘ nennt, zum anderen die Theorie der
15 A.a.O., 7. 16 A.a.O., 2.
Mathematik und Ontologie
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mathematischen Mittelbildung nach Euklid. Unter der Dimensionenfolge versteht Gaiser die Reihe der geometrischen Grundformen Linie, Fläche und Körper, nimmt im Anschluß an Aristoteles17 noch die Einheit hinzu und setzt die Reihe Einheit – Linie – Fläche – Körper in Beziehung zu der Zahlenfolge 1 – 2 – 3 – 4. Diese Verbindung darf bei aller Vorsicht, die angesichts der unübersichtlichen Überlieferungslage geboten ist18, als Platonisch angesehen und in der Reihe Linie – Fläche – Körper als dem Langen-und-Kurzen, Breiten-und-Schmalen, Tiefen-und-Flachen19 die gliedernde Wirksamkeit des Großen-und-Kleinen (mwga kaÏ mikrfin) wiedererkannt werden. Problematisch bleibt Gaisers Ersetzung der ‚Einheit‘ oder des ‚Punktes‘, der als Anfang der Dimensionenfolge für Speusipp bezeugt ist20, durch die ‚Zahl‘. Er kann sich dabei zwar vor allem auf einen Abriß der Platonischen Prinzipienlehre bei Alexander21 berufen, in dem auf die Platonische Gleichsetzung von Einheiten (monˇde«), Ideen und Zahlen hingewiesen wird, doch muß offenbleiben, ob im Rahmen der Dimensionenfolge diese Gleichsetzung wirklich „notwendig und sinnvoll“22 ist. Immerhin dürfte Gaiser im wesentlichen Platons Spekulationen in diesem Zusammenhang getroffen haben und auch in der zusätzlichen Parallelisierung von Zahl – Linie – Fläche – Körper und den Erkenntnisweisen noÜ« – ãpist‹mh – dfija – aúsuhsi«23, die ja zumindest in der Verbindung von noÜ« mit Zahl (bzw. Idee) und aúsuhsi« mit Körper genuin Platonisch ist, ein Motiv der ungeschriebenen Lehre Platons wiedergeben. Er selbst sieht hierin „ein zentrales Stück der esoterischen Ontologie Platons“24, und zwar kann, seiner Überzeugung nach, „die Abfolge der Dimensionsformen das ontologische Gesetz veranschaulichen, daß der übergeordnete Bereich jeweils im untergeordneten als gestaltgebende, formierende Grenze (Peras) wirkt und daß mit dem Ursprünglicheren jeweils auch das Abgeleitete und Abhängige ‚aufgehoben‘ wird. (…) Außerdem ist auf jeder Stufe ein Moment der Einheit und Bestimmtheit und ein Moment der Vielheit
17 Arist. De an. A2.404b16–27. 18 Vgl. hierzu W. Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon, Nürnberg 1962 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft X), 21–22. Entscheidend bleibt in dieser Frage nach wie vor, was man in Met. N3.1090b20ff. auf Xenokrates und was auf Platon bezogen sehen will (vgl. W. D. Ross, Plato’s Theory of Ideas, 208–209). 19 Vgl. Met. N1.1088b4ff., 2.1089b11–15. 20 Vgl. Met. M9.1085a32–34. 21 In Arist. Met. 55,20–56,35 Hayduck. 22 A.a.O., 49. 23 Vgl. wieder De an. A2.404b16ff.. 24 A.a.O., 47.
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Ontologia more geometrico demonstrata
und Relativität zu erkennen, so daß der Aufstieg tatsächlich zu dem ‚Einen‘ und der ‚Unbestimmten Zweiheit‘ als Prinzipien hinführt.“25 Diese Hin- bzw. Rückführung aller ‚Bereiche‘ (Gaiser sagt auch: der ‚gesamten Seinsordnung‘) auf den Prinzipiengegensatz von õn (oder axiologisch: $gaufin) und $firisto« dyˇ«, und das heißt doch wohl: die Einrichtung eines die gesamte Wirklichkeit gliedernden Begriffssystems, das sich aus dem Wechselspiel von ‚Einheit‘ und ‚unbestimmter Zweiheit‘ ergibt, ist nach Gaiser der eigentliche Sinn des Platonischen Entwurfs einer Dimensionenfolge und zugleich die systematische Rechtfertigung für die Behauptung, daß sich die Welt aus diesen beiden Prinzipien ‚ableiten‘ läßt.26 Gaiser stützt seine Hervorkehrung der Rolle der Dimensionenfolge für den Aufbau der Platonischen Ontologie durch eine Interpretation von Tim. 35a, wo von der Zusammensetzung der Weltseele die Rede ist. Diese Interpretation beruht auf der Verbindung der Platonischen Mischungsangaben (o\s›a – ta\tfin – ùˇteron) mit der bei Aristoteles in De an. 404b16ff. referierten Zusammensetzung mit Hilfe der ‚Elemente‘ Zahl, Linie, Fläche und Körper. Er schließt sich damit in der Frage, ob sich das Referat in „De anima“ auf Platons27 oder auf Xenokrates’ Seelenlehre28 bezieht, der Position von W. D. Ross an. Diese Entscheidung dürfte jedenfalls richtig sein, zumal im anderen Falle das zusätzliche Problem entsteht, wie sich die nun auf Xenokrates bezogene Stelle mit dessen Definiton der Seele („sich selbst bewegende Zahl“29) verträgt. Gaisers Interpretation hat zum Ergebnis, daß Platon im „Timaios“ offenbar an einen ‚mathematisch-geometrischen Sachverhalt‘30 denkt, auf Grund dessen die ‚Seinsweise‘ der Seele „mathematisch in der linear-flächenhaften Begrenzung der Körpergestalt“ gesehen werden soll31, und diese somit „die Mittelstellung der Seele zwischen Ideen und Erscheinungen“32 rechtfertigt. Worauf es bei dieser Charakterisierung der Weltseele ankommt, ist ihre Darstellung als eine ‚strukturelle, komplexe Einheit‘, „die das Verschieden- und Ungleichsein nicht ausschließt, sondern bändigt und mit um-
25 A.a.O., 48. 26 So schon H. J. Krämer, a.a.O., 472. Zu Gaiser vgl. a.a.O., 187 und 269. Sowohl Krämer als auch Gaiser sprechen in diesem Zusammenhang von einer Deduktion der Welt aus den Prinzipien; der „ontologische Aufriß der Realität“ (a.a.O., 81) wird bei Gaiser an Hand von Sext. Emp. Adv. math. X 248–283 (als Platonisch ausgewiesen durch Hermodor: Simpl. in Arist. Phys. 247,30–248,15 Diels) demonstriert (a.a.O., 80ff.). Vgl. H. J. Krämer, a.a.O., 282ff.. 27 So W. D. Ross, a.a.O., 209–210. 28 So H. Cherniss, Aristotle’s Criticism of Plato and the Academy, 565ff.. 29 Fr. 60–65 Heinze. 30 A.a.O., 43. 31 A.a.O., 60. 32 A.a.O., 58.
Mathematik und Ontologie
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faßt.“33 Geometrisches Beispiel ist die Verwandlung eines Rechtecks in ein flächengleiches Quadrat, bei der die ursprüngliche Verschiedenheit der beiden Rechteckseiten nicht einfach aufgelöst, sondern in dem Quadrat insofern erhalten bleibt, als die beiden Seiten linear unabhängig bleiben, also nicht auf derselben Geraden liegen. Gaiser drückt sich hier außerordentlich kompliziert aus, wenn er betont: „in der gleichmäßigen Flächenfigur ist der kategoriale Gegensatz von Identität und Diversität nicht mehr, wie bei der beliebigen Figur, in jeder Dimension (Länge und Breite) für sich wirksam, sondern nur noch in der Spannung zwischen den Dimensionen, zwischen der unteilbar-begrenzenden Linie und der teilbar-ausgedehnten Fläche.“34 Um den für seine „Timaios“-Interpretation wichtigen Gesichtspunkt des Enthaltenseins der Verschiedenheit in der Gleichheit zu sichern, macht Gaiser weiterhin auf das bei Simplikios erhaltene, auf Porphyrios zurückgehende Lehrstück der Ellenteilung aufmerksam.35 Im Sinne der arithmetischen Mittelbildung handelt es sich hier um eine fortlaufende Halbierung von Intervallen zwischen Zahlen a und b (durch die Setzung m = a +2 b , sodaß b – m = m – a ist [m also denselben Abstand von b hat wie a von m]), die nach Gaiser zeigen soll, daß „in der bestimmt begrenzten Größe das Unendliche eingeschlossen sei“36 und ‚sinngemäß‘ auf flächenhafte Verhältnisse übertragen, d.h. im Übergang von additiven zu multiplikativen Verfahren, zur Betrachtung des Verhältnisses von Rechteck und Quadrat führe. Zusätzlich ist damit auch wieder der Anschluß an die von Gaiser in den Vordergrund gerückte Prinzipienlehre erreicht; es heißt nämlich in der angeführten Stelle bei Simplikios ausdrücklich, daß in dem Verfahren der Ellenteilung die ‚unbestimmte Zweiheit‘ sichtbar werde, die zusammengesetzt sei aus der auf das Große und der auf das Kleine gerichteten Einheit.37 Die mathematische Mittelbildung, auf die Gaiser sodann zurückgreift, um den Übergang von der ‚unbestimmten Zweiheit‘ zur ‚Einheit‘ verständlich zu machen, wird bei Euklid im 10. Buch der „Elemente“ vorgeführt, das im wesentlichen eine Theorie der biquadratischen Irrationalzahlen in geometrischer Darstellung enthält. Das moderne Verfahren der Darstellung von Quadratwurzeln wird hier auf die geometrische Mittelbildung zurückgeführt, nämlich auf die Verwandlung eines Rechtecks mit den Seitenlängen a, b in ein flächengleiches Quadrat mit der ‚mittleren‘ Seitenlänge m (durch die Setzung m = áab, sodaß b : m = m : a
33 34 35 36 37
A.a.O., 55. A.a.O., 54. In Arist. Phys. 453,30–454,19 Diels. A.a.O., 55. 454,8–9.
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ist, m also dasselbe Verhältnis zu b hat wie a zu m). Die Quadratseite steht dabei im allgemeinen in einem quadratisch-irrationalen Verhältnis zu den Rechteckseiten. Die Wiederholung des Verfahrens führt dann zu biquadratischen Irrationalitäten, die im 10. Buch klassifiziert werden: das geometrische Mittel zweier nur quadratisch kommensurabler Größen (kommensurabel = in einem rationalen Verhältnis stehend), also eine Zahl der Form áár ás bzw. áárs (r, s rationale Zahlen, aber árs irrational), wird Mediale genannt, während die Summen und Differenzen solcher Größen (nach Euklid darstellbar durch áár + ás und áár – ás mit árs irrational) in so genannte Binomialen und Apotomen eingeteilt werden. Wenn Gaiser in der Verwandlung eines Rechtecks in ein flächengleiches Quadrat den geometrischen Modellfall für den „Gegensatz zwischen den beiden Prinzipien der platonischen Ontologie und die Vermittlung zwischen ihnen“ sieht38, dann meint er damit das geometrische Phänomen, daß sich ursprünglich irrationale Streckenverhältnisse durch (unter Umständen mehrfache) Quadratbildung in rationale Verhältnisse verwandeln lassen. Wie eng sich seiner Meinung nach Platon dabei an dieses Schema im systematischen Entwurf seiner Philosophie gehalten haben soll, zeigt z.B. Gaisers Interpretation der Platonischen Dihairesis. Im Anschluß an Polit. 266a/b, wo sich das Eidos Mensch zu dem Eidos Schwein unter Hinweis auf die Anzahl der Füße wie die Diagonale eines Quadrates zu der Diagonale des über jener Diagonale errichteten Quadrates verhalten soll, d.h. wie á2 zu á(á2)2 + (á2)2 = á4, was der Komik nicht entbehrt und auch zumeist als Scherz betrachtet wird39, faßt Gaiser nämlich die Dihairesis als eine geometrische Teilung auf, und zwar im Sinne von Euklid X als ‚binomialen Schnitt‘40. Allerdings soll dies nur die Form der letzten Teilung, der des Schnittes zum Atomon Eidos, sein; die vorausgehenden Teilungen sollen der harmonischen Teilung einer Strecke entsprechen (eine Größe heißt harmonisches Mittel m zweier Größen a und b, wenn sie zur kleineren dasselbe Verhältnis hat wie die größere zum arithmetischen Mittel a +2 b beider). Gaisers Formulierung, die ‚Mitte‘ werde „so zwischen zwei ursprünglichen Größen a und b gewählt, daß sie die kleinere (a) um den gleichen Teil ‚übertrifft‘, um den sie von der größeren (b) ‚übertroffen wird‘“41, soll wohl die Definition der harmonischen Mitte m durch das Verhältnis (m – a) : a = (b – m) : b intendieren. Es folgt dann ein nicht ganz einfaches Beispiel dafür, wie sich Gaiser eine solche
38 A.a.O., 72. 39 Vgl. K. Reidemeister, Das exakte Denken der Griechen. Beiträge zur Deutung von Euklid, Plato, Aristoteles, Hamburg 1949, 17; R. S. Brumbaugh, Plato’s Mathematical Imagination, Bloomington 1954, 257–258. 40 A.a.O., 129ff.. 41 A.a.O., 135.
Mathematik und Ontologie
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Dihairesis mit Hilfe geometrischer Mittelbildung denkt. Er geht aus von einem Teilungsverhältnis a : b, hier 1 : 2, und einer gewissen Einheitsgröße und gewinnt, wie man aus einer Figur erst erschließen muß42, die weiteren Schritte, indem zua a nächst der erste Teil a+b im Verhältnis a : m (m das harmonische Mittel von a+b b b und a+b ), der zweite Teil a+b im Verhältnis m : b geteilt wird und darauf die so ge-
wonnenen Teile wiederum entsprechend ihrem Verhältnis zum harmonischen Mittel der vorausgehenden Teilung geteilt werden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier im Namen einer im einzelnen oft äußerst hypothetischen Rekonstruktion der ungeschriebenen Lehre Platons dessen geschriebene Lehre ein wenig gewaltsam systematisiert wird. Auch dort, wo diese Rekonstruktion zu zweifellos einleuchtenden Ergebnissen führt, wie z.B. bei der Rückführung der am Bau der Weltseele beteiligten harmonischen Intervalle auf Schnittverhältnisse in Dreieck und Tetraeder43 oder der Darstellung der Ideenzahlen durch ebensolche Verhältnisse, bei der Gaiser also an eine Realisierung der Zweier- und Dreierpotenzen durch Flächen und Körper denkt44, bleibt dieser Eindruck vorherrschend. Schon die Großzügigkeit, mit der hierbei etwa auf ein Buch Euklids oder auch auf platonisierende Sentenzen Plutarchs45 zurückgegriffen wird, muß bedenklich erscheinen. Zwar geht das hier in Frage kommende 10. Buch der „Elemente“ in wesentlichen Teilen auf Theaetet zurück, mit dessen Mathematik sich Platon wiederum, z.B. in der Elementenlehre des „Timaios“, vertraut erweist, doch berechtigt es noch nicht zu der generellen These, Platon habe seine geschriebene Lehre entsprechend einer vorbildlichen Mathematik aufgebaut, wenn sich diese Lehre ohne Widersprüche so darstellen läßt. Da hier alles auf Kombinationen oft recht disparater Dinge und sekundärer Texte beruht, sind schließlich auch andere Kombinationen und damit andere Formen einer vorausgesetzten ungeschriebenen Lehre immerhin denkbar, eine Situation, die etwa in der Frage, wie die Ideenzahlenlehre ausgesehen haben mag, seit langem bekannt ist und durch jeden Beitrag, auch den Gaisers selbst, aufs neue vor Augen geführt wird.
42 43 44 45
A.a.O., 136. A.a.O., 111ff.. A.a.O., 115ff.. A.a.O., 56–57, 67; Plut. Quaest. convic. VIII 2,4.719F-720C.
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Ontologia more geometrico demonstrata
7.3 Geschichte und Ontologie Weniger hypothetischen Charakter trägt Gaisers Darstellung der Platonischen Geschichtsauffassung. Sieht man nämlich zunächst einmal von der anspruchsvollen These ab, es sei möglich, „den Gang der Geschichte aus der Ontologie abzuleiten“46, aus jener Ontologie also, die Gaiser zuvor aus mathematischen Modellen ‚abzuleiten‘ suchte, so finden sich hier mehrere durchaus überzeugende Einzelanalysen. Hervorzuheben ist insbesondere die Interpretation des „Politikos“-Mythos, die im Rahmen des Kapitels über „Geschichte und Ontologie“ einen ähnlich exemplarischen Charakter für die dann folgenden Überlegungen besitzt wie die „Timaios“-Interpretation zu Beginn des Kapitels über „Mathematik und Ontologie“. Im Vordergrund stehen Fragen der Periodisierung, wobei die im „Politikos“ beschriebenen Weltperioden nicht einfach in der „Aufeinanderfolge von Ordnung und Unordnung“ (Empedokles) gesehen werden, sondern in dem „periodischen Wechsel einer Zeit dauernder Einförmigkeit und Ausgeglichenheit und einer Zeit fortschreitender Differenzierung und Spannung“47. Die Umkehrung der kosmischen Bewegungsrichtung, die sich in diesem Wechsel ausprägen soll, wird dabei einleuchtend im Bilde einer aufgehängten, sich abwechselnd gleichmäßig drehenden und wieder zurückdrehenden Kugel beschrieben48 und eine ebenfalls vorkommende geradlinige Bewegung unter Rückgriff auf eine ausführliche Darstellung der Platonischen Bewegungslehre49 erklärt als der „nicht umkehrbare Prozeß der Auflösung und Vernichtung (‚Alter‘, ‚Tod‘, katastrophale Naturereignisse)“, der „am Ende, sich selbst aufhebend, in den allgemeinen Kreislauf einmündet“50. In diese Darstellung fügt sich recht gut die Geschichte der Polis und des Menschen ein, wie sie, verbunden mit periodisierenden Tendenzen, in den Dialogen, besonders in „Politeia“ (‚Hochzeitszahl‘51) und „Timaios“ (‚Großes Jahr‘52), greifbar wird. Gaiser vermag sich hierbei insbesondere auf seine originelle Erklärung der Angaben im „Kritias“ zu stützen,
46 A.a.O., 228. 47 A.a.O., 211. So schon H. Herter, Gott und die Welt bei Platon. Eine Studie zum Mythos des Politikos, Bonner Jahrbücher 158 (1958), 106–117. 48 A.a.O., 391, Anm. 174. 49 A.a.O., 175ff.. 50 A.a.O., 212. 51 Pol. 546b/c. 52 Tim. 39d; vgl. zu ‚Hochzeitszahl‘ und ‚Großem Jahr‘ die wichtigen Anmerkungen a.a.O., 409ff..
Geschichte und Ontologie
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die ihm eine Einteilung der geschichtlichen Zeit in Abschnitte zu je 3000 Jahren liefert.53 Ergebnis ist ein zyklisches Gesamtbild aus Menschheits-, Polisund Kosmosgeschichte, das dem „Politikos“-Mythos verpflichtet bleibt und in einem zahlenmäßig faßbaren Verhältnis zwischen den einzelnen Perioden Gaisers Annahme zu bestätigen scheint, daß nach Platon „die gesamte Seinsordnung auf einfachen, letztlich zahlenmäßig bestimmten Proportionen beruht“54. Man wird sagen dürfen, daß es Gaiser hier im großen und ganzen gelungen ist, ein wenig Licht in das spekulative Dunkel zu bringen, das von je her Passagen wie die ‚Hochzeitszahl‘ oder das ‚Große Jahr‘ im Corpus Platonicum umgibt. Auch sein Versuch, ein umfassendes Bild der Platonischen Geschichtsauffassung zu geben, ist diskutabel, zumal sich bald herausstellt, daß die Abhängigkeit dieses Bildes von der zuvor skizzierten, recht hypothetisch bleibenden esoterischen Ontologie Platons keineswegs so groß ist, wie sie Gaiser in programmatischen Erklärungen darzustellen sucht. Höchst problematisch sind jedoch seine Bemerkungen über den vermeintlichen Status der ‚geschichtsphilosophischen‘ Reflexion Platons. Schon daß Platon ein ‚ausgeprägtes Geschichtsbewußtsein‘55 gehabt haben soll und dies in ‚konstruktiven Darstellungen‘ der Kulturgeschichte56 zum Ausdruck komme, in der Platon den „geschichtlichen Ursprung der eigenen Philosophie“ sehe57, ist eine kühne Behauptung (bezeichnenderweise bezieht sich Gaiser hierbei auf die nicht-Platonischen Schriften „Protreptikos“, „De philosophia“ und „Epinomis“, Hinweise auf „Protagoras“, „Philebos“ etc.58 bleiben in diesem Rahmen unbefriedigend). Für die Erklärung aber, daß darüber hinaus im Zusammenhang der Platonischen Ontologie und Prinzipienlehre auch „die ‚Geschichte‘ als Wissenschaft überhaupt erst prinzipiell begründet wird“59, fehlt jeder Beleg. Hier scheint Gaiser den (ohnehin ja nur hypothetisch betrachteten) Willen zum spekulativen System bereits als wissenschaftliche Absicht verstehen zu wollen, indem er die Konzeption einer Art Universalgeschichte vermutet, wo es sich in Wahrheit doch wohl nur um ein mehr oder weniger willkürliches Schematisieren eines Bereiches han-
53 54 55 56 57 58 59
A.a.O., 263ff.. A.a.O., 276. A.a.O., 235. A.a.O., 223ff.. A.a.O., 220. A.a.O., 223ff.. A.a.O., 289.
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delt, der nicht mehr überschaubar und im Sinne der in der „Politeia“60 exemplarisch eingeführten Wissenschaftsformen jedenfalls unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten uninteressant ist. Eine mögliche ‚Ableitung‘ der Geschichte aus der Ontologie kann deshalb auch nur bedeuten, daß in den im mythologischen Gewande auftretenden Periodisierungsversuchen wieder dasselbe Interesse deutlich wird, das nach Gaisers These zu einer Mathematisierung der Platonischen Ontologie führte. Zum Teil mag an diesen irreführenden und den Gedankengang, wie es scheint, unnötig komplizierenden Bemerkungen neben einem äußerst problematischen Wissenschaftsbegriff eine etwas unglückliche Terminologie schuld sein, die sich z.B. auch schon bei G. Rohr61 störend bemerkbar macht, der wie Gaiser den spekulativen, unbekümmert historische Fakten verfälschenden Charakter der Platonischen Geschichtsbetrachtung hervorhebt, dann aber vom ‚Sinn der Geschichte‘ oder der ‚Erkenntnis von der Geschichtlichkeit allen Seins‘ spricht. Bei Gaiser macht sich diese unglückliche Terminologie vor allem in unbedenklich der platonischen Tradition entlehnten Redeweisen bemerkbar, wenn er z.B. beim Übergang von den Dingen zu den Zahlen von einem Prozeß der „äußersten Verdichtung des Seinsgehalts der Wirklichkeit“62 spricht, die Linie gegenüber der Fläche als ‚seinsmäßig früher‘ bezeichnet63 und die Platonische Geschichtsbetrachtung in eine ‚umfassende Seinswissenschaft‘ einbezogen sieht64. Lassen sich diese Redeweisen noch verhältnismäßig leicht in eine einfachere Sprache übersetzen, in der also z.B. das ‚seinsmäßig früher‘ der Linie gegenüber der Fläche besagt daß Linien auf Flächen, Flächen aber nicht auf Linien liegen können, so dürfte dies bei Wendungen wie derjenigen, daß in den „‚ursprünglichen‘ Zahlen die Raumstruktur, die aus ihnen hervorgeht, schon in einer ersten, ‚vorräumlichen‘ Form angelegt sein muß“65, weit schwerer sein. So belassen aber ist diese Wendung unverständlich. Nicht immer sind auch die insgesamt 69 (!) Abbildungen dem Verständnis förderlich, zumal wenn sie, wie etwa Fig. 2766 oder Fig. 4867, ziemlich unübersichtlich sind
60 61 62 63 64 65 66 67
Pol. 521dff.. Platons Stellung zur Geschichte, Berlin 1932. A.a.O., 124. A.a.O., 79. A.a.O., 289. A.a.O, 116. A.a.O., 97. A.a.O., 170.
Begründung der Mathematik?
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oder, wie etwa Fig. 6868, offenbar selbst ein gut Teil der Argumentation tragen sollen.
7.4 Begründung der Mathematik? Die in Gaisers Versuch, Platon für die Begründung der Geschichte als Wissenschaft verantwortlich zu machen, zutagetretende und aus der neukantischen Platoninterpretation geläufige Tendenz, in Platon gleichsam den ersten neuzeitlichen Denker zu sehen, bestimmt auch die im dritten Teil angeschnittene Frage nach Platons Stellung in der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens.69 Hier ist es insbesondere die Begründung der Mathematik als Wissenschaft, die Gaiser von Platon glaubt geleistet zu sehen. Doch auch in diesem Punkte überzeugt seine Argumentation nicht, denn was soll es heißen: „erst durch die Verbindung mit der philosophischen Prinzipienlehre Platons wurde die Mathematik endgültig aus dem vereinzelten Experimentieren herausgeführt und als rein theoretische, systematische Wissenschaft begründet“70? Betrachtet man die Rolle, die nach Gaisers These in Platons esoterischer Lehre mathematische Modelle spie-
68 A.a.O., 312:
69 Bezeichnend ist bereits, daß Gaiser ausgerechnet C. Ritter (Platons Stellung zu den Aufgaben der Naturwissenschaft, Heidelberg 1919 [Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, philos.-hist. Kl., 19. Abh.]) als ‚grundlegend‘ für das Verständnis von Platons Stellung zu Mathematik und Naturwissenschaft betrachtet (a.a.O., 343 Anm. 24), eine Arbeit, die rigoros neuzeitliche Positionen in den Platonischen „Timaios“ liest. 70 A.a.O., 304.
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len, so wird man kaum sagen können, daß diese damit auf ein wissenschaftliches Fundament gehoben sind. Die Spekulationen um Dimensionenfolge und Mittelbildung begründen jedenfalls noch keine ‚theoretische, systematische Wissenschaft‘, sie scheinen vielmehr, wenn sie wirklich die Platonische Begründungsleistung enthalten sollten, geeignet zu sein, diese Wissenschaft in ihrem bereits begonnenen methodischen Gange zu stören. Wenn die Frage nach Platons Beitrag zur wissenschaftlichen Begründung der Mathematik berechtigt ist, dann allein im Hinblick auf Pol. 510cff.. Hier wird jedoch die Mathematik nicht als Wissenschaft begründet, sondern im bereits wissenschaftlichen Fortschreiten der Mathematik auf gewisse Unklarheiten in ihren Grundbegriffen aufmerksam gemacht. Nicht einmal der schon begonnene axiomatische Aufbau der Geometrie scheint Platon hier also zu interessieren, wenn er den Mathematikern vorwirft, daß sie z.B. über die Figuren und die drei Sorten von Winkeln keine Rechenschaft mehr geben; vielmehr ist es die Frage nach dem Status nicht-empirischer Gegenstände, die ihn an dieser Stelle beunruhigt und die er im Folgenden unter Hinweis auf die Idealität dieser Gegenstände zu beantworten sucht. Bekanntlich ist diese Antwort von dem Versuch begleitet, zwischen zwei Sorten von Ideen, den mathematischen und den nicht-mathematischen, zu unterscheiden und auf diese Weise, zusammen mit den ‚Erscheinungen‘ und den ‚Abbildern‘ dieser Erscheinungen eine Einteilung in vier Bereiche vorzunehmen. Eine präzise Rechtfertigung der Unterscheidung zweier Sorten von Ideen sucht man in der „Politeia“ allerdings vergebens, ein Mangel, der dann unmittelbar mit der Aristotelischen Behauptung, Platon habe den mathematischen Gegenständen eine Zwischenstellung zwischen Ideen und Erscheinungen angewiesen71, zu der noch immer nicht entschiedenen und wahrscheinlich auch nicht entscheidbaren Kontroverse über den tatsächlich von Platon intendierten Rang dieser Gegenstände führte.72 Gaiser schließt sich der Aristotelischen Version an. Er gibt zwar zu, daß „Platon in den Dialogen die Metaxy-Stellung des Mathematischen nirgends ausdrücklich darlegt“73, glaubt aber, daß diese Lehre „in der Konsequenz dessen liegt, was die Dialoge mitteilen“74. Wirklich überzeugende neue Argumente kann er für diese Version jedoch auch nicht anführen.75 Wenn Platon hier auf dem Hintergrund einer Lehre schreiben sollte, in der nach Gaiser über
71 72 73 74
Met. A6.987b14–18. Vgl. Literaturbericht H. Cherniss, Lustrum 5 (1960), 388–412. So H. Cherniss, The Riddle of the Early Academy, 75ff.. So A. Wedberg, Plato’s Philosophy of Mathematics, Stockholm 1955, 13–14; a.a.O., 356–357 Anm. 69. 75 A.a.O. 89ff..
Begründung der Mathematik?
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alles sozusagen schon entschieden ist, bleibt die Unsicherheit seiner Auskünfte in der „Politeia“ immerhin bemerkenswert. Neben so provozierenden Behauptungen, wie sie im Zusammenhang mit der Frage nach der wissenschaftlichen Begründung von Geschichte und Mathematik aufgestellt werden, finden sich bei Gaiser jedoch auch solche Bemerkungen, die, wie im Falle der Mathematik, lediglich auf die exemplarische Bedeutung dieser Wissenschaft für die Platonische Philosophie aufmerksam machen.76 Dies ist nach allem, was Platon gerade in der „Politeia“ über die von ihm genannten Mathemata sagt, zweifellos richtig, soll nach Gaisers Konzeption der ungeschriebenen Lehre Platons aber so verstanden sein, daß hier die Mathematik der Ontologie gegenüber quasi als Hilfswissenschaft auftritt (um nebenbei dann durch diese Ontologie erst ihre eigentliche wissenschaftliche Begründung zu erfahren). In einer konsequent auf dieser Annahme aufgebauten Interpretation führt dies in Gaisers Buch zur Darstellung einer esoterischen Philosophie, die sich als „ziemlich festes, geschlossenes Lehrsystem“77 erweist. Man wird zum Schluß fragen dürfen, ob diese Darstellung die von Gaiser wiederholt vertretene Behauptung rechtfertigt, daß nicht in den Dialogen, die seiner Meinung nach nur protreptischen Charakter haben sollen, sondern in der esoterischen Lehrtätigkeit Platons dessen eigentliche Philosophie beschlossen sei.78 Bereits eine solche Erklärung wie die, daß eine „schriftliche Darstellung im Dialog nicht für die gedanklich-lehrhafte Erörterung der idealen Strukturen geeignet“ ist79, wird ja schwerlich als selbstverständlich bezeichnet werden können, zumal bekannt ist, daß Platons Schüler durchaus über diese ‚idealen Strukturen‘
76 Vgl. a.a.O., 318. 77 A.a.O., 293. 78 Eine scharfe Trennung von exoterischer (schriftlicher) und esoterischer (mündlicher) Lehre unter deutlicher Auszeichnung der letzteren gegenüber dem lediglich vorläufigen Charakter der ersteren findet sich bei Gaiser, gestützt auf Phaidr. 277dff. und Epist. VII 341aff., bereits in seiner Dissertation: Protreptik und Paränese bei Platon. Untersuchungen zur Form des platonischen Dialogs, Stuttgart 1959 (Tübinger Beiträge zur Altertumswissenschaft 40). In dieser Arbeit geht es Gaiser insbesondere um „die Funktion der philosophischen Ermahnung in der ‚paränetischen Situation‘ des protreptisch bestimmten Gesamtdialogs“ (a.a.O., 31), ohne daß auf das Woraufhin dieser psychagogischen Veranstaltung, nämlich auf die vorausgesetzte esoterische Lehre, ausdrücklich eingegangen wird. Das vorliegende Werk kann hierin als direkte Fortführung des früheren angesehen werden, wobei immerhin beachtenswert erscheint, daß sich in „Protreptik und Paränese“ noch die Feststellung findet, daß die auf die „Politeia“ folgenden Dialoge „in ihrer Form nicht eigentlich durch die protreptische Funktion bestimmt“ sind (a.a.O., 198), diese Dialoge also wohl doch nicht so vorläufig sind, wie es die Gleichsetzung von exoterisch und protreptisch-vorläufig nahezulegen sucht. 79 A.a.O., 282.
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Ontologia more geometrico demonstrata
schrieben. Gerade diese schriftliche Fixierung ist denn auch die Grundlage von Gaisers Rekonstruktionsversuch, wobei nach wie vor offenbleiben muß, wieweit hieraus nun genuin Platonische Überlegungen sprechen oder wir es mit systematisierenden, ‚neuplatonischen‘ Tendenzen speziell von Speusipp, Xenokrates und Philippus von Opus zu tun haben. Gaiser selbst spricht gelegentlich anstatt von Platons (esoterischem) System von dem ‚System der Schule‘80, gibt also zu verstehen, daß Platons ungeschriebene Lehre durchaus eine Lehre sein könnte, die sich – gewiß unter Platons Einfluß – allmählich in der Akademie ausgebildet haben mag und bei Platons Schülern in verschiedenen Varianten greifbar ist.81 Daß sie, jedenfalls schriftlich, nur hier greifbar ist, läßt sich dann womöglich darauf zurückführen, daß die Schule gerade dort auf prinzipielle Festlegung drang, wo Platon selbst nur ein vorsichtiges Fragen und hypothetische Beantwortungsvorschläge für einzig sachgemäß hielt. Nicht die Angst vor Mißbrauch und Mißverständnis einer sorgsam gehüteten Lehre wäre dann der eigentliche Grund dafür, daß die Dialoge eine explizite Darstellung dieser Lehre vermissen lassen – schließlich sind diese Gefahren ja auch ungleich größer, wenn man sich stets nur, wie Gaiser es darstellt, mit Andeutungen begnügt und damit einer spekulativen Phantasie Tür und Tor öffnet –, sondern die Einsicht in den vorläufigen und unangemessen vereinfachenden Charakter jeder übertrieben schematisierenden Überlegung. Nicht auszuschließen ist auch eine gewisse Unsicherheit Platons eigenen in diese Richtung zielenden Vorschlägen gegenüber, wie sie z.B. in der Einordnung des mathematischen Bereichs zum Ausdruck kommt. Auf jeden Fall ließe sich Platons ungeschriebene Lehre auch, wie der Hinweis auf den Kombinationscharakter diesbezüglicher Rekonstruktionen schon andeuten sollte, als ein wiederholtes Experimentieren mit verschiedenen Ansätzen schreiben. Über vereinzelte Plausibilitätsbetrachtungen hinaus gelingt es denn auch Gaiser nicht, Platon wirklich auf eine bestimmte esoterische Lehre festzulegen. In seiner extremen Überbewertung der Rolle, die eine solche Lehre in Platons Denken gespielt haben mag, verkennt er darüber hinaus die prinzipielle Verständlichkeit der geschriebenen Lehre. Eine grundsätzliche Umorientierung unseres Verständnisses Platonischen Philosophierens zugunsten einer ungeschriebenen Lehre rechtfertigt dieser Versuch darum nicht, so daß auch jene, die das mühsame Geschäft betreiben, Platon in erster Linie aus seinen Dialogen zu verstehen, ihre Arbeit nicht als nutzlos werden betrachten müssen.
80 Vgl. a.a.O., 92, 166, 289, 295. 81 Weitaus überzeugender klingt auch, wenn Gaiser anstatt von einem ausgeprägten Geschichtsbewußtsein Platons von dem „geschichtliche(n) Selbstbewußtsein der platonischen Akademie“ spricht (a.a.O., 399 Anm. 206).
Der Stagirite
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8. Aristotelische Physik und Metaphysik Vorbemerkung Das Werk eines der ganz Großen der Geistesgeschichte auf wenigen Seiten darzustellen, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Zu reich stellt sich ein solches Werk dar, zu tief reichen seine Gedanken, zu verborgen sind die sie organisierenden Ideen. Es ist, als ob man durch ein Haus ginge, dessen Zimmer man der Reihe nach betritt, aber dessen Leben man nicht kennt. Um so mehr gilt dies für einen Mann wie Aristoteles, dessen Arbeit keine Grenzen kannte und dessen Werk die ganze Welt der Dinge und der menschlichen Tätigkeiten war. So geht es auch hier nicht um den Versuch, alles über den Mann und sein Werk zu sagen, sondern um das Öffnen einer Tür, durch die dann gehen mag, wer will, um sich ein detailliertes Bild eines Werkes zu verschaffen, an dem sich auch der historische Fleiß der Fachleute noch lange nicht abgearbeitet hat. Also ein Versuch, nichts Fertiges oder gar Vollständiges.
8.1 Der Stagirite Wer ist Aristoteles? Ein erster Versuch einer Vorstellung könnte lauten: Griechischer Philosoph, Schüler Platons, Gründer des Peripatos, einer im Nordosten Athens gelegenen Philosophenschule, Lehrer Alexanders des Großen, Verfasser zahlreicher philosophischer und wissenschaftlicher Werke, darunter zur Ethik, zur Physik und zur Biologie, Begründer der Logik im engeren und der abendländischen Metaphysik im weiteren Sinne. Der Einfluß seines Werkes war ungeheuer; er läßt erst in der Neuzeit nach. Für die mittelalterliche Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte ist Aristoteles der Klassiker schlechthin; für das beginnende neuzeitliche Denken ist er der wesentliche Repräsentant eines philosophischen und wissenschaftlichen Denkens von gestern, eines langen, 2000 Jahre währenden Gestern. Diese Vorstellung, die sich noch um viele weitere Aspekte ergänzen ließe, ist nicht falsch; sie malt aber nur das Grau in Grau der üblichen Philosophiegeschichtsschreibung. Tatsächlich gibt es in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte niemanden – Platon eingeschlossen –, dessen Leistungen auf dem Felde des Wissens größer gewesen wären als die des Aristoteles. Und es gibt niemanden nach Aristoteles, vielleicht Leibniz und Kant ausgenommen, der es mit ihm in dieser Hinsicht aufnehmen könnte. In den Worten Hegels in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ist Aristoteles „eins der reichsten und umfassendsten
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Aristotelische Physik und Metaphysik
(tiefsten) wissenschaftlichen Genies gewesen, die je erschienen sind, – ein Mann, dem keine Zeit ein Gleiches an die Seite zu stellen hat“1. Gewiß, auch die Aristotelische Philosophie ist sterblich. Aber Aristoteles hat nicht nur dem Denken und Forschen von 2000 Jahren seinen Namen aufgedrückt, er hat auch dem Wissen und der Suche nach dem Wissen unter methodischen und disziplinären Gesichtspunkten zu seiner institutionellen Form verholfen. Gilbert Ryle, einer der Großen der modernen Philosophie, schließt seine Darstellung der Aristotelischen Leistung mit dem Satz: „Die Universität ist entstanden.“2 Die Form des Aristotelischen Denkens und Arbeitens beschreibt ein anderer Großer, nämlich Johann Wolfgang von Goethe, zugleich zwischen einem Aristotelischen und einem Platonischen Denkstil unterscheidend, wie folgt: „Aristoteles (…) steht zu der Welt wie ein Mann, ein baumeisterlicher. Er ist nun einmal hier und soll hier wirken und schaffen. Er erkundigt sich nach dem Boden, aber nicht weiter, als bis er Grund findet. (…) Er umzieht einen ungeheuren Grundkreis für sein Gebäude, schafft Materialien von allen Seiten her, ordnet sie, schichtet sie auf und steigt so in regelmäßiger Form pyramidenartig in die Höhe, wenn Plato, einem Obelisken, ja einer spitzen Flamme gleich, den Himmel sucht.“3 Das entspricht natürlich ein wenig dem Klischee, das wir der Renaissance, die Platon wiederentdeckte, verdanken – Platon der Visionär, Aristoteles der Empiriker oder das Genie und der Arbeiter –, und es ist in systematischen Dingen auch viel zu einfach gedacht. Faktisch und jenseits aller gefälligen Metaphorik ist kein Licht oder, je nach systematischem Geschmack, kein Schatten, der über der Geschichte von Philosophie und Wissenschaft liegt, größer als derjenige des Aristoteles. Dies gilt insbesondere von der Aristotelischen Naturphilosophie, die das wissenschaftliche Denken bis in die Neuzeit hinein beherrschte, und von der Aristotelischen Metaphysik, die so etwas wie eine Blaupause für alles fundamentale theoretische Denken darstellt. Auffallend ist, daß wir wenig vom Menschen oder von der Person Aristoteles wissen – oder auch nicht auffallend, wenn man an die auf Aristoteles gemünzte Formel ‚er wurde geboren, arbeitete und starb‘ denkt. Was wir durch sein Werk über den Menschen Aristoteles wissen, ist, daß er in seinem Denken und Tun, damit in seinem Leben, auf eine beeindruckende Weise bestimmt war durch eine alles dominierende Leidenschaft, nämlich die Leidenschaft, wissen, alles wissen
1 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, ed. E. Moldenhauer/K. M. Michel, Frankfurt 1969–1979, XIX, 132. 2 G. Ryle, Plato, in: P. Edwards (Ed.), The Encyclopedia of Philosophy, I–VIII, New York/London 1967, VI, 333. 3 J. W. v. Goethe, Materialien zur Geschichte der Farbenlehre, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, I–XIV, ed. E. Trunz, Hamburg 1948–1960, München 101999, XIV, 54.
Der Stagirite
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zu wollen, die Welt in Wissen zu verwandeln und keine Begrenzung des Wissens zu akzeptieren. Und er erklärte diese seine Leidenschaft zum Wesen des Menschen: „Alle Menschen“, so der berühmte Einleitungssatz der „Metaphysik“, „streben von Natur aus nach Wissen.“4 Alles Biographische tritt hier, nicht zufällig, zurück. 384 v. Chr. in Stageira, einem kleinen Ort an der Ostküste der Chalkidike, einer ionischen Kolonie, geboren – daher auch der Stagirite genannt – bilden die wesentlichen Phasen seines Lebens die 20jährige Zugehörigkeit zur Platonischen Akademie (367, also 17jährig, bis 347), 12 so bezeichnete Wanderjahre (347 bis 334) und 13 Jahre Peripatos, die Arbeit in der eigenen Schule (334 bis 322, dem Jahr, in dem er 63jährig bei Chalkis auf Euböa, im Hause seiner Mutter, stirbt). Die Aristotelische „Physik“ und die Aristotelische „Metaphysik“ sind die Frucht aller dieser Jahre; in ihnen kulminiert das Aristotelische Denken in seinen naturphilosophischen, in seinen begrifflich-systematischen und in seinen spekulativen Teilen. Etwas darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Von dem Aristotelischen Gesamtwerk ist nur etwa ein Fünftel erhalten. Nahezu alle populären, zum großen Teil in Dialogform geschriebenen Schriften sind verloren, nahezu alles Überlieferte besteht, neben Notizen, Memoranden und Sammlungen zu wissenschaftlichen Untersuchungen, aus Vorlesungsmanuskripten, auch als ‚Lehrschriften‘ bezeichnet. In antiken Katalogen werden nahezu 150 Titel aufgeführt, darunter allerdings auch Dubletten und Titel von Teilstücken. Systematisch gesehen gibt es trotz des Verlustes der populären Schriften keinen ‚verlorenen‘ Aristoteles. Was er lehrte, wissen wir. Einzigartig dürfte dabei die Karriere von Vorlesungsmanuskripten zur großen Philosophie sein. Der Umstand, daß es Vorlesungen und Arbeitspapiere sind, die das überkommene Aristotelische Werk ausmachen, bestimmt auch den Stil. Wir haben es hier eben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht mit geschliffenen Ausarbeitungen, stilistisch auf Wirkung bedacht, zu tun, und dennoch mit Texten von besonderem Reiz. Hier verbirgt sich kein Autor hinter wohlgesetzten literarischen Formen, sondern spricht ein Forscher zu sich selbst und zu seinen Hörern. Und wie er es tut, ist nicht weniger großartig als Platons Sprache, die Sprache der Platonischen Dialoge. Ideale der Sachlichkeit stehen vor den Idealen der Form, bzw. es sind die Ideale der Sachlichkeit, die hier eine eigene Form gewinnen. Philosophie und Wissenschaft sind sich einig: Aristoteles ist der Schöpfer der wissenschaftlichen Prosa. Nach einer abenteuerlichen Überlieferungsgeschichte werden die erhaltenen Aristotelischen Schriften 60 v. Chr. in einer auch heute noch bestehenden Form
4 Met. A1.980a21.
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Aristotelische Physik und Metaphysik
geordnet und herausgegeben. Um 200 beginnt eine groß angelegte Aristoteleskommentierung. Später werden die Schriften ins Arabische übersetzt, bis sie im 11. und 12. Jahrhundert – einerseits vom Westen (Sizilien, Spanien) in Form von Übersetzungen aus dem Arabischen ins Lateinische, andererseits vom Osten, in Form der ursprünglichen griechischen Texte, her – in das philosophische Bewußtsein der mittelalterlichen Philosophie zurückkehren und diese nun maßgeblich bestimmen. Bis zu Thomas von Aquin galt Aristoteles in erster Linie als Logiker schlechthin, wobei in dieser Hochachtung zugleich der Verdacht wirksam war, ein großer Logiker könne kein großer Philosoph sein. Schließlich hieß es schon von den worte- und argumentereichen Sophisten in Athen, daß sie philosophisch nicht ernst zu nehmen seien. Mit Blick auf die meiststudierten, wenngleich noch im 11. Jahrhundert durch die älteren Kommentare von Boethius gelesenen Schriften „Categoriae“ und „De interpretatione“ galt Aristoteles, eher abschätzig als bewundernd beurteilt, als der große ‚Wortefresser‘ (manducator verborum). Und auch als mit Albertus Magnus die Bedeutung des Aristotelischen Werkes insgesamt allmählich erkannt wird, schwankt das Aristotelesbild zwischen der andauernden Kritik von Seiten des (platonischen) Augustinismus und der zeitgenössischen Dominanz der arabischen Aristoteleskommentierung, nämlich derjenigen des arabischen Philosophen, Theologen und Mediziners Averroes.5 Thomas, der als Schüler Alberts des Großen 1252 seine Lehre an der Pariser Universität aufnimmt, greift in dieser Situation auf die älteren griechischen Aristoteleskommentatoren zurück, vermag jedoch zunächst die Verurteilung der Aristotelischen Schriften von 1270 und 1277 durch die Pariser Theologische Fakultät nicht zu verhindern, nachdem, trotz andauernder Kritik seit 1210, der Studienplan der Fakultät zwischen 1230 und 1240 bereits größere Teile aus dem Aristotelischen Werk enthielt. Erst als mit dem Thomasischen Werk die aristotelische Scholastik Wirklichkeit wird, wird Aristoteles auch im philosophischen und theologischen Bewußtsein der Zeit der Philosoph. Wenn Thomas von Aquin in seinem Hauptwerk, der „Summa theologiae“, Aristoteles zitiert, heißt es schlicht: „philosophus dicit“. So bleibt es dann auch. Und was der Philosoph sagt, sei im Folgenden exemplarisch – und das ist schon mehr als genug und in kurzer Form ebenfalls kaum zu leisten – am Beispiel der Aristotelischen „Physik“ und der Aristotelischen „Metaphysik“ verdeutlicht.
5 Vgl. M.-D. Chenu OP, Das Werk des hl. Thomas von Aquin, Heidelberg etc. 1960 (französische Originalausgabe: Introduction à l’etude de saint Thomas d’Aquin, Paris 1950), 25–33; M. Grabmann, Aristoteles im Werturteil des Mittelalters, in: M. Grabmann, Mittelalterliches Geistesleben. Abhandlungen zur Geschichte der Scholastik und Mystik, München 1936, 63–102.
Die Aristotelische Physik
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8.2 Die Aristotelische Physik Für die beginnende neuzeitliche Naturwissenschaft ist die Aristotelische Physik der Prototyp einer spekulativen, alles Empirische vernachlässigenden Naturphilosophie. Dabei wird übersehen, daß diese Physik im Gegenteil die eigentliche Urform einer empirischen Physik ist, die das Ideal auch der neuzeitlichen Physik, nur eben auf eine andere Weise, darstellt. Allgemein ist für Aristoteles alles philosophische und wissenschaftliche Wissen nichts anderes als die theoretische Ausarbeitung eines vortheoretischen, nämlich alltäglichen Erfahrungswissens.6 Gemeint ist mit diesem Wissen ein, wie Aristoteles sagt, ‚Wissen des Besonderen‘, nämlich ein lebensweltliches Vertrautsein mit elementaren Sachzusammenhängen, das auf eine exemplarische Weise zu einem Wissen führt, das allgemeinerer Art ist und von Aristoteles als ‚Wahrnehmung des Allgemeinen‘ bezeichnet wird. Auf dieses Erfahrungswissen, und als solchen empirischen Wissen, bleibt auch jegliches theoretische Wissen bezogen. Methodisch kommt dies in einem Postulat zum Ausdruck: Bilde für abstrakte Gegenstände, z.B. die Gegenstände der Mathematik, und für theoretische Zusammenhänge, z.B. naturphilosophische Sätze, schrittweise einen Konstitutionszusammenhang, der stets auf konkrete Unterscheidungen, Unterscheidungen, die in der Erfahrung gemacht werden und zu einem Erfahrungswissen führen, gegründet ist. Das gilt auch für die Physik und wird hier in der Generalisierung eines partikularen Erfahrungswissens zum Ausdruck gebracht. Als Beispiele seien genannt: (1) Das Aristotelische Fallgesetz. Dieses besagt, daß die Fallgeschwindigkeit eines Körpers proportional zu seinem Gewicht und umgekehrt proportional zur Dichte des Mediums ist. Das entspricht der alltäglichen Erfahrung. (2) Der Aristotelische Trägheitssatz. Dieser besagt, daß alles Bewegte von einem anderen bewegt wird und ein bewegter Körper zur Ruhe kommt, wenn es keine bewegende Kraft mehr gibt. Auch das entspricht der alltäglichen Erfahrung. (3) Die Aristotelische Elemententheorie. Nach dieser, in unterschiedlichen Konzeptionen vorgetragenen und kosmologisch weiter ausgearbeiteten Theorie ist unten, wo die Füße stehen, und oben, wo der Kopf ist. Und wieder entspricht dies der alltäglichen Erfahrung. Im Gegensatz zum Galileischen Fallgesetz lehrt die alltägliche Erfahrung, daß Körper unterschiedlichen Gewichts – archaische Beispiele sind Stein und Feder – nicht mit gleicher Geschwindigkeit fallen. Im Gegensatz zum Galileischen Trägheitssatz lehrt die alltägliche Erfahrung, daß bewegte Körper, auf die keine bewegenden Kräfte mehr einwirken, zur Ruhe kommen. Im Gegensatz zu einem (erstmals später von Leibniz formulierten) relationalen Raumbegriff lehrt die all-
6 Vgl. Met. A1.980a21ff..
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Aristotelische Physik und Metaphysik
tägliche Erfahrung, daß es so etwas wie absolute Auszeichnungen räumlicher Verhältnisse nicht gibt. Auch die Sätze der Aristotelischen Physik sind mithin empirische Sätze, und sie sind auch nicht einfach falsch. Sie gehören nur einem anderen begrifflichen und konzeptionellen Rahmen an als die Galileischen bzw. neuzeitlichen Sätze, was unter anderem darin zum Ausdruck kommt, daß sich die Aristotelische Physik als empirische Physik mit einer Naturbeschreibung – man könnte auch sagen: mit einem erfahrungsstabilisierenden Wissen – zufriedengibt, wohingegen die Galileische Physik als empirische Physik auf eine Naturbeherrschung zielt. Erfahrungsstabilisierendes Wissen heißt hier: man kann sich auf seine Erfahrungen, auf die Empirie verlassen. Von einem Beherrschungswillen wie später in der Neuzeit, am prononciertesten bei Francis Bacon, ist nicht die Rede. Von großer Erfahrungsnähe zeugt schon die Aristotelische Fassung des Naturbegriffs selbst. Nach Aristoteles ist Gegenstand der Physik (und jeglicher Naturphilosophie) nicht die Natur im ganzen, sondern das natürliche Ding, und der Grund ist wiederum der, daß nicht die Natur im ganzen, sondern nur einzelne natürliche Dinge oder einzelne natürliche Prozesse Gegenstand der Erfahrung sein können. Wir nehmen einzelne natürliche Dinge oder einzelne natürliche Prozesse wahr, nicht die Natur in ihrem dinglichen und prozeßhaften Wesen insgesamt. Die Definition des natürlichen Dinges lautet, daß dieses etwas ist, „das aus Stoff und Form besteht und einen Anfang der Bewegung in sich selbst hat“7. Der entscheidende Definitionsbestandteil ist hier ‚einen Anfang der Bewegung in sich selbst haben‘. Das gilt von Artefakten nicht bzw. nur insofern, als sie aus natürlichen Dingen, ihrem Stoff, zusammengesetzt sind. In der ausgearbeiteten Theorie führt eine derartige Bestimmung zu der Konzeption einer ‚natürlichen Bewegung‘ und eines ‚natürlichen Ortes‘ (dem Ziel einer natürlichen Bewegung). Damit ist zugleich ein Aspekt angesprochen, der den neuzeitlichen Aristoteleskritikern besonders suspekt war: die Vorstellung, daß natürliche Dinge von sich aus Bewegungen ausführen, und daß ihre (selbst ausgeführten) Bewegungen ein natürliches Ziel haben. Es ist das teleologische Element, die Rede von Zielen und Zwecken bei der Erklärung natürlicher Verhältnisse, das hier auf Unverständnis stößt, auch und gerade, weil es im Rahmen der Aristotelischen Physik zum Begriff einer ‚handelnden‘ Natur (natura naturans) führt. Nach Aristoteles wird Natur, primär: das natürliche Ding, gerade dadurch begreifbar, daß Natürliches als ein System von Handlungs- oder Produktionsvorgängen betrachtet wird. Die Aristotelischen physikalischen Begriffe orientieren sich an Handlungsbegriffen – das, was entsteht und wie es entsteht, wird durch die Art und Weise
7 Phys. B1.192b13–14.
Die Aristotelische Physik
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erklärt, wie es ins Werk gesetzt wird bzw. sich selbst ins Werk setzt. Noch anders formuliert: Natürliches wird als interagierendes Ensemble natürlicher Agenten verstanden, die einen Ursprung oder ein Prinzip der Bewegung in sich selbst haben. Das bedeutet auch: Mensch und Natur haben die gleiche, nämlich eine ‚poietische‘ Struktur (von po›hsi«, das herstellende Handeln). Gemeint ist die strukturelle Einheit von natürlichem Sicheinstellen und menschlichem Herstellen. Dasselbe gilt nach Aristoteles für natürliche und artifizielle Prozesse. Keiner hat dies prägnanter ausgedrückt als Aristoteles selbst (in seiner „Physik“, die nichts anderes als die Theorie dieses poietischen Naturbegriffs ist): „Wäre ein Haus ein Naturprodukt, es käme auf demselben Wege zustande, wie es faktisch durch menschliche Arbeit hergestellt wird. Würden umgekehrt die Naturdinge auch durch Menschenarbeit zustandekommen können, sie würden in derselben Weise zustandekommen, wie sie in der Natur sich bilden. Auch in der Natur würden sie sich also in der Ordnung von Mittel und Zweck bilden. Ganz allgemein gilt: Das menschliche Herstellen bringt Gebilde der Natur teils zum Abschluß, nämlich dort, wo sie die Natur selbst nicht zu einem Abschluß zu bringen vermag; teils bildet es Gebilde der Natur nach.“8 Was Hegel später (gegen den durch die neuzeitlichen Naturwissenschaften bestimmten Naturbegriff seiner Zeit) als den ‚wahrhaften Begriff der Natur‘ zitiert9, wird von Aristoteles (im Anschluß an die eben angeführte Stelle) wie folgt formuliert: „Wenn die Schwalbe ihr Nest und die Spinne ihr Netz auf Grund ihrer Natur und zweckmäßig bauen, und wenn die Pflanzen ihre Blätter um der Früchte willen ausbilden und ihre Wurzeln um der Nahrung willen nicht nach oben, sondern nach unten vortreiben, so ist dies ein Beweis dafür, daß diese Art von Grund in den Produkten und Gebilden der Natur tatsächlich am Werke ist.“10 Was hier üblicherweise als Naturteleologie bezeichnet wird und entsprechend im neuzeitlichen Denken auf scharfe Ablehnung stößt, ist weniger Ausdruck einer hylozoistischen, d.h. Materie mit Leben verbindenden, oder gar archaischen animistischen Vorstellung, sondern der systematisch viel wichtigere Gesichtspunkt einer poietischen, d.h. Herstellungsprozesse ins Auge fassenden, Struktureinheit im Begreifen natürlicher und Handlungsprozesse, also ein Moment des Begreifens selbst. Daß dies durchaus methodisch gemeint ist, macht wiederum die Aristotelische Ursachenlehre deutlich, die zugleich ein wesentliches Bindeglied zwischen
8 Phys. B8.199a12–17 (dt. nach der Übersetzung von H. Wagner: Aristoteles. Physikvorlesung, Darmstadt 1979 [Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung 11], 52–53). 9 Werke XIX, 177. 10 Phys. B8.199a26–30 (dt. nach der Übersetzung von H. Wagner [vgl. Anm. 8], 53).
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Aristotelische Physik und Metaphysik
Aristotelischer Physik und Aristotelischer Metaphysik darstellt. Das Auffallendste dabei ist, daß Aristoteles in seiner Ursachenlehre mehrere Ursachenbegriffe kennt, meist in Form einer so genannten Vier-Ursachen-Lehre zusammengefaßt.11 Demnach ist Ursache „das, woraus etwas entsteht“12, „die Form oder das Urbild“13, „der Anfang einer Veränderung“14 und „das Ziel oder das Weswegen“15. Nach moderner, schon frühneuzeitlicher Auffassung würde nur die dritte Bedeutung (‚der Anfang einer Veränderung‘) eine Ursache im engeren Sinne darstellen. Tatsächlich richtet sich die neuzeitliche Kritik an der Aristotelischen Physik und Metaphysik wesentlich gegen den hier geltend gemachten ganz anderen Ursachenbegriff, vor allem, wie schon erwähnt, gegen die Einbeziehung eines Zieloder Zweckbegriffs. Was, aus neuzeitlicher Sicht, als gegen die Aristotelische Physik (und Metaphysik) erzwungene Verwissenschaftlichung erscheint, stellt aber aus Aristotelischer Sicht gerade eine Verarmung der Verständnisbildung und der Forschung dar. Der Grund liegt, wie insbesondere von Wolfgang Wieland in seiner großen Arbeit über die Aristotelische Physik herausgearbeitet16, in der perspektivischen Weise allen Erklärens und Begreifens. So ist nach Aristoteles Physik in erster Linie Prinzipienanalyse, d.h., die Physik – und hier setzt die Aristotelische Ursachenanalyse an – stellt Gesichtspunkte bei, unter denen natürliche Phänomene (Vorgänge, Zustände, Ereignisse) betrachtet, beschrieben und erklärt werden. Damit verlagert Aristoteles das Problem physikalischen Erklärens und Wissens von einer Objektebene (‚welches sind die Ursachen der Dinge?‘) auf eine Art Metaebene (‚unter welchen Gesichtspunkten erforschen und erklären wir die Dinge?‘). Ansatzpunkt sind in diesem Falle forschende Fragen, vor allem Was- und Warum-Fragen. Was und WarumFragen bzw. Fragen des Typs ‚was ist der Fall?‘ und ‚warum ist etwas der Fall?‘ lassen sich wiederum nach Aristoteles in vierfacher Weise stellen, deren Antworten in Aristotelischer Terminologie Ursachen bzw. Prinzipien benennen: (1) ‚woraus ist etwas?‘, (2) ‚was ist etwas?‘, (3) ‚wodurch wird etwas bewirkt?‘ und (4)
11 Die folgende Darstellung (der Ursachenlehre wie einzelner Teile der Aristotelischen Metaphysik) im unmittelbaren Anschluß an J. Mittelstraß, Die Aristotelische Metaphysik, in: R. Brandt/Th. Sturm (Eds.), Klassische Werke der Philosophie. Von Aristoteles bis Habermas, Leipzig 2002, 14–37. 12 Phys. B3.194b24–25. 13 Phys. B3.194b26–29. 14 Phys. B3.194b29–31. 15 Phys. B3.194b32–33. 16 W. Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962, 21970.
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‚wozu dient etwas?‘. Die Antworten führen auf die Begriffe des Stoffes (als causa materialis), der Form (als causa formalis), der Wirkursache (als causa efficiens) und des Zieles bzw. Zweckes (als causa finalis). Nach Aristoteles wäre eine Analyse – in Form der Forschung über Dinge und Sachverhalte – unvollständig, insofern aber auch deren Erklärung und deren Begreifen, wenn nicht alle genannten Fragen beantwortet sind. Andererseits wird eine Vollständigkeit dieser Fragen nicht beansprucht; auch müssen nach Aristoteles nicht immer alle vier Gesichtspunkte herangezogen werden. Zum Beispiel genügen in einigen Fällen auch die Gesichtspunkte (Prinzipien) des Stoffes und der Form für eine gewünschte Erklärung. Man sieht, wie sich in der Aristotelischen Analyse inhaltliche mit methodischen (oder formalen) Gesichtspunkten verbinden. Und dies ist natürlich keine Schwäche, sondern eine Stärke dieser Analyse, auch wenn sie zu ganz anderen Ergebnissen und zu einer ganz anderen Konzeption von Physik und Naturphilosophie führt, als sie die neuzeitliche Physik darstellt. Das wird auch in der Aristotelischen Metaphysik deutlich, auf die nun ein Blick geworfen werden soll.
8.3 Die Aristotelische Metaphysik Metaphysik ist ein bibliothekarischer Begriff, der philosophische Karriere macht. Er geht, wie die Zusammenstellung einzelner Texte zur „Metaphysik“ selbst, auf Andronikos von Rhodos zurück, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert die Aristotelischen Schriften ordnet und einige dieser Schriften als solche im Anschluß an die physikalischen Schriften (met@ t@ fysikˇ, die Bücher ‚nach der Physik‘) zusammenstellt.17 Ein Redaktor und Bibliothekar macht Philosophiegeschichte. Der systematisch naheliegende Titel wäre die von Aristoteles häufiger gewählte Bezeichnung ‚Erste Philosophie‘ (prØth filosof›a) gewesen, mit der Aristoteles Untersuchungen über ‚erste‘ Ursachen und Prinzipien, über das Seiende als solches und über eine göttliche Substanz hervorhebt. Erst der Aristoteleskommentator Simplikios ersetzt im 6. nachchristlichen Jahrhundert die editionstechnische Bedeutung des Ausdrucks ‚Metaphysik‘ durch eine systematische. Demnach geht es nunmehr um Dinge, die ‚jenseits der Natur‘ (ãpwkeina tân fysikân) liegen.18
17 Alexander Aphrodisias, In Aristotelis Metaphysica commentaria, ed. M. Hayduck, Berlin 1891 (Comm. in Arist. Graeca I), 171,5–7. 18 Simplikios, In Aristotelis Physicorum (…) commentaria, ed. H. Diels, Berlin 1882 (Comm. in Arist. Graeca IX/X), 1,17–21; 257,20–26.
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Aristotelische Physik und Metaphysik
Tatsächlich entspricht die ursprüngliche editorische Verlegenheitslösung in der Bezeichnung der sachlichen Bedeutung der so zusammengefaßten Aristotelischen Schriften. Es geht, in Aristotelischer Terminologie, um die Ordnung dessen, was der Sache nach früher ist.19 Noch Kant wird später bestätigen: „Was den Namen der Metaphysik anbetrifft, so ist nicht zu glauben, daß derselbe von ohngefähr entstanden, weil er so genau mit der Wissenschaft selbst paßt.“20 Es bleiben die genannten Rekonstruktionsprobleme angesichts einer sowohl sachlichen als auch zeitlichen Ordnung verschiedener ‚Schichten‘, selbst auf dem Hintergrund der schon von Werner Jaeger 1912 in seinen „Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles“21 betonten Einsicht, daß die Ordnung der einzelnen Teile der „Metaphysik“, gerade auch im Hinblick auf sachliche Wiederholungen und wiederholte konzeptionelle Neuansätze, aus den Bedingungen und Gegebenheiten eines Schul- und Unterrichtsbetriebs heraus erklärbar ist. Wo Aristoteles den Begriff einer Ersten Philosophie verwendet, bezieht sich dieser in einem allgemeineren Sinne auf Untersuchungen, deren Erkenntnisinteresse über die Natur, damit auch über die Physik, hinausgeht, insofern sie nach Aristotelischer, später insbesondere von Thomas von Aquin ausgearbeiteter Terminologie mit dem Seienden als solchen in einer aller materiellen, damit auch aller disziplinären Wissensbildung vorgeordneten Weise befaßt sind. Die entsprechenden programmatischen Wendungen, auf den Untersuchungsgegenstand bezogen, lauten: die „ersten Prinzipien und Ursachen“22, das „Seiende als Seiendes“23 und, beide Wendungen zusammenziehend: die „ersten Ursachen des Seienden, insofern es seiend ist“24. Statt von ‚Erster Philosophie‘ ist an anderer Stelle auch von ‚theoretischer Einsicht‘ (sof›a)25 die Rede oder von philosophischer ‚Theologie‘, insofern ihr Gegenstand eine göttliche Substanz ist.26 Doch nicht nur um Ontologie im späteren, dem allgemeinen Sein der Dinge und Prozesse nachspürenden Sinne geht es in einer Ersten Philosophie, sondern
19 Vgl. Met. D11.1018b9–1019a14. 20 Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern, ed. M. Heinze, Leipzig 1894 (Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, philol.-hist. Cl. 14/6), 666. 21 W. Jaeger, Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles, Berlin 1912. Vgl. H. Flashar, Aristoteles, in: H. Flashar (Ed.), Die Philosophie der Antike III (Ältere Akademie – Aristoteles – Peripatos), Basel/Stuttgart 1983, 256. 22 Met. A2.982b9. 23 Met. E1.1026a31. 24 Met. G1.1003a30–31. 25 Eth. Nic. Z7.1141a16ff.. 26 Vgl. Met. L8.1074a35–36.
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auch um die Klärung logischer Begrifflichkeiten oder um die Formulierung und Diskussion formaler Rationalitätsbedingungen wie des Satzes vom (auszuschließenden) Widerspruch27 (keine Aussage ist zugleich wahr und falsch), des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten28 (jede Aussage ist entweder wahr oder falsch) und des Satzes von der Endlichkeit von Begründungen29, d.h. vom Ausschluß eines regressus ad infinitum in Begründungszusammenhängen. Doch dieser Aspekt einer Ersten Philosophie bleibt in der Tradition weitgehend unbeachtet. Diese definiert die Aristotelische Metaphysik als (allgemeine) Lehre vom Sein bzw. Seienden – nicht nur unter scholastischen Vorzeichen, sondern auch noch in der neueren Philosophie, etwa mit Martin Heideggers unglücklicher Inanspruchnahme der Aristotelischen Metaphysikkonzeption für das Programm einer Fundamentalontologie, ausgehend von der Frage nach dem Sinn von Sein.30 Von nun an gelten als die eigentlichen Themen der Metaphysik: Wesen und Sein (essentia und existentia), Form und Stoff, Möglichkeit und Wirklichkeit, Gott, Seele und Unsterblichkeit. Das sind – vielleicht mit Ausnahme der Unsterblichkeit – in der Tat Aristotelische Themen, Themen einer Ersten Philosophie oder Metapyhsik, aber eben nicht nur und auch nicht im Sinne einer allgemeinen Seinswissenschaft. Aristoteles selbst legt Wert einerseits auf die Kontinuität mit seiner Physikkonzeption, andererseits auf einen fundamentalen Unterschied gegenüber dieser Konzeption. Die Kontinuität liegt in einer Form-Stoff-Konzeption, die in einem physikalischen Zusammenhang zur Charakterisierung von (physischen) Gegenständen durch Bestimmungen führt, die zum einen die Identität des Gegenstandes gewährleisten (der in der Physik zentrale Begriff der Veränderung setzt voraus, daß sich etwas nicht verändert, der ‚Träger‘ von Veränderungen), zum anderen Ausdruck der Veränderung sind. Der fundamentale Unterschied besteht darin, daß (in den Grenzen einer Substanzkonzeption) von Prinzipien der Gegenstände, insofern diese bewegt sind, übergegangen wird zu Prinzipien der Gegenstände, insofern diese sind bzw. zum Gegenstand einer philosophischen Analyse gemacht werden können. Dies führt zu der in diesem Kontext zentralen Frage, ob Stoff oder Form das Wesen (o\s›a) der Gegenstände ausmachen, bzw. zu der Frage ‚was ist die Usia, was ist die Substanz (eines Gegenstandes)‘?
27 28 29 30
Met. G3.1005b17–34. Met. G7.1011b23ff.. Met. A2.994a3ff.; vgl. Met. G4.1006a8ff., an. post. A3.72b5ff.. M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 141977, 2–15 (I. Notwendigkeit, Struktur und Vorrang der Seinsfrage). Vgl. J. Mittelstraß, Martin Heidegger. Diesseits und jenseits von Sein und Zeit (1927), in: W. Erhart/H. Jaumann (Eds.), Jahrhundertbücher. Große Theorien von Freud bis Luhmann, München 2000, 107–127, 440–442.
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Aristotelische Physik und Metaphysik
Mit dem Begriff der Substanz betreten wir gewissermaßen den Innenhof der europäischen Metaphysik. Usia, Substanz, Wesen – wenn vom ‚Wesen der Dinge‘ die Rede ist, schlägt nicht nur das Herz des Philosophen höher. Woran liegt das? Wohl daran, daß uns allen auf die ein oder andere Weise der Platonismus in den (philosophischen) Knochen steckt. Wir fühlen uns in der Welt auf der Suche nach Wissen und Erkenntnis, nach einem festen Stand in Orientierungsdingen nicht wohl und bezeichnen diese Welt abschätzig als die Welt der Erscheinungen. Ihre Eigenschaften sind Kontingenz, Instabilität, Vergänglichkeit und Täuschung. Hier ist der bedürftige Mensch, der sinnliche, abgelenkte, unruhige Blick zu Hause. Es ist dann wiederum der Blick des Geistes, der über diese Welt hinausgeht und irgendwo im Nicht-Sinnlichen, Stabilen, Unvergänglichen hängenbleibt: bei Ideen (so Platon), Monaden (so Leibniz), Dingen an sich (so Kant), Substanzen. Der Philosoph wähnt sich zu Hause. Für den so genannten gesunden Menschenverstand, der gern im Gegensatz zum philosophischen Verstand gesehen wird, tut sich hier (mit den Worten Friedrich Nietzsches) eine Hinterwelt, die Welt der Metaphysik auf, ein Wolkenkukkucksheim, in das sich der Philosoph, immer ein wenig lebensunfähig, sehnt und flüchtet. Aber auch Kant vermerkt kritisch: „Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Eben so verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes.“31 Metaphysik also als Landnahme der Philosophie, weit draußen, wohin der wissenschaftliche Verstand, aus Einsicht, nicht reicht? Waren Platon und Aristoteles Tauben? Kant selbst scheint Sympathie für diese Art von Platonismus zu bekunden: „Plato bemerkte sehr wohl, daß unsere Erkenntniskraft ein weit höheres Bedürfnis fühle, als bloß Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können, und daß unsere Vernunft natürlicher Weise sich zu Erkenntnissen aufschwinge, die viel weiter gehen, als daß irgend ein Gegenstand, den Erfahrung geben kann, jemals mit ihnen kongruieren könne, die aber nichtsdestoweniger ihre Realität haben und keineswegs bloße Hirngespinste sind.“32 Also: sind Substanzen Hirngespinste? Sicher nicht so ohne weiteres, und sicher nicht auf Kants (Rekonstruktions-)Wegen. Schließlich ist auch das, was man in der Philosophie gelegentlich als Substanzenmetaphysik bezeichnet, Ausdruck des philosophischen Willens, Klarheit zu schaffen,
31 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 9–10 (Werke in sechs Bänden, ed. W. Weischedel, Frankfurt/Darmstadt 1956–1964, II, 61). 32 Kritik der reinen Vernunft B 371 (Werke II, 322).
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wo vorher Unklarheit war, mythische Orientierungen durch rationale Orientierungen zu ersetzen, rationale Forschung zu etablieren. Und eben dies ist auch die Aristotelische Intention, die sich hier mit dem Substanzbegriff verbindet. Dinge sind – und dies ist der Ausgangspunkt der Aristotelischen Substanzanalyse, die im Sinne des zuvor erwähnten Kontinuitätsgesichtspunktes die Aristotelische Metaphysik mit der Aristotelischen Physik verbindet – durch Stoff und Form bestimmt. Ein Ding besteht z.B. aus Bronze und ist eine Statue. Dabei ist die Usia, die Substanz, nach der nunmehr gefragt wird, weder der Stoff noch die Form allein. Der Stoff ist, in der Aristotelischen Terminologie, bloße Dynamis, die gegebene Möglichkeit, etwas (Bestimmtes) zu werden (im Beispiel Bronze, die zur Statue wird); die Form hingegen drückt den Begriff eines Gegenstandes aus, unter den dieser fällt (im Beispiel Statue zu sein), damit etwas ‚Allgemeines‘, das ‚für sich selbst‘ nicht existieren kann. Die Usia, die Substanz, ist in diesem Sinne ein aus Stoff und Form ‚Zusammengesetztes‘ – wie es ein wenig mißverständlich, weil Stoff und Form ja nicht je für sich existieren können, heißt –, oder ein konkretes Dies-da (tfide ti). Mit anderen Worten, nach Aristoteles sind Substanzen nicht ausgelagerte Naturen der Dinge, wie er kritisch gegenüber der Platonischen Ideenlehre vermerkt33, sondern diese selbst. Die Substanzen – Platons Ideen – kehren in die Dinge zurück. In der Aristotelischen Metaphysik geschieht dies in zweierlei Weise, nämlich im Rahmen des so genannten Substanz-Akzidenz-Schemas und im Rahmen einer logischen Analyse. Das Substanz-Akzidenz-Schema besagt, daß die Substanz definiert wird als Trägerin von Eigenschaften (‚die Rose ist rot‘) und als Trägerin von Erscheinungen (‚die Marsbahn ist ungleichförmig‘). In beiden Fällen soll das Wissen von den Gegenständen über eine Analyse ‚zufälliger‘ (akzidenteller) Bestimmungen hinaus auf ‚wesentliche‘ (substantielle) Bestimmungen führen. Diese Unterscheidung wiederum hat sowohl einen logischen als auch einen ontologischen Status, je nachdem, ob man dabei Unterscheidungen wie die zwischen zur Definition eines Gegenstandes gehörigen Bestimmungen und anderen im Auge hat, oder ob man das Zukommen von Bestimmungen im Sinne von Eigenschaften realistisch als ein Enthaltensein (einer Eigenschaft in einer Substanz) interpretiert. Das wird bei Aristoteles mit großer Sorgfalt, aber auch auf eine höchst anspruchsvolle Weise ausgeführt und soll und kann hier nicht näher dargestellt werden. Resultat ist die Unterscheidung zweier Bedeutungen von Substanz: der Bedeutung einer ‚ersten‘ Substanz, nämlich im Sinne des Gegenstandes selbst (Substanz in primärer Bedeutung ist der Gegenstand selbst), und der Bedeutung
33 Met. A9.991b2–3.
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Aristotelische Physik und Metaphysik
einer ‚zweiten‘ Substanz, nämlich im Sinne eines den Gegenstand definierenden Begriffs (Substanz in sekundärer Bedeutung ist, was der Gegenstand bedeutet, sein Begriff). Maßgebliches Ziel ist, die Frage nach der Einheit eines Gegenstandes auf dem Hintergrund einer Mannigfaltigkeit von (aspekthaften) Bestimmungen zu beantworten. Konsequenterweise steht dabei auch hier – wie so oft in den Aristotelischen Analysen – der Aufweis unterschiedlicher sprachlicher (begrifflicher) Aspekte im Vordergrund.34 Ziel ist nicht die Festlegung auf eine einzige Bedeutung – für Aristoteles wäre etwa die Platonische Festlegung der Bedeutung von Usia auf die Form (die ‚Idee‘) eines Gegenstandes eine erschlichene spekulative Einheit –, sondern Unterscheidungsklarheit, d.h. begriffliche Klarheit. Metaphysik, deren Teil die Substanzanalyse ist, ist denn auch im Aristotelischen Sinne kein hinterwäldlerisches Reich von spekulativen Abstraktionen, sondern die Bemühung, das scheinbar Einfache, hier die Rede von Gegenständen, klar zu machen. Daß dabei gerade das Vertraute, Alltägliche, vermeintlich Selbstverständliche und Einfache das Erklärungsbedürftige – und insofern auch der eigentliche Gegenstand der Philosophie – ist, darf denn auch als eine wesentliche Einsicht des Aristoteles, exemplarisch vorgeführt in seiner Metaphysik, d.h. der Konzeption einer Ersten Philosophie, gelten. Dies läßt sich auch so ausdrücken, daß wir, wenn wir über die Dinge reden, über Gesichtspunkte reden, unter denen wir die Dinge sehen und begreifen bzw. unter denen wir sie erforschen. Substanz, Stoff und Form sind solche Gesichtspunkte, nichts, was in irgendeinem Sinne selbst konkret wäre, auch wenn es gerade diese (und andere) Gesichtspunkte sind, unter denen wir Konkretes erfassen und begreifen. Unter Konstitutionsgesichtspunkten bedeutet dies im übrigen, daß die Dinge nach Aristoteles ein begriffliches Wesen besitzen.35 Für Aristoteles wären die Annahme und der Versuch naiv, über die Dinge lasse sich so reden, wie sie (auch ohne eine derartige sprachliche bzw. begriffliche Form) sind. Sie sind vielmehr – so die frühe Aristotelische Einsicht – niemals unterscheidungsfrei (begriffsfrei) gegeben. Sie sind so, wie wir über sie reden bzw. wie wir sie mit unseren begrifflichen Mitteln beschreiben und darstellen. Dabei kontrollieren sich die Dinge und ihre begriffliche Darstellung gegenseitig. Unterscheidungen können sich als zweckmäßig oder unzweckmäßig erweisen, in diesem Sinne auch als zutreffend oder nicht zutreffend, allerdings niemals in der Weise, daß wir imstande wären zu sagen, wie sie ohne diese Un-
34 Vgl. Met. D8.1017b10ff.. 35 Vgl. G. E. L. Owen, Tiùwnai t@ fainfimena, in: Aristote et les problèmes de méthode. Communications présentées au Symposium Aristotelicum tenu à Louvain du 24 août au 1er septembre 1960, Louvain/Paris 1961, 83–103.
Schlußbemerkungen
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terscheidungen sind. Dies wäre schon nach Aristoteles ein völlig untauglicher Versuch. Eben dies kommt auch in der Aristotelischen Ursachenlehre zum Ausdruck, die insofern, noch einmal, die Kontinuität zwischen Aristotelischer Physik und Aristotelischer Metaphysik markiert. Das läßt sich auch in Form eines systematischen Dreischritts formulieren, der von einer Naturanalyse zu einer Substanzanalyse führt: (1) Über die Natur reden, heißt über Naturdinge (natürliche Dinge) reden. (2) Naturdinge (natürliche Dinge) verstehen, heißt verstehen, was an ihnen Natur ist. (3) Was an den Naturdingen (natürlichen Dingen) Natur ist, ist ihr Wesen, ihre Substanz. Die Ursachenanalyse ist ein Teil dieses Dreischritts.
Schlußbemerkungen Mit der Darstellung der Grundlagen der Aristotelischen Physik und der Aufgaben einer Ersten Philosophie in Form der Aristotelischen Metaphysik, verbunden mit weitreichenden erkenntnistheoretischen und methodologischen Betrachtungen, ist der philosophische Reichtum des Aristotelischen Werkes bei weitem nicht ausgeschöpft. Es fehlen ganze disziplinäre Bereiche wie die Aristotelische Logik, die bis zu den Arbeiten Leibnizens und Gottlob Freges, also bis ins 19. und 20. Jahrhundert, die klassische Logik darstellt, die Aristotelische Biologie, die einen Großteil dieses Werkes ausmacht und die Biologie zugleich als Wissenschaft begründet, die Aristotelische Ethik, die einen Ethiktyp begründet, der noch heute neben der Ethik Kants die ethischen Debatten bestimmt, die Aristotelische Psychologie, Kosmologie, Meteorologie – kaum eine Disziplin fehlt, die heute den Kosmos der Philosophie und der Wissenschaften ausmacht und in Aristoteles ihren wesentlichen Begründer hat. Und selbst die Aristotelische Physik und die Aristotelische Metaphysik sind durch das hier Dargestellte bei weitem nicht ausgeschöpft. So fehlt z.B. die Darstellung unterschiedlicher Stufen des Wissens, die gleich zu Beginn der „Metaphysik“ der Begründung des Ausgangssatzes, daß alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, dient.36 In knapper und präziser Weise wird hier im Sinne eines systematischen Aufbaus ein (elementares) Wahrnehmungswissen als (begriffliches) Unterscheidungswissen, ein Erfahrungswissen als erfahrungsstabilisiertes Unterscheidungswissen, ein Techne-Wissen (im Sinne der artes) als begründungsstabilisiertes Erfahrungswissen und ein Theoria-Wissen als reines Begründungswissen bestimmt, wobei diesem Aufbau sowohl ein
36 Met. A1.980a21–982a3.
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erkenntnistheoretisch-methodologischer Status als auch ein anthropologischer Status zukommt. In ihm bringt sich die Vernunftnatur des Menschen zur Geltung. Es fehlt ferner eine Darstellung der großartigen Konzeption eines unbewegten Bewegers bzw. eines unbewegt Bewegenden, mit der Aristoteles einerseits ein kosmologisches Problem zu lösen sucht, nämlich das Problem eines Anfangs der Bewegung bzw., methodologisch formuliert, das Problem der Endlichkeit der Bewegungsursache, andererseits einen Theoriebegriff entwickelt, der eine nahezu Hegelsche Diktion aufweist: Der unbewegte Beweger verwandelt sich in die Theorie (als ‚erstes Bewegendes‘) und in die Vernunft, die sich selbst denkt.37 Die Verwirklichung der Vernunft wiederum ist, so Aristoteles, reines Leben, theoretische Lebensform. Kann – so muß man sich angesichts der üblichen Charakterisierungen Platons als des Idealisten und Aristoteles’ als des Empirikers fragen – eine Vorstellung der Wirksamkeit von Theorie und Vernunft idealistischer sein als diese? Aristoteles – der Philosoph. Kein anderer hat diesen Titel mehr verdient. Und wenn zu Beginn im Blick auf die Aristotelische Leistung der Satz zitiert wurde „die Universität ist entstanden“, so liegt darin nicht nur ein Hinweis auf systematisierende oder organisierende Fähigkeiten, sondern auch die ungeheure Wirkung seines philosophischen und wissenschaftlichen Wirkens beschlossen. Selbst im späteren philosophischen und wissenschaftlichen Abschied von der Aristotelischen Physik und Metaphysik liegt noch ein Aristotelisches Element: Das Wissenwollen, um das es Aristoteles in seiner Beschreibung bzw. Bestimmung des Wesens des Menschen in allem ging, übersteigt alle gegebenen Grenzen, darunter auch die durch sich selbst, in diesem Falle: durch das Aristotelische Denken selbst gegebenen.
37 Met. L7.1072b19–20. Vgl. zur systematischen Einheit von Erster Philosophie und ‚Theologie‘, H. Flashar, Aristoteles, in: H. Flashar (Ed.), Die Philosophie der Antike III, 378–379, und G. Patzig, Theologie und Ontologie in der „Metaphysik“ des Aristoteles, Kant-Studien 52 (1960/1961), 185, ferner in: G. Patzig, Gesammelte Schriften III, Göttingen 1996, 141.
Die Aristotelische Metaphysik
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9. Der Begriff der Kausalität Vorbemerkung Unser philosophisches und wissenschaftliches Denken nimmt seinen Anfang mit dem griechischen Denken. Das gilt auch vom Begriff der Kausalität. Wie sollte man auch Warum-Fragen, um die das beginnende rationale Denken kreist, beantworten, ohne dabei auf das Verhältnis von Grund und Folge, Ursache und Wirkung zu stoßen bzw. diese Unterscheidungen zu treffen? Mit der einen, Grund und Folge, hat es die Logik zu tun, mit der anderen, Ursache und Wirkung, die Naturphilosophie, etwa in der Weise, daß sie zwischen einem Kausalprinzip (nihil fit sine causa: nichts geschieht ohne Ursache) und einem Kausalgesetz (gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen) unterscheidet. Sind diese Unterscheidungen griechische Unterscheidungen? Für die griechische Logik, insbesondere in ihrer Aristotelischen Form, befaßt mit der Relation zwischen Grund und Folge, lautet die Antwort Ja. Doch gilt das auch für die griechische Naturphilosophie, befaßt mit Ursachen und Wirkungen? Hier sind die Dinge weit weniger klar, vor allem dann, wenn man sie aus der Perspektive moderner Kausalitätsvorstellungen betrachtet. Tatsächlich bedeutet, der Kausalitätsvorstellung im griechischen Denken nachgehen, fremde Wege gehen. Die griechische Auffassung von Kausalität hat – darauf hat unter anderem Kurt von Fritz schon 1961 hingewiesen1 – wenig mit modernen Kausalitätsvorstellungen zu tun, wobei häufig schon die Fragen, auf die mit Betrachtungen über kausale Verhältnisse geantwortet wird, andere sind, als sie später gestellt werden. Das mag auf den ersten Blick insofern verwunderlich sein, als Naturphilosophie einen großen Teil der griechischen Philosophie ausmacht und die Analyse der Relation von Ursache und Wirkung den Kern einer Erklärung von Naturprozessen bildet. So stellen sich die Dinge jedenfalls seit Galilei, d.h. seit der Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaft, dar. Sie müssen deshalb nicht schon, und sei es auch nur in Ansätzen, Teil des griechischen Denkens sein oder der Maßstab, an dem sich dieses Denken in Sachen Erklärung der Natur zu messen hätte. Das wird im Folgenden deutlich werden, wobei sich die Darstellung im wesentlichen auf entsprechende Überlegungen Platons und Aristoteles’, allgemeine wissenschaftstheoretische Gesichtspunkte eingeschlossen, bezieht. Es geht hier
1 K. v. Fritz, Der Beginn universalwissenschaftlicher Bestrebungen und der Primat der Griechen II, Studium Generale 14 (1961), 601–636, hier 622ff..
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Der Begriff der Kausalität
nicht um eine Deskription dessen, was im griechischen Denken alles unter den Begriff der Kausalität fallen mag, sondern um das Exemplarische dieses Denkens im Kontext dieses Begriffs.
9.1 Werden und Vergehen Auch wenn der Kausalitätsbegriff kein zentraler Begriff der griechischen Philosophie ist, bedeutet dies nicht, daß Wirkungszusammenhänge, zumal natürliche, keine Aufmerksamkeit gefunden hätten. Es ist bereits die vorsokratische Philosophie, die sich in ihren naturphilosophischen Teilen für Kräfte und Wirkungen interessiert, etwa in der Weise, daß Dinge kraft ihrer Eigenschaften Wirkungen (an sich selbst oder auf andere) hervorrufen, doch wird das physische Geschehen, auch und gerade das kosmische Geschehen, meist im Lichte von Regularitäten betrachtet, die einerseits eine Erfahrungsgrundlage, andererseits eine Grundlage in (mathematischen) Modellen besitzen, die wiederum kinematische, nicht-kausale Erklärungen bevorzugen. Hinsichtlich der Wirkungen von Qualitäten heißt es z.B. bei Anaxagoras: „aus den Wolken wird Wasser ausgesondert, aus dem Wasser Erde, und aus der Erde setzen sich Steine fest zusammen unter Einwirkung des Kalten.“2 Und bei Empedokles: „Als Wasser und Erde und Luft und Sonne sich mischten, entstanden die Gestalten und Arten der sterblichen Dinge (…), indem sie von Liebe zusammengefügt wurden, genauso viele wie heute in der Welt sind.“3 Zu den alles Geschehen dominierenden Regularitäten gehört nach Heraklit: „Alles ist austauschbar gegen Feuer und Feuer gegen alles, wie Waren gegen Gold und Gold gegen Waren.“4 Und Empedokles schreibt: „Einmal kommt alles in Liebe zu Einem zusammen – Glieder, welche der Leib besitzt auf blühendem Lebensgipfel; das andere Mal dagegen, zerschnitten von schlimmen Fehden, wird jedes auseinander getrieben, wenn das Leben zerbricht. Ebenso ist es mit den Sträuchern und den im Wasser hausenden Fischen und den im Gebirge sich lagernden Tieren und den auf den Flügeln schreitenden Vögeln.“5 Hier sind es Liebe und Streit, die alle Regularitäten bedingen. Manches klingt sogar schon wie die Formulierung eines Kausalprinzips im allgemeinen, etwa wenn es bei Leu-
2 VS 59 B 16 (VS = H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch [Berlin 1903], I–III, ed. W. Kranz, Berlin 61951–1952). 3 31 B 71. 4 22 B 90. 5 31 B 20.
Platonische Ursachen
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kipp heißt: „Kein Ding entsteht aufs Geratewohl, sondern alles in Folge eines Verhältnisses (lfigo«) und durch Notwendigkeit.“6 Allerdings stehen dabei wieder Gesichtspunkte einer kosmischen Ordnung im Vordergrund, nicht solche einer analysierten Kausalität. Daß es in der Natur, im Kosmos geordnet zugeht, ja notwendigerweise so, ist entscheidender für das Begreifen als die Analyse von Ursache und Wirkung. Vielleicht könnte man auch sagen, daß in diesen ersten naturphilosophischen Erklärungsbemühungen der Schritt vom Beschreiben (dessen, was der Fall ist) zum Erklären (warum etwas der Fall ist) zu früh kommt; das Erklären übernimmt sich. Das heißt, in gewisser Weise folgt die beginnende Rationalität noch dem mythischen Denken, das auf seine Weise diesen Schritt einfach überspringt – selbst noch in der Annahme von verborgenen Intentionalitäten, die an die Stelle eines göttlichen Handelns treten, etwa in Form von Liebe und Streit (Empedokles) oder einer wirkenden Vernunft (Anaxagoras) als vermutete Kausalitäten. Immerhin bleiben derartige Vorstellungen ein Element auch des entwickelten griechischen Denkens. Wie an vorsokratische Harmonievorstellungen anschließend klingt es, wenn Aristoteles im 1. Buch der „Physik“ erklärt: „Es muß doch notwendig alles Wohlgefügte (Harmonische) aus Ungefügtem (Unharmonischem) entstehen und umgekehrt das Ungefügte aus Gefügtem; und untergehen muß das Gefügte in eine Ungefügtheit, und dies darf nicht eine beliebige, sondern muß die entgegengesetzte sein.“7 Werden und Vergehen, so schon die Vorsokratiker, sind die Basisprozesse in der Natur, ihrer Erklärung dient die Suche nach materiellen und immateriellen Prinzipien, die im Werden und Vergehen wirksam werden. Bis zu geklärten Kausalitätsvorstellungen – im Rahmen einer dem griechischen Denken inhärenten Regularitätskonzeption, etwa durch die Bedingungen bestimmt, daß die Ursache der Wirkung zeitlich vorausgeht und eine empirische Verbindung zwischen Ursache und Wirkung besteht – ist es noch weit.
9.2 Platonische Ursachen Als einen wesentlichen Schritt in diese Richtung werden meist Platons Vorstellungen angesehen, die im Kontext der Ideenlehre entwickelt werden und sich als einen bewußten Bruch mit der bisherigen Naturphilosophie darstellen. Den Rahmen bildet die bekannte intellektuelle Autobiographie des Sokrates im „Phai-
6 67 B 2. 7 Phys. A5.188b12–15.
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Der Begriff der Kausalität
don.“8 Sokrates hat sich in seiner Jugend der Suche nach den Ursachen von Werden und Vergehen verschrieben, etwa den Problemen nachgehend, ob Tiere dadurch entstehen, daß das Warme und Kalte in Fäulnis übergeht, oder ob wir mit dem Blut denken oder mit der Luft oder mit dem Feuer oder mit keinem dieser Art, sondern mit dem Gehirn.9 Das ist gut vorsokratisch gedacht. Schließlich haben wir, von all dem reichlich verwirrt, Anaxagoras sagen hören, daß die Vernunft (noÜ«) die Ursache von allem sei.10 Ursache und Vernunft – das paßt nach Sokrates zusammen, zumal kausale Erklärungen, nach denen die Philosophie jenseits des Mythos nunmehr sucht, selbst beanspruchen, vernünftig zu sein. Nun tritt die Vernunft selbst als die allgemeine Ursache auf, und zwar, wie schon Sokrates zu erkennen glaubt, als ein teleologisches Prinzip, das alles, auch die Naturvorgänge, beherrscht. Doch Sokrates wird enttäuscht. Die Vernunft bringt nach Anaxagoras die Dinge nur am Anfang in Gang; später nimmt alles denjenigen Weg, den schon die Vorgänger des Anaxagoras bei ihren Versuchen, Werden und Vergehen zu erklären, gegangen waren. In dieser Situation, die doch nur wieder eine vergebliche Suche nach empirischen Ursachen, d.h. empirischen Ursachen in der empirischen Welt, bedeuten würde, nimmt Sokrates, wie er sagt, Zuflucht zu den Logoi.11 In ihnen, d.h. in den Konstruktionen des Verstandes, glaubt er nun die ‚Wahrheit der Dinge‘ (tân òntvn tÎn $l‹ueian) zu erblicken.12 Sokrates hat, mit anderen Worten, aufgehört, allein auf die Dinge zu blicken, d.h. im Empirischen nach Erklärungen zu suchen.13 Es geht ihm jetzt mit der Suche nach der Wahrheit der Dinge um das Wesen der Dinge selbst, nicht länger um kausale Zusammenhänge, die empirische Prozesse erklären. Dieses Wesen gibt sich im Empirischen nicht zu erkennen. Die empirischen Fakten werden, mit dem Höhlengleichnis gesprochen, zu bloßen Bildern an der Höhlenwand; die Wirklichkeit findet im Denken statt. Wenn gleichwohl noch vom Begriff der Ursache (tΫ aåt›a« tÌ eÚdo«) die Rede ist14, dann nicht länger im Sinne einer Erklärung kausaler Prozesse, sondern in Form einer Explikation des Verhältnisses zwischen den Dingen und ihren Ideen, d.h., es geht um die ‚Teilhabe‘ (mwuhji«) der Dinge an den Ideen15; es geht um begriffliche Zusammenhänge, nicht um empirische.
8 9 10 11 12 13 14 15
Phaid. 95e-101e. Phaid. 96b. Phaid. 97b/c. Phaid. 99e. Ebd. Phaid. 99d. Phaid. 100b. Phaid. 100c.
Platonische Ursachen
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Im Resultat bedeutet dies im Kontext der Platonischen Philosophie die Abkehr von einer Erklärung von Kausalitäten und die Hinwendung zur Theorieform von Erklärungen. Das Theoretische beansprucht von nun an alle philosophische Aufmerksamkeit; das Empirische muß warten – auf Aristoteles. Die Platon-Interpretation hat gleichwohl immer wieder versucht, Platons Kehrtwendung im „Phaidon“ im Sinne eines neuen Kausalitätskonzepts zu deuten, das auch dem Empirischen, d.h. der Erklärung empirischer Prozesse, Rechnung trägt. So besteht z.B. nach Vlastos16 die neue Konzeption Platons darin, daß sich die empirischen Phänomene in der Weise als ‚logisch notwendig‘ erklären lassen, wie dies für die Ideen untereinander gilt, d.h., eine empirische Wirkung folgte einer empirischen Ursache mit derselben Notwendigkeit, mit der etwa 2 + 2 das Resultat 4 ergibt (Zahlen im Sinne der Ideenzahlenlehre als Ideen aufgefaßt). Doch dies dürfte kaum das wirkliche Interesse Platons gewesen sein (wie es später das philosophische Interesse Leibnizens mit dem Versuch, Tatsachenwahrheiten auf Vernunftwahrheiten zurückzuführen, ist). Platon geht es eben gar nicht länger um die Erklärung von (empirischen) Wirkungen durch Rückführung auf ihre (empirischen) Ursachen, sondern, wie dargestellt, nur noch um das Verhältnis der Dinge zu ihren Ideen im Sinne eines Verhältnisses von Urbild und Abbild. Die Abbildung ordnet hier einer Idee (als universalem Urbild) einen Gegenstand als (partikulares) Abbild zu. Erkenntnis ist „das Ergebnis der Ausführung der (als existierend unterstellten) inversen, vom Abbild zum Urbild führenden Abbildung“17. Das ist das Verhältnis, für das sich Platon interessiert, nicht das Verhältnis zwischen (empirischer) Ursache und (empirischer) Wirkung. Allenfalls ließe sich im Sinne der Aufrechterhaltung einer kausalen Terminologie mit Sedley sagen, „that it is the F (the appropriate Form) which causes F things to be F“18, d.h., die Eigenschaften der Dinge sind durch ihre entsprechenden Ideen verursacht, oder mit Kelsey, „that Socrates’ Form-hypothesis maintains that things participate in Forms as the result of causes whose object is to make them do that“19. Kein Zweifel, daß hier nur in einem übertragenen Sinne von Kausalität die Rede sein kann. Mit anderen Worten, für Platon verschiebt sich das Interesse vom Empirischen (mit seinen Eigenschaften und Regularitäten) ins Begriffliche, wobei diese Verschiebung ausdrücklich durch die Unzulänglichkeiten der bisherigen Erklä-
16 G. Vlastos, Reasons and Causes in the Phaedo, The Philosophical Review 78 (1969), 291–325. Ferner in: G. Vlastos, Platonic Studies, Princeton 1973, 76–110. 17 K. Lorenz, Abbildtheorie, in: J. Mittelstraß (Ed.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie I, Stuttgart/Weimar 22005, 6–8. 18 D. Sedley, Platonic Causes, Phronesis 43 (1998), 114–132, hier 127. 19 S. Kelsey, Causation in the Phaedo, Pacific Philosophical Quarterly 85 (2004), 21–43, hier 23.
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Der Begriff der Kausalität
rungsversuche begründet wird. Daß die Dinge sind, wie sie sind, einschließlich ihrer Wirkungen auf sich selbst und auf andere Dinge, hat seinen Grund nicht in empirisch gegebenen Eigenschaften und Regularitäten, sondern in der ‚Teilhabe‘ der Dinge an ihren Ideen, die in diesem Sinne – um hier doch noch einmal eine kausale Terminologie zu verwenden – die Ursachen gegebener Eigenschaften und Regularitäten sind. Bewußt wird damit ein Bruch mit der bisherigen Naturphilosophie vollzogen, sofern sich diese in ihren vorsokratischen Formen auch als Kausalitätsforschung verstehen ließ. Und wo von Platon doch wieder, wie im „Timaios“, das Thema Naturforschung aufgegriffen wird, geschieht dies nicht im Sinne einer Revision dieser Konzeption, sondern im Gegenteil als deren konsequente Anwendung. Im „Timaios“ wird nämlich die Natur nicht als gegeben, sondern als das Werk eines Demiurgen dargestellt, der sie nach einem idealen Plan oder Muster, dem ‚Kosmos‘ der Platonischen Ideen schafft. Nach dem Vorbild eines ‚vollkommenen Lebewesens‘ entsteht der Kosmos als ein selbst beseeltes, vernünftiges Lebewesen20, als ein sichtbarer Gott in Gestalt einer vollkommenen Kugel21. Seine Seele, die ‚Weltseele‘, hat ein astronomisches Sein; sie wird durch die (mathematische) Ordnung der Kurvenbahnen der Planeten gebildet. Zugleich fungieren die Himmelskörper als ‚Werkzeuge der Zeit‘22; die Zeit (xrfino«), mit dem Himmel entstanden, ist ein Abbild der Ewigkeit (aåØn).23 Die Himmelskörper sind ‚sichtbare und entstandene Götter‘24, die Erde ‚die erste und ehrwürdigste Göttin innerhalb des Himmels‘25. Der Mensch ist in diesem Kosmos, der aus lauter Göttlichem gebildet selbst ein lebendiger Gott ist, eine ‚Pflanze‘, die „nicht in der Erde, sondern im Himmel wurzelt“26; er verbindet die Erde mit dem (ihm verwandten) Himmel27. Und so weiter. Was hier wie ein mythischer Rückfall erscheint, ist in Wahrheit die konsequente Anwendung der Konzeption der Ideenlehre auf die Kosmologie. In ihrer klassischen Konzeption erlaubt die Ideenlehre eine Wissenschaft von der Natur, d.h. der Welt des Werdens und Vergehens, nicht. Hier, im „Timaios“, aber wird
20 Tim. 30a/b. Vgl. zum Folgenden J. Mittelstraß, Die Kosmologie der Griechen, in: J. Audretsch/K. Mainzer (Eds.), Vom Anfang der Welt. Wissenschaft, Philosophie, Religion, Mythos, München 1989, 40–65, 208–210 (in diesem Band 43–71). 21 Tim. 34a; vgl. 68e, 92c. 22 Tim. 42d. 23 Tim. 38c. 24 Tim. 40d. 25 Tim. 40c. 26 Tim. 90a. 27 Ebd.
Aristotelische Ursachen
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der Kosmos als das Produkt eines planvollen Herstellungsvorgangs, als ein Artefakt, vorgestellt. Und Artefakte erlauben in der Platonischen Konzeption einen sie erklärenden Rückgriff auf ideentheoretische Verhältnisse. Das heißt, die Vorstellung, die physische Welt lasse sich dadurch erklären, daß man sie als eine ‚ins Werk gesetzte‘ Welt, eben als ein Artefakt, sehen lernt, nähert die kosmologische Rede, wie wir ihr im „Timaios“ begegnen, der geometrischen Rede über geometrische Ideen und deren (stets unvollkommene) Realisierungen an, die den Standardeinführungstext der Ideenlehre bildet. In der Verwendung von Modellen, etwa mechanischen Modellen der Planetenbewegungen, aber auch in stereometrischen Modellen der Elementenbildung gewinnt, zumindest im Prinzip, die kosmologische Konzeption Platons ein methodisches Profil, das ohne diesen Zusammenhang in reiner Phantastik unterzugehen droht. Naturforschung nicht als Kausalitätsforschung, sondern als Konstruktion einer Welt, wie sie ‚idealen‘ Gegebenheiten entspricht. In diesem Zusammenhang ist denn auch die These vertreten worden, daß der Demiurg eine Metapher für Timaios, den ‚Autor‘ des Lehrvortrags, sei und dieser wiederum den (konstruierenden) Verstand bzw. die (konstruierende) Vernunft darstelle.28 Die Welt – so das Resultat der entsprechenden Analysen – ist ein Werk des erklärenden Verstandes bzw. der erklärenden Vernunft, oder anders ausgedrückt: die Welt entsteht in der Theorie. Die Platonische Theoria – das ist ihrer systematischen Konzeption nach Wissenschaft in den Grenzen konstruktiver und in diesem Sinne nicht-empirischer Wissensbildung. Zugleich liegt in der Platonischen Identifikation dieser Wissensform mit dem Begriff der wissenschaftlichen Rationalität das griechische Konstruktionsmodell der Rationalität begründet.
9.3 Aristotelische Ursachen Die griechische Geschichte des Kausalitätsbegriffs bleibt nicht bei Platon und dessen Transformation empirischer Forschung in begriffliche Forschung stehen. Bereits Aristoteles macht diese Transformation rückgängig, allerdings nicht so, daß er selbst mit seinen Konzeptionen im Kontext des Kausalitätsbegriffs in die vorsokratischen Vorstellungen von Werden und Vergehen zurückkehrt, sondern indem er Platons Theorie vom Wesen der Dinge durch eine Theorie der Gesichtspunkte, unter denen wir die Dinge sehen und erklären, ersetzt.
28 K. J. Lee, Platons Raumbegriff. Studien zur Metaphysik und Naturphilosophie im „Timaios“, Würzburg 2001, 47–77.
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Der Begriff der Kausalität
Ausgangspunkt ist der Substanzbegriff.29 Nach Aristoteles sind Substanzen – auch bei ihm zunächst als etwas aus Stoff und Form Zusammengesetztes oder als ein konkretes Dies-da (tfide ti) bestimmt – nicht ausgelagerte Naturen der Dinge, wie kritisch gegenüber der Platonischen Position vermerkt wird30, sondern diese selbst. Die Substanzen – Platons Ideen – kehren in die Dinge zurück. Es ist auch bei Aristoteles in erster Linie die Frage nach dem Wesen der Dinge, die seine Untersuchungen bestimmt, nicht die Frage nach einer Erklärung kausaler Verhältnisse. Die Rückkehr erfolgt in zweierlei Weise: im Rahmen des so genannten Substanz-Akzidenz-Schemas und im Rahmen einer logischen Analyse. Das Substanz-Akzidenz-Schema besagt, daß die Substanz definiert wird als Trägerin von Eigenschaften (‚eine Rose ist rot‘) und als Trägerin von Erscheinungen (‚die Marsbahn ist ungleichförmig‘). In beiden Fällen soll das Wissen von den Dingen über eine Analyse ‚zufälliger‘ (akzidenteller) Bestimmungen hinaus auf ‚wesentliche‘ (substantielle) Bestimmungen führen. Diese Unterscheidung wiederum hat sowohl einen logischen als auch einen ontologischen Status, je nachdem, ob man dabei Unterscheidungen wie die zwischen zur Definition eines Gegenstandes gehörigen Bestimmungen und anderen im Auge hat, oder ob man das Zukommen von Bestimmungen im Sinne von Eigenschaften realistisch als ein Enthaltensein (einer Eigenschaft in einer Substanz) interpretiert. Logisch im strikten Sinne wird die Usia, die Substanz definiert über die Analyse spezieller Subjektbegriffe, die ihrerseits nicht als Prädikatbegriffe auftreten können31: Usia ist das, „was selbst nicht von einem Substrat, sondern von dem alles übrige ausgesagt wird“32 – Substrat (Époke›menon) hier im Sinne eines logischen Subjekts. Dies wiederum erlaubt dann die Deutung von Usia im Sinne einer Zuweisung von Trägereigenschaften (‚Sokrates ist weise‘ als ‚Sokrates ist Träger der Eigenschaft Weisheit‘). Diese doppelte Bedeutung bleibt über Boethius mit der Unterscheidung zwischen einer ersten und einer zweiten Substanz33 in der Metaphysiktradition bewahrt. Demnach ist die erste Usia der Gegenstand selbst, mitsamt seinen akzidentellen Bestimmungen – dies wäre die primäre Bedeutung von Usia –, die zweite Usia der einen Gegenstand definierende Begriff (sein ‚Wesen‘). Für diesen Begriff verwendet Aristoteles bekanntlich die schwer übersetz-
29 Vgl. zum Folgenden J. Mittelstraß, Die Aristotelische Metaphysik, in: R. Brandt/Th. Sturm (Eds.), Klassische Werke der Philosophie. Von Aristoteles bis Habermas, Leipzig 2002, 14–37. 30 Met. A9.991b2–3. 31 Cat. 5.2a11–13. 32 Met. Z3.1029a8–9. 33 Vgl. Cat. 5.2a11–19.
Aristotelische Ursachen
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bare Formel: tÌ t› Òn eÚnai (‚was es heißt, dies zu sein‘), gemeint ist der charakteristische Begriff eines Gegenstandes, aristotelisch formuliert das, wodurch etwas (auf begrifflicher Ebene) ist, was es ist. Weitere Bestimmungen des Begriffs der Substanz erfolgen über das Begriffspaar Dynamis (‚Möglichkeit‘) und Energeia (‚Wirklichkeit‘), mit dem zum Ausdruck gebracht werden soll, daß die Dinge werden, was sie sind. Dynamis ist hier verstanden einerseits als das Vermögen, Veränderungen (eines anderen Gegenstandes) herbeizuführen, andererseits als das Vermögen, selbst Gegenstand von Veränderungen zu sein34 – dies ist die Standardversion einer Aristotelischen Kausalität –, Energeia als die verwirklichte Bestimmung, wobei Wirklichkeit das erreichte Telos eines Gegenstandes besagt: „Ziel (twlo«) ist die Form (morf‹), vollendet ist das, was sein Ziel erreicht hat.“35 Die eigentliche Verbindung des Aristotelischen Substanzbegriffs mit dem Ursachenbegriff läuft dann über den Begriff der Arche ($rx‹). Die Arche, d.h. „das erste, von dem aus etwas wird“36, ist auch die Ursache, der Grund dafür, warum etwas so ist, wie es (geworden) ist, d.h. das, „ohne das das Folgende nicht sein kann“37. Diese Ursache wird nach Aristoteles bei den Vorsokratikern vorschnell mit dem Stoff, aus dem die Dinge sind, bei Platon mit den Ideen, als den ausgelagerten Naturen der Dinge, identifiziert. Auffallend ist nun bekanntlich, daß Aristoteles mehrere Ursachenbegriffe zu kennen scheint, meist unter dem Titel einer Vier-Ursachen-Lehre zusammengefaßt.38 Demnach ist Ursache „das, woraus etwas entsteht“39, „die Form (eÚdo«) oder das Urbild (parˇdeigma)“40, „der Anfang ($rx‹) einer Veränderung (metabol‹)“41 und „das Ziel (twlo«) oder das Worumwillen (tÌ oí õneka)“42. Nach moderner, schon frühneuzeitlicher Auffassung würde nur die dritte Bedeutung (‚der Anfang einer Veränderung‘) eine Ursache im engeren Sinne darstellen. Tatsächlich richtet sich die neuzeitliche Kritik an der Aristotelischen Physik und Metaphysik vor allem gegen die Einbeziehung eines Telos-Begriffs. Was, aus neuzeitlicher Sicht, als gegen die Aristotelische Metaphysik erzwungene Verwissenschaftlichung erscheint, stellt nun aber aus Aristotelischer Sicht gerade eine
34 35 36 37 38 39 40 41 42
Met. D12.1020a2–3. Met. D24.1023a34. Vgl. Met. D1.1012b34ff.. Met. D2.1013a24ff.. Phys. B3.194b23ff.; Met. A3.983a24–32. Phys. B3.194b24–25. Phys. B3.194b26–29. Phys. B3.194b29–31. Phys. B3.194b32–33.
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Der Begriff der Kausalität
Verarmung der Verständnisbildung und der Forschung dar. Der Grund liegt in der von Aristoteles vertretenen perspektivischen Weise allen Erklärens und Begreifens.43 So ist nach Aristoteles Physik in erster Linie Prinzipienanalyse, d.h., die Physik – und hier setzt die Aristotelische Ursachenanalyse an – stellt Gesichtspunkte bei, unter denen natürliche Phänomene (Vorgänge, Zustände, Ereignisse) betrachtet, beschrieben und erklärt werden. Damit verlagert Aristoteles das Problem physikalischen Erklärens von einer Objektebene (‚welches sind die Prinzipien der Dinge?‘) auf eine Art Metaebene (‚unter welchen Gesichtspunkten erforschen und erklären wir die Dinge?‘). Ansatzpunkt sind in diesem Falle forschende Fragen, vor allem Warum-Fragen. Warum-Fragen bzw. Fragen des Typs ‚was ist der Fall?‘ und ‚warum ist etwas der Fall?‘ lassen sich wiederum nach Aristoteles in vierfacher Weise stellen, deren Antworten in Aristotelischer Terminologie Ursachen bzw. Prinzipien benennen: (1) ‚woraus ist etwas?‘, (2) ‚was ist etwas?‘, (3) ‚wodurch wird etwas bewirkt?‘ und (4) ‚wozu dient etwas?‘. Die Antworten führen auf die Begriffe des Stoffes (als causa materialis), der Form (als causa formalis), der Wirkursache (als causa efficiens) und des Zieles bzw. Zweckes (als causa finalis). Nach Aristoteles ist eine Analyse – in Form der Forschung über Dinge und Sachverhalte – unvollständig, insofern aber auch deren Erklärung und deren Begreifen, wenn nicht alle diese Fragen beantwortet sind. Andererseits wird eine Vollständigkeit dieser Fragen nicht beansprucht. In diesem Zusammenhang erinnert Aristoteles, wie so oft, an den üblichen Sprachgebrauch, in dem sich unterschiedliche Bedeutungen von Ursache (aútion) feststellen lassen.44 Es geht also um eine Bedeutungsanalyse, nicht um Ursachen im direkten Sinne. Die Warum-Frage, das di@ t›, so Aristoteles, wiederum läßt sich, wie dargestellt, in vierfacher Weise stellen und entsprechend auf vierfache Weise beantworten. Die Einheit der in dieser Form zustandekommenden unterschiedlichen Bedeutungen ist denn auch nicht in einem übergeordneten Prinzip, d.h. dem Begriff der Ursache, gegeben, sondern in unterschiedlichen Funktionen, die die Frage nach dem Warum annehmen kann.45 In der Tradition ist gleichwohl der Telos-Begriff, d.h. die Beantwortung der Frage nach dem Worumwillen, als ein solches übergeordnetes Prinzip angesehen
43 Dies ist vor allem von W. Wieland herausgearbeitet worden (Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962, 21970). 44 Phys. B3.195a29. 45 Vgl. W. Wieland, a.a.O., 261ff..
Aristotelische Ursachen
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worden (z.B. von Thomas von Aquin in seinem Physikkommentar46). An diesem Mißverständnis ist Aristoteles wiederum nicht ganz unschuldig, heißt es doch, daß das Worumwillen als Ursache immer auch das Ziel der anderen (Ursachen) sein wolle.47 Zutreffend stellt Wieland fest, daß sich „daraus, daß das Telos der anderen Ursachen immer schon bedarf, (…) noch nicht ableiten (läßt), daß es selbst auch in einem höheren Sinne Ursache ist. Mit dem ‚anderen‘ (t$gauÌn tân ¡llvn) sind nicht speziell die anderen Ursachen gemeint, sondern in einem allgemeineren Sinne alles, was dem Zweck vorausliegt und dessen er bedarf, also vor allem die Mittel“48. Außerdem wendet sich Aristoteles auch hier wieder gegen eine Beschränkung auf das Stoffprinzip. Durch eine derartige Beschränkung kommt keine Zweckmäßigkeit zustande bzw. bliebe alles, auch das Zweckhafte, dem Zufall überlassen. Die Erläuterung macht deutlich, daß in der Aristotelischen Analyse des Begriffs der Ursache der Begriff der Wirkung in dem uns vertrauten bzw. in der späteren Kausalitätsdiskussion immer als konstitutiv betrachteten Sinne keine Rolle spielt. Er tritt explizit als komplementärer Begriff zu dem der Ursache gar nicht auf, allenfalls in der Bestimmung desjenigen, für das die Ursachen Ursachen sind.49 Das wiederum liegt daran, daß es auch Aristoteles, wie Platon, in der Regel um die Ursache von Dingen, nicht um die von Prozessen, d.h. von verursachtem Geschehen, geht. Fremd mutet uns der Aristotelische Ursachenbegriff nicht deshalb an, weil er so eng mit dem Zweckbegriff (Telos-Begriff) verbunden ist, sondern weil für ihn die Komplementarität von Ursache und Wirkung nur eine untergeordnete Rolle spielt.50 Dies aber erklärt sich aus der Aristotelischen Ursachenanalyse selbst. Aristoteles wörtlich: „Unsere Untersuchung gilt der Erkenntnis, und zur Erkenntnis eines Dinges fordern wir die Erfassung des Grundes, und das heißt: des ersten Grundes.“51 Im übrigen merkt Aristoteles an, daß auch Platon in gewissem Sinne schon das Worumwillen, d.h. das Telos-Prinzip, als Ursache (aútion) bezeichnet habe, nur eben nicht in dem von ihm gewählten Kontext einer Prinzipienanalyse52 – und auch nicht im Sinne einer Rekonstruktion
46 In octo libros de physico auditu sive Physicorum Aristotelis commentaria, Opera omnia. Editio Leonina II (1884), ed. F. Angelli/M. Pirotta, Neapel 1953, 5, 11. 47 Phys. B3.195a23–25. 48 W. Wieland, a.a.O., 263. 49 Phys. B3.195b7. 50 Wieland verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß der Ausdruck aåtiatfin, der dem Begriff der Wirkung entsprechen könnte, lediglich an zwei nicht zentralen Stellen auftritt (Met. K8.1065a11, an. post. 16.98a36, b3), keine davon in der „Physik“. 51 Phys. B3.194b17–20. 52 Met. A7.988b6–8.
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von Erfahrungsstrukturen, auf die sich in der Aristotelischen Ursachenlehre auch die hier geltend gemachten Prinzipien, in Form von forschenden Fragen, beziehen. In einem allgemeineren erkenntnistheoretischen Sinne steht damit dem Konstruktionsmodell Platons, der Platonischen Theoria, ein Rekonstruktionsmodell gegenüber, dessen Basis die Aristotelische Empeiria ist. Diese spielt in der wissenschaftlichen Wissensbildung eine konstitutive Rolle, insofern nach Aristoteles alles wissenschaftliche Wissen auf einem vor-wissenschaftlichen, vor-theoretischen Wissen aufgebaut ist. Es handelt sich um den Begriff einer phänomenalen Erfahrung im Gegensatz zum Begriff einer instrumentalen Erfahrung, in deren Rahmen, so in der Physik seit Galilei, Erfahrungen nicht gegeben sind, sondern experimentell erzeugt werden. Es ist denn auch dieser Umstand, die Existenz unterschiedlicher Erfahrungsbegriffe und deren methodischer Einsatz, der den eigentlichen Unterschied zwischen der Aristotelischen und der neuzeitlichen Physik ausmacht, nicht etwa der Umstand, daß die Aristotelische Physik keine empirische Physik wäre. Die Aristotelische Physik ist in der Tat ebenso wie die neuzeitliche Physik empirisch, nur eben auf eine andere Weise. Ihr Kontrollbegriff ist nicht die experimentale oder instrumentale, sondern die phänomenale Erfahrung. Auch das kommt im Aristotelischen Ursachenbegriff – im Unterschied sowohl zum Platonischen als auch zum modernen Begriff der Ursache – auf eine geradezu exemplarische Weise zum Ausdruck. Anders ausgedrückt: Nach Aristoteles besitzt die Welt der Phänomene bereits eine begriffliche Struktur.53 Deren Rekonstruktion erfolgt in der Weise, wie sich eine Prinzipienanalyse am Beispiel des Begriffs der Ursache mit gegebenen Erfahrungsbeständen befaßt.
Schlußbemerkung Als Fazit der hier vorgetragenen Analyse läßt sich festhalten: Der Begriff der Kausalität ist im griechischen Denken allgegenwärtig, aber er findet noch zu keiner begrifflichen und konzeptionellen Klarheit. Im vorsokratischen Denken macht er sich in der Suche nach Qualitäten und Regularitäten geltend, die das Werden und Vergehen erklären sollen. Im Platonischen Denken wechselt er die Fronten von den ‚Physiologen‘, die insbesondere nach stofflichen Ursachen suchten, zu den ‚Ideenfreunden‘, für die sich alles Empirische ins Begriffliche, alles Wissen in
53 Vgl. G. E. L. Owen, tiuwnai t@ fainfimena, in: Aristote et les problèmes de méthode, Paris 1961, 83–103.
Schlußbemerkung
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Theorie aufzulösen scheint. Im Aristotelischen Denken gewinnt die Rede von Ursachen ihre empirische Bedeutung zurück, allerdings nicht im Sinne des späteren Kausalitätsbegriffs (der Begriff der Wirkung im Kontext von Ursache und Wirkung bleibt wirkungslos), sondern in Form einer Prinzipienanalyse, die gewissermaßen zwischen den Dingen und ihrer Theorie operiert.
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Der Begriff der Kausalität
IV. Logik
Aristotelische Ursachen
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10. Theaitetos fliegt – Zur Theorie wahrer und falscher Sätze in Platons Sophistes* Vorbemerkung Im „Sophistes“ bemüht sich Platon um eine Definition des Sophisten. Nach mehreren dihairetischen Definitionsversuchen wird dieser schließlich als mimht‹« bestimmt, der mit seiner Kunst Falsches vorstellt. Da Falsches nach Platon Nichtseiendes ist, muß er die Parmenideische These, daß es Nichtseiendes nicht geben könne, widerlegen, wenn er sich nicht in Widersprüche verwickeln will. Platon tut dies, indem er in einer längeren Diskussion das Problem der Wahrheit und Falschheit von Sätzen behandelt und dabei genau bestimmt, in welcher Weise es tatsächlich Falsches, und also Nichtseiendes, gibt. Wir haben es hier mit einer Untersuchung zu tun, die in Platons Werk ganz einzigartig dasteht und die mit Recht auch heute als ein unerläßlicher Bestandteil der Prolegomena zur Logik angesehen werden darf. Kein Wunder also, daß diese Untersuchung gerade in neuerer Zeit, in der sich Probleme der Logik wieder größerer Aufmerksamkeit erfreuen, das Interesse vieler Interpreten gefunden hat, wenngleich deren Darstellung den logisch entscheidenden Partien bei Platon meist nur unvollkommen gerecht wurde. Diesem Mangel hoffen wir mit einem neuen Vorschlag zur Interpretation der fraglichen Textstellen abzuhelfen. Es soll gezeigt werden, daß Platon – allerdings in der Sprache der Ideenlehre – über wahr und falsch im wesentlichen nicht anders denkt, als man es heute tut. Unter der Voraussetzung, daß die bisher maßgebenden Interpretationen die Intention Platons im allgemeinen treffen, läßt sich Folgendes nachweisen: Die moderne Definition eines Elementarsatzes ‚s e P‘, in welchem dem Gegenstand mit dem Eigennamen ‚s‘ das Prädikat ‚P‘ zugesprochen wird, kennt Platon in dieser Form nicht. Statt dessen betrachtet er Minimalsätze ‚SP‘ mit zwei Prädikaten ‚S‘ und ‚P‘, wobei ‚S‘ auch die Rolle eines Eigennamens ‚s‘ spielt, was durch ‚Ss P‘ – S ist P in bezug auf s – mitgeteilt werden soll. Ein Gegenstand mit dem Eigennamen ‚s‘ wird daher immer als unter eine charakteristische Gattung S fallend gedacht, wird also in Sätzen nicht nur von einem reinen Eigennamen vertreten. Ist S jetzt eine charakteristische Gattung von s, so ist nach Platon ‚Ss P‘ wahr genau, wenn dem s sowohl S als auch P zukommen, falsch hingegen genau, wenn für ein geeignetes zu ‚P‘ konträres Prädikat ‚Q‘ der Satz ‚SsQ‘ wahr ist.
* Gemeinsam mit Kuno Lorenz.
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Zur Theorie wahrer und falscher Sätze in Platons Sophistes
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei Teile: der erste behandelt kritisch die wichtigsten Interpretationen der letzten Jahre, der zweite bietet und begründet die von uns vorgeschlagene Interpretation.
10.1 Ansätze Fast alle jüngeren Beiträge sind in Auseinandersetzung mit Francis M. Cornfords eigenwilliger Interpretation unserer Textstelle entstanden.1 Cornford faßt nämlich die Ideen als Bedeutungen der Prädikate auf und behauptet, daß sie auf diese Weise in die Bedeutung eines jeden Satzes eingehen.2 Das ist nach Cornford der Sinn von 259e5–6 (di@ g@r tÎn $ll‹lvn tân eådân symplokÎn Ç lfigo« gwgonen ŁmÖn), den er wiedergibt durch: „at least one Form enters into the meaning of any statement.“3 Mit der Wendung ‚at least one Form‘ nimmt er dabei Rücksicht auf die Platonischen Beispielsätze ‚Theaitetos sitzt‘ und ‚Theaitetos fliegt‘, in denen nur eine Idee – Sitzen bzw. Fliegen – vorkommt, da ‚Theaitetos‘ offenbar Eigenname ist und daher nach Cornford keine Idee bedeuten kann. Zweifellos aber tut diese Rücksicht 259e5–6 Gewalt an; denn Platon spricht hier ausdrücklich von einer Verflechtung von Ideen miteinander, und wie auch immer deren Zusammenhang mit lfigo« interpretiert wird, die Wendung ‚at least one Form‘ läßt sich keinesfalls vertreten.4 Dabei glaubt Cornford, daß Platon sich erst bei der Behandlung des falschen Satzes gezwungen sehe, Ideen mit Sätzen im Sinne von 259e5–6 in Zusammenhang zu bringen. Seiner Meinung nach bedarf es eines solchen Zusammenhangs für die Erklärung, wie ein wahrer Satz zustande kommt, noch nicht. Cornford vertritt nämlich die These, daß Platons Definition des wahren Satzes in 263b ältere Erklärungen (Euthyd. 283e, Krat. 385b) wiederholt, die ihrerseits nichts anderes seien als Ausdruck der common-sense-Überzeugung, „that truth consists in the correspondence of the statement with the ‚things that are‘ or ‚the facts‘“5. Platon eine solche Abbildtheorie zu unterstellen, in der Satzteilen ‚Weltstücke‘ entsprechen, ist jedoch völlig unbegründet. Wollte man diese Behauptung ernsthaft vertreten, so müßte man z.B. die Prädikate als Eigennamen auffassen und den ònta in 263b ‚existing facts‘ – Cornford führt ‚Theaetetus-sitting‘ als Beispiel an – ent-
1 2 3 4
Cornford 1957, 255–317. A.a.O., 298. A.a.O., 314. Dies haben Bluck 1957, 181, und insbesondere Ackrill 1955, 31, bereits in voller Klarheit gesehen; vgl. auch Moravcsik 1960, 118, und Peck 1962, 46ff.. 5 Cornford 1957, 310.
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sprechen lassen, was, einmal ganz abgesehen von den logischen Schwierigkeiten, von ‚existing facts‘ als Weltstücken zu reden, der Text, wie wir in Teil II zeigen werden, verbietet. Natürlich versagt diese Abbildtheorie beim falschen Satz, und Cornford meint, daß sich Platon genau dieser Schwierigkeit gegenübersehe, wenn es heißt: Falsches reden ist Nichtseiendes reden. „Only by (…) using the theory of Forms can Plato meet the Sophist’s objection that false statement cannot exist because there is nothing for it to mean.“6 Aber zu behaupten, daß ein falscher Satz Nichtseiendes rede, weil er nichts bedeute, d.h. ihm nichts Faktisches entspreche, und daß Platon darum jedem Satz eine Bedeutung verschaffe, indem er die Ideen als Bedeutungen der Prädikate einführe – die Bedeutung der Eigennamen bleibt weiterhin etwas Faktisches, ein Einzelding –, ist reine Spekulation. Es ist weder gerechtfertigt noch nötig, zur Erklärung unseres Textes zu solchen Konstruktionen, wie hier einer Zwei-Bedeutungen-Lehre, zu greifen.7 Dies ist auch die Ansicht von Reginald Hackforth, der Cornford vorwirft, er lese in diesem Punkt zu sehr zwischen den Zeilen. „I cannot believe that the vital point, namely the distinction between correspondence to fact and meaning (…), could have been left unmentioned, and indeed not so much as hinted at.“8 Er verwirft deshalb Cornfords Lösung, die Ideen als Bedeutungen der Prädikate anzusehen, eine Lösung, die auch falschen Sätzen eine Bedeutung zu verleihen sucht, obwohl diesen keine Weltstücke entsprechen, und schlägt statt dessen ohne nähere Begründung vor, als Bedeutungen der Prädikate nur Einzeldinge zu wählen, die Prädikate also wie Eigennamen zu behandeln. Dabei interpretiert auch er die Platonische Frage nach der Existenz falscher Sätze – verbindet sich lfigo« mit mÎ òn (260b/c)? – als Frage nach der Bedeutung falscher Sätze und muß daher diese Bedeutung jetzt anders erläutern. Zu diesem Zweck greift Hackforth in veränderter Form auf die schon von Cornford verwendete Abbildtheorie zurück und versteht Platons Theorie der Wahrheit und Falschheit von Sätzen (262/3) auf folgende Weise: Man kann Eigen-
6 A.a.O., 315; vgl. die Kritik an dieser von Cornford Platon zugeschriebenen Bedeutungslehre durch Xenakis 1957, der allerdings darüber hinaus Platon eine formale Theorie des Satzes zuschreibt, was Moravcsik 1958 wiederum zu Recht beanstandet; eine ausführliche Begründung bietet Xenakis 1959. 7 Ähnlich Cornford verfährt Diès 1950, 280ff., weswegen bisweilen auch beider Deutungen als Ausgangspunkt neuerer Untersuchungen genommen werden; vgl. Hackforth 1945, 56ff.. Insbesondere teilt Diès die Auffassung Cornfords, daß Platons Definition des wahren Satzes an frühere Erklärungen anknüpfe, die Ausdruck einer ursprünglichen Abbildtheorie der Sprache seien: „La vérité du discours (…) ne pouvait se définir (…) que par sa conformité avec le réel“ (283). 8 Hackforth 1945, 56.
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namen korrekt oder inkorrekt verknüpfen, nämlich so, wie die zugehörigen Einzeldinge ‚in Wirklichkeit‘ verknüpft sind, oder so, wie sie es nicht sind. Im ersten Fall entsteht ein wahrer, im zweiten Fall ein falscher Satz. „When I say ‚Theaetetus flies‘ I am uniting in speech two entities which are both real (for there is such a man as Theaetetus, and there is such an act as flying), but which in reality are disjoined.“9 Eben darum gehe es Platon, sagt Hackforth, zu zeigen, daß nicht Sätzen im ganzen Weltstücke entsprechen, sondern zunächst nur ihren Teilen – der Grund Platons, den Aufbau der Sätze en detail zu untersuchen. Was man hier unter ‚in reality‘ verstehen und wie man sich das eben skizzierte Programm bei Platon durchgeführt denken soll, bleibt nun völlig im Dunkeln.10 Ideen jedenfalls kommen nach Hackforth in diesem Zusammenhang überhaupt nicht vor.11 Mit 259e beginnt seiner Meinung nach eine selbständige Erörterung über das Wesen der Rede (lfigo«), die von den Betrachtungen in 251–258 über das Verhältnis der Ideen untereinander unabhängig ist. Mit Rücksicht auf den Sinn von symplok‹ in 262c6 und symplwkvn in 262d4 faßt er bereits die symplokÎ eådân in 259e5–6 als Verflechtung von Wörtern (‚parts of speech‘) auf. Das aber ist schon deshalb nicht stichhaltig, weil symplok‹ bereits früher, nämlich in 240c1–2, auftritt und dort die Verflechtung der Ideen òn und mÎ òn bezeichnet. Im übrigen aber ist die Übersetzung von eúdh ab 259e als ‚parts of speech‘ völlig willkürlich; sie zwingt z.B. dazu, 261d1–2, wo eúdh deutlich von grˇmmata und çnfimata unterschieden sind, als bloßes Wortspiel aufzufassen.12
9 A.a.O., 57. 10 Auch bei Robinson 1950, der, gegen Cornford, bis zu diesem Punkt genau dasselbe sagt wie Hackforth, sucht man eine solche Rechtfertigung vergebens. „I deny that the Sophist introduces the Forms into its explanation of error.“ Jeder Minimalsatz „is a compound of one noun and one verb. It asserts that this thing, signified by its noun, has this attribute, signified by its verb. Each of its simple parts, noun or verb, signifies something real. (…) the possibility of false logos is given by the fact that logos, being always compound, may assert that these realities are connected otherwise than as they are“ (11, vgl. 26). Ähnlich interpretiert Allan 1954: „a statement is true when it describes things which are as they are; i.e. its components must (a) stand for real entities and (b) in their relation to one another, depict the relation between those entities“ (285). Bezeichnenderweise muß er dann weitere Details der Platonischen Darstellung, z.B. die Entsprechung von Wörter- und Ideenverflechtungen, als mysteriös auffassen (286). Dieselbe Meinung scheint auch Crombie 1963, 497, zu teilen, ohne allerdings auf deren Konsequenzen einzugehen. 11 Hier wie Cornford die Teilhabe (mwùeji«) der Einzeldinge an Ideen ins Spiel zu bringen, hält Hackforth 1945, 56, für einen ungerechtfertigten Rückgriff auf frühere Dialoge Platons, nämlich dessen klassische Ideenlehre. 12 Robinson 1950 vermeidet es, sich derart festzulegen. Im Unterschied zu Hackforth läßt er 260b als einen Zusammenhang zwischen der mwgista-gwnh-Diskussion und der Erörterung über Wahrheit und Falschheit von Sätzen gelten, „but this introduction is merely dramatic
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Auf den ersten Blick scheint Arthur L. Peck noch radikaler als Hackforth vorzugehen, insofern auch die mwgista gwnh jetzt keine Ideen mehr sein sollen. So haben ihm seine Kritiker (Lacey, Moravcsik) z.B. vorgeworfen, er interpretiere die mwgista gwnh als bloße Namen, als sophistische fantˇsmata an Stelle dialektischer eåkfine«13, und dies deshalb, weil sie unvollständige Ausdrücke seien.14 Nun läßt sich aber zeigen, daß Peck im Gegenteil sogar hier Platon die klassische Ideenlehre unterstellt. Platon greift, nach Peck, zu sophistischer Argumentationsweise lediglich, um seine Gegner ‚on their own ground‘ zur Annahme eben dieser Ideenlehre zu bringen.15 Er sagt: „òn is not a Platonic Form. But when we allow those things to be joined together which the sophist had kept asunder, when we allow òn to be associated together with its proper term of reference, then we get a true Platonic Form,tÌ Ôn d›kaion, ¯ östi d›kaion.“16 Und was er hier vom Genos òn sagt, wird ähnlich auch für die übrigen mwgista gwnh behauptet. Es ist eine glückliche Idee von Peck, in seiner Arbeit über die mwgista gwnh die im „Sophistes“ vorkommende Platonische Charakteristik des Sophisten und Philosophen auf die Argumentation des Textes selbst anzuwenden, wobei allerdings die klassische Ideenlehre der Maßstab bleibt. Nun kann es aber nicht unsere Aufgabe sein, diese detaillierten Überlegungen von Peck kritisch darzustellen – was von Alan R. Lacey teilweise schon geleistet wurde17 –, wir müssen uns vielmehr damit begnügen, Pecks Auffassungen zum Problem der falschen Rede zu prüfen. Peck stellt Platons Definition der falschen Rede in 263b die frühe, vorläufige Fassung in 241a gegenüber und betont, daß jene diese vervollständige, weil „in such a phrase as lwgein tÌ mÎ òn some essential qualifying words have been left out“18. Er meint das ‚per› tino«‘, das ‚worüber‘ jeden Satzes.19 Peck erklärt jedoch
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and ‚dialectical‘, as Cornford remarks, and does not correctly describe what actually happens in the explanation“ (11; Cornford 1957, 298). 259e5–6 wird überhaupt nicht erwähnt. Lacey 1959, 43. A.a.O., 45; Moravcsik 1960, 127–128. Peck 1952, 39, 53; vgl. auch Peck 1962, 65–66. Peck 1952, 55. Unter anderem weist Lacey mit Recht darauf hin, daß die von Peck gemachte Unterscheidung zwischen ‚wirklichen‘ und ‚scheinbaren‘ Ideen im Text nicht belegbar ist (Lacey 1959, 46); desgleichen, daß – und diesen Hinweis dankt er Hamlyn – Peck Platon zu Unrecht auf dessen klassische Ideenlehre festlegt, wenn er „to suppose that Motion cannot be unless it partakes in another gwno« [d.h. òn]“ absurd nennt (47, Peck 1952, 49). Peck 1962 ist dabei von Peck 1952 insoweit abhängig, als eúdo« und gwno« lediglich auf Platons eigene Beispiele beschränkt sein und deshalb z.B. nicht ‚Sitzen‘ und ‚Mensch‘ umfassen sollen. Peck 1952, 54. „The false lfigo« states about Theaetetus t@-mÎ-ònta-about-him as if they were ònta-abouthim“ (ebd.). Peck verfährt hier in Analogie zu seiner Theorie der mwgista gwnh: so wie diese ‚in-
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nicht im einzelnen, was die knappen Platonischen Formulierungen ‚lwgein t@ ònta Ñ« östin‘ und ‚lwgein õtera tân òntvn [Ñ« östin]‘ in 263b bedeuten sollen; insbesondere läßt er die neben ‚per› tino«‘ weitere wichtige Ergänzung gegenüber ‚lwgein t@ ònta‘, nämlich ‚Ñ« östin‘, völlig unberücksichtigt. Von der entscheidenden Frage, wie der lfigo« ceyd‹« mit der symplokÎ eådân in 259e5–6 verbunden ist, handelt dann Peck in seinem Aufsatz zehn Jahre später. Dort behauptet er, daß 259e5–6 in keiner Weise jene Untersuchung über lfigo«, die erst mit 260 beginnt, vorwegnimmt, sondern sich allein auf die spezielle Verflechtung von lfigo« mit òn bezieht.20 Obwohl es nun gewiß richtig ist, daß die Verflechtung von Ideen, wie sie zuvor nachgewiesen worden war, auch die Verflechtung von lfigo« und òn mit einschließt, so ist doch 260a5-b2 keineswegs eine bloße Wiederholung von 259e5–6. Vielmehr faßt 259e5–6 die vorausgehenden, den lfigo« betreffenden Resultate zusammen, daß dieser nämlich eine Verflechtung von eúdh ‚oúkoùen‘ mit sich bringt (252a/c, 259d), während 260a5-b2 die Aufmerksamkeit darauf lenkt, daß auf genau diese Weise auch die Verflechtung von lfigo« mit òn zustandekommt: Rede ist, indem sie eine Verflechtung von eúdh mit sich bringt, kein Phantom, sie existiert vielmehr. Die wichtige Stelle 259e5–6 wird erst wieder von David W. Hamlyn ausdrücklich zur Erklärung falscher Rede herangezogen. Hatte Hackforth erklärt, daß von dieser Stelle an eúdh als Wörter zu verstehen seien, die in Sätzen nichts anderes als Einzeldinge bezeichnen, so behauptet jetzt Hamlyn, daß nach wie vor eúdh Ideen seien und jede Rede anders als bei Cornford es nur mit Ideen zu tun habe, also keine Eigennamen enthalte: „there are no proper names in our sense, but
complete terms‘, d.h. fantˇsmata, sind, die ihres ‚term of reference‘ bedürfen, um Ideen, d.h. eåkfine« zu werden, so bedarf auch das fˇntasma ‚lwgein t@ mÎ ònta‘ der Ergänzung durch das ‚per› tino«‘. Es bleibt aber ungeklärt, warum zweistellige Prädikate – neben ‚ùˇteron‘ und ‚ta\tfin‘ ist nach Peck auch ‚òn‘ ein solches – unvollständig und damit fantˇsmata heißen sollen, einstellige aber vollständig und also eåkfine« (vgl. auch Moravcsik 1960, 128; die Platonische Unterscheidung zwischen vollständigen (kaù’ aÉtfi) und unvollständigen (prfi« ti) Begriffen – vgl. Owen 1957, 107ff. – ist nicht überall die zwischen ein- und mehrstelligen Prädikaten!). Überdies wird das zweistellige ‚òn‘ auf zwei verschiedene Weisen einstellig gemacht: Gibt man ‚òn‘ wieder durch O(x, y), so geht Peck einmal zu O(x, x) (Motion is Motion, 51), ein anderes Mal zu O(x, n) (tÌ Ôn d›kaion, 54–55) über, wobei ‚n‘ der ‚wahre‘ Name (eåkØn) einer Idee ist. Die Vervollständigung von ‚lwgein t@ mÎ ònta‘ wiederum geschieht durch Eigennamen. In jedem Falle muten diese Konstruktionen überaus spekulativ und wenig überzeugend an. 20 „The sentence at 259E (…) is the application to a particular case (viz. lfigo«) of a principle which has been established for all eúdh in the foregoing part of the dialogue. Consequently, there is no obligation upon us to show how the contents of the two lfigoi about Theaetetus given at 263A square with that sentence“ (Peck 1962, 60). Peck vernachlässigt dabei den Umstand, daß mit einer wahren, durch eine korrekte Verflechtung von Wörtern dargestellten Rede eine Verbindung von prˇgmata mit prˇjei« (ònta!) behauptet wird (262c/e).
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only names of forms.“21 Was als Eigenname erscheint, wie z.B. ‚Theaitetos‘, sei in Wahrheit eine Kennzeichnung, die nämlich denjenigen, welcher eine Summe von Eigenschaften besitzt, die insgesamt nur für einen einzigen Gegenstand zutreffen, bedeutet. Man kann unter dieser Voraussetzung jeden ursprünglichen Eigennamen als ‚Namen‘ derjenigen Idee, d.h. einer Konjunktion von Prädikaten, auffassen, die den von ihm bezeichneten Gegenstand kennzeichnet.22 „‚Socrates‘ is (…) a disguised description, in that it unpacks into a list of all the forms in which Socrates partakes. The expression ‚Socrates‘ is only an abbreviation for ‚man who is good, wise, snub-nosed, etc.‘, and thus any statement in which ‚Socrates‘ appears can be analysed, just because communion of forms is possible.“23 Hamlyn begründet diese Auffassung damit, daß Platon die symplokÎ eådân zur Erklärung des lfigo« deshalb eingeführt habe, weil mit Eigennamen allein nur Identitätsaussagen möglich seien. Ideen kommen ja stets einer Vielzahl von Einzeldingen zu – hierin gründet, wie Hamlyn zurecht bemerkt, die Möglichkeit ihrer symplok‹ – und können andererseits auch niemals Einzeldinge charakterisieren, weil diese durch endlich viele Begriffsteilungen nicht erreichbar sind.24 Unter dieser Voraussetzung sind nun aber Kennzeichnungen der Einzeldinge im strengen Sinne gerade nicht mehr möglich, und Hamlyns Deutung wird hinfällig, es sei denn, man verzichtet auf die Eindeutigkeit der kennzeichnenden Prädikate und sieht überhaupt keinen Unterschied mehr zwischen Eigennamen und Prädikaten. Das aber widerspricht offensichtlich Platons Verwendung z.B. des Wortes ‚Theaitetos‘, das jedenfalls auch im Sinne eines Eigennamens auftritt (263a8). Allerdings betrachtet Hamlyn Platons Programm als gescheitert, weil man das Wesen einer aus Eigennamen und Prädikat zusammengesetzten Elementaraussage auf diese Weise nicht erklären könne.25 Anders als Hamlyn, und im übrigen auch schon Hackforth, die im Grunde beide an der Cornfordschen Interpretation lediglich einige Verbesserungen an-
21 Hamlyn 1955, 294. 22 Ist ‚s e P‘ eine Elementaraussage mit einem Eigennamen ‚s‘ und einem Prädikat ‚P‘, weiter ‚S‘ das s kennzeichnende Prädikat – es gilt dann: ∨x ∧ y .S(y) ` ´ y = x., und ‚s‘ ist Eigenname desjenigen Gegenstandes, dem ‚S‘ zukommt –, so ist ‚s e P‘ mit der generellen Aussage ‚saP‘, d.i. ∧x .S(x) ´ P(x)., logisch äquivalent. 23 Hamlyn 1955, 294–295. Ähnlich die Darstellung in: Schipper 1964, 42, die jedoch zusätzlich noch mit der logisch auf dem Kopf stehenden Behauptung verknüpft ist, daß Einzeldinge nur kraft der sie kennzeichnenden Ideen existieren (44)! 24 Vgl. Theait. 209, woran Hamlyn hierbei offenbar denkt. 25 „as long as a philosopher attempts to explain all statements by saying that they assert some relation between two or more entities of which the words involved are names, no real solution is possible“ (Hamlyn 1955, 295).
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bringen, unterzieht John L. Ackrill diese Interpretation in zwei Arbeiten einer grundsätzlichen Kritik. Er geht davon aus, daß – wie bereits gezeigt – Cornfords Deutung von 259e5–6 den Text offensichtlich entstellt wiedergibt und schlägt seinerseits eine neue Lösung vor.26 Seiner Meinung nach muß 259e5–6 nicht so verstanden werden, daß jeder einzelne Satz (lfigo«) diejenige symplokÎ eådân unmittelbar abzulesen gestattet, die ihn ‚ermöglicht‘. Vielmehr sei die symplokÎ eådân nur eine allgemeine Voraussetzung für das Zustandekommen jeden Satzes. 259e5–6 „says something about the necessity of symplokÎ eådân for all logoi“27. Könnte man Ackrill bis hierhin noch zustimmen – der Text läßt eine solche Interpretation auf den ersten Blick immerhin zu, wenn man unterschlägt, daß Ackrill noch weiter geht und ohne nähere Begründung behauptet, die symplokÎ eådân sei speziell für die ‚meaningfulness‘ jeden Satzes die notwendige Voraussetzung28 –, so wird man doch schwerlich seiner weiteren Erklärung beipflichten können, daß symplokÎ eådân dabei den Zusammenhang der Ideen im ganzen meint, also beides, ihre Verbindung und ihre Trennung, einschließt. Ackrill stützt sich hier ausdrücklich auf 251d-252e, wo Platon beweist, daß von den drei Möglichkeiten des Verhältnisses der Ideen untereinander – 1. jede Idee verbindet sich mit jeder anderen, 2. keine Idee verbindet sich mit irgendeiner anderen, 3. einige Ideen verbinden sich miteinander, einige andere aber nicht – die dritte wirklich vorliegt. Und diese dritte Möglichkeit sei es, so meint Ackrill, worauf sich Platon mit seiner symplokÎ eådân später beziehe. Nun ist aber nicht deutlich, inwiefern in dem genannten Abschnitt von Platon wirklich die symplokÎ eådân im Sinne Ackrills bewiesen wird (‚symplok‹‘ tritt hier selbst explizit gar nicht auf), wo doch die in diesem Abschnitt auftretenden Termini für Verbindung, koinvn›a, s÷mmeiji« usw., auch von Ackrill selbst eben im Sinne gewisser Verbindungen, z.B. Teilhabe oder Verträglichkeit, von Ideen verstanden werden.29 Platons eigene Wiederholung in 254b7-c1, daß einige Begriffe Gemeinschaft miteinander haben, andere nicht, bestätigt ausdrücklich, daß ‚koinvneÖn‘ kein Oberbegriff für Verbindung und Trennung zugleich ist, ‚symplok‹‘ aber und seine Derivate, wie z.B. ‚plwgma‘, ‚symplwkein‘ usw., gehören zur gleichen Familie von Wörtern, die den Begriff Verbindung und seine Nuancierungen darstellen. Insbesondere beweist 240c1, daß die symplok‹ der Ideen Sein und Nichtsein als Verbindung, nicht aber als Trennung gemeint ist. Also ist Ackrills Begründung
26 Vgl. Ackrill 1955, 31ff., bereits kritisiert in: Peck 1962, 47–48. 27 Ackrill 1955, 32; vgl. Ackrill 1957, 1, wo es noch deutlicher heißt: „[there is] absolute (…) necessity for concepts to be in definite relations to one another if there is to be discourse at all.“ 28 Vgl. Ackrill 1955, 32. 29 Vgl. Ackrill 1957; auch Anm. 60.
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seines Vorschlags unzulänglich, symplokÎ eådân beides umfassen zu lassen, sowohl die Verbindung als auch die Trennung von Ideen, von ihm entsprechend ‚compatibility‘ und ‚incompatibility‘ genannt. Man darf mit Sicherheit vermuten, daß Ackrill vor allem deswegen diese Lesart vorschlägt, weil er sich verpflichtet fühlt, Platons Beispielsätzen ‚Theaitetos sitzt‘ und ‚Theaitetos fliegt‘ gerecht zu werden.30 Er tut das, indem er am Beispiel des wahren Satzes ‚Theaitetos sitzt‘ erklärt: „the statement ‚Theaetetus is sitting‘ is a genuine informative statement only because it rules something out (‚Theaetetus is not sitting‘ or, more determinately, ‚Theaetetus is standing‘). To say that it rules something out is to say that there is an incompatibility (mhdem›a koinvn›a) between two concepts (‚sitting‘ and ‚not-sitting‘ or, more determinately, ‚sitting‘ and ‚standing‘).“31 Man sieht an dieser Erklärung, daß Ackrill Platons Definition einer sinnvollen Rede in 262c9-d6 (Verflechtung eines Nenn- und Zeitwortes) als unvollständig ansieht und sie durch 259e5–6 ergänzt.32 ‚Theaitetos sitzt‘ ist nach Ackrill also ein lfigo«, nicht weil die Wörter ‚Theaitetos‘ und ‚Sitzen‘ verknüpft sind, sondern weil die Idee ‚Sitzen‘ mit einer andern Idee, etwa mit ‚Stehen‘, unverträglich ist. Es kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, daß diese Art, 259e5–6 mit Platons Beispielsätzen zu versöhnen, recht unbefriedigend ist. Darüber hinaus verzichtet Ackrill auf eine Einbeziehung von 263a11-b7, wo die Wahrheit und Falschheit von Sätzen definiert wird, in die vorausgegangene Diskussion, ja, er erklärt sogar, daß es sich hier um ein ‚different topic‘ handle, wenn es auch verwandt (‚related‘) sei, „since it does involve the incompatibility of two predicates“33. Natürlich ist auch diese Bemerkung unbefriedigend, da sich eine Interpretation von 259e5–6 gerade im Zusammenhang mit Platons Untersuchungen zur Wahrheit und Falschheit von Sätzen bewähren sollte. Ackrills Grundannahme, es handle sich bei der symplokÎ eådân sowohl um die compatibility als auch um die incompatibility von Ideen, hat Richard S. Bluck bereits mit Entschiedenheit zurückgewiesen. Er beweist, daß symplokÎ eådân nur die Verknüpfung von Ideen bedeuten kann, und stützt seine Überlegungen unter anderem mit der Behauptung, wir seien es, die eine solche Verknüpfung
30 Vgl. Ackrill 1955, 33: „I am (…) under an obligation to show that with my interpretation of [259e5–6] (…) there is no difficulty over the specimen logoi about Theaetetus.“ 31 Ackrill 1955, 34. 32 Turnbull 1964, 34, versteht, im Rahmen einer von ihm selbst zweifellos zurecht als ‚a bit strange‘ bezeichneten Darstellung, die Ideenverflechtung in 259e ebenfalls einschließlich deren Unverträglichkeit: „if there is not form-contrariety, talk of actions (plural) [d.h. wahre und falsche Sätze!] is strict nonsense.“ 33 Ackrill 1955, 34.
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herstellen. Indem wir nämlich, Platons Definition eines sinnvollen Satzes34 in 262c9-d6 folgend, beim Herstellen einer Rede Nenn- und Zeitwort verknüpfen, tun wir dasselbe – nach Bluck – auch mit den zugehörigen Ideen. 259e5–6 bedeutet jetzt, „that in any statement we make we are in fact weaving Forms together, either correctly or incorrectly, and that only so is discourse possible“35. Mit dieser ‚Paralleltheorie‘, die 262c9-d6 mit 259e5–6 versöhnt, sucht Bluck gleichzeitig zwei verschiedene Standpunkte, nämlich die von Hackforth und Hamlyn, miteinander zu versöhnen. Das läßt sich an Hand des Platonischen Beispiels eines wahren Satzes, ‚Theaitetos sitzt‘, verdeutlichen. Mit Hackforth sagt Bluck, daß in ‚Theaitetos sitzt‘ sowohl ‚Theaitetos‘ als auch ‚Sitzen‘ als Wörter sich auf Seiendes beziehen, sie also Einzeldinge bezeichnen, wie er sagt. Offenbar versteht er nicht nur ‚Theaitetos‘ sondern auch ‚Sitzen‘ und die anderen Prädikate als Eigennamen (‚dieses-Sitzen-da‘ usw.). Er sagt: „It [d.h. ònta] refers to what is denoted by the predicate alone (…). This does not mean that it is here represented as in any sense a Form (…). It is simply a ‚thing‘ with which we meet from time to time, as when we see birds flying. It is a thing that exists.“36 Blucks weitere These aber, nach der mit dieser Verknüpfung der Eigennamen auch eine solche von zugehörigen Ideen bewerkstelligt wird, wendet sich gegen Hackforths Gleichsetzung von eúdh mit Redeteilen. Mit Hamlyn sagt Bluck also, daß in ‚Theaitetos sitzt‘ auch die Idee Mensch mit der Idee Sitzen verflochten wurde, wenngleich die Betonung, daß wir diese Verflechtung der Ideen mit Hilfe der Wörter herstellen, gegenüber Hamlyn neu ist. Außerdem ist bei Hamlyn ja ‚Theaitetos‘ eine Kennzeichnung; es ist also eine Spezialisierung der Idee Mensch, die in ‚Theaitetos sitzt‘ mit ‚Sitzen‘ verbunden wird, und nicht die Idee Mensch selbst. „We can allow that descriptive knowledge may be about particulars (…) while at the same time recognizing that any such statement, if true, must presuppose a certain relationship between Forms.“37 Wie dieses Zitat schon andeutet, muß bei der Erklärung des falschen Satzes die Paralleltheorie Schwierigkeiten bereiten. Um diesen zu begegnen, führt Bluck, wie bereits erwähnt, die Unterscheidung von korrekten und inkorrekten Ideenverflechtungen ein. Er kann jedoch nicht sagen, wie diese Unterscheidung nach Platon getroffen werden soll, und wiederholt darum lediglich: „One must attach a correct predicate to the subject, if the statement is to be true; it is the s÷nùesi« that makes the statement
34 Auch in Bluck 1957, 183, als solche aufgefaßt. 35 A.a.O., 182. 36 Bluck 1957, 184; es wird sich in Teil II zeigen, daß der Text es nicht erlaubt, von t@ ònta als Einzeldingen zu sprechen, und schon deshalb Blucks Paralleltheorie nicht zu halten ist. Eine ausführlichere Kritik in: Peck 1962, 49ff.. 37 Bluck 1957, 182.
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true or false.“38 Dies ist keineswegs überraschend, weil er völlig richtig sieht, daß in unserem Beispiel die Verträglichkeit der Ideen Mensch und Sitzen nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für die Wahrheit des Satzes ‚Theaitetos sitzt‘ darstellt. Platons Definitionen von wahr und falsch in 263a11-b7 enthalten jedoch genaue Bedingungen, die unter Berücksichtigung des gesamten Textzusammenhangs, also insbesondere auch von 259e5–6, verstanden werden sollen, was offenbar Bluck ebensowenig wie Ackrill für möglich hält. Bluck diskutiert zwar im Unterschied zu Ackrill ausführlich die eben genannten Definitionen Platons über Wahrheit und Falschheit, aber nur, um damit seine These zu stützen, daß in Sätzen sowohl Subjekt als auch Prädikat Einzeldinge bezeichnen; ein Bezug zu 259e5–6 fehlt. Auch Rainer Marten hat eine Theorie des „Sophistes“ vorgelegt, die in der Deutung des falschen Satzes zu Resultaten führt, die denen Blucks sehr verwandt sind. Marten behauptet zwar nicht, daß Subjekt und Prädikat in Sätzen Einzeldinge bezeichnen, zumindest komme es darauf nicht an39, jedoch stimmt er mit Bluck darin überein, daß jede Wörterverflechtung eine Verflechtung der zugehörigen Ideen darstelle.40 Das hat angesichts des falschen Satzes zur Folge, daß auch er korrekte von inkorrekten Ideenverflechtungen unterscheiden muß, allerdings mit der charakteristischen Pointe, Platon selbst sei es nicht so sehr auf die Klärung ‚empirischer‘ Wahrheit und Falschheit als vielmehr auf die Einsicht in ‚wesenhafte‘ Wahrheit und Falschheit angekommen.41 Damit hat er sich selbst aber ohne Zögern einfach von der Verpflichtung befreit, gerade bei nicht-generellen Sätzen – Martens ‚wesenhafte‘ Wahrheit von Sätzen ist vermutlich nichts anderes als die Wahrheit genereller Sätze –, wie etwa bei ‚Theaitetos sitzt‘, den Zusammenhang zwischen ihrer Wahrheit oder Falschheit und den Ideenverflech-
38 A.a.O., 186. 39 Marten 1965, 223 Anm. 167, und 225 Anm. 176. 40 259e5–6 bleibt in diesem Zusammenhang unerwähnt; diese Stelle wird anderswo (226) so wie bei Ackrill interpretiert. 41 „Das Vermögen der Dialektik zeigt sich zwar in der Diskussion der seienden Arten in voller Entfaltung und in methodologischer Bestimmtheit, ohne doch dabei auf seinen Grund zu kommen. Zwar geht es im Sophistes nicht um die bloße Verknüpfung (Prädikation [sic!]) von seienden Arten, sondern um die wahre als eine solche (Theätet sitzt jetzt in Wahrheit); aber der beispielhafte Sachverhalt (Theätet sitzt) ist ein empirischer, der auch nicht entfernt das Vermögen des Dialektikers deutet, das darin bestehen soll, alle wahren Verbindungen (Aussagen) zu kennen“ (228). Marten geht dabei so weit, zu behaupten, daß ‚Theaitetos fliegt‘ „niemals zum Sinnbild sophistischen Urteilens, d.h. wesenhafter (und nicht bloß faktischer) Unwahrheit“ tauge (186, vgl. 178), obgleich er andererseits, 259e5–6 unberücksichtigt lassend, davor warnt, „in jedem prädikativen Verhältnis die Spiegelung eines Verhältnisses von Ideen zu sehen“ (187 Anm. 96).
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Zur Theorie wahrer und falscher Sätze in Platons Sophistes
tungen wirklich aufzuklären. Der Kunstgriff, in solchen Fällen von ‚zeitbedingten‘ Ideenverflechtungen, im Falle von ‚Theaitetos sitzt‘ etwa zwischen ‚Mensch‘ und ‚Sitzen‘, zu sprechen42, überzeugt nicht, weil damit ein Kriterium dafür, wann diese Verflechtung korrekt und wann sie inkorrekt ist, nicht angegeben wird. Um nun unabhängig davon, ob es sich um generelle oder nicht-generelle Sätze handelt, Platons Definitionen von wahr und falsch in 263a11-b7 ein solches Kriterium gleichwohl entnehmen zu können, macht Marten von der vorausgehenden mwgista-gwnh-Diskussion Gebrauch. Seiner Meinung nach zeichnet sich der wahre Satz ‚Theaitetos sitzt‘ durch eine Identität „zwischen dem Sitzen als Prädikat und der seienden (zutreffenden) Bestimmung des Theätet“ aus43, im falschen Satz ‚Theaitetos fliegt‘ hingegen stelle „Prädikat und sachliches Verhalten (pr»ji«) (…) eine Verschiedenheit dar“44. Abgesehen davon, daß damit ohne weitere Begründung die ‚seienden Bestimmungen‘ (offenbar die Ideen, an denen das Subjekt teilhat) als zusätzliche Entitäten auftreten45, ist dieser Vorschlag schon deshalb wenig befriedigend, weil ‚ta\tfin‘ und ‚ùˇteron‘ jetzt nicht mehr als zweistellige Relationen zwischen Ideen, sondern als Relationen zwischen Wörtern und ‚seienden Bestimmungen‘ erscheinen. Im Detail ist damit für die Interpretation von wahr und falsch im „Sophistes“ kein Fortschritt erzielt worden. Ähnlich Peck (1962) hat Julius M. E. Moravcsik (1960) bereits alle Vorschläge seiner Vorgänger kritisch – wenn auch bisweilen nicht ganz zutreffend46 – zusammengefaßt. Er ergänzt sie durch einen eigenen Vorschlag47, in dem er, übereinstimmend mit Hamlyn und Bluck, unter Hinweis auf 259e5–6, betont, daß auch in Sätzen wie ‚Theaitetos sitzt‘ mindestens zwei Ideen miteinander verknüpft sind, nur sucht er die zweite Idee nicht mehr hinter dem Wort ‚Theaitetos‘, sondern glaubt, die Kopula als Darstellung einer weiteren Idee entdeckt zu haben. Für den Beispielsatz ‚Theaitetos sitzt‘ bedeutet dies: „One Form characterizes the subject while the other Form makes this characterization possible by con-
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Marten 1965, 170 und 228. A.a.O., 170. A.a.O., 171. Auf 168 spricht Marten allerdings von pr»gma und pr»ji« je schon für sich als Seiendem und seiendem Verhalten, ganz gleich, ob es sich um einen wahren oder einen falschen Satz handelt. Dies läßt sich aber mit seiner Bemerkung auf 170 (‚seiend‘ als ‚zutreffend‘) nicht in Einklang bringen. 46 Vgl. z.B. seine Kritik an Bluck, dem er fälschlich eine Berufung auf Hamlyns Kennzeichnungstheorie vorwirft (120–121), oder seine Kritik an Peck, in der dessen ausdrücklicher Hinweis, daß es Platon gerade um die Vervollständigung der mwgista gwnh zu Ideen gehe, völlig unberücksichtigt bleibt (127–128). 47 Ausführlich in Moravcsik 1962.
Ansätze
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necting the attribute with the subject.“48 Er beruft sich dabei auf 255d3–8, wo vom òn gesagt wird, daß es an zwei eúdh, nämlich an tÌ kaù’ aÉtfi und an tÌ prÌ« ¡llo (255c12–13) teilhabe, und behauptet, diese beiden ‚Ideen‘ seien durch „the copula and its negative counterpart“ dargestellt.49 Unter der Bezeichnung ‚relational Being‘ soll tÌ kaù’ aÉtfi in Sätzen die Rolle einer ‚connecting Form‘ spielen.50 Nun ist es aber keinesfalls möglich, aus den bei Platon einstelligen Prädikaten ‚tÌ kaù’ aÉtfi‘ und ‚tÌ prÌ« ¡llo‘ zweistellige zu machen, was sie aber sein müßten, wenn sie wirklich die ihnen von Moravcsik zugeschriebene Rolle als Kopulae übernehmen sollten. Und selbst wenn sich irgendwie zeigen ließe, daß Platon beide Ideen unter Umständen auch als zweistellige Prädikate verstanden wissen möchte, so gibt es doch für deren Verwendung als Kopulae im Text keine Stütze.51 Im übrigen geht aus Moravcsiks Darstellung nicht klar hervor, wie er sich die Sätze in sinnvolle und wahre unterschieden denkt, sagt er doch: „What the symplokÎ eådân makes possible is not truth alone, but meaning in general.“52 Dabei ist für ihn 259e5–6 nur eine notwendige, nämlich ‚ontologische‘ Voraussetzung für das Zustandekommen von lfigo«, die in 262c9-d6 durch ‚semantische oder syntaktische‘ Bedingungen ergänzt werde.53 Es erinnert lediglich an Hackforth, wenn er überdies erklärt: „A false statement (…) misrepresents the relations holding between elements of reality.“54
48 Moravcsik 1960, 127; vgl. die Begründung in Moravcsik 1962, 76–77. 49 A.a.O., 125; Moravcsik 1962, 53ff.. 50 Der Gedanke eines ‚relational Being‘ tritt bereits bei Diès 1932 auf (als ‚l’intermédiaire de liaison‘), allerdings wird diese Idee durch tÌ òn selbst vertreten; ‚tÌ kaù’ aÉtfi‘ kommt nicht vor (111). Vgl. auch Moreau 1951, 45ff.: „Si S est blanc, c’est qu’il participe à lêtre en même temps qu’il participe au blanc“ (47). Von Moravcsik wiederum hat Runciman 1962 diesen Gedanken übernommen (111ff.). 51 Aus dem Platonischen Text geht vielmehr hervor, daß mit ‚tÌ kaù’ aÉtfi‘ und ‚tÌ prÌ« ¡llo‘ von Prädikaten deren Ein- bzw. Zweistelligkeit ausgesagt wird (in Moravcsik 1962, 54 Anm. 2, ohne Begründung ausdrücklich verneint). Insbesondere ist tÌ òn ein- und zweistellig: ‚Bewegung ist‘, d.h. ‚∨xx e Bewegung‘, wird ‚begründet‘ durch ‚Bewegung hat am Sein teil‘, d.h. ‚Bewegung e Sein‘, hingegen wird ‚Mensch lernt‘, d.h. mit der in der Syllogistik üblichen Notation: ‚Mensch i Lernen‘ (einige Menschen lernen), begründet durch ‚Mensch und Lernen haben am Sein teil‘, d.h. ‚Mensch, Lernen e Sein‘. In jedem Fall ist die Kopula ‚e‘ begründend und wird selbst nicht (durch Aussagen) begründet, was natürlich auch nicht möglich ist. Allerdings findet sich bei Platon terminologisch kein Unterschied der Beziehungen von Einzelding und Ideen zu denen der Ideen untereinander. 52 Moravcsik 1960, 118. 53 Moravcsik 1962, 61. 54 A.a.O., 66. An Moravcsik schließt sich weitgehend Runciman 1962 an, der aber auch insbesondere Blucks Deutung nicht für ausgeschlossen hält (111), da er eine zufriedenstellende Deutung dessen, was Platon mit der symplokÎ eådân meint, für nicht möglich ansieht
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Zur Theorie wahrer und falscher Sätze in Platons Sophistes
Zum Schluß unserer kritischen Übersicht über die bisherigen Lösungsversuche sei noch kurz auf Norman Gulley eingegangen, der in einer knappen systematischen Darstellung in seinem Buch „Platos Theory of Knowledge“ auf scheinbare Mängel in Platons Argumentation aufmerksam macht und diese zu beheben sucht. Dabei vertritt er eine Abbildtheorie (Cornford), die seiner Meinung nach von Platon aufgegeben wird, weil er versäumt habe, den Schluß seiner Gegner, daß ein Satz, dem keine Tatsache entspreche, auch nicht existieren könne, zu widerlegen. Statt dessen richte Platon seine Aufmerksamkeit „on the particular ‚realities‘ designated by the different constituent ‚parts‘ of the statement“55 (Hackforth), was natürlich die fehlende Tatsache auch nicht herbeischaffe. Andererseits interpretiert Gulley aber 259e5–6 derart, daß jeder Satz, ob wahr oder falsch, Beispiel einer symplokÎ eådân sei.56 Das gelte auch für die Beispielsätze ‚Theaitetos sitzt‘ und ‚Theaitetos fliegt‘, in denen ‚Theaitetos‘, ‚sitzen‘ und ‚fliegen‘ entsprechend die Ideen Mensch, Sitzen und Fliegen bedeuten (Bluck). Natürlich muß dann die symplokÎ eådân so erklärt werden, daß sie beides, Verträglichkeit und Unverträglichkeit von Ideen, einschließt (Ackrill), wenn man vermeiden will, eine korrekte von einer inkorrekten Verträglichkeit zu unterscheiden. Auch Gulley aber gelingt es nicht, die von Platon in 263b genau formulierten Bedingungen für die Wahrheit und Falschheit von Sätzen durch die symplokÎ eådân allein auszudrücken. Denn natürlich ist – sein Verständnis vorausgesetzt – die Verträglichkeit nur eine notwendige Bedingung für die Wahrheit, die Unverträglichkeit jedoch nur eine hinreichende Bedingung für die Falschheit von Elementarsätzen; die umgekehrten Implikationen gelten nicht.57 Nun ist Gulleys Konstruktion, mit der er Platon gewissermaßen verbessern will, aber unnötig, da – wie jetzt gezeigt werden soll – vom Text her eine Interpretation möglich ist, von der wir hoffen, daß sie als präzise und schlüssig überzeugt.
(107–108). Immerhin geht er ausführlicher als Moravcsik auf das Problem der falschen Rede ein, macht aber hierbei denselben Fehler wie Cornford, indem er versäumt, ‚verschieden‘ als ‚konträr‘ zu lesen (vgl. Anm. 83). Eine Lösung schlägt er nicht vor, weil er diese zu Recht von einer Lösung der Frage nach dem Sinn der symplokÎ eådân abhängig macht (118). 55 Gulley 1962, 157. 56 „He [d.h. Platon] does, however, recognize that any statement is an example of a ‚weaving together‘ of Forms“ (ebd.). 57 „[Plato] is certainly not suggesting that ‚Theaetetus sits‘ is made true by the fact of the compatibility of ‚man‘ and ‚sits‘ or that all false statements are false for the reason for which ‚Theaetetus flies‘ is false“ (Gulley 1962, 158).
Rekonstruktion
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10.2 Rekonstruktion Jede Interpretation unseres Textes wird sich insbesondere mit drei Satzgruppen auseinandersetzen müssen, die deshalb der Erörterung vorangestellt sein mögen und im Folgenden durch (1), (2) und (3) wiedergegeben werden. (1) 259e5–6: di@ g@r tÎn $ll‹lvn tân eådân symplokÎn Ç lfigo« gwgonen ŁmÖn. Denn Rede entsteht uns durch Verflechtung der Ideen miteinander. (2) 262c9-d6: 6Otan eúp> ti« ‚¡nùrvpo« manùˇnei‘, lfigon eÚnai fñ« toÜton ãlˇxistfin te kaÏ prâton; 5Egvge. DhloÖ g@r ódh poy tfite perÏ tân òntvn Ó gignomwnvn Ó gegonfitvn Ó mellfintvn, kaÏ o\k çnomˇzei mfinon $llˇ ti pera›nei, symplwkvn t@ ®‹mata toÖ« çnfimasi. diÌ lwgein te a\tÌn $ll’ o\ mfinon çnomˇzein eúpomen, kaÏ dÎ kaÏ tˆ plwgmati to÷t8 tÌ ònoma ãfùegjˇmeùa lfigon. Wenn jemand sagt ‚Mensch lernt‘, so nennst du das doch die kürzeste und erste Rede. Ich, ja. Denn sie macht dann schon etwas kund über Seiendes oder Werdendes oder Gewordenes oder Künftiges, und sie benennt nicht nur, sondern besagt auch etwas, indem sie die Zeitwörter mit den Nennwörtern verflicht. Deshalb sagen wir, daß sie redet und nicht nur benennt; und wir haben ja auch dieser Verknüpfung das Wort Rede zugesprochen. (3) 263a11-b7: PoiÌn dw gw tinˇ famen $nagkaÖon õkaston eÚnai tân lfigvn. … TÌn mÍn ceydá poy, tÌn dÍ $lhùá. Lwgei dÍ a\tân Ç mÍn $lhùΫ t@ ònta Ñ« östin perÏ soÜ. T› m‹n; ^O dÍ dÎ ceydΫ õtera tân òntvn. Wir sagen aber, jede der Reden sei notwendig auf gewisse Weise beschaffen. … Eine ist falsch, eine andere aber wahr. Die wahre nun redet über dich das Seiende wie es ist. Ja. Die falsche dagegen vom Seienden Verschiedenes.
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Zur Theorie wahrer und falscher Sätze in Platons Sophistes
Diese Stellen allein genügen schon, um zu verstehen, daß der Satz ‚Theaitetos fliegt‘ in der bisherigen „Sophistes“-Interpretation so große Schwierigkeiten bereitet hat. Geht man nämlich von (2) aus, so stellt ‚Theaitetos fliegt‘ zweifellos eine Rede dar, sofern man ‚Theaitetos‘ hier entsprechend Platons Schulbeispiel ‚Mensch lernt‘ als Nennwort ansehen darf. Nach (1) soll aber andererseits jede Rede, also auch ‚Theaitetos fliegt‘, nur durch eine Verflechtung von Ideen entstehen. Nun liegt in ‚Theaitetos fliegt‘ wegen (2) eine Verflechtung der Wörter zu einer Rede vor. Stillschweigend wird jetzt die weitere Annahme gemacht, daß eine solche korrekte Wörterverflechtung nach Belieben, also bedingungslos, vorgenommen werden kann, man braucht ja nur irgendein Nennwort und irgendein Zeitwort miteinander zu verbinden. Dann kann aber die in (1) ausgesprochene notwendige Bedingung für das Zustandekommen einer Rede, nämlich die Ideenverflechtung, nur so erfüllt werden, daß mit jeder korrekten Wörterverflechtung auch eine Verflechtung der durch die Wörter dargestellten Ideen gegeben ist. Dem widerspricht nun die Situation des falschen Satzes, weil z.B. in ‚Theaitetos fliegt‘ die Idee Mensch (oder Theaitetos, wer so zu lesen vorzieht) mit der Idee Fliegen nicht verflochten ist. Nach (3) liegt nämlich eine Verflechtung von Ideen erst dann vor, wenn ‚das Seiende ausgesagt wird wie es ist‘. Dieser Gedankengang macht, wenn auch unseres Wissens bisher niemals vollständig entwickelt, die Ausgangsposition aller oben behandelten Lösungsversuche verständlich. Wenn man unterstellt, daß Platon in diesen Überlegungen zur Wahrheit und Falschheit von Sätzen sinnvoll argumentiert und nicht frühere, vorläufige Erklärungen durch deutlich davon verschiedene, spätere ersetzt – etwa (1) fallenläßt, nachdem er (2) gewonnen hat –, dann muß sich der vorgeführte Widerspruch auflösen lassen. Insbesondere wird man fordern dürfen, daß hierbei alle in diesem Zusammenhang wichtigen Aussagen Platons gleichmäßig berücksichtigt und nicht etwa – wie man an Teil I der Arbeit ablesen kann – einige Aussagen auf Kosten anderer bevorzugt werden. Wenn gleichwohl auch hier die genannten drei Satzgruppen in den Vordergrund gestellt werden, so soll damit lediglich dem bisherigen Stand der Diskussion Rechnung getragen, keineswegs jedoch ein Interpretationsergebnis präjudiziert werden. Zunächst faßt (1) sicher nur die vorausgegangene mwgistagwnh-Erörterung zusammen, ohne von vornherein schon (3) zu intendieren. Trotzdem beginnt mit (1) zugleich auch jene Diskussion um wahre und falsche Sätze, die mit (3) ihren Abschluß findet. Es wird dann ein Ergebnis unserer Erörterung sein, daß (1) seinen vollen Sinn erst im Lichte von (3) erhält, womit nachträglich die zentrale Stellung der drei Satzgruppen wieder gerechtfertigt sein dürfte.
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Zunächst empfiehlt es sich, die genannten Aussagen Platons auf ihre wichtigsten Begriffe hin zu untersuchen. Dazu gehören:58 lfigo« symplok‹ koinvn›a ònta pr»gma eÚdo« ònoma
Rede Verflechtung Gemeinschaft Seiendes Sache, im Gegensatz zu Handlung (pr»ji«) Idee Wort bzw. Nennwort, wenn im Gegensatz zu Zeitwort (®áma)
Die Begriffe koinvn›a und symplok‹ bieten dem Verständnis die wenigsten Schwierigkeiten.59 Ihr Gebrauch ist nicht auf einen bestimmten Gegenstandsbereich eingeschränkt; mit ihren benachbarten Begriffen werden sie vielmehr unterschiedslos auf Ideen, Wörter, Buchstaben und Sachen – die vier im Text vorkommenden Bereiche – angewendet.60 Dabei unterscheidet Platon allerdings bei koinvn›a (bzw. ãpikoinvneÖn, ãpikoinvn›a, proskoinvneÖn) zwei verschiedene Bedeutungen, die durch verschiedene grammatische Konstruktionen dargestellt werden. Ross hat bereits darauf aufmerksam gemacht, daß die Konstruktion mit dem Genitiv (250b9, 251e9, 252a2/b9, 254c5, 256b2, 260e2) ‚Anteilhabe‘ ausdrückt oder, wie wir sagen wollen, die a-Beziehung darstellt (z.B. stehen die Ideen Mensch und Sterblich in der a-Beziehung: alle Menschen sind sterblich), während die Konstruktion mit dem Dativ (251d9/e8, 252d3, 253a8, 254b8/c1, 257a9, 260e5) ‚Verträglichkeit‘ bedeutet oder, wie wir sagen wollen, die i-Beziehung darstellt (z.B. stehen die Ideen Mensch und Laufen in der i-Beziehung: einige Men-
58 Die hier gewählten deutschen Äquivalente der griechischen Termini sind in der ganzen Arbeit beibehalten und darüber hinaus in keinem anderen Sinne verwendet worden. 59 Vgl. aber Ackrill 1955 und Gulley 1962, die, wie bereits in Teil I kritisiert, die Bedeutung von symplok‹ derart zu erweitern suchen, daß sie auch Trennung umfaßt. 60 Z.B. symplokÎ eådân: 240c1, 242d7, 259e6; symplok‹ çnomˇtvn: 262c6, 262d4. Neben zahlreichen Stellen für koinvn›a eådân – z.B. 254c5 – tritt auch die Wendung koinvn›a grammˇtvn (253a8) auf. In 251d9 wird sicher neben einer koinvn›a eådân auch auf eine koinvn›a çnomˇtvn angespielt, wie 252c beweist. Neben symplok‹, koinvn›a und ihren Derivaten benutzt Platon noch weitere Wörter zur Darstellung des Begriffs Verbindung und seiner Nuancierungen, nämlich: (a) me›gnysùai (256b9 usw.), meÖji«, symme›gnysùai (252e2, 259a4 usw.), s÷mmeiji«, meiktfi« (und Antonym ¡meikto«) (254d7/d10 usw.), (b) metwxein (251e9, 259a6 usw.), mwùeji«, (c) metalambˇnein (251d7, 256b6), prosg›gnesùai, ãpig›gnesùai (238a7, 252d7), prosˇptein (238e8, 251d5, 252a9), symfvneÖn (253b11), dwxesùai (253c1), pros-, $n-, syn-, 4rmfittein (238c6, 253a6 usw.), syg-, kerann÷nai, (253b2, 262c5), prostiùwnai, syntiùwnai (238c1, 262e12), pros-, fwrein (237c8, 238b3) usw..
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schen laufen).61 Auch wenn man diese Unterscheidung berücksichtigt, lassen sich symplok‹, koinvn›a und ihre benachbarten Begriffe jedoch nicht für den Widerspruch verantwortlich machen, der sich aus unseren Sätzen ergeben hat. Wie die oben durchgeführte Argumentation zeigt, hat der Umstand, daß Ideen oder Wörter jeweils miteinander verflochten werden, nichts mit dem Widerspruch zu tun. Es liegt statt dessen weit näher, zu untersuchen, ob nicht das, was da miteinander verflochten wird, den Widerspruch herbeiführt. Infrage kommen dabei nur Ideen (eúdh) und Wörter (çnfimata), weil Buchstaben (grˇmmata) und Sachen (prˇgmata) in (1) und (2) nicht erwähnt werden. Der Gewaltstreich, Ideen und Wörter in diesem Kontext miteinander zu identifizieren (Hackforth), widerspricht 261d1–2, wo Ideen von Buchstaben und Wörtern deutlich abgehoben werden, es sei denn, man bringt an dieser Stelle so weitgehende Änderungen an, daß ihr Sinn völlig entstellt wird. Das aber widerspräche dem gewählten Grundsatz, keinen wichtigen Satz Platons im Umkreis der hier relevanten „Sophistes“-Stellen zugunsten anderer künstlich umzudeuten. Verzichtet man daher auf diese Gleichsetzung und läßt statt dessen jeder korrekten Wörterverflechtung die zugehörige Ideenverflechtung entsprechen, so muß man jetzt, um den Widerspruch zu vermeiden, den Unterschied zwischen korrekter und inkorrekter Ideenverflechtung einführen, wobei beide durch ihre
61 Ross 1951, 111 Anm. 6; vgl. Ackrill 1957, 5, der Ross gegenüber betont, daß Platon von diesem Unterschied bewußten Gebrauch macht, was allerdings von Ross keineswegs bestritten wurde. Im übrigen wendet sich Ackrill mit seiner Untersuchung über den Begriff Verbindung im „Sophistes“ hier zu Recht gegen Cornford, der koinvn›a usw. lediglich als symmetrische Beziehung zwischen Ideen lesen will, während allein schon bei koinvn›a eine unsymmetrische von einer symmetrischen Bedeutung, wie gesagt, deutlich unterschieden werden kann. Dieser Unterschied findet sich ebenfalls im Gebrauch einiger der in Anm. 60 aufgeführten Wörter wieder: für die i-Beziehung stehen ãpig›gnesùai und me›gnysùai samt seinen Derivaten (incl. meiktfin!), für die a-Beziehung metalambˇnein und metwxein; vgl. Ackrill 1957, 4–5 (bei metwxein nimmt Ackrill 255d4 als fragwürdig im Sinne der Kopula – von uns als a-Beziehung gelesen – aus; Runciman 1962, 97, und Moravcsik 1962, 51 Anm. 2, fügen noch 255b1 als Ausnahme hinzu). – Dürr 1945, 171ff. unterscheidet aus unerklärlichen Gründen (auch in Ackrill 1957, 5, kritisiert) die Bedeutung von meiktfin und symme›gnysùai derart, daß x und y vereinbar (meiktfin) heißen sollen – S(x,y) –, wenn y und x in der a-Beziehung stehen, hingegen x und y sich vereinigen lassen (symme›gnysùai), wenn x und y vereinbar oder/und – T(x,y) / U(x,y) – y und x vereinbar sind. Das führt zu der merkwürdigen Konsequenz, daß z.B. zwei Ideen, die in der i-Beziehung zueinander stehen, sich nicht vereinigen zu lassen brauchen, etwa ta\tfin und ùˇteron, weil weder ta\tfin teilhat am ùˇteron noch umgekehrt ùˇteron am ta\tfin, obwohl z.B. stˇsi« an beiden teilhat. Wie man hieraus sieht, erlaubt aber Dürr keineswegs den Schluß, daß die in 253–258 bewiesene koinvn›a der Ideen untereinander eine unsymmetrische Relation sei, was Moravcsik 1960, 122, behauptet.
Rekonstruktion
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sie darstellenden korrekten Wörterverflechtungen nicht mehr unterscheidbar sind (Bluck, Marten).62 Bei falschen Sätzen nämlich, z.B. ‚Theaitetos fliegt‘, muß die Verflechtung der Ideen Mensch (oder Theaitetos) und Fliegen als inkorrekt bezeichnet werden, obwohl die Verflechtung der Wörter ‚Theaitetos‘ und ‚fliegen‘ den Platonischen Regeln in (2) gehorcht. Diese Unterscheidung aber ist unzulänglich, weil in (3) nicht allein die Einteilung in wahre und falsche Sätze vorgenommen wird, sondern außerdem auch noch Kriterien angegeben werden, deren Anwendung auf Sätze zu dieser Einteilung führt. Auf Ideenverflechtungen aber lassen sich diese Kriterien, was man nun tun müßte, nicht anwenden, es sei denn, man setzte Ideenverflechtungen wieder mit Wörterverflechtungen gleich, was bereits als unzulänglich erkannt wurde. Ein dritter Lösungsversuch könnte nun auf die strenge Parallelisierung verzichten zugunsten anderer Zuordnungen von Ideen- und Wörterverflechtungen. In (1) wird ja keineswegs gesagt, daß es die durch die Wörter einer korrekten Wörterverflechtung dargestellten Ideen sein müssen, deren Verflechtung die Bedingung für das Zustandekommen einer Rede ist. Es steht daher frei, eine allgemeine Entsprechung zwischen Ideen- und Wörterverflechtungen anzunehmen derart, daß letzteren geeignet ausgewählte Ideenverflechtungen zugeordnet werden, die nach (1) für das Entstehen der Rede notwendig sind (Cornford, Ackrill).63 Ganz richtig sehen Cornford und die meisten andern Autoren diese Ideenverflechtungen irgendwie als Voraussetzung für Wahrheit und Falschheit der Rede an, ohne allerdings diese Auffassung zu präzisieren und hinreichend vom Text her zu begründen. Dieser Lösungsversuch muß aber jetzt mit einer weiteren Schwierigkeit fertigwerden, die bei den früheren Vorschlägen gar nicht erst auftrat, weil diese sich schon aus anderen Gründen als unzulänglich erwiesen haben: Die in (3) genau formulierten Bedingungen für die Wahrheit und Falschheit von Sätzen, also z.B. von ‚Theaitetos sitzt‘, sollen unter Berücksichtigung von (1) erfüllt werden. Sie lassen sich nicht durch eine Ideenverflechtung allein ausdrücken; es sei denn, man versucht, in unserem Beispiel das jedenfalls auch als Eigenname verwendete Wort ‚Theaitetos‘ als Darstellung einer Idee zu interpretieren (Hamlyn), oder
62 Die Lösung von Cornford 1957, (1) so umzudeuten, daß gar nicht notwendig mehrere Ideen zusammentreten müssen, um einen Satz zu ermöglichen, vielmehr nur „every such statement must contain at least one Form“ (300), ist von vornherein unannehmbar, wie schon in Teil I gezeigt wurde. Andererseits angesichts der Platonischen Beispielsätze (1) als ‚over-statement‘ zu bezeichnen, wie es Ross 1951, 115–116, tut, hieße praktisch, (1) zugunsten von (2) fallenzulassen (vgl. die Kritik in Akrill 1955, 31–32, und Peck 1962, 47). 63 Sehr pointiert Oehler 1962, der schreibt, daß in (1) „die gegenseitige Beziehung der Ideen untereinander als Bedingung der Möglichkeit jedweder Prädikation genannt wird“ (85).
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aber man verzichtet gänzlich auf einen solchen Zusammenhang von (1) und (3) (Ackrill, Gulley). Man darf abschließend wohl sagen, daß damit die bisherigen Lösungsversuche zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt haben.64 Wir erlauben uns daher, einen neuen Vorschlag zu machen, von dem wir zu zeigen hoffen, daß er die aufgewiesenen Schwierigkeiten vermeidet und außerdem den Platonischen Gedankengang textgetreu und gleichzeitig systematisch gerechtfertigt wiedergibt. In der Literatur wurde bisher übersehen, daß ‚Ç lfigo« gwgonen‘ in (1) nicht notwendig die Herstellung einer Rede aus Nenn- und Zeitwort nach (2) meint (symplwkein t@ ®‹mata toÖ« çnfimasi). Diese instrumentale Version würde die Konstruktion von diˇ mit dem Genitiv erwarten lassen, hier aber steht diˇ mit dem Akkusativ, was ein wesentlich schwächeres Bedingungsverhältnis vermuten läßt. Auch spricht die Verschiedenheit des Agens in beiden Sätzen gegen eine Interpretation, die (1) mit (2) zu identifizieren sucht. Wie also soll ‚Ç lfigo« gwgonen‘ dann verstanden werden? Zweifellos ist doch die Verflechtung von Ideen hier irgendwie als Bedingung der Möglichkeit von lfigo« gemeint. Auf Grund dieser Verflechtung soll sinnvolle Rede ermöglicht werden. Sinnvolle Rede wiederum liegt vor, wenn sie auf ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ hin geprüft werden kann. Weil es, so darf man sagen, symplokÎ eådân gibt, gibt es für den lfigo« das Risiko, wahr oder falsch zu sein. Wir schlagen daher vor, ‚Ç lfigo« gwgonen‘ mit ‚die Rede wird wahr oder falsch gemacht‘ wiederzugeben, und wollen im Folgenden zeigen, daß sich dieser Vorschlag mit dem übrigen Text ohne Schwierigkeiten in Einklang bringen läßt. Um den folgenden systematischen Gedankengang nicht durch notwendige terminologische Klärungen zu belasten, soll dabei zuvor noch darauf eingegangen werden, was der lfigo« nach (2) leistet. Er macht kund über Seiendes (dhloÖ […] perÏ tân òntvn), wobei gefragt werden muß, was hier mit ‚t@ ònta‘ gemeint ist. Als Schlüssel bietet sich (3) an, wo die Definition des wahren Satzes lautet: Die wahre Rede redet über dich das Seiende wie es ist (lwgei […] t@ ònta […] perÏ soÜ). Man achte darauf, daß lfigo« hier genau wie in (2) von der korrekten Wörterver-
64 Allan 1954 erklärt einfach, daß es Platon auch gar nicht darauf ankomme, „to say what it is that makes some statements true and others false; whether e.g. it is some correspondence between the parts of the statement and the substances and processes of the real world“; er habe lediglich zeigen wollen, daß es überhaupt wahre und falsche Sätze gebe (285). Peck 1962 bestreitet von vornherein jeden Zusammenhang zwischen (1) und den beiden anderen Sätzen, insofern von ihm nicht anerkannt zu sein scheint, daß eúdh und ònta im wesentlichen synonym verwendet werden. Turnbull 1964 behauptet sogar, daß Sachen und Handlungen keine Ideen seien (30) und sich Wörterverflechtung mit Ideenverflechtung daher nicht in Zusammenhang bringen ließe. Die Lösung von Moravcsik, 1960 und 1962, liegt bereits zu weit abseits, um in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden zu können.
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flechtung ausgesagt wird. Das ‚perÏ soÜ‘ beweist, daß mit ‚t@ ònta‘ keinesfalls eine Sache im Sinne eines Einzeldings gemeint sein kann, weil in 262el2 eine Sache (pr»gma) mit einer Handlung (pr»ji«) durch Nenn- und Zeitwort verbunden werden soll, wobei Theaitetos, also das, worauf sich ‚perÏ soÜ‘ bezieht, als Beispiel für pr»gma gewählt wird. Der gleiche Beispielsatz ‚Theaitetos sitzt‘ zeigt vielmehr, daß sich ‚t@ ònta‘ hier auf eine Handlung bezieht und damit auf eine Idee, ein Schluß, der z.B. auch durch 257e2/e10, 258c3 oder 260b7–8 gestützt wird.65 Aber natürlich bezieht sich, wie aus eben diesen Stellen deutlich wird, ‚t@ ònta‘ nicht nur auf Handlungen. Vielmehr schließt t@ ònta auch die Sachen (t@ prˇgmata) ein, insofern t@ ònta im wesentlichen mit t@ eúdh gleichwertig ist. Der charakteristische Unterschied zwischen ònta und eúdh im Platonischen Sprachgebrauch geht dabei besonders deutlich aus 255b11-c1 hervor, wo die eúdh Bewegung und Ruhe ònta genannt werden, weil sie mit tÌ òn Gemeinschaft haben. eúdh heißen also ònta, wenn ihre Gemeinschaft mit tÌ òn hervorgehoben werden soll, d.h., wenn es klar ist, daß einigen Einzeldingen diese Ideen zukommen. So verstanden sind auch die Handlungen und Sachen, in welche der Bereich der ònta zerfällt (vgl. besonders Krat. 386/7), nicht-leere Ideen. Sie lassen sich stets an Einzeldingen, denen sie zukommen, exemplifizieren und sind keine bloßen Ideen.66 Infolgedessen ist es nun auch kein Wunder, daß im Text pr»gma terminologisch nicht eindeutig als Idee bestimmt ist. Nach 262e12–13 wird durch die Verbindung von Nenn- und Zeitwort die Verbindung der korrespondierenden Sache und
65 258c3 besagt ausdrücklich, daß die Idee mÎ òn eine unter vielen ònta ist, während in 257e2 und 257e10 das gwno« kalfin als eines der ònta bezeichnet wird; es ist aber bekannt, daß Platon zwischen gwno« und eúdo« nicht unterscheidet. Zieht man den ganzen Kontext heran (256e5–6, 258a6–8), so wird deutlich, daß t@ ònta in 260b7–8 ebenfalls als t@ eúdh zu lesen ist: das gwno« mÎ òn ist mit allen anderen Ideen (t@ ònta) ‚verträglich‘. 66 Auch 234c-d, wo von der Ferne von den prˇgmata tá« $lhùe›a« und von der Nähe zu den ònta die Rede ist, läßt sich jetzt ohne Schwierigkeiten verstehen. Die prˇgmata tá« $lhùe›a« sind nichts anderes als Einzeldinge, von denen man weiß, unter welchen Begriff sie fallen, und insofern ònta oder besser: Beispiele dieser ònta. Nicht-leere Ideen (ònta) sind das Mittel, über Einzeldinge zu reden, sofern sie unter sie fallen. (Wir lesen hier tá« $lhùe›a« als gen. poss. zu tân pragmˇtvn, obwohl auch die Umkehrung der grammatischen Beziehung [$l‹ùeia tân pragmˇtvn] möglich ist; der sachliche Sinn ist von dieser Ambivalenz nicht betroffen.) – Auch der Satz 247e3–4, wo die ònta als d÷nami« erklärt werden, ist nun verständlich: Seiendes, z.B. Fliegen, ist in Bezug auf einen Vogel (der gerade fliegt), d.h., das eúdo« Fliegen ‚hat das Vermögen‘, gewissen Einzeldingen zuzukommen, und gehört insofern zu den ònta. Wir würden heute sagen: Es gibt Einzeldinge, denen ‚Fliegen‘ zukommt. (In 247e3 dürfte ƒron Çr›zein Randglosse und deshalb zu streichen sein; wir schließen uns hier einem freundlichen Hinweis von Günther Patzig an.) Diese Verwendung von d÷nami« zur Charakterisierung des Zusammenhangs von eúdh und ònta findet sich ebenfalls in Krat. 394b.
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Handlung bewerkstelligt (synùeÏ« pr»gma prˇjei di’ çnfimato« kaÏ ®‹mato«).67 Dies wird in 262d8-e1 wie folgt ausgedrückt: „So wie sich die prˇgmata teils miteinander verbinden teils nicht, so verbinden sich auch die shmeÖa tá« fvná« zum Teil nicht, die sich aber verbinden, bilden eine Rede.“ 262d8-e1 ist die Umkehrung von 262e12–13; deutlich wird damit zunächst, daß pr»gma auch als Oberbegriff von pr»gma und pr»ji« benutzt wird, ganz ähnlich wie ònoma Oberbegriff zu ònoma und ®áma sein kann (vgl. 261d und 261a). (In 262d8-el ist allerdings shmeÖa tá« fvná« Oberbegriff für ònoma und ®áma.) Daraus folgt aber wieder, daß prˇgmata auch ònta sind, was durch den Beispielsatz ‚Mensch lernt‘ in (2) ebenfalls belegt wird. Hier ist das pr»gma Mensch sicher eine Idee, während weiter unten (263a2) als Beispiel für pr»gma ein Einzelding, nämlich Theaitetos auftritt (vgl. 233e5, unter Bezug auf 233d10).68 Die Verwendung von ònta, und mit ihr von prˇgmata und prˇjei«, bleibt ambivalent; es wird terminologisch in diesem Zusammenhang kein Unterschied zwischen Idee und Einzelding gemacht. Entsprechend fehlt auch eine Unterscheidung der Wörter in Prädikate und Eigennamen. Sowohl ‚¡nùrvpo«‘ als auch ‚Uea›thto«‘ treten als Beispiele für Nennwörter auf, ohne daß Platon die Sätze ‚Mensch lernt‘ und ‚Theaitetos sitzt‘ verschieden behandelt. Nun könnte man vermuten, daß dieser mangelnden Unterscheidung eine bloße Nachlässigkeit zugrundeliege, es Platon hier eben auf diesen Unterschied nicht ankomme, doch zeigt ein Blick auf den „Kratylos“ sofort, daß reine Eigennamen im modernen Sinne, wie Hamlyn bereits gesehen hat, von Platon nicht verwendet werden. In diesem Dialog treten nämlich ‚Eigennamen‘, etwa ‚Astyanax‘ und ‚Hermogenes‘, erklärtermaßen auch als Prädikate auf, die ein Einzelding, hier die beiden Menschen, als ‚Städtebewahrer‘ und ‚Redegewandten‘ kennzeichnen. Trotzdem handelt es sich hier natürlich nicht um Kennzeichnungen im logischen Sinne, weil die fraglichen Einzeldinge nicht eindeutig durch die Prädikate bestimmt werden (vgl. Theait. 209c). Die Nennwörter vereinigen in sich also beide Funktionen, die von Eigennamen und die von Prädikaten.69
67 Der naheliegende Verdacht, Platon behaupte hier, daß schon durch die Verflechtung der Wörter eine solche der zugehörigen Ideen herbeigeführt werde, wird sich später als unbegründet erweisen (vgl. 225–226). 68 ‚pr»gma‘ auch hier ambivalent; es tritt unmittelbar nach seiner Verwendung im Sinne von Einzelding in 233d10 synonym mit ‚t@ ònta‘ in 234b7 auf (desgleichen z.B. auch in Krat. 411b7–8). Für die einschränkende Interpretation von pr»gma als cyx‹ (Turnbull 1964, 25) fehlt jeglicher Beleg (zur Kritik an Turnbull vgl. Schipper 1965). 69 Zur mangelnden Unterscheidung von Eigennamen und Prädikaten vgl. auch Robinson 1955, 222, und Kamlah 1963, 10; desgleichen in dieser Arbeit Anm. 73 und 217–218. Die sprachphilosophisch relevanten Partien des „Kratylos“ werden behandelt in Lorenz/Mittelstraß 1967 (in diesem Band 230–246).
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Eine terminologische Unterscheidung von Eigennamen und Prädikaten ist bei Platon demnach nicht nachweisbar. Dagegen kann man die oben behandelte Unterscheidung zwischen eúdh und ònta als ein Hilfsmittel ansehen, den Unterschied zwischen Idee und Einzelding auf andere Weise auszudrücken. Wir wenden uns nun wieder dem Ausdruck ‚Ç lfigo« gwgonen‘ zu, dessen vorgeschlagene Wiedergabe es zunächst zu begründen gilt. Dazu soll von Platons Definition der wahren und falschen Rede (lfigo«) ausgegangen werden. Jede Rede, im Minimalfall – und nur der wird definiert – eine Verknüpfung von einem Nenn- mit einem Zeitwort, hat nach (3) die Eigenschaft (poifith«), wahr oder falsch zu sein. Sie ist wahr, wenn das Seiende ausgesagt wird wie es ist ([lwgein] t@ ònta Ñ« östin, 263b4), und falsch, wenn das Seiende ausgesagt wird wie es nicht ist ([lwgein] õtera tân òntvn [Ñ« östin], 263b7).70 Das Seiende aussagen wie es ist, heißt, die Handlung (durch Zeitwort dargestellt) der Sache (durch Nennwort dargestellt) zuzusprechen hinblickend auf deren gegenseitige Verflechtung – als Ideen nämlich. Wir haben hier Gebrauch gemacht von der Redeweise in 250b7–10, wo man den Ideen Ruhe und Bewegung die Idee Sein zuspricht (proseipeÖn), indem man hinblickt ($pideÖn) auf ihre Anteilhabe am Sein (prÌ« tÎn tá« o\s›a« koinvn›an; der Genitiv beweist, daß koinvn›a hier als Anteilhabe, also als die a-Beziehung im Sinne der Syllogistik, zu verstehen ist).71 Platons Beispiel für eine wahre Rede ist ‚Theaitetos sitzt‘, wo der Idee Mensch die Idee Sitzen zugesprochen wird im Hinblick auf die Verflechtung der Ideen Mensch und Sitzen. Dieser letzte Teil des Satzes klingt zunächst gewiß merkwürdig; worauf sonst als auf den sitzenden Theaitetos soll man denn schauen, um die Verflechtung der Ideen Mensch und Sitzen zu erblicken. In der Tat ist genau dies gemeint: man soll, auf den sitzenden Theaitetos schauend, ‚sehen‘, daß der Mensch Theaitetos unter die Idee Sitzen fällt.72
70 Deutlicher noch in Krat. 385b8, wo es für den falschen Satz heißt: [t@ ònta lwgein] Ñ« o\k östin. – Als Übersetzung von ‚Ñ«‘ wird hier ‚wie‘ gewählt, um den transitiven Charakter von ‚lwgein‘ (vgl. Kamlah 1963, 22) im Deutschen nachzubilden. Die Möglichkeit, ‚Ñ«‘ hier auch mit ‚daß‘ zu übersetzen, stellt sachlich keine Alternative dar. Es wird nämlich ‚das Seiende aussagen wie es ist‘ im Folgenden interpretiert durch ‚ein Prädikat kommt zu‘, während ‚vom Seienden aussagen, daß es ist‘ ebenfalls nicht anders als ‚ein Prädikat kommt zu‘ zu lesen wäre; vgl. auch die Konstruktion mit ‚Ñ«‘ in Krat. 426a3. 71 Vgl. 253d1-e2, wo es als zur Aufgabe des Philosophen gehörig betrachtet wird, die gegenseitige Verflechtung der Ideen genau zu erfassen (Åkanâ« diaisùˇnesùai) und der Art nach zu unterscheiden (diakr›nein kat@ gwno«). 72 Marten 1965, 170, hat bereits deutlich zum Ausdruck gebracht, daß hier ‚Sitzen‘ natürlich nicht als ein Teil des mÎ òn, nämlich als verschieden vom Menschen Theaitetos gemeint ist, wie Robin 1957, 130, behauptet, wenn er sagt: „Dans le cas où je dis Théétète est assis, l’autre
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Dabei haben wir von der Ambivalenz des Terminus Sache (pr»gma) Gebrauch gemacht, insofern pr»gma sowohl für ein Einzelding (Theaitetos) als auch für eine Idee (Mensch) stehen kann. Dieser ambivalente Gebrauch bereitet, wie wir gesehen haben, dem Verständnis durchaus nicht die Schwierigkeiten, die man oft hinter ihm vermutet hat. Platon spricht von pr»gma als einer Idee immer in der Weise, daß er ein Einzelding anführt, das unter diese Idee fällt.73 Das Einzelding tritt nur als Beispiel einer Gattung auf, oder umgekehrt: Zu einem Einzelding muß eine charakteristische Gattung, unter die es fällt, angegeben werden. Das Wort ‚Theaitetos‘ bezeichnet den Menschen Theaitetos, es hat Sinn nur, sofern man a priori weiß, daß Theaitetos ein Mensch ist.74 Daher ist es in der Tat vernünftig, die prˇgmata, wie auch die ònta, grundsätzlich als Ideen, nämlich als nicht-leere Ideen, aufzufassen; das Einzelding tritt nur als Beispiel für eine Idee auf.75 Diese Auffassung läßt sich stützen auch durch 260c1–3, wo es heißt, daß durch Verbindung der Ideen Rede (lfigo«) und Nichtsein (mÎ òn) falsche Rede (ceydΫ lfigo«) entstehe. Diese Formulierung ist nur sinnvoll, wenn mit ceydΫ lfigo« jeder individuelle falsche Satz gemeint ist, sie also besagt: Es wird gesehen, daß ein individueller Satz unter die Idee Nichtsein fällt. Ähnlich wird in 262d6
[d.h. ‚Sitzen‘] qui est mis en relation avec l’être [d.h. Theaitetos] est bien celui qui lui convient.“ Robin stützt sich hier auf seine Interpretation von (1), nach der lfigo« entsteht durch „aucune liaison qui (…) entrelace le non-être à l’être“, unter Berufung auf 240c (128). In 240c wird aber keineswegs 259e5–6 vorweggenommen, nicht vom Satz im allgemeinen ist hier die Rede, sondern lediglich vom Sein des Nichtseins, was später unter dem Titel ‚Sein des Falschen [d.h. Satzes]‘ diskutiert wird. 73 Auch im Beispiel ‚Mensch lernt‘ muß man an einen bestimmten Menschen denken, nicht einfach an die Idee Mensch; vgl. Runciman 1962, 111. 74 Im Fall ‚Sokrates ist weise‘ könnte als charakteristische Gattung für Sokrates natürlich auch ‚Philosoph‘ gewählt werden. 75 Vgl. Hamlyn 1955, 294: „no sensible thing could be spoken of except as an instance of a form.“ Allerdings stützt sich Hamlyn hierbei darauf, daß Einzeldinge durch endliche Begriffsteilungen nicht erreichbar sind. Auch Bluck 1957, 182, hat gesehen, daß in ‚Theaitetos sitzt‘ die Ideen Mensch und Sitzen miteinander verknüpft sind. Er begründet diese Erklärung jedoch unter Hinweis auf Hamlyn 1955, 292ff., der sich auf Phileb. 14dff. beruft, seine Deutung dieser Stelle aber mit der zusätzlichen Behauptung belastet, daß jeder Eigenname eine Kennzeichnung (also eine Idee!) darstelle, was Bluck wiederum mit Recht (unter Berufung auf Theait. 185aff.) ablehnt. Die Stelle Theait. 209c (von Moravcsik 1960, 121, als mögliche Stütze für Hamlyns Kennzeichnungstheorie angeführt) erlaubt dem Wortlaut des Textes nach ebenfalls nicht, das Wort ‚Theaitetos‘ mit einer Kennzeichnung zu identifizieren. Moravcsiks Widerlegung der Hamlynschen These („the individual is not conceived […] as composed of characteristics […] but rather as a sum of unique qualities which pertain only to the subject itself“) ist allerdings unbrauchbar, weil schon jede der ‚unique qualities‘ ihrerseits als ‚gekennzeichnet‘ im Sinne Hamlyns zu gelten hat.
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jeder individuellen korrekten Wörterverflechtung das Prädikat Rede zugesprochen76 – im Hinblick, wie wir jetzt ergänzen können, auf die gegenseitige Verflechtung der beiden Ideen Wörterverflechtung und Rede. Als charakteristische Gattung für die Verflechtung von Nenn- und Zeitwort tritt natürlich die Wörterverflechtung selbst auf; ihr kommt Rede zu, sie ‚redet‘, wenn sie über Seiendes kundmacht (dhloÜn perÏ tân òntvn), d.h., sie ‚vollbringt‘, besagt etwas (pera›nein ti) und benennt nicht nur (çnomˇzein). In moderner Formulierung würde man sagen: Einer Wörterverflechtung kommt ‚Rede‘ zu, wenn sie einen Sachverhalt darstellt; das Platonische ‚kundmachen‘ hat man dann mit ‚Sachverhalt darstellen‘ übersetzt, was insofern vernünftig ist, als Kundmachung bei Platon Rede charakterisiert.77 Wieder modern formuliert ist ‚Theaitetos sitzt‘ daher wahr, weil dem Theaitetos das Prädikat ‚Mensch‘ und das Prädikat ‚Sitzen‘ zukommt. Gibt man einen Eigennamen von Theaitetos mit t, ‚Mensch‘ mit M, ‚Sitzen‘ mit S und ‚und‘ mit ∧ wieder, stellt man weiter das Zusprechen eines Prädikates P dem durch einen Eigennamen s bezeichneten Einzelding durch s e P dar und liest das Zukommen als dessen Geltung, i.e. berechtigtes Zusprechen, so können wir schließlich sagen: ‚Theaitetos sitzt‘ ist wahr, bedeutet, daß t e M ∧ t e S gilt. Damit wird deutlich, daß der aus Nennwort Q und Zeitwort P gebildete Platonische Minimalsatz QP stets den Bezug zu einem Einzelding enthält, dem Q zukommt. Ist q ein Eigenname des fraglichen Einzeldings, so soll daher QP, genauer: Qq P, geschrieben werden. Insbesondere darf ‚Theaitetos sitzt‘ aus diesem Grunde nicht durch t e S wiedergegeben, sondern muß als Mt S, und das heißt eben als t e M ∧ t e S, gelesen werden. Das Wort ‚Theaitetos‘ vertritt in Platons Beispielsatz sowohl einen Eigennamen als auch die Prädikation ‚e Mensch‘, die man sich als bereits erfolgt denken muß, ehe die zweite Prädikation ‚e Sitzen‘ statthat.78 Aus der Geltung von
76 Hier erfolgt das Zusprechen bei Platon ausdrücklich mit Wörtern, was an anderen Stellen, z.B. 250b8–10, verkürzt als Zusprechen von Ideen ausgedrückt wird; vgl. dazu 262e12–13. In Theait. 202b4–5 wird übrigens explizit eine korrekte Wörterverflechtung als Rede, genauer: als das ‚Wesen‘ von Rede, bezeichnet, womit zum Ausdruck gebracht ist, daß sie unter den Begriff Rede fällt: çnomˇtvn g@r symplokÎn eÚnai lfigoy o\s›an. 77 Vgl. 261d8-e2; allerdings beweisen Stellen wie 262a3 und Krat. 422e3, daß Kundmachung (d‹lvma) nicht auf (minimale) Sätze beschränkt ist, sondern auch Handlungen und Sachen, also die ònta je für sich und nicht in ihrer Verflechtung, betrifft. Dies wiederum darf man nicht so verstehen, als ob einzelne Wörter schon etwas kundmachten; Kundmachung erfolgt hier vielmehr durch wahre Elementarsätze (deshalb auch die Rede von wahren Namen [çnfimata] im „Kratylos“!), in denen zum Ausdruck kommt, daß es sich nicht um leere Ideen, sondern eben um an Einzeldingen exemplifizierte prˇgmata (incl. prˇjei«) handelt (vgl. oben 212–214). 78 Auf diese Weise kommt auch zum Ausdruck, daß die Unterscheidung zwischen ‚ònoma‘ und ‚®áma‘ keine einfache Klassifikation der Wörter darstellt, sondern vielmehr deren Gebrauch
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t e M ∧ t e S folgt rein logisch, daß ∨x .x e M ∧ x e S. gilt, in Worten: manchen Einzeldingen kommen die Prädikate M und S zu.79 Es ist in der Syllogistik üblich, diese Beziehung zwischen M und S als ‚einige M sind S‘ zu lesen und durch MiS auszudrücken. Wir hatten weiter oben bereits die koinvn›a von zwei Ideen, konstruiert mit dem Dativ, als i-Beziehung erkannt und mit ‚Verträglichkeit‘ übersetzt. Diese Verträglichkeit der Ideen Mensch und Sitzen ist aber nur eine notwendige Bedingung für die Wahrheit von ‚Theaitetos sitzt‘ und kann daher allein nicht schon ‚Grund‘ dieser Wahrheit sein. Erst wenn man das Bestehen der i-Beziehung zwischen ‚Mensch‘ und ‚Sitzen‘ ergänzt durch die Angabe des fraglichen Einzeldings, hier des Theaitetos, dem die Ideen Mensch und Sitzen zukommen, also durch sein prfi« ti, seinen ‚Bezug‘, wie wir aristotelisch sagen können, und Verträglichkeit jetzt in diesem so modifizierten Sinn liest, kann man mit Recht sagen, daß die Verträglichkeit der Ideen Mensch und Sitzen ‚Grund‘ der Wahrheit von ‚Theaitetos sitzt‘ ist.80 Es ist daher sinnvoll, zu sagen, einer Sache (pr»gma) komme eine Handlung (pr»ji«) zu, wenn diese jener mit Hilfe der Wörter berechtigt zugesprochen wird, d.h. hinblickend auf die Verträglichkeit der beiden Ideen in Bezug auf ein Einzelding. Als Übersetzung von ‚symplokÎ eådân‘ wird man diese symmetrische Relation der Verträglichkeit von Ideen (koinvn›a toÖ« eúdesin im Sinne der modifizierten i-Beziehung) wählen. Diese Übersetzung bewährt sich auch, wenn man Platons Definition der falschen Rede zu verstehen sucht. Dies ist unsere nächste Aufgabe. Das Seiende aussagen wie es nicht ist, bedeutet in Platonischer Formulierung wörtlich: Das Seiende aussagen, wie es ‚verschieden‘ ist, nämlich verschieden vom Seienden, wie es ist; in Kurzform also: Vom Seienden, wie es ist, Verschiedenes aussagen ([lwgein] õtera tân òntvn [Ñ« östin], 263b7). Diese Formulierung ist synonym mit der unmittelbar darauf folgenden: Das Nichtseiende aussagen als Seiendes (t@ mÎ ònta […] Ñ« ònta [lwgein], 263b9), was von Platon selbst im Hinblick auf seinen Beispielsatz ‚Theaitetos fliegt‘ so erklärt wird: Seiendes aussagen, verschieden von dem Seienden über dich ([lwgein] òntvn […] ònta õtera perÏ soÜ,
betrifft. Ein und dasselbe Wort kann sowohl ‚deskriptiv‘ (als ònoma) als auch ‚prädikativ‘ (als ®áma) verwendet werden, wobei prädikativ auch zusammengesetzte Ausdrücke fungieren können (vgl. Krat. 399b). Hierzu Liddell/Scott 1569, und Crombie 1963, 494–495. 79 Auch Bluck 1957, 183, weiß, „that only a true statement implies the ability of the Forms concerned to combine“. 80 In diesem Sinne kann man sagen, daß „par le rapport des idées aux idées, elle [d.h. la communauté] explique le rapport des idées aux choses“ (Diès 1932, 90). Allerdings meint Diès damit nur, Platon versöhne hier das Werden und Vergehen der Sinnenwelt mit der Unveränderlichkeit der Ideenwelt.
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263b11). Unabhängig von dem Beispiel heißt das: Ein Satz (symplokÎ çnomˇtvn) ist falsch, wenn man eine Handlung (durch ®áma dargestellt) einer Sache (durch ònoma dargestellt) zuspricht, wobei diese Handlung verschieden ist von einer Handlung, die der Sache zukommt, d.h. ihr berechtigt zugesprochen wird.81 In 263b11, wo Nichtseiendes als Verschiedenseiendes erklärt wird, macht Platon von einem Resultat seiner Erörterung über die mwgista gwnh (254cff.) Gebrauch. Es heißt in 257b3–4: Wenn wir das Nichtsein (tÌ mÎ òn) sagen, dann sagen wir nicht (…) etwas dem Sein (tÌ òn) Entgegengesetztes (ãnant›on), sondern nur ein Verschiedenes (õteron). Entgegengesetzt sind dabei zwei Ideen, wie das Beispiel groß – klein in 257b6–7 zeigt, wenn sie polarkonträr sind, d.h. an den beiden Enden einer linear geordneten Reihe paarweise konträrer Prädikate stehen.82 Greift man aus einer solchen Reihe zwei beliebige Prädikate heraus, so sind diese im Sinne Platons verschieden. Als Deutung des Nichtseienden ist bloßes Verschiedensein daher hier nicht ausreichend; die Erörterung 257dff., insbesondere 258a11-b3, zeigt, daß die Natur eines Teils des Verschiedenen (Ł ùatwroy mor›oy f÷si«), etwa des Nichtschönen, d.i. etwas, von dem ‚Verschieden‘ ausgesagt werden kann, mit der Natur eines Teils des Seienden (Ł toÜ ònto« [d.h. mor›oy f÷si«]), dann des Schönen, d.i. etwas, von dem ‚Sein‘ ausgesagt werden kann, im Gegensatz ($nt›ùesi«) steht, ohne daß das eine Gegenteil (ãnant›on) des anderen ist. Schönes und Nichtschönes sind nicht notwendig polarkonträr – oder gar kontradiktorisch, wenn man ‚ãnant›on‘ so zu lesen vorzieht –, insofern also bloß verschieden; sie stehen aber überdies im Gegensatz zueinander, sind also konträr und nicht nur verschieden wie etwa Schön und Groß.83
81 Die Synonymität von 263b7 und b9 beweist, daß auch die scheinbar verschiedenen vorläufigen Erklärungen der falschen Rede in 240e10–241a1 dasselbe besagen, was übrigens auch schon durch kat@ ta\tˇ nahegelegt ist. 82 In der Reihe schwarz-rot-grün-weiß etwa sind schwarz und weiß polarkonträr. Konträr heißen bekanntlich zwei Prädikate P und Q – abgekürzt: P k Q –, wenn sie nicht beide zugleich einem Einzelding zukommen können; kontradiktorische sowie polarkonträre Prädikate sind Spezialfälle hiervon. 83 Anderer Meinung ist Bluck 1957, 185 Anm. 16. Er wendet sich gegen die durchaus richtige Vermutung Hamlyns, Platon habe in 257c „a range of incompatibles“ (292) im Sinn, mit der Bemerkung: „All he [d.h. Platon] insists on is that difference is not the same as non-existence, and the discussion of the ‚parts‘ of the Different is simply a justification or elaboration of the analogy between tÌ mÎ òn and tÌ mÎ mwga“. Das ist zwar richtig, aber 257c wird erst dann eine ‚vernünftige‘ Aussage, wenn mit ‚verschiedene Prädikate‘ ‚konträre Prädikate‘ gemeint ist, was zweifellos auch der Sinn von 257d11 ist (könnte ‚s ist nicht P‘ auch ‚s ist Q‘ meinen, wo P bloß verschieden ist von Q, so wären unter Umständen beide Aussagen, ‚s ist P‘ und ‚s ist nicht P‘, wahr, was offensichtlich unerwünscht ist). Wie die in 258b zusammengefaßte Diskussion über Schönes-Nichtschönes, Großes-Nichtgroßes und Gerechtes-Nichtgerechtes zeigt, gilt gerade nicht: „tÌ úson and tÌ mwga are simply different“ (ebd.). Auch diese beiden
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Auf Platons Beispiel eines falschen Satzes, nämlich ‚Theaitetos fliegt‘, angewendet, heißt das: ‚Theaitetos fliegt‘ ist falsch, weil dem Menschen Theaitetos die Idee Fliegen zugesprochen wird, obwohl ihm eine zu Fliegen konträre Idee, nämlich Sitzen, zukommt. Benutzen wir wieder die oben eingeführten Abkürzungen, ergänzt durch F für ‚Fliegen‘, so erhält man in moderner symbolischer Schreibweise: ‚Theaitetos fliegt‘ ist falsch, weil t e M ∧ ∨P .P k F ∧ t e P. gilt, in Worten: dem Theaitetos kommen das Prädikat ‚Mensch‘ und manche zu ‚Fliegen‘ konträre Prädikate zu. Auf die Frage: ‚welche?‘ kann man antworten: ‚zum Beispiel das Prädikat ‚Sitzen‘‘. Es gilt nämlich t e M ∧ t e S ∧ S k F, woraus schon rein logisch t e M ∧ ∨P .P k F ∧ t e P. folgt. Obwohl ‚Mensch‘ und ‚Fliegen‘ zufällig auch konträre Prädikate sind, darf man nicht denken, daß nach Platon dies der Grund für die Falschheit von ‚Theaitetos fliegt‘ ist.84 Schon das Beispiel ‚Theaitetos steht‘, wenn Theaitetos gerade sitzt, beweist, daß eine solche Forderung zu stark wäre. ‚Mensch‘ und ‚Stehen‘ sind nämlich durchaus verträglich (in Bezug auf ein geeignetes Einzelding), obwohl dem Theaitetos, dem ja ‚Sitzen‘ zukommt, das dazu konträre Prädikat ‚Stehen‘ dann nicht zukommen kann. Ein weiterer logischer Schluß führt von t e M ∧ ∨P .P k F ∧ t e P. zu t ∨ p.P k F ∧ MiP. (für manche zu F konträren Prädikate P gilt: einige M sind P), und wieder ist die i-Beziehung der Idee Mensch mit einer zu Fliegen konträren Idee, hier der Idee Sitzen, nur notwendige Bedingung für die Falschheit von ‚Theaitetos fliegt‘. Erst die wie oben durch ihr prfi« ti modifizierte Verträglichkeit von ‚Mensch‘ und ‚Sitzen‘, nämlich in Bezug auf Theaitetos, dem ‚Mensch‘ und ‚Sitzen‘ zukommt, ist zusammen mit der Unverträglichkeit von ‚Sitzen‘ und ‚Fliegen‘ mit Recht ‚Grund‘ für die Falschheit von ‚Theaitetos fliegt‘.85
sind Glieder einer Reihe konträrer und nicht nur verschiedener Prädikate, und so sind sie von Platon in 257b6–7 gemeint. (Ähnlich argumentiert auch Moravcsik 1962, 66ff., zugunsten Hamlyns; ausführlich begründete Darstellung in Kamlah 1963, 25–26 und 42ff.). – Vgl. dagegen Cornford 1957, 293–294, der, wie etwa Bluck, zum Nichtschönen alle von ‚Schön‘ verschiedenen Prädikate zählt. Auch Marten 1965 sieht offenbar keine Möglichkeit, unter $nt›ùesi« etwas anderes als bloße Verschiedenheit zu verstehen; immerhin vermerkt er, daß diese Interpretation sachlich unangemessen ist, glaubt jedoch, Platon dafür verantwortlich machen zu müssen (vgl. 208, 192 Anm. 28). Ross 1951, 116, und Runciman 1962, 118, suchen die Lesart ‚bloß verschieden‘ statt ‚konträr‘ aufrechtzuerhalten, indem sie ‚Fliegen‘ nicht nur als verschieden von ‚Sitzen‘ auffassen, sondern auch als verschieden von allen Prädikaten, die Theaitetos zukommen, was sich nicht begründen läßt. 84 Diese Meinung vertreten z.B. Stenzel 1931, 89, und Oehler 1962, 85. 85 Von Moravcsik 1962, 74–75, wird diese – logisch korrekte – Zurückführung der Falschheit auf Unverträglichkeit mit dem Einwand zurückgewiesen, „that one need not know any particular predicate of Theaetetus with which Flying is incompatible in order to ascertain that ‚Theaetetus flies‘ is false. All one has to do is to make sure that he is not in the air“ (75). Aber das ge-
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Die Verträglichkeit der Ideen Mensch und Sitzen ist so verstanden sowohl der Grund für die Wahrheit von ‚Theaitetos sitzt‘ als auch der für die Falschheit von ‚Theaitetos fliegt‘, wenn man außerdem weiß, daß ‚Sitzen‘ und ‚Fliegen‘ unverträglich sind. Der Vorschlag, ‚di@ tÎn tân eådân symplokÎn Ç lfigo« gwgonen‘ mit ‚durch die Verträglichkeit der Ideen wird die Rede wahr oder falsch gemacht‘ wiederzugeben, hat sich bis hierhin also überzeugend bewährt. Es bleibt zu prüfen, ob damit in unserem Zusammenhang den anderen Aussagen Platons über die Rede, insbesondere also (2), keine Gewalt angetan wird. Wie schon gesagt, handelt (2) von der Herstellung einer Rede durch eine korrekte Wörterverflechtung, nicht aber wie (1) von den Bedingungen, unter denen eine Rede wahr oder falsch wird. Dieser Unterschied muß deutlich im Auge behalten werden. In 262c2–4 wird von Platon selbst an Hand eines Beispiels erläutert, was es heißen soll, wenn in (2) gesagt wird, daß Rede kundmacht über Seiendes (dhloÖ perÏ tân òntvn), nämlich: Rede stellt das Wesen eines Seienden oder Nichtseienden dar (o\s›an ònto« [Ó] mÎ ònto« dhloÖ), was wir modern wieder durch ‚Rede stellt einen Sachverhalt dar‘ ausdrücken können. Rede ist hier nichts anderes als der sinnvolle Satz. Dabei vertritt o\s›a ònto« den wirklichen Sachverhalt, die Tatsache86, und o\s›a mÎ ònto« den fingierten Sachverhalt; bei der Kundmachung über Seiendes ist noch nicht darüber entschieden, welcher der beiden Fälle vorliegt. Das wird erst durch Hinsehen auf die symplokÎ eådân möglich, wie oben ausgeführt. Genauer ist der Zusammenhang von Kundmachung (d‹lvma) und Wesen (o\s›a) dabei so zu verstehen, daß die Kundmachung über Seiendes die Darstellung eines Sachverhalts, nämlich einer o\s›a, bedeutet. Im Falle eines Minimalsatzes, z.B. ‚Theaitetos fliegt‘, wird etwas über die ònta Fliegen und Mensch kundgemacht, indem man ‚Fliegen‘ dem Menschen Theaitetos zuspricht. Aber auch die ònta selbst können kundgemacht werden (vgl. dhloÜn t@ prˇgmata, Krat. 422e3), indem ihre o\s›a dargestellt wird (vgl. Soph. 261e5 und eben auch 262c3–4). Unter o\s›a, etwa von ‚Fliegen‘ oder von ‚Mensch‘, muß in diesem Falle jeweils der wirkliche Sachverhalt, nämlich daß ein Einzelding unter die Begriffe ‚Fliegen‘ bzw. ‚Mensch‘ fällt, verstanden werden. Die bei Platon nicht auftretenden Elementarsätze s e F oder s e M (‚s‘ steht für irgendeinen Eigennamen) sind stets als wahre Sätze aufzufassen. Damit aber wird klar, warum auch falsche (nicht-elementare) Minimalsätze wie ‚Theaitetos fliegt‘ etwas kundmachen: in
schieht ja gerade, indem man feststellt, daß Theaitetos etwa sitzt! „If we discover that he is sitting, then we do not have to make a second discovery, that he is not flying. ‚Is not flying‘ is part of what ‚is sitting‘ says“ (Ryle 1960, 447). 86 Vgl. 240b3, wo Wahres pointiert als òntv« òn bezeichnet wird.
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diesen Sätzen wird nämlich das die Stelle eines grammatischen Subjekts einnehmende Prädikat (hier: Mensch!) stets zurecht zugesprochen.87 Man könnte nun allerdings noch vermuten, die ònta seien selbst bereits die Sachverhalte, wobei unter Kundmachen (dhloÜn) dann ein Behaupten, nämlich daß der Sachverhalt bestehe oder nicht bestehe, zu verstehen wäre. Die Platonischen Definitionen in (3) müßten dann metasprachlich aufgefaßt werden, ohne daß sich an anderer Stelle eine objektsprachliche Erklärung dafür beibringen ließe. So bedeutete z.B. ‚lwgei (…) Ç [lfigo«] (…) $lhùΫ t@ ònta Ñ« östin‘ ‚der wahre Satz besagt wirkliche Sachverhalte‘. Man wird dann aber fragen müssen, wann ein wirklicher Sachverhalt vorliegt, und die Antwort kann hier nur lauten: dann, wenn ein Prädikat einem Gegenstand zukommt! Auch jene kompliziertere (metasprachliche) Lesart stimmt also der Sache nach mit der hier vertretenen (objektsprachlichen) Deutung überein. Nur hat sie neben ihrer methodischen Kompliziertheit auch noch die Übersetzung von ònta als Sachverhalte zu rechtfertigen, was angesichts der hier vorgelegten Deutung der ònta als nicht-leerer Ideen Schwierigkeiten machen dürfte, ganz abgesehen davon, daß dies gleichzeitig einen neuen Vorschlag zum Verständnis von o\s›a verlangen würde.88 Um besser zu verstehen, auf welche Weise Rede über Seiendes kundmacht, weist Platon in 262e5ff. auf zwei charakteristische Eigenschaften der Rede hin: 1. 2.
Rede ist notwendig Rede von und über etwas (tinfi«), nämlich von und über ein pr»gma, das Subjekt der Aussage. Rede ist notwendig auf gewisse Weise beschaffen (poifi« ti«), nämlich ein lfigo« ceyd‹« oder ein lfigo« $lhù‹«, wahr oder falsch.
Die Wendung, daß Rede stets Rede von und über ein pr»gma sei, darf dabei nicht mit der Aussage, daß Rede eine Kundmachung über ònta sei, verwechselt werden. Letzteres war ja in (2) die Definition von Rede – sie stellt einen Sachverhalt
87 Vgl. Anm. 77. Man beachte die Verwendung von dhloÜn einerseits mit Akk., wenn die Kundmachung Elementarsätze, und andererseits mit Gen., wenn sie (Minimal-)Sätze betrifft. – Die zunächst vielleicht merkwürdig erscheinende vierfache Alternative (pr»ji« – $praj›a – o\s›a ònto« – o\s›a mÎ ònto«) läßt sich verstehen, wenn man berücksichtigt, daß die eine Handlung darstellenden ®‹mata auch zusammengesetzte Ausdrücke sein können (vgl. Anm. 78), was für die eine Sache darstellenden çnfimata nicht gilt. Die ersten beiden Alternativen beziehen sich nämlich auf Folgen wie ‚geht läuft‘ (262b5), die letzten beiden hingegen auf Folgen wie ‚Löwe Hirsch‘ (262b9). Alle vier Alternativen behandeln noch die Kundmachung der ònta selbst (Elementarsätze!), erst der folgende Abschnitt (262d) befaßt sich mit der Kundmachung über die ònta (Minimalsätze!). 88 In jedem Falle unglücklich ist die Übersetzung von ‚pr»ji«‘ durch ‚Sachverhalt‘, die Marten 1965, 171, wählt.
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dar – und nicht nur irgendeine ihrer Eigenschaften. Auch zeigt der Übergang von 262d zu e, daß die beiden Eigenschaften der Rede neu eingeführt werden, nicht aber eine von ihnen im Rückgriff auf 262d wiederholt wird. Rede macht kund über Seiendes (z.B. über Mensch, Sitzen, Fliegen, aber auch über Mensch-werden, Gesessen-haben usw.!), insofern sie die Verflechtung einer Sache mit einer Handlung darstellt; und dabei handelt sie von und über die betreffende Sache (z.B. den Menschen Theaitetos), wenn sie die betreffende Handlung (z.B. Sitzen oder Fliegen) aussagt.89 Von einer Sache reden und über eine Sache reden unterscheiden sich in Platons Beispiel darin, daß zunächst von Theaitetos gesagt wird, er sei Mensch (d.i. Theaitetos wird als Mensch vorgestellt), während anschließend über den Menschen Theaitetos gesagt wird, er sitze oder fliege. Die scheinbar pleonastische Redeweise in den Wendungen ‚perÏ oí te kaÏ ƒtoy‘ (263a4) und der darauf antwortenden ‚perÏ ãmoÜ te kaÏ ãmfi«‘ (263a5) erklärt sich so auf eine präzise Weise.90 Damit hoffen wir aber endgültig gezeigt zu haben, daß (1) und (2) durch unsere Interpretation widerspruchsfrei erklärt werden, ohne daß im übrigen der Textzusammenhang gestört und anschließend durch willkürliche Eingriffe wiederhergestellt worden wäre. Für die Berechtigung, ‚Ç lfigo« gwgonen‘ mit ‚die Rede wird wahr oder falsch gemacht‘ wiederzugeben, bietet der Text über die bisherige Darlegung hinaus noch einen zweiten Grund, der unseres Wissens in allen einschlägigen Veröffentlichungen bis heute merkwürdigerweise übersehen wurde. Es läßt sich nämlich zeigen, daß diese Wiedergabe sich nicht nur bewährt hat, sondern Platons ureigene Ausdrucksweise trifft, mit der er seine Erörterung über die Wahrheit und Falschheit von Sätzen beginnt, um sie dann auf die von uns dargestellte Weise zu beenden. In 260c1–3, wie von uns bereits in einem anderen Zusammenhang herangezogen, gibt Platon eine erste vollständige Definition von falscher Rede: Falsche Rede entsteht (g›gnetai), wenn sich die Idee Nichtsein (mÎ òn) mit der Idee Rede (lfigo«) verbindet. Von dieser Definition macht Platon scheinbar keinen Gebrauch, wenn er im Folgenden, wie dargestellt, falsche Rede definiert durch ‚Seiendes aussagen wie es nicht ist‘. Sieht man jedoch genauer hin, so wird deutlich, daß beide Definitionen auf verschiedenen Ebenen liegen. Die erste redet über falsche Rede, indem sie diese als Verflechtung von ‚Rede‘ und ‚Nichtsein‘ darstellt, während die zweite von falscher Rede sagt, daß sie darin bestehe, Seiendes aus-
89 Man beachte, daß ‚ònta‘ in ‚dhloÜn perÏ tân òntvn‘ (262d2) und ‚lwgein t@ ònta‘ (263b4) verschieden gebraucht wird: Im ersten Fall schließen die ònta Sachen und Handlungen ein, während im zweiten Fall die ònta auf Handlungen eingeschränkt sind (vgl. Anm. 87). 90 Ansätze zu einer differenzierenden Interpretation des ‚tinfi«‘ finden sich bereits bei Marten 1965, 169; allerdings bleibt dabei völlig unklar, inwiefern „Platon das ‚von etwas‘ aus dem ‚über etwas‘ rechtfertigt“ (ebd., Anm. 10).
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zusagen wie es nicht ist. Also ist die erste Definition eine metasprachliche Fassung der zweiten; diese Platons Erläuterung jener. So ist etwa ‚Theaitetos fliegt‘ ein Beispiel für die Idee Rede (ein Einzelding, das unter die Idee Rede fällt), und diesem ‚Theaitetos fliegt‘ kommt die Idee Nichtsein zu. Platon drückt das durch die Wendung, ‚Rede‘ verbinde sich mit ‚Nichtsein‘, aus und erklärt, daß so ein falscher Satz entstehe, daß also der folgende metasprachliche Satz gelte: „‚Theaitetos fliegt‘ ist falsch.“ Die objektsprachliche Erläuterung dafür lautet hingegen, daß ‚Theaitetos fliegt‘ falsch sei, weil hier Seiendes, nämlich ‚Fliegen‘, ausgesagt wird wie es nicht ist, nämlich verschieden von ‚Sitzen‘, das Theaitetos zukommt. Entsprechend verfährt Platon beim wahren Satz. In 260a5 wird die Rede ausdrücklich als seiende Idee (tân òntvn õn ti genân) bezeichnet91, wobei 260c1 beweist, daß hier die wahre Rede gemeint ist. Wir können ergänzen: Wahre Rede entsteht durch die Verflechtung der Ideen Rede und Sein. Dem Einzelding ‚Theaitetos sitzt‘, das unter die charakteristische Gattung Rede fällt, kommt also ‚Sein‘ zu, d.h. es gilt „‚Theaitetos sitzt‘ ist wahr“, ‚weil‘ die Ideen Rede und Sein verträglich sind. Der Leser wird sich erinnern, daß hiermit nicht nur das Bestehen der i-Beziehung zwischen Rede und Sein gemeint ist, sondern zusätzlich deren Bezug, nämlich der Satz ‚Theaitetos sitzt‘, dem beide zukommen. Äquivalent dazu ist die objektsprachliche Erklärung, daß ‚Theaitetos sitzt‘ wahr ist, weil hier Seiendes, nämlich die Idee Sitzen, ausgesagt wird wie es ist, nämlich als dem Menschen Theaitetos zukommend, d.h. weil ‚Mensch‘ und ‚Sitzen‘, in Bezug auf Theaitetos, verträglich sind. Ein individueller Satz ist daher wahr oder falsch, je nachdem, ob er unter die Idee Sein oder unter die Idee Nichtsein fällt. Die Idee Rede ist mit beiden Ideen, mit Sein und mit Nichtsein, verträglich, natürlich in bezug auf verschiedene individuelle Sätze. Betrachtet man im Lichte dieser Erklärungen erneut (1) und beachtet dabei, daß ‚Ç lfigo« gwgonen‘ den angeführten Stellen 260a5 und c1–3 (g›gnetai ceydΫ lfigo«) unmittelbar vorausgeht, so dürfte einleuchten, daß gwgonen sich auf die Verflechtung von lfigo« mit òn bezieht, was an dieser Stelle dem Sinne nach auch die Verflechtung mit mÎ òn einschließt, insofern ja mÎ òn als ùˇteron auch am òn teilhat.92
91 Wörtlich: eine der Gattungen des Seienden. Weiter oben wurde begründet, wieso ònta sich auf eúdh, die mit tÌ òn Gemeinschaft haben, beziehen. Demnach ist hier lfigo« eine solche Idee, die mit tÌ òn Gemeinschaft hat; und deshalb kann sie eine ‚seiende Idee‘ genannt werden. 92 Unterschlägt man diese Unterscheidung zweier Ebenen Platonischer Sprechweise, so wird man fast zwangsläufig dazu geführt, in 260a5 lfigo« nur einfach als eine Idee unter anderen aufzufassen und ebenso dann in (1) lfigo« selbst im wesentlichen als eine Verflechtung von Ideen erklärt anzusehen. Vgl. Kucharski 1949, 240, wo der Sinn von (1) ganz extrem wieder-
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Damit hat sich die gewählte Wiedergabe von ‚Ç lfigo« gwgonen‘ durch ‚die Rede wird wahr oder falsch gemacht‘, das heißt, es gilt ‚die Rede ist wahr‘ oder aber ‚die Rede ist falsch‘, nun endgültig als treffend erwiesen. Deutlich voneinander unterschieden ist jetzt einerseits die Herstellung einer Rede als korrekter Wörterverflechtung, die nach Belieben möglich ist, und andererseits der Grund ihrer Wahrheit und Falschheit, nämlich die Art der Verflechtung der durch die Wörter dargestellten Ideen, die vorgegeben ist. Dabei heißen die beiden durch ònoma und ®áma dargestellten Ideen miteinander verflochten, wenn dem als Beispiel für das erstere gewählten Einzelding das letztere zukommt. In moderner Ausdrucksweise handelt es sich hier um den Unterschied von Zusprechen und Zukommen eines Prädikates; einem Einzelding können beliebige Prädikate zugesprochen werden, nur gewisse werden ihm zukommen. Ist einmal der Gebrauch der Prädikate festgelegt, d.h. wird das ‚erste‘ Zusprechen als Zukommen definiert, so können in Zukunft die Prädikate zwar noch beliebig zugesprochen werden, aber es wird von ihrem jeweils schon festgelegten Gebrauch abhängen, ob sie auch zukommen. Dieser Unterschied wird von Platon auch dort aufrechterhalten, wo man ihn auf den ersten Blick vermissen mag. So heißt es z.B. in 262e12–13, daß man eine Sache mit einer Handlung (beides Ideen) durch Nenn- und Zeitwort verbindet (syntiùwnai), was zu bedeuten scheint, als könne eine Verflechtung von Ideen durch eine Verflechtung der sie darstellenden Wörter bewerkstelligt werden. Schon das folgende Beispiel eines falschen Satzes ‚Theaitetos fliegt‘, in dem zwar die Wörter ‚Theaitetos‘ und ‚fliegen‘, nicht aber die Ideen Mensch und Fliegen miteinander verbunden werden, zeigt jedoch, daß Platon dabei etwas ganz anderes im Sinne hat. Bei der Verbindung der Wörter in 262e12–13 denkt er bereits an den wahren Satz, bei dem in der Tat eine Verflechtung der durch die Wörter dargestellten Ideen vorliegt, ohne doch durch die Wörterverflechtung verursacht zu sein. Was Platon an anderen Stellen durch die Wendung ‚hinblickend auf die Ver-
gegeben wird durch: „le lfigo« y est d’abord présenté comme une combinaison (…) des genres“; desgleichen Diès 1932, 104; Robin 1957, 127–128; Bluck 1957, 182; Gulley 1962, 157. Marten 1965 spricht sogar von einer „Nichtbeachtung der Verschiedenheit der Ebenen der Beurteilung“, die zu einer Verwirrung innerhalb der Platonischen Darstellung führe (198); dies ist aber kein Wunder, möchte er doch Platon vorhalten, daß sich falsche Rede zwar durch eine falsche Verbindung ihrer Teile, nicht aber durch eine Verbindung von Rede und Nichtsein verstehen lasse (197). An anderer Stelle nennt er selbst hingegen Sein und Nichtsein Reflexionsbegriffe (211; ihre Abgrenzung gegenüber logischen Partikeln, 207, läßt sich nur als Kuriosität bezeichnen), sieht also auch bei Platon Prädikate der Objekt- und der Metastufe unterschieden, ohne jedoch systematisch davon Gebrauch zu machen. Obgleich Peck 1962 betont, daß (1) sich auf die Verflechtung von Rede und Sein beziehe, übersieht er doch den entscheidenden Punkt: Rede hat am Sein teil, insofern Rede eine Verflechtung von Ideen darstellt.
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flechtung der Ideen miteinander‘ ausdrückt93, unterschlägt er hier, um desto stärker am falschen Satz zu zeigen, daß sorgsam zwischen Ideenverflechtung und korrekter Wörterverflechtung unterschieden werden muß. Gäbe es nur wahre Sätze, und um die Widerlegung dieser sophistischen These geht es Platon ja unter anderem in diesem Zusammenhang, so wäre dieser Unterschied nicht erkennbar.94 Auch in 252c, jener merkwürdigen Stelle, wo es heißt, daß jede Rede von Hause aus (oúkoùen) eine Verknüpfung von Ideen mit sich bringe, macht Platon lediglich darauf aufmerksam, daß jedem Reden Regeln zum Gebrauch der Wörter vorausgehen, in denen – wie oben bereits gezeigt – das Zusprechen schon Zukommen ist, wo also die Prädikate von Hause aus zukommen. Diese Erklärung wird durch die vorausgehenden Stellen 251d5–9 und 252a8–10 gestützt, in denen deutlich wird, daß Platon am Beginn seiner Erörterungen über die Gemeinschaft der Ideen untereinander erst einmal unterstellt, man könne Ideen beliebig miteinander verknüpfen oder voneinander trennen. Eine solche Unterstellung erweist sich angesichts des schon vorliegenden Sprachgebrauchs, der nicht in Frage gestellt wird, als falsch. Wenn man sagt ‚Bewegung ist‘, so soll dies ein wahrer Satz sein. Daher sind die Ideen Bewegung und Sein miteinander verbunden, wenn man nur sagt, ‚Bewegung ist‘.95
93 In 250b7–10 wird ausdrücklich hervorgehoben, daß man eine Idee einer anderen zuspricht (proseipeÖn), d.h. einem unter eine charakteristische Gattung fallenden Einzelding ein Prädikat zuspricht, indem man auf die Gemeinschaft beider Ideen hinblickt ($pideÖn), und das heißt wiederum, nachsieht, ob dem fraglichen Einzelding beide Prädikate zukommen. Vgl. auch 253d7, wo Ideen miteinander verbunden bemerkt werden (diaisùˇnesùai), und 253b11, wo man die Verträglichkeit von Ideen zeigen soll (deikn÷nai). 94 Ähnliches gilt für die Wendung ‚lfigo« ãgwneto‘ in 262c5, wo nicht gemeint ist, daß die vorhergehende Zusammenstellung von Nenn- und Zeitwort selbst schon den lfigo« ‚erzeugt‘, sondern die begleitende Verflechtung der Ideen ist es, die Platon auch hier im Sinne hat und die den lfigo« zu einem wahren oder falschen macht. 95 Heute würden wir allerdings dafür wohl eher sagen ‚es gibt Bewegtes‘ und hätten damit die Intention Platons durchaus getroffen (vgl. Anm. 51 und Kamlah 1963, 40). Daß sich auch die übrigen mwgista gwnh so als Prädikate zweiter Stufe interpretieren lassen, hat bereits Ryle 1939, 146, betont. – Wird aber lfigo« mit òn verbunden, so ist das – nach unserer Interpretation – wie eine Aussage vom Typ ‚¡nùrvpo« manùˇnei‘ zu verstehen, d.h., ein Einzelsatz ist wahr; die Fassung ‚es gibt Sätze‘ läßt sich jedoch damit versöhnen, wenn man berücksichtigt, daß für Platon Sätze immer etwas ‚besagen‘, schon ‚von Hause aus‘ wahr oder falsch sind (auch ùˇteron hat am òn teil!), man auf die Frage ‚welche denn?‘ also antworten kann ‚dieser wahre da‘. Die gesamte Diktion der betrachteten Passagen legt insbesondere die Vermutung nahe, daß Platon ‚Falsches‘ und ‚Nichtseiendes‘ in Bezug auf Rede synonym gebraucht.
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Schlußbemerkung Blickt man auf die Erörterung zurück, so wird man sagen können, daß Alfred E. Taylor durchaus recht hat, wenn er erklärt: „Logic is here, for the first time in literature, contemplated as an autonomous science with the task of ascertaining the supreme principles of affirmative and negative propositions.“96 Es ist Platon gelungen, aufzuklären, wann Minimalsätze wahr oder falsch heißen sollen, wobei er den Unterschied zwischen Gegenstand, Wort und Begriff, Satz und Sachverhalt, desgleichen den zwischen Zusprechen und Zukommen in der Sprache seiner Ideenlehre ausdrückt. Allerdings ist damit auch Platons Beitrag zur Logik im engeren Sinne erschöpft; man wird davor warnen müssen, Soph. 251–263 etwa schon als ‚kleines Organon‘ aufzufassen. Von logischem Schließen oder auch nur den logischen Partikeln, wofür sich ausdrücklich dann Aristoteles und die Stoa interessieren, ist hier noch nicht die Rede. Was Platon wirklich leistet, gehört zu den Prolegomena zur Logik, und zwar auch noch heute, da die moderne Logik keine wesentlich andere Grundlegung anbietet.
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96 Taylor 1949, 387.
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The Programme in Plato's Cratylus Reconsidered
11. On Rational Philosophy of Language – The Programme in Plato’s Cratylus Reconsidered 11.1 How to Do Things with Words Any philosopher of language wants to know how to do things with words. We certainly do things with words in everyday language, even if, by common standards, we are talking ‚nonsense‘. Yet, to know what we actually do when using words is one of the most difficult problems which has baffled philosophers ever since the problem was posed in antiquity. Usually, investigations have been limited, and as it seems misled, by the artificial restriction to essentially only two possibilities, those provided by ‚realism‘ and by ‚nominalism‘. To speak of certain entities which are represented by corresponding parts of speech is to argue from the so-called ‚realistic‘ position, while the ‚nominalistic‘ position assumes that language imposes its own structure upon a reality which by itself lacks any distinctions. Both the realistic and the nominalistic view give a far too radical account of the fundamental question concerning the linguistic interdependence between man and his world. The realistic representation of reality by language is from its very beginning confronted with the difficulty of explaining how an access to reality independent of language might be possible. Without such an access any claim for a correspondence between reality and language turns into a mere fiat and is, therefore, tautologous. For example, the predicate ‚white‘ traditionally is said to designate some corresponding attribute, but up to now no one has been able to speak with any surety on what there is. In fact, why should a predicate designate something at all? To say that predicates are obviously not meaningless signs does not oblige us to use the concept of designation here. This is proven by the nominalistic alternative which, in that instance, maintains that the predicate ‚white‘ is used solely for splitting the world into ‚white things‘ and ‚non-white things‘ and need not be associated with a designation as its meaning. Such an approach may claim advantages over the realistic position as far as the example goes. Its difficulty, however, arises immediately when the use of two competing predicates like ‚white‘ and ‚blank‘ are to be compared. Without any underlying structure of reality there seems to be no way of deciding whether ‚white‘ or ‚blank‘ is the adequate means of distinction in a given situation. Yet, it would be rash to deny that people normally do agree on the adequacy of their distinctions. It is not the case that each person uses language for the purpose of building up a private world only. Of course, it could be argued that mutual agreement on the distinctions to be used just happens accidentally during history with-
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out any reflection on their adequacy. But even then, we cannot do without imbedding new distinctions into those given by traditional language. And that means on the one hand an adequate understanding of language as accepted in the course of history and on the other hand a justification of the innovations to be added. Therefore, both positions are unsatisfactory as a starting-point for a proper understanding of language. The realistic approach cannot justify what it maintains – the existence of entities represented by words –, and the nominalistic approach will not justify what it should – the choice of distinctions made by words as being adequate. Unfortunately, as most of the discussions on the philosophy of language have been conducted within the frame of the realistic-nominalistic alternative, the historical dilemma of a basic uncertainty concerning the functioning of language still prevails today and thus hinders the growing understanding that philosophy of language amounts to nothing less than a foundation of philosophy. One of the most effective attempts to avoid this dilemma is due to the Philosophical Investigations of Wittgenstein. Here Wittgenstein tries to go beyond either a realistic or a nominalistic view by calling attention to the pragmatics of language. This is particularly illuminating because he himself originally sought to revive the realistic position with his ‚picture theory‘ in the Tractatus. The basic doctrine of the Tractatus considers the realm of true sentences to be a faithful mapping of the world and is, therefore, confronted with the above mentioned difficulty of any realistic position, namely to introduce the structure of the world without recourse to language. This doctrine has been abandoned in the Philosophical Investigations where language is considered as a family of mutually correlated language-games, each game consisting of – not necessarily well-defined – rules for using words when dealing with the world. The rules do not follow any given structure of the world nor are they arbitrarily introduced by the individual speaker. Hence, both a realistic and a nominalistic position in the traditional sense have been effectively avoided. Actually, according to Wittgenstein, it is not even the task of a philosophy of language to go beyond the rules which can be exhibited as underlying the usage of everyday language („Philosophy may in no way interfere with the actual use of language; it can in the end only describe it …“, § 124). Any extension of those rules would certainly call for a justification – unless a nominalistic attitude is adopted – which Wittgenstein obviously did not consider as possible. Not even everyday language is justifiable according to him (§ 124). But that is the point now! If everyday language counts as the base on which a philosophy of language should rest, this everyday language has to be established as reliable. Wittgenstein’s answer that „every sentence in our language ‚is in order as it is‘“ (§ 98) seems to be rather an excuse than a well-founded state-
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ment. He obviously does not see any possibility either of giving a foundation to everyday language or of using something else instead. Hence, we may say that realism has entered the stage in disguise again. Everyday language has taken the place of the world beyond language and has thus become the underlying basic – though ever-changing – reality with which any use of language has to comply. Yet, the original difficulty of a ‚realistic‘ approach – to account for the existence of non-linguistic entities – has vanished. There only remains the open question of why everyday language should be considered as reliable and of why any other use of language should receive its foundation only by reducing it to the language of every day. As far as scientific discourse is concerned the latter question becomes prominent within a philosophy of language – and that in spite of Wittgenstein’s disregard of it – because such a philosophy ought to be a distinguished paradigm of scientific discourse itself! The obligation for justification should not be relinquished if we are going to sustain the intention of understanding what we are doing when we speak. Surprisingly that is just the view put forth, already, in one of the first documents of the philosophy of language, Plato’s Cratylus, a dialogue which on the other hand, even more surprisingly, has to be held largely responsible for the lamentable antagonism between the ‚realistic‘ and ‚nominalistic‘ approach to language. The essential parts of the Cratylus present a comprehensive design of how to think about words which may be understood as a well-balanced startingpoint for a rational philosophy of language. As is well known, hardly any answers are given to the various problems raised in the dialogue. But just this, at first disappointing, feature turns out to be the particular strength of Plato’s argumentation. He, for this reason, is able to avoid being caught in traps into which tradition has later so eagerly stumbled. Neither the assumption of a world with given structure represented by language, nor the assumption that language imposes arbitrarily its structure on the world, nor even the resigned attitude of an ultimate dependence on everyday language is adopted as a secure foundation for further considerations. Both the ‚realistic‘ and the ‚nominalistic‘ traps may certainly be taken as having been consciously laid out by Plato himself, though with the purpose of steering around them. In the following two parts of this paper we first venture to sketch an interpretation of the Cratylus as a programme for a rational philosophy of language and then try to show how it could be used even today as a frame for further research.
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11.2 Nature-Theory vs. Convention-Theory The dialogue starts immediately with a fundamental distinction between a ‚nature‘-theory and a ‚convention‘-theory of language. Language in this context is restricted to the domain of ‚names‘ (çnfimata), that is to say, words which nowadays would usually be called ‚predicates‘. Any other aspects of language, e.g. a theory of propositions, which is dealt with in the Sophist,1 remain outside the scope of the Cratylus. According to the nature-theory every object possesses its correct name by nature (f÷sei), whereas according to the convention-theory the names of objects are correct by convention (nfim8) only. The correctness of names, therefore, stands in the focus of the discussion between Socrates, Hermogenes and Cratylus. If names are correct by nature, words to be used as names are either correct or are no names at all (429b/430a). If, on the other hand, names are correct by convention, any word to be used as a name will be correct (385d-e). Thus, both cases, taken in their extreme sense, do not admit of any incorrect use of names. Of course, these awkward consequences already form a part of Socrates’ aporetic refutation of the two initial assumptions. At no time did Plato intend to consider these two ‚theories‘ as serious possibilities from which to start a philosophy of language. Hence it should be clear that the traditional antagonism between a realistic and a nominalistic view of language, those views being easily discernible as variants of the nature-theory and the convention-theory, cannot invoke the Cratylus for its support. On the contrary, the following procedure of Socrates should have been sufficient to shake the conviction that either a realistic or a nominalistic position rests on firm ground. To refute the convention-theory, Socrates first elicits the admission of the distinction between true and false sentences which certainly is not meant to vary from person to person but follows a general theory of truth and falsehood. This theory is indicated by saying that true sentences state objects (t@ ònta) as they are and false sentences state objects as they are not (385b), phrases which almost verbally coincide with those given in the Sophist (cf. 263b), where a careful and sophisticated presentation of that theory is given. As expounded elsewhere (cf. our paper mentioned above) these ‚definitions‘ of truth and falsehood should be read in the following way: stating an object as it is means legitimately affirming an action (pr»ji«) of a thing (pr»gma) (it ought to be noted that within particular sentences the objects [t@ ònta] appear as actions and not as things!), whereas stating an object as it is not means affirming an action of a thing, such that the ac-
1 Cf. our paper „Theaitetos fliegt“, Archiv für Geschichte der Philosophie 48 (1966), 113–152 (in diesem Band 193–229).
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tion is contrary to some other action which holds of the thing, i.e. which is legitimately affirmed of the thing. The sentences themselves are composed of nouns (çnfimata) and verbs (®‹mata) which respectively ‚name‘ (çnomˇzein) things and actions according to Plato’s terminology (Crat. 431b/c, Soph. 262a/d). And it is precisely this ‚naming‘ which constitutes the subject matter of most of the Cratylus. If no particular attention to the naming of things is drawn, the usual phrase is ‚to name objects‘, where objects are understood to comprise both things and actions. Correspondingly the names, too, usually comprise both nouns and verbs. Another feature found throughout Plato’s writings is the lack of any distinction between proper names and names in general. Words like ‚Hermogenes‘ or ‚Tantalus‘ which we would consider to be proper names have to be taken as ambiguous: besides denoting an individual by context, i.e. by serving as proper names with reference to the circumstances in which these words occur, they are also treated as predicates characterizing the individual in question, but of course not uniquely (cf. Theaet. 209c). This is convincingly proven by the quasi-etymological treatment of ‚names‘ as hidden designations of professions et al. in the middle part of the Cratylus. As a consequence any reference to an object must be understood as referring to an individual by mentioning some characteristic concept under which it falls. Now the second step in Socrates’ refutation of the convention-theory, which proceeds from the true-false distinction of sentences to a corresponding truefalse distinction of their parts, loses the apparent oddness which is usually attributed to it.2 For the names (at least two of them, noun and verb, occur in a sentence) have just been exhibited as predicates and their truth and falsehood is, therefore, to be understood as the respective truth value of elementary sentences which affirm those predicates of individuals given by context only (Robinson erroneously calls this treatment of names as ‚little statements‘ an error, op. cit. 338). If, for instance, SP is a primitive sentence like ‚man learns‘ (Soph. 262c) it should be read as referring by context to an individual t, e.g. Theaetetus, of whom both S and P are predicated: SP |t : t e S ∧ t e P (‚:‘ is used as definitional equivalence) Proper names in the strict sense, here designated by the metavariable ‚t‘, actually never occur in sentences. Within the Platonic example ‚Theaetetus is sitting‘, for instance, the name ‚Theaetetus‘ has to be construed as denoting the man Theaetetus (cf. again our paper about the Sophist). It follows that a true sentence SP really does consist of the ‚true parts‘ S and P, i.e. t e S and t e P. In case of a false
2 Cf. e.g. R. Robinson, „A Criticism of Plato’s Cratylus“, The Philosophical Review 65 (1956), 328.
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sentence SP, however, the second part t e P is false, while the first part t e S should ex definitione be considered as true, because any sentence is necessarily a sentence about something (Soph. 262e), namely the subject of it. The subject has to be effectively determined, i.e. it must be a thing correctly named, before one is going to state something about it. Hermogenes admits this distinction of true and false names; yet, surprisingly, he still claims that there are only correct and no incorrect names. Thus, in order to finish the refutation of the convention-theory, Socrates has to convince Hermogenes that the truth of names coincides with the correctness of names, i.e. that the predicates ‚true‘ and ‚correct‘ are intensionally equivalent. Although, as Robinson has already pointed out (op. cit., 328), this final step is nowhere explicitly stated in the dialogue, it certainly is the intention of the argumentation, because otherwise the whole refutation would lose its conclusiveness. For support one may take phrases like 422d (correctness of names = revealing objects for what they are) which, at the end of Socrates’ own presentation of how to distinguish correct from incorrect names, testify that this distinction coincides with the one between true and false names. This presentation which contains, as we will see, Plato’s actual programme of a philosophy of language, has obviously been used to establish the necessary final synonymy between ‚correct‘ and ‚true‘. Yet, as for this purpose the distinction between correct and incorrect names had to be achieved independently of the already admitted premiss that there are true and false sentences, the explicit mention of the intended synonymy is not required any more. Before trying to give an adequate account of Plato’s theory of language, we first want to sketch the refutation of the nature-theory, too. Compared with the refutation of the convention-theory the procedure is reversed. While in the former case it was easy to establish the true-false distinction of names and difficult to arrive at the synonymy of ‚true‘ and ‚correct‘ (for that purpose an independent theory about the correctness of names had to be devised), in the latter case it is easy to agree on the synonymy of ‚true‘ and ‚correct‘ (430d) but difficult to convince Cratylus of the dichotomy between correct and incorrect names (here again the results of the theory in question come into play). Socrates starts his second refutation with the previously established equivalence of the correctness of names with the revelation (d‹lvma) of objects (428d/e), which is at once admitted. His next step shows that this implies the distinction between correct and incorrect names and, therefore, also the one between true and false names (431b) – another indication, by the way, that in the first refutation also ‚revelation‘ is treated synonymously with ‚truth‘. By a short remark which is not at all needed for the argument he finally proceeds from the true and false names to the true and false sentences, thus reaching the basic distinction with which the dialogue originally started. This remark clearly demonstrates that it is the truth and falsehood of sen-
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tences that Plato is preoccupied with throughout his efforts towards a rational philosophy of language. When Cratylus does not seem to be as convinced of Socrates’ argumentation as Hermogenes did, one should certainly not draw the conclusion that Plato is inclined to hold the nature-theory as against the conventiontheory worthy of further consideration. This depends, rather, on the unfinished character of Plato’s own design of a theory which we are going to examine now. The fundamental basis from which Plato’s philosophy of language starts is the subsumption of Stating (lwgein) and Naming (çnomˇzein) under the class of actions (387b/c) which together with the class of things constitute the realm of objects (t@ ònta) according to his terminology. He fully realizes the pragmatic character of language, especially since he connects his procedure with the division of actions into adequate (kat@ f÷sin) and inadequate (par@ f÷sin) ones, which, in its turn, is a specialization of the distinction between reason (frfinhsi«) and unreason ($fros÷nh), thus stating in Kantian language the conditions of the possibility of language: if we do not distinguish reasonable speech from unreasonable speech we deprive ourselves of the very possibilities of language, because, as Plato explicitly remarks (388b), language serves for mutual communication (didˇskein) as well as for distinguishing (diakr›nein) things from each other. Stating and Naming are both actions dealing with things – to state about things, to name things – such that the former comprises the latter, and things in this context are nothing but objects, i.e. they include actions as well (cf. Crat. 431b, and Soph. 262d). The difference between the two may be formulated in the following way. Names, i.e. predicates, are tools with which we distinguish objects from each other. To name objects or to let an individual fall under some concept is on the other hand the means to state something about objects, i.e. to teach and to learn about objects, as Plato prefers to say. This takes place by using sentences, which, as we have mentioned above, consist of at least two predicates, noun and verb, affirmed of the individual in question. What names, as well as sentences, particularly achieve is called by Plato ‚revelation‘. But one has to be careful to discriminate clearly between the revelation achieved by names and the one achieved by sentences, because sentences always reveal something about objects (Soph. 262d) whereas only ‚correct‘ names reveal objects for what they are (Crat. 422d), i.e. place individuals under an appropriate concept. To quote an example from the dialogue, it is not revealing Hermogenes to name him with just this name – if Plato’s etymology of ‚Hermogenes‘ as ‚inventive in speech‘ and Hermogenes’ self-appraisal is accepted. If ‚h‘ and ‚J‘ are metavariables respectively for a proper name of Hermogenes and the predicate ‚inventive in speech‘, then, what is happening when naming Hermogenes with just that name is to assert the elementary sentence ‚h e J‘, which, of course, is taken to be false. Therefore, in Plato’s terminology, a name is correct or reveals an object, if
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the associated elementary sentence is true, and incorrect if the associated elementary sentence is false. The matter stands somewhat differently in the case of sentences, which, as we have seen, are never construed as elementary ones. To take the example used above, the primitive sentence SP|t reveals about the man Theaetetus that he is learning in case SP|t is true, and it reveals about the man Theaetetus that he is doing something contrary to learning in case SP|t is false. In both cases SP|t reveals something about the man Theaetetus, i.e. the elementary sentence t e S has always to be considered as true (S is a true part of SP). And this fact that a true part exists even in a false sentence may be taken as the reason why Plato speaks of revelation in connection with sentences in general, but restricts the notion of revelation in the case of names to correct ones only. Now that we know that the correctness of names is just the truth of the associated elementary sentences, actually to determine the correctness of names within everyday usage becomes the crucial problem. Plato tries to tackle this problem in connection with a number of sample predicates by reducing them to some irreducible basic predicates which are intended to be sufficient to build up by definition any other predicate (using only conjunction and negation which, as we nowadays know, are truth-functionally complete). We may take that as an attempt at something like a comprehensive ars combinatoria, presumably the first one in the history of thought. The specific feature of looking for irreducible basic predicates reminds one of the programme of logical atomism which is to start a construction of language from irreducible atomic sentences representing atomic facts. Yet, it should be noted that there is no indication in the dialogue that Plato thought of the basic predicates as being irreducible ‚by nature‘. His actual point is merely that any linguistic analysis of names has to start somewhere from basic names which have to be established as correct independently of language. Otherwise a regressus in infinitum could not be avoided and, therefore, the intended rational approach to language would be violated. As far as the method of defining compound predicates by simpler ones is concerned this approach is certainly heading in the right direction. These internal application rules for predicates constitute a most effective procedure for exhibiting the mutual dependences of predicates between each other. The quasi-etymologies in the Cratylus as a partial realization of this method of adequate definition may look rather odd, but Plato himself did not treat them seriously, as his extremely cautious expressions and ironic attitude clearly indicate. After all they are used as examples of how one should proceed when this programme is accepted. No definite attempt is made to determine a standard for discussing the adequacy of those definitions. But this is easily understood in view of the far more urgent question of how to reach an adequacy or correctness of the basic predi-
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The Programme in Plato's Cratylus Reconsidered
cates. Unless that question has been answered it does not make much sense to discuss the adequacy of the compound predicates. Plato’s answer uses the concept of representation (m›mhma). While the truth of the associated elementary sentences for compound predicates is reduced to the truth of the associated sentences for basic predicates, the truth for the latter is guaranteed if their predicates ‚represent‘ what they ‚reveal‘ (423a/b and e). This representation is meant neither as a visible nor as an audible one of the kind which belong to the fine arts. The ‚art of naming‘ (423d) is of a special kind, which, according to Plato, aims at the essence (o\s›a) of objects (Crat. 423e, Soph. 261e). Thus, if S is a correct name of some object with respect to an individual with the proper name t, we know that ‚t e S‘ is a true sentence, and hence the essence of S with respect to t should be taken as nothing but the fact represented by ‚t e S‘ (as usual facts are true states of affairs which in turn are construed as intensional abstracts from sentences, cf. part 11.3). A probably more familiar terminology renders the fact represented by ‚t e S‘ as ‚the individual with the proper name t falls under the concept represented by S‘. In this connection it should be mentioned that the possible objection to our interpretation that it would allow for more than one essence per object does not apply, because the names of objects, as explained above, refer to individuals only by mentioning characteristic concepts under which they fall. Therefore, to each essence of an object a concept is naturally associated and vice versa, if void concepts are excluded. The art of naming, with its task of representing the essence of each object by letters and syllables, is considered by Plato as an explanation of what initially has been characterized as reflecting the concept (eÚdo«) of each name by means of its letters and syllables (390a/e). The concept, also called the faculty (d÷nami«) (394b), of a name is found if the name reveals the object it names. In the special case of basic predicates this revelation is called ‚representation‘, because no other names are involved here. Indeed, since, for this purpose of names, namely to reveal objects, their specific phonetic realization is of no concern, Plato stresses the abstract character of concepts. Two different names, e.g. ‚Astyanax‘ and ‚Hector‘ (predicates referring to – different – individuals by context only), may have the same meaning and thus reveal the same object; here both individuals are supposed to fall under the concept ‚who protects the town and its big walls‘ (392e). Still today it is common usage to call a concept the meaning of its representing predicate. Predicates represent the same concept if they are used ‚in the same way‘. This can be made precise by exhibiting the mutual dependences of predicates amongst each other which, for the predicates in question, should coincide. Generic relationships, established by etymology, constitute only one kind of such dependences.
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Plato’s further idea of using semantic rules for phonemes was ridiculed by himself (425d/426b), because he at once realized that no ‚natural‘ method would suffice to represent adequately the multitude of distinctions. Instead, he could have used his method of linguistic analysis to establish dependences also for the basic predicates by limiting their use with respect to each other (e.g. moving ⇒ not resting; running ⇒ moving, etc.; cf. again part 11.3). In that case, the notion of representation as a means of qualifying the correctness of basic names would certainly have been much clearer than it is now, where m›mhma, on perfunctory reading, can easily be misconceived as an imitation of individuals, and then collides with the Platonic insistence on its abstract character, being the representation of the essence of objects. Another difficulty arises because Plato distinguishes only rather vaguely between invention and use of predicates. While in the first part of the dialogue the correctness of names is closely connected with the correct use of predicates (the standards of original linguistic intentions are invoked against the conventiontheory), the latter part particularly stresses a correctness of names enacted by actual linguistic traditions (the possibility of setting standards by social habit [öuo«] and explicit agreement [synu‹kh] is invoked against the nature-theory). When dealing with the linguistic traditions Plato unfortunately confronts ‚conventions‘ with a ‚natural‘ correctness by similarity which in fact is nothing but a reference to his semantic rules for phonemes. But these rules have to be considered essentially as conventions, though not necessarily handed down by social habits. They could at best be interpreted as reconstructing distorted original intentions within a given language. This again can, on that basis, only unsatisfactorily be carried out, as Plato himself observes (435a-c), and should have been supplemented by further rules for establishing interdependences between predicates. In that case the deprecatory opinion about linguistic habits would not have arisen, as may be inferred from his treatment of the ‚lawgiver‘ (nomouwth«) who has fictitiously been introduced for the task of inventing adequate names under the supervision of the ‚dialectician‘ – the man who knows how to question and answer (390c). This task means setting up appropriate rules amongst predicates which exhibit the hidden and possibly distorted intentions of actual language and which state the standards for future usage (424e/425a). The programme for a philosophy of language which should be called rational, if Plato’s terminology is adopted, has thus been stated. Although Plato does not give much information on how to execute that programme in detail, he unequivocally describes the attitude which is required: any investigation should be expertly done, proceed step by step, and avoid ad hoc devices (425a/b); nothing must be maintained without justification, even if – waiving the reliance on gods and machines – only few things can be said (425d-426b).
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11.3 Rational Reconstruction If the foregoing interpretation is accepted, there are reasons to argue that the traditional approach to language still owes Plato some illuminating footnotes to his Cratylus. No doubt, this dialogue introduces so many useful distinctions exhibiting the intricacies of language that even nowadays attempts at a rational philosophy of language may be well advised to draw inspirations from the Cratylus more than from anywhere else. The pragmatic characterization of language as a tool is sufficient in itself to supply a reasonable explanation of why the alternative of a realistic and a nominalistic view of it has been set up as a first approximation to how language functions. For language as a means of articulating the interdependence of man and his world has to be learnt and taught, if we want to use it effectively. To learn a language means essentially to adapt one’s own usage to a given one, and to teach a language means, again essentially, to impart one’s own usage to others. Yet, in between these two activities there is room for spontaneous innovations which account for any difference between the language I have learnt and the one I am going to teach. Those alterations may be for the worse or the better (if they are done consciously one may argue about their quality, too) but, in any case, they belong to the linguistic activities which lie at the root of linguistic behaviour. The point at issue is always on the one hand to understand traditional language and on the other hand to think about future language. In our opinion, this is exactly what Plato wanted to say with his own presentation directed against the original nature-theory and convention-theory. At the end of his refutations they both appear stripped to their core as participating in each other: language exists ‚by nature‘ in so far as we must learn it from our parents and language exists ‚by convention‘ in so far as we can teach it to our children. Therefore, the essence of both aspects of language reappears systematically under the head of two questions, (a) ‚what has been done in the past?‘ and (b) ‚what could be done in the future?‘. As no one lives in linguistic isolation, but everyone uses language for communication, trying to understand the intentions of others and trying to convey one’s own intentions – in other words, as language is a social art – one certainly cannot answer (b) without recourse to an answer to (a). Normally this happens – with doubtful success – at home, in school and university, unexamined; the task of a philosophy of language, however, should bring it to conscious recognition. If, moreover, one wants to do that rationally, it is not sufficient to offer merely a description of the linguistic behaviour of others; one rather has to give a step by step account of one’s own procedure. What is required, therefore, is just the Platonic willingness to justify any use of words. The answer to (b) with respect to (a) – limited to the linguistic activities – together
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with the accepted obligation for a justification may be understood as a proposal for a rational reconstruction of language. In the following we venture to present some detailed examples and to propose them as parts of such a rational reconstruction. First, we try to understand the use of words as predicates. Words like ‚white‘, ‚run‘ or ‚between‘ are used ostensively to distinguish individuals (including pairs, triples, etc., of them) from each other by examples and counter-examples. For example, in distinguishing these words from words like ‚Brandenburg Gate‘, ‚and‘ or ‚parallel‘, we use the word ‚predicate‘ which, therefore, is itself a predicate. Certainly, each of those ostensive definitions, as the method of introducing the use of predicates by examples and counter-examples is usually called, works with finitely many cases and does not give rise to more than one-predicate-sentences. Now, to get rid of these restrictions that make it impossible to understand adequately the actual use of predicates, one may introduce ‚terminological determinations‘.3 They consist of rules which serve to stabilize the use of predicates with respect to each other and to lead to a more accurate limitation of their domain of application. For example, the rules ‚white ⇒ non-red‘, ‚white ⇒ coloured‘ stipulate that the examples for ‚white‘ shall count as examples for ‚coloured‘ and as counterexamples for ‚red‘. By means of these rules the restriction on the number of examples has been waived; besides, it should be noted, that it is not the intention of these rules to claim an agreement with the language of every day, because everyday usage may vary from person to person and from day to day. The rules rather serve as a standard to measure the deviations of actual speakers within given situations. But, certainly, they cannot do that properly if arbitrarily chosen. Amongst the conditions they should obey ranks first the permissibility of revisions and refinements such that the rules in question ease the possibility of finding one’s way in the past (through the evidence of relics and texts) and present (through the physical and social world); especially they have to be factually consistent, i.e. examples of a predicate should never by way of ostension and rules turn out to be counter-examples for the same predicate. The criteria for revisions may again follow certain rules (of simplicity, of generality, of perspicuity, etc.) which by themselves may follow rules of priority in case they cannot all be satisfied consistently. If, for instance, the rule ‚water-inhabiting being ⇒ fish‘ may be taken as adequate for common usage, the new rule ‚mammal ⇒ non-fish‘ being recommended by zoology, yields a contradiction with respect to whales as introduced by ostension together with the rules ‚whale
3 Cf. P. Lorenzen, „Methodical Thinking“, Ratio 7 (1965), 35–60.
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⇒ mammal‘ and ‚whale ⇒ water-inhabiting being‘. Therefore, to enforce factual consistency it is usual to let the latter overrule the former with the special result: ‚whale ⇒ non-fish‘. The leading principle is always the human desire for order. Setting up rules for predicates is intimately related to the language-games of Wittgenstein and to the meaning postulates of Carnap as well as to the various theories which introduce the meaning of words by corresponding rules of application. Yet, they stay behind as well as go beyond in so far as they do not really try to catch the actual linguistic behaviour of certain people (e.g. the scientists) but try to recommend reasonable future behaviour for anyone. A prominent example among the predicates which have been discussed extensively in recent literature on linguistic analysis is the system of colour predicates. Colour predicates often play a role in forming the so-called basic propositions in so far as they are considered to refer to the most elementary sense-data from which experience has eventually to be built up. On the other hand, their basic character has been questioned in view of the incompatibility of colours. Basic propositions should be independent, but the colour predicates are certainly not. For instance, the sentence ‚where there is red there can’t be green‘ is held to be necessarily true, though neither ‚by logic‘ nor ‚by experience‘, or, as D. F. Pears has put it, neither ‚by convention‘ nor ‚by nature‘.4 And indeed, not even the attempt to start with ostensive definitions (experience!) for certain colour predicates and to continue with verbal definitions (logic!) for the rest yields a decent solution; they all lead to well known difficulties which need not be dwelt upon here. We should like, therefore, to propose for discussion a set of rules for colour predicates which seems to render actual usage adequate and may serve as a scheme for the introduction of colour predicates in any language. Let us start with a number of colour predicates to be introduced by ostensive definition, i.e. by finitely many examples and counter-examples. For convenience we take the three physiological primaries ‚red‘, ‚green‘ and ‚blue‘ or rather ‚reddish‘, ‚greenish‘ and ‚blueish‘ to indicate that a fairly broad range of examples for any of these colours should be chosen. As paradigms we may take blood and dry leaves, fresh leaves and emeralds, clear sky and lakes, respectively. In addition to those three ‚chromatic‘ colours one should introduce ostensively the ‚achromatic‘ colours ‚white‘ and ‚black‘ by means of the paradigms snow and coal, in order to subject an even larger class of individuals to colour classification. It is easy to relativize ‚white‘ and ‚black‘ to two-place predicates ‚whiter than‘ and its converse ‚blacker than‘, whence we are able to establish the linearly ordered gray scale. Naturally, as can
4 D. F. Pears, „Incompatibilities of Colours“, Logic and Language, ed. by A. Flew, 2, Oxford 1953, 112–122.
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be seen from the terminology we use here in the metalanguage, the following rules are enforced: ⇒ ⇒ ⇒ ⇒ ⇒
reddish greenish blueish white black
coloured coloured coloured coloured coloured
And this enumeration shall be continued alike whenever a new colour predicate has been introduced either ostensively or by the method we are going to sketch in a moment. Borderline cases (e.g. glass, mirrors, etc.) have to be discussed separately; they have no bearing upon our procedure. Similarly we skip here the further possibility of introducing two two-place predicates ‚brighter‘ and ‚purer‘ on the coloured individuals, the first one leading to the concept of brilliance, the second one to the concept of saturation of colours. The essential next step takes into consideration that the set of our chromatic colours is neither exhaustive nor mutually exclusive. For instance, it may very well happen that certain individuals, e.g. certain stones or leaves, turn out to be both reddish and greenish, while others, e.g. sand dunes or egg yolks, are not classified at all. In that case, it is recommended that two things be done: (1) introducing a new colour predicate ‚yellow‘ by ostensive definition, say with ripe lemons and dunes as paradigms, and (2) extending and stabilizing (1) by setting up the rule ‚reddish, greenish ⇒ yellow‘ (if reddish as well as greenish hold of something, yellow, too, shall hold of that same thing). (2) shall overrule (1). Having done this, two further predicates ‚red‘ and ‚green‘ can be introduced by restriction, using the verbal definitions: red green
: :
reddish greenish
∧ ∧
non-greenish non-reddish,
whence the admissibility of the rules: red green
⇒ ⇒
reddish greenish
and, finally, red
⇒
non-green
can be inferred logically. So, the truth of the sentence ‚where there is red there can’t be green‘ has been established in a natural way. The same process can be iterated with respect to ‚red‘ and ‚yellow‘ for example by introducing ostensively ‚orange‘ (with oranges as paradigms) and adding the rule ‚red, yellow ⇒ orange‘ with the stipulation that it shall overrule the
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ostensive definition of orange. The new predicates one gets by the corresponding process of restriction are in the English language usually specified by adding appropriate adjectives to ‚red‘ and ‚yellow‘ respectively. Obviously, this procedure can be iterated still further without any theoretical limitation. As a result, any two ‚adjacent‘ colours may overlap, while ‚separated‘ ones are by construction mutually exclusive. The system of colour predicates, together with its rules which may thus be established, satisfies the most important conditions for rules for predicates stated above, namely, to be open to revisions as well as to refinements. For example, one could equally well start with the primary colours in painting: red, blue, and yellow, and proceed accordingly. As another example of a rational reconstruction of some parts of language we should like to propose a clarification of the concept of ‚concept‘ including that of a ‚state of affairs‘. The word ‚concept‘ is certainly not used as a predicate in the usual sense since it is not meant to be introduced by ostensive or verbal definition. What else does it stand for, then? Common usage associates the concepts and states of affairs with the meaning of predicates and sentences respectively. But again, what does ‚meaning‘ mean here? As we have already seen from the Platonic example mentioned above, ‚Hector‘ and ‚Astyanax‘ are different predicates with the same meaning. The eÚdo« (concept) of the two predicates is the same, independently of their phonemic realization, provided they are used in the same way. And the point is now to understand the phrase ‚to use in the same way‘. Certainly, anyone turning his particular attention to the predicate ‚same‘ will recognize the secret effects of some equivalence relation. Indeed, it is just that which we are going to make use of. Let us suppose there is a class K of predicates ostensively defined together with a class R of rules to stabilize their use by establishing mutual dependences between them (e.g. the system of colour predicates as introduced above). Then, two predicates A and B may be called equivalent with respect to R (intensionally equivalent or synonymous) if and only if there is a derivation of B starting with A and a derivation of A starting with B using the rules of R or, in a symbolized fashion: A ~R B:A}|R B:(A|R B ∧ B|R A) Now, instead of saying ‚A and B are R-equivalent‘ we want to justify the phrase ‚A and B have the same meaning‘ or ‚A and B represent the same concept‘. Of course, one could define those two-place predicates on predicates as synonymous, but this is uninteresting as ‚meaning‘ and ‚concept‘ cannot thus be used in isolation outside that specific context. Therefore, we have to look for a somewhat different procedure. If we turn to sentences about predicates, e.g. „‚red‘ e short“ or „‚red‘, ‚coloured‘ e|R“ (i.e. „‚red‘ |R ‚coloured‘“), where R denotes our class of rules for col-
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our predicates (including e.g. the dictionary rules for translating these predicates into French or German), one may observe that the truth or falsehood of some of those sentences is not affected by a substitution for the object-predicates of R-equivalent ones. In „‚red‘ e short“ it is not possible to substitute the R-equivalent ‚rouge‘ for ‚red‘ without turning a true sentence into a false one, provided that „‚rouge‘ e short“ is considered to be false; though in „‚red‘, ‚coloured‘ e|R“ this cannot happen by the very definition of R-equivalence. Thus, it is useful to discriminate R-invariant sentence forms P(X) about predicates from those which are not R-invariant: P(X) is called R-invariant – we, then, write PR(X) – if and only if for any two R-equivalent predicates A and B the corresponding sentences P(A) and P(B) have the same truth-value. In symbolic fashion we can write: PR(X):∧A~B .P(A) ø P(B). (‚A ~ B‘ stands short for ‚A ~R B‘) In case of R-invariant sentences about predicates it is now a mere façon de parler to call these predicates the representations of corresponding R-concepts, where R-equivalent predicates represent ‚the same‘ concept. Certain new individuals, the predicate symbols enclosed by bars with respect to R, e.g. ‚|A|R‘ and ‚|B|R‘ may, then, be called the proper names of the R-concepts |A|R and |B|R. This is in tune with Leibniz’ principle of identity according to which individuals, indistinguishable by propositions about them, have to be taken as logically equal. For logical equality, defined by |A|R = |B|R :∧P(X) .P(A) ø P(B). (‚P(X)‘ stands short for ‚PR(X)‘), is equivalent with the R-equivalence A ~R B. |A|R = |B|R ø A ~R B holds, because ‚~R‘ is a reflexive and comparative predicate about predicates and, therefore, represents an equivalence relation.5 Hence, this device permits us to call an R-invariant sentence PR(A) about the predicate ‚A‘ a sentence P(|A|R) about the R-concept represented by ‚A‘, and sentences about concepts are nothing but invariant sentences about predicates. As those new ‚entities‘, the concepts, are certainly abstract, i.e. are merely a specific way of speaking about predicates, the procedure we have just put forth is rightly called an abstraction. Similarly, those much discussed entities, called sets, can in a well known way be abstracted from sentence forms with respect to truth-functional equivalence, but certainly not vice-versa. As a partial answer to the question of what is the meaning of ‚meaning‘, and in accordance with common usage we, therefore, propose concepts now as the meaning (intensional meaning or simply intension as opposed to the extensional meaning being the set represented
5 Cf. P. Lorenzen, „Equality and Abstraction“, Ratio 4 (1962), 85–90.
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by a sentence form) of predicates, thus giving only a contextual definition of meaning. Without difficulty this definition of meaning can be extended to include also sentences, if ‚abstract entities‘ are constructed from sentences analogously to the construction of concepts from predicates. The relevant equivalence relation ‚~‘ among sentences |t e S| by means of which we can consider ‚|t e S|~‘ as the proper names of the new individuals |t e S|~ is defined as follows: t1 e S1 ~R t2 e S2 : t1 e S1 }|R t2 e S2 Any R-invariant sentence PR(t e S) about the sentence t e S can now be rendered as a sentence P(|t e S|R) about the state of affairs represented by ‚t e S‘. If in addition ‚t e S‘ happens to be true, the corresponding state of affairs may also be called true or a fact, because ‚true‘ is an R-invariant predicate about sentences. Our proposal implies especially that states of affairs as well as facts (the facts are Plato’s o\s›ai, if our interpretation in Part II is correct) are neither parts of a nonlinguistic reality nor exhibitable as concrete parts of speech. They are abstracts introduced as an efficient characterization of a specific mode of speaking about concrete parts of speech. Considering the constructions proposed in this part of our paper it should be obvious that neither a realistic nor a nominalistic attitude had to be adopted in order to understand how to do things with words. Also, the resigned attitude of referring to an ultimate dependence on everyday language has been effectively avoided, in so far as the procedures given do not rely on features of a natural language, nor do they intend to justify those features in toto. What has been attempted is to catch a glimpse of some possible intentions of any language, whether a traditional natural language or an artificially designed one, in order to give a rational account of the possibilities open to anyone who asks for a justification of his own speech. We certainly do not claim that the examples given above are sufficient to prove that the programme of a rational philosophy of language is destined to be a success. Yet, it should be carried on, particularly, because any serious argumentation, being a linguistic unit, has to rely on the fragments of a rational reconstruction of language if it aims consciously at a perspicuity of its own. By the way, to prove the programme to be a failure would be self-contradictory, because it certainly has to make use of some kind of a rational approach to language. As a philosophy cannot do without a well-founded use of language, a foundation of philosophy amounts to nothing but a philosophy of language which does not refuse to reconsider its procedure at any of its steps, i.e. which is rational. And since such a programme, according to our interpretation, is the gist of the Cratylus, it might justly be called a Platonic programme.
The Discovery of Rationality
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12. Nicholas Rescher on Greek Philosophy and the Syllogism* 12.1 The Discovery of Rationality Greek philosophy has long fascinated philosophers and historians of philosophy alike. Here we will consider not a particular phase of the development of philosophy (or science) but its very foundation, at least in its European sense. Closely related to this is the idea that not only did a particular form of philosophy (and science) come into being (like, say, European philosophy), but that philosophy itself emerged according to its concept. Hence, if we identify the beginning of Greek thought with the beginning of reason, it becomes immediately clear that, in the broadest sense, terminological and methodological insights play a decisive role.1 Among these insights is the discovery of the possibility of theoretical propositions and proofs (Thales). In fact, it is both the geometrical (theoretical) propositions of Thales, which are copied by the general propositions of pre-Socratic philosophy, as well as the discovery of proof, later extended with the help of logical instruments (within the framework of axiomatic conceptions), which provide the first example of philosophical, i.e. rational thought and earned Greek thinking in general the validity that enabled it to step out of the shadow of myth once and for all. Plato, for example, based his theoretical philosophy on the insights of geometry and introduces logic as a philosophically fundamental discipline in the framework of his epistemological insights in the Theaetetus, his linguistic investigations in the Cratylus, and his theory of truth and falsehood in the Sophist. Aristotle outlines his theory of a demonstrative science, and thereby his model of exact science, with respect to the axiomatic structure of geometry already under development, and with his syllogistics he establishes logic as a theory of justification in the narrower sense. However, in contrast to Plato’s narrower definition of philosophy, which in terms of its subjects remains oriented on the geometric idea of ideality, Aristotle resumes the physical considerations of the pre-Socratic, especially Ionic, traditions. It was only through Aristotle that this tradition became part of the prehistory of philosophy, and cosmology the roots of philosophy in the Greek and modern sense.
* Gemeinsam mit Peter Schroeder-Heister. 1 See Mittelstrass 2003, 134–157.
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Nicholas Rescher on Greek Philosophy and the Syllogism
Moreover, we have become used to understanding what we think about philosophical (and scientific) knowledge, by thinking in the language of Greek philosophy. Our concept of philosophical (and scientific) thought, as well as our concept of philosophical (and scientific) rationality, both have a distinctly Greek history. Greek thought catches up with us not only historically – as an integral part of our cultural and historical consciousness – but also systematically: the form of our knowledge and our questioning is determined by rationality, the beginning of which we describe with Greek thought. A consequence of this is that we cannot think of ourselves outside (the form) of Greek thought. And this also means that we cannot reflect the origin of this thought from the outside, as distant and disinterested observers, but only from the inside, as a part of a cause-effect relation. Methodologically (and epistemologically) formulated: Our reconstructions of the Greek origin of philosophical (and scientific) thought and of the rationality which realizes itself within this thought, are unavoidably determined by those (conceptual) orientations that we borrow from what we are reconstructing. This need not be circular nor, methodologically speaking, ‚historicist‘. In essence, the point is to understand that in (the development of) Greek philosophy and science, an essential part of our philosophical and scientific self-understanding is also enclosed within it. For if it is true that Greek thought catches up with us both historically and systematically within the framework of the questions posed here, and that our form of thinking is determined by its Greek form, then we are investigating ourselves when we inquire into Greek thought. This is not only relevant insofar as we do philosophy (and science), but also in that we generally identify efforts of rational orientations with the essential idea of man. In this sense, as members of a rational culture, we are still Greek, and in this sense there exists no alternative to Greek thought and the concepts of reason and rationality, which came into the world through Greek thought. To use the language of Greek philosophy: The beginning is the essence – the Greek origin of philosophical and scientific thought, and its concepts of reason and rationality, are its essence. It is, therefore, unsurprising that no philosopher can afford not to reflect on Greek philosophy, and that even the major philosophers continue to return to it again and again when posing questions, offering explanations, reconstructing, and participating in other forms of philosophical debate. Nicholas Rescher is no exception.
Cosmos and Logos
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12.2 Cosmos and Logos The importance and unique status of Nicholas Rescher in modern philosophy is plain to see in the number of his voluminous books, such as A System of Pragmatic Idealism in three volumes (1992–1994) and Philosophical Reasoning (2001). In comparison, his numerous shorter works are often overlooked, but it seems that these greatly complement the picture of his great contribution to philosophy, which is nonetheless impressive in and of itself. These shorter works often seem to be just preliminary studies for a more comprehensive work. But, this impression is false, and does not do justice to these shorter works, which include books such as The Riddle of Existence (1984) and Epistemetrics (2006), and also other books such as Galen and the Syllogism (1966) and the collection Cosmos and Logos: Studies in Greek Philosophy (2005). Galen and the Syllogism offers a discussion of Galen and the fourth figure of the syllogism in the light of new data from Arabic sources, while Cosmos and Logos deals with various aspects of mainly pre-Socratic philosophy. In this collection, Rescher summarizes his evaluation of Greek philosophy. This will here be shown by a perusal through the contributions summarized in this volume and in the analysis of his important earlier contribution to Galen and the history of logic. In the studies found in Cosmos and Logos, we find masterstrokes of an interpretation which is argumentative, and which draws simultaneously on wellchosen source texts. This results in a high level of understanding that intentionally avoids much of the common literature analysis that normally suffocates an original approach. Here, Rescher follows two principles. The first of these principles, which is explicitly stated, is that of an interpretative restoration of a theory that directs historical analyses, particularly in case the textual basis and the tradition is poor.2 It corresponds to a concept of reconstruction which can be defined as follows: A reconstruction is given or can be considered as successful or adequate, if a construction K' not only reproduces K correctly in all its essential parts but also, at the same time, fulfils the intentions pursued by K better (at least not worse) than K3 – and this in Rescher’s sense of supplementing information that makes the reconstructed argument more explicit. The second of these principles, which is implicitly expressed, says that historical clarity (obtained from historical reconstruction) presupposes systematic clarity. That is, where there is no systematic clarity, nothing is seen, not even
2 Rescher 2005, 1. 3 Mittelstrass 1985, 92.
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when reading texts. This can be rephrased in the following way, using a wellknown formula of Kant4: historical ideas (Anschauungen) without systematical knowledge (Begriffe) are blind – thereby taking into consideration the other side of the formula that concepts without contents are empty, which means here that a systematical interest needs a substantial basis, in this case philosophical thought in its historical development. Genesis and validity are tied together – also in Rescher’s thought. Central to the studies in Cosmos and Logos we accordingly find not the author and his work, but instead terminological constellations and methodological conceptions, which – as the following analysis will show – constitute the entire thought style of a philosophical era: of Greek philosophy in its essential cosmological and epistemological components, and simultaneously, for the most part, determine the further (philosophical and scientific) development. Examples are the concepts of arche (as primary matter and as principle), of opposition, of thought experimentation, of scepticism, of rational choice, and of logical reasoning.
12.3 From Evolutionary Thought to Logical Analysis The first study is dedicated to cosmic evolution in Anaximander, and appeared before Charles H. Kahn’s important book on the Greek philosopher5 (the latter confirmed the former rather than rendering it outdated). The analysis is based on the assumption that Anaximander had an evolutionary concept of the development of the cosmos. The starting point here is the concept of apeiron, which is described and explained by means of Greek sources (Simplicius and others), with the result that the apeiron „lacks any quantitative as well as any qualitative definition“6. The correct conclusion is that „Anaximander’s apeiron is limitless or boundless, but not literally infinite.“7 This, again, could serve as an example of the Aristotelian concept of hypokeimenon, which also Simplicius employs in his description of Anaximander’s position.8 A spatial interpretation of the apeiron, which existed early on and which seems also to be shared by Rescher in his presentation of the cosmogonic pro-
4 5 6 7 8
Critique of Pure Reason B 75. Kahn 1960. Rescher 2005, 3. Ibid. In Phys. 24, 13–14 (VS 12 A 9).
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cess9, leads, however, to more difficulties than solutions insofar as the ancient ideas of a material primary substance are again thrown into relief (how can something which is itself not spatial limit something that is?). An analysis of principles in the Aristotelian sense, which, in a way, is already present in Anaximander, again becomes an analysis of matter. However, it is still fascinating just how well Rescher succeeds in describing the evolution of Anaximander’s cosmos (cosmogony) and its structures (cosmology) in his recourse to material and spatial ideas. More importantly, though, as far as the systematic interest of philosophy in its own history (as well as the history of science) is concerned, is that the concept of scientific explanation10 gains high profile with Anaximander, since here, for the first time, the explanation of natural phenomena, i.e. astronomical and meteorological phenomena, succeeds, and succeeds in the form of a strictly naturalistic account („the founder of scientific cosmogony“11). It should be added – diverging from Rescher’s account – that this might also be valid in the sense of an analysis of principles when one interprets the concept of the apeiron not spatially, but in the sense of the Aristotelian concept of principle (arche) – whereas Aristotle curiously ignores Anaximander’s conception in his interpretation of the preSocratics12, which is oriented on the concept of the arche. The analysis of the concept of contrastive opposition, on the other hand, is treated much differently. This concept can be held as a central element not only of pre-Socratic philosophy, but also of Greek philosophy as a whole, including Plato and Aristotle: the opposite determination of objects (through the determination of opposite qualities) and their balance. In a precise manner Rescher presents various conceptions from Pythagoras through Aristotle, e.g. Heraclitus’ theory of the unity of opposites, together with the claim that the development of a theory of opposites demonstrates a natural unfolding of a key idea „through substantively interconnected stages“13. This, however, would be too bold of a claim. For one, these conceptions are too different, and they also refer to a wide range of physical, arithmetic, ontological and logical objects. The idea seems plausible that processes can be explained through the existence of opposites and their balance (a central motif in Greek thought) within theoretical as well as practical philosophy. This idea was supported by both empirical and theoretical evidence, whereas the logical meaning of the con-
9 10 11 12 13
Rescher 2005, 9. Rescher 2005, 24. Rescher 2005, 26. Met. A3.983b6ff.. Rescher 2005, 44.
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cept of the opposite used here, namely as the opposition between statements, when one and the same object is assigned two contradictory determinations, was not clarified until much later, probably not until Plato, namely within the framework of his theory of truth in the Sophist. The investigation into thought experimentation in pre-Socratic philosophy leads directly into methodology. Thought experimentation is seen by Rescher to be a cognitive procedure which can be defined as follows: „A ‚thought experiment‘ is an attempt to draw instruction from a process of hypothetical reasoning that proceeds by eliciting the consequences of an hypothesis which, for aught that one actually knows to the contrary, may well be false. It consists in reasoning from a supposition that is not (or not yet) accepted as true – and perhaps is even known to be false – but is assumed provisionally in the interests of making a point or establishing a conclusion.“14 With this very clear definition, Rescher, using examples from pre-Socratic argumentation, shows that an important instrument of generating ideas is at hand, and that it consists at the same time of „different styles of argumentation and reasoning“15, which from the very beginning have determined the development of philosophical and scientific rationality. One after the other, Rescher proves, in concise analyses, that in pre-Socratic philosophy six various forms of thought experiments can be identified and reconstructed: explanatory conjectures (Thales), negatively demonstrative reasoning (Anaximander), reductio ad absurdum (the Pythagoreans), sceptical thought experimentation (Xenophanes), and analogical thought experimentation (Heraclitus). This last model, value dominance argumentation (Heraclitus), however, reinforces the fact that thought experimentation is a „cognitive instrument of substantial value“16. This procedure is, at the same time, typical of Rescher’s philosophical approach: clarity in the systematic approach leads to clarity in the philosophical interpretation. This is something that the so-called hermeneutic philosophy still has to learn. On a much different level, Rescher deals with sophistic and sceptical streams of Greek philosophy. He attempts the rehabilitation of the sophists against Plato’s verdict that – with very few exceptions, such as Hegel – greatly influenced how the sophists had been viewed within the history of philosophy. The chapter opens with the sceptical tropes of Aenesidemus and begins anew with a brief definition: „They were apories, that is, paradoxical considerations designed to manifest the infeasibility of obtaining secure knowledge about the world. For such knowledge is supposed to be objective and impersonal – uniformly true and valid for all
14 Rescher 2005, 47. 15 Rescher 2005, 60. 16 Ibid.
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people – whereas the tropes indicate that such solidity is unrealizable in matters relating to this world of ours. It thus emerges that knowledge of reality is unattainable.“17 This definition allows us to describe a sceptical process which follows, on the one hand, Protagoras, i.e. his sceptically interpreted maxim („man is the measure of all things“18), while following, on the other hand, the principles of perspectivity (isostheneia, „the equivalency of different views“), of the plausibility or similarity with truth (ta eikota, „the likely-seeming“) and of common sense (epoche, „the suspension of judgement and belieflessness“). At the same time, scepticism and sophistry are clearly differentiated both systematically and historically: „what the Sceptics urged was a mental disengagement (ataraxia), an epoche-geared detachment from judgmental thought in favor of living by ‚appearances.‘ By contrast, what the Sophists proposed was: a commitment through interests and the requisites of effective praxis as mediated through our personal sense of desirability and value.“19 With this in mind, the way towards a more sympathetic understanding of sophist thought is open for Rescher. While the Sophists anticipate the anti-cognitivism of the Greek Sceptics, they at the same time avoid the cognitive nihilism of the Sceptics. Short commentaries on the nomos – physis distinction and its linguistic analysis in Plato’s Cratylus make this clear, whilst at the same time the epistemological basis is layed deeper. Here, Rescher is again led by a systematic interest, namely to preserve systematic thought from its own inborn naïvité, as expressed in epistemological dreams of omnipotence. The last two studies in this volume are dedicated again to logical and methodological themes. The chapter entitled „Anaximander, Aristotle and ‚Buridan’s Ass‘“ takes up the issue of the problem of choice without preference, as well as the suggestion that this problem has its roots in very different historical contexts: in the problem of physical symmetries (Anaximander, Plato, Aristotle), in the problem of how to explain God’s choices to reason and to human rationalization (Ghazal\, Averroës), and in the problem of man’s freedom of the will (Thomas Aquinas and others). Again, Rescher is not concerned about historical information as such, but instead about the systematic issue of a reasoned choice among equivalent alternatives, as relates to the difference between reasons and inclining motifs. The historical examples are well chosen – these reveal the greater context in which this problem occurs in the history of philosophy – and simultaneously contribute significantly to the theory of rational choice, including the idea of randomness.
17 Rescher 2005, 63. 18 Plato, Theaet. 152a; Aristotle, Met. K6.1062b13–14. 19 Rescher 2005, 76.
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The final study („Aristotle on Ecthesis and Apodeictic Syllogisms“) rounds off the volume with a small masterpiece of logic. The focus here is on the method of ecthesis, which in Aristotle’s logic is presented as a third possibility, in addition to conversion and reductio ad absurdum, for reducing syllogisms back to those of the first figure. The question arises as to how far the principle of modal ecthesis, required in the proof of the modi baroco and bocardo with necessary premisses and necessary conclusion, is based on strictly logical considerations. This question is answered with reference to the fact that they are primarily metaphysical considerations, which here determine the argumentation and Aristotelian modal logic as a whole. Nonetheless, it is demonstrated that modal logic suffices for the same systematic demands as formal logic without modalities. This will be later on demonstrated in more detail (Section 6). A comparable task confronts Rescher in his short book on Galen and the syllogism.
12.4 Galen and the Fourth Figure In his Prior Analytics, Aristotle distinguished only three figures of categorical syllogisms. Based on this tripartition, the syllogistic moods of the fourth figure have often been treated as ‚indirect‘ moods of the first figure with the terms in the conclusion interchanged. The introduction of the fourth figure as an inference schema in its own right was credited to Galen for many centuries, and was sometimes even called the Galenian figure.20 This attribution was called into question by Łukasiewicz21, and many historians of logic followed him in that respect. Rescher, in his book Galen and the Syllogism22, challenges this claim and argues that the attribution of the fourth figure to Galen is correct after all. To support this claim, he presents new evidence by providing an edition of a treatise by the Baghdad logician, physician and scientist Ibn al-Sar\, also known as Ibn al-Sala1 (ca. 1090–1153)23, on the fourth figure of the syllogism. In this treatise, al-Sala1 not only defends the fourth figure, but also refers to (today no longer extant) sources available to him, which credit it to Galen. The (Arabic) edition and annotated translation of an Istanbul manuscript of this treatise – copied in 1229 from a valid source and in the modern Western scientific community known to exist since at least the 1930s24 – is a masterpiece of philological and historical scholarship.25
20 21 22 23 24
This view was propagated by Averroës (see Sabra 1965b, 14). Łukasiewicz 1957, § 14 (38–42). Rescher 1966. For reviews of this book see Thomas 1967, Geach 1968, Pingree 1968, Jager 1970. Al-Sala1 died in Damascus in A.H. 548 = A.D. 1153–54. See Sabra 1965b, 15. See Sabra 1965b, 14–16.
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The ability to read and edit Arabic manuscripts is not normally something one would expect of a ‚universal‘ philosopher, but only of a specialist.26 The problem with ascribing to Galen the authorship of the fourth figure is that this claim rests only on indirect evidence. The extant writings of Galen tell us nothing directly about this issue. On the contrary, in his Eisagoge dialektike (the only original Greek logic text known to have survived), he speaks of only three figures in the usual Aristotelian way.27 Therefore, in order not to blame him for inconsistency, Rescher has to explain why Galen can both speak of three and of four figures arising from categorical syllogisms with two premisses. In fact, this should have (at least implicitly) been undertaken within the tradition that credited the fourth figure to Galen. This makes it necessary for Rescher to discuss systematically the very concept of a syllogism. In doing so, he ends up with a book that, in addition to its historical and philological parts, contains a thorough examination of the foundations of syllogistics. It deals with three issues: (1) the edition and translation of al-Sala1’s treatise, (2) the concept of a syllogism and the significance of the fourth figure, (3) the problem of crediting Galen with the authorship of the fourth figure. Issues (1) and (2) can be studied independently of one another and of (3), whereas (3) relies on both (1) and (2). Rescher’s explanation as to why Galen may have considered both a threefigure and a four-figure treatment of syllogistics, is based on a distinction he draws between two conceptions of syllogisms, which lead to different views of syllogistic figures. Rescher distinguishes between (i) the Aristotelian two-premiss and (ii) the later two-premiss-cum-conclusion views of the syllogism, which may be described as follows. (i) Given two premisses with one term shared between them (the middle term, M), we may pose the syllogistic question, asking what follows from them with respect to the two terms which are not shared by the premisses (the extreme terms, S and P). We would then distinguish between
25 It is a striking coincidence that the same manuscript was published independently at the same time by A. I. Sabra 1965b. See the next section. 26 Actually, this book is not Rescher’s first publication of this kind – see Rescher 1963. 27 Rescher 1966, 3–4.
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Nicholas Rescher on Greek Philosophy and the Syllogism
I.
M occurring as the subject term in one premiss and as the predicate term in the other, II. M occurring as the predicate term in both premisses, III. M occurring as the subject term in both premisses. Using x, y and z as variables for the syllogistic judgement forms a, i, e and o, this leads to the three syllogistic figures: I. MxP SyM
II. PxM SyM
III. MxP MyS
Z
Z
Z
The task of syllogistic theory would then be to establish which judgements Z of the form S z P or P z S are valid consequences of the respective premisses, depending on the judgement forms a, e, i or o assigned to x and y. Whether Z takes the form S z P or P z S is nothing that affects the distinction between the different forms. In fact, in figures II and III we can, without loss of generality, assume that Z takes the form S z P, as all conclusions of the form P z S are obtained from the same figure by exchanging the order of the premisses, which is a logically insignificant operation. As the distinction between consequences of the form S z P and P z S is a subordinate matter even for the first figure, Aristotle is right to treat figure-I inferences with the conclusion P z S as special (secondary, indirect) modes of the first figure. They are secondary, as the figure-I modes with S z P as their conclusion are self-evident28 and superior to all other forms of reasoning. (ii) Given two premisses with a middle term M and extreme terms S and P, we may instead ask whether a conclusion of a particular form follows from them. In other words, we take the form of the conclusion to be part of the question. Therefore, in the case of the first figure, we do not just ask: „What follows from M x P and S y M?“ but rather, for a given judgement Z: „Does Z follow from M x P and S y M?“ As the form of Z is now relevant, this question must be divided from the very beginning into the two questions „Does S z P follow from M x P and S y M?“ and „Does P z S follow from M x P and S y M?“ This leads to splitting up the first figure into two figures, the first (in the new sense) and the fourth I. MxP SyM
IV. PxM MyS
SzP
SzP
28 „Perfected through themselves“ in Aristotle’s terminology (An. pr. A5.26b26–35, 29b6–8).
Galen and the Fourth Figure
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There is no difference with respect to the second and the third figure. Whereas figures I and IV are duals of each other with respect to permuting premisses and converting the conclusion, figures II and III are self-dual. This view of the syllogistic figures has remained the standard. From a modern point of view, the difference between (i) and (ii) is that between a consequence-set view („What are the consequences of two given premisses?“) and a consequence-relation view („Which consequence relations between two given premisses and a given conclusion are valid?“). Aristotle’s consequenceset view leads to a coarser classification than the medieval (and modern) consequence-relation view. Rescher not only draws a conceptual distinction between these views, but also finds a terminological distinction which reflects this: A syllogistic figure, according to the three-figure view, is called a schema by Aristotle (syzygia by Alexander of Aphrodisias), whereas according to the four-figure view, a figure is called systasis (symploke by Alexander) and the corresponding syllogisms technai29, with corresponding distinctions in Arabic. While only the first terminology is present in the extant texts of Galen (where he speaks of three figures), the second terminology occurs (in Greek) in his listings of his own works, and its Arabic counterpart is used in the Arabic texts which associate him with the fourth figure. Thus, Rescher makes the ascription of the fourth figure to Galen plausible by attributing to him the explicit awareness of these two views of the categorical syllogism.30 Not only those who, like Rescher, credit Galen with the fourth figure have to explain how a three-figure and a four-figure view may coexist. Those who, like Łukasiewicz, deny Galen’s authorship must do so as well, in order to comply with the sources who claim his authorship (such as, e.g. Averroës), if they do not wish to simply disregard them as not trustworthy. Their way of arguing is that Galen, when speaking of a fourth figure, does not mean the fourth figure in the standard sense, but something different, e.g. syllogisms with more than two premisses.31 In any case, the ascription of the fourth figure to Galen is based on indirect sources and on the weight given to them, as none of the relevant papers by Galen are known to have survived, and even the text edited by Rescher does not unequivocally show this, as is demonstrated by Sabra’s independently published commentary on this text.
29 Rescher 1966, 17–19. 30 Jager 1970 argues that the ancient Greek tradition after Galen should be taken into account in order to make this „admittedly indirect and circumstantial evidence“ (Rescher 1966, 17) more conclusive. 31 Rescher 1966, 2. This was first claimed by Łukasiewicz (1957, 39), who refers to an anonymous scholium on Ammonius’ commentary on the Prior Analytics.
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12.4.1 Al-S.ala1’s Treatise: Rescher vs. Sabra The very same Istanbul manuscript which is the topic of Rescher’s book was published independently as a photographic reprint with a detailed commentary by the renowned historian of Arabic science A. I. Sabra.32 It appeared a year earlier than Rescher’s book and roughly at the same time as Rescher’s preliminary report33, but not before Rescher’s book was completed.34 In contradistinction to Rescher, Sabra follows Łukasiewicz in that Galen did not invent the fourth figure and interprets the references to Galen and the fourth figure in the introduction to al-Sala1’s treatise (which is the basis of Rescher’s historical argument) accordingly. In the introduction to this treatise35, al-Sala1 makes the following four points which Rescher uses as arguments for Galen’s authorship of the fourth figure: (1) There is a commentary by Abu ’l-Faraj ibn al-Tayyib on the Prior Analytics, which criticizes Galen’s introduction of the fourth figure. (2) A treatise by A1mad ibn al-Tayyib al-Sarakhs\ refers to a report mentioned to his master al-Kind\ about the existence of a Syriac treatise of Galen dealing with the syllogistic figures. Al-Kind\ explicitly rejects the fourth figure. (3) There is said to be a treatise by al-Farab\ criticizing the fourth figure. (4) There is a treatise by someone named Din1a the Priest, entitled The Fourth Figure of Galen, which is full of errors. Sabra deals with these points in the following way: (ad 1) This is acknowledged, but not given decisive evidence.36 (ad 2) This interpretation suffers from the vagueness of an Arabic expression. It is not clear from the text whether al-Kind\’s rejection of the fourth figure presupposes a claim by Galen against which it is directed.37
32 Sabra 1965b. Sabra did his doctorate with K. R. Popper in London and later became Professor of the History of Arabic Science at Harvard University. Actually, he wrote a (not so favorable) review of Rescher 1963, see Sabra 1965a. 33 Rescher 1965. 34 The preface of Rescher 1966 dates from February 1965. We owe the Sabra 1965b reference to Thomas Piecha. 35 Rescher 1966, 52–54; Sabra 1965b, 16–18. 36 Sabra 1965b, 18. 37 Ibid.
Rescher and the Fourth Figure
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(ad 3) There is no surviving manuscript by al-Farab\ which supports this claim.38 Actually, Rescher was hoping that the edition of further manuscripts of alFarab\ might bring to light some reference to Galen and the fourth figure. This has not materialized so far.39 (ad 4) The identity of Din1a is not clear. Sabra does not further comment on this source. He would probably call into question its reliability, as apparently Din1a is not a logician. It may be regretted that neither Rescher nor Sabra returned to the subject later. The merit of Sabra’s paper is his extended commentary on the full text. Rescher essentially discusses its introduction, as this is the passage relevant to Galen, and considers the rest „largely a routine“40. However, the main text does contain some interesting observations on the fourth figure that may have fit into Rescher’s general discussion on the merits of this figure (see below). In general, it is somewhat surprising how little attention Rescher’s and Sabra’s discussions of al-Sala1’s treatise received by the experts in the field. In the philosophical literature, there is no reference to Sabra’s paper whatsoever, and Rescher’s is, for the most part, quoted vaguely in the style of „for a discussion of Galen and the origin of the fourth figure see Rescher“. Even in the Arabistic literature there are references to Rescher and Sabra only here and there.41 Given that there was so little general interest in the topic, the coincidence of these two projects which made al-Sala1’s treatise accessible to the public in 1965 is even more remarkable.
12.5 Rescher and the Fourth Figure Though the consequence-relation view of syllogistics, which gives the fourth figure its proper place, has dominated since medieval times, the fourth figure has nevertheless often been considered inferior to the other figures. Rescher discusses six arguments given in the literature to support this claim. He discards all of them and concludes with an argument of his own to establish it. Unfortunately, he does not deal with arguments which explicitly support the fourth figure (as compared to, say, the second and third), although that would have fit well into his
38 39 40 41
Sabra 1965b, 18–19. Lameer 1994, 1996; Street 1997. Rescher 1966, 50. For example, in Lameer 1994.
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book, as al-Sala1’s text is one that does exactly this. In the following, we discuss Rescher’s reply to three traditional objections against the fourth figure (objections 2, 3 and 4 in his enumeration), as they are the most interesting from the systematic point of view. His replies to the three other objections, though historically highly relevant, are fairly obvious. Objections 2, 3 and 4 all deal with the deductive power of certain moods with respect to certain inference rules. (1) Objection 2 (stated in many traditional textbooks): The fourth figure is the first figure with an inverted conclusion. Rescher correctly replies that this is not true. One has to invert both the premisses and the conclusion to reach figure IV from figure I. Rescher correctly remarks that the true underlying reason for this objection is that only conversion is needed to deduce figure IV from figure I (which is traditionally considered the perfect figure), whereas without reductio, figures II and III cannot be obtained from I. So, according to Rescher, figure IV may at best be considered deductively ‚less independent‘ of figure I than figures II or III. However, even that depends on the fact that conversion is considered a weaker rule than reductio, as reductio alone suffices to generate figures II and III from I, so with respect to the number of rules required, figure IV is as near to figure I as are figures II and III. That conversion is weaker than reductio might actually be claimed, as conversion can be justified using reductio, if a limiting case such as S a S is admitted as a premiss.42 (2) Objection 3 (due to Leibniz): Figure IV is farther away from figure I than figures II and III, since in addition to reductio, conversion must be used to derive it. Rescher replies that Leibniz’s assumption that conversion is less natural than reductio is not warranted at all, and refers to the derivability of conversion from reductio (see above). (3) Objection 4 (credited by Rescher to Kneale & Kneale43): The fourth figure is inferior to the other figures, as reductio does not lead out of it. Rescher replies that this is no more than a fact. He does not mention that it is due to a distinguishing characteristic of the fourth figure, namely that the two occurrences of the three terms involved always occur in opposite positions – one on the left and one on the right. This feature may actually give the fourth figure a superior quality (see Section 5.2).
42 Use datisi-III and cesare-II, which themselves can be obtained from figure I using reductio. 43 Kneale & Kneale 1962, 101.
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Overall, according to Rescher, the objections to the fourth figure describe, if they are based on correct observations, mere features of this figure, without rendering it inferior. Nevertheless, Rescher shares the opinion that the fourth figure is indeed inferior to the others, but on the basis of an argument which seems to him „to be the only one that possesses genuine force“44. It is based on the insufficient deductive power of the fourth figure, given the basic Aristotelian inferences to derive syllogistic moods from others (and in the end to reduce all valid moods to the moods of the first figure): conversion and reductio. Using these two inference principles, the valid moods of each of the figures I, II and III suffice to derive the valid moods of all four figures, whereas this is not true for the valid moods of figure IV. The moods barbara-I, baroco-II and bocardo-III cannot be reduced to the fourth figure by means of conversion and reductio alone. „It is yet another of the ironies of the history of logic that this (to our mind solitarily appropriate) ground for maintaining the inferiority of the fourth syllogistic figure is of our own devising and is nowhere to be found in the ramified literature of the subject, despite the innumerable discussions aimed at showing the inferiority of the fourth figure.“45 Rescher’s systematic conclusion, then, is that the fourth figure, though indispensable, is „somewhat less central or fundamental“46 than the others. Rescher attempts to put the traditional view of the inferiority of the fourth figure on a firm base by comparing its deductive power with that of the other figures.
12.5.1 Al-S.ala1’s Arguments in Favour of Figure IV As Rescher wants to dissociate his own objection to figure IV – which is not an argument against the figure as such, but against its deductive power – from other objections found in the literature, he does not discuss arguments in favour of figure IV. However, as they are the topic of the work edited, it is interesting to discuss al-Sala1’s arguments. Al-Sala1 makes at least three points: The first one is in favour of figure IV as a genuine syllogistic figure, the second and third are arguments for the superiority of figure IV over figures II and III. He even uses a new numbering system, calling figure IV the second, and the (traditional) figures II and III the third and fourth figures, respectively.47 The status of figure I as
44 45 46 47
Rescher 1966, 47. Ibid. Rescher 1966, 48. In the following, to avoid any confusion, we use the traditional numbering throughout.
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the figure of the self-evident or self-justifying perfect syllogisms is not questioned. (1) Al-Sala1’s central point in favour of figure IV is that it covers forms of reasoning that actually occur and as such must be addressed. Its reducibility to figure I is no argument, as figures II and III are reducible to figure I as well. Reducibility does not mean that the figure need not be considered. Al-Sala1 argues that once we make a distinction between the two premisses of a syllogism, we are automatically committed to distinguishing between the different positions of the middle term separating figures I and IV. To support this view, he gives a nice analogy: When we classify bodies into heavy and celestial, and correspondingly motion into straight and circular, and then associate heavy bodies with straight motion towards the center, then with qualifying straight motion into the two options towards the center and its opposite from the center, we are automatically committed to a corresponding division of the non-celestial bodies into heavy and light ones. This is a strong argument in favour of the consequence-relation view of syllogisms and thus for considering figure IV as a genuine form of reasoning. (2) Figure IV is superior to figures II and III as it allows for three judgement forms, e, i and o, in its conclusion, whereas figure II only allows for e and o, and figure III only for i and o. Figure I allows for all four forms a, e, i, and o. Thus the syllogistic figures are ranked according to the number of judgement forms possible in their conclusion. This is an argument concerning the expressive power, but not the deductive power, of figure IV. It is certainly a distinctive feature of this figure, but not necessarily one that makes this figure superior. (3) As only conversion is required to pass from figure I to figure IV, figure IV is nearer to figure I than are figures II and III. This is closely related to the objection discussed at the beginning of Section 5. It relies on the assumption that conversion is a more natural form of reasoning than reductio. However, even if the distance of figure IV from figure I is smaller than that of figures II and III from I, we do not have a linear order. Figure IV does not lie in between figures I and II/III in strength.
12.5.2 Merrill’s Ignored Characteristic of Figure IV At the end of chapter II, which contains the systematic discussion of figure IV, Rescher refers to a paper by Merrill (1965) that establishes the superiority of figure IV over the other figures and thus calls into question Rescher’s own stance as
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elaborated upon in this very chapter. This footnote was obviously added after the book was completed, perhaps even added after the book was in print. It says: „It is, moreover, undoubtedly the case that there are other systematic considerations – of perhaps a kind that seems artificial from the traditional approach to syllogistic logic – which militate favourably on behalf of the fourth figure. See, for example, D.D. Merrill [Reference to Merrill 1965].“ The rather moderate and indirect way of expressing himself: „perhaps a kind that seems artificial“ shows that Rescher was aware that Merrill’s paper challenges his basic systematic claim, namely that the fourth figure is inferior due to its lack of deductive power. Reading Merrill’s paper, it turns out that it puts forward an argument which supports a position opposite Rescher’s (and at odds with the whole tradition of syllogistic theory). Quoting the paper and pointing to its significance demonstrates Rescher’s intellectual honesty, as no one could or would have complained about not quoting a paper which appeared after the book was in print.48 From today’s point of view, this is even more remarkable. Merrill’s paper, though highly relevant, short, clear, and to the point, has not been taken notice of at all, although Mind is one of the leading philosophical journals. As of now (December 2007), the WebSci and Philosopher’s Index databases list no reference to this paper in any journal. Not even Thom in his extensive book on the syllogism49 mentions it. We could not examine all of the books ever written about syllogistics, but Rescher’s quotation is the only one we could find, although more than forty years have passed. It is unbelievable how a most significant systematic contribution to syllogistics could remain unnoticed.50 Merrill’s approach rests on the use of obversion rules, which were not introduced into the formal apparatus of syllogistics until the 19th century.51 In this sense, Rescher is right to say that an approach based on obversion is „artificial from the traditional approach to syllogistic logic“. On the other hand, as the idea of concept-negation, which underlies obversion, is already present in Aristotle’s work52 (though not within his syllogistic formalism), Rescher is also right in not repudiating such an approach outright. This is even more appropriate as Rescher’s own method of assessing the significance of a syllogistic figure in terms of its strength to axiomatize syllogistics is not the most traditional way of
48 The preface dates from February 1965, and the first 1965 issue of Mind was available in the U.S. probably considerably later than this date. 49 Thom 1981. 50 In an e-mail, Professor Merrill confirmed to us that he knows of no other quotation beyond that of Rescher’s. 51 Menne 1984. 52 De Int. 10.20a19–26.
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treating syllogistic figures, either. A proper traditional approach would always put the allegedly self-justifying ‚perfect‘ moods of figure I first, which Rescher does not. As Merrill’s paper is highly relevant, we sketch its content here and relate it to Rescher’s approach. Suppose we have obversion rules at our disposal, which allow us to pass from a judgement to its contrary by changing a term to its complementary term, such as from „All men are mortal“ to „All men are not immortal“ (i.e., „No man is immortal“), or from „Some animals are mammals“ to „Some animals are not non-mammals“. Denoting the term complementary to P by P', and assuming that P'' yields P, obversion justifies the following equivalences: S a P ⇔ S e P'
S e P ⇔ S a P'
S i P ⇔ S o P'
S o P ⇔ S i P'
Call a semi-syllogism an inference figure which looks like a syllogism, with the only difference being that any occurrence of a term S, M or P may be replaced by its complementary term S', M' or P', respectively. Note that we speak of occurrences of terms. This means that, in a semi-syllogism, a term may occur in one position in its plain form and in another in its complementary form. For example, PiM S' a M' SiP would be a semi-syllogism of the second figure (which is, of course, invalid). Using obversion, any syllogism whatsoever can be converted into a semi-syllogism in which only the judgement forms e and i occur. As e- and i-judgements are convertible, this semi-syllogism can be transformed into a semi-syllogism of any figure by conversion (where premisses must be permuted if the conclusion is converted). Now only the fourth and no other figure has the property that by means of obversion, any semi-syllogism of a given figure can be transformed into a syllogism of the same figure. This is due to the fact that only in the fourth figure do the two occurrences of a term always occur in opposite positions (something on which Leibniz’s objection to the fourth figure is based, i.e. something which was considered a negative feature of figure IV, see (2) at the beginning of Section 12.5). This means, in particular, that one of the occurrences must occur in the predicate position and therefore obversion is permitted. This holds equally for valid and for invalid moods. Consider, for example, barbara-I: MaP SaM SaP
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Obversion of all three judgements gives M e P' S e M' S e P' from which by conversion of both premisses we obtain the following semi-syllogism of the fourth figure: P' e M M' e S S e P' From this, by obversion of the first premiss, we obtain P' a M' M' e S S e P' which is an instance of calemes-IV. If, in this example, we replace a and e with o and i, respectively, we obtain a reduction of the invalid mood ooo-I of the first figure to the invalid mood oii-IV of the fourth figure. In this way, Merrill shows that the valid moods of the fourth figure axiomatize the valid moods of all other figures by means of conversion and obversion only. Moreover, the invalid moods of the fourth figure axiomatize the invalid moods of all other figures. Axiomatization of the invalid moods goes beyond the classical picture of syllogistics, although it is not too far from it, since most reduction procedures studied in classical syllogistics are symmetrical and independent of the validity of the moods considered.53 If obversion is considered an admissible way of reasoning, this shows that the fourth figure is not inferior, but indeed superior to figures I, II and III. Actually, for the reduction of the valid moods of any figure to those of IV, conversion restricted to the premisses (conv) and obversion (obv) is needed. For the reduction of the valid moods of any figure to those of one of the figures I, II or III, we need reductio (red) plus unrestricted conversion (convx).54 Rescher’s claim that the fourth figure is inferior can only be upheld if red + convx is considered less elementary or less natural than obv + conv. This essentially amounts to the question of whether obversion is considered an elementary mode of inference. Merrill’s paper demonstrates again that all claims based on the de-
53 Exceptions are ecthesis and rules which involve subalternation, such as conversio per accidens. 54 Here, the „x“ stands for the permutation of premisses, which is needed when the conclusion is converted, as, for example, in the reduction of bocardo-III to darii-I.
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ductive power of syllogistic moods or figures strongly depend on the transformation rules assumed, and that the appropriate choice of such rules is not a trivial matter at all.
12.6 Ecthesis, Modal Syllogistics, and the Metaphysical Basis of Logic In the final paper of Cosmos and Logos55, Rescher extends the principle of ecthesis introduced by Aristotle in his assertoric syllogistics to the modal realm, something which by Aristotle is only sketched in a few lines of text, but not developed in detail.56 Using this extension, he is able to explain certain features of this system which have been a stumbling block to many prominent authors dealing with the subject. Ecthesis, in the standard non-modal sense, turns a particular judgement into two universal judgements, namely SiP SoP
into into
N a S and N a P N a S and N e P
claiming that a term N can always be found. Actually, in the first case, for N we can choose the term (S ∩P), whose extension is the intersection of the extensions of S and P, whereas in the second case, we can choose the term (SÜP), whose extension is the difference of the extensions of S and P.57 In the modal case, ecthesis turns an apodictic particular judgement into two apodictic universal judgements, namely Y(S i P) into Y(N a S) and Y(N a P) Y(S o P) into Y(N a S) and Y(N e P) As in the assertoric case, this can be validated by assuming N to be (S ∩P) and (SÜP), respectively. However, Rescher wants to characterize N not just extensionally, but by means of a choice operator which from S and P selects a natural kind for which the universal apodictic assertions hold true. This is then metaphysically interpreted as expressing Aristotle’s tenet that „science, since it deals with the
55 „Aristotle on Ecthesis and Apodeictic Syllogisms“. This paper is a revised version of a paper co-authored by Z. Parks (Rescher & Parks 1971) entitled „A new approach to Aristotle’s apodeictic syllogisms“. Some of the revisions are substantial, so the serious student of Aristotelian modal syllogistics should consult the 1971 paper as well. Unfortunately, the 2005 edition also contains several serious misprints. 56 An. pr. A9.30a 6–14. 57 We disregard the problem of existential import, which becomes relevant when reading these inference steps from right to left.
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necessary, cannot but deal with the universal as well“58, i.e. a necessary particular judgement like Y(S i P) or Y(S o P) becomes a scientific judgement by turning it into necessary universal judgements in the way indicated. This is, of course, a highly metaphysical claim linking logic with metaphysics. It cannot rest on logic alone, as the assumption that there is a natural kind N with the mentioned properties is not a purely logical postulate. In order to be able to „construct“59 such an N, Rescher introduces a bracket notation [SP] for terms S and P such that, if all S are P, then all S are necessarily [SP]. Thus Rescher uses as an axiom the principle SaP (1) Y(S a [SP]) His second axiom is (2)
Y(S a P)
60
60
Y([QS] a P) From (1) and (2) together with corresponding principles for i- and e-judgements (1')
SiP Y(S i [SP])
(2')
Y(S e P) Y([QS] e P)
he is able to derive the valid moods of the first figure of Aristotle’s modal syllogistics and show that the invalid moods are not derivable.61 This includes the validity of the (infamous) barbara LXL Y(M a P) )S a M Y(S a P) and the underivability of barbara XLL yM a P Y(S a M) Y(S a P)
58 Rescher 2005, 126. 59 ‚Construction‘ here is understood in the metaphysical sense, not in any ‚constructivist‘ way of thinking. 60 Rescher 2005, 117. In Rescher & Parks (1971, 680), this axiom is just presented as such, whereas in Rescher (2005) it is reduced to its non-modal variant, assuming the (Aristotelian) principle that every assertoric inference yields a corresponding apodictic inference (which, in modern terminology, comes down to assuming the principles of necessitation and distribution). 61 Rescher 2005, 117–120.
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Modal ecthesis is then axiomatized using the axiom (3)
Y(S i P) (∃Q)(Y([SQ] a S) ∧ Y([SQ] a P))
and analogously for o-judgements.62 So the intuitive idea is that there is some predicate Q constituting a natural kind [SQ], such that from the particular modal judgement we obtain two universal modal judgements with the subject term [SQ]. By adding the standard reduction rules, this constitutes an axiomatization of the full system of Aristotle’s modal syllogistics. Though as a formal system this is impressive, its intuitive interpretation is not entirely clear. The ecthesis axiom (3) suggests that in [SQ] the Q denotes a property essential to all S’s, i.e. a differentia specifica singling out in a natural way those S’s that are also P’s. This view also underlies the reading of [QS] in (2): If in some possible world a [QS] did not have the property S, then we could not infer from Y(S a P) that it has the property P. On the other hand, the term [SP] in axiom (1) is interpreted differently, as here [SP] denotes the natural kind N within P which is specified in a way such as to make Y(S a N) deducible from the non-modal statement S a P. The reading of [SP] with P being essential to S would naturally validate the judgement Y([SP] a P) which, together with (1), makes it possible to derive Y(S a P) from S a P, thus trivializing modal logic. Though the system is formally consistent, Rescher’s bracket terms are semantically ambiguous.63 This is not surprising, as in Aristotle’s modal syllogistics the seemingly trivial judgement Y(S a S) cannot be valid. This is due to the fact that, using barbara
62 Rescher 2005, 122–123. 63 This is reflected in the terminology used by Rescher and the different ways in which he describes the meaning of [SP]. He speaks of [SP] „to represent the P-species of S“ (1971, 678; 2005, 115, text in angle brackets only in 2005), of [SP]’s as „specifically those S’s that are by nature P’s“, as „those S’s which must be P’s in virtue of their being S’s (i.e. by conditional or relative necessitation)“ (116, „must“ emphasized in 2005), of [SP] „such as to validate the inference (1)“ (text in angle brackets added 2005), as „the P-oriented subspecies of S (consisting of S’s that are P’s by virtue of being S’s)“ (only 2005), of [SP]’s as „P’s with a relative necessity, subject to the condition of their being S’s“ (only 1971), as „S’s-that-in-fact-are-P’s“ (only 1971, footnote 4). Concerning Y([SP] a P), Rescher just writes in 2005 that this is „unattainable in the circumstances“ (Rescher 2005, footnote 3), without giving any further reason. (It is clear that it must be unattainable.) Rescher gives the impression of an author still struggling to make explicit what he has in mind. He vacillates between claiming that [SP] is a subspecies of S with P being a specifying term, and considering it a species that is specified in some other way, though it contains the same objects. Our proposal at the end of this section attempts to give [SP] a precise meaning.
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LXL, Y(S a S) trivializes modal logic.64 In Rescher’s axiomatization, this is obtained by applying (2) to the premiss Y(S a S), yielding the trivializing judgement Y([SP] a P) mentioned above.65 From this point of view, Rescher’s axiomatization of modal syllogistics using bracket terms is only formally, but not semantically, significant. However, there is a way out of this in keeping with the essentialist interpretation that guides Rescher’s formalization, though it means sacrificing certain parts of Aristotelian modal syllogistics. We interpret „every S is necessarily P“ not as the de dicto statement „it is necessary that every S is P“ (Y(S a P), in modern terminology Y∀x(Sx ´ Px)), but as the genuinely essentialist de re statement „every S has P as a necessary (= essential) property“ (S a YP, in modern terminology ∀x(Sx ´ YPx)). Then it is obvious that S a YS is not universally valid, as not every S that we pick in the actual world need be an S in every other possible world. The bracket term [SP] now denotes a rigid concept66 which in the actual world has the extension of (S ∩P). Then every object which, in the actual world, has the property [SP] (and thus the properties S and P) has the very same property [SP] (but not always the properties S or P) in every other possible world. Aristotle’s basic metaphysical claim expressed in axiom (1) would then be that whenever S a P holds in the actual world, there is some natural property [SP], which every S (picked in the actual world) has in the actual as well as in every other world. Axiom (2) is validated likewise: If every S (picked in the actual world) has the property P in all possible worlds (i.e., S a YP holds true), then every [QS] (picked in the actual world), as being an S in the actual world, has the property P in all possible worlds.67 Corre-
64 As has often been stated, Aristotle is silent about that result, although he may have been aware of it. See McCall 1963, 50. 65 As a potential way out, the 1971 paper (Rescher & Parks 1971, footnote 2) contemplates an observation put forward by its coauthor in Parks (1972), where he argues that an identification of variables as in Y(S a S) is never considered by Aristotle. However, in the end, Rescher & Parks (1971, footnote 7) prefer accepting the invalidity of Y(S a S). This is also correct from the perspective of our reconstruction below. Changing the substitution rule appears ad hoc without systematic warrant. 66 Rigid in the sense that its extension is the same in all possible worlds. For simplicity, we assume the domain of objects to be constant throughout possible worlds. 67 This is now a direct semantic justification of axiom (2). Rescher’s justification in the 2005 paper, which relies on the validity of the assertoric counterpart of (2), is no longer valid under the essentialist reading of universal apodictic judgements. – The idea of interpreting apodictic judgements as de re statements is not new. Its modern history goes back to Becker (1933, see also Nortmann 1996). The problems which apodictic judgements pose to the conversion laws (see below) were a central point in medieval discussions of modal syllogistics (Lagerlund 2000).
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spondingly, the validity of barbara LXL and the invalidity of barbara XLL result naturally. Obviously, this view invalidates all parts of Aristotelian modal syllogistics that rest on conversion laws, as S i YP does no longer imply P i YS. However, these parts of modal syllogistics can more easily be discarded68 than Aristotle’s general metaphysical views, whose intimate relation to logic is pointed out by Rescher. Converting the title of a book by Michael Dummett69, we may speak of the metaphysical basis of logic, which is evident in Aristotle’s modal syllogistics.
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68 Namely by attributing them to a lack of distinction between de re and de dicto modalities. 69 Dummett 1991.
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Die Idee der wissenschaftlichen Rationalität
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13. Griechische Bausteine der neuzeitlichen Rationalität 13.1 Die Idee der wissenschaftlichen Rationalität Daß auch die neuzeitliche Rationalität mit griechischen Steinen baut, wird niemand bestreiten. Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte lehren, daß Vernunft und wissenschaftliche Rationalität im europäischen, heute universal gewordenen Sinne ihren Anfang mit griechischen Denkern und in griechischen Schulen nahmen. Strittig scheint allenfalls zu sein, inwieweit es sich bei Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte um eine Fortschrittsgeschichte handelt und wie weit, auf dem Hintergrund einer solchen Fortschrittsgeschichte, der Abstand zu den griechischen Anfängen systematisch gesehen geworden ist. Anerkennung (einer gemeinsamen Geschichte) und Distanz (zu den Anfängen dieser Geschichte) bestimmen damit in Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte das Verhältnis zur griechischen Rationalität. Distanz überwiegt. Das gilt nicht nur aus einer systematischen, sondern auch aus einer historischen Perspektive. Anerkennung, indem auch sie in Entwicklungen denkt, verleiht Anfängen stets den Charakter von Unfertigem, Überholtem, heute Irrelevantem, Musealem. Anfänge werden in historischer Betrachtung beschrieben, analysiert, vergegenwärtigt, eben das aber in der Distanz dessen, der längst ganz woanders ist, der anders denkt und anders forscht. Eine Geschichte wird um ihre Anfänge ergänzt. Es ist bisweilen schön, bei Anfängen in erinnernder und forschender Anstrengung zu verweilen – nicht nur die historischen Wissenschaften besitzen, auch die Philosophie besitzt in dieser Hinsicht ausgeprägte Neigungen –, allein, man scheint hier nur zu lernen, was man schon (besser) weiß. Wer so denkt, irrt sich gelegentlich. Das ist auch in Rationalitätsdingen der Fall. Wir haben zwar Methoden, Theorien, Anwendungen, die den griechischen weit überlegen sind, aber paradoxerweise wissen wir noch immer nicht, worin zumal wissenschaftliche Rationalität genauer besteht. Diese wird zwar in Rationalitätsnormen wie Intersubjektivität, Kontrollierbarkeit, begrifflicher Klarheit, Widerspruchsfreiheit usw. konsenshaft bestimmt, doch definieren derartige Normen auch andere Praxen (nicht nur Lehrbücher der Physik, auch gute Kochbücher erfüllen sie) und besteht bereits Unklarheit darüber, wie weit, auch bei wohldefinierten wissenschaftlichen Theorien und Forschungsstrategien, wissenschaftliche Rationalität reicht. Dafür gibt es ein seltsames Indiz: die Rede von Rationalitätsmodellen. Mit ihr wird Vielheit suggeriert, wo man Einheit erwartet. Offenbar ist eine derartige Einheit, die einmal die Entwicklung der europäischen Idee von Philosophie und Wissenschaft bestimmte, problematisch geworden.
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Modelle sind theoretische Einfälle, dazu dienend, mit dem Anspruch auf Vereinfachung (allzu komplexer Sachverhalte) und Veranschaulichung (abstrakter Strukturen) über etwas zu befinden, das man, zumindest in Form eines unmittelbaren Zugangs, verloren hat. Eben dies scheint beim Begriff der wissenschaftlichen Rationalität der Fall zu sein. Man unterscheidet heute in der Wissenschaftstheorie im wesentlichen drei Rationalitätsmodelle: ein fallibilistisches, ein historistisches und ein strukturalistisches Modell.1 Nach dem fallibilistischen Rationalitätsmodell, vor allem in K. R. Poppers Logik der Forschung ausgearbeitet2, orientiert sich der Begriff der wissenschaftlichen Rationalität nicht mehr, wie dies etwa noch im Logischen Empirismus der Fall war, am Aufbau von Theorien, sondern an Verfahren ihrer Kritik. An die Stelle einer Rationalität von Wissenschafts- und Sprachkonstruktionen tritt wegen der betonten Asymmetrie von Verifikation und Falsifikation die Rationalität von Prüfungsmechanismen; an die Stelle von begründeten Theorien treten bewährte Theorien (‚begründet‘ ist diesem Modell entsprechend nicht mehr eine mögliche Eigenschaft von Theorien, sondern nur noch von Feststellungen der Art ‚eine Theorie T ist mit dem Grad x bewährt‘). Gleichzeitig werden wissenschaftliche Rationalitätsnormen konventionalistisch als Regeln in einem ‚Spiel Wissenschaft‘3 gedeutet. Rationalität wird zur Sache von Vereinbarungen und der Kraft falsifizierender Argumente. Immerhin wird im fallibilistischen Rationalitätsmodell den die Rationalität einer wissenschaftlichen Praxis definierenden Regeln ein unabhängiger Status zugesprochen. Das ist im historistischen Rationalitätsmodell, wie es etwa Th. S. Kuhn vertritt4, anders. Nach diesem Modell kann eine Beurteilung von Geltungsansprüchen wissenschaftlicher Theorien allein auf der Basis faktischer theoretischer Entwicklungen erfolgen. Dies gilt auch für die Rationalitätsstandards, denen wissenschaftliche Theorien folgen; eine transparadigmatische Rationalität gibt es nicht. An die Stelle der Standards einer Begründungsrationalität, die einmal die Beurteilung von Theorien bestimmte, und einer Bewährungsrationalität,
1 Nähere Darstellung in: J. Mittelstraß, Rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte, in: P. Janich (Ed.), Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, München 1981, 89–111, 137–148; ferner J. Mittelstraß, Forschung, Begründung, Rekonstruktion. Wege aus dem Begründungsstreit, in: H. Schnädelbach (Ed.), Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt 1984, 117–140. 2 K. R. Popper, Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft, Wien 1934 (1935), Tübingen 101994. 3 K. R. Popper, Logik der Forschung, 26. 4 Th. S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962, 21970 (dt. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt 1967, 21976 [mit Postskriptum – 1969]).
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wie sie das fallibilistische Modell vorsieht, treten im Historismusmodell wissenschaftlicher Rationalität Mechanismen der (wissenschaftspolitischen) Durchsetzung und Überredung. Konsequenterweise übernehmen dabei wissenschaftshistorische und wissenschaftssoziologische Analysen Funktionen, die früher in der Ausarbeitung von Begründungsstrukturen, im fallibilistischen Modell in einer falsifikationistischen Methodologie bestanden. Noch anders das strukturalistische Modell, wie es W. Stegmüller vertritt.5 In ihm treten an die Stelle historistisch gedeuteter wissenschaftlicher Entwicklungen (im Historismusmodell wissenschaftlicher Rationalität) wissenschaftstheoretisch reflektierte Strukturen. In einer modelltheoretischen Konzeption wird rationale Veränderung durch Verfahren einer strukturellen Reduktion einer abgelösten Theorie auf eine neue Theorie erklärt. Dabei ist die Struktur einer Theorie durch einen theoretischen Strukturkern und die Klasse ihrer intendierten Anwendungen bestimmt. Im Unterschied zum Historismusmodell wissenschaftlicher Rationalität ist, ebenso wie im Fallibilismusmodell, mit der Formulierung einer transparadigmatischen Methodologie die Möglichkeit einer transparadigmatischen Rationalität gewahrt. Gemeinsam ist allen drei Modellen wissenschaftlicher Rationalität der Abschied von der Idee einer Begründungsrationalität. Das liegt einerseits an einer strikten Orientierung am Faktum Wissenschaft – charakteristisch für das Historismus- und das Strukturalismusmodell –, andererseits an einer Identifikation von Begründungsrationalität mit (dogmatischem) Fundamentalismus. Ferner lassen sich diese Modelle als Antworten auf die von H. Reichenbach getroffene Unterscheidung zwischen einem Entdeckungszusammenhang (context of discovery) und einem Begründungszusammenhang (context of justification) wissenschaftlicher Rationalität verstehen.6 Diese Unterscheidung schließt an die erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen Genesis und Geltung an und trennt die individuellen, insbesondere die sozialen und psychischen Umstände der Wissensbildung, von den kognitiven Geltungsansprüchen theoretisch geordneten Wissens. Entdeckungszusammenhänge erhalten hier einen kontingenten Status; zugleich treten Gesichtspunkte eines geordneten, methodischen Aufbaus des Wissens, also der Wissensbildung im engeren Sinne, zurück, Hegels Bild der Eule der Minerva, die ihren Flug über die Gestalten des Lebens erst mit der ein-
5 W. Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie II/2 (Theorienstrukturen und Theoriendynamik), Berlin/Heidelberg/New York 1973, im Anschluß an: J. D. Sneed, The Logical Structure of Mathematical Physics, Dordrecht 1971, 21979. 6 H. Reichenbach, Experience and Prediction. An Analysis of the Foundations and the Structure of Knowledge, Chicago 1938, Chicago/London 1966, Chicago 1970, § 1.
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brechenden Dämmerung beginnt7, drängt sich auf. Wissenschaftliche Rationalität, so scheint es, wird primär in Theorien, nicht in der Theoriebildung erfaßt. Das läßt sich auch durch die offenkundigen Schwierigkeiten einer Methodologie der Entdeckung verdeutlichen. Da gibt es die Ordentlichen und die Unordentlichen unter den Forschern. Den einen, den Ordentlichen, kommen die Einfälle nach vielen Stunden am Schreibtisch, im Labor, nach vielen zerkauten Bleistiften und vielem verbrauchten Helium, den anderen, den Unordentlichen, beim Kaffeekochen und auf dem Wege nach Hause. Die ‚Entdeckungsphase‘ des Wissens scheint ohnehin etwas zu sein, das man entweder zum Unbegreiflichen zu stilisieren geneigt ist, oder das man möglichst schnell wieder vergessen will. Die nächste Phase ist wichtig: die des Ordnens, Einpassens, Explizierens, Erklärens, Beweisens. Damit fällt aber im Grunde Forschung im engeren Sinne, Forschung, die noch am Anfang steht oder noch auf dem Wege in die Lehrbuchbestände einer wissenschaftlichen Disziplin ist, aus den sich auf die Reichenbachsche Unterscheidung stützenden Rationalitätsmodellen nicht zufällig heraus. Es gibt heute Vorschläge, die den Begriff der wissenschaftlichen Rationalität nicht mehr, wie in den genannten Rationalitätsmodellen, auf die Theorieform des wissenschaftlichen Wissens beschränken, sondern auch dessen Forschungsform erfassen. Terminologisch geschieht dies im Rahmen einer Unterscheidung zwischen Forschung und Darstellung. Nach K. Lorenz8 wird durch diese Unterscheidung das Problem des Zusammenhangs von Sinnbestimmung und Geltungssicherung bzw. von (konstituierender) Gegenstandskonstruktion und (prädikationsbezogener) Gegenstandsbeschreibung erfaßt. In beidem realisieren sich die konstitutiven Aspekte von Wissenschaft. Sofern dabei Wissenschaft im Aspekt der Forschung mit der Ausarbeitung von Verfahren der Sinnbestimmung prädikativer Ausdrücke und insofern mit den Weisen des Kennenlernens der Gegenstände befaßt ist, realisiert Forschung Objektkompetenz oder Objektrationalität. Sofern Wissenschaft im Aspekt der Darstellung mit der Ausarbeitung von
7 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Vorrede, in: Sämtliche Werke (Jubiläumsausgabe), I–XXVI, ed. H. Glockner, Stuttgart 1927–1939, VII, 36–37. 8 K. Lorenz, The Concept of Science. Some Remarks on the Methodological Issue ‚Construction‘ versus ‚Description‘ in the Philosophy of Science, in: P. Bieri/R. P. Horstmann/L. Krüger (Eds.), Transcendental Arguments and Science. Essays in Epistemology, Dordrecht/Boston/London 1979, 177–190; ferner K. Lorenz, Science, a Rational Enterprise? Some Remarks on the Consequences of Distinguishing Science as a Way of Presentation and Science as a Way of Research, in: R. Hilpinen (Ed.), Rationality in Science. Studies in the Foundations of Science and Ethics, Dordrecht 1980, 63–78.
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Verfahren der Geltungssicherung von Aussagen und insofern mit dem Beschreibenlehren der Gegenstände befaßt ist, realisiert Darstellung Metakompetenz oder Begründungsrationalität. Darstellung als Ausdruck von Metakompetenz hängt hier von der durch Forschung realisierten Objektkompetenz ab (zur Abwehr eines Sinnlosigkeitsverdachts gegenüber den verwendeten Sprachmitteln); sie soll nach Lorenz, gegen den hier gewählten Sprachgebrauch, gerade nicht mit Begründung identifiziert werden. In der Lorenzschen Konzeption dient diese Einschränkung dazu, Verwechslungsmöglichkeiten mit der Unterscheidung zwischen Entdeckungszusammenhang und Begründungszusammenhang auszuschließen. Dies auch insofern, als diese sich hinsichtlich der Unterscheidung zwischen induktiven und deduktiven Verfahren in beiden Aspekten auf die Geltungssicherung von Aussagen und damit wiederum allein auf die Theorieform wissenschaftlichen Wissens beziehen läßt. Sie gehörte insofern ausschließlich zu einer Theorie der (wissenschaftlichen) Metakompetenz, nicht zu einer Theorie über den Zusammenhang von Metakompetenz und (Probleme der Konstitution der Objektbereiche betreffender) Objektkompetenz. Genau dieser Zusammenhang aber ist es, in dem nun auch wieder die Einheit der wissenschaftlichen Rationalität als aspekthaft ausgedrückte Einheit von Forschungsrationalität und Darstellungsrationalität begreifbar wird. In den angeführten Rationalitätsmodellen wird dieser Umstand verwischt, insofern wissenschaftliche Rationalität im Fallibilismusmodell in der Weise einer Darstellung von Forschung (‚Logik der Forschung‘), im Historismusund Strukturalismusmodell in der Weise von Forschung über Darstellungen auftritt. In beiden Fällen ist der Darstellungsaspekt gegenüber dem Forschungsaspekt dominant. Die Unterscheidung zwischen Forschungsrationalität und Darstellungsrationalität bei gleichzeitiger Betonung ihrer aspekthaften Einheit im Begriff der wissenschaftlichen Rationalität ist den konkurrierenden Rationalitätsmodellen unter Adäquatheitgesichtspunkten überlegen. Sie ist aber auch geeignet, das methodische Wesen wissenschaftlicher Rationalität von ihren griechischen Anfängen her zu rekonstruieren. Es läßt sich nämlich zeigen, daß die geschilderte Konzeption keine Erfindung der modernen Wissenschaftstheorie ist, sondern der europäischen Entwicklung von Philosophie und Wissenschaft von Anfang an zugrundeliegt, insofern aber auch die Einheit der europäischen Idee der (wissenschaftlichen) Rationalität auszudrücken imstande ist.
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13.2 Erfahrungsform und Theorieform Wenn die Unterscheidung zwischen Wissenschaft im Aspekt der Forschung und Wissenschaft im Aspekt der Darstellung eine systematische Einsicht wiedergibt, mit der sich sowohl das methodische Wesen der wissenschaftlichen Rationalität formulieren als auch die faktische Entwicklung des wissenschaftlichen Wissens rekonstruieren läßt, dann kommt es darauf an, diese Einsicht einerseits von einem (naiven) Mythos geschichtsloser Anfänge, andererseits von einem (reflektierten) Mythos vom Gleichmacher Geschichte freizuhalten. Gemeint ist das Folgende: Die Vorstellung geschichtsloser Anfänge übersieht, daß auch Wissenschaft Teil der historischen Praxis des Menschen ist und sich insofern nicht außerhalb von Entwicklungen stellen kann. In unserem Zusammenhang bildet sich auch die Unterscheidung zwischen Forschung als Objektrationalität und Darstellung als Begründungsrationalität in Entwicklungen. Die Vorstellung vom Gleichmacher Geschichte wiederum zieht daraus die irreführende Konsequenz, daß systematisches Wissen stets von der Geltung einer Behauptung über Entwicklungen abhängig ist. Die wissenschaftskonstitutive Unterscheidung zwischen Objektrationalität und Begründungsrationalität wird damit zu einem dominanten Faktum der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte. Auf diese Unterscheidung bezogen von systematischen Einsichten reden zu wollen, wäre in dieser historistischen Alternative zur platonistischen Vorstellung geschichtsloser Anfänge nicht möglich. Der Historismus kennt nur Ansichten, keine Einsichten. Auf diese und ihre Explikation aber kommt es nun an, insofern die hier hervorgekehrten Unterscheidungen nicht nur das Faktum, sondern auch das Wesen (oder die Idee) der (wissenschaftlichen) Rationalität wiedergeben sollen. Die griechische Vorstellung von Wissenschaft als Forschung bzw. Objektrationalität und Darstellung bzw. Begründungsrationalität bildet sich begrifflich in der Platonischen und Aristotelischen Philosophie. In Aristotelischer Terminologie ist Forschung Teil der Erfahrung (ãmpeir›a), sofern diese nämlich als ein Kennenlernen, als Feststellung und Bestimmung von Gegenständen, aufgefaßt wird. Aristoteles drückt das in der Wendung aus, daß Erfahrung ein ‚Wissen des Besonderen‘ sei, nicht im (neuzeitlichen) Sinne eines bereits unter wissenschaftlichen Bedingungen organisierten Protokolls, sondern in Form eines lebensweltlichen Vertrautseins mit einfachen Sachzusammenhängen, als Fähigkeit sicherer Orientierungen und als das Beherrschen gemeinsamer Unterscheidungsbestände.9 Erfahrung in diesem Sinne stellt ein elementares Wissen dar, auf das, nunmehr als
9 Vgl. Met. A1.980b28ff.; an. post. B19.100a3ff..
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eine ‚Wahrnehmung des Allgemeinen‘ charakterisiert, auch das theoretische Wissen (als ‚Wissen des Allgemeinen‘) bezogen bleibt. Das ist bei Aristoteles übrigens durchaus methodisch gemeint. Auch für die Bildung abstrakter Gegenstände (etwa die Gegenstände der Mathematik) und für theoretische Satzzusammenhänge (etwa die Sätze der Physik) ist nach Aristoteles schrittweise ein Konstitutionszusammenhang zu bilden, der stets konkrete Unterscheidungen (‚in der Sinnlichkeit‘, wie Kant sagen würde) zur Basis hat. Von dem Vorliegen eines derartigen Konstitutionszusammenhangs soll der wissenschaftliche (oder philosophische) Wert einer Begriffsbildung oder einer Aussage methodisch abhängen. Damit wird über ein derartiges Erfahrungspostulat ein genetischer Zusammenhang zwischen Begriffen und Sätzen einer Theorie auf der einen Seite und Begriffen und Sätzen der alltäglichen Erfahrung auf der anderen Seite hergestellt, der deren Übereinstimmung auf eine dann analytische Weise sichert. Insofern durch dieses Erfahrungspostulat Begriffe und Sätze, für die ein derartiger Zusammenhang nicht herstellbar ist, als nicht-wissenschaftliche Begriffe und Sätze ausgeschlossen werden können, ist der Aristotelische Begriff der Erfahrung sowohl wissenschaftskonstitutiv als auch wissenschaftskritisch. Erfahrung stellt aber auch, sofern diese nicht nur als ein ‚Wissen des Besonderen‘, sondern auch als eine ‚Wahrnehmung des Allgemeinen‘ beschreibbar ist, nach Aristoteles ein begriffliches, d.h. in stabilen Unterscheidungen begründetes, Wissen dar. Und was hier für Erfahrung als Wissensform gilt, soll dieser Konzeption nach eben auch für die Gegenstände der Erfahrung gelten, d.h., nach Aristoteles besitzt nicht nur die Wissensform der Erfahrung, sondern auch die Welt der Phänomene, als Gegenstände der Erfahrung, eine begriffliche Struktur. Als Beispiel führt Aristoteles einmal die Astronomie an: „Was die Angabe und Bereitstellung der Prinzipien der Wissenschaften betrifft, so ist das Sache der Erfahrung. Die Prinzipien der Astronomie hat z.B. die astronomische Erfahrung anzugeben. Denn nach adäquater Feststellung der Phänomene (dem ‚Setzen‘ der Phänomene, tiuwnai t@ fainfimena) sind auf Grund derselben die astronomischen Beweise ($strologikaÏ $pode›jei«) gefunden worden. Ebenso verhält es sich mit jeder anderen Kunst und Wissenschaft.“10 Forschung, als ‚Feststellung (‚Setzen‘) der Gegenstände‘ bezeichnet und explizit von einer wissenschaftlichen Beweisführung abgesetzt, die in der hier gewählten Terminologie den Darstellungsaspekt von Wissenschaft betrifft, konstituiert damit nach Aristoteles den Objektbereich der wissenschaftlichen Wissensbildung bzw., wiederum in der gewählten Terminologie, wissenschaftliche Rationalität in der Weise von Objektrationalität. Das gilt sowohl für einen ‚kon-
10 An. pr. A30.46a17–22; vgl. Eth. Nic. H1.1145b2–3.
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struktiven‘ Aspekt (etwa im Hinblick auf mathematische Gegenstände), als auch für einen ‚entdeckenden‘ Aspekt (etwa im Hinblick auf biologische Gegenstände). Terminologischer Ausdruck dafür ist Åstor›a, d.h. ‚Kenntnis dessen, was der Fall ist‘. In diesem Sinne spricht Aristoteles z.B. nicht nur von Kenntnissen über die Lebewesen (aÅ perÏ t@ zˆa Åstor›ai)11, sondern auch von der Kenntnis der Natur (Ł perÏ f÷sev« Åstor›a)12 und der Kenntnis der Seele (Ł perÏ tá« fyxá« Åstor›a)13. Entsprechend werden in einer nun auch die Platonische Terminologie einbeziehenden Weise Gegenstände im Modus der Entdeckung als prˇgmata bzw. (sofern wahrnehmungsbezogen) als aåsuhtˇ bezeichnet, Gegenstände im Modus der Konstruktion als ònta bzw. (in Aristotelischer Terminologie) als öndoja, d.h. als übliche Vorstellungen von einem Gegenstand, oder legfimena, d.h. als etwas begrifflich Strukturiertes und sprachlich stets schon Vergegenwärtigtes. Das gilt auch von den Formen der Erklärung und der Beweisführung, also von Wissenschaft im Aspekt der Darstellung. Im Unterschied zu Feststellung und Bestimmung, d.h. der Konstitution der Gegenstände, dienen Erklärung und Beweisführung dem Reden über Gegenstände, d.h. der Geltungssicherung gegenstandsbezogener Aussagen. Während die griechische Formel für eine Konstitution der Gegenstände tiuwnai t@ fainfimena lautet, lautet die Formel für diesen geltungssichernden Aspekt s”zein t@ fainfimena (‚Rettung der Phänomene‘). Auch hier ist das Exempel wieder die Astronomie; die Formel bezeichnet ein astronomisches Forschungsprogramm. Es wird von Simplikios in seinem Kommentar zu „De caelo“ (fälschlich als Platonisches Programm) überliefert, gestützt auf Informationen aus Eudems Astronomiegeschichte, die über Sosigenes, den Lehrer von Alexander von Aphrodisias, zu Simplikios gelangten.14 Die Phänomene, d.h. hier die Bahnbewegungen der Planeten, gelten als ‚gerettet‘, wenn eine Rückführung der augenscheinlichen Unregelmäßigkeiten der Planetenbewegungen auf gleichförmige und kreisförmige Bewegungen gelingt.15 Gleichförmigkeit, d.h. konstante Winkelgeschwindigkeit, und Kreisförmigkeit sind hier die Grundprinzipien einer sich gegenüber der empirisch orientierten, nämlich
11 12 13 14
De gen. an. A3.716b31, 4.717a33–34, 20.728b13–14. De cael. G1.298b2. De an. A1.402a3–4. Simplicius, In Aristotelis de Caelo commentaria, ed. J. L. Heiberg, Berlin 1894 (Comm. in Arist. Graeca VII), 488,16–24. Vgl. P. Duhem, SVZEIN TA FAINOMENA. Essai sur la notion de théorie physique de Platon à Galilée, Paris 1908; ferner J. Mittelstraß, Die Rettung der Phänomene. Ursprung und Geschichte eines antiken Forschungsprinzips, Berlin 1962, 140–173. 15 Simplicius, In Aristotelis Physicorum libros quattuor priores commentaria, I–II, ed. H. Diels, Berlin 1882/1895 (Comm. in Arist. Graeca IX–X), 292,17–18.
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allein mit protokollierten Beobachtungen arbeitenden babylonischen Astronomie in Form eines axiomatischen Verfahrens darstellenden griechischen Astronomie. In ihrer Anwendung führen sie, zum ersten Mal bei Eudoxos, zur Ausarbeitung qualitativer kinematischer Modelle der Planetenbewegungen und damit, noch vor der Entwicklung der Archimedischen Statik, zu einer Form der Theoriebildung, mit der es gelingt, in einem Teil der Körperwelt mit einer mathematischen Darstellung exakter Regelmäßigkeiten wissenschaftlich Fuß zu fassen. Daß das mit der Formel s”zein t@ fainfimena bezeichnete Programm zunächst nur ein astronomisches Forschungsprogramm darstellt und hier auch, zur Vermeidung von Konflikten mit der Aristotelischen Physik, auf kinematische (kräftefreie) Modelle beschränkt wird, ist in diesem Zusammenhang, der Explikation der griechischen Idee einer (wissenschaftlichen) Begründungsrationalität, ohne Belang. Entscheidend ist, daß durch dieses Programm neben der Erfahrungsform auch die Theorieform der (wissenschaftlichen) Rationalität festgelegt wird. Diese besteht entsprechend dem zuvor über Wissenschaft im Aspekt der Darstellung Gesagten in Konstruktionen, die beschreiben, wie die als fainfimena konstituierten Gegenstände sind. Als theoretisches Wissen (ãpist‹mh bzw. uevr›a) besitzt eine derartige Beschreibung ebenfalls eine begriffliche, darüber hinaus aber auch eine Begründungsstruktur. Sie ist (nach Aristoteles) deduktiv und, bezogen auf die Sicherung von Anfängen, epagogisch.16 Ausgearbeitet wird diese Struktur in den methodisch einander zugeordneten Methoden der Analysis und Synthesis, wie sie in der Antike insbesondere im Rahmen mathematischer Konstruktions- und Beweisverfahren Verwendung finden.17 Diese Verfahren werden von Aristoteles in einen allgemeinen propositionalen Kontext gebracht. Gemeint ist die Rückführung von für wahr gehaltenen Sätzen auf ihre Voraussetzungen (Prinzipien), aus denen diese Sätze dann synthetischdeduktiv hergeleitet und damit im eigentlichen Sinne bewiesen werden.18 Analysis und Synthesis stellen damit (von Pappos auch zusammengefaßt als ‚Analysis‘ bezeichnet) die besondere Theorieform der (wissenschaftlichen) Rationalität in ihrer griechischen Konzeption dar.
16 Vgl. an. post. A1.71a6, A18.81a38–81b1, B19.100b3–5; an. pr. B23.68b13–14. Dazu K. v. Fritz, Die ãpagvg‹ bei Aristoteles, München 1964 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, philos.-hist. Kl. 1964, H. 3). 17 Erste explizite methodologische Darstellung im Sinne ihrer geometrisch-konstruktiven Auffassung bei Pappos von Alexandreia (Collectionis quae supersunt, I–III, ed. F. Hultsch, Berlin 1876–1878 [repr. Amsterdam 1965], II, 634ff.). 18 Vgl. an. post. A12.78a6ff..
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Es sind die in der Platonischen und Aristotelischen Philosophie ausgearbeitete Erfahrungsform und die Theorieform der (wissenschaftlichen) Rationalität, die im Sinne der Unterscheidung von Wissenschaft im Aspekt der Forschung und Wissenschaft im Aspekt der Darstellung die systematische Einheit von Objektrationalität und Begründungsrationalität im griechischen Denken begründen. Die Formeln tiuwnai t@ fainfimena und s”zein t@ fainfimena bringen diese Unterscheidungen und die mit ihnen intendierte Einheit der (wissenschaftlichen) Rationalität auf den Begriff. Was auf dem Hintergrund der modernen Wissenschaftstheorie wie eine späte Einsicht anmutet, ist auch eine frühe Einsicht, allerdings eine, die auf den langen Wegen von Philosophie und Wissenschaft allmählich dunkel geworden war.
13.3 Das griechische Wesen neuzeitlicher Rationalität Zunächst ist die Geschichte von Philosophie und Wissenschaft die Geschichte nicht des Verlustes, sondern der Anerkennung einer griechischen Einsicht, nämlich der systematischen Einheit von Forschungsrationalität oder Objektrationalität und Darstellungsrationalität oder Begründungsrationalität bzw. dessen, was hier die Erfahrungsform und die Theorieform der (wissenschaftlichen) Rationalität genannt wurde. Was sich (erst) innerhalb der neuzeitlichen Entwicklung ändert, ist der Erfahrungsbegriff selbst. Das Mittelalter hält nicht nur an der griechischen Unterscheidung zwischen einer Erfahrungs- und einer Theorieform der (wissenschaftlichen) Rationalität, sondern auch am Aristotelischen Erfahrungsbegriff fest. Das gilt selbst für ‚experimentierende‘ Naturphilosophen wie Robert Grosseteste, Petrus Peregrinus und Roger Bacon; zwischen ‚experientia‘ bzw. ‚scientia experientiae‘ und ‚experimentum‘ bzw. ‚scientia experimentalis‘ wird, auch bei methodischer Auszeichnung einer ‚via experientiae‘ in der Naturforschung, erkenntnistheoretisch nicht unterschieden.19 Erst die neuzeitliche Methodendiskussion bildet im Gegensatz zur Aristotelischen und zur scholastischen Konzeption der Erfahrungsform der Naturforschung einen induktiven Begriff der Erfahrung (bei Francis Bacon) und einen konstruktiven Begriff der Erfahrung (bei Galilei) aus, wobei sie ihr neues Methodenideal an einer Theorie der Beobachtung, zur Konstitution der Basis induktiver Argumente, und an einer Theorie des Experiments, d.h. einer Erfahrung, die sich instrumental bzw. konstruktiv erzwingen läßt, orientiert. Damit läuft der
19 Vgl. Thomas von Aquin, S. th. I qu. 58 art. 3 ob. 3, I qu. 117 art. 1c.
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methodologische Unterschied zwischen einer ‚neuen Wissenschaft‘ (der neuzeitlichen Physik) und der Aristotelischen Naturphilosophie über einen neuen Erfahrungsbegriff. Als Bezeichnung bürgert sich im 17. Jahrhundert der Ausdruck ‚Experimentalphilosophie‘ ein.20 Die weitere Entwicklung ist dann einerseits durch Newtons methodologisches Programm einer empirischen Fundierung aller wissenschaftlichen Sätze21 und damit erkenntnistheoretisch durch den klassischen Empirismus bestimmt, andererseits durch die sich gegen die erkenntnistheoretische Dominanz des Empirismus richtende Differenzierung zwischen empirischen und nicht-empirischen Formen des Wissens. So ordnet z.B. Leibniz einer philosophia rationalis die Logik und die Mechanik, einer philosophia experimentalis die Chemie und die Anatomie zu. Im gleichen Sinne setzt Kant ‚das Rationale dem Empirischen‘ entgegen22, unterscheidet dabei jedoch zwischen ‚Erkenntnis aus reiner Vernunft‘ und ‚Vernunfterkenntnis aus empirischen Prinzipien‘23, d.h. Experimentalphilosophie oder ‚empirischer Philosophie‘24. Physik als empirische Philosophie ist damit in Kants Konzeption rationale Erkenntnis (cognito ex principiis), nur eben Erkenntnis aus ‚empirischen‘ Prinzipien. Der ‚empirischen Philosophie‘ als Naturwissenschaft steht im Rahmen dieser begrifflichen Differenzierung derjenige Teil der Naturlehre gegenüber, der nicht Erkenntnis aus (empirischen) Prinzipien, sondern Erkenntnis aus Daten (cognitio ex datis) ist. Dieser Teil besteht nach Kant aus einer Naturbeschreibung, d.h. einer systematischen Klassifikation von Fakten etwa dem Vorgehen von Botanik und Zoologie entsprechend, und einer Naturgeschichte, d.h. einem System von Fakten im Rahmen einer Geschichte der physischen Welt und des Lebens. Empirisch im weiteren Sinne ist dann etwa die Physik, weil sie, als Naturwissenschaft, ‚aus empiri-
20 Vgl. R. Boyle, Some Considerations Touching the Usefulnesse of Experimental Naturall Philosophy, I–II, Oxford 1663/1671, I 21664, in: R. Boyle, The Works of the Honourable Robert Boyle, I–V, ed. T. Birch, London 1744, I–VI, London 21772 (repr. Hildesheim 1965–1966), II, 5ff.. Zur typisierenden Unterscheidung zwischen einem Aristotelischen und einem Galileischen Erfahrungsbegriff vgl. J. Mittelstraß, Metaphysik der Natur in der Methodologie der Naturwissenschaften. Zur Rolle phänomenaler (Aristotelischer) und instrumentaler (Galileischer) Erfahrungsbegriffe in der Physik, in: K. Hübner/A. Menne (Eds.), Natur und Geschichte (X. Deutscher Kongreß für Philosophie, Kiel 8.–12. Oktober 1972), Hamburg 1973, 63–87. 21 „Experimental philosophy proceeds only upon Phenomena & deduces general Propositions from them only by Induction“, Brief Newtons an R. Cotes vom 21. März 1713, in: J. Edleston (Ed.), Correspondence of Sir Isaac Newton and Professor Cotes, London 1850, 156. 22 Kritik der reinen Vernunft B 863. 23 Kritik der reinen Vernunft B 868. 24 Ebd.
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schen Prinzipien‘ erkennt und weil sie, als historische Naturlehre, ‚aus Daten‘ erkennt.25 Es ist klar, daß Kant hier mit den Begriffen der Naturbeschreibung und der Naturgeschichte denjenigen Aspekt von Wissenschaft und wissenschaftlicher Rationalität zu erfassen sucht, der zuvor, im Hinblick auf seine Aristotelische Konstitution, als die Erfahrungsform des (wissenschaftlichen) Wissens und der (wissenschaftlichen) Rationalität bezeichnet wurde. Naturbeschreibung und Naturgeschichte, das ist Naturforschung im Sinne des griechischen Åstor›a-Begriffs, wie ihn etwa in klassischer Weise die Naturgeschichte von Plinius d.Ä. realisiert26. Allerdings gewinnen in den Unterscheidungen Kants zeitliche Ordnungen und damit entwicklungsgeschichtliche Gesichtspunkte an Bedeutung. So versteht Kant unter Naturgeschichte, die von ihm auch als ‚Archäologie‘ der Natur27 und als ‚Physiogonie‘28 bezeichnet wird, eine ‚Naturforschung des Ursprungs‘, die ‚in Analogie‘ zu den Gesetzmäßigkeiten der Natur die ‚Geschichte‘ der Natur, z.B. unseres Planetensystems29, erklärt.30 Im Unterschied zur ‚Theorie der Natur‘ bzw. zur ‚theoretischen Naturwissenschaft‘31, die ihren Gegenstand ‚nach Prinzipien a priori‘ und ‚nach Erfahrungsgesetzen‘ behandelt32, und zur (klassifizierenden) Naturbeschreibung oder ‚Physiographie‘33 ist Gegenstand der Naturgeschichte eine systematische Darstellung der (Entwicklungs-)Geschichte des Kosmos, des Sonnensystems, der Erde und des Lebens. Naturgeschichte und Naturbeschreibung bilden in diesem terminologischen Zusammenhang gegenüber der Naturwissenschaft im definierten Sinne eine ‚historische Naturlehre‘, die „nichts als systematisch geordnete Facta der Naturdinge enthält“34. Kants Unterscheidungen erinnern damit unmittelbar an die griechische Unterscheidung zwischen Åstor›a und uevr›a, Erfahrungsform und Theorieform des Wissens. Sie geben aber im Kern auch noch einmal das dem neuzeitlichen Begriff der Experimentalphilosophie zugrundeliegende (noch immer in wesentli-
25 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), in: I. Kant, Gesammelte Schriften, ed. Königlich Preußische (heute: Berlin-Brandenburgische) Akademie der Wissenschaften (zu Berlin), Berlin 1902ff. (im Folgenden zitiert als: Akad.-Ausg.), IV, 467–468. 26 Naturalis historiae libri XXXVII, 77 n. Chr.. 27 Kritik der Urteilskraft § 80, Akad.-Ausg. V, 419. 28 Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie (1788), Akad.-Ausg. VIII, 163 Anm.. 29 Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (…), Königsberg/Leipzig 1755. 30 Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, Akad.-Ausg. VIII, 161ff.. 31 Kritik der Urteilskraft § 79, Akad.-Ausg. V, 417. 32 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), Vorrede, Akad.-Ausg. IV, 468. 33 Über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie, Akad.-Ausg. VIII, 163 Anm.. 34 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Akad.-Ausg. IV, 468.
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chen Zügen Aristotelische) Wissenschafts- und Rationalitätsverständnis wieder, insofern beide innerhalb der neuzeitlichen Entwicklung dominanten Traditionen, nämlich die Cartesische und die Newtonsche Lehrbuchtradition, zwischen Historia (bzw. Geschichte, History, Histoire) und Principia (bzw. Philosophia) unterscheiden. Historia-Literatur35 entspricht der in der griechischen Erkenntnisund Wissenschaftstheorie explizierten Erfahrungsform des Wissens, bei Kant den Begriffen der Naturgeschichte und der Naturbeschreibung, Principia-Literatur36 der im gleichen historischen und systematischen Zusammenhang explizierten Theorieform des Wissens, bei Kant dem Begriff der empirischen Philosophie (im engeren Sinne). Daß beide Momente, im Begriff der Experimentalphilosophie unter methodologischen Gesichtspunkten zusammengefaßt, innerhalb der neuzeitlichen Entwicklung als neue Formen der Naturphilosophie von der aristotelischscholastischen Naturphilosophie abgegrenzt werden, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier im Grunde eine Tradition nicht abgebrochen, sondern, wenn auch unter veränderten Gesichtspunkten, die insbesondere eine neue Organisation der Erfahrungsform betreffen, fortgesetzt wird. Darüber hinaus dokumentiert die Beibehaltung der Bezeichnung ‚Philosophie‘ bzw. ‚Naturphilosophie‘ in den Titeln naturwissenschaftlicher Bücher ebenso wie die Bezeichnung ‚Experimentalphilosophie‘ den Umstand, daß eine entsprechende Ausgrenzung des naturwissenschaftlichen Wissens aus dem bislang als Einheit rationaler Orientierungsbemühungen aufgefaßten philosophischen Wissen (noch) nicht erfolgt; naturwissenschaftliches Wissen bleibt, zumindest terminologisch, bis ins 19. Jahrhundert hinein empirische Philosophie.37 Der neuzeitlichen Ausarbeitung der Erfahrungsform des Wissens bzw. der (wissenschaftlichen) Rationalität im Rahmen von Naturgeschichte und Naturbe-
35 Beispiele: R. Boyle, The Experimental History of Colours, London 1663; J. Priestley, The History and Present State of Electricity. With Original Experiments, London 1767, 21769, I–II, 31775; G.-L. L. Buffon, Histoire naturelle (…), I–XLIV, Paris 1749–1804 (dt. Allgemeine Historie der Natur […], I–XVI, ed. A. v. Haller, Hamburg/Leipzig 1750–1774); J.-B. de Lamarck, Histoire naturelle des animaux sans vertèbres, I–VII, Paris 1815–1822. 36 Beispiele: R. Descartes, Principia philosophiae, Amsterdam 1644; I. Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, London 1687. 37 Beispiele: N. Cabeus, Philosophia magnetica (…), Köln 1629; C. Linné, Philosophia botanica (…), Stockholm/Amsterdam 1751; E. Darwin, Phytologia or the Philosophy of Agriculture and Gardening, Dublin/London 1800; J. Dalton, A New System of Chemical Philosophy, I–II, London 1808/1827; J.-B. de Lamarck, Philosophie zoologique (…), I–II, Paris 1809 (dt. Zoologische Philosophie, Leipzig 1873). Zur Begriffsgeschichte von Åstor›a und filosof›a in der Geschichte der wissenschaftstheoretischen Organisation des naturwissenschaftlichen Wissens vgl. F. Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus, Frankfurt 1968, 61–86.
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schreibung entspricht eine Ausarbeitung der Theorieform des Wissens bzw. der (wissenschaftlichen) Rationalität im Rahmen einer Methodologie von Analysis und Synthesis. Zunächst hatte, nach ihrer methodologischen Einordnung bei den griechischen Aristoteleskommentatoren38 und ihrer Verwendung in der Medizintheorie Galens, das lateinische Mittelalter die Unterscheidung zwischen einer analytischen Methode (resolutio) und einer synthetischen Methode (compositio) im Sinne zweier Wege zur Wahrheit, der via resolutionis und der via compositionis, übernommen, wobei der analytische Weg vom Ganzen zu den Teilen erst im synthetischen Weg von den Teilen zum Ganzen seine Vollendung finden sollte. Der Sinn dieser Unterscheidung bleibt dabei der ursprünglichen Aristotelischen Konzeption entsprechend ein beweistheoretischer bzw. begründungstheoretischer. Er definiert, was hier Begründungsrationalität genannt wurde. Das ändert sich erst im so genannten Paduaner Aristotelismus. Dort wird unter Rückgriff auf scholastische Traditionen und ältere Galen-Kommentare die resolutio mit einer demonstratio quia (dem Beweis, daß [etwas so ist, wie es ist]) und die compositio mit einer demonstratio propter quid (dem Beweis, warum [etwas so ist, wie es ist]) identifiziert. Diese Unterscheidung wird sodann auf dem Hintergrund einer gewandelten, nunmehr durch induktive und konstruktive (experimentelle) Elemente bestimmten Erfahrungsform des Wissens bzw. der (wissenschaftlichen) Rationalität zum Kernstück einer Methodologie der empirischen Wissenschaften. Erstes bedeutendes Beispiel für diese Entwicklung ist die Galileische Physik. Bei Galilei dient ein metodo risolutivo der Gewinnung von Sätzen zur Erklärung beobachteter Phänomene, während ein metodo compositivo mit Hilfe analytisch gewonnener Sätze zur Formulierung von Hypothesen führt, die dann in erneuter Anwendung der analytischen Methode exhauriert werden sollen.39 Newton wiederum verschiebt diese noch immer begründungstheoretisch begreifbare Unterscheidung in Richtung auf eine Methodologie von Ursache und Wirkung. Als Analysis tritt nun die Angabe von Ursachen für beobachtete Wirkungen auf, während der Synthesis der Schluß von beobachteten Ursachen auf Wirkungen zu-
38 Vgl. Alexander von Aphrodisias, In Aristotelis Analyticorum priorum librum I commentaria, ed. M. Wallies, Berlin 1883 (Comm. in Arist. Graeca II/1), 340,5ff.; Ammonius, In Porphyrii Isagogen sive V voces, ed. A. Busse, Berlin 1891 (Comm. in Arist. Graeca IV/3), 34,15ff.; ders., In Aristotelis Analyticorum priorum librum I commentarium, ed. M. Wallies, Berlin 1899 (Comm. in Arist. Graeca IV/6), 7,26ff.. 39 Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo (1632) I, Le Opere di Galileo Galilei, Edizione Nazionale, I–XX, Florenz 1890–1909, VII, 75; Brief vom 5. Juni 1637 an P. Carcavy, a.a.O., XVII, 88–93.
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fällt.40 Damit unterliegt aber im Unterschied zur Galileischen Konzeption, in deren Rahmen sich die analytische Methode noch als eine apriorische Klärung von Grundbegriffen und Grundsätzen auffassen läßt, bei Newton jetzt auch die Analyse einer empirischen Kontrolle, d.h., die analytische Methode wird, ungeachtet des Umstandes, daß sich der logische Aufbau der Newtonschen „Principia“41 am geometrisch-konstruktiven Ideal der Euklidischen „Elemente“ und damit am Ideal der synthetischen Methode orientiert, Bestandteil eines insgesamt gesehen empirischen Verfahrens und begründet damit in ihrer Newtonschen Konzeption den Empirismus in den modernen Naturwissenschaften. Es ist dieser Empirismus, in dem mit einem gewandelten Verständnis von analytischer und synthetischer Methode bzw. deren Anwendung auch die Unterscheidung zwischen der Erfahrungsform und der Theorieform des Wissens ihre systematischen Konturen verliert. Newtons ‚empiristische‘ Orientierungen setzen sich gegenüber Kants Unterscheidungen durch. Das aber bedeutet, daß sich die Vorstellung einer Einheit der (wissenschaftlichen) Rationalität nicht mehr so sehr auf genaue Unterscheidungen, hier zwischen Wissenschaft im Aspekt der Forschung bzw. Forschungsrationalität auf der einen Seite und Wissenschaft im Aspekt der Darstellung bzw. Darstellungsrationalität auf der anderen Seite, stützt, als vielmehr auf das Verwischen solcher Unterscheidungen. Am (vorläufigen) Ende dieser Entwicklung stehen auf dem Hintergrund der wissenschaftstheoretischen Unterscheidung zwischen einem Entdeckungszusammenhang und einem Begründungszusammenhang die wissenschaftliche Dominanz des Forschungsaspekts und die wissenschaftstheoretische Dominanz des Darstellungsaspekts. Damit sind aber die heute vielfach gestörten Verhältnisse zwischen Wissenschaftstheorie und Wissenschaft nicht zuletzt auch das Resultat einer Entwicklung, in der tatsächlich eine ursprüngliche, nämlich griechische Einsicht in den Doppelaspekt von Wissenschaft und (wissenschaftlicher) Rationalität, ausgedrückt in deren Erfahrungsform und deren Theorieform, dunkel geworden ist. Diese Dunkelheit muß nicht (und sollte nicht) von Dauer sein. Vor allem dann nicht, wenn der Doppelaspekt von Erfahrungsform und Theorieform, von Forschung und Darstellung zum (möglicherweise verborgenen) Wesen auch der modernen (wissenschaftlichen) Rationalität gehören sollte. Wenn das der Fall ist, ist auch hier – für zukünftige wissenschaftstheoretische Bemühungen – ein Prinzip Hoffnung angebracht. Zugleich stoßen wir, sofern diese Vorstellung richtig ist und die hier verwendeten Unterscheidungen greifen, wieder auf griechische Ein-
40 Opticks or a Treatise of the Reflexions, Refractions, Inflexions and Colours of Light (…) III, Qu. 31, London 41730, ed. I. B. Cohen/D. H. D. Roller, New York 1952, 404–405. 41 Vgl. Anm. 36.
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sichten, wenn wir unsere eigene (wissenschaftliche) Rationalität erforschen. Dann gilt aber, für Historiker und Philosophen gleichermaßen erfreulich, auch der umgekehrte Fall, daß wir uns nämlich selbst erforschen, wenn wir, in dieser Hinsicht, das griechische Denken erforschen.
Vorbemerkung
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14. Die Gegenwart der Antike in Schule und Universität Vorbemerkung Ich bin kein Philologe, kein Historiker, kein Schulmann und kein Bildungsexperte, damit also eigentlich ziemlich ungeeignet, um über die Antike in Schule und Universität nachzudenken. Zudem ist dies in der Schulpolitik, immer häufiger aber auch in der Hochschulpolitik, ein vermintes Gelände, in dem keine Seite, etwa die des Philologen und die des Bildungspolitikers, einen Fehltritt verzeiht. Darüber hinaus liegt ideologischer Nebel über dem Gelände, der jede Orientierung erschwert. Schließlich geht es um die richtige Bildung für die moderne Welt, wobei sich alle Seiten anmaßen zu wissen, was das Wesen der modernen Welt ist und welche Bildung diese Welt braucht. Die Antike, mit der alles begann (jedenfalls in der europäischen Welt), steht hier nicht nur für eine kulturelle Phase, deren Wirkungen weit, auch in unsere Gegenwart, reichen, sondern auch für Maße und Unmaße, Bildungszukünfte und Bildungsvergangenheiten, Ideale und Illusionen, das Konservative und das Fortschrittliche. Wie soll man in diesem Gelände vorankommen, zumal wenn man kein Experte auf den angeführten Wegen des Philologen, des Historikers, der Schule und der Bildung ist? Ich werde es, der eigenen Kompetenz folgend, mit dem Übermut des Philosophen versuchen, der sich überall einzumischen und auf tiefere Einsichten zu pochen pflegt. Letzteres werde ich zwar nicht tun, auch nicht den starken historischen Neigungen folgen, die längst viele aus meiner Zunft ergriffen haben, sondern mich bemühen, einige Strukturen des antiken Denkens deutlich zu machen, die es verdienen, in ihrer Vergegenwärtigung nicht gleich dem historischen oder philologischen Interesse zu unterliegen. Ich werde mithin auch nicht über die antike Literatur sprechen, nicht über einen Bildungskanon, der einmal der klassische war1, nicht über das philologische Bild der Antike und nicht über deren neuhumanistische, auch heute noch in vielen Köpfen steckende Verklärung. Ich werde mich ferner nicht auf das in der gegenwärtigen Bildungspolitik so beliebte Legitimationsspielchen einlassen, ob und warum der Latein- und der Griechischunterricht auch in unserer Zeit, die doch ganz anderen, vor allem ökonomischen Orientierungen folgt, ihre Existenzberechtigung nicht verloren haben. Wer sich auf dieses Spielchen, dessen Regeln stets vom Gegner diktiert
1 Vgl. dazu M. Fuhrmann, Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt/Leipzig 1999.
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werden, einläßt, hat schon verloren, weil er sich nämlich eine Effizienz- und Modernitätsrhetorik aufzwingen läßt, in deren Rahmen alles, was nicht vordergründigen Nützlichkeitserwägungen folgt, blaß und grau erscheinen muß.2 Mein Beitrag hat fünf Teile. Ich beginne mit einigen kurzen Bemerkungen zu den Stichworten Bildung und Schule und konzentriere mich anschließend, in den Teilen drei bis fünf, auf Aspekte der klassischen Bildung in Schule und Universität. Gezeigt werden soll, daß sich die Antike mit guten Gründen aus der Geschichte noch nicht verabschiedet hat, daß sie vielmehr ‚fortlebt‘ – eine Bezeichnung, die allerdings häufig gerade dann verwendet wird, wenn etwas wirklich tot ist –, und daß das, was da ‚fortlebt‘, ein wesentliches Element auch unserer Wirklichkeit und deren Zukunft ist.3
14.1 Bildung Bildung gehört zur kulturellen Form der Welt. Und wie Kultur nichts ist, das einfach wächst, das einfach da ist, sondern etwas, das wir herstellen, das wir tun und leben, so auch im Falle der Bildung. Bildung, mit jener Kultur verbunden, die auch das Wesen der modernen Welt ausmacht, ist selbst ein tätiges, reflexives und konstruktives Leben. In ihr wird Kultur (individuell) angeeignet. Kurz: Bildung ist Verwandlung der (kulturellen) Welt in das (lernende) Ich. Dabei ist Bildung als Lebensform in erster Linie ein Können, kein bloßes Sichauskennen in Bildungsbeständen. Wilhelm v. Humboldt hat recht. Für ihn ist der Gebildete derjenige, der „soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden“4 sucht. Daher verbindet sich der Begriff der Bildung auch mit dem Begriff der Orientierung. Orientierung, um die es in der modernen Welt nicht immer zum Besten bestellt ist, ist selbst etwas Konkretes, nichts Abstraktes wie Theorien oder die Art und Weise, wie wir Theorien weitergeben. Die Heimat der Orientierung ist die Lebenswelt, nicht die begriffliche Welt. Nicht der Theoretiker, nicht der Vielwissende und nicht der Experte ist derjenige, der Orientierungsfragen beantwortet, sondern derjenige, der lebensformbezogen die geheimnisvolle Grenze zwischen Wissen und Können, Theorie und
2 Vgl. U. Greiner, Die Begründungsfalle. Zur Legitimierung altsprachlicher Bildung, Forum Classicum 43 (2000), 84–94. 3 In diesen Punkten folge ich einer älteren Arbeit: J. Mittelstraß, Die Zukunft der Antike, Dortmund 1991 (Dortmunder Vorträge 153); ferner in: M. Buhr (Ed.), Das geistige Erbe Europas, Napoli 1994 (Biblioteca Europaea 5), 635–655. 4 W. v. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen (Bruchstück), Gesammelte Schriften, I–XVII, Berlin 1903–1936, I, 283.
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Praxis schon überschritten hat. Eben das gilt auch von Bildung. Bildung und Orientierung gehören strukturell zusammen, und zwar nicht so sehr in Wissenschaftsform, sondern als Lebensform bzw. in Form eines Könnens, das (mit Humboldt) Welt in sich zieht und Welt durch sich selbst ausdrückt, orientierenden Ausdruck verleiht. Bildung muß heute ihre Leistungsfähigkeit in einer gesellschaftlichen Situation zur Geltung bringen, die durch auseinanderlaufende Rationalitäten, durch eine Partikularisierung von Fähigkeiten und Zuständigkeiten gekennzeichnet ist, ferner in einer Situation, die sich anschickt, ihr Wissen in wuchernde Medienwelten aufzulösen. Bilder und ‚virtuelle‘ Wirklichkeiten setzen sich an die Stelle von ‚realen‘ Wirklichkeiten, desgleichen an die Stelle von Wissen, gemeint ist ein selbst erworbenes und selbst beherrschtes Wissen; Orientierung, die stabilisiert und handlungsfähig macht, droht blaß zu werden. Experten, wie wir sie heute definieren, haben keine Bildung, Bilder haben keine diskursive und Informationen haben keine synthetische Kraft. Wer sich auf sie verläßt, sieht sich häufig von allen guten Geistern verlassen. Er hat sich zudem selbst aus der Verpflichtung genommen, in seinem eigenen Tun und Denken die wahrhaft noch immer aktuelle Idee der europäischen Aufklärung, nämlich Mündigkeit in allen Orientierungszusammenhängen, zu realisieren und seiner Zerlegung z.B. in ein privates Ich, ein öffentliches Ich und ein Konsumenten-Ich entgegenzuwirken. Die moderne Welt – und das sei ausdrücklich auch auf die Gefahr hin gesagt, als altmodisch zu erscheinen – ist eine Welt, die dem ungeteilten, dem ganzen Ich mißtraut, weil sie selbst eine geteilte, in viele Rationalitäten und Irrationalitäten geteilte Welt ist, und dies ihre Herrschaftsform, auch über die gesellschaftlichen Subjekte, geworden ist. In dieser Welt erscheint das ganze Ich, die volle intellektuelle und sinnliche Individualität, die (noch einmal Humboldt) Welt in sich zieht und Welt durch sich selbst Ausdruck verschafft, wie das Andere ihrer selbst, als das, was sie schon überwunden zu haben glaubte. Bildung hält die Erinnerung an dieses andere Ich und an diese andere Welt wach; und eben darum ist sie, optimistisch gesprochen, auch das zukünftige Andere der modernen, in unüberschaubare Partikularitäten zerlegten Welt. Das läßt sich auch in der Terminologie von Verfügungswissen und Orientierungswissen verdeutlichen. In der modernen Welt wächst der Abstand zwischen beiden Wissensformen; die moderne Welt wird orientierungsschwach. Zugleich wachsen mit wachsender Komplexität Strukturen der Unüberschaubarkeit (der gesellschaftlichen Wirklichkeit), der Anonymität (von Entwicklungen) und der Subjektlosigkeit (in Verantwortungszusammenhängen). Unter einem Verfügungswissen ist hier genauer ein Wissen um Ursachen, Wirkungen und Mittel verstanden, unter einem Orientierungswissen ein Wissen um Zwecke und Ziele. Das Verfügungswissen, dessen paradigmatischer Ausdruck Wissenschaft und Technik
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sind, nimmt zu, das Orientierungswissen nimmt ab. Oder anders ausgedrückt: In der modernen Welt blicken der wissenschaftliche und der technische Geist nach vorne, der moralische und der politische Geist, auf den der Begriff des Orientierungswissens verweist, zurück. Damit bleibt die moderne Welt aber hinter ihren eigentlichen kulturellen Entwicklungspotentialen zurück. Ein moderner Bildungsbegriff und ein moderner Ausbildungsbegriff, die sich gegenseitig bedingen, haben diesen Umstand zu berücksichtigen, gerade auch in der schulischen und in der universitären Bildungswirklichkeit. Das ist, zumal wenn es um Gesichtspunkte der Überwindung dieser Entwicklung geht, ein hoher, vielleicht ein für Schule und Universität zu hoher Anspruch, den völlig zu verfehlen, aber bedeuten würde, daß Schule und Universität einen wesentlichen Teil ihrer Bildungsaufgabe verlieren und die moderne Welt tatsächlich orientierungslos wird.
14.2 Schule Schule – das bedeutet in erster Linie die Gegenwart und die Zukunft des Lernens. Lernen ist ein fester Bestandteil unserer kulturellen Wirklichkeit und vielleicht der wichtigste. Denn wenn Kultur nicht lediglich etwas für den Feierabend, sondern Inbegriff aller Lebens- und Arbeitsformen ist, dann nicht in dem Sinne, daß sie in ihrer individuellen Ausprägung immer schon da ist und keine besonderen Wege in die so benannte kulturelle Form der Welt führten. Eben diese Wege sind die so genannten Bildungswege, die ihrerseits Lernwege sind. Diese Wege wiederum sind nicht immer dieselben, weil auch die Kultur, in die sie bildend führen, nicht einfach immer dieselbe ist. Kulturwandel schließt insofern auch Bildungswandel und Lernwandel ein. Und beides macht die Zukunft des Lernens aus. In einer Zeit, in der die Strukturen der Welt immer komplexer werden, sind begrenzte Kompetenzen, zumal wenn sie den Graben zwischen einem Verfügungswissen und einem Orientierungswissen vertiefen, zunehmend weniger gefragt. Gesucht sind vielmehr Kompetenzen, die sich schnell verändernden Rahmenbedingungen, wechselnden Anforderungsprofilen und Problemen anpassen, für die es keine gewohnten und erprobten Lösungsstrategien mehr gibt. Auf diese Kompetenzen hin müssen Bildung und Ausbildung in Zukunft organisiert werden. Das bedeutet nicht, daß es unter diesen veränderten Bedingungen keine Bildungsbestände mehr gäbe, die stabil blieben und die als Voraussetzung ‚unbegrenzter‘ Kompetenzen erforderlich wären. Zu diesen Beständen gehört z.B. nach wie vor ein großer Teil des disziplinären und fachlichen Wissens – und, wie wir noch sehen werden, in diesen Formen auch eines klassischen, sich antiken Orientierungen verdankenden Wissens. Ohne ein derartiges Wissen blieben die gesuchten Kompetenzen ohne Basis, hätten wir es mit dem Versuch zu tun, ohne
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Beine gehen zu wollen. Für die Schule heißt dies, an den disziplinären und fachlichen Ausbildungswegen, z.B. im Bereich des Deutschunterrichts, des Mathematikunterrichts, des Sprachenunterrichts, des naturwissenschaftlichen und des historischen Unterrichts, festzuhalten. Der Generalist ohne disziplinäre und fachliche Kompetenzen ist auch in der Schule kein Bildungsideal. Allerdings dürfen Fachlichkeiten und Disziplinaritäten auch nicht gegeneinander isoliert werden. Sie würden ihre Entwicklungspotentiale verlieren und damit zugleich zu einem Teil des Problems – gemeint ist eine zunehmende Partikularisierung der Wirklichkeitsbereiche und Orientierungsstrukturen –, nicht seiner Lösung werden. Insofern wäre aber auch ein überfachliches Lernen nicht Gegensatz des fachlichen Lernens, sondern dessen ‚natürliche‘ Ergänzung. Im übrigen folgt das fachliche oder disziplinäre Wissen einer inneren Logik (bestimmt durch dominante Theorien, Methoden, Gegenstände und Erkenntnisinteressen), die durch eine ‚Entfachlichung‘ des Wissens nicht ersetzt werden kann. Dem entspricht heute in der wissenschaftstheoretischen, auf das universitäre Lernen bezogenen Debatte die (komplementäre) Unterscheidung zwischen Disziplinarität und Transdisziplinarität (der Forschung). Ziel des Lernens sollte es im übrigen sein, das Lernen und den Umgang mit Gelerntem und Ungelerntem zu lernen. In diesem Sinne, nicht im Sinne einer bloß quantitativ orientierten Wissensvermittlung, sollte die Schule ein Haus der Lernens (U. P. Trier) sein. Das bedeutet auch, daß Modernität und die Orientierung an faktischen (gesellschaftlichen) Problemen nicht die alleinige Richtschnur des schulischen Lernens sein sollten. Das Lernen läßt sich auch an unzeitgemäßen Elementen (z.B. an den alten Sprachen) lernen. Tatsächlich gehört es zur Selbständigkeit einer Institution wie der Schule, in ihren Orientierungen nicht abhängig von den jeweiligen, meist sehr vergänglichen Einfällen des Zeitgeistes zu werden. Die Balance zwischen zeitgemäßen und unzeitgemäßen Elementen des Lernens ist ein entscheidendes Moment einer guten Schule. Das macht allerdings die Bestimmung der Bildungsaufgabe der Schule in der modernen Welt nicht leichter, zumal auch die Gesellschaft nicht mehr so recht zu wissen scheint, was zeitgemäß und was unzeitgemäß ist. Vielleicht ist nicht zuletzt darum die Schule in Deutschland in der Vergangenheit zum bevorzugten Übungsfeld konkurrierender gesellschaftlicher Programme geworden. Auch der Streit um die Zukunft von Schule und Bildung wird in der Gegenwart ausgetragen, und je unklarer die Zukunft ist, um so erbitterter der Streit, auch und gerade der Streit um Reformen. Da geht es der Schule nicht anders als der Universität, die sich vielerorts in einer Art struktureller Dauerkrise befindet. Reform wird hier häufig schon mit Veränderung gleichgesetzt, und in dieser hat in der Regel die Regelungswut moderner Bürokratien das letzte Wort. Das Lernen ist eben schwer, nicht nur für die Lernenden, sondern auch für die das Lernen Organisierenden.
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Was im übrigen die Universität unter dem Gesichtspunkt einer bildenden Hochschule betrifft, so hat auch hier die Humboldtsche Formel Bildung durch Wissenschaft einen modernen Sinn gefunden. Wenn die moderne Welt – und darüber dürfte kein Zweifel bestehen – eine in ihrem Kern durch Wissenschaft bestimmte Welt ist, dann führen die bildenden Wege in diese Welt, d.h. in ihren Kern, über die Universität. Die Universität wird zur Schule einer Welt, in der der wissenschaftliche (und der technische) Verstand herrscht und Bildung immer auch eine wissenschaftliche Form hat. Die Frage ist nur, ob die Universität sich dessen bewußt ist und ob sie Forschung und Lehre in diesem Bewußtsein organisiert. Vieles spricht (leider) dagegen. Auch die Universität liebt den Experten in der Rolle des (wissenschaftlichen) Spezialisten; sie hat verlernt, Wissenschaft auch als eine Lebensform, eben als eine wissenschaftliche Lebensform zu begreifen und zu vermitteln. Moderne Vorstellungen von einem Marktmodell der Universität, vom Studierenden als Kunden und von Dienstleistung als der Befriedigung wechselnder gesellschaftlicher Bedürfnisse, der gegebenenfalls auch wissenschaftliche Standards geopfert werden müssen, verschärft diese Situation. Die Gesellschaft bekommt womöglich, was sie will, aber nicht das, was sie als moderne, selbst in ihrem Kern wissenschaftliche Gesellschaft wirklich braucht. Auch dies höhlt den Bildungsgedanken in einer wissenschaftlichen Welt aus.
14.3 Klassische Bildung und Expertenwelt Was von der Bildungsaufgabe der Schule und den Schwierigkeiten institutionellen Lernens im allgemeinen gilt, gilt auch von den Schulformen im besonderen. Auch diese stehen heute unter dem Diktat einer Politik, die weniger an unterschiedlichen Inhalten als an gleichen Strukturen interessiert ist. Dabei ist nicht nur im Hochschulsystem, sondern auch im Schulsystem Differenzierung angezeigt, und zwar Differenzierung sowohl unter inhaltlichen als auch unter strukturellen Gesichtspunkten. Von einer derartigen Differenzierung reden zwar alle, auch Bildungspolitik und die staatlichen Kultusverwaltungen (meist unter Hervorhebung von Wettbewerbsgesichtspunkten), wenn es aber tatsächlich um Differenzierung und Individualisierung im Bildungsbereich geht, zieht man sich sofort, mit hehren Worten über Gleichheit und Rechtssicherheit, erschrocken über die eigene rhetorische Courage, wieder hinter allgemeine Regelungen zurück. Keine Universität, die auch nur auf Zeit und zu kalkulierbaren Reformen aus den Hochschulgesetzen entlassen wird, kein Gymnasium, das auch einmal, ohne dem Diktat der Schülerzahlen zu gehorchen bzw. unterworfen zu sein, so sein darf, wie es sein will, z.B. ein humanistisches Gymnasium mit garantiertem Latein und Griechisch und konkurrenzfähigen naturwissenschaftlichen Fächern.
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Unsere Institutionen werden immer gleicher und immer grauer, und das gilt leider auch von unseren Gymnasien. Oder anders ausgedrückt: Wer gegen bleiche Gleichheit polemisiert und zu mutigen freien Sprüngen auffordert, der muß auch selber springen. Eben das aber passiert nicht oder nur allzu selten. Nie war eine Bildungspolitik, auch eine konservative, so zahnlos, wenn es ums Beißen, oder so lendenlahm, wenn es ums Springen geht. Dabei hat es das Gymnasium schwerer als die Universität. Während die Universität im Grunde (wenn auch von Enttäuschungen begleitet) den gebildeten Studierenden voraussetzt und ihn, getreu der Humboldtschen Formel einer Einheit von Forschung und Lehre, in den Fortschritt des Wissens zieht, ist es gerade die Aufgabe des Gymnasiums, dafür die geeigneten Grundlagen zu bilden. Das heißt: das Gymnasium muß die schwierige Balance zwischen der Vermittlung klassischer Wissensbestände und der Teilnahme am (wissenschaftlichen und gebildeten) Fortschritt halten, es muß beides lehrend und lernend miteinander verbinden – und damit häufig eben auch das Zeitgemäße mit dem Unzeitgemäßen. Schließlich ist es gerade das Unzeitgemäße, das das Zeitgemäße daran erinnert, selbst vergänglich zu sein. Darum muß sich auch das Gymnasium mit Recht und guten Gründen immer wieder gegen die Anmutungen des Zeitgeistes wenden, den immerhin einigermaßen festen Boden des (vordergründig) Unzeitgemäßen gegen den schwankenden Boden des Zeitgemäßen zu tauschen. Täte das Gymnasium dieses nicht, d.h., bestünde es nicht auf der bildenden Kraft auch des Unzeitgemäßen, wäre, wenn man den neueren Zuckungen des Zeitgeistes folgt, aus ihm zuerst eine Brutstätte des soziologischen Verstandes, dann des didaktischen Verstandes und heute wohl ein Experimentierfeld der Informationsgesellschaft geworden. Das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern hätte seine zeitgemäße bildungspolitische Fortsetzung gefunden. Dabei sieht es immer häufiger so aus, als ob zum Unzeitgemäßen auch die klassische Bildung gehörte. Damit ist eben eine Form der Bildung gemeint, deren Maßstäbe nicht den kontingenten Entwicklungen des Zeitgeistes folgen, in der das eigentliche Ziel der Schule, nämlich das Lernen und den selbständigen Umgang mit Gelerntem und Ungelerntem zu lernen, sich an wissenschaftlich und kulturell ausgewiesenen Wissensbeständen (z.B. in Literatur, Sprache und Philosophie) orientiert und kulturelle Entwicklungen unter dem Gesichtspunkt einer sich historisch und systematisch entfaltenden Vernunft gesehen werden. Diese Form der Bildung ist auch heute, nicht allein bezogen auf das über zeitgemäße und unzeitgemäße Elemente des Lernens und der Bildung Gesagte, für das Bestehen in unserer Welt unabdingbar. Diese Welt ist nämlich in ihren Wissensstrukturen eine Expertenwelt, und in einer Expertenwelt drohen unter dem Diktat des partikularisierten Wissens allgemeine Orientierungen ihre prägende, eben orientierende Kraft zu verlieren. Das gilt sowohl für die Gesellschaft insgesamt als
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auch für individuelle Lebensformen und macht sich z.B. im Ruf nach dem Generalisten, von dem schon gesagt wurde, daß er kein Bildungsideal sei, bemerkbar. Bildung im klassischen Sinne besetzt in dieser Weise immer, vor allem aber auf dem Hintergrund der Entwicklung der modernen Welt, die Stelle zwischen dem Expertentum und dem Generalistentum, d.h. der Engführung des Wissens und Könnens auf spezielle Bereiche – in der Regel durch Nicht-Wissen und mangelnde Kompetenzen in anderen Bereichen erkauft – und der Entgrenzung des Wissens und Könnens so, daß von allem etwas, aber nichts genau gewußt wird und eben dies als (eigentümliche) Kompetenz ausgewiesen wird. Tatsächlich handelt es sich hier um eine falsche Orientierungsalternative. Was diese Welt braucht, sind daher auch – nun einmal selbst in der Terminologie von Expertentum und Generalistentum gesprochen – Experten mit generellen Kompetenzen und Generalisten mit speziellen Kompetenzen, d.h. jene Verbindung von besonderem Wissen und allgemeiner Kompetenz und Orientierung, die immer schon das Wesen einer lebensfähigen Kultur ausmachte. Genau das aber drückt ein Bildungsbegriff aus, dessen Leistungsfähigkeit im hergebrachten Sinne seine Klassizität ausmacht, weshalb auch die moderne Entwicklung nicht etwa (wie viele meinen) die Entbehrlichkeit dieses Bildungsbegriffs, sondern, im Gegenteil, gerade seine Unabdingbarkeit dokumentiert. Gerade weil die moderne Welt in ihrem Wissen und Können eine geteilte Welt ist und eben darin ihre vielbeklagte Orientierungsschwäche liegt, bedarf es eines Wissens und Könnens, das sich nicht, jedenfalls nicht von vornherein, in ein enges, das Ganze aus dem Blick verlierendes Expertentum und in ein graues, für keine Teile mehr zuständiges Generalistentum zerlegt. Ob man dieses Wissen und Können klassische Bildung nennt oder anders, ist im übrigen von nachgeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, daß diese festgehaltene Einheit von Wissen und Können das Wesen der klassischen Bildung war und ist, verbunden mit der Vorstellung, daß daraus eine Lebensform erwachsen könne, deren Rationalität im wiederum klassischen Sinne als Vernunft bezeichnet wurde. Deshalb geht aber auch, nun wiederum auf den Gesichtspunkt der Schulformen bezogen, die Diskussion, ob das Gymnasium in seinen Oberstufenteilen selbst schon Hochschule sein müsse und in seinen Anfangsstufen auch allgemeine Schule sein könne – konkret gesprochen: zwei Schuljahre an eine dann sechsjährige Grundschule abgeben könne – an der Wirklichkeit und Unabdingbarkeit des Gymnasiums völlig vorbei. Auch diese Diskussion sieht die Welt nur aus der Spezialistenund Generalistenperspektive und erweist sich damit selbst als ein Teil des Problems, das sie zu lösen sucht.
Das humanistische Gymnasium
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14.4 Das humanistische Gymnasium Keiner Schulform bläst der bildungspolitische Wind derzeit so sehr ins Gesicht wie dem humanistischen Gymnasium. Gilt schon das Gymnasium allgemein vielerorts als suspekte, weil vermeintlich elitäre Schulform, so das humanistische Gymnasium im besonderen. Hier ist es nicht nur eine Schulform, sondern auch eine Bildungsform, die einem bildungspolitischen Fortschritt im Wege zu stehen scheint und unangenehm an Bildungsideale erinnert, die man nur allzu gern mit einer neuhumanistischen Ideologie verwechselt. Kein Zweifel: Das humanistische Gymnasium ist heute ein Dorn im Auge der Gesamtschul- und Gesamthochschulfetischisten, der professionellen und selbsternannten Bildungsplaner und der Elitenexorzisten. Dabei ist nüchtern betrachtet das humanistische Gymnasium nur ein konsequenter Teil jener klassischen Bildung, derer aus den angeführten Gründen auch die moderne Welt bedarf, wenn sie nicht einer ihrem Wesen als Expertenwelt ‚eingeborenen‘ Orientierungsschwäche erliegen will. Und das hat etwas mit den eigentlichen Wurzeln der Klassizität der klassischen Bildung zu tun bzw. mit der Bedeutung von Anfängen, hier des Anfangs der Kultur einer modernen Welt in der griechischen, im weiteren Sinne antiken Kultur. Anfänge sagen häufig mehr über Entwicklungen aus als deren jeweilige Gegenwart. Denn in Anfängen liegen noch alle Möglichkeiten beisammen, ist das Werden noch nicht im Sinne einer faktisch realisierten Entwicklungsmöglichkeit festgelegt; an (vorläufigen) Entwicklungsenden ist das meiste entschieden, der Blick auf den Reichtum von Anfängen durch die Armut von entschiedenen Alternativen verstellt. Auch begreift derjenige Entwicklungen nicht, der sie nur systematisch in ihren Ergebnissen betrachtet und nicht auch historisch versteht, d.h. von ihren Anfängen her rekonstruiert. Auch im Falle der Schule selbst gehört ihre Entwicklungsgeschichte als Bildungsinstitution zu ihrem Wesen – und eben dies begreifen Bildungsplaner nicht, wenn sie mit Schulen und Universitäten umgehen wie mit einem Einfall des Zeitgeistes, der sich auch durch einen anderen x-beliebigen Einfall ersetzen läßt. Weil die Kultur der modernen Welt ihren Anfang mit der griechischen Kultur nimmt, ist im gesellschaftlichen Disput um das humanistische Gymnasium natürlich das Griechische selbst, d.h. die griechische Sprache, der eigentliche Stein des Anstoßes. Hier, so scheint es, findet ein elitäres, rückwärts gewandtes Bildungsideal seinen reinsten Ausdruck. Dabei ist das Griechische zunächst einmal eine wunderbare Sprache, wie selbst denjenigen klar werden muß, die griechische Texte in guten Übersetzungen lesen. Sie ist klar wie das Lateinische, genauer und differenzierter als jede andere Sprache, reich an Ausdrucksmitteln, logisch und spekulativ zugleich. Konrad Adam, der scharfsinnige Kommentator der „Frankfurter Allgemeinen“, hat in seinem vehementen Eintreten für die Sprache
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gegen ihre Verkümmerung zum Informationsträger recht: Daß sich die Philosophie, in ihrer ganzen, die Wissenschaften einschließenden Breite, in ihren Anfängen der griechischen Sprache bedient hat, oder genauer: daß sie im griechischen Denken und Argumentieren entstand, war kein Zufall.5 Verstand und Vernunft kommen eben nicht auf allen Wegen, auch nicht auf allen sprachlichen Wegen. Das wußten Bildungstheoretiker und Bildungspraktiker der Vergangenheit, und sie muteten sich selbst und der Schule zu, dem hohen Anspruch zu genügen, den das Lernen des Griechischen bedeutete. Und auch darin hat Adam recht, wenn er sagt, daß dem Griechischen „genau das zum Verhängnis wurde, was frühere Generationen so sehr bewundert hatten: sein hoher Anspruch. Die Tradition hat nicht eigentlich aufgehört, sie wurde abgebrochen, geopfert von den Legasthenikern unter den deutschen Bildungspolitikern auf dem Altar des zeitgemäßen Lernens“6. Damit sollen rationale Strukturen, die sich in einer Kultur zum Ausdruck bringen, der antiken Kultur wie der Kultur unserer modernen Welt, keineswegs auf sprachliche Strukturen reduziert werden, auch nicht im Rahmen dessen, was man klassische Bildung nennt. Richtig ist: Die alten Sprachen, vor allem das Griechische, gehören zur klassischen Bildung. Aber nicht umgekehrt folgt die klassische Bildung exklusiv den alten Sprachen; sie ruht, seit der Antike, auf die sich das Klassische (zu Recht) beruft, auch auf anderen Fundamenten, z.B. mathematischen und naturwissenschaftlichen Fundamenten. Ohne Mathematik und Astronomie hätte man schon bei Platon keine Chance gehabt, aus den Ständen der Gewerbetreibenden und der ‚Wächter‘ zu den ‚oberen‘ Ständen, den Philosophen, mit solider Ausbildung auch in den exakten Wissenschaften, aufzusteigen. Deshalb bewegen sich diejenigen aber auch nicht im Zentrum, sondern am Rande der Idee einer klassischen Bildung und des humanistischen Gymnasiums, die hier allein die alten Sprachen im (bewundernden oder verteufelnden) Blick haben. Sie verwechseln das Original mit seiner neuhumanistischen Kopie. Oder mit anderen Worten und an die Adresse der Bewunderer gewandt: Man darf ein humanistisches Gymnasium trotz aller gebotenen Referenz vor der griechischen und der lateinischen Sprache nicht allein den Philologen überlassen, jedenfalls keinen neuhumanistischen. Man muß gewissermaßen die neuhumanistische Phase des Gymnasiums, in der sich die Philologen zu den eigentlichen Bildungstheoretikern aufschwangen, überspringen, und zwar in Richtung Antike selbst, aus der die Klassik, die klassische wie die moderne, ihre Kraft und ihre Argumente zieht.
5 K. Adam, Sprache statt Information, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 2. 12. 1995, Nr. 281/48, 1. 6 Ebd.
Das humanistische Gymnasium
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Die Antike kannte gewiß das humanistische Gymnasium nicht, aber sie legte die Grundlagen zu einer Bildung, die sich nicht nur in der schulischen Entwicklung als klassisch erweisen sollte. Deren drei wichtigsten Aspekte, bezogen auf ihre Anfänge, sind7: (1) Die antike Kultur ist eine argumentative Kultur; in ihr liegt auch das aufklärerische Wesen der Vernunft, die den Kern der klassischen Bildung ausmacht, beschlossen. (2) Die antike Kultur ist eine wissenschaftliche Kultur; in ihr werden die Theorieform und die Erfahrungsform des Wissens entdeckt, deren Verbindung auch heute noch einen modernen Wissenschaftsbegriff bestimmt. (3) Die antike Kultur verbindet argumentative Vernunft und wissenschaftliche Rationalität in einer (vernünftigen) Lebensform, die das Paradigma der Lebensform auch der modernen Welt sein könnte. Denn die vor allem wiederum griechische Idee einer vernünftigen Lebensform (von Gesellschaft und Individuum) besagt, daß sich in geteilten Rationalitäten nicht leben läßt und die Einheit einer (vernünftigen) Lebensform auch die Wissenschaften, als methodisch und technisch gewordene Vernunft, einschließen muß. Eben darin aber, in der Suche nach einer derartigen Lebensform, liegt das Problem unserer Welt. Es sind, mit anderen Worten, also noch immer die klassischen Steine, mit denen die Moderne baut oder auf die auch die Moderne angewiesen ist. Nicht, weil sie ihren Begriff, nämlich wirklich modern zu sein, noch nicht erfüllt, sondern weil sich das Klassische, keineswegs nur in der Überwindung des falschen Gegensatzes von Expertentum und Generalistentum, als die Einlösung auch von Modernitätsansprüchen erweist. Damit dürfte aber auch klar geworden sein, daß das Klassische, vor allem im Rahmen der klassischen Bildung, nicht das ist, was unter obsolet gewordenen Bedingungen seinen Einzug in die Kulturvitrinen und Bücherschränke des so genannten Bildungsbürgertums gefunden hat (was schon durch die Erläuterung eines tragfähigen Bildungsbegriffs verdeutlicht werden sollte). Wo dem Neuhumanisten das Herz lacht, darf dem kritisch Gebildeten durchaus schaudern. Das Klassische ist vielmehr Teil der Moderne, und zwar konstitutiver Teil der Moderne. Wenn nämlich die genannten Aspekte des vor allem griechischen Denkens das Wesen auch der weiteren europäischen Entwicklung bis in unsere Tage ausmachen, dann erforschen wir uns in Wahrheit selbst, wenn wir das griechische Denken erforschen. Und dies nicht nur, insofern wir Philosophie und Wissenschaft treiben, sondern insofern wir überhaupt die Bemühung um vernünftige Orientierungen zum wesentlichen Begriff des Menschen nehmen. In diesem
7
Vgl. dazu J. Mittelstraß, Die Modernität der Antike. Zur Aufgabe des Gymnasiums in der modernen Welt, Konstanz 1986 (Konstanzer Universitätsreden 158), bes. 21–28 (Das griechische Wesen der Vernunft).
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Sinne sind wir, als Angehörige einer rationalen Kultur, auch heute noch ‚griechisch‘, und in diesem Sinne gibt es zum griechischen Denken und der durch dieses Denken in die Welt gekommenen Form des vernünftigen Denkens keine Alternative. In der Sprache der griechischen Philosophie formuliert: der Anfang ist das Wesen – der griechische Anfang des vernünftigen Denkens ist sein Wesen.8 Sollte dies ausgerechnet unser Bildungswesen nicht begriffen haben?
14.5 Die griechische Form des Wissens und der Vernunft Die bisherigen Überlegungen erfolgten im wesentlichen aus einer auf das Gymnasium bezogenen Schulperspektive. Das zuletzt über das Wesen der antiken Kultur als argumentativer, wissenschaftlicher und lebensformorientierter Kultur Gesagte führt aber auch direkt in die Universität, als Ort der Wissenschaft (Forschung) und als Ort der Vermittlung von Wissenschaft (Lehre). Dazu bedarf es nur eines kurzen Blicks auf die Form von Wissenschaft in beiden Aspekten.9 Die argumentative Form des Wissens ist die eigentliche, fundamentale Form der Rationalität, der wissenschaftlichen wie der nicht-wissenschaftlichen. Ihre Entdeckung verdanken wir dem griechischen Denken, nämlich als die Entdekkung des argumentativen oder dialogischen Charakters der Wahrheit und des Wissens. Was sich nicht im Für und Wider der Argumente behaupten kann, bleibt ein Element des Vorrationalen oder Dogmatischen. Wahrhaftigkeit und Begründung sind daher auch die Tugenden des Arguments, ohne die es selbst von einem mythischen oder sophistischen Reden nicht unterscheidbar wäre. Deshalb ist aber auch ‚Dialektik‘ das ursprüngliche Schlüsselwort des antiken Denkens und lfigon didfinai – die Verpflichtung, für das, was man behauptend sagt, Gründe anzugeben – seine eigentliche Schlüsselformel. Im Rahmen dieser Vorstellung konstituiert sich das argumentative oder dialogische Wesen der Vernunft – und ihr konstruktives Wesen. Großartiger Ausdruck dieser Entdeckung und dieser Einsicht ist die Sokratische und Platonische Philosophie. In ihr ist Dialektik durch eine praktische und eine theoretische Intention gekennzeichnet. Die praktische Intention geht auf Verständigung, die theoretische Intention auf Begründung. Verständigung ist an die Befolgung eines Postulats der Wahrhaftigkeit, Begründung an die Befolgung eines Postulats der begrifflichen Strenge gebunden. Im Platonischen lfigon
8 J. Mittelstraß, a.a.O., 31. 9 Vgl. zum Folgenden die ausführlichere Darstellung in den in den Anmerkungen 3 und 7 genannten Arbeiten.
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didfinai sind beide Momente, das praktische und das theoretische, vereinigt, womit (noch einmal) Dialektik zum Inbegriff einer argumentativen, dialogischen Vernunft wird. Das gilt sowohl im Forschungszusammenhang – auch Forschung hat eine argumentative Struktur – als auch für die Bildung richtiger Selbst- und Situationsverständnisse. Nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch heute. Eben das macht die ständige Gegenwart der Antike in unserem Denken aus. In einem eminenten Sinne gilt dies für die Wissenschaft selbst, nämlich in deren Theorie- und Erfahrungsform. Unter der Theorieform des Wissens ist die Formulierung allgemeiner (‚theoretischer‘) Sätze und der Beweis (die Begründung) dieser Sätze in bestimmten Konstruktions- und deduktiv geordneten Zusammenhängen verstanden. Auch dies ist eine griechische Entdeckung. Sie wird zum ersten Mal in der Thaletischen Geometrie (in Form elementargeometrischer Sätze und deren Beweis über Symmetriebetrachtungen) realisiert, von Platon in ein allgemeines Wissenschaftskonzept aufgenommen und von Aristoteles in wissenschaftstheoretischer Form (in den „Zweiten Analytiken“) rekonstruiert und präzisiert. Damit sind für das wissenschaftliche Denken ein methodischer Anfang und eine methodische Form kenntlich gemacht, die nicht nur, wie zu Beginn, die Geometrie im engeren Sinne, sondern alle Formen theoretischen Wissens, darunter auch dessen philosophische Formen betrifft. Dieser methodische Anfang und diese methodische Form bilden zugleich den Anfang einer wissenschaftlichen Kultur, mit Platon als erstem Theoretiker. Dieser arbeitet die Entdeckung der Theorieform des Wissens zu einem Konstruktionsmodell der wissenschaftlichen Rationalität aus und begründet darin nun auch selbst ‚theoretisch‘ mit dem Theoria-Begriff der griechischen Philosophie den Rationalitätsbegriff des wissenschaftlichen Denkens. Das gleiche betrifft die Erfahrungsform des Wissens. Deren erster Theoretiker ist Aristoteles im Rahmen seines Empiriemodells der wissenschaftlichen Rationalität. Nach Aristoteles besitzt bereits die Welt der Phänomene, nicht erst die Welt unserer Konstruktionen, eine begriffliche Struktur. Diese ‚konstituiert‘ sich in der Erfahrung, d.h. auf der Grundlage eines Unterscheidungswissens, das noch auf keine Theorie rekurriert. Wissensbildungsprozesse werden hier im Begriff der Rekonstruktion von Erfahrungsstrukturen beschrieben. Ein methodischer Gegensatz zwischen der Theorieform und der Erfahrungsform des Wissens besteht dabei nicht. Die Theorieform erfaßt das Wissen im Aspekt der Darstellung, die Erfahrungsform dasselbe Wissen im Aspekt der Forschung. Hier wird von Aristoteles dem Platonischen Konstruktionsmodell der (wissenschaftlichen) Rationalität ein Rekonstruktionsmodell gegenübergestellt. Wissensbildungsprozesse werden im Begriff der Rekonstruktion von Erfahrungsstrukturen beschrieben. Das bedeutet einerseits eine Relativierung der Platonischen Identifikation wissenschaftlicher Rationalität mit der Theorieform wissenschaftlichen Wissens, ande-
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rerseits aber auch eine Ergänzung des Platonischen Modells durch die Unterscheidung zwischen der Theorieform und der Erfahrungsform des Wissens. Wissenschaftliche Rationalität schließt nach Aristoteles beide Formen ein. Was für uns heute selbstverständlich ist – daß Wissenschaft nämlich theoretisch und empirisch ist –, gibt sich damit als eine griechische Idee, einschließlich ihrer Realisierung im griechischen Denken, zu erkennen.10 Seiner Form nach ist das wissenschaftliche Denken nicht längst über das griechische Denken hinweg; es hat vielmehr nach wie vor eine griechische Form. Bleibt noch die lebensformbezogene Seite der Wissenschaft. Auch sie ist eine Entdeckung des griechischen Denkens, die das Leben der Vernunft, auch der wissenschaftlichen Vernunft, betrifft. Der Anfang der Rationalität hat, wie in der Darstellung des argumentativen oder dialogischen Wesens der Vernunft deutlich wurde, nicht nur eine im engeren Sinne wissenschaftliche oder erkenntnistheoretische, sondern auch eine philosophische oder anthropologische Bedeutung. Oder anders ausgedrückt: Die Entdeckung der Rationalität in ihrer argumentativen und in ihrer Theorie- und Erfahrungsform ist auch die Entdeckung der Vernunft. Gemeint ist, daß sich in der Idee der griechischen Kultur wissenschaftliche Rationalität und argumentative oder dialogische Vernunft zu einer Lebensform miteinander verbinden. Das allerdings scheint nun wirklich etwas Vergangenes, auf den ersten Blick auch Unzeitgemäßes zu sein. Heute sind die Sphären des Wissens und des Lebens, die Sphären der Wissenschaft und der Lebenswelt, sorgsam gegeneinander isoliert. Die Bedürfnisse der Lebenswelt sind andere als die Bedürfnisse der Wissenschaft; beide bilden verschiedene Welten, zwischen denen das Subjekt hin- und hergeht, gleichsam in verschiedenen Rollen, auf verschiedenen Bühnen auftretend. Wissenschaft als Beruf ist die moderne, von Max Weber geprägte Formel, mit der auch eine Isolierung wissenschaftlicher Rationalitäten gegenüber den lebensweltlichen Rationalitäten vollzogen ist. Doch eben dies könnte Indiz einer Verlustgeschichte, keiner Fortschrittsgeschichte sein. Theoria bedeutet für das griechische Denken nicht allein Theorie in unserem Sinne und damit eine vom Leben abgeschirmte wissenschaftliche Welt der Geltung; sie ist nach Aristoteles vielmehr eine allgemeine, das Leben leitende Orientierung. Das Wissenschaftssubjekt und das lebensweltliche Subjekt sind hier noch eins. Deshalb kann, wiederum nach Aristoteles, auch die Wahrheitsorientierung der Wissenschaft nicht gegen ihre gesellschaftliche Relevanz, wie wir
10 Weiter ausgeführt unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten in: J. Mittelstraß, Griechische Bausteine der neuzeitlichen Rationalität, in: W. Schuller (Ed.), Antike in der Moderne, Konstanz 1985 (Xenia. Konstanzer althistorische Beiträge und Forschungen 15), 195–209 (in diesem Band 275–290).
Schlußbemerkung
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heute sagen würden, ausgespielt werden und umgekehrt. Mit Theoria als Lebensform wird auch Wahrheit, einschließlich der wissenschaftlichen Wahrheit, zur Lebensform. Daß eine derartige Vorstellung unseren wissenschaftlichen Rationalitäten und der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens, auch in der Universität, nicht mehr entspricht, ist richtig. Dies sollte aber eben nicht dazu führen, die griechische Idee einer Einheit von Rationalität und Lebensform selbst als etwas zu Recht Überwundenes, Antiquiertes anzusehen. Daß wir heute, wie dargestellt, in geteilten Rationalitäten leben und diese ihre eigenen Welten ausmachen – z.B. die wissenschaftliche, die ökonomische, die politische oder die private Welt –, ist keine Errungenschaft der modernen Welt, die es um jeden Preis zu verteidigen gälte, sondern gerade eines ihrer großen Probleme. Geteilte Rationalitäten verlieren ihre orientierende Kraft angesichts der faktischen Einheit des Lebens, auch des individuellen. Die Griechen wußten dies noch; wir haben das vergessen.
Schlußbemerkung Wenn wir heute in bildungs- und wissenschaftspolitischen Zusammenhängen von derartigen Überlegungen Abschied nehmen, dann könnte dieser Abschied zu früh und zu radikal ausgefallen sein. Selbst Hegel könnte zu kurz gegriffen haben, als er in seiner Rede zum Schuljahrabschluß 1809 die bange Frage zu beantworten suchte: „Dürfen wir von der Bildung der neueren Welt, unserer Aufklärung und den Fortschritten aller Künste und Wissenschaften nicht glauben, daß sie die griechischen und römischen Kinderschuhe vertreten haben, ihrem alten Gängelbande entwachsen auf eigenem Grund und Boden fußen können? Den Werken der Alten möchte immerhin ihr größer oder geringer angeschlagener Wert bleiben, aber sie hätten in die Reihe von Erinnerungen, gelehrter müßiger Merkwürdigkeiten, unter das bloße Geschichtliche zurückzutreten.“11 Aus Hegels Worten spricht die für die neuhumanistische Bildungsidee typische Sorge des Gymnasialdirektors, das, was in der antiken Welt ‚einfach und groß‘ war, könnte in der neueren Welt zu einfach und wohl auch klein erscheinen. Diese Sorge resultiert aber aus der Beschränkung auf eine im wesentlichen philologisch und musisch orientierte Bildungsvorstellung, die gerade das übersieht, was hier als die griechischen Entdeckungen des argumentativen bzw. dialogischen Wesens der Vernunft, der Theorie- und Erfahrungsform des Wissens, der Einheit auch
11 G. W. F. Hegel, Rede zum Schuljahrabschluß am 29. September 1809, in: G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, ed. E. Moldenhauer/K. M. Michel, Frankfurt 1969–1979, IV, 317.
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wissenschaftlicher Rationalitäten in einer Lebensform darzustellen versucht wurde. Tatsächlich läßt sich die griechische Kultur, auch und gerade in einem schulischen und universitären Rahmen, gar nicht verlieren, es sei denn, die moderne Welt gäbe sich als eine rationale Kultur selbst auf. Unser Begriff des philosophischen und des wissenschaftlichen Denkens und unser Begriff der Vernunft haben eben nicht nur eine griechische Geschichte, sie haben auch eine griechische Form. Und das bedeutet natürlich auch, daß die Gegenwart des griechischen Denkens keineswegs nur auf seine sprachlichen und literarischen Formen beschränkt ist. Dies wissen wir besser als die Theoretiker des humanistischen Bildungsbegriffs. Dabei ließe sich sogar gegen die modernen Tendenzen, den Wissensbegriff gegen einen schwachen Informationsbegriff einzutauschen und den Rationalitätsbegriff in Expertenrationalitäten aufzulösen, ferner gegen die Tendenz, Rationalität und Leben gegeneinander zu isolieren, der ursprüngliche, der griechische Rationalitäts- und Vernunftbegriff wieder ins Feld führen. Mit ihm werden begründungsorientierte Wissensformen und vernunftorientierte Lebensformen entworfen, die selbst noch einmal in der Einheit wissenschaftlicher und lebensweltlicher Rationalitäten in einer Lebensform zusammengeführt werden sollen. Auch das würde nicht bedeuten, die alte Welt nur aufs neue, nach Art der humanistischen Bildungsprogramme mit ihrem Imperativ ‚bilde dich griechisch!‘ zu beschwören. Es würde vielmehr bedeuten, der modernen Welt den Spiegel ihrer eigenen Rationalität entgegenzuhalten. Oder mit Ernst Robert Curtius in seinem Briefwechsel mit T. S. Eliot gesprochen: „Athen will eben immer neu aus Alexandrien zurückerobert sein.“12 Noch einmal anders ausgedrückt: Ohne das griechische Denken und in diesem Sinne ohne die Antike wäre auch unsere Welt eine andere Welt. Daß diese Welt in den erläuterten Momenten eine griechische Form hat, macht die andauernde Gegenwart der Antike, nicht nur in Schule und Universität, aus. Und daß sie diese Form bewahren muß, wenn sie nicht ihr rationales Wesen verlieren will, macht darüber hinaus die Zukunft der Antike in der modernen Welt aus.
12 P. Godman, T. S. Eliot und E. R. Curtius. Eine europäische Freundschaft, Liber I (1989), 5.
Schlußbemerkung
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Nachweise Statt einer Einleitung: Philosophie und Wissenschaft – Philosophie als Wissenschaft? Erstveröffentlichung. Griechische Anfänge des wissenschaftlichen Denkens, in: G. Damschen/R. Enskat/A. G. Vigo (Eds.), Platon und Aristoteles – sub ratione veritatis, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2003, 134–157. Die Kosmologie der Griechen, in: J. Audretsch/K. Mainzer (Eds.), Vom Anfang der Welt. Wissenschaft, Philosophie, Religion, Mythos, München (Verlag C. H. Beck) 1989, 40–65, 208–210. Die geometrischen Wurzeln der Platonischen Ideenlehre, Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und humanistische Bildung 92 (1985), 399–418. Der Sokratische Dialog, in: K. Stierle/R. Warning (Eds.), Das Gespräch, München (Wilhelm Fink Verlag) 1984 (Poetik und Hermeneutik XI), 11–27 (Versuch über den Sokratischen Dialog). Eros – der älteste Gott, in: J. Mittelstraß (Ed.), Platon. Das Gastmahl, München (Verlag C. H. Beck) 2008, 93–110 (Nachwort). Platons Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen, in: O. Höffe (Ed.), Platon. Politeia, Berlin (Akademie Verlag) 1997 (Klassiker Auslegen VII), 229–249 (Die Dialektik und ihre wissenschaftlichen Vorübungen (Buch VI, 510b-511e und Buch VII 521c-539d)). Ontologia more geometrico demonstrata, Philosophische Rundschau 14 (1966), 27–40. Aristotelische Physik und Metaphysik, Erstveröffentlichung. Der Begriff der Kausalität, deutsche Version von: The Concept of Causality in Greek Thought, in: P. Machamer/G. Wolters (Eds.), Thinking about Causes. From Greek Philosophy to Modern Physics, Pittsburgh Pa. (University of Pittsburgh Press) 2007 (Pittsburgh-Konstanz Series in the Philosophy and History of Science), 1–13.
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Nachweise
Theaitetos fliegt – Zur Theorie wahrer und falscher Sätze in Platons Sophistes (mit Kuno Lorenz), Archiv für Geschichte der Philosophie 48 (1966), 113–152. On Rational Philosophy of Language – The Programme in Plato’s Cratylus Reconsidered (mit Kuno Lorenz), Mind 76 (1967), 1–20. Nicholas Rescher on Greek Philosophy and the Syllogism (mit Peter SchroederHeister), in: R. Almeder (Ed.), Rescher Studies. A Collection of Essays on the Philosophical Work of Nicholas Rescher, Heusenstamm (ontos Verlag) 2008 (Reading Rescher 2), 211–240. Griechische Bausteine der neuzeitlichen Rationalität, in: W. Schuller (Ed.), Antike in der Moderne, Konstanz (Universitätsverlag Konstanz) 1985 (Xenia. Konstanzer Althistorische Vorträge und Forschungen 15), 195–209. Die Gegenwart der Antike in Schule und Universität, in: W. Jens/B. Seidensticker (Eds.), Ferne und Nähe der Antike. Beiträge zu den Künsten und Wissenschaften der Moderne, Berlin/New York (Walter de Gruyter) 2003, 17–32.
Personenregister
Personenregister Abu ’l-Faraj ibn al-Tayyib 258 Ackrill, J. L. 194, 200–201, 203, 206, 209–212, 227 Adam, K. 299–300 Agathon 114–115, 117, 120 A1mad ibn al-Tayyib al-Sarakhs\ 258 Ainesidemos 252 Albert, K. 115 Albertus Magnus 164 Alexander der Große 161 Alexander von Aphrodisias 35, 145–146, 149, 169, 257, 282, 288 al-Farab\ 258–259 Algazel 253 Alkibiades 114, 120–121 al-Kind\ 258 Allan, D. J. 196, 212, 227 Ammonios 257, 288 Anaxagoras 45, 178–180 Anaximander 24, 45–47, 49–51, 68, 250–253 Andronikos von Rhodos 169 Angelli, F. 187 Annas, J. 128, 141 Aphrodite 113, 115, 118, 120 Apollodoros 113 Apollon 120 Apollonios von Perge 22, 26, 35, 51 Archimedes 22, 25–26, 36, 283 Archytas von Tarent 25 Aristarch von Samos 22, 24, 54 Aristodemos 113 Aristophanes 114–117 Aristoteles VIII, 2, 11, 14, 24–25, 29, 33, 35–41, 45–47, 49, 54, 56–62, 66, 68–70, 77, 83–84, 86, 99–100, 109, 112, 118–119, 128, 131, 138, 140, 145–150, 158, 161–162, 164–177, 179,
181, 183–189, 227, 247, 250–251, 253–257, 261, 263, 266–270, 280–288, 303–304 Aristoxenos 146 Atropos 65 Audretsch, J. 182 Augustinus, A. 49, 113 Averroes 164, 253, 257 Bacon, F. 166, 284 Bacon, R. 284 Bambrough, R. 74, 136 Becker, A. 269–270 Becker, O. 27, 146–147 Benardete, S. 117 Bergson, H. L. 4 Bernhard, P. 6 Bieri, P. 40, 278 Birch, T. 285 Bluck, R. S. 194, 201–205, 211, 216, 218–220, 225, 227 Boethius 164, 184 Boyle, R. 285, 287 Brahe, T. 55 Brandt, R. 168, 184 Bröcker, W. 131, 143 Brockmann, Chr. 113 Brumbaugh, R. S. 152 Buck, R. C. 110 Buffon, G.-L. L. 287 Buhr, M. 292 Burkert, W. 50, 67, 131, 149 Busse, A. 288 Cabeus, N. 287 Carcavy, P. 288 Carnap, R. 5–6, 8, 12, 242 Chaos 44
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Personenregister
Chen, L. C. H. 135 Chenu, M.-D. 164 Cherniss, H. 145–146, 150, 158 Cohen, I. B. 289 Cohen, R. S. 110 Colli, G. 121 Cornford, F. M. 194–200, 206, 210–211, 220, 227 Cotes, R. 285 Cousin, V. 146 Crombie, I. M. 196, 218, 227 Cross, R. C. 87, 106, 132–133 Currie, G. 110 Curtius, E. R. 306
Empedokles 45–48, 116, 178–179 Engelen, E.-M. 120 Er 65, 100 Erhart, W. 171 Eros 44, 114–121 Eryximachos 114–116, 118 Eudemos 35, 75, 136 Eudoxos 22–23, 35, 51, 55, 57, 59, 65–66, 69, 131, 283 Euklid 23, 25, 28–29, 36, 81, 86, 129, 149, 151–153, 289 Euler, L. 110 Euripides 50, 113 Everson, St. 139
Dalton, J. 287 Darwin, E. 287 Demokrit 55 Descartes, R. 110, 287 Diels, H. 47, 61, 96–97, 146, 150–151, 169, 178, 272, 282 Diès, A. 195, 205, 218, 225, 227 Dike 48 Din1a 258–259 Diogenes Laërtios 28 Diogenes von Apollonia 48 Dione 115 Dionysos 114, 120 Diophant 22 Diotima 114, 117–120 Duhem, P. 282 Dummett, M. 270 Düring, I. 48 Dürr, K. 210, 228
Feuerbach, A. 113–114 Fine, F. 139 Flashar, H. 170, 176 Frege, G. 175 Friedlein, G. 27–28, 75, 81, 136, 140 Fritz, K. v. 74, 81, 105, 136, 177, 283 Fuhrmann, M. 291
Ebert, T. 87 Edleston, J. 285 Edwards, P. 112, 162 Effe, B. 68 Eliot, T. S. 113, 306
Gaia 44 Gaiser, K. 105, 128, 145, 147–160 Galen 254–255, 257–259, 288 Galilei, G. 38, 165–166, 177, 188, 284–285, 288–289 Geach, P. T. 254, 270 Gethmann, C. F. 28 Glaukon 32, 34, 65, 77, 130, 137 Glockner, H. 278 Godman, P. 306 Goethe, J. W. v. 162 Grabmann, M. 164 Grassi, E. 104 Greiner, U. 292 Grosseteste, R. 284 Gulley, N. 206, 209, 212, 225, 228 Guthrie, W. K. C. 69, 106, 127, 141
Personenregister
Hackforth, R. 195–199, 202, 228 Hager, F.-P. 69 Haller, A. v. 287 Halperin, D. M. 120 Hamlyn, D. W. 197–199, 202, 204, 211, 214, 216, 219–220, 228 Hare, R. M. 74, 136 Hayduck, M. 146, 149, 169 Hegel, G. W. F. 161, 167, 176, 252, 277–278, 305 Heiberg, J. L. 28, 282 Heidegger, M. VII, 4, 8–9, 171 Heinze, M. 170 Heinze, R. 150 Heisenberg, W. VII Hekabe 50 Helena 120 Herakleides Pontikos 55 Heraklit 47–48, 105, 178, 251–252 Hermodoros 150 Hermogenes 233, 235–236 Heron von Alexandreia 25 Herter, H. 154 Hesiod 44, 48–49, 115 Hiller, E. 35 Hilpinen, R. 278 Hipparchos von Nikaia 22, 35, 51, 54, 56 Hippasos von Metapont 22 Höffe, O. 31, 100 Hölderlin, F. 93, 113 Homer 44, 49, 62 Horstmann, R. P. 278 Hübner, K. 285 Hultsch, F. 283 Humboldt, W. v. 8, 14, 126, 292–293, 296–297 Husserl, E. 1–2, 4 Ibis 43 Ibn al-Sala1 254–255, 258–262
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Jaeger, W. 170 Jager, M. 254, 257, 270 Janich, P. 4–5, 78, 276 Jaspers, K. 4 Jaumann, H. 171 Kahn, Ch. H. 250, 270 Kambartel, F. 107, 287 Kamlah, W. 8, 214–215, 220, 226, 228 Kant, I. 2, 5–7, 13–14, 20, 34, 37, 72–73, 77, 83, 87, 139, 161, 170, 172, 175, 236, 250, 285–287, 289 Kapp, E. 20–21 Kelsey, S. 181 Kepler, J. 26, 54, 56 Kierkegaard, S. 4 Klotho 65 Kneale, M. 260, 270 Kneale, W. 260, 270 Kopernikus, N. 51, 53, 56 Krafft, F. 56 Krämer, H. J. 105, 128, 145–146, 150 Kranz, W. 47, 96, 178, 272 Kratylos 233, 235–236 Kronos 44 Krüger, G. 117 Krüger, L. 278 Kucharski, P. 224, 228 Kuhn, Th. S. 276 Lacey, A. R. 197, 228 Lachesis 65 Lagerlund, H. 269–270 Lakatos, I. 110 Lamarck, J.-B. de 287 Lameer, J. 259, 270 Lee, K. J. 183 Leibniz, G. W. 7–9, 80, 161, 165, 172, 175, 181, 245, 260, 264, 285 Leukipp 178–179
312
Personenregister
Liddell, H. G. 218, 228 Linné, C. 287 Lorenz, K. VII, 5, 8, 40, 95, 181, 193, 214, 228, 278–279 Lorenzen, P. 78, 241, 245 Łukasiewicz, J. 254, 257–258, 271 Macran, H. S. 146 Mainzer, K. 61, 182 Malcolm, N. 12 Manasse, E. M. 74 Marsyas 121 Marten, R. 203–204, 211, 215, 220, 222, 225, 228 McCall, S. 269, 271 Menge, H. 28 Menne, A. 263, 271, 285 Merlan, Ph. 145 Merrill, D. 262–265, 271 Metis 118 Meyer, K. 56 Michel, K. M. 162, 305 Minerva 277 Mittelstraß, J. 2, 4–8, 10–13, 22, 27–28, 31, 35, 39, 45, 52, 55–56, 58, 61, 74–76, 78, 80–81, 88, 95, 100, 105–106, 113, 128, 130–131, 133–135, 168, 171, 182, 184, 214, 228, 247, 249, 271, 276, 282, 285, 292, 301–302, 304 Moldenhauer, E. 162, 305 Montinari, M. 121 Moravcsik, J. M. E. 194–195, 197–198, 204–206, 210, 212, 216, 220, 228 Moreau, J. 205, 228 Musaios 44 Natorp, P. 85 Nestle, W. 46 Newton, I. 25–26, 285, 287–289 Nietzsche, F. 2, 121, 172
Nortmann, U. 269, 271 Nyx 44–45 Oehler, J. 2 Oehler, K. 211, 220, 228 Okeanos 44, 118 Otto, W. F. 104 Owen, G. E. L. 39, 174, 188, 198, 228 Panku 44 Panofsky, E. 20 Pappas, N. 127 Pappos von Alexandreia 23, 283 Parks, R. Z. 266–267, 269, 271 Parmenides 45, 115, 193 Patzig, G. 47, 88, 176, 213 Pausanias 114–116 Pears, D. F. 242 Peck, A. L. 194, 197–198, 200, 204, 211–212, 225, 228 Peckhaus, V. 6 Penia 118 Petrus Peregrinus 284 Phaidros 114–115, 120 Philippos von Opus 67, 160 Philolaos 45, 54 Piecha, Th. 258 Pingree, D. 254, 271 Pirotta, M. 187 Plamböck, G. 104 Platon VII–VIII, 2, 6, 9, 14, 29–36, 38, 41, 45–48, 55, 62–69, 71–89, 93, 96–121, 125–133, 135–150, 152–163, 172–174, 176–177, 179, 181–184, 187, 193–206, 208–227, 232–240, 244, 246–247, 251–253, 280, 282, 284, 300, 302–303 Plinius d.Ä. 286 Plotin 113 Plutarch 153
Personenregister
313
Rapp, F. 39 Reichenbach, H. 277–278 Reidemeister, K. 152 Rescher, N. 247–255, 257–264, 266–267, 269, 271 Ritter, C. 157 Robin, L. 215, 225, 228 Robinson, R. 135, 196, 214, 228–229, 234–235 Rohr, G. 156 Roller, D. H. D. 289 Ross, W. D. 145, 149–150, 210–211, 220, 229 Runciman, W. G. 205, 210, 216, 220, 229 Ryle, G. 112, 162, 226, 229
Schwarz, F. F. 69 Schwemmer, O. 78 Scott, R. 218, 228 Sedley, D. 181 Seeck, G. A. 24, 58–59 Seleukos von Seleukeia 54 Sextus Empiricus 150 Sichirollo, L. 97 Sier, K. 118 Simplikios 24, 35, 61, 146, 150–151, 169, 250, 282 Sneed, J. D. 277 Snell, B. 116 Sokrates VIII, 15, 79, 93–94, 96–103, 108–115, 117–121, 138, 140–141, 179–180, 184, 199, 216, 233–236, 302 Sosigenes 35, 282 Speusipp 149, 160 Stahl, H. P. 138 Steck, M. 86, 136 Stegmüller, W. 5, 277 Stemmer, P. 135, 138, 141–142 Stenzel, J. 145–146, 220, 229 Sticker, B. 56 Stierle, K. 80 Street, T. 259, 272 Sturm, Th. 168, 184 Szabó, Á. 75, 81, 135
Sabra, A. T. 254–255, 257–259, 271 Sartre, J.-P. 4 Schipper, E. W. 199, 214, 229 Schlegel, F. 113, 119 Schleiermacher, F. 104 Schnädelbach, H. 5, 276 Schönberger, L. 86 Schrödinger, E. VII Schroeder-Heister, P. VII, 247 Schuller, W. 27, 304 Schulte, J. 11
Tartaros 44–45 Taylor, A. E. 227, 229 Thales von Milet 24, 27–32, 35, 45–47, 75–76, 81, 128, 136, 247, 252, 303 Theaitetos (Theaetet) 153, 193–194, 196–199, 201–204, 206, 208, 211, 213–218, 220–225, 234, 237 Themistios 146 Theon von Smyrna 35 Thiel, Chr. 5 Thom, P. 263, 272
Popper, K. R. 258, 276 Poros 118 Porphyrios 151 Poseidonios 24 Priestley, J. 287 Proklos 27–28, 75, 81, 86, 136, 140, 146 Protagoras 253 Ptolemaios, K. 23, 25–26, 35, 51–54, 56–57 Pythagoras 251 Pythagoreer 131, 252 Pythia 120
314
Personenregister
Thomas, I. 254, 272 Thomas von Aquin 164, 170, 187, 253, 284 Thot 43 Thymanidas von Paros 22 Tiamat 44 Timaios 183 Trier, U. P. 295 Trunz, E. 162 Turnbull, R. G. 201, 212, 214, 229 Urania 115 Uranos 44, 115 Vlastos, G. 120, 129–130, 181 Vogel, C. J. de 145 Waerden, B. L. van der 26 Wagner, H. 167 Wallies, M. 288 Warning, R. 80 Weber, M. 304 Wedberg, A. 158
Wehrli, F. 27–28, 75, 136 Weischedel, W. 72, 172 Wenzel, U. J. 11 Wieland, W. 31, 39, 74, 88, 105, 136, 143, 168, 186–187 Wilpert, P. 145 Winkler, J. J. 120 Wittgenstein, L. 12–13, 231–232, 242 Wolters, G. 52 Woozley, A. D. 87, 106, 132–133 Worrall, J. 110 Xenakis, J. 195, 229 Xenokrates 149–150, 160 Xenophanes 48, 252 Xenophon 97 Ymir 44 Zahar, E. 110 Zeitlin, F. I. 120 Zeus 44, 67, 115–116, 118
Sachregister
315
Sachregister Abbild 80, 84, 158, 181, 238–239 Abbildtheorie 194–195, 206, 231 Alltagssprache 232, 246 Analysis (analytische Methode) 283, 288–289 Anamnesis (Anamnesis-Theorem) 79–80, 82, 99–101, 129 Anfang (der Vernunft) 21, 44–45, 63, 96–99, 101–103, 125, 130, 132, 142–143, 247 Anfänge 19–22, 26, 29, 62, 69, 142, 299, 302 Anisotropie (der Zeit) 10 Anschauung 34, 37, 87, 139–140, 150 Anthropologie, philosophische 8 Apeiron 46, 49, 68, 250–251 Apriori, lebensweltliches 13 Äquivalenz 244 Äquivalenzrelation 81 Arche 185, 250–251 Aristoteles-Welt 61–62 Aristotelismus, Paduaner 288 ars combinatoria 237 Astronomie, mathematische 24, 61 Astronomie, physikalische 24, 61 Ataraxia 253 Atom 39 Atomismus, Logischer 237 Aufklärung 293 Augustinismus 164 Ausgleichspunkt 52, 57 Außenwelt 11 Autorität 103 Bedeutungsanalyse 186 Begriff 85, 89, 244–246 Begriff, individueller 7 Begriff, vollständiger 7
Begründungsrationalität 276–277, 279–280, 283–284, 288 Beratung 94–95 Bewährungsrationalität 276 Beweger, unbewegter 61, 69–70, 176 Bewegung, natürliche 59–60, 166 Beweis 28–29, 128, 247 Bildung 292–301 causa efficiens 169, 186 causa finalis 169, 186 causa formalis 169, 186 causa materialis 169, 186 context of discovery (Entdeckungszusammenhang) 277–279, 289 context of justification (Begründungszusammenhang) 277, 279, 289 convention-theory (of language) 233, 235–236, 239–240 Darstellung 40–42, 278–281, 283–284, 289, 303 Darstellungsrationalität 279, 289 Deduktion, mystische 6 Definition (exemplarische Bestimmung) 242–243 Definitionsgleichheit 234 Delisches Problem 23, 129 Demiurg 6, 62, 88, 182–183 demonstratio propter quid 288 demonstratio quia 288 designation 230 Dezisionismusrest 107 Dialektik 11, 97–99, 105–106, 125–126, 132, 138–142, 302–303 Dialog, philosophischer 93–96, 98–99, 101, 103–104, 107–112
316
Sachregister
Dialog, Sokratischer VII, 93, 96, 99, 102, 108–109, 112 Dialogwissen 107 Dianoia 80, 132–133 Dies-da 173, 184 Dihairesis 152 Ding 80 Ding, natürliches 39, 58, 166, 175 Ding an sich 6–7, 11, 172 Dualismus 71 Dynamis 173, 185 Eigenname 193–199, 202, 211, 214–217, 221, 233, 238, 245–246 Eigenprädikator 127 Einheit (der Welt) 70 Ekthesis 254, 266, 268 Elementarsatz (Elementaraussage) 193, 199, 217, 221–222, 234, 237–238 Elemententheorie 37, 56–61, 129, 153, 165 Elenktik 98, 138, 140 Empeiria 36–37, 40–42, 280 Empirismus 39, 285, 289 Empirismus, Logischer 5, 276 Endlichkeitsprinzip 69 Energeia 185 Entgöttlichung (der Welt) 49 Epagoge 283 Epizyklen 52–53, 55, 57 Epoche 253 Erfahrung 36–41, 281, 284 Erfahrung, instrumentale 38, 188 Erfahrung, phänomenale 38, 188 Erfahrungsform 39–41, 283–284, 286–287, 289, 301, 303–305 Erfahrungspostulat 281 Erfahrungsrationalität 41 Erfahrungswissen 37, 165, 175 Eristik 97–98, 171
Erscheinung 6–7, 65–66, 84, 150, 158, 172–173, 184 essentia 171 Ewigkeit 62, 68, 182 Ewigkeit (der Welt) 68 existentia 171 Existenzphilosophie 4 Experiment 284 Experimentalphilosophie 285–287 Expertenwelt 297, 299 Fallgesetz 37–38, 165 Fallgesetz, Aristotelisches 165 Farbprädikatoren 242–244 Form, substantielle 7 Formalwissenschaften 132 Form und Stoff 171, 173 Forschung 40–42, 278–281, 284, 289, 303 Forschung, philosophische 93, 96–97, 110–111 Forschungsform 278 Forschungsrationalität 279, 284, 289 Fundamentalontologie 171 Gedankenexperiment 252 Gegenstand, theoretischer VII, 7, 32–34, 76, 80, 87, 89, 100, 137 Geist 71 Geometrie, Thaletische 27–29, 32, 35, 45 Geometrisierung (der Natur) 88 Geozentrismus 51, 54, 56, 61 Geschichte, innere/äußere 110 Gleichheit 80–82 Gleichheitsaxiome 81 Göttliche, das 47–50, 62, 70–71 Göttlichkeit (der Welt) 47–49, 68, 71 Großes Jahr 154–155 Gründlichkeit 2–3, 5, 14
Sachregister
Gute, das 83, 87, 119, 121, 143 Gymnasium, humanistisches 296, 299–301 Harmonie, prästabilierte 7 Heliozentrismus 24, 54–56 Herstellungsapriori 13 Historia 282, 286–287 Historismus 280 Hochzeitszahl 154–155 Höhlengleichnis 87, 125, 141–142 Hylozoismus 46–47 Hypothese 74, 135, 138, 142 Idealismus 6, 71 Idealismus, Deutscher 71, 121 Idealität 32, 77, 137, 158 Ideator 78, 85, 138 Idee 6, 32–34, 62–63, 66–67, 72–73, 76–89, 119, 121, 126–128, 132–134, 137–140, 144, 150, 158, 172–173, 180–185, 194–205, 208–226 Idee (des Guten) 83, 87, 106, 126, 142–144 Ideenlehre VII, 6–7, 30, 33–34, 63, 65, 72–80, 82–83, 85–89, 100, 119, 126, 128–129, 131, 173, 179, 182, 193, 196–197, 227 Ideenzahlenlehre 89, 146–148, 153, 181 Identitätsprinzip (Ununterscheidbarkeitssatz) 245 Intellektualismus (Sokratischer) 102 Intention, dialektische 98 Intention, praktische 98, 302 Intention, theoretische 98, 106, 302 Interpretationsmaxime 9 Kausalgesetz 177 Kausalität 84, 177–189
317
Kausalprinzip 177 Kennzeichnung 199, 214 Kennzeichnung, vollständige 7 Kongruenzaxiom 81 Konstitution (Konstitutionszusammenhang) 37, 41, 174, 278–282 Konstitutionsproblem 13 Konstitutionssystem 5 konstitutiv 83 Konstruktion 33–34, 36, 38, 41, 63, 75, 78, 87, 131, 137–139, 183 Konstruktionsmodell (der Rationalität) 36, 40–41, 183, 188, 303 Konstruktivismus, methodischer 5 Konstruktivismus, radikaler 4 kontradiktorisch 219 konträr 219–220 Konversion 264–265, 269–270 Kopula 204–205, 210 Kosmogonie 44 Kosmos 45–46, 61–63, 67–70, 182–183, 250–251 Leben, vernünftiges 95 Lebensform 4, 66, 99, 104–105, 111, 119, 121, 296, 298, 301, 305–306 Lebensphilosophie 4 Lebenswelt 3–4, 12–13, 15, 140, 304 Lehre, ungeschriebene 105 Lehrsatz, Pythagoreischer 27, 75, 136–137 Leonardo-Welt 10, 13 Lernen 294–295 linguistic turn 5 Liniengleichnis 73, 86–87, 125, 132–134, 137–140, 142–143 Maieutik, epistemische 102–103 Materie 46–47
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Sachregister
Mathemata 32–33, 63, 77, 125–126, 130–132, 135–144, 159 Mechanik 24–25 Metaphysik 12, 162, 168–176 Metaphysikkritik 5 Methexis 180, 182, 196, 200 metodo compositivo 288 metodo risolutivo 288 Minimalsatz 193, 196, 217, 221–222, 227, 234, 237 minima naturalia 39 Mittel, philosophische 11 Modallogik 266–270 Monade 7–8, 172 Monadenlehre 7–8 Monotheismus 48 mundus intelligibilis 6 Nachkonstruktion 5 Name 233–239 Natur 39, 71, 166–167, 182 natura naturans 166 natura naturata 166 Naturbeherrschung 38, 166 Naturbeschreibung 38, 166, 285–288 nature-theory (of language) 233, 235–236, 239–240 Naturgeschichte 285–287 Naturgesetz 49 Naturphilosophie 46–48, 162, 177, 179, 182, 285–287 Naturteleologie 167 Neuhumanismus 300 Nichtseiende, das 193, 195, 218–219, 221 Nichtsein, das 216, 219, 223–225 Noesis 33, 77, 84, 127, 133, 144 Nominalismus 230–233, 240, 246 Norm 83 Nus 6, 66, 70–71, 180
Objektfragen 6 Objektrationalität 278, 280–281, 284 Obversion 264–265 Orientierung, philosophische 94–96, 99, 103–112 Orientierungswissen 293–294 Ort, natürlicher 59–61, 166 Pädagogik, philosophische 125 Peripatos 161, 163 Person 102 Phänomene 35, 39–41, 55–56, 65, 282–283 Phänomenologie 11 Philosophenkönige 125, 141 Philosophie 1–19, 72, 93, 104–105, 108, 111–112 Philosophie, analytische 5, 11 Philosophie, empirische 285, 287 Philosophie, Erste 169–171, 174 Platonische Körper 129 Platonismus 85, 88–89, 101, 112–113, 130, 143, 172 Platonismus, Cambridger 113 Platonismus, christlicher 6 Platon-Welt 62 Poiesis 167 polarkonträr 219 Prädikatbegriff 184 Prädikator 85, 127 Prädikatorenregel 237 Prinzipienanalyse 168, 186–189 Probleme, philosophische 10–14 Punkt, metaphysischer 7 Pythagoreismus 131 Quadratur (des Kreises) 129 Quantenmechanik 10
Sachregister
Rationalität 20–21, 26–27, 36, 42, 45, 50, 275–276, 302–306 Rationalität, philosophische 14, 41, 44, 50, 248 Rationalität, transparadigmatische 276–277 Rationalität, wissenschaftliche 14–15, 27, 36, 41–42, 44, 50, 183, 248, 275–281, 283–284, 286–290, 304 Rationalitätsform 14 Rationalitätsmodell, fallibilistisches 276–277, 279 Rationalitätsmodell, historistisches 276–277 Rationalitätsmodell, strukturalistisches 277 Raum 59, 62 Realismus 230–233, 240, 246 reductio ad absurdum 252, 254 Reduzierbarkeit, semantische 9 Reflexionsschule 14 Reflexivität 81 regressus in (ad) infinitum 171, 237 regulativ 83 Rekonstruktion 5, 8–10, 21, 241, 249 Rekonstruktion, logische 7 Rekonstruktion, rationale 241, 244, 246 Rekonstruktionsmodell (der Rationalität) 40–41, 188, 303 Rekonstruktionspostulat 5 Rettung (der Phänomene) 35, 41, 55–56, 65, 282–283 Romantik 113, 121 Sachverhalt 221–222, 227, 238, 246 Satz, theoretischer VII, 27, 29, 32, 75, 100, 128, 137, 247 Satz vom ausgeschlossenen Dritten 171
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Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch 171 Satz von der Endlichkeit von Begründungen 171 Scheinfragen 6 Scheinprobleme 12 Scheinsätze 6 Schöne, das 84, 119, 121, 140 Seele 46–47, 63–65, 67, 69, 80, 101, 119, 125, 127, 144, 150, 182 Seiende, das 80, 135, 140, 170–171, 212, 215, 217–218, 221–223 Seinsgeschichte 8 Selbständigkeit, vernünftige 103 Selbstbewegung 46, 69 Semi-Syllogismus 264–265 Sinnlichkeit 37, 40, 144 Sonnengleichnis 87, 126, 142 Sophia 170 Sophist 193, 197, 252–253 Sophistik 98, 105, 115 Sphärenharmonie 61, 131–132 Sprachkritik 13 Sprachspiel 231, 242 Stoa 227 Subjekt, logisches 184 Subjekt, philosophisches 93, 96, 100–101, 109 Subjektbegriff 184 Substanz (siehe auch Usia) 7–8, 171–175, 184–185, 251 Substanz, einfache 7–8 Substanz, individuelle 7 Substanz-Akzidenz-Schema 173, 184 Substanzenmetaphysik 172 Substrat 184 Syllogistik 25, 205, 218, 254–257, 259, 261–266 Symmetrie 81
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Sachregister
Symmetriebetrachtung 28–29 Synthesis (synthetische Methode) 283, 288–289 Tatsache 221 Tatsachenwahrheiten 181 Techne-Wissen 175 Telos 185–187 Tetraktys 55, 131–132 Theogonie 44 Theologie 48–50 Theoria 28–29, 32, 36, 41–42, 66–67, 70, 76, 99, 183, 188, 286, 303–305 Theoriebegriff 76, 128, 143, 176 Theorieform VII–VIII, 27, 29–30, 32–36, 38–41, 128, 136–137, 278–279, 283–284, 286–289, 301, 303–305 Theoriendynamik 9–10 Theorienexplikation 9–10 Theorienstruktur 9–10 Theorierationalität 41 Trägheitssatz 37–38 Trägheitssatz, Aristotelischer 37–38, 165 Transitivität 81 Transsubjektivität 109, 111, 295 transtheoretisch 10 Tugend 79, 82, 100 Unterscheidungsapriori 13 Unterscheidungsklarheit 174 Unterscheidungswissen 40, 175, 303 Ununterscheidbarkeit 80 Unzeitgemäße, das 297 Urbild 80, 84, 181 Ursache 180, 187–188, 199 Ursachenlehre 167–168, 175, 188 Usia (siehe auch Substanz) 39, 77, 171–173, 184, 221, 238, 246
Verfügungswissen 293 Verifikationsprinzip 12 Vernunft 21–22, 44–45, 70–72, 87, 96–99, 101–103, 107, 109, 111, 126–127, 129, 176, 180, 183, 302–304, 306 Vernunft, dialogische 109, 111, 302–304 Vernunft, praktische 126, 144 Vernunft, theoretische 20, 126, 144 Vernunftbegriff 73 Vernunftkritik 13 Vernunftwahrheiten 181 Verstandesobjekt 7 Voraussetzungslosigkeit 14 Vorsokratiker 45 Wahrhaftigkeitspostulat 98 Wahrheitswert 234 Wahrnehmungswissen 40, 175 Weltbild, geozentrisches 51 Weltbild, wissenschaftliches 43, 61 Weltseele 62, 65, 150, 153, 182 Wende, Keplersche 56, 61 Wende, Kopernikanische 56 Widerfahrnis 8 Wiedererinnerung, siehe: Anamnesis (Anamnesis-Theorem) Wissen, dialektisches 106 Wissensbildungsprozeß 40 Wissenschaftskritik 13 Wissenschaftslogik 12 Wissenschaftssprache 9 Zahlen, Pythagoreische 131 Zeit 62, 182 Zirkel und Lineal 23, 129 Zweiheit, unbestimmte 128, 146–147, 150–151 Zweiweltenlehre 6, 88, 130, 144