Die Glaubenseinheit der Evangelischen gegenüber Rom: Zur Verständigung über den evangelischen Bund. Referat bei der großherzoglich-hessischen Landesversammlung des Evangelischen Bundes in Frankfurt, 15. November 1887 [Reprint 2019 ed.] 9783111648477, 9783111265131


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German Pages 25 [28] Year 1888

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Die Glaubenseinheit der Evangelischen gegenüber Rom. Zur Verständigung über den evangelischen Bund. Referat bei der großherzoglich-hessischen Landesversammlung des Evang. Bundes in Frankfurt a. M., 15. November 1887
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Die Glaubenseinheit der Evangelischen gegenüber Rom: Zur Verständigung über den evangelischen Bund. Referat bei der großherzoglich-hessischen Landesversammlung des Evangelischen Bundes in Frankfurt, 15. November 1887 [Reprint 2019 ed.]
 9783111648477, 9783111265131

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Die Glaubenseinheit der Evangelischen gegenüber Rom. Zur Verständigung über den evangelischen Bund. Referat bei der großherzoglich-hessischen Landesversammlung des Evang. Bundes in Frankfurt a. M., 15. November 1887 von

Dr. I. Gottschick, Professor der Theologie in Gießen.

Läßt angesichts der tiefgreifenden Gegensätze, welche zwischen den verschiedenen Richtungen des Protestantismus nicht abzu­

leugnen sind, sich dennoch behaupten, daß dieselben ein religiöses Einheitsband, also eine wirkliche und positive innere Gemeinschaft und Uebereinstimmung in den höchsten Angelegenheiten des Ge­

wissens verknüpft, umfassend, stark und lebendig genug, um nicht

nur die Möglichkeit und Statthaftigkeit, sondern die Nothwendig­

keit und die Pflicht des äußeren Zusammenstehens im Kampfe

gegen die von Rom dem Protestantismus drohenden Gefahren zu begründen?

Diese Frage ist zum Thema des Referats, welches unsere heutige Besprechung einleiten soll, gewählt worden, weil ihre

verneinende oder zweifelhafte Beantwortung der eigentliche, ja

man kann sagen der einzige wirtliche Beweggrund der ablehnen­

den oder zuwartenden Stellung vieler Evangelischen zum evan­ gelischen Bunde ist. Alle andern derartigen Bedenken gegen Noth­

wendigkeit und Zweckmäßigkeit einer solchen Vereinsorganisation

zum Behuf der Controls und Abwehr der römischen Angriffe, wie sie der evangelische Bund erstrebt, wiegen federleicht gegen dies eine und sind auch fast überall zurückgezogen. Flugschrift d. Hess. LandeSv. d. evang. Bundes.

1

2 Verstummt ist jetzt wohl allenthalben, wo noch Verständniß

für die Bedeutung der evangelischen Kirche da ist, die Rede, die

man anfangs nicht nur von der opportunistischen politisch-liberalen

Presse, sondern auch von sehr kirchlicher Seite hören konnte, es

sei nicht zeitgemäß als Störer des confessionellen Friedens auf­ zutreten.

Es ist ja eine unwiderlegliche Wahrheit, die Luthardt

auf der 5. allgem. luth. Conferenz in Hamburg kürzlich so formulirt hat :

„Die Entwicklung, welche die römisch-katholische

Kirche in Deutschland genommen hat, die Stellung, welche sie

gegenwärtig einnimmt und ihr übergreifendes Vordringen auf den verschiedensten Gebieten

nöthigt uns zur Gegenwehr im

Interesse unsrer Kirche und unsres Volkes".

der

dem Katholicismus

unverlierbare

In der That hat

Gedanke

nach Wieder­

herstellung der römischen Herrschaft über Deutschland vielleicht noch nie in solchem Umfang, mit solcher Zielbewußtheit, in so

systematischer

Betriebsamkeit,

in

Siegeszuversicht

solcher

sich

drüben wirksam erwiesen, wie in unsern Tagen.

Als schwerwiegend ist auch ein andres Bedenken nicht zu betrachten, das sich wohl in die folgende Fassung gekleidet hat:

einen Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen

brauchen wir nicht erst zu stiften, wir haben ihn schon und

nennen

ihn

im

gewöhnlichen

Leben

die

evangelische Kirche.

Dieser die rechte Widerstands- und Actionskraft zu geben, das

ist's, worauf es ankommt.

Allerdings, die Pflanzung und Pflege

lebendigen evangelischen Glaubens und treuen kirchlichen Sinns,

die Heilung der inneren Schäden unsrer Kirche ist die wichtigste Ausgabe.

Aber es ist wahrlich nicht zu befürchten, daß einer von

uns sie hinter die der Verbündung zur Abwehr zurückstellte.

Ich

wenigstens kann mir keinen Theologen denken, der nicht tief

davon durchdrungen wäre, daß in ganz andrer Weise als durch solches Bündniß die Widerstandskraft des Protestantismus ge­

stärkt würde, wenn es gelänge, die grade von ihm vertretene

Auffassung des evangelischen Glaubens Kirche zum Gemeingut zu machen.

und der evangelischen

Aber ob wir nicht zu spät

kommen würden, wenn wir die Inangriffnahme der Abwehr bis

3 dahin verschieben wollten, wo dies Ideal sich so oder so erfüllt hat?

Und es steht doch nicht so,

daß Glaube und kirchlicher

Sinn nur die Quellen für den Trieb und die Kraft zur Ab­ wehr wären: auch umgekehrt wird durch den Geisteskampf mit Rom das Verständniß für den Sinn und Werth des evan­

gelischen Glaubens und für die Bedeutung unsres kirchlichen

Lebens gekräftigt und erweckt.

Auch im Interesse der ersten

Aufgabe dürfen wir die zweite nicht verabsäumen.

Für die uns

heute aufgedrängte Aufgabe systematischer Beobachtung und Be­ kämpfung des römischen Vorrückens sind aber die Organisations­

formen, an die wir zu denken haben, wenn wir die bestehende evangelische Kirche einem im Werden begriffenen Verein

ent­

gegensetzen, nicht das geeignete Organ, auch dann nicht, wenn wir uns alle Wünsche nach größerer Selbständigkeit und Macht

der kirchlichen Behörden und Vertretungen erfüllt dächten.

Der

Angriff ist systematisch und centralisirt und erstreckt sich über das ganze Gebiet des deutschen Protestantismus, ja nicht blos

auf sein ganzes räumliches Gebiet, auch auf sein gesammtes Geistesgut, auf seine Geschichte, seine Helden, seine Literatur.

Er benützt alle modernen Mittel des geistigen Verkehrs, die täg­

liche und die periodische, die politische und die belletristische Presse, die Form der Brochüre und des wissenschaftlichen Werks. Eine seiner wirksamsten Waffen neben der kirchlichen Organisation ist grade die Form des freien Vereins, die sich obendrein noch

als ein vorzügliches Mittel zur Hebung des kirchlichen Ge­ meingefühls bewährt hat.

Und wir sollten glauben, die künftigen

selbständigen Bischöfe oder Synodalausschüsse der vielen einzelnen

evangelischen Landes- oder Provinzialkirchen Deutschlands würden zur Abwehr mehr leisten und das kirchliche Gemeingefühl gegen­ über Rom mehr beleben als ein möglichst umfassender freier

Verein? Endlich dürfte es nicht nöthig sein, des Näheren sich mit

der Widerlegung der mancherlei Besorgnisse zu bemühen, welche dem Bunde verborgene Hintergedanken unterlegen, als wolle er die Unionsversuche leidigen Andenkens erneuern, als wolle er

1*

4 die historischen Bekenntnisse

wenig

glücklich

seinen

eignen,

allerdings

gerathenen Bekenntnißparagraphen

abschafsen,

durch

als sei sein Zweck, die s. g. kirchliche Selbständigkeitsbewegung zu paralysiren, als solle er der Rehabilitirung des kirchlichen

Liberalismus dienen und was

solcher Besorgnisse mehr sind.

Wäre nur eins von denselben begründet, so wäre die Mehrzahl schon der ersten Unterzeichner des Aufrufs düpirt.

Hätten aber

wirklich einzelne der Begründer des Bundes die traurige Fähig­ keit besessen oder besäßen sie noch, unter dem Aushängeschilde

einer gemeinsamen heiligen Sache egoistische Partheipolitik zu

treiben, so könnte man sie doch getrost ihrem Gewissen überlassen; denn je mehr Mitglieder aller Richtungen auf Grund des Pro­

gramms dem Bunde beitreten, um so aussichtsloser wird es,

mittelst desselben solche Hintergedanken verwirklichen zu wollen. Die Entscheidung innerkirchlicher Fragen gehört einmal nicht zur Competenz des Bundes.

Wir können, und ich für mein Theil

denke, wir wollen uns über sie nach wie vor mit echt deutscher und lutherischer Principientreue streiten und uns dabei ein jeder

von seinem Ideal nichts abdingen lassen, es sei denn durch freie Ueberzeugung.

Aber der Streit um den zweckdienlichen Ausbau

des Hauses, in welchem wir wohnen, soll und darf uns nicht

daran hindern, mit vereinten Kräften dem bösen Nachbarn zu wehren, der uns das Haus selbst niederbrennen will.

Das

ist der allerdings für Manchen besorgnißerregende,

zwar nicht Hinter- aber Grundgedanke des evangelischen Bundes. Ihm gegenüber erhebt sich die Frage unsres Thema : wohnen

wir wirklich noch in einem Hause, ist's wirklich dieselbe Sache, sind es dieselben Güter, dieselben Heiligthümer, welche der evan­ gelische Bund uns aufruft gemeinsam gegen die Angriffe der

Römischen zu vertheidigen?

Nur, wenn wir diese Frage be­

jahen können, dürfen wir uns in der Weise, wie er es will,

vereinigen.

Mag die weltliche Politik berechtigt sein, Bündnisse

unter dem Gesichtspunkt zufälliger äußerer Interessengemeinschaft zu schließen: die Kirche, welche ihrem Wesensbestande nach nicht von der Welt ist, sollen wir utts wohl hüten mit Mitteln bauen

5 zu wollen, die von der weltlichen Art sind, welche dem Gerichte

Gottes verfällt. Es kann darum nicht ausreichen, wenn man zur Beschwich­

tigung der Bedenken gegen das Zusammengehen der Anhänger verschiedner Richtungen im ev. Bunde auf die nationale Seite des Kampfs mit Rom verwiesen hat.

Gewiß ist's eine unleug­

bare und höchst beklagenswerthe Thatsache, daß der heute zur

vollen Herrschaft gelangte Ultramontanismus den antinationalen

Zug, welcher dem Katholicismus im Blute liegt, aufs äußerste steigert und sich mit allen Mitteln bemüht, das katholische Volk

dem nationalen Geistesleben und der Liebe zu den nationalen

Gütern gänzlich zu entfremden.

Es ist auch selbstverständlich,

daß wir Evangelischen grade als Evangelische auf die Pflege der nationalen Güter und auf die Abwehr der Gefahren, welche der

Ultramontanismus für unser deutsches Volksleben hat, bedacht sein müssen.

Acht gelassen.

Auch die luth. Conferenz hat dies nicht außer Es ist auch keine Frage, daß wir verpflichtet

sind, zu diesem Zwecke selbst mit solchen gemeinsame Sache zu

machen, welche in religiösen Dingen gänzlich von uns geschieden

sind, aber doch in der Liebe zu deutscher Geistesart, deutschem Dichten und Denken, deutscher Geschichte, deutscher Freiheit und

Größe mit uns eins sind.

Aber solch Bund stehe auch unter

dem nationalen, nicht unter dem evangelisch-kirchlichen Panier.

Der Titel der „deutsch-protestantischen" Interessen im Programm eines evangelischen Bundes darf nicht zwei verschiedene Dinge

meinen, die nur durch eine zufällige geschichtliche Conjunctur in gemeinsame Bedrängniß

gekommen wären, die nationalen

und die evangelisch-kirchlichen Interessen, sondern er darf nur

eins im Auge haben, die kirchlichen Interessen des evangelischen Deutschlands. Es giebt noch andere Güter, welche der Ultramontanismus gefährdet, die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und die

Gewissensfreiheit im bürgerlichen Leben.

Aber der Protest wider

den Zwang in diesen Dingen, der vom Katholicismus unabtrennlich ist, kann ebenso wenig als ein genügendes Einheitsband

6 für einen evangelisch-kirchlichen Verein angesehen werden.

Wohl

ist's wahr, und ich wäre der letzte eS zu bestreiten, daß die Sache der evangelischen Kirche eine im eminenten Sinne nationale ist

und daß die Freiheit der Forschung und des Gewissens, wie sie Frucht der Reformation ist, auch zu ihrem Bestände nicht ent­

behrt werden kann, so wie dieselbe

umgekehrt auch ohne die

evangelische Kirche nicht fortbestehen würde.

Aber darum bleibt

doch in Geltung, daß der Gedanke der nationalen Güter für sich und der Gedanke der Geistesfreiheit für sich kein genügendes

Einheitsband für einen kirchlichen Verein sind.

Unter dem kirchlichen Panier, das der ev. Bund aufgeworfen, können und dürfen sich nur solche zusammenschaaren, die unbe­

schadet des Gegensatzes, dessen sie auf kirchlichem und religiösem

Gebiet sich bewußt sind, doch nicht minder das Bewußtsein haben, daß das Maß

positiver

religiöser Anschauungen und Lebens­

impulse, welches sie gemeinsam besitzen, sie unter einander den

Römischen gegenüber wirklich innerlich eint, also weiter reicht und von entscheidenderer Bedeutung ist,

als das Maß von

Uebereinstimmung, welches die Einen von ihnen etwa mit den

letzteren theilen. Ich verhehle mir gar nicht, daß es vielleicht Manchem höchst unzweckmäßig erscheint, daß es vielleicht wirklich höchst unzweck­ mäßig ist, die Frage des Beitritts zum evangelischen Bunde auf diese principielle Spitze zu stellen. Wahrheit willen muß es geschehen.

Aber um der Klarheit und

Und es ist doch nicht noth­

wendig, daß solch Streben nach principieller Klarheit die Schei­ dung derer, die der ev. Bund vereinigen möchte, herbeiführen müßte.

Wo man nicht auf die nachträgliche Rechtfertigung ge­

faßter Entschlüsse durch plausible Gründe, sondern ehrlich und gewissenhaft auf die Prüfung der Sache ausgeht, da kann das

Streben nach principieller Klarheit einem auch die Gewißheit des Vorhandenseins einer positiven Uebereinstimmung eintragen,

das man sich vorher nicht deutlich gemacht.

Und dann befreit

es das Gewissen dessen, der in dunklem Gefühl von der Recht-

und Pflichtmäßigkeit seines Thuns eine äußere Gemeinschaft ein-

7 ging, die er sich doch nur aus praktischen Gründen rechtfertigen konnte.

Oder aber es stört

dessen, der unter dem

das unberechtigte gute Gewissen

Eindruck des obwaltenden Gegensatzes

leichtmüthig die Hand der Gemeinschaft verweigerte.

Auch bei solchen nun, denen es nicht leicht wird, in dieser Zeit der Gefahren Nein zu sagen, die aber um des Gewissens willen meinen Nein sagen zu müssen, auch

bei solchen ist dem

Zusammenwirken der verschiedenen Richtungen des Protestantis­ mus, wie es der Bund beabsichtigt, nichts so hinderlich, als die

Meinung, daß die kirchliche Rechte und die kirchliche Linke des Protestantismus Wohl manche Negationen Rom gegenüber gemein

haben,

daß aber ein positives Band

religiöser Gemeinschaft

zwischen ihnen nicht mehr besteht, daß beide sich in Sachen des

Glaubens jedenfalls innerlich viel ferner stehen, als die Rechte des Protestantismus und

die katholische Kirche.

„Wie können

wir uns mit den liberalen Protestanten gegen Rom verbünden,

das sich zu so viel unveräußerlichen Wahrheiten des Glaubens bekennt, die jene leugnen!

Mit dem Katholicismus, der sich zur

Inspiration der Schrift, zu der ewigen Gottheit Christi, zu seiner vaterlosen Erzeugung, seiner Auferstehung und Himmelfahrt, zu

dem satisfactorischen Werth seines Todes bekennt und den ent­

schiedensten Supranaturalismus vertritt, müssen wir in religiösen Dingen viel mehr Sympathie haben als mit dem

liberalen

Protestantismus, der mit seiner Kritik die Schrift zerstört, jene

Heilsthatsachen theilweis oder alle bestreitet und an dem Wunder Anstoß nimmt." Das ist die Stimmung und die Rede vieler, nicht nur der

leidenschaftlichen Partheimänner : ja solche Gedanken lasten als

ein Druck selbst auf solchen, die sich zum Beitritt entschlossen haben.

Hier auf diesem Punkte muß es zur Klarheit und Wahr­

heit kommen, wenn die Sache des ev. Bundes gedeihen soll. Und da muß es als unzureichend bezeichnet werden, wenn der eine sich solche Bedenken mit der Erwägung beschwichtigt, daß

die Katholiken

zwischen

positiven

und

liberalen Protestanten

keinen Unterschied machen — als ob unser Unrecht sich mit

8 fremdem Unrecht entschuldigen ließe.

Noch bedenklicher dürfte

es sein, wenn der andre den s. g. Bekenntnißparagraphen des ev. Bundes sich in seinem eignen theologischen Sinn deutet und

über die Bundesangehörigkeit vieler, die ihn notorisch anders

auffassen, sich damit tröstet, daß er nicht Richter darüber sei, wie sie ihr Bekenntniß mit ihrem Gewissen vereinigen können.

Nicht etwa, daß ich die trefflichen Männer tadeln wollte, welche

die Pflicht des Beitritts zum ev. Bunde als eine unabweisbare empfunden haben und nun in der einen oder anderen, oder in

einer ähnlichen Weise diesen Schritt gegen den Vorwurf des

Widerspruchs mit ihren sonstigen kirchlichen Principien vor sich und andern vertheidigen.

Aber zur wirklichen Freudigkeit können

sie doch nur gelangen, wenn sie jenes verbreitete Urtheil über ihre innere Stellung zu den Katholiken einerseits und den libe­ ralen Protestanten andrerseits als falsch erkennen. Die Brüder von der Rechten können nun einen Anlaß zur

Berichtigung

des Urtheils, daß sie den Katholiken eigentlich

näher stehen als den liberalen Protestanten, dem Umstande ent­ nehmen, daß sie selbst es gewiß nicht werden als zutreffend

geltend lassen wollen, wenn ihr Urtheil auf der linken Seite

ausgenommen und ihnen als Anklage zurückgeschleudert wird : „Ihr Orthodoxen seid ja im Grunde, im Princip von den Ka­

tholiken nicht verschieden.

Denn was macht das aus, daß jene

ein paar Glaubenssätze mehr, Ihr ein paar Glaubenssätze weniger

für wahr haltet!"

Sie haben vollkommen Recht, wenn sie solche

Rede als einen gänzlichen Unverstand zurückweisen. gläubigen

Protestanten

orthodoxer

Richtung

Was den

vom

Katholiken

scheidet, ist allerdings etwas von dem Fürwahrhalten eines oder

mehrerer

Glaubenssätze

himmelweit Verschiedenes.

Die luth.

Conferenz in Hamburg hat kürzlich als das, um dessen treue Vertretung und kräftige Geltendmachung es sich dem Katholicis­

mus

gegenüber handle, die beiden centralen und zusammen­

gehörigen Wahrheiten einerseits des Evangeliums von der Heils­ gewißheit des rechtfertigenden Glaubens an

die

freie Gnade

Gottes allein in Christo und andrerseits die Erkenntniß Luthers

9 vom sittlichen Beruf und von der rechten Vollkommenheit des

Christenlebens bezeichnet.

Das ist auch völlig zutreffend.

Von

der christlichen Vollkommenheit aber sagt die Augsb. Confession: „Die christliche Vollkommenheit ist, daß man Gott von Herzen

und mit Ernst fürchtet und doch auch eine herzliche Zuversicht

und Glauben, auch Vertrauen faßt, daß wir um Christus willen einen gnädigen, barmherzigen Gott haben, daß wir mögen und

sollen von Gott bitten und begehren, was uns noth ist und Hilfe von ihm in allen Trübsalen gewißlich nach eines jeden

Beruf und Stand gewarten, daß wir auch indeß sollen äußer­ lich mit Fleiß gute Werke thun und unsres Berufs warten."

Vergegenwärtigen wir uns ganz in der Kürze, was es heißt,

diese Wahrheiten mit der Reformation vertreten oder aber sie mit dem Katholicismus bestreiten. Dort auf katholischer Seite bei aller Ueberzeugung von der

göttlichen Autorität und Wunderkraft der kirchlichen Institutionen

dennoch die Gewißheit gnädiger Gesinnung und hülfreicher Nähe Gottes für die eigne Person etwas, was immer erst durch eigne Leistungen gewonnen werden soll, aber als ein zuverlässiger Be­

sitz nie wirklich gewonnen werden kann. Erfahrung von der

beseligenden Liebe

Gnade des allmächtigen

Hier die persönliche

und

der

vergebenden

und heiligen Gottes, als von einer

Wirklichkeit, die vermittelst des Wortes von Christus in unser

eigenstes Leben hineinragt und uns umfängt und ergreift und gewinnt, ehe wir etwas thun können, die auch unsre Sünde

und Untreue überwindet, die alle feindlichen Mächte uns zu Dienern macht und die Strauchelnden immer wieder aufrichtet. Dort darum die Grundstimmung der Frömmigkeit das unsichere Gefühl der Scheu, den mächtigen Gott zu beleidigen, und das

ängstliche Bestreben, durch gehäufte Leistungen, oft der werth­

losesten, sittlichleersten, äußerlichsten Art, und durch abergläubische Aufbietung aller möglichen Zauberkräfte im Himmel und auf

Erden Gottes Gunst sich zu sichern, seine Huld zu verdienen, seinen Zorn zu versöhnen und ihn zum Mittel für das eigne

Verlangen nach einer Seligkeit zu machen, wie sie das irdisch-

10 gesinnte Menschenherz begehrt.

Hier dagegen die Grundstim­

mung der Frömmigkeit die kindliche, fröhliche, dankbare, sieghafte

Zuversicht, welche zu dem Vater im Himmel sich nur Gutes ver­ sieht, auch das schwerste Leid als Ausdruck seiner väterlichen

Liebe versteht, den Mächten der Welt furchtlos ins Auge blickt und welche ebenso ehrfurchtsvoll vor Gottes Willen als dem vollkommenen und heiligen sich innerlich beugt, wie sie denselben

mit Freude und Liebe als das Gesetz unsrer wahren Freiheit und Seligkeit begrüßt, ohne gegenüber diesem Gott der freien

Gnade und der vollkommenen Heiligkeit jemals an eignes Ver­ dienen und Genugthun denken zu können und zu wollen.

Dort

blinde Unterwerfung in Glauben und Thun unter die unfehl­ bare Auctorität des Priesters; je größer der Verzicht auf eignes

Gewissen und auf Selbständigkeit der Willensentscheidung, um so höher das Verdienst.

Hier die persönliche Erfahrung des

Gewissens von der sich selbst beglaubigenden Wahrheit des In­ halts der göttlichen Offenbarung, des Gesetzes, wie der Ver­ heißung, und an jeden die Pflichtforderung ergehend, zu persön­

licher Freiheit in Gott zu gelangen,

die Selbständigkeit des

Glaubens und die Selbstverantwortlichkeit des Gewissens gegen­ über

aller

menschlichen

Auctorität

zu bewahren.

Dort alle

Ordnungen der menschlichen Gemeinschaft, Familie und Staat, Eigenthum und Berufsarbeit mit dem Makel der Unvollkommen­ heit behaftet und nur als

das Erlaubte geduldet;

der mön­

chische Verzicht auf alle diese Güter und die damit zusammen­

hängenden Pflichten als höhere Vollkommenheit und der sicherere Weg zum Himmel empfohlen : hier diese Ordnungen als an sich

gute Gottesordnungen, als die von Gott uns gewiesenen Stätten und Mittel des Gottesdienstes hochgehalten, der in Demuth,

Geduld, Gottvertrauen, selbstverleugnender Liebe mitten in der Welt uns wahrhaft von der Welt befreit.

Dieser Gegensatz zwischen orthodoxem Protestantismus und Katholicismus,

er ist

allerdings etwas

ganz anders als ein

Streit über ein Dogma neben andern, über ein oder mehrere Stücke in einer Summe von Lehrsätzen,

über die man zum

11 größten Theile hüben und drüben einig wäre — dieser Gegen­

satz betrifft keine Einzelheit, sondern ein Princip, nicht Stücke, sondern das Ganze, es ist ein Gegensatz nicht der Ueberzeugungen

blos des Kopfes, sondern der gesammten Lebensstimmung und Lebenshaltung der

lebendigen Persönlichkeit im Verhältniß zu

Gott, Menschen und Welt, ein Gegensatz so groß, daß es jedem

von beiden Theilen kaum möglich ist, den andern in den inner­ sten Beweggründen seines Fühlens und Wollens auch nur zu

verstehen.

Kurz, was das Gepräge der persönlichen Frömmig­

keit und Sittlichkeit anlangt, so ist zwischen dem correcten Katho­

liken und dem wirklich orthodoxen Protestanten eine ungeheure Kluft befestigt. Auf welcher Seite der Kluft steht nun aber in diesen Dingen

d. h. in allen den für die innersten Bewegungen des Person­

lebens, für Gemüth, Herz, Wille, Gewissen entscheidenden Punkten der liberale Protestant?

Sind es da nur Negationen, in denen

orthodoxe und liberale Protestanten dem Katholicismus gegen­ über Zusammentreffen? — ich rede selbstverständlich bei den Libe­

ralen ebenso wie vorher bei den Orthodoxen nur von solchen,

die wirkliche Frömmigkeit besitzen.

— Da darf man nun nicht

verkennen, daß die gleichen Negationen bei beiden aus gleich­ artigen positiven Gemüthsstimmungen und praktischen Anschau­ ungen entspringen, deren Vorhandensein nur der sonstige Gegen­

satz und das durch den Kampf verursachte gegenseitige Mißtrauen

zu verhüllen pflegt.

So wenig wie es gerecht wäre, die religiöse

Gesammtanschauung der Brüder von der Rechten, die sie wirk­ lich leitet und das Gepräge ihrer Frömmigkeit bestimmt, nach ihrem Eifer um das Fürwahrhalten von Glaubenssätzen auf Auctorität hin, also nach ihrer Aehnlichkeit mit dem Katholicis­

mus zu bemessen,

so wenig gerecht und zutreffend wäre es, die

leitende religiöse Anschauung der Brüder von der Linken danach bemessen zu wollen, daß sie etwa in der Schätzung der weltlichen Cultur-

und

der Geistesfreiheit auch von irreligiösen Leuten

secundirt werden, die keine andere als diesseitige Güter kennen und denen Freiheit so viel ist als willkürliches Belieben, und

12 wenn sie auch selbst das eine oder andere Mal in der Hitze des Gefechts so geredet hätten, als ob die Cultur und die Freiheit des Glaubens und der Wissenschaft Güter von selbständigem

Werthe wären.

Der heiße Geisteskampf, in welchem die ein­

ander entgegenstehenden Anschauungen nach allen ihren Con­

sequenzen geprüft werden, ist ja an sich nothwendig und heilsam, und ich bin der letzte, der in demselben auf volle Schärfe und

unerbittliche Klarheit in der Herausstellung der Unterschiede ver­ zichten und die Gegensätze um des lieben Friedens, um eines faulen Friedens willen abstumpfen möchte.

Tragweite

der

Gedankenzusammenhänge

Aber, um Recht und

andrer zu würdigen,

muß man nicht nach Consequenzen, die man selber zieht und nach Voraussetzungen,

die man

selber unterstellt,

urtheilen,

sondern vor Allem die positive Tendenz des Gegners und den Wahrheitskeru, den er vertritt, zu erfassen suchen.

Und das ist

der Jammer in dem innerkirchlichen Streit unserer Tage, daß man umgekehrt zu verfahren Pflegt.

Das heißt aber weder die

Wahrheit in der Liebe reden, wie es der Apostel verlangt, noch heißt es überhaupt die Wahrheit reden.

Fragen wir also mit aller Besonnenheit die liberalen Pro­

testanten, welches die positiven Motive des Protestes sind, den sie mit den Orthodoxen gemeinsam erheben und der sich wider

die katholische Priesterherrschaft und Geistesknechtung, wider die katholische Entwerthung des Sittlichen durch den Wahn der

Verdienstlichkeit und durch die Schätzung ceremonieller und aske­ tischer Leistungen, endlich wider die Bemäkelung richtet, welche

die weltliche Berufsarbeit und die natürlich-sittlichen Gemein­ schaften wie Familie und Staat in Folge der Ideale der mön­

chischen Weltflucht und der priesterlichen Weltbeherrschung bei

den Katholiken erfahren.



Ein Blick in

die Schriften der

liberalen Theologen, die dem ev. Bunde angehören, wie z. B.

in die Dogmatik eines Lipsius, zeigt, wie die persönliche Erfah­ rung und Gewißheit der Sündenvergebung, Rechtfertigung, Er­

lösung durch die freie Gnade Gottes Motiv im Vordergründe steht.

überall als das leitende

Mag man an der theologischen

13 Formulirung dieses Centralgedankens der Reformation bei Lipsius

Manches auszusetzen haben, in Hamburg auf der luth. Conferenz

hat man mit Recht geklagt, daß bis in die confessionellsten Kreise hinein Unsicherheit in Bezug auf die Vertretung dieser Lehre

sich finde. Aber lassen wir die Theologie.

Beginnen wir vielmehr mit

dein, was bei den liberalen Laien als ihr Hauptinteresse heraus­

zutreten pflegt und zwar mit dem Allerallgemeinsten, mit dem Sittlichen.

Die Opposition gegen die mit dem römischen Auctori-

tätsbegriff verbundene Gewissensknechtung, wer wollte es wagen

sie aus dem Emancipationsgelüste des fleischlichen Sinnes her­

zuleiten und es zu leugnen, daß sie aus der sittlichen Erfahrung des Gewissens stammt, welches an die bestimmten Forderungen des Sittlichen sich unbedingt gebunden weiß, den Gedanken, sich

der Selbstverantwortlichkeit zu entschlagen, als sittliche Selbst­ vernichtung erkennt, und in Folge dieser sittlichen Bildung ein­ fach außer Stande ist, das s. g. Opfer des Intellekts

zu voll­

ziehen oder etwas als Auctorität anzuerkennen, was nicht durch

seinen Inhalt dem Gewissen die ehrfurchtsvolle Beugung ab­ gewinnt.

Solch Gewissen hat der Katholik nicht, wohl aber ist

es eine sehr

werthvolle Frucht

der

Reformation.

Aus

der

gleichen Quelle, aus der durch die Reformation wieder ermög­ lichten Einlebung in die mit nichts Anderem vergleichliche Heilig­

keit der sittlichen Forderungen, stammt der Protest gegen die katholische Schätzung ceremonieller und asketischer Leistungen. In der Ehrfurcht vor der Heiligkeit der Pflicht oder dem kate­

gorischen Imperativ, der das Gewissen bindet ohne Rücksicht auf den Erfolg, kommt ein sehr positiver Gegensatz zu dem katho­ lischen Wahn der Verdienstlichkeit menschlichen Handelns zum

Ausdruck: es ist der Gegensatz zwischen der reformatorischen

Anerkennung des Guten um des Guten willen, der freien Liebe zu dem sittlichen Gesetz selbst und zwischen dem lohnsüchtigen Knechtsstandpunkt des Katholicismus, dem die Erfüllung des

Gesetzes nur Mittel zum Zweck ist.

Daß Familie, bürgerlicher

Beruf und Staat nicht als Mittel zur Sicherung oder Erhöhung

14 des Lebensgenusses des Einzelnen, sondern um ihrer sittlich er­ ziehenden Kraft willen hochzuhalten sind, ist nicht minder Ge­ meingut.

Ein Gewissen aber, das mit diesen sittlichen Maß­

stäben zusammengewachsen ist, die selbst die Frucht der Refor­ mation sind, ist doch in ganz andrer Weise für die specifisch religiöse Erfahrung vorbereitet, die den Kern der Reformation

ausmacht, als ein Gewissen, das an die Praxis des officiellen

Katholicismus gewöhnt. Sittliches und Sittlich-Leeres nicht zu

unterscheiden vermag, ein Gefühl der Selbstverantwortlichkeit kaum besitzt und in seinem irdischgearteten Seligkeitsverlangen

von der eignen Heiligkeit des Guten keine Ahnung hat.

Und es sind doch wahrlich nicht nur diese sittlichen Kern­ gedanken der Reformation, welche das Gewissen der liberalen

Laienkreise beherrschen, es fehlen positive religiöse Anschauungen nicht.

In den Kreisen des Bürgerthums ist die s. g. rationali­

stische Frömmigkeit als eine wirkliche Kraft noch weit verbreitet. Dort herrscht als Lebensstimmung noch das ehrfürchtige Vertrauen

zu der Liebe Gottes, der uns ein ewiges Lebensziel gesetzt und

durch seine Führung für dasselbe bereitet.

Die „Befiehl Du

Deine Wege" - Lieder P. Gerhards und Anderer erbauen hier wirllich noch die Gemüther.

Und dies ehrfürchtige Gottvertrauen

macht sich dort geltend als der Halt in den Nöthen des Lebens und als kräftiger Antrieb zu sittlicher Pflichterfüllung, als Quelle der Ermuthigung und Beruhigung gegenüber dem Bewußtsein der eigenen sittlichen Mängel und Verschuldungen, wenn auch

der Gegensatz der Empfindungen der Sünde und Gnade nicht mit besonderer Lebhaftigkeit heraustritt.

Man mag an dieser

s. g. rationalistischen Frömmigkeit noch so viel auszusetzen haben,

— und wieder sind es hier die liberalen Theologen, die an ihr sehr viel zu tadeln haben — um ihrer rationalistischen Etikette willen darf man doch nimmermehr verkennen, daß wir in ihr

eine ganz charakteristische Frucht der Reformation haben. Denken wir an die religiösen Stimmungen des Katholicismus, an die des Vertrauens entbehrende unsichere, ängstliche Stimmung Gott

gegenüber und an die Kehrseite derselben, an das ehrfurchtslose

15 Streben Gott durch

verdienstliche Leistungen

sich

günstig zu

stimmen, so ist es unverkennbar, daß die Merkmale jener Fröm­ migkeit der liberalen Laienkreise vielmehr in der Richtung dessen

liegen, was die Augsb. Confession als die wahre christliche Voll­

kommenheit bezeichnet

und

worin Luther das Leben und die

gegenwärtige Seligkeit erblickt, deren der Christ durch die Sünden­ vergebung oder Rechtfertigung und den Glauben an Christus theil­

haftig wird.

Diesen Zusammenhang und diese Gleichartigkeit

darf man nicht verkennen, so sehr jene Frömmigkeit, um wirk­

lich sich als Quelle des Friedens und der Kraft in allen Fällen bewähren zu können,

gründe bedarf.

der bewußten Erkenntniß ihrer Lebens­

Denn das läßt sich freilich nicht bestreiten, daß

wenigstens bewußter Weise ein Moment in ihr oft nicht zur Geltung kommt, das für die evangelische Frömmigkeit, ganz ab­ gesehen von aller dogmatischen Formulirung, von grundlegender

Bedeutung ist.

Die ehrfürchtige Zuversicht zu der hülfreichen

Liebe Gottes gründet das Augsb. Bekenntniß, wo es von der

christlichen Vollkommenheit redet, aus die Gewißheit, daß wir um Christi willen einen gnädigen Gott haben.

Damit wird der

Person Christi nicht nur für die Ueberzeugung des Verstandes, sondern für die ganze Empfindung und Stimmung des Ge­ müthes eine Bedeutung zugewiesen, die durch die auf liberaler

Seite gangbarsten Bezeichnungen Christi als des vollkommenen Lehrers und Vorbildes der wahren Frömmigkeit nicht von weitem

erreicht wird.

Aber man soll sich trotzdem sehr hüten, hier so­

fort die unüberbrückbare Kluft constatiren zu wollen. auf der Rechten längst

Man ist

gewohnt, in Hinsicht der dogmatischen

Correctheit an die Laien mildere Anforderungen zu stellen als

an die Theologen.

Lasse man diese Wohlthat auch den Laien

auf der Linken zu Theil werden; denn, was die Theologen dieser Seite anlangt,

so ist bei ihnen wiederum das Streben nach

einer zutreffenderen Formulirung ^der einzigartigen religiösen Be­

deutung Christi unverkennbar.

Und bezüglich der Laien muß

man nun sagen, daß sie sich auf diese unzureichende Bezeich­

nung Christi als des Vorbildes zurückzuziehen pflegen, weil sie

16 das überlieferte Dogma nicht verstehen, und daß hinter dieser

unzureichenden Bezeichnung sich verbergen kann und bei vielen thatsächlich die Empfindung sich verbirgt,

wie Christi Geistes­

macht, seine innere Lebenseinheit mit Gott, seine Liebe und Treue gegen uns, kurz wie der überwältigende Eindruck seiner

Person auf unser Innerstes es ist, durch den wir aus Zweifel

und Trotz gegen Gott, aus Selbstsucht und Weltliebe zu dem ehrfürchtigen Vertrauen

und

dem

freudigen

Gehorsam eines

Gotteskindes gelangen und an dem wir in allen Versuchungen

uns aufrichten.

Hinter einer unzureichenden Formel verbirgt

sich hier das Gefühl der Abhängigkeit von Christus und die

Willenshingabe an ihn.

Das heißt aber nichts anderes als daß

trotz der ungenügenden Dogmatik hier persönliche Erfahrungen

von der Heilands- und Erlöserkraft Christi vorliegen, von denen der Katholik trotz seiner Ueberzeugung von der stellvertretenden

Genugthuung und dem Heilsmittlerischen Verdienst des Gott­

menschen so gewiß nichts weiß, als er die Kraft Christi bestreitet, uns persönlich der Liebe Gottes gewiß zu machen, Erfahrungen, die aber in der Linie der reformatorischen Heilserfahrung von

der Rechtfertigung aus Glauben an die freie Gnade Gottes in Christus liegen. Achtet man so bei Katholiken, liberalen und orthodoxen

Protestanten auf diejenigen Anschauungen, nach denen unmittel­

bar das Fühlen und Wollen der lebendigen Person sich richtet oder die die Eigenart desselben

direct zum Ausdruck bringen,

achtet man auf das Gepräge, welches die Frömmigkeit als Lebens­

bestimmtheit der Person besitzt, so stellt sich heraus, daß zwischen den orthodoxen und den liberalen Protestanten trotz aller, wahr­ lich nicht gering anzuschlagenden Gegensätze auch auf diesem

Gebiet, doch eine positive Gleichartigkeit und Verwandtschaft der religiös-sittlichen Anschauungs-Empfindungs-Urtheilsweise besteht,

die sie den Römischen gegenüber als Kinder desselben Geistes erscheinen läßt.

Und legen wir den Maßstab des evangelischen

Begriffes vom Glauben an diese Thatsache an, des Begriffes,

nach welchem Glauben nicht eine Thätigkeit des Verstandes,

17

sondern eine persönliche Erfahrung des Gewissens,

nicht das

Fürwahrhalten von Lehren, sondern ein inneres Verhältniß zu Personen, kurz die herzliche Zuversicht zu Gott durch Christus

bedeutet, so mag der Unterschied des Reifegrades und der Er­ kenntnißstufe noch so groß sein, wir müssen dennoch sagen: zwischen den verschiedenen Richtungen des Protestantismus be­

steht eine Gemeinschaft des Glaubens, die inniger und stärker

ist und weiter reicht als die, welche zwischen der protestantischen

Orthodoxie und dem Katholicismus besteht.

Während in diesem

die religiös-sittliche Lebenspraxis durch die Behauptung der Un­ gewißheit des Heils, der Unselbständigkeit des Gewissens, der

Verdienstlichkeit menschlicher Werke, durch die Gleichsetzung ceremonieller und asketischer Leistungen mit sittlichen, durch die Be­ mäkelung von Familie und Staat, Eigenthum und Berufsarbeit

bestimmt wird, werden die innerkirchlichen Gegensätze des Pro­ testantismus dadurch überbrückt, daß eine Anzahl entscheidender

positiver Anschauungen der Reformation allgemein als die maß­

gebenden Principien der persönlichen Frömmigkeit und Sittlich­ keit anerkannt werden, das durch Christus erzeugte zuversichtliche und ehrfürchtige Vertrauen zur Gnade und Hülfe Gottes, die

Selbständigkeit des Gewissens, die unbedingt verpflichtende Heilig­ keit des Sittlichen und sein ausschließlicher Werth gegenüber

ceremoniellen und asketischen Leistungen, der sittliche Werth von Beruf und Eigenthum, Familie und Staat *).

*) Die obige Ausführung über die gleichartige innere Stellung der entgegengesetzten kirchlichen Ricbtuugen des Protestantismus zu den positiven religiös-sittlichen Gütern, welche wir der Reformation verdanken und gegen den Katholicismus zu vertheidigen haben, ist angeknüpft an die Thesen, in welchen Luthardt auf der luth. Conferenz in Hamburg diese Güter als das Evangelium von der Heilsgewißheit des rechtfertigenden Glaubens an die freie Gnade Gottes allein in Christo und als die Erkenntniß vom sittlichen Beruf und der rechten Vollkommenheit des Christenlebens bezeichnet hat. Nach diesem Vorgang, der doch für die dem Bunde bisher ablehnend gegen­ überstehenden Brüder von der Rechten unanfechtbar ist, dürfte eS sich em­ pfehlen, das im Programm des evangelischen Bundes enthaltene Bekenntniß, welches thatsächlich verschiedene Deutungen zuläßt und deshalb zur Rechten Flugschrift d. Hess. Lande«», d, evang. Bunde«.

2

18 Oder schwindet diese religiöse

Gemeinschaft zwischen den

Richtungen des Protestantismus und dieser gemeinsame religiöse

Gegensatz zu den Katholiken wieder dahin, wenn man sich ver­ gegenwärtigt, daß auch der Katholik sich zu Lehrsätzen bekennt,

die der liberale Protestant bezweifelt oder leugnet, während sie dem orthodoxen Protestanten mit jenen Heiligthümern des persön­

lichen religiösen Lebens verwachsen sind? Wer den Glauben im evangelischen Sinne, den rechtferti­

genden Glauben, selber kennt und seine Bedeutung, daß er nicht ein Stück, sondern das Ganze ist, wirklich versteht, der muß jeden­ falls den Gedanken weit von sich wegweisen, daß die mit der

verschiednen Stellung zu diesem Glauben gegebene Kluft zwischen evangelischer und katholischer Frömmigkeit überbrückt oder auch

nur verringert werden könne durch die Erinnerung an die Ge­ meinsamkeit der Ueberzeugungen etwa in Hinsicht der Inspiration

der h. Schrift, der Wahrheit der ökumenischen Symbole, des Glaubens an das Uebernatürliche.

Wo alle die Anschauungen,

die über die Herzensstellung zu Gott, über das wirkliche Leben

der Frömmigkeit entscheiden, einander entgegengesetzt sind, da

kann eine Uebereinstimmung in einer Anzahl von Ueberzeugungen, welche beide Theile in diesem Mittelpunkt des Lebens nicht näher bringt, nimmermehr das Gefühl der Glaubensgemeinschaft be­

gründen.

Ja Ueberzeugungen, die hüben und drüben mit einer

und zur Linken Manchen dem Bunde fern hält, der für ihn Sympathie hat, welches ferner den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholicismus nicht vollständig und deutlich ausdrllckt, durch einen Zusatz zu erläutern, welcher etwa besagt, daß das Bekenntniß zu Christo und den Grundsätzen der Reformation gemeint sei als das Bekenntniß zu Christo als dem alleinigen Grunde der persönlichen Gewißheit der Gnade Gottes und als dem maßgebenden Vorbild der christlichen Vollkommenheit, die in ehrfürchtigem Vertrauen auf die Liebe und Hülfe Gottes sowie in aufrichtiger Nächstenliebe besteht und im sittlichen Beruf ihre gottgewiesene Stätte findet. — Eine solche, nicht Correctur, sondern Näherbestimmung des Programms würde manchen Vorwurf und manches Bedenken gegen den evangelischen Bund gegenstandslos machen.

19 so entgegengesetzten praktischen Gemüths- und Willensrichtung

verbunden sind, können unmöglich hüben und drüben auch nur

dasselbe bedeuten.

In der That ist es ja auch unverkennbar,

daß dort alle jene Lehrsätze über die Schrift und Christus auf die Begründung der Auctorität und Machtfülle eines Priester-

thums hinausführen, dessen Vermittlung den Einzelnen von der Erfahrung oder der persönlichen Gewißheit der Gnade Gottes

fern hält, hier aber aufs engste mit der Bedeutung Christi Zusammenhängen, daß er die göttliche Gnade uns zu persönlicher

Erfahrungsgewißheit bringt, uns dadurch aus Sünde und Tod zu neuem ewigen Leben erhebt und so sich als den Träger

specifisch göttlicher Erlöserkraft bewährt. Luther

das Urtheil, daß

So hat denn auch

es unter dem Papstthum

gläubige

Christen giebt, niemals auf das Bekenntniß der Römischen zu jenen Sätzen begründet, sondern darauf, daß es dort nie an

solchen gefehlt hat, welche dem Wahn der Verdienste und wäre es auch nur im Tode den Abschied gegeben und sich bedingungs­

los der freien Gnade Gottes in Christus getröstet haben, welche,

kurz gesagt, trotz irriger Ueberzeugung im Grunde ihres Herzens in ihrer persönlichen Lebensstimmung nicht Katholiken, sondern

Evangelische gewesen sind.

In dem officiellen Katholicismus aber

hat er die Erscheinung des Antichrists erblickt. Und er hat das sehr ernst gemeint.

Dies harte Urtheil hat er sich auch nicht durch

die Erinnerung an jene Bekenntnißgemeinschast mildern lassen. Er stellt jene Erkenntnisse, die die Papisten mit ihm theilen,

vielmehr auf eine Linie mit der Erkenntniß, welche die natürliche Vernunft der Heiden und Türken von Gott besitzt: sie alle

kennen Gott nur von außen, wissen aber nichts davon, wie er

gegen uns gesinnt ist und was er gegen uns im Herzen hat. Ihre Erkenntniß ist darum nur ein Anlaß zum Götzendienst, der mit seinen eignen, wohl gar selbsterdachten Werken sich einen gnädigen Gott schaffen will.

Diese Erkenntniß kann der Teufel

sehr wohl leiden; denn sie hindert nicht, daß Gott als Satan

oder Trödler statt als Gott und Vater, Christus als Moses, Thränn, Henker statt als Heiland verstanden wird.

Gegen die

20 letztere Erkenntniß erst setzt sich der Teufel ernsthaft zur Wehre.

Wenn Luther aber, wie er nicht minder oft thut, jene Ueber­ zeugungen als Ausdruck wirklichen Glaubens d. h. in ihrem Zusammenhang mit der evangelischen Heilserfahrung auffaßt,

so bestreitet er den Römischen rundweg die Aufrichtigkeit ihres Bekenntnisses : sie glauben nur mit dem Munde, mit dem Herzen

glauben sie etwas Anderes.

Was endlich den katholischen Glauben

an das Wunder und das Hereinragen einer übernatürlichen Welt in die unsrige anlangt, wo wäre der evangelische Christ, der

ernsthafte Sympathie mit demselben empfinden könnte, sobald er sich nur vergegenwärtigt, was der Wunderglaube hüben und drüben bedeutet.

Der evangelische Christ gelangt durch die persönliche

Erfahrung von der sittlichen Erlösung in Christus zu der Ge­ wißheit, daß Gott in der christl. Gemeinde etwas Neues, etwas, was aus keinem Naturgesetz abfolgt, geschaffen hat, und zu der ferneren Gewißheit, daß Gott durch keine

geschlossene Natur­

ordnung darin gehindert wird, den Seinen in speciellster Für­

sorge alle Dinge zum Besten dienen zu lassen.

Welche Aehnlich-

keit hat Inhalt und Grund dieser Ueberzeugung mit dem heid­

nischen Aberglauben, der im Katholicismus als Wunderglaube

auftritt, und seine Anhänger, statt sie in eine höhere Welt zu erheben, die wirklich übernatürlich wäre,

recht eigentlich im

Sinnlichen befestigt? So zwingt also die evangelische Anschauung vom Glauben

dazu, die Vorstellung aufzugeben, als ob eine für die Gemüths­

stellung

zu Gott belanglose Bekenntnißgemeinschaft Katholiken

und Evangelische auf dem Boden der einen Christenheit verbinde.

Dieser Boden wirklicher religiöser Gemeinschaft kann vielmehr nur in den Analogien zu evangelischer Lebensstimmung und Lebens­

haltung gesucht werden, die trotz des officiellen Systems in der katholischen Kirche gottlob nicht fehlen.

Steht es aber so, dann

darf der orthodoxeste Protestant sich nicht weigern, von diesem

Grundsatz die Anwendung auf sein Verhältniß zu den liberalen

Protestanten zu machen und den Schluß zu ziehen, daß er, wo es sich um den Kampf mit dem officiellen Katholicismus handelt,

21 mit den Liberalen für dieselben positiven religiösen Güter streitet, innerlich mit ihnen wider den Katholicismus verbunden ist und darum auch äußerlich mit ihnen zusammenzustehen die Pflicht

hat, umsomehr als, wie mit Recht gesagt ist, ein etwaiges Getrenntmarschiren hier nicht die Vorbereitung zum Bereintschlagen,

sondern zum Getrenntgeschlagenwerden ist. Gegen diesen Schluß auf eine innere Glaubensgemeinschaft,

die den inneren Gegensatz beider Richtungen des Protestantismus überbietet, lehnt sich trotz alledem die unmittelbare Empfindung

immer wieder auf.

Ist man doch in religiös höchst bedeutsamen

Fragen weit von einander geschieden, ja versteht man sich doch gegenseitig oft gar nicht mehr.

Ich sage: gegenseitig; denn es

steht nicht so, als ob nur die Brüder von der Rechten und nicht

auch die von der Linken diese Empfindung zu überwinden hätten.

sJch muß das um der Wahrheit willen aussprechen auf die Ge­

fahr hin, daß eine nahe liegende höhnische Erwiderung erfolgtj. Daran freilich, daß man sich gegenseitig so oft gar nicht mehr

versteht, trägt die Schuld nicht nur der sachliche Gegensatz, son­ dern gar viel schlecht Menschliches in der Art, wie der Streit

geführt wird, und zwar auf beiden Seiten.

Daß man sich oft

nicht mehr versteht,

begründet darum noch lange kein Recht

auseinanderzugehen,

sondern

die Pflicht,

sich

verstehen

zu

lernen. — Allerdings sind es nun religiös höchst bedeutsame

Fragen, die den Protestantismus spalten. Diese inneren Gegen­ sätze dürfen auch nicht vertuscht, sondern müssen mit Klarheit

und Wahrheit ins Auge gefaßt werden, damit es zu einer geisti­ gen Ueberwindung komme.

Dazu ist aber vor Allem erforderlich,

daß man sich auch das klar macht, was man noch gemeinsam besitzt: und das ist das positive Lebensgut eines bestimmten Typus des religiös-sittlichen Lebens, der religiös-sittlichen Empfin-

dungs- und Anschauungsweise, eines Typus, der dem katholischen Typus entgegengesetzt, seinerseits eine directe Folge der Refor­

mation ist.

Es läßt sich trotzdem ein Standpunkt denken, auf welchem die Weigerung, auf Grund dieser Gemeinschaft und dieses Ge-

22 meinbesitzes einen Bund zur Vertheidigung dieses Gutes einzu­

gehen, eine Art subjektiver Berechtigung hat.

Das ist der

Standpunkt, auf welchem aus der principiellen Ueberzeugung das Urtheil erfolgt, daß die Zustimmung zu den Negationen des liberalen Protestantismus das wirkliche Vorhandensein der be­

sprochenen religiösen Position bei den Einzelnen unmöglich macht. Die alten Orthodoxen haben so geurtheilt.

Die Orthodoxie ist

ihnen die nothwendige Vorstufe zur Wiedergeburt, zu dem Ge­ winn der religiösen Lebensbestimmtheit, um die es sich hier han­ delt.

Nach diesem Princip konnte ein Westphal ein gutes Ge­

wissen haben, wenn er die um des Glaubens willen verfolgten

Calvinisten als Märtyrer des Teufels bezeichnete.

Dieses Princip

wird aber von den Führern der heutigen Orthodoxie sehr ent­

schieden abgelehnt.

Nach Luthardt *)

muß man unterscheiden

zwischen dem Glauben an die Sache, das Heil in Christo und zwischen der Glaubenslehre, in welche sich der Glaube auseinan­

derlegt.

Diese Glaubenslehre ist für die Kirche zur Erfüllung

ihres Berufes schlechthin nothwendig, nur relativ nothwendig.

für den Einzelnen aber

Nach H. Schmidt**) läßt sich in Be­

zug auf den Einzelnen nicht feststellen, welches Maß von Heils­ erkenntniß für ihn schlechthin nothwendig ist.

Schon damit ist

der noch häufige Nachklang der altorthodoxen Anschauung ge­ richtet, der uns in der Rede begegnet, daß die Ueberzeugung

von der Göttlichkeit der Schrift und von der Wahrheit der Glau­ bensartikel,

insbesondere der symbolischen Lehren

über Christi

Person und Werk die nothwendige Voraussetzung der persön­ lichen Heilserfahrung sei.

Für den Katholiken ist dieser Ver­

standesglaube auf Autorität hin allerdings die Voraussetzung freilich

nicht für die persönliche Heilserfahrung, aber für die

zauberhafte Eingießung

unerfahrbarer Heilskräste.

Das Ver­

hältniß dagegen, welches zwischen der Ueberzeugung von jenen Sätzen, über die der liberale und der orthodoxe Protestantismus

streiten, und zwischen der persönlichen Erfahrung des Heils in

*) Comp. S. 60 (7 A.). **) Die Kirche S. 229.

23 Christus besteht, über die sie im Princip eins sind, dies Ver­ hältniß hat die Erlanger Theologie, deren Einfluß doch auch Luthardt noch verräth, in zutreffender Weise dargelegt, wenn sie

jene Ueberzeugung statt als Voraussetzung, vielmehr als Folge der persönlichen Heilserfahrung nachweist.

Und sie kann sich

hierfür auf Luther berufen, der dasselbe sagt, wo er den Gegen­ satz zwischen dem anderen nachgesprochenen Glauben des Katho­

liken und dem Erfahrungsglauben des Evangelischen beschreibt. Nach diesen von den heutigen Führern der Rechten vertre­

tenen, in der That evangelischen Maßstäben hat man nicht das Recht, die liberalen Protestanten, welche sich zu den für das persönliche religiöse Leben entscheidenden Anschauungen der Re­

formation bekennen, deshalb als Ungläubige zu bezeichnen, weil sie in ihrer Erkenntniß zu jenen Folgerungen aus der Heilser­

fahrung noch nicht gelangt sind, deren Nothwendigkeit Gegen­

stand des Streites ist.

Man hat hierzu nach den eigenen Prin­

cipien ebenso wenig das Recht, wie man auf liberaler Seite berechtigt wäre, solche Orthodoxe Katholiken zu schelten, die noch

nicht zu der Folgerung aus dem evangelischen Glaubensbegriff gelangt sind, daß eine Verstandesüberzeugung auf bloße Auctorität hin keinen religiösen Werth besitzt.

Darum haben beide Richtungen

nicht nur die sittliche Be­

rechtigung, sondern die Verpflichtung, die innerlich vorhandene

positive Geistesgemeinschaft auch äußerlich in der Gemeinschaft des Kampfes gegen den römischen Angriff zu bekunden; denn dieser richtet sich eben gegen das, was beiden gemeinsam das

höchste Gut ist.

Die luth. Conferenz in Hamburg hat diese Gemeinschaft dennoch verweigert, indem sie Luthardts zweite These angenom­

men hat.

Dieselbe lautet : „Diese Gegenwehr kann mit Erfolg

von uns nur vom Boden des schriftgemäßen Bekenntnisses un­ serer Kirche aus geschehen, demnach nicht in Verbindung mit

solchen, welche zu Grundwahrheiten desselben verneinend oder zweifelhaft stehen". Diese These wäre verständlich, wenn ihr die Ueberzeugung

24 zu Grunde läge, daß niemand ein evangelischer Christ ist, als wer die durchgängige Schriftmäßigkeit des Bekenntnisses darzu­ legen und sich dasselbe anzueignen im Stande ist.

Ohnedem

heißt sie ungefähr so viel als : die Gegenwehr gegen die Social­ demokratie kann mit Erfolg nur vom Boden der conservativen

Principien aus

geschehen, demnach

nicht in Verbindung mit

Freiconservativen und National-Liberalen.

Auch geht es nicht

an, zwischen der Kirche und dem Einzelnen so unterscheiden zu

wollen, daß für jene der nothwendige Glaubensinhalt so eng wie möglich abgezirkelt werden, für diesen fast ganz unbestimmt

bleiben soll;

denn die Kirche ist nach evangelischem Begriff der

Leib Christi, d. h. die Gemeinde derer, welche persönlich gläubig sind.

Wenn man vollends von einer Mehrheit von Grundwahr­

heiten redet, die man vom Bekenntniß unterscheidet, ohne sie genauer anzugeben, so macht man erstlich den Grundsatz illuso­

risch,

daß für die Kirche stricte Bekenntnißtreue nothwendig sei

und vergißt andrerseits, was man sonst mit Emphase betont,

daß für den Einzelnen nur eins, der Glaube an das Heil in Christo absolut nothwendig sei.

Der eigentliche Grund jener

Weigerung und ihrer nach den eigenen Principien unzuläng­ lichen Motivirung dürfte darin zu suchen sein, daß man zwei

Fragen, die verschieden sind und deshalb auseinandergehalten werden müssen und können, in eine zusammenfaßt, die Frage : mit wem kann und muß ich mich zur Gegenwehr gegen Rom verbinden?

Und die andere : welche bestimmte Gestalt der Lehre

muß als Norm der kirchlichen Verkündigung bei uns zur Gel­ tung kommen oder in Geltung bleiben?

V. H. u. Br.

Es kann niemand mehr als ich selbst es

fühlen, wie unzulänglich meine Ausführungen sind, um das zu erreichen, was erreicht sein muß, wenn die verschiedenen

Richtungen

des Protestantismus

sich im evangelischen Bunde

vereinigen sollen — die Ueberwindung tief gewurzelter und mit

dem religiösen Leben verwachsener Vorurtheile, persönlicher Ver­ stimmungen, des unbewußten Bannes der Partheirücksichten, der

Besorgniß vor möglichen Consequenzen.

Wenn Sie aber in

25 dem Einen mit mir übereinstimmen, daß der Einzelne den un­ mittelbaren Ausspruch seines Gewissens, den unmittelbaren Ein­

druck von Recht oder Unrecht einer möglichen Handlungsweise

nicht als

eine inappellable Instanz betrachten darf, weil das

Gewissen nicht nur irren, sondern durch die persönlichen Wünsche und Stimmungen im Moment gradezu gefälscht werden kann, daß er vielmehr vor wichtigen Entscheidungen

die Pflicht hat,

seine Entscheidung aus objectiven Principien herzuleiten, so bitte

ich Sie : blicken Sie in die Geschichte zurück und vergegenwär­

tigen Sie sich, welche Schädigung des Protestantismus durch das irrende Gewissen derer herbeigeführt worden ist, die ihrer

Zeit mit den Calvinisten auch nicht einmal gegen die Römischen gemeinsame Sache machen wollten.

Und jene waren tief davon

durchdrungen, daß man mit calvinischer Ueberzeugung persönlich

kein Christ sein könne. Lädt man nicht eine schwerere Verantwortung als jene auf sich, wenn man auch heute nur mit denen zusammen

Gegenwehr gegen den Katholicismus üben will, mit denen man auf dem gleichen Boden des schriftgemäßen Bekenntnisses steht, dagegen die Gemeinschaftshand auch nur. zu diesem besonderen

Zweck solchen verweigert, denen man trotz ihrer mangelhaften

Anschauungen

doch

die Möglichkeit persönlichen

evangelischen

Christenthums nicht absprechen will?

V. H. u. Br.

Lassen Sie uns durch die That beweisen,

daß wir aus der Geschichte etwas gelernt haben.

Lassen Sie uns

hinter die große Sache zurückstellen, was zwischen uns liegt, und es ernstlich versuchen,

ob in der gemeinsamen Arbeit und im

persönlichen Austausch uns nicht zur Erfahrungsgewißheit wird,

was wir als möglich vielleicht nur ungern zugeben, daß über alle innerkirchlichen Gegensätze

des Protestantismus doch eine

mächtige Geisteseinheit übergreift. Lassen Sie uns danach ringen, daß dieselbe in der Kampfesgemeinschaft sich läutere und vertiefe.

Lassen Sie uns das Unsre thun, damit man wenigstens nicht wieder wie im 17. Jahrhundert bei einer etwaigen vorläufigen

Niederlage des Protestantismus sagen müsse : er hat es nicht besser verdient.

Druck von Wilhelm Kell er in Gießen.