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German Pages 253 [254] Year 1976
KARL HEINZ
GIESSEN
Die Gewerkschaften im Proze6 der Volks- und Staatswillensbildung
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 24
Die Gewerkschaften im Prozeß der Volks- und Staatswillensbildung
Von
Dr. Karl-Heinz Gießen
D U N C K E R
&
H Ü M B L O T / B E R L I N
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Gießen, Karl-Heinz Die Gewerkschaften i m Prozeß der Volks- und Staatswillensbildung. — 1. Aufl. — B e r l i n : Duncker u n d Humblot, 1976. (Schriften zum Sozial- u n d Arbeitsrecht ; Bd. 24) I S B N 3-428-03615-8
Alle Rechte vorbehalten © 1976 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1976 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 03615 8
Meiner Frau
Vorwort Die Koalitionen, namentlich die Gewerkschaften, stehen wie kaum ein anderer Verband i m Mittelpunkt einer Diskussion, die die Grundlagen der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung berührt. Die Frage nach der Beteiligung der Gewerkschaften i m Prozeß der Volks- und Staatswillensbildung geht von der grundsätzlichen Unterschiedlichkeit von zwei Willensbildungsprozessen i m Gemeinwesen aus, nämlich der gesellschaftlichen und der staatlichen Willensbildung. Sie umfaßt neben aktuellen Problemen wie etwa der Beteiligung der Gewerkschaften i n der Verwaltung von Bundesbahn und Bundespost die grundsätzliche Problematik der Partizipation der Gewerkschaften an staatlichen Entscheidungen sowie ihrer Teilnahme an der gesellschaftlichen Willensbildung. Die Untersuchung ist i n drei Teile gegliedert: Ausgangspunkt ist eine Realanalyse, d. h. die Untersuchung der Frage, i n welchem Umfang und mit welcher Intensität die Gewerkschaften i n den staatlichen und gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß integriert sind; der zweite Teil der Arbeit, der eine Kernstellung einnimmt, zeigt anhand der Staatsformmerkmale der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Sozialstaatlichkeit auf, wie die Partizipation der Gewerkschaften an staatlichen Entscheidungen i n ihrem Inhalt bestimmt w i r d und welchen Beschränkungen sie unterliegt. Der letzte Teil knüpft an die Ergebnisse der vorangehenden Untersuchung an und stellt sich der Frage, welche verfassungsrechtlichen und arbeitsrechtlichen Prinzipien für die M i t w i r kung der Gewerkschaften am Prozeß der Volkswillensbildung gelten. Zwar w i r d das Grundrecht der Koalitionsfreiheit für die Untersuchung i n verschiedener Weise nutzbar gemacht, doch ist die verfassungsrechtliche Stellung der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände, die bereits weitgehend einer juristischen Klärung unterzogen wurde — insbesondere durch die Habilitationsschrift von R. Scholz —, nicht primärer Gegenstand der Arbeit. Auch geht es nicht u m das allgemeine Verhältnis von Staat und Verbänden, das juristisch nur wenig durchdrungen ist und meist nur durch bloß beschreibende Untersuchungen dargestellt wird. Aufgabe dieser Arbeit ist es vielmehr, die Partizipation von Großverbänden wie der Gewerkschaften, also von privaten Organisationen mit öffentlicher Bedeutung („öffentlichen Verbänden") an der staatlichen und gesellschaftlichen Willensbildung zu analysieren und anhand der Ver-
Vorwort
8
fassung zu bestimmen, ob und wie dieser Beteiligungsvorgang rechtlich geboten bzw. zulässig ist. Dabei w i r d sich erweisen, daß vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund eine „Repräsentation organisierter Interessen" (Joseph H. Kaiser) ebenso Bedeutung gewinnt wie die Warnung W. Webers vor dem verbandsbeherrschten „Ständestaat" und einem „Pluralismus oligarchischer Herrschaftsgruppen", der die individuelle Freiheit gefährdet. Es gilt, einen Weg zu finden zwischen der Verstaatlichung der Gesellschaft und der Vergesellschaftung des Staates. Die Arbeit hat 1974 dem Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation vorgelegen. Sie ist von Prof. Dr. V. Beuthien betreut worden, der mich i n entgegenkommender Weise als Doktorand aufgenommen und m i r die Möglichkeit geboten hat, das Promotionsverfahren i n kurzer Zeit abzuschließen. Dafür sowie für seine zahlreichen wertvollen Anregungen und seine förderliche K r i t i k danke ich i h m herzlich und aufrichtig. Mein Dank gilt ebenso Prof. Dr. W. Schmitt Glaeser, der sich m i t den Problemen dieser Arbeit intensiv auseinandergesetzt und m i r methodisch und inhaltlich entscheidende Impulse gegeben hat. Er hat mich stets durch klärenden und vertiefenden Rat gefördert. Herrn Ministerialrat a.D. Prof. Dr. J. Broermann Aufnahme der Arbeit i n diese Reihe.
danke ich für die
Der Text der Arbeit wurde zur Veröffentlichung ergänzt und überarbeitet; Gesetzgebung, Rechtsprechung und Schrifttum konnten bis zum August 1975 berücksichtigt werden. Marburg, den 1. März 1976 Karl H. Gießen
Inhaltsverzeichnis Erster T e i l Inhalt und Methode gewerkschaftlicher Tätigkeiten — eine Bestandsaufnahme Erstes Kapitel:
Gewerkschaften
in der Bundesrepublik
17
Deutschland
17
§ 1. Begriff
17
§ 2. Übersicht
18
Zweites Kapitel: keitsbereiche
Die den Gewerkschaften
gesetzlich zugewiesenen
Tätig-
20
§ 3. Systematisierung
20
§ 4. Übersichtstabellen
21
§ 5. Zusammenfassung
30
Drittes Kapitel:
Die faktischen
Tätigkeitsbereiche
der Gewerkschaften
...
31
§ 6. Das Selbstverständnis der Gewerkschaften über die gewerkschaftliche Funktionsbreite
31
A . Allgemeine Gesellschaftsreform als gewerkschaftliche Aufgabe . .
31
B. Gewerkschaften als H ü t e r der Verfassung
33
C. Die Ausweitung gewerkschaftlicher Aufgaben
34
1. Der D G B
34
2. Der D B B
37
3. Die D A G
37
D. Abgrenzung der F u n k t i o n der Gewerkschaften von der F u n k t i o n der politischen Parteien
38
E. Die i n den Gewerkschaftssatzungen vorgesehenen Aufgaben i m einzelnen
39
F. Das Grundsatzprogramm des D G B
40
G. Das Aktionsprogramm des D G B
45
H. Anträge u n d Entschließungen auf Kongressen u n d schaftstagen
Gewerk-
45
1. Einführung
45
2. Einzelne Kongresse
46
3. Zusammenfassung
50
10
Inhaltsverzeichnis
§ 7. Gewerkschaftliche Tätigkeiten gemäß den Geschäfts- u n d Tätigkeitsberichten
51
A . Der Geschäftsbericht des D G B 1969 - 1971
51
B. Der Tätigkeitsbericht der D A G 1967 - 1971
55
C. Der Geschäftsbericht des D B B 1972
56
D. Zusammenfassung u n d Schlußfolgerungen
57
§ 8. Die wirtschaftliche Stellung der Gewerkschaften
59
A . Die Beitragseinnahmen
59
B. Die von den Gewerkschaften betriebenen Unternehmen
60
Viertes Kapitel:
Die Adressaten
gewerkschaftlicher
Einflußnahme
§ 9. Gewerkschaften u n d Parlament A . Gewerkschaftsmitglieder i m Bundestag
62 62 62
1. Das Bundestagsplenum
63
2. Die Bundestagsausschüsse
64
3. Intentionen des D G B
68
B. Gewerkschaftsmitglieder i n den Länderparlamenten
69
C. Die institutionelle Beteiligung der Gewerkschaften
70
§ 10. Gewerkschaften u n d Bundesregierung
70
§11. Gewerkschaften u n d Judikative
73
§12. Gewerkschaften u n d politische Parteien
74
A . Das Selbstverständnis der Gewerkschaften
74
B. Gewerkschaftliche Unterstützung politischer Parteien
75
§ 13. Gewerkschaften u n d Öffentlichkeit
77
A . Unmittelbare Pressearbeit
77
B. Mittelbare Presse- u n d Öffentlichkeitsarbeit
78
§ 14. Gewerkschaften u n d Arbeitnehmer
79
A . Personeller u n d materieller Umfang der Interessenvertretung . . .
79
B. Die verbandsinterne Betreuung v o n Arbeitnehmern
80
1. Betriebsbezogene A r b e i t
80
2. Gewährung v o n Sozialleistungen
80
3. Schulungs- u n d Bildungsarbeit
81
4. Freizeit- u n d Ferienbetreuung
83
C. Das Gewerkschaftsbild bei Arbeitnehmern
84
1. Notwendigkeit der Gewerkschaften
84
2. Gewerkschaften als Interessenvertretung der Arbeitnehmer . .
85
a) Allgemeines
85
Inhaltsverzeichnis b) Der I n h a l t der gewerkschaftlichen Interessenvertretung . . . c) Die wichtigsten Aufgaben der Gewerkschaften §15. Zusammenfassung
87 90 92
Zweiter T e i l
Fünftes Kapitel:
Die Beteiligung der Gewerkschaften am Prozeß der Staatswillensbildung
97
Das System der Volks- und Staatswillensbildung
98
§16. Einordnung der Gewerkschaften
98
A . Differenzierung
98
B. Standort der Gewerkschaften
100
C. A r t der gewerkschaftlichen Partizipation
101
§17. Gewerkschaftliche Partizipation u n d Gemeinwohl
102
A . Gemeinwohl i n einer pluralistisch strukturierten Gesellschaft
102
B. Gemeinwohlkonkretisierung
107
Sechstes Kapitel: Inhalt und Grenzen gewerkschaftlicher unter dem Aspekt des Demokratiegebots — Art. 20 II GG
Beteiligung
109
§18. Das Erfordernis demokratischer Legitimation f ü r die Ausübung v o n Staatsgewalt
109
A . Einführung
109
B. Legitimationsfunktionen 110 C. Gewerkschaftliche Beteiligung als Problem zusätzlicher L e g i t i mation 110 1. Gesetzgebung u n d Regierung
110
2. V e r w a l t u n g
111
3. Z u r Legitimationsbedeutung der T a r i f autonomie
114
a) Das Verhältnis zwischen T a r i f autonomie u n d Staatsgewalt 114 b) Legitimationsbedeutung gewerkschaftlicher Beteiligung an der tarifvertraglichen Rechtsetzung 119 4. Die soziale Selbstverwaltung
120
5. Die Repräsentation organisierter Interessen
122
a) Theorie der Repräsentationsfunktion v o n Interessenverbänden u n d ihre K r i t i k e r 122 b) Bedeutung der Interessenrepräsentation f ü r die Legitimat i o n staatlicher Machtausübung 125 c) Ergebnis 126 D. Gewerkschaftliche Beteiligung als Problem der Erhaltung demokratischer Legitimation 127 1. Gewerkschaften als politisch mächtige Wirkungseinheiten
127
12
Inhaltsverzeichnis 2. Problemlage
128
3. M i t t e l zur Erhaltung konstitutionell-demokratischer Legitimation 130 a) Die Rechtsprechung des BVerfG zur öffentlich-rechtlicher Berufsverbände
Satzungsbefugnis
130
b) A n w e n d u n g auf die gewerkschaftliche Beteiligung an der Staatswillensbildung 131 c) Ständestaatliche Tendenzen als Gefahren f ü r die grundgesetzliche Staatswillensbildung 134 4. A n w e n d u n g der Begrenzungsmethode auf die gewerkschaftliche Beteiligung an der Staatswillensbildung 138 a) Gewerkschaftliche Beteiligung an der Tätigkeit der Gesetzgebungsorgane des Bundes u n d der Länder 138 aa) Beteiligungsformen bb) Beteiligungsbegrenzung durch A r t . 9 I I I GG cc) Weitere Begrenzung
138 140 144
b) Gewerkschaftliche Beteiligung an der Regierung u n d der unmittelbaren Staatsverwaltung 145 c) Gewerkschaftliche Beteiligung an der Tätigkeit der m i t t e l baren Staatsverwaltung 151 d) Gewerkschaftliche Beteiligung an der Rechtsprechung 152 §19. Das Nutzbarmachen gesellschaftlicher I n i t i a t i v e u n d gesellschaftlichen SachVerstandes 153 A. Einführung
153
B. Sachverstand u n d Verbandstätigkeit
154
1. Interessenbezogenheit u n d Sachlichkeit
155
2. Ergebnis
157
C. Grenzen gewerkschaftlicher Beteiligung
158
1. Sachangemessene Beteiligung
158
2. Typische Arbeitnehmerinteressen als personelle Grenze
159
3. Organisatorische Grenze
159
D. Konkretisierung der Begrenzungsmethoden
160
§ 20. Gewerkschaftliche Einflußnahme u n d demokratische Transparenz . . 162 A . Transparenz u n d Demokratie
162
B. Die Einflußnahme auf Parlament u n d Regierung
163
C. Die Einflußnahme auf die V e r w a l t u n g
164
§21. Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Grundrechte
165
A . Grundrechte u n d Partizipationsanspruch
165
B. Grundrechte u n d Partizipationsgrenzen
167
1. Die Rundfunkfreiheit — A r t . 5 I Satz 2 GG
167
2. Die Wissenschaftsfreiheit — A r t . 5 I I I GG
168
Inhaltsverzeichnis Siebentes Kapitel: Inhalt und Grenzen gewerkschaftlicher unter dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit
Beteiligung
§22. Hechtsstaatliche Prinzipien
169 169
§ 23. Die Bedeutung der gewerkschaftlichen Beteiligung f ü r die Sicherung der Grundrechte
170
A . Gewerkschaftliche Mindestbeteiligung
170
B. Grenzen gewerkschaftlicher Beteiligung
171
C. Konkretisierung der Beteiligungsgrenzen
172
§ 24. Gewerkschaftliche Beteiligung unter dem Primat des Rechts
173
A . Betroffenenpartizipation u n d Gewerkschaften
173
B. Mindestbeteiligung u n d Beteiligungsgrenzen
175
C. Die V e r w a l t u n g der Deutschen Bundespost als Beispiel 177 § 25. Gewerkschaftliche Beteiligung unter dem Grundsatz der Gewaltenteilung — A r t . 20 I I Satz 2 GG 178 A . Gewaltenteilung u n d Verbandstätigkeit
178
1. Zuweisung staatlicher Gewalt u n d Staatsorgane
178
2. Funktionssicherung der Staatsgewalten
180
a) Allgemeines 180 b) Gefahren u n d Nutzen des Verbandswirkens f ü r das Z i e l der Gewaltenteilung 180 c) „Staat i m Staate" 182 d) Staatliche Gemeinwohlrealisierung 184 B. Grenzen der Einbeziehung der Gewerkschaften i n die Staats Willensbildung 186 1. Folgerungen aus I n h a l t u n d Zweck der Gewaltenteilung
186
2. Beispiele
188
§ 26. Gewerkschaftliche Beteiligung unter dem Gebot der Voraussehbarkeit staatlicher Machtausübung
190
A . Voraussehbarkeit u n d Transparenz staatlicher Machtausübung . . 190 B. Partizipation u n d Voraussehbarkeit
191
C. Mindestbeteiligung u n d Grenzen gewerkschaftlicher Beteiligung 193 Achtes Kapitel: Inhalt und Grenzen gewerkschaftlicher Beteiligung dem Aspekt der Sozialstaatlichkeit — Art. 201/28 I GG
unter
§ 27. Grundsätze der Sozialstaatlichkeit
194 194
§ 28. Mindestbeteiligung der Gewerkschaften
194
A . Partizipationsfolgerungen Selbstverwaltung"
aus
dem
Gedanken
B. Partizipationsfolgerungen Funktionen
aus
dem
Verlust
der
„sozialen
gesellschaftlicher
194 195
14
Inhaltsverzeichnis C. K r i t e r i e n gewerkschaftlicher Mindestbeteiligung i m einzelnen . . 197 1. Schutz der sozial Schwachen
197
2. Soziale Gestaltungsfunktionen
198
3. Folgerung
199
§ 29. K r i t e r i e n f ü r die Begrenzung gewerkschaftlicher Beteiligung
199
A . Bürgergerechte Daseinsvorsorge
199
B. Die verbandsinterne Willensbildung
201
C. Sozialstaatliche Funktionen des Gesetzgebers
202
D. Sozialstaatliche Sachbereiche
202
§30. A n w e n d u n g der Begrenzungskriterien
204
A . Gesetzgebung
204
B. Regierung u n d V e r w a l t u n g
204
C. Rechtsprechung
205
§ 31. Zusammenfassung
205 Dritter Teil
Die Mitwirkung der Gewerkschaften am Prozeß der Volkswillensbildung Neuntes Kapitel: Grenzen der gewerkschaftlichen betrieblichen und überbetrieblichen Bereich
Meinungsfreiheit
209 im
§ 32. Allgemeines: Grundrechte u n d Gewerkschaftspartizipation § 33. Die bestehende gesetzliche Rechtslage
209 209 210
A . Der betriebliche Bereich
210
B. Der überbetriebliche Bereich
210
§ 34. Verfassungsrechtliche Überprüfung der gesetzlichen Rechtslage A . Die Koalitionsfreiheit — A r t . 9 I I I GG
211 211
B. Die Beschränkung der Meinungsfreiheit — A r t . 5 I GG — durch das BetrVerfG 212 1. Konkurrenz zwischen A r t . 5 I u n d A r t . 9 I I I GG
212
2. Geltung v o n A r t . 5 I GG f ü r Gewerkschaften
213
3. Das BetrVerfG als allgemeines Gesetz i. S. v. A r t . 5 I I GG
214
4. Ergebnis
217
Zehntes Kapitel: Grenzen politischer Handlungsweisen ten im außerbetrieblichen gesellschaftlichen Bereich
der Gewerkschaf-
218
§35. Die politische Tätigkeit der Gewerkschaften i m Hinblick auf die Koalitionsfreiheit — A r t . 9 I I I GG 218 A . Der Umfang des Freiheitsbereichs
218
Inhaltsverzeichnis Β . Politisch umfassende Tätigkeit der Gewerkschaften i m Licht der koalitionsrechtlichen Beitrittsfreiheit 220 § 36. Die politische Tätigkeit der Gewerkschaften i m Hinblick auf die M e i nungsfreiheit — A r t . 5 I GG 223 A . Problemstellung
223
B. Vorzüge umfassender politischer Gewerkschaftstätigkeit
224
C. Gefahren
225
D. Die Theorie der „Repräsentation organisierter Interessen"
227
E. Herstellung praktischer Konkordanz
227
§ 37. Die politische Tätigkeit der Gewerkschaften i m Hinblick auf ihre öffentliche Aufgabe 228 A . Vergleich zwischen politischen Parteien u n d Gewerkschaften
228
B. Die Stellung der politischen Parteien i n der Volks- u n d Staatswillensbildung 229 C. Konsequenzen f ü r Stellung u n d F u n k t i o n der Gewerkschaften i m Prozeß der Volkswillensbildung 231 D. Weitere Konsequenzen aus der öffentlichen F u n k t i o n der Gewerkschaften 233 1. Vergleich zur öffentlichen F u n k t i o n der Pressefreiheit
233
2. Rechtstaatliche Beschränkung öffentlicher Macht
234
3. Vergleich zu öffentlich-rechtlichen Berufskörperschaften
234
§ 38. Schlußfolgerungen u n d rechtspolitischer Ausblick
235
Literaturverzeichnis
237
Abkürzungsverzeichnis Es sind die üblichen Abkürzungen verwandt, die der Zusammenstellung von Hildebert Kirchner, AbkürzungsVerzeichnis der Rechtsprache, 2. Aufl., B e r l i n 1968 folgen. Ergänzend dazu oder abweichend sind folgende Abkürzungen verarbeitet: 10. D A G — B K P
Kongreßbericht v o m 10. Bundeskongreß der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft i n Nürnberg 1971
DAG — TB
Tätigkeitsbericht der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft 1967 - 1971
D B B — GB
Geschäftsbericht der Bundesleitung des Deutschen Beamtenbundes
4. D G B — B K P
Protokoll des 4. Ordentlichen Bundeskongresses des D G B 1956
9. D G B — B K P
Protokoll des 9. Ordentlichen Bundeskongresses des DGB, B e r l i n 1972
D G B — GB
Geschäftsbericht des Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1969 -1971
D G B — GB
Geschäftsbericht des Hauptvorstandes der Deutschen Postgewerkschaft
9. D P G — K P
Tagesprotokoll des 9. Ordentlichen Kongresses der Deutschen Postgewerkschaft, Koblenz 1968
GMH
Gewerkschaftliche Monatshefte
7. GTP — I G M
Protokoll des 7. Ordentlichen Gewerkschafts-Tages der Industriegewerkschaft M e t a l l f ü r die Bundesrepublik Deutschland, Essen 1962
10. GTP — I G M
Protokoll des 10. Ordentlichen Gewerkschaftstages des Industriegewerkschaft M e t a l l f ü r die Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1971, u n d des außerordentlichen Gewerkschaftstages i n München 1972
5. GTP — I G Chemie P K Protokoll der Verhandlungen des 5. Ordentlichen Gewerkschaftstages der Industriegewerkschaft Chemie — Papier — K e r a m i k 1960 IGM —GB
Geschäftsbericht 1968 - 1970 des Vorstandes der Industriegewerkschaft M e t a l l f ü r die Bundesrepub l i k Deutschland
WdA
Welt der A r b e i t Hinweis
A r t i k e l ohne Gesetzesangabe sind solche des Grundgesetzes
ERSTER T E I L
Inhalt und Methode gewerkschaftlicher Tätigkeiten — eine Bestandsaufnahme Erstes Kapitel
Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland §1. Begriff Gewerkschaften sind Arbeitnehmervereinigungen i. S. d. Art. 9 I I I und müssen daher nach Aufbau und Zielsetzung den Koalitionsbegriff erfüllen. Danach sind Gewerkschaften frei gebildete, auf gewisse Dauer angelegte, privatrechtliche Vereinigungen von Arbeitnehmern zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder; sie sind gegnerfrei und unabhängig sowohl vom Staat als auch vom sozialen Gegenspieler und auf überbetrieblicher Ebene errichtet 1 . Umstritten ist, ob zusätzliche Voraussetzungen des Koalitionsbegriffs die Tariffähigkeit bzw. Tarifwilligkeit und die Bereitschaft zum A r beitskampf sind 2 . Bedeutsam würden diese zusätzlichen Begriffselemente insbesondere für die nicht tariffähigen und nicht streikfähigen Beamtenvereinigungen. I m Grunde beweist die Bezeichnung dieser Verbände als „Gewerkschaften" i n § 91 BBG, daß die Tariffähigkeit kein Merkmal des Koalitionsbegriffs sein kann ebensowenig wie die Bereitschaft zum Arbeitskampf 3 . Dieses Problem bedarf jedoch keiner näheren Erörterung, da auch die Befürworter des engeren Koalitionsbegriffs 1 BVerfGE 4, 106 f.; 18, 28; Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 428 ff., 436; Weber, Sozialpartner, S. 249; Nikisch, A r b R I I , S.4ff., 11; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 81 ff., 93 ff., 99 ff.; Galperin, D B 1970, S.298; v. Münch, B K , Z w e i t bearb., A r t . 9, Rdnr. 120, 125, 127; Ridder, Gewerkschaften, S. 19, 37; Scholz, Koalitionsfreiheit, S.47ff.; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 96 ff.; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 187; Löwisch, Z f A 1970, S. 295 ff. 2 Dafür: B A G E 4, 352; 12, 190ff.; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 105ff. m. w. Nachw.; Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, A n m . Β 8 b, bb (S. 238); dagegen: BVerfGE 18, 32; 19, 313 ff.; Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 442 ff., 462; Maunz (-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 101 f.; v. Münch, B K , Zeitbearb., A r t . 9, Rdnr. 130 f.; Nikisch, A r b R I I , S. 12 f., 255 f.; Galperin, D B 1970, S. 299; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 48 ff. m i t Überblick zum Streitstand; Söllner, ArbR, § 9 I. 3 Vgl. Galperin, D B 1970, S. 299.
2 Gießen
18
1. Kap.: Gewerkschaften i n der Bundesrepublik Deutschland
eben für solche Verbände eine Ausnahme machen, bei denen die fehlende Tariffähigkeit nicht auf freiem Willensentschluß, sondern auf gesetzlichem Zwang beruht 4 . Alle zur Zeit i n der BRD vorhandenen Verbände, die sich i n ihren Satzungen „Gewerkschaft" nennen, erfüllen unstreitig den Koalitionsbegriff, einschließlich derjenigen Vereinigungen, i n denen sich vorwiegend oder ausschließlich Beamte zusammenschließen, wie des „Deutschen Beamtenbundes" (DBB), der „Gewerkschaft der Polizei" (GdP) oder der i m DGB organisierten Gewerkschaften „Deutsche Postgewerkschaft" (DPG), „Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands" (GdED) und der „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft" (GEW). §2. Übersicht I n der Bundesrepublik Deutschland sind folgende Gewerkschaften tätig: 1. Der Deutsche Gewerkschaftsbund
(DGB) 5
Die i m D G B als Spitzenorganisationen zusammengeschlossenen 16 Einzelgewerkschaften: — I G Metall
ca. 2 593 000 M i t g l .
— Gewerkschaft öffentl. Dienste, Transport u n d Verkehr (ÖTV) — I G Chemie, Papier, K e r a m i k
ca. 1 051 000 Mitgl. ca. 656 000 M i t g l .
— I G Bau, Steine, Erden
ca.
518 000 Mitgl.
— Gewerkschaften der Eisenbahner Deutschlands
ca.
455 000 Mitgl.
— Deutsche Postgewerkschaft
ca.
420 000 Mitgl.
— I G Bergbau u n d Energie
ca.
374 000 Mitgl.
— Gewerkschaft Textil, Bekleidung
ca.
288 000 Mitgl.
— Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten
ca.
248 000 Mitgl.
— Gewerkschaft Handel, Banken u n d Versicherungen
ca.
237 000 M i t g l .
— I G Druck u n d Papier
ca.
164 000 Mitgl.
— Gewerkschaft Holz u n d Kunststoff
ca.
135 000 Mitgl.
— Gewerkschaft Erziehung u n d Wissenschaft
ca.
132 000 Mitgl.
— Gewerkschaft Leder
ca.
58 000 Mitgl.
— Gewerkschaft Gartenbau, L a n d - u n d Forstwirtschaft .. ca.
40 000 Mitgl.
— Gewerkschaft Kunst
36 000 Mitgl.
ca.
ca. 7 406 000 Mitgl. 4 Vgl. Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 108, 111; Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, A n m . Β 8 d (S. 240); Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 187, I V 4. 5 Mitgliederstand am 31.12.1974, Statistisches Jahrbuch f ü r die Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 165.
§ 2. Übersicht 2. Der Deutsche Beamtenbund
19
(DBB)
Als Spitzenorganisation von Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes 6 umfaßt der D B B 44 Einzelgewerkschaften m i t insgesamt 720 000 Mitgliedern 7 . Diese Gewerkschaften gliedern sich i n 11 Landesverbände, 15 Bundesbeamtenverbände und 18 Bundesfach verbände 8 . 3. Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft
(DAG)
Als drittgrößte Gewerkschaft folgt die D A G m i t ca. 472 000 Mitgliedern 9 . I m Gegensatz zum D G B u n d D B B ist die D A G eine Einheitsorganisation, die Arbeitnehmer (Angestellte) als unmittelbare Mitglieder h a t 1 0 u n d nicht einzelne selbständige Gewerkschaften 1 1 . Sie ist daher zwar keine „Spitzenorganisation" gem. § 2 I I u n d I I I T V G 1 2 , aber gem. § 10 a, S. 2 T V G 1 3 — einer Bestimmung, die gerade wegen der D A G i n das T V G eingefügt w u r d e 1 4 . Die D A G ist regional u n d sektoral i n Landesverbände und Fachgruppen untergliedert 1 5 . 4. Die Gewerkschaft
der Polizei (GdP) hat ca. 126 000 Mitglieder 1 6 .
5. Im Christlichen Gewerkschaftsbund Mitglieder organisiert 1 7 .
6
Deutschlands
(CGD) sind ca. 240 000
Vgl. § 1 I DBB-Satzung. Stand: 30. 9.1974, Stat. Jahrbuch 1975, S. 165. 8 Vgl. Deutscher Beamtenkalender 1973, S. 21 ff. 9 Stand: 30. 9.1974, Stat. Jahrbuch 1975, S. 165. 10 § 7 DAG-Satzung. 11 Der G r u n d dafür ist, daß die D A G bis 1948 selbst Einzelgewerkschaft i m D G B war, aber ausschied, als das Industrieverbandsystem auch für sie für verbindlich erklärt werden sollte, vgl. Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 176. 12 Vgl. zum Charakter von Spitzenorganisationen Hueck/Nipperdey/Stahlhacke, T V G , § 2 Rdnr. 43. 13 Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 176, 223 Fußn. 24; Hueck/Nipperdey/ Stahlhacke, T V G , § 10 a Rdnr. 1. 14 Vgl. Hueck/Nipperdey/Stahlhacke, TVG, § 10 a Rdnr. 1. 15 Vgl. D A G — T B (1967 - 1971), S. 126 ff. ; §§ 2, 7 DAG-Satzung. 16 F A Z v o m 23.10.1973, S. 6. 17 Schuster, DGB, S. 97; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 176 geht von 230 000 aus (für Anfang 1964). 7
2*
Zweites
Kapitel
Die den Gewerkschaften gesetzlich zugewiesenen Tätigkeitsbereiche 1 §3. Systematisierung 2
Üblicherweise werden die gesetzlichen Funktionen der Gewerkschaften i n drei Gruppen eingeteilt: Die erste Kategorie umfaßt Aufgaben außerhalb staatlicher Institutionen, die zweite und dritte Kategorie Tätigkeitsbereiche innerhalb staatlicher Institutionen — Antrags- und Anhörungsrechte einerseits, Benennungs- und Entsendungsrechte andererseits; diese letzten beiden Gruppen unterscheiden sich lediglich i n der organisatorischen Intensität der gewerkschaftlichen Einbeziehung i n den Staat. Diese Gliederung erscheint jedoch unbefriedigend, da der Bereich der Selbstverwaltung der Sozialverbände i n öffentlich-rechtlichen Formen i n diese Gliederung nicht einzuordnen ist, ohne auf eine scharfe Konturierung gerade wesentlicher Merkmale des Verbandshandelns zu verzichten. Aber auch die — unter politologischen Aspekten durchaus sinnvolle — vergröbernde Klassifizierung i n die beiden Bereiche der Zusammenarbeit m i t staatlichen Organen und der sozial-autonomen Herrschaftsausübung der Gewerkschaften 3 kann diesen Gesamtkomplex gewerkschaftlicher Aufgaben juristisch-systematischen Erfordernissen entsprechend nicht darstellen, w e i l dabei nicht die juristisch-relevante Frage beantwortet wird, ob diese Tätigkeiten i m öffentlich-rechtlichen oder i m privat-rechtlichen Bereich wahrgenommen werden. Eine formal-organisatorische Untergliederung des Bereichs gesetzlich zugewiesener gewerkschaftlicher Tätigkeit — eine Übersicht darüber, welche Sachbereiche einer gewerkschaftlichen Partizipation offenstehen und i n welchem Maß die Gewerkschaften i n Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung organisatorisch integriert sind — muß zwischen vier Kategorien unterscheiden: 1 Übersichten bei Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 194ff.; Drewes, Gewerkschaften, S. 25 ff.; Hirsch, Gewerkschaften, S. 43 ff., 155 ff.; A R - B l a t t e i D, Berufsverbände I, 12. Fortsetzungsblatt; Weber, Sozialpartner, S. 251 ff.; H a mann, Gewerkschaften, S. 5 ff.; Gröbing, Gewerkschaften, S. 16 ff. 2 Vgl. Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 194. 3 Hirsch, Gewerkschaften, S. 156, 158 ff.
§4. Übersichtstabellen
21
(1) Aufgaben außerhalb öffentlich-rechtlicher Institutionen; diese werden autonom, d. h. weder staatlich beaufsichtigt noch dirigiert, wahrgenommen und reichen von der paritätischen Stellung als Tarifvertragspartei bis zur Teilnahme an betrieblichen Entscheidungen und der Teilnahme an der Wahl nach dem MitbestG. (2) Aufgaben i n öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltungskörperschaften. (3) Rechte zur Benennung und Entsendung von Vertretern i n öffentlich-rechtliche Institutionen. (4) Anhörungs- und Antragsrechte gegenüber öffentlich-rechtlichen Institutionen. I n den folgenden Übersichtstabellen werden die einzelnen gesetzlichen Funktionen der Gewerkschaften dargestellt 4 . I n der linken Spalte werden die zuweisenden Normen aufgeführt, i n der rechten Spalte die Sachgebiete, die durch die jeweiligen Gesetze geregelt werden. Sie werden entweder unmittelbar i n derjenigen Norm ersichtlich, die die Teilnahme der Gewerkschaften regelt oder sie ergeben sich aus dem jeweiligen Normkomplex. §4. Ubersichtstabellen Übersichtstabelle
1
Gewerkschaftliche Funktionen außerhalb öffentlich-rechtlicher Institutionen Zuweisungsnorm
| Sachbereich
§§ 2 ff. T V G (Gewerkschaften als Tarifvertragsparteien)
§§ 1 I, 4 I I TVGa): tarifvertragliche Regelung arbeitsrechtlicher Rechte u n d Pflichten der Tarifvertragsparteien; Normen über Inhalt, Abschluß und Beendigung von Arbeitsverhältnissen; betriebliche u n d betriebsverfassungsrechtliche Fragen; gemeinsame Einrichtungen; auch die t a r i f vertragliche Vereinbarung vermögenswirksamer Leistungen gem. § 3 I 3. VermögensbildungsG i. d. F. v o m 27. 6. 1970, BGBl. I, S. 930
§§ 7, 9 A Z O
tarifvertragliche Arbeitszeit
Gesetz über die Schaffung eines besonderen Arbeitgebers f ü r Hafenarbeiter (Gesamthafenbetrieb) v o m 3. 8. 1950, BGBl. I, S. 352: Vereinbarung eines Gesamthafenbetriebs
Arbeitsverhältnisse für Hafenarbeiter
Verlängerung
der
a) Vgl. Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht I I / l , S. 207 ff. 4 Die Aufzählung enthält n u r die wesentlichen Funktionen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
22
2. Kap.: Gesetzliche Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften Übersichtstabelle
1 (Fortsetzung)
Zuweisungsnorm
Sachbereich
A r t . I, I I , V I I Kontrollratsgesetz (KRG) Nr. 35; §§ 1, 3 SchlichtungsG Rheinland-Pfalzb) : Gewerkschaften als Parteien der freiwilligen tariflichen Schlichtung
Schlichtungstätigkeit bei Streitigkeiten über Arbeitsbedingungen^
Betätigungsmöglichkeiten f ü r die Gewerkschaften gemäß dem B e t r V G d ) : — § 2 I I (Zugang zu den Betrieben, Verhältnis zu Betriebsrat u n d A r beitgeber) — §§ 14 V I I , 17 I I , 18 I I I (Einflußnahme auf die Organisation von Betriebsratswahlen)
M i t w i r k u n g an betriebsverfassungsrechtlichen Gegenständen; Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats an allgemeinen, sozialen, personellen u n d wirtschaftlichen Angelegenheiten
— §§ 31, 34 I I , 35 I, 37 V I I , 51 I i. V. m. 31, 53 I I I i. V. m. 46, 59 I i. V. m. 31 (Einflußnahme auf die Arbeit des Betriebsrats) — §§ 43 I V , 46 I, I I (Einflußnahme auf die Organisation von Betriebsu n d Abteilungsversammlungen) — §§ 63, 65 I i. V. m. 31, 23 I, 66 I, 73 I I i. V. m. 31, 66 (Einflußnahme auf die Organisation v o n Jugendvertreterwahlen u n d die Arbeit der Jugendvertretung) — § 71 i. V. m. § 46 (Jugendversammlungen) — §§ 3, 47 I V , 55 I V , 72 I V , 76 V I I I , 86 — (tarifliche Regelung betriebsverfassungsrechtlicher Fragen) — § 75 I (Schutz gewerkschaftlicher Einstellung u n d Betätigung) § 6 I, I I I , I V MitbestG (Recht zur E i n reichung von Wahlvorschlägen bzw. zur Entsendung von Arbeitnehmervertretern i n den Aufsichtsrat)
überbetriebliche Montanbereich
Mitbestimmung
im
b) Zu weiteren Landesgesetzen und Ausführungsverordnungen zum K R G Nr. 35 vgl. Nipperdey, Arbeitsrechtssammlung, Nr. 521 ff. c) Vgl. Art. I K R G Nr. 35; § 1 SchlichtungsG Rheinland-Pfalz; 2. DurchführungsVO zum K R G Nr. 35 Nordrhein-Westfalen; VO Nr. 701 Schlichtungsordnung Baden-Württemberg. d) Vgl. Übersicht bei Halberstedt/Zander, BetrVG, Rdnr. 76 ff. Frauenkorn, BetrVG, § 2 Nr. 8; Müller, ZfA 1972, 213 ff.; Dietz, JuS 1972, 685 ff.
§4. Übersichtstabellen Übersichtstabelle
23
2
Gewerkschaftliche Funktionen in öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltungskörperschaften Zuweisungsnorm
Sachbereich
§ 7 I I S. 2 SelbstverwG (Wahlvorschlagsrecht f ü r Vertreterversammlungen u n d Versichertenälteste) a )
Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger
§ 8 WirtschaftskammerG Bremen v. 23. 6.1950, GBl. S. 71 (Entsendung von Vertretern i n die bremische W i r t schaftskammer)
Mitwirkung an wirtschaftlicher Selbstverwaltung; Beratung von Gesetzgebung u n d Verwaltung bei allgemeinen wirtschafts- u n d sozialpolitischen Maßnahmen, § 2 WirtschaftskammerG
§ 8 Gesetz über Arbeitnehmerkammern i m L a n d Bremen v. 3. 7. 1950 (Vorschlagsrecht f ü r die W a h l der Vollversammlung) b)
Interessenvertretung i n wirtschaftlichen, sozialen u n d kulturellen A n gelegenheiten, § 1 des Gesetzes
§ 8 I Gesetz Nr. 846 über Arbeitskammern des Saarlandes v o m 5. 7. 1967 (Vorschlagsrecht f ü r die W a h l der Vertreterversammlung) t>)
Interessenvertretung i n wirtschaftlichen, sozialen u n d kulturellen A n gelegenheiten, § 1 des Gesetzes; Stellungnahmen i n Fragen, die die I n t e r essen der Arbeitnehmer unmittelbar berühren, § 5
§ 195 A F G (Vorschlagsrecht f ü r die Besetzung der Organe der Bundesanstalt f ü r Arbeit)
sozial- u n d wirtschaftspolitische A u f gaben gem. § 3 A F G
§ 63 I BerufsbildungsG (Recht zur Entsendung von 5 Gewerkschaftsvertretern — 4 DGB, 1 D A G — i n den Hauptausschuß des Bundesinstituts für Berufsbildungsforschung)
Förderung der Berufsbildung durch Forschung, vgl. § 60 I I - V BerufsbildungsG
a) Vgl. dazu ausführlich Leopold, Selbstverwaltung, S. 107 ff., 269 f. u. passim. b) Das BVerfG hat diese Gesetze für verfassungsmäßig erklärt, NJW 1975, 1265 ff. = DÖV 1975, 497 ff.; ausführlich zu Arbeitnehmerkammern vgl. Peters, Arbeitnehmerkammern in der Bundesrepublik Deutschland.
24
2. Kap.: Gesetzliche Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften Übersichtstabelle
3
Rechte zur Benennung oder Entsendung von Gewerkschaftsvertretern in sonstige öffentlich-rechtliche Institutionen Zuweisungsnorm
Sachbereich
§§ 14 I, 16, 20 A r b G G (Vorschlagsrecht f ü r die Berufung von Arbeitsrichtern), §§ 35, 37 I I , 38 (Landesarbeitsrichter), §§ 41,43 1,45 (Bundesarbeitsrichter)
Zuständigkeit der Arbeitsgerichte gem. §§ 2, 3 A r b G G : Tarifverträge, unerlaubte Handlungen hinsichtlich Arbeitskampf oder Vereinigungsfreiheit; Arbeitsverhältnisse; Arbeitnehmererfindungen; Fragen des B e t r V G
§ 18 I I A r b G G (Recht zur Entsendung von Gewerkschaftsvertretern i n den Ausschuß zur Ernennung der Gerichtsvorsitzenden)
s. 0.
A r t . V I I K R G Nr. 35 (Vorschlagsrecht für die Ernennung von Beisitzern der Schieds- u n d Schlichtungsausschüsse)
Schlichtungswesen
§ 5 I, V T V G (Entsendungsrecht f ü r den Tarif ausschuß)
Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen
§§ 2, 5, 6 Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen (Haupt- u n d Fachausschüsse zur Festsetzung von M A B )
Arbeitsbedingungen
§ 50 I I I BerufsbildungsG (Vorschlagsrecht für Berufung der Mitglieder des Bundesausschusses für Berufsbildung)
Beratung der Bundesregierung i n Beruf sbildungsf ragen; M i t w i r k u n g nach dem BerufsbildungsG, vgl. § 51
§§ 22 I I I - V I I , 27 f. SchwerbeschG (Entsendungsrecht für die Ausschüsse f ü r Schwerbeschädigtenangelegenheiten)
Schutz von Schwerbeschädigten beitnehmern
§§ 4, 5, 22 I I I H A G (Entsendungsrecht f ü r die Heimarbeits- u n d Entgeltausschüsse)
Arbeitsbedingungen von H e i m arbeitern
§§ 18, 20 I KschG (Entsendungsrecht f ü r Ausschüsse bezüglich Massenentlassungen)
Arbeitsverhältnisse
§ 13 Gesetz zur Förderung des Bergarbeiterwohnungsbaus, BGBl. I 1951, S.418 (Entsendungsrecht f ü r den Ausschuß f ü r den Bergarbeiterwohnungsbau)
Finanzierung des Bergarbeiterwohnungsbaus
§§ 11, 13, 14 I I SGG (Vorschlagsrecht f ü r die Berufung von Sozialrichtern), § 35 I (Landessozialrichter), § 46 I I (Bundessozialrichter)
Zuständigkeit der Sozialgerichte, § 51 SGG: Sozialversicherung, Arbeitslosenversicherung, sonstige Aufgaben der Bundesanstalt f ü r A r b e i t ; Kriegsopferversorgung
1. Arbeit und Soziales:
Ar-
§4.
bersichtstabellen
Übersichtstabelle
25
3 (Fortsetzung)
Zuweisungsnorm
Sachbereich
A r t . 35 Nr. 4 Bayerische Verfassung (Recht zur Entsendung von 11 Gewerkschaftsvertretern i n den 60köpfigen Bayerischen Senat)
Aufgaben des Senats: soziale, k u l t u relle, wirtschaftliche u n d gemeindliche Angelegenheiten, A r t . 34 Bay.Verf.; Gesetzesinitiativrecht, A r t . 39; Stellungnahmen zu Gesetzesvorlagen der Staatsregierung, A r t . 40; Recht zur Erhebung von Einwendungen gegen Landesgesetze, A r t . 41
A r t . 124 S. 2 EWG-Vertrag (Vorschlagsrecht f ü r die Besetzung des Beratenden Ausschusses des Europäischen Sozialfonds); A r t . 193 S.2 E W G Vertrag (Wirtschafts- u n d Sozialausschuß)
Beratung i n wirtschafts- u n d sozialpolitischen Angelegenheiten 0 )
A r t . 7, 18, 19 E G K S (Vorschlagsrecht für die Besetzung des „Beratenden Ausschusses" bei der „Hohen Behörde" der Montanunion, 8 v o n 24 Mitgliedern)
Beratung i n wirtschafts- u n d sozialpolitischen Angelegenheiten
§§ 1, 5 ff. PostverwaltungsG (Vorschlagsrecht f ü r den Verwaltungsrat der Bundespost, 7 von 24 Mitgliedern)
Kontrolle der Wirtschaftsführung der Bundespost, Genehmigung grundlegender Vorhaben, vgl. § 12
§§ 7, 10 I, I I , V BundesbahnG (Vorschlagsrecht f ü r den Verwaltungsrat der Bundesbahn, 5 von 20 Mitgliedern)
Kontrolle der Wirtschaftsführung der Bundesbahn, Vorschläge f ü r die Besetzung des Vorstandes, vgl. § 12
§ 3 I I V O zum Gesetz über die E r richtung eines Bundesaufsichtsamts für das Versicherungswesen v. 25. 3. 1953, B G B l . I, S. 75, i. d. F. v. 16. 11. 1972 (Vorschlagsrecht f ü r den V e r sicherungsbeirat des Landesaufsichtsamts f ü r das Versicherungswesen)
Beratung bei der Beaufsichtigung privater Versicherungsunternehmen und öffentlich-rechtlichen Wettbewerbs-Versicherungsunternehmen, vgl. § 2 des Gesetzes
§§ 5, 7 I Nr. 7 Gesetz über die K r e d i t anstalt f ü r Wiederaufbau v. 22. 1. 1952, BGBl. I, S. 65, i. d. F. v. 23. 6. 1969, BGBl. I, S. 573 (Verwaltungsrat der Kreditanstalt für Wiederaufbau)
Darlehensvergabe an alle Zweige der Wirtschaft, § 2 des Gesetzes
§ 31 I I I ZündwarenmonopolG v. 29. 1. 1930, RGBl. I, S. 11, i. d. F. v. 12. 8. 1968
Zündwarenpreise, Verbraucherschutz
2. Wirtschaft:
a) Vgl. Nachw. bei Völpel, Wirtschaftsgruppen, S. 70 ff.
26
2. Kap.: Gesetzliche Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften Übersichtstabelle
3 (Fortsetzung)
Zuweisungsnorm
Sachbereich
§§ 53, 61, 62 GüterkraftverkehrsG (Verwaltungsrat der Bundesanstalt für den Güterfernverkehr)
Verbraucherbelange, Verhältnisse der Beschäftigten i m Güterfernverkehrsgewerbe
§§ 1, 5 V I Gesetz über die Bundesanstalt f ü r Flugsicherung v. 23. 3. 1953, BGBl. I, S. 70 (Verwaltungsrat der Bundesanstalt f. Fl.)
Unterstützung der Anstalt bei der Durchführung ihrer Aufgaben, insbesondere Flugsicherung, Förderung der Zusammenarbeit aller an der Flugsicherung Beteiligten, Beratung des Bundesministers f ü r Verkehr, vgl. §6
§§ 5, 7 I Nr. 3 Gesetz über die L a n d wirtschaftliche Rentenbank v. 14. 9. 1953, BGBl. I, S. 1330, i. d. F. v. 15. 7. 1963, BGBl. I, S. 466 (Verwaltungsrat der Landw. Rentenbank)
Beschaffung u n d Gewährung von Krediten f ü r die Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft, vgl. § 1 1
§ 4 I I Nr. 6 Gesetz über die Statistik f ü r Bundeszwecke v. 3. 9. 1953, BGBl. I, S. 1314 (Beirat des Statistischen Bundesamts)
Statistiken, insbesondere v o l k s w i r t schaftliche Gesamtrechnungen, vgl. §2
Vorschlagsrecht zur Besetzung der jeweiligen Verwaltungsräte der E i n f u h r - u n d Vorratsstellen f ü r : — Getreide u n d Futtermittel (§ 7 GetreideG i. V. m. 1. DurchfVO v. 3. 2. 1951, BGBl. I, S. 82, u n d §§ 7, 8 I I I der Satzung, BGBl. I, S. 83) — Zucker (§ 8 ZuckerG v. 5. 1. 1951, BGBl. I, S. 47, i. V. m. §§ 7, 8 I I I der Satzung, BGBl. I 1951, S. 257) — Fette (§ 14 I V Milch- u n d FettG v. 28. 2. 1951, BGBl. I, S. 135, i . V . m . §§ 7, 8 I I I Satzung, BGBl. I, S. 203) — Schlachtvieh (§16 V i e h - u. FleischG v. 25. 4. 1951, BGBl. I, S. 272, i . V . m . §§ 7, 8 I I I der Satzung, BGBl. I, S. 301)
Verbraucherbelange; die Spitzenorganisationen der Gewerkschaften schlagen die Verbrauchervertreter i n den jeweiligen Verwaltungsräten vor, vgl. § 8 I I I der jeweiligen Satzungen
§ 4 HandelsklassenG v. 5. 12. 1968, BGBl. I, S. 1303 (Ausschuß)
Verbraucherbelange
§ 9 I I Nr. 2 Gesetz über den gewerblichen Binnenschiffsverkehr v. 1. 10. 1953, BGBl. I, S. 1453, i. d. F. v. 8. 1. 1969, BGBl. I, S. 65 (Beirat der Wasser- u n d Schiffahrtsdirektionen)
Beratung der Wasser- u. Schiffahrtsdirektionen v o r Erlaß einer RechtsV O über die Verteilung von Frachtu n d Schleppgut, vgl. § 9
Ausschüsse gem. § 24 I V GewerbeO: — § 20 V O über die Errichtung und den Betrieb von Aufzugsanlagen, BGBl. 11961, S. 1763 — § 17 V O über elektrische Anlagen i n explosionsgefährdeten Räumen, BGBl. 1 1963, S. 697
Arbeitsschutzfragen b )
b) Vgl. Landmann/Rohmann/Eyermann/Fröhler, GewerbeO, § 24 Rdnr. 2.
§ 4. Übersichtstabellen Übersichtstabelle
27
3 (Fortsetzung) Sachbereich
Zuweisungsnorm — § 23 V O über brennbare Flüssigkeiten v. 18. 2. 1960, B G B l . I, S. 83, i. d. F. v. 1970, BGBl. I, S. 689 — § 13 V O über Getränkeschankanlagen, BGBl. 1 1962, S. 1076
3. Beamte: § 96 I I schuß)
BBG
(Bundespersonalaus-
beamtenrechtliche Verhältnisse
§ 49 I S. 2 B D O (Beisitzer i n Disziplinarkammer)
Disziplinarangelegenheiten
I n die meisten Rundfunkräte und den Fernsehrat des Z D F entsenden die Gewerkschaften Vertreter; kein E n t sendungsrecht steht ihnen f ü r die Rundfunkräte des Norddeutschen, Westdeutschen u n d Saarländischen Rundfunks zu; diese Rundfunkräte werden v o n den jeweiligen L a n d tagen gewählt 0 )
organisatorische Rundfunkangelegenheiten; Grundsätze der Programmgestaltung
§ 9 I I Nr. 5 GjS (gewerkschaftl. J u gendorganisationen schlagen Personen zur Besetzung der Bundesprüfstelle f ü r jugendgefährdende Schriften vor)
Aufnahme v o n jugendgefährdenden Schriften i n die Liste, vgl. §§ 8 I, 11 I
4. Kultur:
c) Vgl. die Ubersicht bei Jank, Die Rundfunkanstalten der Länder und des Bundes, Berlin 1967.
28
2. Kap.: Gesetzliche Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften Übersichtstabelle
4
Gewerkschaftliche Anhörungs- und Antragsrechte gegenüber öffentlich-rechtlichen Institutionen Zuweisungsnorm
Sachbereich
Rechtsstellung der Gewerkschaften gem. dem PersonalvertretungsG des a Bundes ) :
Einflußnahme auf die Beteiligungsrechte der Personalvertretung in innerdienstlichen, sozialen u n d personellen Angelegenheiten, vgl. §§ 66 ff., 90 P V G ; §§ 61 ff. hess. P V G
allgemeine Stellung: §§ 2, 94 (Abgrenzung der gewerkschaftl. Aufgaben von denen der Personalvertretung)t>) § 55 I (Zusammenarbeit m i t Personalrat u n d Dienststelle)^ Einflußnahme auf die Organisation der Personalratswahlen: §§ 17 I I , 19, 20, 22Φ Einflußnahme auf die Arbeit des Betriebsrats: §§ 26 I, 35, 38 I S. 2e) Recht auf Teilnahme an Personalversammlungen: § 50 I, I I (auf Beschluß des Personalrats) f ) Antragsrechte gem. BetrVG:
der Gewerkschaften
Kontrolle der richtigen Anwendung des BetrVGS)
§§ 16 I I , 18 I, I I (Antrag auf Bestellung eines Wahlvorstandes u n d auf Einleitung der Betriebsratswahl) § 19 I I (Wahlanfechtung) §§ 23 I, 48, 56 (Antrag auf Ausschluß von Betriebsratsmitgliedern bzw. Auflösung des Betriebsrats) § 23 I I I (Antrag auf Unterlassung von Verstößen gegen das B e t r V G durch den Arbeitgeber) §119 (Strafantrag gegen den A r b e i t geber) a) Vgl. Ubersicht bei Ebert, Das Recht des öffentlichen Dienstes, S. 592 (N 3), 613 f. (N 20) ; die PersVertrGe der Länder sehen für die Gewerkschaften die gleiche oder ähnliche Rechtsstellung vor. b) Zu den Gewerkschaften i. S. v. § 2 zählen auch die nicht tarif- und streikfähigen Vereinigungen, vgl. Molitor, PersVertrG, § 2 Rdnr. 9. c) § 55 I I hess. PersVertrG normiert zusätzlich ein Recht des Personalrats auf Unterstützung der Gewerkschaften in der Dienststelle. d) Das PersVertrG enthält kein gewerkschaftl. Wahlvorschlagsrecht, anders das hess. PersVertrG, vgl. §§ 16 I I , 15 I I I , 18, 19, 21. e) Die beratende Teilnahme der Gewerkschaften an Personalratssitzungen erfordert einen vorherigen Beschluß des Personalrats, § 35; §§ 25, 34, 37 I S. 2 hess. PersVertrG gestatten diese Teilnahme auch ohne Personalratsbeschluß. f) I n Hessen auch ohne Beschluß des Personalrats, § 49 hess. PersVertrG. g) Vgl. Hueck/Nipperdey, ArbR I I / l , S. 197.
§4. Übersichtstabellen Übersichtstabelle
29
4 (Fortsetzung)
Zuweisungsnorm
Sachbereich
§ 5 I T V G (Beantragung der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages)
Tarifvertragswesen
§ 7 Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen (Stellungnahme)
Arbeitsbedingungen
Anhörung bzw. Beratung vor Erlaß von DurchfVO oder VerwVorschr. : DurchfVO gem. § 11 T V G
Tarifvertragswesen
DurchfVO gem. § 16 Gesetz über die Festsetzung v. MindestarbBed.
Arbeitsbedingungen
DurchfVO gem. § 33 H A G
Arbeitsbedingungen von Heimarbeitern
Vergütungsrichtlinien gem. § 11 A r beitnehmererfindungsG
Erfindungen von Arbeitnehmern, Beamten u n d Soldaten
VO gem. § 8 I BinnenschiffsverkehrsG
Verteilung von Fracht- u n d Schleppgut
§ 11 A r b G G , § 73 V I S. 3 SGG (Prozeßvertretungsbefugnis)
Arbeits- u n d Sozialgerichtssachen
§§ 14 I, 15 I, 34 I, 36 I A r b G G (Anhörung bei Maßnahmen der Gerichtsorganisation)
Errichtung u n d V e r w a l t u n g der A r beits- u n d Landesarbeitsgerichte
§§ 1, 3 I StabilitätsG ( M i t w i r k u n g an der konzertierten Aktion)
2. Wirtschaft: M i t w i r k u n g der Gewerkschaften i n ihrer F u n k t i o n als Tarifvertragsparteien h )
§ 98 I, I I Nr. 7 A k t G (Antrag auf E n t scheidung über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats einer AG)
Kontrolle der richtigen Anwendung des MitbestG
§ 14 PersonenbeförderungsG (Anhörung vor Entscheidungen über Beförderungsgenehmigungen)
Personenbeförderung
§ 14 GüterkraftverkehrsG (Anhörung vor Erlaubniserteilungen)
Güterverkehr
AusfVO gem. § 14 ErnährungssicherstellungsG i. d. F. v. 4. 10. 1968, BGBl. I, S. 1075
Verbraucherschutz i n Angelegenheiten der Ernährung, Land-, Holz- u n d Forstwirtschaft
A r t . 5 I I Gesetz über das Bundesamt f ü r gewerbl. Wirtschaft v. 9. 10. 1954, BGBl. I, S. 281 (Anhörung vor A b berufung u n d Bestellung der M i t g l i e der der Sachverständigen-Ausschüsse für das Bundesamt)
Beratung i n Wirtschafts-, u n d Sozialfragen
h) Vgl. (Stern-)Münch-(Hansmeyer), StabilitätsG, § 3 Anm. I I 1.
Arbeits-
30
2. Kap.: Gesetzliche Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften Übersichtstabelle
4 (Fortsetzung)
Zuweisungsnorm
Sachbereich
Empfehlung Nr. 113 Internationale Arbeitsorganisation, B A r b B l . 1962, S. 489 (Anhörung bei wirtschafts- u n d sozialpolitischen Gesetzentwürfen)
Wirtschafts- u n d Sozialpolitik
Beteiligung gem. § 94 B B G u n d den entsprechenden Regelungen der L a n desbeamtengesetzei)
beamtenrechtliche Verhältnisse
3. Beamte:
4. Sonstiges: Möglichkeit der Anhörung v o n Gewerkschaftsvertretern durch Bundestag, Bundesregierung u n d Bundesministerien:
keine gesetzlich oder satzungsmäßig fixierten Sachgebiete
§ 73 I I GeschO B T ; § 10 GeschO BReg.; § 77 GGO I ; § 23 GGO I I i) Zu diesen Gewerkschaften zählen auch die nicht tarif- und streikfähigen Organisationen, vgl. Ule, Beamtenrecht, § 57 BRRG Rdnr. 2, § 94 BBG Rdnr. 2.
§5. Zusammenfassung Die Tabellen lassen erkennen, daß die Gewerkschaften neben ihrer Tätigkeit außerhalb öffentlich-rechtlicher und verfassungsrechtlicher Institutionen i n unterschiedlich starker Intensität auf Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung Einfluß ausüben können. Nach Sachgebieten systematisiert haben die Gewerkschaften innerhalb der ihnen normativ zugewiesenen Bereiche folgende Funktionen: 1. arbeitsrechtliche Funktionen: 1.1 materiell: Tarifvertragsrecht — Schlichtungswesen — Betriebsverfassung — Personalvertretung — Mitbestimmungsrechte — Berufsausbildung. 1.2 formell: ArbGG 2. sozialversicherungsrechtliche 3. Funktionen
Funktionen
im Beamtenrecht
4. Wirtschaftspolitische Funktionen: 4.1 Konzertierte A k t i o n 4.2 Verbraucherbelange 4.3 Beschäftigungsstand 4.4 Wirtschaftsführung von Bundespost und Bundesbahn 5. Kulturelle Funktionen: Rundfunkräte, Fernsehrat, Bundesprüfstelle.
Drittes
Kapitel
Die faktischen Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften § 6. Das Selbstverständnis der Gewerkschaften über die gewerkschaftliche Funktionsbreite A. Allgemeine Gesellschaftsreform als gewerkschaftliche Aufgabe
Viele Anzeichen sprechen dafür, daß die Gewerkschaften des DGB i m Selbstverständnis über ihre Funktion über den Bereich einzelner arbeits-, sozial- und wirtschaftsrechtlicher Materien hinausgehen. Offenbar von der Notwendigkeit grundlegender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturveränderungen überzeugt, sehen sie sich selbst als diejenige K r a f t an, deren Aufgabe es sein soll, eine solche Reform auszulösen und durchzuführen 1 . „Gesellschaftsreform als gewerkschaftliche Aufgabe" war das Thema des letzten Gewerkschaftstages der I G Metall vom 27. 9. bis 2.10.1971. I n der auf diesem Gewerkschaftskongreß gefaßten Entschließung I 2 („Allgemeine Gewerkschaftspolitik") heißt es: „ I n dieser Situation eines allgemeinen sozialen Umbruchs, der sich i n den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen vollzieht, w i r d es mehr denn je zur vordringlichen Aufgabe der Gewerkschaften, die Lage der arbeitenden Menschen zu verbessern und ihre ganze K r a f t für jene wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturänderungen einzusetzen, die notwendig sind, u m die Schwächen und Widersprüche der gegenwärtigen Gesellschaftsordnungen zu beseitigen und die festen Grundlagen für eine Ordnung des sozialen und kulturellen Fortschritts, der sozialen Sicherheit und der Erhaltung des Friedens i n der Welt zu schaffen. Um diesem Ziel näher zu kommen, müssen die Gewerkschaften ihre Aufgabe nicht nur i m nationalen Rahmen erfüllen, sondern auch auf internationaler Ebene durch verstärkte internationale Kooperation für eine Verwirklichung der Forderungen der arbeitenden Menschen eintreten. 1 Vgl. dazu die Untersuchung einer Kommission der DPG „Selbstverständnis der Gewerkschaften" i n Gewerkschaftliche Praxis 1971, S. 125 ff:., 149 ff. 2 10. G T P — I G M , Bd. I I , gelbe Seiten, S. 582.
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Aus dem immer sichtbarer werdenden engen Zusammenhang nationaler und internationaler Probleme ergibt sich für die Gewerkschaften i n der Bundesrepublik und insbesondere auch für die I G Metall die Forderung, die gleichzeitig das Thema des 10. Ordentlichen Gewerkschaftstages bildet: Gesellschaftsreform als gewerkschaftliche Aufgabe." Allgemeine Gesellschaftspolitik als traditionelle 3 Aufgabe ist für den DGB nach wie vor entscheidende gewerkschaftliche Zielvorstellung 4 . „Die deutschen Gewerkschaften bleiben aufgerufen, . . . die Wirtschaft, die Gesellschaft, diesen Staat gerechter, sozialer und menschlicher zu machen 5 ." Damit bekräftigte der DGB-Vorsitzende H. O. Vetter dieses traditionelle Gewerkschaftsziel auch als gegenwärtige Gewerkschaftsaufgabe und kündigte an: „ W i r wollen den i n den Art. 20 und 28 des Grundgesetzes festgelegten freiheitlich demokratischen sozialen Rechtsstaat verwirklichen 6 ." „Hier und heute wollen w i r den sozialen Rechtsstaat 7 ." Zurückhaltender i n bezug auf diese Gewerkschaftsaufgaben äußerte sich Bundeskanzler Brandt auf diesem DGB-Kongreß: „Natürlich gibt es keine gesellschaftlichen Veränderungen, ohne daß um sie gestritten wird. Und es wäre grotesk, wenn man den Gewerkschaften das Recht streitig machen wollte, sich an diesen Auseinandersetzungen m i t ihrem Gewicht und ihren friedlichen Mitteln zu beteiligen 8 ." I n dem instruktiven Bericht der Kommission der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) zum „Selbstverständnis der Gewerkschaften" 9 w i r d mit der Akzentuierung der Gesellschaftsreform als gewerkschaftlicher Aufgabe, die nur aus einer „Gegenmacht"-Position der Gewerkschaften heraus lösbar sei, zwar nicht der Verzicht auf gewerkschaftliche Lohnpolitik gefordert, wohl aber eine andere Rangordnung, i n der die Lohnpolitik zurücktritt 1 0 . Damit w i r d eine zumindest tendenzielle Hinwendung zu derjenigen gewerkschaftlichen Politik erkennbar, wie sie i n der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Grundsatzprogramm des DGB von 1963 betrieben wurde 1 1 . 3 Vgl. dazu DPG-Kommissionsbericht, S. 129; DGB-Grundsatzprogramm v. 1963, Präambel. 4 §2, Ziff. 3 a DGB-Satzung; DPG-Kommissionsbericht, S. 149: „ M o t o r f ü r eine fortschrittliche Gesellschaftspolitik", ähnlich der stellvertr. SPD-Vorsitzende H. Schmidt, 9. D G B — B K P , S. 22; V i t t , Vorsitzender der I G Chemie, Papier, K e r a m i k , 9. D G B — B K P , S. 170. 5 Vetter auf dem 9. Bundeskongreß des D G B 1972 i n Berlin, 9. D G B — B K P , S. 153, vgl. auch S. 3, 35, 156. β Vetter, 9. D G B — - B K P , S. 155; vgl. auch DGB-Grundsatzprogramm, Präambel; § 2 Nr. 1 c DGB-Satzung. 7 Vetter, ebd., S. 156. 8 D G B — B K P , S. 9. 9 Vgl. oben Fußn. 1. 10 Gewerkschaftliche Praxis 1971, S. 151. 11 Vgl. Hirsch, Gewerkschaften, S. 114.
§ 6. Selbstverständnis der Gewerkschaften
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B. Gewerkschaften als Hüter der Verfassung
Ein weiteres Element, das dieses gewerkschaftliche Selbstverständnis erklären kann, ist das Verständnis der Gewerkschaften von der Rolle, die ihnen staatspolitisch zukommen soll. Sie sehen sich als Vorkämpfer und Verteidiger des sozialen Rechtsstaates 12 ; sie bekennen sich daher zu diesem Staat 13 — wenn auch i m besonderen das gegenwärtige Wirtschaftssystem ihrer Auffassung nach grundlegender Veränderungen bedarf. Die innergewerkschaftliche Diskussion darum, welche Veränderungen i m einzelnen vorzunehmen sind und ob diese mehr auf der Linie der Marktwirtschaft oder der sozialistischen Planwirtschaft verlaufen sollen, ist der Hintergrund für die gerade i n neuester Zeit i n den Blickwinkel der Öffentlichkeit getretenen Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften einerseits und Jungsozialisten der SPD sowie Bemühungen kommunistischer Gruppen, Einfluß auf die Politik des DGB und seiner Einzelgewerkschaften zu gewinnen, andererseits. Während der DGB auf die neue KPD, die eine „revolutionäre Gewerkschaftsopposition" (RGO) 14 begründet hat, unmißverständlich m i t Unvereinbarkeitserklärungen reagiert 15 , ist die Abgrenzung zur D K P unklar und unheimlich: während manche Gewerkschafter die Mitarbeit von DKP-Mitgliedern und Funktionären i n den Gewerkschaften für unproblematisch halten, weil diese Partei den Gewerkschaften gegenüber loyal sei 16 , wehren sich andere entschlossen gegen den zunehmenden Einfluß von Kräften der D K P auf die Gewerkschaften 17 . Besonders heftig scheinen die Auseinandersetzungen in der GEW zu sein; namentlich i n Bayern, Hessen, Hamburg und Bremen kam es wegen der Arbeit von Kommunisten zu Spannungen 18 , die i n Bayern zum Rücktritt von 24 Mitgliedern des GEW-Landesvorstandes führten 1 9 . Den marxistischen Aktivitäten der Jungsozialisten i n den Gewerkschaften tritt, unterstützt vom DGB-Organ „Welt der Arbeit", der Vorsitzende des DGB-Landesbezirks Bayern, W. Rothe, entgegen, muß 12 Vgl. § 2 Nr. 3 a DGB-Satzung; Präambel des DGB-Grundsatzprogramms; 10. GTP — I G M , Entschließung X I V , S. 601; ebenso auch §4 I I c Satzung der D A G : Aufgabe soll die Verhütung u n d Bekämpfung von staats- u n d verfassungsgef ährdenden Einflüssen sein. 13 Vgl. Vetter, 9. D G B — B K P , S. 157. 14 Vgl. dazu F A Z v o m 3. 5.1973, S. 4; F A Z v o m 18. 4.1973, S. 1. 15 So z.B. der DGB-Bundesvorstand, F A Z v o m 3.5.1973, S. 4; F A Z v o m 24. 5. 1973, S. 6; F A Z v o m 5.10.1973, S. 4; I G Metall: F A Z v o m 17. 4.1973, S. 6. 16 Vgl. F A Z v o m 24.5.1973, S. 6; i m Unvereinbarkeitsbeschluß des D G B Vorstandes ist die D K P nicht genannt, vgl. F A Z v o m 5. 10. 1973, S. 4. 17 E t w a der GEW-Vorstand von Bayern, vgl. F A Z v o m 17.4.1973, S. 2; I G Druck u n d Papier, vgl. W E L T v o m 5. 3.1973, S. 4. 18 F A Z v o m 28. 3.1973, S. 3; 17. 4.1973, S. 2; 26. 4.1973, S. 3. 19 F A Z v o m 17. 4.1973, S. 2.
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aber dafür insbesondere die K r i t i k von Gewerkschaftern aus Hessen hinnehmen 20 . Der DGB-Bundesvorstand richtet zum erstenmal eine Grußadresse an eine Mitgliederversammlung des Verbandes Deutscher Studentenschaften (VDS) 21 , der vom SHB und der Studentenorganisation der DKP, dem MSB-Spartakus, beherrscht wird. Den Anspruch der Gewerkschaften, „Hüter der Verfassung" zu sein, faßt der DGB-Vorsitzende Vetter i n die Worte 2 2 : „Der Deutsche Gewerkschaftsbund läßt sich von niemandem übertreffen, wenn es darum geht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung der BRD gegen alle ihre Widersacher zu schützen." Symptomatisch für diese Haltung ist der Vergleich zwischen Gewerkschaften und Bundeswehr 23 : „Gewerkschaften und Bundeswehr sind einer gemeinsamen Aufgabe verpflichtet, die Demokratie zu verteidigen. Die Gewerkschaften w i r ken hierbei wesentlich nach innen, die Bundeswehr vorwiegend nach außen." Es mag offenbleiben, ob dieser Hinweis auf gewerkschaftliche Wirkungsweise lediglich als politischer Versuch des DGB interpretiert werden kann, das Verhältnis zur Bundeswehr i m Interesse der M i t gliederwerbung auch unter den Soldaten zu verbessern, oder ob sich der DGB tatsächlich i n einer der Bundeswehr ähnlichen Rolle sieht. C. Die Ausweitung gewerkschaftlicher Aufgaben
1. Der DGB A u f der Grundlage dieses Funktionsverständnisses erscheint es folgerichtig, wenn Gegenstand gewerkschaftlicher Aktivitäten nicht allein die unmittelbaren Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer sein können, sondern deren gesamter Lebensbereich 24 . Nicht nur der Arbeitsbedingungen wollen sich die Gewerkschaften des DGB annehmen, sondern vor allem der „Lebensbedingungen", der allgemeinen Interessen der Arbeitnehmer 2 5 . Die Gewerkschaften sollen sich nach Auffassung der DPG-Kommission nicht i n die Rolle einer „Lohnmaschine" 26 zurückdrängen lassen, wie die amerikanischen „Business Unions", die ledig20
Vgl. Deutsche Zeitung Nr. 36 v o m 7. 9.1973, S. 6. Vgl. F A Z v o m 18. 4. 1973, S. 2. 22 9. D G B — B K P , S. 8. 23 D G B — G B (1969 - 1971), S. 451. 24 Vetter, 9. D G B — B K P , S. 7,155,160; 10. GTP — I G M : Entschließung V I I , S. 591; Entschließung I X , S. 595; Hirsch, Gewerkschaften, S. 33 weist auf den Zusammenhang zwischen ideologischer Fundierung u n d dem Anspruch auf gesamtpolitische Vertretung hin. 25 Vgl. etwa Vetter, 9. D G B — B K P , S. 160; 10. GTP — I G M , Entschließung I X , S. 595. 26 Bericht der DPG-Kommission, S. 143. 21
§ 6. Selbstverständnis der Gewerkschaften
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l i e h die V e r b e s s e r u n g d e r m a t e r i e l l e n A r b e i t s b e d i n g u n g e n a n s t r e b t e n 2 7 . D i e K o m m i s s i o n k r i t i s i e r t ζ. B. a n der D P G , diese G e w e r k s c h a f t habe sich i n i h r e m b e r u f s p o l i t i s c h e n P r o g r a m m l e d i g l i c h m i t b e a m t e n p o l i t i schen, t a r i f p o l i t i s c h e n , sozialrechtlichen u n d p e r s o n a l v e r t r e t u n g s r e c h t l i c h e n F o r d e r u n g e n befaßt. I n gleiche R i c h t u n g w i e die V o r s t e l l u n g der D P G - K o m m i s s i o n w e i s t das D G B - G r u n d s a t z p r o g r a m m : D i e g e w e r k schaftlichen B e s t r e b u n g e n g i n g e n ü b e r bloße I n t e r e s s e n v e r t r e t u n g h i n aus u n d s t e l l t e n auch die V e r f o l g u n g des G e m e i n w o h l s d a r 2 8 . Z u r V e r d e u t l i c h u n g dieses o r d n u n g s t h e o r e t i s c h entscheidenden P r o b l e m s s o l l e n einige Z i t a t e aus Ä u ß e r u n g e n f ü h r e n d e r G e w e r k s c h a f t s f u n k t i o n ä r e des D G B d i e n e n : „Nun, den Konservativen gehen unsere Anträge zu weit. Sie meinen, daß w i r uns auf Fragen des unmittelbaren Arbeitnehmerinteresses, also auf w i r t schaftliche u n d soziale Fragen zu beschränken hätten. U n d ich meine, das verlangt eine unmißverständliche Klarheit, selbst w e n n w i r i n diesen Tagen die A n t w o r t zu diesem Thema mehrfach wiederholen müssen: Die deutsche Gewerkschaftsbewegung bestimmt i n voller Autonomie ihre Aufgaben u n d Ziele. U n d dieser Kongreß bestimmt aus eigenem selbstverantwortlichem Ermessen, zu welchen Fragen u n d Problemen w i r , als die gewählten Vertreter der Arbeitnehmerschaft, Stellung nehmen. W i r u n d sonst niemand legen fest, f ü r was w i r uns einsetzen u n d w o f ü r w i r kämpfen wollen." (Vetter, auf dem 9. DGB-Bundeskongreß 2 9 .) „Ich meine, die Legitimation des gewerkschaftspolitischen Engagements u n d die Wirksamkeit gewerkschaftlichen Wollens w i r d nicht n u r allein durch den W i l l e n unserer Mitglieder artikuliert, sondern ich meine, daß die L e g i t i mation f ü r das gesellschaftspolitische Engagement der Gewerkschaften auch damit begründet w i r d , daß die Arbeitnehmer, die M i l l i o n e n von arbeitenden Menschen, Tag f ü r T a g durch den Verzicht auf einen Teil ihrer Leistungen die eigentliche Legitimation erworben haben, i n allen Bereichen unseres gesellschaftlichen u n d ökonomischen Geschehens auf die Kontrolle u n d auf die ökonomischen u n d gesellschaftspolitischen Entscheidungen einen gestaltenden Einfluß auszuüben." (Der Vorsitzende der I G Chemie, Papier, K e r a m i k , V i t t , auf dem 9. DGB-Bundeskongreß 3 0 .) „ W i r müssen unsere ganze K r a f t einsetzen, u m die Z u k u n f t vorauszuplanen u n d sie durch bewußte Gestaltung einer besseren Gesellschaftsordnung zu sichern. Damit zeichnet sich dann auch das i m m e r größer werdende Aufgabengebiet der Gewerkschaftsbewegung ab. W i r fühlen uns nicht n u r f ü r die ständige Verbesserung der Arbeitsbedingungen, sondern genauso f ü r die Lebens27 Ebd., S. 150; unter Ziiï. I X des Berichts zählt die Kommission allgemeine gewerkschaftliche Aufgaben auf, die Reformen i m wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, sozialen Bereich u n d i n der Freizeitgestaltung umfassen sollen, S. 153; i n den Beratungsunterlagen ist unter Ziff. 2.3. das Thema genannt: „Interessenvertretung — oder mehr als das", S. 171. 28 Präambel. 29 9. D G B — B K P , S. 155; vgl. dazu auch den ehem. DGB-Vorsitzenden L . Rosenberg, 5. GTP — I G Chemie, PK, S. 41 ff. Bericht der DPG-Kommission, S. 129. 30 9. D G B — B K P , S. 170 f.
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bedingungen der Arbeitnehmer und ihrer Familien verantwortlich. Die zeitgerechte Fortentwicklung der sozialen Sicherung und des Gesundheitswesens, der Ausbau des Umweltschutzes und die Schaffung menschenwürdiger Wohnverhältnisse — alles das w i r d i n unserem neuen Aktionsprogramm und i n den vielen Anträgen angesprochen." (Vetter auf dem 9. DGB-Bundeskongreß 3 1 .) „Die These, daß der inzwischen erreichte höhere Lebensstandard die Gewerkschaften allmählich überflüssig mache, hat sich längst als falsch erwiesen. Die moderne Konsumgesellschaft und die sog. Technostruktur unserer W i r t schaft lösen die sozialen Fragen doch keineswegs von selbst. Sie verschärfen sie vielfach und schaffen neue Probleme. U m so größer w i r d die Verantwortung der Gewerkschaften, f ü r die Rechte und Ansprüche der Arbeitnehmer i n allen Lebensbereichen einzutreten." (Vetter, auf dem 9. DGB-Bundeskongreß 32 .) „Die gewerkschaftlichen Bemühungen, eine bessere Lebensqualität f ü r die i n abhängiger A r b e i t Beschäftigten zu erreichen, waren aber von Anfang an m e h r d i m e n s i o n a l . . . Die Gewerkschaften haben seit jeher ihre politischen Ziele autonom formuliert. F ü r die Z u k u n f t w i r d dies noch mehr notwendig werden; dies gilt auch f ü r U m w e l t f r a g e n . . . F ü r die Gewerkschaften ist die Demokratisierung aller Lebensbereiche eine vordringliche Aufgabe." (Olaf Radke 33 .) D e r w i e d e r h o l t e H i n w e i s a u f die u n e i n g e s c h r ä n k t e Befugnis, die gew e r k s c h a f t l i c h e A u f g a b e n b r e i t e selbst festzulegen 3 4 , v e r d i e n t besondere Beachtung. A u s dieser Sicht z ä h l t eine b r e i t e S k a l a p o l i t i s c h e r A k t i v i t ä t e n z u m l e g i t i m e n A u f g a b e n f e l d der G e w e r k s c h a f t e n : v o n der T a r i f p o l i t i k , M i t b e s t i m m u n g , B i l d u n g s p o l i t i k , S o z i a l p o l i t i k , F r a g e n des U m w e l t s c h u t z e s , Gesundheits- u n d W o h n u n g s p o l i t i k z u m Bodenrecht, S t ä d t e b a u u n d z u r W i r t s c h a f t s p o l i t i k , P r e s s e p o l i t i k ü b e r die K o n f l i k t f o r s c h u n g bis h i n z u r Ostpolitik35. E n g e r scheint der g e w e r k s c h a f t l i c h e A k t i o n s k r e i s u n t e r d e m A s p e k t der Legitimation durch die Mitglieder gezogen. V e t t e r b e m e r k t a u f d e m 9. D G B - B u n d e s k o n g r e ß 3 6 : „Unsere Gegner aus Wirtschaft und P o l i t i k fragen uns nach der Legitimation der Gewerkschaften. Unsere Legitimation, das ist der Wille unserer K o l 31 9. D G B — B K P , S. 159 f.; einem Kommissionsvorschlag entsprechend soll § 2 I I I der DPG-Satzung folgenden Wortlaut erhalten: „Die DPG versteht sich demgemäß i m engeren Sinn als Interessenverband u n d i m weiteren Sinn als politische Organisation", vgl. DPG-Kommission, S. 174. 32 9. D G B — B K P , S. 6 f. 33 O. Radke, G M H 1972, S. 562 f. 34 Vetter, 9. D G B — B K P , S. 7, 155; BGB-Grundsatzprogramm; Sozialpolitische Grundsätze I. 35 Vetter, ebd., S. 7, 157, 160, 162, 164; i n ähnlicher Richtung W. Brandt auf dem DGB-Bundeskongreß, 9. D G B — B K P , S. 8 f.; vgl. Grundsatzprogramm, Präambel; schon 1952 trat der damalige DGB-Vorsitzende Fette für einen derartigen Aussageanspruch ein, vgl. Stadler, Gewerkschaften, S. 219. 36 Ebd., S. 155.
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leginnen u n d Kollegen i n den Betrieben und Verwaltungen, die ja die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Arbeit tagtäglich neu erleben. U n d i n diesem Sinne haben die Gewerkschaften ganz selbstverständlich noch und uneingeschränkt diese Aufgaben: Verbesserung der Arbeitsbedingungen u n d ihre optimale Ausgestaltung, Bekämpfung der Ausbeutung i n allen ihren Formen, besonders i n der Frauenund der Lehrlingsarbeit, die soziale Sicherung der Arbeitnehmer, die ständige Verbesserung des Lebensstandards."
2. Der DBB Der DBB sieht sich ebenfalls zu einer Veränderung seines Selbstverständnisses gezwungen: eine Vermehrung der gewerkschaftlichen Aufgaben sei unumgänglich, da eine Großorganisation wie der DBB sich bei Fragen der Neu- oder Umgestaltung der Gesellschaft nicht der Stimme enthalten könne, auch wenn dies nicht mehr i m engeren Bereich der Interessenpolitik zu liegen scheine37. 3. Die DAG Unklar erscheint das Selbstverständnis der DAG. Einerseits ist aus dem „Programm der D A G zur Gesellschaftspolitik" zu entnehmen, daß das Kernstück der Koalitionsfreiheit die autonome Regelung der A r beits- und Wirtschaftsbedingungen sei 38 , wobei die D A G mehr die Regelung der Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder in den Vordergrund stellt 3 9 und aussagt, daß wirksame gewerkschaftliche Interessenvertretung neben den beruflichen auch die betriebs- und unternehmenswirtschaftlichen oder branchenbezogenen Aspekte berücksichtigen müsse 40 . Dieses sei die Funktion einer Interessenvertretung und werde dadurch, daß dies zugleich eine Ordnungsfunktion für den Arbeitsmarkt erfülle, auch zur gesellschaftspolitischen Gestaltung 41 . Andererseits begründet der DAG-Vorsitzende Brandt im Vorwort zu diesem Programm die These „Gewerkschaftspolitik ist Gesellschaftspolitik" m i t dem A r gument, die Gewerkschaften müßten nicht nur auf die Verteilung des wirtschaftlichen Ertrages, d. h. auf die Arbeitsbedingungen, sondern auch auf den vom Staat gesteuerten Verteilungsprozeß Einfluß nehmen; Ziel sei dabei die Gestaltung einer „Gesellschaft, die humaner ist als die Industriegesellschaft, i n der w i r leben" 42 . Die Vielzahl der Gegenstände, die vom Programm i m einzelnen aufgegriffen werden, erhärtet dieses weitere Selbstverständnis von der 37
V o r w o r t zum D B B — G B 1972. S. 58. 39 S. 59. 40 S. 61. 41 S. 59. 42 S. 7, V o r w o r t ; eine gleichlautende Argumentation findet sich auch i m D A G — T B (1967 - 1971), S. 7. 38
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gewerkschaftlichen Funktion. Die D A G stellt nicht nur Forderungen zur Mitbestimmung 4 3 , zur Arbeits-, Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik 4 4 , sondern auch zur Presse- und Rundfunkfreiheit 4 5 , setzt sich für die Demokratisierung des Bildungswesens, die Verstärkung der Bildungsforschung, -planung und -finanzierung, die Einführung der integrierten Gesamtschule und andere bildungspolitische Vorstellungen 46 ebenso ein wie für die Reform von § 218 StGB, mehr Kindergeld und familiengerechtes Wohnen 47 , sie nimmt Stellung zum Umweltschutz 48 und fordert die Reform des Bodenrechts, der Wohnungswirtschaft, die Verstärkung des Wohnungsbaues und besseren Mieterschutz 49 . D. Abgrenzung der Funktion der Gewerkschaften von der Funktion der politischen Parteien
I n der internen DGB-Diskussion w i r d durchaus das Problem gesehen, das sich aus diesem umfassenden gewerkschaftlichen Zuständigkeitsbereich i m Hinblick auf die Funktionen der politischen Parteien ergibt. Allerdings sind die Aussagen zu dieser Abgrenzung nicht einheitlich: Einerseits w i r d festgestellt, daß die Gewerkschaften eine zwar m i t umfassenden Kompetenzen ausgestattete, aber doch nur einen gesellschaftlichen Teilbereich abdeckende Vertretung sind, die daher die Parteien auch nicht „aus ihrer Verantwortung für die ganze Gesellschaft" entlassen könnten 50 . Dem steht die Einschätzung gegenüber, der einzige Unterschied zwischen Gewerkschafts- und Parteifunktionen liege darin, daß der Wille der politischen Parteien unmittelbar i n Gesetze umgesetzt werde. I m Bericht der DPG-Kommission heißt es dazu: „Die Gewerkschaften sind tätig i m Spannungsfeld einer Gesellschaft, deren staatliche Ordnung prinzipiell das freie Spiel der Kräfte — also Interessenauseinandersetzung und Austragung von Konflikten — gestattet, ja sogar wünscht (gesellschaftlicher Pluralismus). Hinsichtlich ihrer gesamtgesellschaftlichen Zielsetzung und als einer der Träger der politischen Willensbildung unterscheidet sich von den politischen Parteien lediglich ihr von der Verfassungsordnung beasichtigtes Unvermögen, politischen Willen selbständig i n Entscheidungen von Gesetzeskraft umzuwandeln 51 ." 43 Programm, S. 12 ff. S. 39 ff., 41 ff., 55 ff., 32 ff. 45 S. 24 ff. 46 S. 26 ff. 47 S. 38 f. 48 S. 46 f. 49 S. 46 ff. 50 Vetter, 9. D G B — B K P , S. 157. 31 DPG-Kommission, Gewerkschaftliche Praxis 1971, S. 129. 44
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Die Gefahr, auf Grund des Umfangs des gewerkschaftlichen Aufgabenbereichs die politischen Parteien zu verdrängen oder „Staat i n oder neben dem Staat" zu werden, w i r d kategorisch für gegenstandslos erklärt 5 2 . E. Die in den Gewerkschaftssatzungen vorgesehenen Aufgaben im einzelnen
Der DGB versteht sich als Organisation zur Wahrnehmung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer, Satzung § 2 Nr. 1 b 5 3 . Die Satzungen der DGB-Einzelgewerkschaften haben ähnlich lautende Formulierungen, erheben aber keinen Anspruch auf Vertretung der Arbeitnehmer, sondern allein auf Vertretung ihrer Mitglieder, z. B. § 2 I Satzung der I G Metall, § 4 I Satzung der I G Druck und Papier. Die zuvor genannte Bestimmung normiert als Gewerkschaftszweck die Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und geistigen Interessen der Mitglieder, § 2 I der Satzung der I G Metall die Förderung der wirtschaftlichen, sozialen, beruflichen und kulturellen Interessen. Bemerkenswert an diesen Regelungen ist das breite Spektrum der aufgezählten Interessen sowie deren Reihenfolge: i n der DGB-Satzung werden die gesellschaftlichen Interessen vor den wirtschaftlichen genannt, berufliche Interessen werden neben anderen, nicht primär aufgeführt. Zu seinen „politischen Aufgaben" zählt der Bund folgende Sachbereiche: (1) Die Gewerkschafts- und Gesellschaftspolitik, zu der auch die Sachgebiete Abrüstung, Friedenspolitik, Europäische Einigung, Soziale Integration der ausländischen Arbeitnehmer und die Verteidigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung zählen. (2) Die Sozialpolitik mit folgenden Gegenständen: Sozialversicherung, Arbeitspolitik, Arbeitsrecht, BetrVerfG, Sozialrecht, Personalvertretungsrecht, Umweltschutz, Gesundheitspolitik. (3) Die Wirtschaftspolitik: einschließlich Vermögensbildung, Wirtschaftsplanung, Mitbestimmung, Wettbewerbs- und Verbraucherpolitik, Finanz- und Steuerpolitik. (4) Die K u l t u r p o l i t i k : Bildungs- und K u l t u r p o l i t i k i n allen Bereichen und auf allen Ebenen. 52 Vetter, 9. D G B — B K P , S. 157; i n einem Fernsehinterview der Sendereihe „ Z u Protokoll" jedoch äußert Vetter gegenüber Günter Gaus, die Gewerkschaften müssen notfalls an den Parteien vorbei ihren politischen W i l l e n durchsetzen, vgl. E. G. Vetter, F A Z v o m 3.1.1972, S. 1. 53 Text der Satzung i n RdA 1971, S. 294 ff.
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(5) Das Beamtenrecht einschließlich Besoldungsrecht. (6) Fragen der Gewerkschaftsorganisation. Ebenso wie § 2 I Satzung der I G Metall formuliert auch die Satzung der D A G von 1972 als Gewerkschaftsaufgabe die Wahrung und Förderung der wirtschaftlichen, sozialen, beruflichen und kulturellen Interessen der Mitglieder, § 4 I Satzung der DAG. I m Gegensatz zur DGB-Satzung nennt die DAG-Satzung weder die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Interessen noch ruft sie zur Vertretung aller Arbeitnehmer auf. Die Enumeration der einzelnen Aufgaben ist ebenfalls erheblich enger: Neben Gegenständen der Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftspolitik w i r d nur noch die Bildungspolitik angesprochen; innen-, außen- und kulturpolitische Themen allgemeiner A r t werden i m Gegensatz zur DGBSatzung nicht genannt. Noch enger ist die entsprechende Bestimmung i n der Satzung des DBB: I n § 3 I I werden zwar auch politische, rechtliche und soziale Belange der Mitglieder aufgeführt, aber nur, soweit sie berufsbedingt sind; § 3 I I I hebt diese berufsbedingte Beschränkung jedoch insoweit wieder auf, als der DBB als Spitzenorganisation „auch zu Fragen von allgemeiner gesellschaftspolitischer Bedeutung" Stellung nehmen kann. Der berufsbezogene Rahmen darf also nur i m Bereich der Gesellschaftspolitik durch allgemeine Aktivitäten überschritten werden. F. Das Grundsatzprogramm des D G B 5 4
Das DGB-Grundsatzprogramm — die langfristige gewerkschaftliche Zielprojektion — wurde auf einem außerordentlichen DGB-Bundeskongreß am 21./22.11.1963 beschlossen und löste das Münchner Programm von 1954 ab. I n der folgenden Ubersichtstabelle sind zunächst die Sachgebiete genannt, auf die sich die einzelnen gewerkschaftlichen Forderungen beziehen; die Spalte „Begründung gewerkschaftlicher A k t i v i t ä t " stellt die Argumente zusammen, die das Grundsatzprogramm jeweils i m Zusammenhang m i t den i n der linken Spalte daneben aufgeführten Forderungen bzw. angesprochenen Sachgebieten dafür angibt, daß die jeweilige A k t i v i t ä t i n das Interessengebiet der Gewerkschaften fallen soll. Die Fundstellen i n der rechten Spalte entsprechen der Gliederung des Grundsatzprogramms. 54 Vgl. die kommentierenden Ausführungen von Hirsch, Gewerkschaften, S. 118 ff.; Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 137 ff.; vgl. auch den Bericht i n RdA 1971, S. 291, zum Mitbestimmungsabschnitt i m Grundsatzprogramm.
IV.
Chancengleichheit zur Aus- und Weiterbildung
Fortsetzung nächste Seite
Schutz der AN vor Unfall- und Gesundheits- V. gefahren Forschung und Lehre auf dem Gebiet der ArV. beitssicherheit und -medizin Gleichberechtigung der Frau im Arbeitsprozeß Präambel Schutz vor neuen Abhängigkeiten Präambel Soziale Sicherheit der AN Präambel Sozialversicherung, sozialärztlicher Dienst, Schutz der AN vor den Folgen von LebensSozialpol. Grundsätze Rente, Arbeitslosenunterstützung, Unfallrisiken VIII - XIII Versicherung, Rehabilitation, Schutz von Mutter und Kind, Finanzierung der Sozialleistungen Arbeitnehmerselbstverwaltung in der Sozialverwaltung Beteiligung an Arbeits- und Sozialrechtsprechung Teilnahme an internationaler Sozialpolitik
Sozialpol. Grundsätze I.
Persönlichkeit und Menschenwürde des AN
2. Arbeits- und Sozialpolitik: Recht auf Arbeit, Vollbeschäftigung Verbesserung der Berufsausbildung, Berufsberatung usw. Unfallschutz, Gesundheitsschutz der AN
Fundstelle Präambel
Begründung gewerkschaftlicher Aktivität
1. Gesellschaftspolitik: Ausbau des sozialen Rechtsstaats demokratische Fortentwicklung auf politischem, politische und soziale Gleichberechtigung der gesellschaftlichem, wirtschaftlichem, kulturelArbeitnehmer (AN) lem Gebiet, demokratische Gestaltung der Gesellschaft Soziale Sicherung, Schutz einzelner AN kann Risiken nicht allein tragen freie Entfaltung der Persönlichkeit, Würde des Verantwortung der Gewerkschaft gegenüber arbeitenden Menschen Mitgliedern und ganzem Volk Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft Gleichberechtigung aller Bürger
Sachgebiet — Forderungen im einzelnen
Das Grundsatzprogramm des DGB von 1963
§ 6. Selbstverständnis der Gewerkschaften 41
Sicherung der Vollbeschäftigung
Herstellung der Chancengleichheit
III. 1.
Lernmittel- und Schulgeldfreiheit
l.
III.
l.
10 Schuljahre
Präambel; Kulturpol. Grundsätze III.
III.
III. 5.
Schulausbildung unabhängig von sozialer Stellung der Kinder
Reform d. Prüfungs- u. Berechtigungswesens
Neuordnung d. Bildungs- u. Erziehungswesens
4. Bildungspolitik: allgemein:
II. 1.
III. 7.; III. 1.; II. 1.
III. 4.
Präambel; Wirtschaftspol. Grundsätze II. 2. Preissteigerungen betreffen insbesondere AN, II. 3. Rentner und Pensionäre
folgt aus dem Hecht auf Arbeit
Investitionslenkung Fehlleistungen belasten Lebensstandard
Stabilität des Geldwerts
Vermögensumverteilung
VIII. - XIII. Präambel; Sozialpol. Grundsätze II.; wirtschaftspol. Grundsätze I., III. 6.
Fundstelle
III. 5. entscheidende Bedeutung des Gemeineigentums in der Industriegesellschaft
Planung, insbesondere volkswirtschaftlicher jede Volkswirtschaft bedarf d. Planung, SieheRahmenplan rung der Vollbeschäftigung, Wachstum u. Stabilität, Vermeidung sozialer Härten
Ausweitung des Gemeineigentums
wirtschaftl. Gleichberechtigung der Arbeitnehmer; insbesondere AN werden von wirtschaftl. Entscheidungen betroffen
Begründung gewerkschaftlicher Aktivität
des DGB von 1963 (Fortsetzung)
. Kap.:
Kontrolle wirtschaftlicher Macht
Ausweitung der Mitbestimmung
3. Wirtschaftspolitik:
Sachgebiet — Forderungen im einzelnen
Das Grundsatzprogramm
42 t i c h e Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften
7. Gesundheitspolitik: Volksgesundheit durch medizinischen Fortschritt und Umweltschutz
4.
III. 2.
III. 2. III. 2.
Wirtschaftspol. Grundsätze III. 2.
IV.
Fortsetzung nächste Seite
Sozialpol. Grundsätze Gesundheit der AN u. Erhaltung ihrer ArbeitsVI. kraft
soziale und gerechte Steuerverteilung
Bedeutung des Haushalts für die Sicherung der Vollbeschäftigung
Verstärkung der direkten Steuern
Steuerpolitische Grundsätze
Investitionshaushalte
Gemeinschaftsaufgaben Bund/Länder
6. Finanz- und Steuerpolitik:
Berufsbeamtentum ; Weiterentwicklung
5. Beamtenrecht:
III.
Instrument der Wirtschafts- und Sozialpolitik
wesentl. Bildungsziele sind erst dem Erwachsenen möglich und Forschung:
Unabhängigkeit und Freiheit; Finanzierung; Hochschulreform; Vermehrung d. Lehrkörpers; Steigerung des Anteils von Studierenden aus AN-Familien; Studienförderung; Studentische Selbstverwaltung; Lehrstühle für Politik, Industriesoziologie, Arbeits- und Sozialrecht, Forschungszentrum für Bildungsökonomie, -Soziologie usw.
Hochschule, Wissenschaft
Erwachsenenbildung:
detaillierte Forderungen
l.
l.
III. 2.
III.
Klassenfrequenz
Berufsausbildung:
III.
Grundsätze zur Schulerziehung
§ 6. Selbstverständnis der Gewerkschaften 4
—
VI.
Atomwaffenächtung; Rüstungsreduzierung
Rüstungsausgaben dürfen soziale u. kulturelle Aufwendungen nicht beeinträchtigen
Wiedervereinigung Voraussetzung für den Frieden als Grundlage Präambel für den sozialen und kulturellen Fortschritt 12. Außen-und Verteidigungspolitik: Friede als Grundlage für den sozialen und Präambel; WirtschaftsSelbstbestimmung, Solidarität, europäische kulturellen Fortschritt pol_ Grundsätze II. 5. π Integration · 5·
11. Deutschlandpolitik:
Ausübung der Presse- und Rundfunkfreiheit
Grundsätze zu Stellung u. Struktur von Presse, Hörfunk und Fernsehen
10. Medienpolitik:
V.
menschl. Gesellschaft bedarf der Kunst, insbesondere eine Industriegesellschaft
Grundsätze zur Pflege u. Förderung der Kunst
°ZÌalen
S
II.
deS
Kulturpol. Grundsätze I.
pL^^^ìlJ^^^ Gedankens, Bildung fur alle
Förderung aller geistigen und sittlichen Kräfte
VII.
Fundstelle
Koordinierung der Bundesländer, Finanzhilfe; Unterstützung staatl. Institutionen durch gewerkschaftl. internationale Kulturbeziehungen
9. Kulturpolitik:
Recht auf Wohnung für jeden Menschen
Begründung gewerkschaftlicher Aktivität
des DGB von 1963 (Fortsetzung)
. Kap.:
Grundsatz sozialer Gerechtigkeit
8. Wohnungspolitik:
Gesunde Wohnverhältnisse; öffentliche Aufklärung; Neugestaltung des Krankenhausgesunde Wohnverhältnisse; öffentliche Aufklärung; Neugestaltung des Krankenhauswesens; Rehabilitationsmaßnahmen
Sachgebiet — Forderungen im einzelnen
Das Grundsatzprogramm
4 t i c h e Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften
§ 6. Selbstverständnis der Gewerkschaften
45
G. Das Aktionsprogramm des DGB
Das Aktionsprogramm des DGB wurde als Antrag 1 auf dem 9. Ordentlichen Bundeskongreß des DGB vom 25. - 30. 6.1972 i n Berlin beschlossen55 und w i r d als thesenhafte Aktualisierung des Grundsatzprogramms angesehen, das „die Verbindung zwischen den Fernzielen des Grundsatzprogramms und der aktuellen gewerkschaftlichen Praxis" herstellen soll 50 . Es werden Forderungen zu folgenden Sachgebieten aufgestellt: Arbeitspolitik, Sozialversicherung, Mitbestimmung, Wirtschaftspolitik, Steuer- und Finanzpolitik, Vermögensbildung, öffentlicher Dienst, Bildung, Gesundheitspolitik, Umweltschutz, Boden-, Wohnungs- und Verkehrspolitik. Dieser umfangreiche Themenkatalog macht deutlich, daß das Aktionsprogramm vom DGB als entschiedene Absage an eine Beschränkung der Gewerkschaften auf klassische Gewerkschaftsaufgaben verstanden wird 5 7 . H. Anträge und Entschließungen auf Kongressen und Gewerkschaftstagen
1. Einführung Ordentliche Bundeskongresse des DGB finden ebenso wie die Bundesvertretertage des DBB i m Abstand von 3 Jahren statt, § 7 Nr. 2. DGBSatzung, § 14 I, S. 2 DBB-Satzung, ebenso wie die Gewerkschaftstage der DGB-Einzelgewerkschaften 58 . Die Bundeskongresse der D A G werden jeweils nach 4 Jahren veranstaltet, § 23 I, DAG-Satzung. Bundeskongresse, -vertretertage bzw. Gewerkschaftstage sind die jeweils höchsten beschlußfassenden Organe der Gewerkschaften, § 7 Nr. 1. DGBSatzung, § 29 Nr. 15. der IG-Metall-Satzung, § 14 I S. 1 DBB-Satzung, § 21 I DAG-Satzung. Deren besondere Bedeutung liegt nicht nur i n der Vorstandswahl und der Entgegennahme der Rechenschaftsberichte, sondern vor allem darin, daß inhaltlich bei diesen Zusammenkünften grundlegende Akzente für die weitere Gewerkschaftsarbeit gelegt werden, die gewerkschaftspolitische Lage diskutiert w i r d und Richtlinien für die weitere Aufgabenerfüllung gesetzt werden, § 7 Nr. 3 a DGBSatzung; § 29 Nr. 15 d IG-Metall-Satzung, § 16 DBB-Satzung, § 22 I, S. 1 DAG-Satzung. Daher sind gerade die auf Kongressen und Gewerkschaftstagen behandelten Anträge ein Spiegelbild dessen, was i n den 55
9. D G B — B K P , S. 3 f t , Anträge u n d Entschließungen. Loderer, I G Metall, bei der Beratung des Aktionsprogramms, 9. D G B — B K P , S. 182; i n ähnlichem Sinn auch die weiteren Wortmeldungen zum A k tionsprogramm. 57 9. D G B — B K P , S. 178. 58 Vgl. z. B. § 29 Nr. 1 Satzung der I G Metall. 56
46
. Kap.:
t i c h e Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften
gewerkschaftlichen Unter- und Spitzenorganisationen gegenwärtig gewerkschaftspolitisch relevant und i n der gewerkschaftlichen A k t i v i t ä t die Skala verschiedener Gegenstände bestimmt. 2. Einzelne
Kongresse
Als Beispiele für den Umfang der Sachgebiete, die auf Gewerkschaftskongressen diskutiert werden, sollen der 9. Ordentliche Bundeskongreß des DGB (1972) und der 10. Bundeskongreß der D A G (1971) dienen; auf dem DGB-Kongreß wurden 325 Anträge und 21 Initiativanträge, insgesamt also 346 Vorlagen behandelt, dem DAG-Kongreß lagen neben dem umfangreichen „Programm der D A G zur Gesellschaftspolitik" 50 weitere 370 Anträge vor 6 0 . I m einzelnen verteilten sich diese Vorlagen auf die jeweiligen Sachgebiete i n folgender Weise: DAG-Kongreß
DGB-Kongreß
370
346
77
54
2. Arbeitspolitik )
74
42
3. Sozialversicherung
52
61
4. Mitbestimmung
4
14
5. Vermögensbildung
2
9
Kongreß Vorlagen insgesamt davon 1. Gewerkschaftsorganisation a
6. Gesellschaftspolitik
7. Wirtschaftspolitik
Programm der D A G zur Gesellschaftspolitik
7t>)
8
24
8
19 5
davon: — allgemein — Gewerkschaftsunternehmen
a) Zur Arbeitspolitik werden hier solche Vorlagen gezählt, die arbeitsrechtliche Materien aufgreifen. Arbeitsrecht ist das Sonderrecht der in abhängiger Tätigkeit Arbeit Leistenden — der Arbeitnehmer (vgl. Hueck/Nipperdey, ArbR I, § 1; Nikisch, ArbR I, § 1; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, §1,4.; Staudinger/Nipperdey/Mohnen, BGB, Vorbem. 2 vor § 611 m. w. Nachw.). Aus systematischen Gründen sollen die rechtlich zum Arbeitsrecht zu rechnenden Sachgebiete der Berufsausbildung, Ausbildungsförderung und Fragen der paritätischen Mitbestimmung nicht in die Rubrik „Arbeitspolitik" eingeordnet werden, sondern stellen besondere Rubriken dar. b) Die Vorlagen befassen sich allgemein mit der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Umstrukturierung der Gesellschaft. 59 60
Vgl. 10. D A G — B K P , S. 153 ff. Vgl. 10. D A G — B K P , S. 506 ff.
Kongreß
DAG-Kongreß
DGB-Kongreß
8. Steuer- u n d Finanzpolitik
49
14
9. Bildungspolitik
34
29
19
15 3 11
davon: — allgemeine B i l d u n g — allgemeine K u l t u r p o l i t i k — Berufsausbildung 10. Gesundheitspolitik
15
11. Umweltschutz 12. Boden-, Wohnungs- u n d Verkehrspolitik
4
—
2
12
12
15
davon: — Bodenrecht, Stadtplanung, Wohungsbau — Verkehr 13. Familienpolitik
7 5
10 5C) 14
—
davon: — Familienplanung — Reform von § 218 StGB — Eherecht
5 7 2
14. Jugendpolitik
11
15. Innenpolitik
19
4Φ 24
davon: — — — — — — —
Parteien politischer Extremismus öffentl. Dienst Rundfunk u n d Presse Vertriebene Notstandsrecht Staatsangehörigkeitsrecht
16. Außen- u n d Deutschlandpolitik
8 4 3 1 2 1
1 4 10 9e)
5
21
5
16 3 2
7
8
davon: — Ostpolitik, sonstige Staaten — Indochinakrieg — Entwicklungshilfe 17. Verteidigungspolitik 18. Ausländer Gesamt c) d) e) f) g)
8 360*)
Davon eine Vorlage zum TÜV. Enthalten sind die „Jugendpolitischen Forderungen des DGB". Insbesondere zum bayerischen und saarländischen Rundfunkgesetz. Anträge zu Randfragen wurden in der Tabelle nicht berücksichtigt. 18 Mehrfachzählungen.
364S)
48
. Kap.:
t i c h e Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften
A l s B e i s p i e l f ü r die S k a l a p o l i t i s c h e r T ä t i g k e i t einer E i n z e l g e w e r k schaft d i e n t die I G M e t a l l — die m i t g l i e d e r s t ä r k s t e G e w e r k s c h a f t i m D G B m i t 2 223 467 M i t g l i e d e r n 6 1 . D e r 10. O r d e n t l i c h e G e w e r k s c h a f t s t a g (1971) befaßte sich m i t 715 V o r l a g e n (694 A n t r ä g e , 21 I n i t i a t i v a n t r ä g e ) , w o b e i die V o r l a g e n z u r S a t z u n g s b e r a t u n g u n b e r ü c k s i c h t i g t b l e i b e n 6 2 . Anträge: Gesamtzahl
694
Sachgebiete: (1) Gewerkschaftsorganisationen (Schulung, Werbung, Presse, Beiträge, Streikunterstützung, Kontakte) davon: umfassende politische Vertretung der Arbeitnehmer durch die Gewerkschaften
119
2
(2) Arbeitspolitik
269
(1) BetrVerfG
41
(2) Jugend
5
(3) — — — — — — — — — —
Tarifpolitik L o h n - und Gehaltspolitik Arbeitszeit Urlaub Bildungsurlaub vermögenswirksame Leistungen Rationalisierungsschutzabkommen Öffnungsklauseln f ü r Zusatzverträge Einfluß auf betriebliche Personalpolitik Effektivklauseln Vereinbarungen f ü r besondere Personengruppen (insbesondere gewerkschaftliche Vertrauensleute) — Sonstiges (3) Sozialversicherung,
181 56 1 7 10 4 14 9 1 2 35 42
Sozialpolitik
83
(4) Mitbestimmung
16
(5) Vermögensbildung
6
(6) Gesellschaftspolitik
12
(7) Wirtschaftspolitik
29
(8) Steuerpolitik — allgemein — Besteuerung v o n Arbeitnehmern
19 12
(9) Bildungspolitik — allgemeine Bildung — Berufsausbildung — Bildungsurlaub — gewerkschaftlicher Bildungsurlaub
8 16 17 33
(10) Gesundheitspolitik (Krankenhauswesen, Krankenhausstruktur, -finanzierung) (11) Umweltschutz 61 Stand: 31.12.1970, vgl. D G B — GB (1969 - 1971), S. 73. 62 Vgl. 10. G T P — I G M , Bd. I I Anträge — Materialien.
31
74
3 14
§ 6. Selbstverständnis der Gewerkschaften (12) Boden-,
Wohnungs-,
49
Verkehrspolitik
— Wohnungsbau, Bodenrecht allgemein — Arbeitnehmerwohnungen — allgemeine Verkehrspolitik
7 2 3 2
(13) Familienpolitik
3
(14) Jugend
2
(15) Innenpolitik — Parteien u n d Radikalismus — Presse, Rundfunk
30 28 2
(16) Außen- und Deutschlandpolitik — Ostpolitik, Friedensforschung — Vietnam — Griechenland — allgemein
25 5 1 3
34
(17) Verteidigungspolitik
4
— Rüstung — Ersatzdienst
3 1
(18) Ausländerfragen
6 Entschließungen :
E i n e i n s t r u k t i v e Ü b e r s i c h t ü b e r d e n U m f a n g , i n d e m a u f diesem G e w e r k s c h a f t s t a g die verschiedenen Sachgebiete b e h a n d e l t w u r d e n , v e r schaffen die 17 v o m V o r s t a n d e i n g e b r a c h t e n Entschließungen. Diese h a b e n w e n i g e r d e n C h a r a k t e r v o n A n t r ä g e n ü b l i c h e r A r t als v i e l m e h r v o n K u r z b e i t r ä g e n u n d R e s o l u t i o n e n : m e i s t fassen sie e i n B ü n d e l v o n A n t r ä g e n z u e i n e r i n sich geschlossenen umfassenden Aussage z u sammen63. Gesamtzahl
17
Sachgebiete: (1) Gewerkschaftsorganisationen (2) Arbeitspolitik — Tarifpolitik — BetrVerfG — Selbstverwaltungsorgane des Handwerks — Vertrauensleute
2 7 4 1 1 1
(3) Sozialversicherung
2
(4) Mitbestimmung
2
(5) Vermögensbildung
1
(6) Gesellschaftspolitik
1
(7) Wirtschaftspolitik
3
(8) Steuerpolitik
2
(9) Bildungspolitik
(allgemein u n d Berufsausbildung)
(10) Gesundheitspolitik 63
10. G T P — I G M , Bd. I I , Gelbe Seiten, S. 582 ff.
4 Gießen
1 1
50
. Kap.:
t i c h e Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften
(11) Umweltschutz
2
(12) Boden-, Wohnungs-,
Verkehrspolitik
1
(15) Innenpolitik Extremismus Presse, Rundfunk
2 1 1
(16) Außen- und Deutschlandpolitik — Ostpolitik — Vietnam — EWG
2 1 1
4
(17) Verteidigungspolitik
1
(18) Ausländer
1
Gesamt
33a)
a) Mehrfachzählungen von Entschließungen zu verschiedenen Sachgebieten.
3. Zusammenfassung U m zu verdeutlichen, i n welchen Bereichen und m i t welcher Intensität die Gewerkschaften tätig werden, sollen diese obengenannten 18 Sachgebiete verschiedenen Bereichen zugeordnet werden: Der erste soll die Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftspolitik 6 4 und eng damit zusammenhängende Sachgebiete sowie Fragen der Gewerkschaftsorganisation umfassen, ein zweiter die Außen- und Verteidigungspolitik, ein letzter schließlich alle übrigen Sachgebiete, also: 1. Bereich: die Sachgebiete 1 - 9 2. Bereich: die Sachgebiete 10-15 und 18 3. Bereich: die Sachgebiete 16 und 17. Unter dieser Einteilung ergibt sich für die oben erwähnten Anträge und Entschließungen folgendes Bild:
9. D G B Bundeskongreß
10. D A G Bundeskongreß
10. Gewerkschaftstag I G Metall Anträge, Entschließungen Anträge
Entschl.
1. Sachbereich
72,5 °/o
82,5 %
86,5 °/o
64,7 %
2. Sachbereich
22,5 °/o
12,4 %
8,5 °/o
27,3 °/o
3. Sachbereich
5,0 °/o
5,1 %
5,0 °/o
8,0 °/o
64 Diese drei Sachgebiete gehören zum ursprünglichen zentralen gewerkschaftlichen Interessengebiet, vgl. Hirsch, Gewerkschaften, S. 49, 52 ; vgl. unten Fußn. 311.
§ 7. Gewerkschaftliche Geschäfts- u n d Tätigkeitsberichte
51
§ 7. Gewerkschaftliche Tätigkeiten gemäß den Geschäfts- und Tätigkeitsberichten A. Der Geschäftsbericht des DGB 1969 - 1971 A u f w e l c h e n G e b i e t e n der D G B n i c h t n u r i n p r o g r a m m a t i s c h e n Ä u ß e rungen, A n t r ä g e n u n d Entschließungen auf Kongressen (interne Tätigk e i t ) , s o n d e r n auch d u r c h geschäftsmäßige A k t i v i t ä t e n seiner F u n k t i o näre, insbesondere des V o r s t a n d e s (externe T ä t i g k e i t ) t ä t i g w i r d , ist aus der O r g a n i s a t i o n des V o r s t a n d s u n d aus d e n Geschäftsberichten der Vorstandsmitglieder erkennbar. D e r D G B - B u n d e s v o r s t a n d ist i n 14 A b t e i l u n g e n g e g l i e d e r t 6 5 : A b t e i l u n g Vorsitzender — Finanzen — Organisation — Personal — Werbung — Sozialpolitik — Wirtschaftspolitik — Tarifpolitik — Bildung — berufliche B i l d u n g — Frauen — Jugend — Angestellte — Beamte. D i e T ä t i g k e i t dieser Referate erstreckt sich a u f folgende Gegenstände: (1)
Gewerkschaftsorganisation: Die wesentlichen gewerkschaftsinternen Organisationsaufgaben des B G B innerhalb des Berichtszeitraumes sind:
Internationale Gewerkschaftskontakte 6 8 — V e r w a l t u n g der Finanzen u n d der Gewerkschaftsunternehmungen 6 7 — Freizeitmitgliederbetreuung u n d Funktionärsschulungskurse 6 8 — Rechtsschutzaktivitäten auf arbeits- u n d sozialrechtlichem Gebiet — Werbung u n d Öffentlichkeitsarbeit 6 9 (Gewerkschaftspresse) — Satzungsfragen 70 — Betreuung ausländischer Arbeitnehmer 7 1 . (2)
Arbeitspolitik: Der Bericht zur T a r i f p o l i t i k 7 2 enthält die Feststellung, daß 1971 f ü r 16,3 M i l lionen Arbeitnehmer (11,2 M i l l i o n e n Arbeiter; 5,1 M i l l i o n e n Angestellte) neue L o h n - u n d Gehaltstarife erzielt wurden. Der Bericht geht neben der Behandlung von Arbeitszeit u n d Urlaub auf Fragen der tariflichen Vermögensbildung ein, ebenso auf Fragen der Lohnanreizmethoden u. ä. Sachgebiete 73 . T a r i f vertragliche Einzelfragen werden nicht erwähnt, w e i l der Abschluß von Tarifverträgen zu den Aufgabengebieten der Einzelgewerkschaften zählt. Der Bericht weist auf die Einflußnahme des DGB-Bundesvorstandes, auf die Verabschiedung des BetrVerfG u n d ausstehende Umstrukturierungen des PersVertrG 7 4 hin, der Vorstand macht Vorschläge zur Änderung des TVG, arbeitet auf ein 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74
4*
Vgl. D G B — G B (1969 - 1971), Inhaltsverzeichnis. D G B — GB, S. 13 ff. S. 57 ff. S. 81. S. 97 ff. S. 70. S. 80. S. 197 ff. S. 201 ff. S. 143 ff.
. Kap.:
52
t i c h e Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften
Arbeitsgesetzbuch h i n u n d n i m m t Einfluß auf das LohnfortzahlungsG u n d das AFG75. Sozialpolitik 76: Der D G B entfaltet A k t i v i t ä t e n auf den Gebieten der Krankenversicherung, gesetzlichen Rentenversicherung und der betrieblichen Altersversorgung, der Rehabilitation, dem betrieblichen Gesundheitsschutz; er übernimmt die Schul u n g der DGB-Versichertenvertreter i n der Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger und schlägt eine Unfallversicherung f ü r Schüler u n d Studenten vor. A l s weiteres Ziel nennt er die Schaffung eines Sozialgesetzbuches. (3)
(4)
Mitbestimmung: Z u r weiteren Konzipierung der Mitbestimmung sowie zu ihrer politischen Durchsetzung weist der Vorstand umfangreiche A r b e i t nach 7 7 .
(5) Vermögensbildung und (6) Gesellschaftspolitik: L e i t l i n i e n zur Vermögenspolitik sind das Ergebnis wissenschaftlicher D G B Tätigkeit i m Hinblick auf die Vermögens- u n d Gesellschaftspolitik 7 8 . Der D G B n i m m t parlamentarischen u n d außerparlamentarischen Einfluß auf die verschiedenen Vermögensbildungskonzeptionen. Wirtschaftspolitik 79: Die praktische wirtschaftspolitische A r b e i t des D G B ist dadurch gekennzeichnet, daß er sich auch als Organisation zur Vertretung von Verbraucherinteressen versteht 8 0 u n d eine „Zielprojektion" f ü r einen Zeitraum von 5 Jahren vorlegt. Der Vorstand stellt preispolitische Forderungen auf und w i r k t auf die Realisierung der wettbewerbspolitischen Forderungen des D G B hin. Der Bericht erwähnt die praktische Tätigkeit des D G B i m Rahmen der „Konzertierten A k t i o n " u n d verdeutlicht die Argumente u n d Mittel, m i t denen sich der D G B gegen eine mögliche t a r i f politische Einengung durch die Orientierungsdaten wendet. Die Ablehnung des Konjunkturzuschlages, die Einflußnahme auf die Aufstellung eines Bundesraumordnungsprogramms u n d eines „Rahmenplans zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur 8 1 " sind weitere Gegenstände gewerkschaftlicher A k t i v i t ä t . Der D G B bekräftigt u n d verstärkt seine Forderung nach Mitbestimmung i n den Selbstverwaltungsorganen des Handwerks 8 2 . (7)
(8) Steuer- und Finanzpolitik: Die v o m Vorstand gegenüber Öffentlichkeit, Parlament und Regierung vertretenen Steuerreformforderungen des D G B reichen von der Einkommensteuer über die Kraftfahrzeugsteuer bis zur Gewerbesteuer, Gewinnbesteuerung sowie zur Vermögens- u n d Erbschaftssteuer 83 . Der Geschäftsbericht 75
S. 129, 141 f., 146. S. 117 ff.; vgl. auch den Geschäftsbericht des Vorstandes auf dem 9. B K , 9. D G B — B K P , S. 44 ff. 77 S. 6 ff. 78 S. 11 ff. 79 D G B — GB, S. 169 ff.; vgl. auch Geschäftsbericht, 9. D G B — B K P , S. 56 ff. 80 Dies ist schon nahezu historisches Selbstverständnis der Gewerkschaften, vgl. Hirsch, Gewerkschaften, S. 54, 58. 81 GB, S. 189. 82 S. 307. 83 S. 181 ff. 76
§ 7. Gewerkschaftliche Geschäfts- u n d Tätigkeitsberichte
53
bezieht die Stellung zur Steueraufteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, zur mittelfristigen Finanzplanung u n d zur Haushaltspolitik der öffentlichen H a n d unter allgemeinen Aspekten. (9)
Bildungspolitik
84
:
Die praktische politische Arbeit des Vorstands umfaßt die Formulierung und Vertretung von Forderungen i n DGB-Ausschüssen („Ausschuß f ü r B i l dung", „Schulpolitischer Ausschuß"), Kontaktaufnahmen u n d Einflußnahmen auf folgenden Sachgebieten: — Allgemeiner Bildungsinhalt u n d Bildungsforschung: Der D G B legt ζ. B. detaillierte Vorschläge zur Reform der juristischen Ausbildung vor, die sich m i t der inhaltlichen u n d zeitlichen Gliederung befassen 85 . — Allgemeine Schulpolitik. — Hochschulpolitik: DGB-Ziele sind ein verstärkter Hochschulzugang f ü r Arbeitnehmerkinder u n d die Unterstützung des „Demokratisierungsprozesses" 86 ; der D G B unterbreitet einen „Rahmenvorschlag zur Mitbestimm u n g an den Universitäten", n i m m t an den Hearings des Bundestages zum Hochschulrahmengesetz-Entwurf teil und beteiligt sich an Fragen des V e r bands Deutscher Studentenschaften (VDS) u n d der Westdeutschen Rektorenkonferenz (WRK). Der Bericht erwähnt weiterhin die A r b e i t gewerkschaftlicher Studentengruppen u n d die Konstituierung von 13 Arbeitskreisen des D G B an Hochschulen 87 . — Erwachsenenbildung. — Berufliche Bildung: vielfältige A k t i v i t ä t e n verschiedener A r t (Stellungnahmen, K o n t a k t aufnahmen, Einflußnahme, Mitarbeit i n Gremien) zum Berufsbildungsgesetz, zum Bildungsbericht der Bundesregierung, zum BaföG, zu Fachoberschulen und -hochschulen, zur handwerklichen Berufsausbildung u n d zur beruflichen Erwachsenenbildung kennzeichnen die D G B - A r b e i t auf diesem Sachgebiet; entwickelt u n d koordiniert w i r d sie i m DGB-Bundesausschuß für berufliche B i l d u n g " 8 8 . — Gewerkschaftliche Bildungsarbeit: sie w i r d i n 5 Bundesschulen u n d zahlreichen Gewerkschaftsschulen vorgenommen u n d umfaßt Volks- u n d Betriebswirtschaft, Sozialpolitik, Gewerkschaftspolitik, Arbeits- u n d Sozialversicherungsrecht; auch auf eine allgemeinpolitische B i l d u n g und Schul u n g w i r d sie ausgedehnt 89 ; i n verschiedenen Fächern bietet der D G B einen Fernunterricht i n Form einer „Briefschule" an. (10) Gesundheitspolitik 90: V o m Wirtschafts- u n d Sozialwissenschaftlichen Institut des D G B (WSI) werden Reformvorschläge zur S t r u k t u r des Gesundheitssystems vorgelegt; insbesondere das aktive Eintreten f ü r ein „klassenloses Krankenhaus 9 1 " ist besonderes M e r k m a l f ü r die gesundheitspolitischen A k t i v i t ä t e n des DGB. 84 85 86 87 88 89 90 91
GB, S. 233; 9. D G B — B K P , S. 38 ff., 50 ff. GB, S. 411 f. S. 235 f. S. 243 f. S. 297. S. 247 ff. S. 123 ff. S. 123.
54
. Kap.:
(11)
t i c h e Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften
Umweltschutz:
Dazu liegen keine Tätigkeitsberichte vor. (12) Boden-, Wohnungs- und Verkehrspolitik: Der D G B n i m m t Einfluß auf das Zustandekommen des Städtebauförderungsgesetzes, insbesondere unter dem Aspekt, Bodenwucher u n d -Spekulation zu verhindern 9 2 ; ebenso stellt der D G B Forderungen zur Mietsituation auf. (13) Zum Ehe- und Familienrecht (14) Jugendpolitik
94
veranstaltet der D G B Arbeitstagungen 9 3 .
:
I m Rahmen der DGB-Jugendpolitik hebt der Bericht insbesondere hervor, daß die A r b e i t der Gewerkschaftsjugend „zunehmend politischer geworden" sei u n d „den K a m p f u m gesellschaftliche Veränderungen" beinhalte 9 5 . Die Jugendarbeit umfaßt insbesondere Wehr- u n d Ersatzdienstfragen (Betreuung der Dienstleistenden), das W a h l - u n d Volljährigkeitsalter u n d die A u s b i l dungsförderung unter allgemeinen, nicht typisch arbeitnehmerbezogenen Gesichtspunkten. Jugendbildungsarbeit u n d Jugendbetreuung i n der Freizeit sind weitere Arbeitsinhalte. (15) Innenpolitik: I m Vordergrund der innenpolitischen Bemühungen des D G B stand lange Zeit das Bestreben, die Notstandsgesetze zu verhindern 9 6 ; nach Verabschiedung der Notstandsgesetze sind die notstandspolitischen A k t i v i t ä t e n verebbt. Zwischen 1969 u n d 1971 n i m m t der D G B insbesondere auf die Rundfunkpolitik Einfluß 9 7 : Gebührenerhöhung, Programmgestaltung. Wie stark die Bestrebungen zur wirksamen E i n w i r k u n g auf den gesamten Bereich der Massenmedien sind, beweisen die Bemühungen u m die B i l d u n g einer „Mediengewerkschaft" i m DGB, die die DJU, R F F U u n d andere Verbände zusammenschließen soll 9 8 . Die Richtung, die der D G B i m Bereich der Pressepolitik einschlägt, w i r d ζ. B. darin deutlich, daß der DGB-Abteilungsleiter i m Bundesvorstand, Stephan, auf dem 9. Bundeskongreß 1962 von der „unheilvollen Allianz zwischen Franz Joseph Strauß u n d A x e l Springer" spricht 9 9 . I m öffentlichen Dienst ist der D G B insbesondere i n beamtenrechtlichen Versorgungs- u n d Besoldungsfragen t ä t i g 1 0 0 u n d w i r k t auf Bundestag u n d Bundesregierung ein. Aufklärungsarbeit über den politischen Extremismus — besonders den Rechtsextremismus der N P D — ist ein bedeutsames M e r k m a l innenpolitischer DGB-Arbeit101. 92
S. 188 f. S. 340 f. S. 349 ff. ; vgl. auch 9. D G B — B K P , S. 69 ff. 95 GB, S. 353. 96 Vgl. D G B — G B (1965- 1968), S. 8; L i m m e r , Gewerkschaften, S. 218 ff.; auf dem 7. Ordenti. Gewerkschaftstag der I G M 1962 wurden 33 Anträge gegen die Notstandsgesetze eingebracht, 7. GTP — I G M , S. 535 ff. 97 E i n eigener „DGB-Rundfunkausschuß" sorgt f ü r effektive gewerkschaftliche Rundfunkpolitik, vgl. D G B — GB (1969 - 1971), S. 111. 98 Vgl. 9. D G B — B K P , S. 80. 99 9. D G B — B K P , S. 79. 100 GB, S. 407 ff.; vgl. auch den Geschäftsbericht, 9. D G B — B K P , S. 82 ff., i n dem der D G B den Ministerpräsidentenbeschluß zur Einstellung Radikaler k r i tisiert, S. 86. ιοί d g b — GB (1969 - 1971), V o r w o r t von Vetter; auch § 6 C 1. 93
94
§ 7. Gewerkschaftliche Geschäfts- u n d Tätigkeitsberichte (16) Außen- und
55
Deutschlandpolitik:
Der D G B unterstützt massiv u n d a k t i v die Ostpolitik der Bundesregierung durch Öffentlichkeitsarbeit, Stellungnahmen u n d Kundgebungen (etwa am 1. M a i 1972) 102 und setzt sich auch i n neuerer Zeit für die Ratifizierung des Grundvertrages zwischen der Bundesrepublik u n d der DDR ein 1 0 3 . Die V e r urteilung von Maßnahmen der griechischen, portugiesischen u n d polnischen Regierung u n d die Zusammenarbeit m i t der Organisation „Amnesty I n t e r national" sind weitere D G B - A k t i o n e n m i t außenpolitischem Bezug. (17) Verteidigungspolitik: Die i n der Jugendarbeit erwähnten Fragen des Wehr- und Ersatzdienstes gehen über die bloße Betreuung u n d Werbung hinaus und beinhalten auch allgemeine verteidigungspolitische Tätigkeiten. Stellungnahmen des D G B zur Verteidigungspolitik sind schon traditionell. M i t unterschiedlichen Argumenten unterstützte der D G B i n der Zeit zwischen 1950 und 1955 die gegen die Einführung der Bundeswehr gerichteten politischen A k t i o n e n 1 0 4 . Einerseits stellte der D G B klar, daß nach seiner Auffassung allein der Bundestag die Entscheidung über diese Frage treffen sollte 1 0 5 , andererseits attackierte er scharf das „Landsknechttum" 1 0 6 u n d wollte einen Volksentscheid über die E i n führung der Bundeswehr herbeiführen 1 0 7 . Auch n?ch der Entscheidung des Bundestages ließen die D G B - A k t i v i t ä t e n nicht nach, vielmehr forderte der D G B jetzt den Bundestag auf, diese Gesetze rückgängig zu machen 1 0 8 . D G B - A u f r u f e zur Abrüstung u n d gegen eine mögliche atomare Aufrüstung der Bundeswehr setzen diese Gewerkschaftspolitik f o r t 1 0 9 . E i n e D a r s t e l l u n g d e r Geschäftsberichte der E i n z e l g e w e r k s c h a f t e n w ü r d e d e n R a h m e n des e m p i r i s c h e n T e i l s dieser A r b e i t sprengen. D i e oben a u f g e f ü h r t e n Sachgebiete b i l d e n i m w e s e n t l i c h e n auch die S k a l a g e w e r k s c h a f t l i c h e r A k t i v i t ä t e n der E i n z e l g e w e r k s c h a f t e n des D G B , w o b e i insbesondere die j e w e i l i g e n spezifischen F r a g e n der e i n z e l n e n I n d u s t r i e - u n d Wirtschaftsbereiche z u m T r a g e n k o m m e n , f ü r d i e die E i n z e l g e w e r k s c h a f t e n z u s t ä n d i g sind. V o r a l l e m d e r A b s c h l u ß v o n T a r i f v e r trägen, die b e t r i e b l i c h e A r b e i t u n d die finanzielle S t r e i k u n t e r s t ü t z u n g i h r e r M i t g l i e d e r s i n d w e s e n t l i c h e T ä t i g k e i t s b e r e i c h e , die d e m D G B als Vereinigung von Einzelgewerkschaften nicht zukommen. B. Der Tätigkeitsbericht der D A G 1967 - 1971 110 D i e D A G e n t f a l t e t a u f n a h e z u a l l e n der e r w ä h n t e n Sachgebiete besondere A k t i v i t ä t e n , o h n e daß b e i F r a g e n e t w a der S t e u e r - , F a m i l i e n - , 102 103
D G B
__ GB, V o r w o r t von Vetter; S. 23; 9 D G B — B K P , S. 37.
Anläßlich eines Spitzengesprächs zwischen dem D G B u n d dem F D G B i n Düsseldorf am 15. 3.1973, vgl. F A Z v o m 16. 3.1973, S. 3. 104 Gegen Wiederaufrüstung, für „soziale Aufrüstung" als „besten Wehrbeitrag"; vgl. Schuster, DGB, S. 96 f. 105 DGB-Bundesausschuß, W d A v o m 1. 2.1952. 100 DGB-Bundesvorstand, „ A u f w ä r t s " vom 7. 2.1952. 107 Damaliger DGB-Bundesvorsitzender Reuter am 29.1. 1955 i n der F r a n k furter Paulskirche, zitiert nach Stadler, Gewerkschaften, S. 128. 108 A n t r a g der I G M auf dem 4. D G B — B K (1956). 109 Vgl. Nachweise bei Stadler, Gewerkschaften, S. 207.
56
. Kap.:
t i c h e Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften
Boden-, Wohnungs-, Verkehrs- oder Innenpolitik ein besonderer berufsbedingter Bezug erkennbar ist. Deutlich w i r d dies insbesondere an den Stellungnahmen der D A G zum Notstandsrecht 111 : Die D A G untersucht nicht nur Fragen des Streikrechts oder Probleme des A r t . 12 a GG 1 1 2 , sondern geht auch auf allgemeine Themen i n Zusammenhang m i t dem Notstandsrecht ein, ζ. B. auf die Trennung zwischen Verteidigungsund Spannungsfall und die parlamentarischen Befugnisse 113 . Zum Umweltschutz, zur Gesundheitspolitik (einschließlich Krankenhauswesen) und zur Verteidigungspolitik entwickelt die D A G i m Berichtszeitraum keine gewerkschaftlichen Aktivitäten. Die D A G versucht zwar, auf Fragen der beruflichen Bildung Einfluß zu nehmen, nicht aber behandelt sie Themen der allgemeinen Bildung. Der Bericht verweist auf das Bekenntnis der D A G zum vereinten Europa, die D A G enthält sich aber anders als der DGB aller außenpolitischen Stellungnahmen, insbesondere zur Ostpolitik. C. Der Geschäftsbericht des DBB 1972
Der DBB-Bericht geht auf alle o. g. Sachgebiete ein außer der Gesundheits-, Außen- und Deutschlandpolitik sowie der Verteidigungspolitik. Der DBB bleibt jedoch bemüht, zumindest ansatzweise berufsbezogene Aspekte i n den Vordergrund zu stellen: I m Bereich der Innenpolitik nimmt er nur zum Öffentlichen Dienst, insbesondere zum Besoldungsrecht Stellung 1 1 4 ; das Eherecht w i r d unter dem Aspekt der Beamtenversorgung untersucht 115 ; die Vermögensbildung scheint für den DBB nur insofern von Interesse zu sein, als sie sich auf Angehörige des Öffentlichen Dienstes auswirkt; der inzwischen aufgelöste „Arbeitskreis Hochschule und Wissenschaft" befaßte sich hauptsächlich m i t Fragen der Hochschulehrerbesoldung 11 ^. Aber auch i m DBB w i r d die Tendenz erkennbar, gewerkschaftliche Aufgaben über berufsbezogene Teilaspekte hinaus auszudehnen. So heißt es zum Umweltschutz: „Gegenüber den Gefahren, die uns allen durch die sprunghafte Verdichtung umweltschädlicher Einflüsse drohen, konnte auch der DBB nicht gleichgültig bleiben 1 1 7 ." 110 111
S. 3 ff.
D A G — T B (1967 - 1971), S. 23 ff. Broschüre „DAG-Stellungnahme: Notstandsrecht vor dem Bundestag",
112
Vgl. dazu „DAG-Stellungnahme", S. 15 ff. Vgl. insbesondere DAG-Pressedienst v o m 21.5.1968; D A G — T B (1967 bis 1971), S. 63. 114 D B p _ GB (1972), S. 12 f., 21 f., 27 ff., 59 ff. 113
115 116 117
GB, S. 14. S. 71. S. 14.
§ 7. Gewerkschaftliche Geschäfts- u n d Tätigkeitsberichte
57
Auch die Äußerungen zum Bodenrecht ebenso wie zur Steuergerechtigkeit sind allgemein gefaßt 118 , ohne daß auf spezifische Beamteninteressen verwiesen würde. Die Bildungsgesamtplanung betrachtet der D B B „unter allgemeinen gesellschaftspolitischen, aber auch unter berufspolitischen Gesichtspunkten" 1 1 9 . Kennzeichnend erscheint die Haltung des DBB zum Hochschulrahmengesetz: Zunächst nahm der DBB nur unter dem Blickwinkel der Vorbildung zum Öffentlichen Dienst zu diesem Gesetzesentwurf Stellung 1 2 0 , geht jedoch später ohne diesen Bezug auf nahezu alle von diesem Entw u r f tangierten allgemeinen Fragen ein 1 2 1 . Daß der DBB eine sehr detaillierte umfassende Haltung ζ. B. zur Reform der Juristenausbildung einnimmt 1 2 2 , rechtfertigt er m i t der Zuordnung dieser Frage zur „Berufsausbildung des Öffentlichen Dienstes" 123 . D. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen
Nach dem i n ihren Satzungen und aktuellen Handlungen sowie Äußerungen zum Ausdruck kommenden Selbstverständnis beschränken sich der DGB und seine Einzelgewerkschaften nicht auf den engeren Bereich der Arbeits-, insbesondere Lohn-, Sozial- und Wirtschaftspolitik 1 2 4 ; vielmehr werden nahezu alle politischen Sachgebiete erfaßt 125 , die i n einem modernen sozial- und rechtsstaatlichen Gemeinwesen überhaupt relevant sind. „Sowohl auf die außenpolitischen als auch auf die innenpolitischen Prozesse haben die Gewerkschaften i n den letzten drei Jahren aktiv eingewirkt." Diese Feststellung konnte der DGB-Vorsitzende Vetter als Arbeitsresumee auf den DGB-Kongressen 1972 treffen 120 . Das Grundsatzprogramm des DGB, programmatische Beschlüsse und Entwürfe neueren Datums („das gewerkschaftliche Programm reicht von der Bildungspolitik bis zum Umweltschutz") 1 2 7 und die DGB-Satzung sind anschauliche Beispiele für den Umfang politischer Aktivität, die der DGB wahrnimmt. I n diese Richtung weisen auch die Vorschläge des DGB-Landesbezirks Hessen, einen Landeswirtschafts- und Sozialrat mit maßgeblicher Beteiligung der Gewerkschaften ins Leben zu rufen 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127
§49 ff., 52 ff. S. 71; D/39 f. S. 71 f.; D/40 f. D/41 ff. S. 76; D/46 f. S. 73 ff. Vgl. Hirsch, Gewerkschaften, S. 49, 52. Vgl. Hirsch, ebd., S. 119. 9. D G B — B K P , S. 32. Vetter, ebd., S. 32.
58
. Kap.:
t i c h e Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften
und i h m als Aufgabengebiete neben der Arbeitsmarkt- und Energiepolitik die Struktur- und Verkehrspolitik, die Wohnungspolitik, die berufliche Bildung und den Umweltschutz zuzuweisen 128 . Neuere Tendenzen gehen dahin, i m Rahmen der Gesellschaftspolitik den Klassenkampf wieder stärker i n den Vordergrund zu stellen; dies gilt insbesondere für die jugendpolitische Arbeit des DGB. Ist bereits i m Grundsatzprogramm von Arbeitspolitik kaum, von Lohnpolitik überhaupt nicht mehr die Rede, so sollen diesen jugendpolitischen Bestrebungen zufolge die Arbeits- und Sozialpolitik nicht mehr in der Rangfolge dominieren; „die Arbeit der Gewerkschaftsjugend ist zunehmend politisch geworden" 1 2 9 , stellt der DGB-Geschäftsbericht selbstbewußt fest. I n der politischen Tagesarbeit der Gewerkschaften w i r d der i n Satzung und Grundsatzprogramm angesprochene breite politische Aktionsbereich bestätigt. Bei der Beobachtung gewerkschaftlicher Aktivitäten praktischer und programmatischer A r t w i r d deutlich, daß der Zusammenhang zwischen einzelnen politischen Sachgebieten und besonderem Arbeitnehmerinteresse bei manchen Aktionen und Forderungen gerade noch, bei anderen (ζ. B. außenpolitischen) aber nicht mehr hergestellt wird. Ein Beispiel dafür ist das Eintreten der Gewerkschaften für die Ostpolitik der Bundesregierung. Vetter begründet dies folgendermaßen: „Denn national und international können die Gewerkschaften ihre Ziele nur erreichen, wenn der Frieden erhalten bleibt 1 3 0 ." Begriffe wie „jeder", „alle Menschen", „ganzes Volk", „Volksgesundh e i t " 1 3 1 lassen erkennen, daß dann nicht nur Arbeitnehmer-, als vielmehr Allgemeininteressen i m Vordergrund stehen. Zahlreiche Kongreßanträge etwa zur Innen- und Außenpolitik, zum Umweltschutz und Bodenrecht, zur Verkehrs- und Verteidigungspolitik werden nicht m i t besonderen, über die Belange der Allgemeinheit hinausgehenden A r beitnehmerinteressen begründet. Als Ergebnis läßt sich daher festhalten: Der DGB und die Einzelgewerkschaften stellen sich nicht nur als Interessenverband zur Vertretung typischer Berufsinteressen dar, sondern m i t zunehmender Intensität als Personalverband m i t dem Anspruch, alle Lebensinteressen der „Arbeitnehmer" wahrzunehmen. Dabei w i r d deutlich, daß der Begriff „Arbeitnehmer" zur Bezeichnung einer soziologischen Gruppe unpraktikabel wird, weil nach dem Verständnis des DGB ohnehin fast die gesamte Bevölkerung aus Arbeitnehmern besteht. Konsequent dehnt der DGB denn auch seinen Vertretungsanspruch bisweilen auf das Gesamtvolk aus. Die Satzung des 128 v 129 130 131
g L
F A Z v o m 13. 4.1973, S. 19.
D G B — G B (1969 - 1971), S. 350. 9. D G B — B K P , S. 165. Vgl. z. B. das DGB-Grundsatzprogramm, dazu oben § 6 F.
§ 8. Wirtschaftliche Stellung der Gewerkschaften
59
DBB normiert zwar keine politisch-gegenständliche, wohl aber eine spezifisch berufsbedingte Begrenzung der gewerkschaftlichen Aufgaben. Faktisch jedoch kann sich der DBB dem offenbar von allen Gewerkschaf ten empfundenen gewerkschaftspolitischen Zwang zur Ausdehnung des Vertretungsanspruchs über den Mitglieder- bzw. Gruppenbereich hinaus ebensowenig verschließen wie die DAG. Die i n der DAG-Satzung und i m Programm m i t unterschiedlicher Klarheit festgelegte Ausweitung der gewerkschaftlichen Funktion w i r d in der Gewerkschaftspraxis dieser Organisation bestätigt. § 8. Die wirtschaftliche Stellung der Gewerkschaften A. Die Beitragseinnahmen
Berücksichtigung können i m wesentlichen nur die jährlichen Beitragseinnahmen der Gewerkschaften finden, denn einerseits machen sie den weitaus größten Teil der jährlichen Gewerkschaftseinnahmen aus, andererseits ist auch i m wesentlichen nur diese Einnahmeart aus den Rechenschaftsberichten erkennbar. Die jährlichen Beitragseinnahmen aller DGB-Gewerkschaften trugen 1 3 2 :
be-
Die jährlichen Beitragseinnahmen aller DGB-Gewerkschaften betrugen 1 3 2 : 1968:
444 M i l l i o n e n DM,
1969:
468 Millionen D M ,
1970:
513 M i l l i o n e n DM.
Der D G B erhält einen 12 °/oigen A n t e i l an diesen Einnahmen, so daß i m Jahre 1970 die Einzelgewerkschaften über mindestens 507 M i l l i o n e n D M u n d der D G B über folgende Summen verfügen k o n n t e n 1 3 3 : aus Beiträgen: aus sonstigen Einnahmen: insgesamt =
61,6 Millionen D M , 8,3 M i l l i o n e n D M , 69,9 M i l l i o n e n D M .
Die D A G verfügte über folgende Einnahmen (Beiträge u n d sonstiges) 134 : 1968:
38,8 Millionen D M ,
1969:
44,0 Millionen DM,
1970:
40,8 M i l l i o n e n D M .
Über die Beitragseinnahmen des D B B liegen keine Angaben i n den Geschäftsberichten u n d Protokollen vor. A l l e i n der D G B u n d die D A G konnten 1970 über Einnahmen von ca. 554 M i l lionen D M verfügen. Die Größenordnung dieser Summe w i r d plastisch bei 132
nannt. 133 134
Vgl. D G B — G B , S. 36; dort ist jedoch n u r der 12 %ige D G B - A n t e i l geD G B — GB, S. 39 ff. Anlage zum Finanzbericht i m D A G — T B (1967 - 1971).
60
. Kap.:
t i c h e Tätigkeitsbereiche der Gewerkschaften
einem Vergleich zur finanziellen Stellung anderer politisch relevanter Vereinigungen, insbesondere der vier Bundestagsparteien. I n den Jahren 1969 bis 1971 verfügten diese Parteien über folgende E i n n a h m e n 1 3 5 : 1969 (Wahljahr)
1970
1971
DM
DM
DM
SPD CDU CSU FDP
65 117 768,15 49 318 645,44 13 921 475,57 16 147 562,91
59 945 214,60 50 216 359,58 12 873 645,02 12 031 176,26
58 032 386,18 45 210 348,44 13 961 364,68 10 034 549,30
insgesamt
ca. 145 Mio.
ca. 125 Mio.
ca. 127 Mio.
Wahlkampfpauschale gem. § 18 ParteienG
ca. 43 Mio.
ca. 34 Mio.
ca. 38 Mio.
Eigenaufwand (Beiträge, Spenden, sonst. Einnahmen)
ca. 102 Mio.
ca. 91 Mio.
ca. 89 Mio.
Beitragseinnahmen des D G B u n d der DAG
ca. 512 Mio.
ca. 554 Mio.
B. Die von den Gewerkschaften betriebenen Unternehmen 136
Neben dem DGB und seinen Einzelgewerkschaften betreiben auch D A G und DBB gewerkschaftseigene Druckereien oder Verlage. Als wichtigste sind zu nennen: — Der Bund-Verlag des D G B 1 3 7 — Die Verlagsanstalt des D B B 1 3 8 Der D G B ist über seine Vermögensverwaltungs- u n d Treuhand-Gesellschaft (VTG) an insgesamt 21 Unternehmen beteiligt. Die bedeutendsten Beteiligungen s i n d 1 3 9 : 135
Z u m W a h l j a h r 1972 liegen ζ. Z. (Nov. 1973) noch keine Rechenschaftsberichte d. Parteien gem. § 23 I I , S. 2 ParteienG vor. Die Angaben sind den Rechenschaftsberichten der Parteien i m Bundesanzeiger 1970, Nr. 230, S. 4 ff. (Angaben f ü r 1969) entnommen; Bundesanzeiger 1971, Nr. 232, S. 3 ff. (Angaben f ü r 1970); Bundesanzeiger 1973, Nr. 11, S. 3 ff. (Angaben für 1971). 136 Vgl. dazu Hirche, Wirtschaftsunternehmen; Hesselbach, Gemein w i r t schaftliche Unternehmen; Völpel, Wirtschaftsgruppen, S. 41 ff. 137 Vgl. D G B — GB, S. 66. 138 D B B — G B (1972), S. 91. 139 D G B — GB, S. 56 fï.
§ 8. Wirtschaftliche Stellung der Gewerkschaften
61
— Bank für Gemeinwirtschaft A G 1 4 0 — Volksfürsorge Lebensversicherung A G (das zweitgrößte deutsche Lebensversicherungsunternehmen) 1 4 1 — Volksfürsorge Deutsche Sachversicherung A G — Hamburger Internationale Rückversicherung A G — Volksfürsorge Rechtsschutzversicherung A G — Unternehmensgruppe „Neue H e i m a t " 1 4 2 — Beamtenheimstätten w e r k 1 4 3 — Büchergilde Gutenberg Die D A G ist mehrheitlich an der „Gemeinnützigen Heimstätten A G " u n d der „Deutschen Angestellten-Wohnungsbau-AG" beteiligt 1 4 4 . Das Vermögen des D G B u n d seiner 16 Einzelgewerkschaften w i r d auf über 2 M i l l i a r d e n D M geschätzt 145 .
140 Das Grundkapital der B f G ist zu 95 °/o i n gewerkschaftlicher Hand; die B f G ist die viertgrößte deutsche Großbank, vgl. Völpel, Wirtschaftsgruppen, S. 42. 141 Hirche, Wirtschaftsunternehmen, S. 187. 142 Die „Neue Heimat" geht neuerdings zum umfassenden Städtebau über, vgl. Hesselbach, Gemeinwirtschaftliche Unternehmen, S. 107. 143 Der D G B ist daran zu 50 °/o beteiligt, die andere Hälfte hält der DBB, vgl. Hirche, Wirtschaftsunternehmen, S. 279. 144 D A G — T B , S. 111. 145 Schätzung des Deutschen Industrie instituts aus dem Jahre 1972, vgl. Niedenhoff, Die Wirtschaftsmacht der Gewerkschaften, Vorwort.
Viertes Kapitel
Die Adressaten gewerkschaftlicher EinfluÊnahme Die charakteristischen Adressaten des Verbandseinflusses sind die Parteien, das Parlament, die Regierung und die Öffentlichkeit 1 . § 9. Gewerkschaften und Parlament Die politische Einwirkung der Gewerkschaften auf die Arbeit des Bundestages kann sich auf zwei Ebenen vollziehen: direkt durch Gewerkschafter als Abgeordnete sowie durch Teilnahme an Hearings, indirekt durch die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Parteien bzw. Fraktionen. A. Gewerkschaftsmitglieder im Bundestag
Eine sozialempirische Analyse über Umfang und A r t gewerkschaftlichen Einflusses auf die Gesetzgebungsarbeit (aktuelle Gewerkschaftsarbeit) würde über das Thema dieser Arbeit hinausgehen. Aufschlußreich erscheint schon aufzuzeigen, welche besonderen Möglichkeiten gewerkschaftlicher Einflußnahme (potentielle Gewerkschaftsarbeit) sich i m Bundestag bieten: Abgeordnete, bei denen Anregungen und Wünsche der Gewerkschaften am ehesten Gehör finden können, dürften i n erster Linie diejenigen sein, die zugleich Mitglieder i n den Gewerkschaften sind. Neben dieser potentiellen Präsenz i m Bundestag gewinnen die Gewerkschaften aktuelle Präsenz durch die Abgeordneten, die Gewerkschaftsfunktionäre sind. Nur über diese beiden Einflußkanäle kann die folgende Übersicht eine Aussage treffen, nicht aber darüber, i n welcher Intensität sich der gewerkschaftliche Einfluß auf gesetzgeberische Entscheidungen real niederschlägt 2 .
1 Vgl. etwa Th. Ellwein, Regierungssystem, S. 113 ff., 119; Hennis, P o l i t i k I I , S. 168f., 188ff.; v. Beyme, Interessengruppen, S.85ff.; Löwenstein, Verfassungslehre, S. 378 ff. 2 Vgl. zu dieser Differenzierung Donner, DVB1. 1974, S. 185; Hirche, G M H 1972.
§ . Gewerkschaften und
men
1. Das Bundestagsplenum
63
3
SPD
CDU/CSU
FDP
Gesamt
Abgeordnete insgesamt
242
234
42
498
DGB
222
24
4
250
DBB
6
26
2
34
DAG
4
5
1
10
CGD
—
GdP Gesamt
1
13
—
13
—
—
1 308
7
68
233
Unter Berücksichtigung von ca. 12 Doppelmitgliedschaften gehören 296 A b geordnete einer Gewerkschaft an. Dies entspricht einem Prozentsatz von ca. 59 °/o der Gesamtzahl der Bundestagsabgeordneten, ca. 48 °/o der Abgeordneten sind M i t g l i e d einer DGB-Gewerkschaft. Von den 250 DGB-Mitgliedern i m V I I . Bundestag sind 22 Hauptabgeordnete hauptamtliche bzw. beurlaubte Gewerkschaftsfunktionäre (Gewerkschaftssekretäre u n d Vorstandsmitglieder) 4 M i t 105 Mitgliedern n i m m t die ÖTV den ersten Platz ein, es folgen die GEW m i t 38 vor der I G M e t a l l m i t 35 M i t gliedern 5 . Den steigenden A n t e i l v o n Gewerkschaftsmitgliedern i m Bundestag u n d unter ihnen das Anwachsen der Z a h l der DGB-Mitglieder verdeutlicht die folgende Übersicht 6 : I 1949
II 1953
III 1957
IV 1961
V 1965
VI 1969
VII 1967
Abgeordnete (einschl. Berliner Abg.)
420
506
519
521
518
518
518
Gewerkschaftsmitglieder
115
194
202
223
242
265
294
davon i n D G B Gewerkschaften
106
168
172
185
197
227
250
andere Gewerkschaften
9
30
38
45
38
44
Bundestag
26
3 Angaben nach W d A Nr. 49 v o m 8.12.1972, S. 1, 8; Nr. 3 v o m 19.1.1973, S. 7; Müller, Der Arbeitgeber 1973, S. 205; Hirche, G M H 1973, S. 83 ff.; Schreiben der D A G an d. Verf. v o m 8. 3. 1973; Schreiben des D B B an d. Verf. v o m 26. 3.1973.
64
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
2. Die Bundestagsausschüsse Bei den Bundestagsausschüssen ergibt sich unter dem Aspekt der Gewerkschaftszugehörigkeit, bei der jedoch n u r die DGB-Gewerkschaften Berücksichtigung finden konnten, folgendes B i l d 7 : SPD
CDU/CSU
FDP
insgesamt
Ausschußabgeordnete insgesamt
15
15
3
33
davon: ÖTV GEW I G Metall gesamt
3 3 1 (7)
— — —
— — —
Abgeordnete insgesamt
13
12
2
davon: ÖTV GEW DPG GdED gesamt
4 3 1 1 (9)
— — — — —
— — — — —
8
8
1
4 1 1 (6)
2 — — (2)
13
12
2
10 1 (11)
— —
— —
15
15
3
33
7 3
— —
— —
7 3
Auswärtiger
Ausschuß:
3 3 1 (7)
Innenausschuß: 27 4 3 1 1 (9)
Sportausschuß: Abgeordnete insgesamt davon: ÖTV GEW DruP gesamt
— — — —
17 6 1 1 (8)
Rechtsausschu ß: Abgeordnete insgesamt davon: ÖTV I G Metall gesamt
27 10 1 (11)
Finanzausschu β: Abgeordnete insgesamt davon: ÖTV GEW
4 Vgl. Hirche G M H 1973, S. 89; Müller, Der Arbeitgeber 1973, S. 206, u n d W d A Nr. 49 v o m 8.12.1972 zählen n u r 15; i m V I . Bundestag waren es 25, vgl. Hirche, G M H 1969, S. 721. 5 Vgl. W d A v o m 19.1.1973; Hirche, G M H 1973, S. 87. 6 Vgl. Hirche, G M H 1973, S. 83 u n d Fußn. 3. 7 Zusammengestellt nach Angaben i n W d A v o m 8.12.1972 und einer v o m B T - D i r e k t o r an den Verf. geschickten Aufstellung der Ausschußmitglieder. Stand: 31.1.1973.
§ . Gewerkschaften und SPD I G Metall I G Chemie I G Bau gesamt
65
men CDU/CSU
FDP
insgesamt
2
—
—
2
1
—
—
1
(13)
(1)
-
15
15
3
33
5 1 1 1 1 1 (10)
— —
— —
5 1
(13)
Haushaltsausschu ß: Abgeordnete insgesamt davon: ÖTV GEW NBV I G Metall GdED I G Bau gesamt
1
— — — (1)
—
— — — -
2
1 1 1 (11)
Wirtschaf tsausschu β: Abgeordnete insgesamt
13
12
2
27
davon: ÖTV I G Bergbau GEW I G Metall I G Bau DruP gesamt Ernährung,
Landwirtschaft,
Abgeordnete insgesamt
8
—
—
8
2
—
—
2
1 1 1 — (13)
— — — 1 (1)
— — — — -
13
12
4 2
1 1 1 1 (14)
Forsten: 2
27
—
—
4
—
—
2
2
—
—
2
2
davon: ÖTV I G Bergbau I G Metall GLF GdED gesamt Arbeit und
—
—
1 (11)
— -
— —
13
12
2
2
1 (11)
Sozialordnung:
Abgeordnete insgesamt . .
27
davon: ÖTV I G Metall GEW DruP I G Chemie I G Bergbau NBV NGG gesamt 5 Gießen
3 2 1 1 1 1 — 1 (10)
— — — — 1 — (4)
1 2
— — — — — — —
— —
4 4 1 1 1 1 1 1 (14)
66
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
Verteidigungsausschuß: Abgeordnete insgesamt davon: GEW ÖTV I G Metall NBV DruP gesamt Jugend, Familie,
SPD
CDU/CSU
13
12
FDP
insgesamt
27
5 2 2 1 1
5 2 2 1 1
(11) (11)
Gesundheit:
Abgeordnete insgesamt davon: ÖTV I G Bergbau I G Metall I G Bau gesamt
13
12
6 2 1 1 (10)
(1)
27 7 2 1 1 (11)
13
12
27
1
Verkehr: Abgeordnete insgesamt davon: GdED ÖTV IG Metall... GEW I G Bau DruP I G Bergbau, gesamt Raumordnung, Bauwesen, Abgeordnete insgesamt davon: ÖTV I G Metall NBV GEW DruP I G Bergbau I G Bau gesamt
4 2 2 1 1 1 1
(1)
(11)
4 2 2 1 1 1 1
(12)
Städtebau:
Innerdeutsche Beziehungen: Abgeordnete insgesamt davon: GEW ÖTV I G Bau I G Bergbau. I G Chemie . gesamt
13
(12)
12
27
1
9 3 2 1 1 1 1
(6)
(18)
9
19
3 2 1 1 1
3 2 1 1 1
(8)
(8)
67
§ 9. Gewerkschaften u n d Parlament SPD Forschung, Technologie, Post- und
CDU/CSU
F.D.P.
insgesamt
1
19
1
4 1 1 1 1 1 (9)
27
Fernmeldewesen: 9
Abgeordnete insgesamt
9
davon: ÖTV GEW I G Bau DruP I G Bergbau DPG gesamt Bildung
·.
3 1 1 1 1 1 (8)
—
—
—
—
—
—
—
—
13
12
2
1
1
— —
—
und Wissenschaft:
Abgeordnete insgesamt
,
davon: 5 2 3 2 ·. (12)
GEW ÖTV I G Metall DruP gesamt Wirtschaftliche
—
—
—
—
—
—
5 4 3 2 (14)
Zusammenarbeit: 9
Abgeordnete insgesamt
1
9
19
davon: ÖTV GEW NBV GdED gesamt
2 2 2 —
·.
(6)
—
—
—
—
1 (1)
— —
2 2 2 1 (7)
Uberraschend ist, daß nicht etwa i m Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung oder i m Wirtschaftsausschuß die meisten gewerkschaftlich organisierten Abgeordneten vertreten sind, sondern i m Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau m i t 18 von 27 Mitgliedern. Es folgen m i t jeweils 14 von 27 die Ausschüsse für Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft, Arbeit und Sozialordnung. Einen relativ hohen A n teil an Gewerkschaftsmitgliedern weisen auch der Finanzausschuß, der Sportausschuß sowie der Ausschuß für Forschung und Technologie und für das Post- und Fernmeldewesen auf; den niedrigsten Organisationsgrad haben die Abgeordneten des auswärtigen Ausschusses. Die am stärksten vertretenen Gewerkschaften sind die ÖTV und die GEW. Dies hängt m i t dem besonderen politischen Engagement der Beamten und Angestellten des Öffentlichen Dienstes zusammen — einer Berufsgruppe, deren Stärke i m Bundestag ständig wächst: I m I. Bundestag betrug sie noch 16,9 °/o, während sie i m V I I . Bundestag 1972 41,1 °/o ausmacht 8 . 8
5*
Vgl. Müller, Der Arbeitgeber 1972, S. 1063.
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
68
Diese Zusammensetzung kann als — wenn auch nur grober — Gradmesser für das gewerkschaftliche Interesse an den jeweiligen Sachgebieten herangezogen werden. Er weist i n die allgemeinpolitische Richtung, die bereits i n den Anträgen und Entschließungen auf den Kongressen und Gewerkschaftstagen erkennbar geworden ist. Neben dieser (potentiellen) Gewerkschaftspräsenz durch Mitglieder haben die Gewerkschaften zu den Ausschüssen Kontakt durch Beratung 9 . 3. Intentionen
des DGB
Hinsichtlich der parlamentarischen Arbeit versteht sich der DGB als Lobby 1 0 und unterhält i n Bonn eine „Parlamentarische Verbindungsstelle" 11 , deren Aufgabe es ist, neben der Verbindung zu Bundesministerien und Bundesrat den politischen Kontakt zu den Bundestagsabgeordneten, insbesondere den Gewerkschaftsmitgliedern zu institutionalisieren 12 . Daneben unterhält sie Verbindung zu den Parteivorständen, zu Journalisten und informiert Besucher über die DGB-Arbeit. Aber nicht nur der DGB, sondern auch einige DGB-Einzelgewerkschaften, wie z. B. die DPG, verfügen über eigene „parlamentarische Verbindungsstellen" 13 . Erkennbar ist dabei die politische Absicht, die einer Gewerkschaft angehörenden Abgeordneten stärker als bisher an den politischen Willen der Gewerkschaft zu binden und sie auf Gewerkschaftsbeschlüsse festzulegen. I n einem Antrag auf dem 10. Gewerkschaftstag der I G Metall 1971 heißt es: „Der Vorstand der I G Metall w i r d beauftragt, i m DGBBundesvorstand darauf hinzuwirken, daß alle Parlamentarier, die einer DGB-Gewerkschaft angehören, aufgefordert werden, bei politischen Debatten und Entscheidungen (Abstimmungen) sich an die Beschlüsse der Gewerkschaften zu halten, u m sie auch i n politischer Hinsicht zum Tragen zu bringen." Der Antrag wurde angenommen 14 . Daß diese Bestrebungen insbesondere auf die Einführung der paritätischen Mitbestimmung abzielen, zeigt sich i n der Begründung dieser Anträge 1 5 . Insbesondere auf das parlamentarische Verhalten derjenigen Abgeordneten, die unmittelbare DGB-Wahlhilfe erhalten haben, kann dieser Druck Auswirkungen haben. 9
Vgl. Völpel, Wirtschaftsgruppen, S. 80. Vgl. Vetter, W d A Nr. 3, v o m 19.1.1973, S. 8. 11 D G B — GB, S. 29. 12 Vgl. W d A Nr. 3 v o m 19.1.1973, S. 8: „Mancher unter ihnen ist sich noch nicht bewußt, daß hinter i h m eine Millionenorganisation steht, die jederzeit zur Unterstützung bereit i s t . . . " 13 Vgl. D P G — GB (1969 - 1971), S. 971. 14 10. GTP — I G M , Bd. I I , Anträge u n d Materialien, S. 246; der I G M e t a l l gehören 35 Abgeordnete des 7. Bundestages an. 15 Vgl. 10. GTP — I G M , Bd. I I , Anträge u n d Materialien, Entschließung I V , S. 587. 10
§
Gewerkschaften u n d P a r e n
69
B. Gewerkschaftsmitglieder in den Länderparlamenten I m H i n b l i c k a u f die G e w e r k s c h a f t s z u g e h ö r i g k e i t der P a r l a m e n t a r i e r b i e t e n die L a n d t a g e e i n unterschiedliches B i l d . E i n e n ä h n l i c h großen A n t e i l a n G e w e r k s c h a f t s m i t g l i e d e r n u n t e r d e n A b g e o r d n e t e n w i e der B u n d e s t a g w e i s t der L a n d t a g des g r ö ß t e n Bundeslandes N o r d r h e i n Westfalen auf 10: SPD
CDU
FDP
Abgeordnete insgesamt
94
95
8
DGB
74
12
1
Fraktionslose 3
gesamt
200 87
DAG
2
2
DBB
1
1
GdP
3
CGD
3 1
1
gesamt
77
16
davon hauptamtl. bzw. beurlaubte Gew.-Sekretäre und Vorstandsmitglieder:
19
7
1
—
94
26
Unter den 87 Abgeordneten, die einer DGB-Gewerkschaft angehören, n i m m t die Ö T V m i t 27 Mitgliedern den 1. Rang ein, es folgen die I G M e t a l l m i t 15 und die GEW m i t 11 Mitgliedern. E i n fast ebenso hoher Gewerkschaftsanteil findet sich unter den Parlamentariern des Landtags von Schleswig-Holstein. V o n den 73 Abgeordneten sind 32 M i t g l i e d einer Gewerkschaft: 30 gehören einer DGB-Gewerkschaft an, einer dem DBB, einer der D A G ; davon gehören 29 Mitglieder der S P D - F r a k tion an, 3 der CDU-Fraktion. Insgesamt sind 11 Landtagsabgeordnete i n den Gewerkschaften tätig, 6 hauptamtlich, 4 ehrenamtlich 1 7 . Der Landtag von Rheinland-Pfalz hat 100 Abgeordnete. 17 sind gewerkschaftlich organisiert, 16 SPD-Ab geordnete u n d 1 C D U - A b geordneter, 4 üben ein gewerkschaftliches A m t aus 18 . 16 Die Übersicht ist zusammengestellt nach den Angaben i m Handbuch des Landtags von Nordrhein-Westfalen, 7. Wahlperiode, Biographische Angaben der Mitglieder des Landtags, Stand: 1. 4.1972. 17 Schreiben des Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Landtags an den Verf. v o m 20. 2.1973. 18 Schreiben des Präsidenten des Landtags Rheinland-Pfalz an den Verf. v o m 8. 3.1973.
70
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
Eine zahlenmäßig erheblich schwächere Position haben die Gewerkschaften i m Bayerischen Landtag. V o n insgesamt 204 Abgeordneten gehören 21 einer Gewerkschaft an 1 9 , davon 20 der SPD-Fraktion (70 Abgeordnete), einer der CSU-Fraktion (124 Abgeordnete). 20 Abgeordnete sind oder waren Inhaber eines gewerkschaftlichen Amtes. C. Die institutionelle Beteiligung der Gewerkschaften
Neben der Zusammenarbeit und interdependenten Einwirkung von Gewerkschaften, Parteien und Fraktionen ist die Teilnahme an Bundestags- und Landtagshearings eine weitere A r t der direkten parlamentarischen Einflußnahme, § 73 I I BT-GeschO 20 . Nicht nur zu arbeits- und sozialpolitischen Anhörungen 2 1 , sondern auch zu Themen anderer A r t wurden die Gewerkschaften eingeladen 22 , z.B. zur Anhörung zur Notstandsgesetzgebung, zum HRG-Entwurf 2 3 oder zu Fragen des Inhalts und der Organisation der Juristenausbildung 24 , zum Schleswig-Holsteinischen Schulverwaltungsgesetz und zum Hochschulgesetz25. § 10. Gewerkschaften und Bundesregierung Wichtiger als das Parlament sind als Adressaten des Verbandseinflusses Regierung und Verwaltung 2 6 . Denn die für die Verbände interessanten Fragen gehören meist nicht zur Parlamentszuständigkeit, weil es sich entweder um Einzelfallregelungen handelt oder um Sachgebiete, die auf dem Verordnungsweg erledigt werden 27 , oder um längerfristige, komplexe Planungsaufgaben 28 . Ein weiterer Grund ist, daß selbst bei 19 Schreiben des Landtagsamtes d. Bayerischen Landtags an den Verf. v o m 8. 3.1973. 20 F ü r die Länder vgl. etwa § 20 I S. 2 GeschO d. Hess. Landtags; §32 I I GeschO d. Landtags von Baden-Württemberg; § 93 I I GeschO d. Niedersächs. Landtags. 21 Vgl. etwa D G B — GB (1969 - 1971), S. 116, 144, 180. 22 D G B — G B , S. 235. 23 D G B — GB, S. 235. 24 D G B — GB, S. 412. 25 Schreiben des Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Landtags an d. Verf. v o m 20. 2.1973; eine verstärkte Mitarbeit der Gewerkschaften i n den Ausschüssen fordert eine Gewerkschaft i n Niedersachsen, speziell bei Beratungen beamtenrechtl. Regelungen sollten regelmäßig Vertreter der Spitzenorganisationen geladen werden, u m eine „echte Beteiligung" zu gewährleisten, vgl. F A Z v o m 21. 3.1973, S. 6. 26 Hennis, ebd., S. 191 f.; Weber, Sozialpartner, S. 257; Huber, Verbände, S. 23 (für die Verhältnisse i n der Schweiz) ; Th. Ellwein, Regierungssystem, S. 163 f., 273 ff. 27 Vgl. Hennis, Politik, S. 190; v. Beyme, Interessengruppen, S. 107, 113. 28 Vgl. Knöpfle, DVB1. 1974, S. 710 sowie die Referate von Schmidt u. B a r telsperger, V V D S t R L 33, S. 183 ff., 221 ff.
§ 10. Gewerkschaften u n d Bundesregierung
71
Gesetzen, die nicht weiter durch Regierung und Verwaltung ausfüllungsbedürftig sind, sich eher die Regierung als Einflußadressat anbietet als das Parlament, denn die meisten Gesetzesinitiativen gehen von der Regierung aus, und die „Entscheidungssschlacht ist geschlagen, wenn die Vorlage von der Bundesregierung an den Bundesrat geht" 2 9 . Ebenfalls ist die Besetzung der Ministerien und der Ministerialbürokratie für die Verbände von entscheidendem Interesse 30 . Ebenso wie i m Bundestag haben die Gewerkschaften i n der Bundesregierung direkte und indirekte politische Einflußmöglichkeiten. 1973 gehören außer den 4 FDP-Ministern alle der SPD angehörenden Minister 31 sowie der Bundeskanzler einer DGB-Gewerkschaft an 32 . Möglichkeiten zur indirekten Einflußnahme auf die Regierung bieten sich durch Gespräche zwischen Gewerkschaftsführung und Regierung, die vor allem durch die „Parlamentarischen Verbindungsstellen" geführt oder vermittelt werden, durch die Tätigkeit der den Gewerkschaften angehörenden Parlamentarier und sonstigen Parteimitglieder sowie durch die Verbandsarbeit i n den Beratungsgremien der Ministerien. I n über 50 Beiräten, Ausschüssen, Arbeitskreisen, Kommissionen und dergleichen bei nahezu allen Bundesministerien sind Wirtschaftsverbände vertreten, i n den weitaus meisten Fällen auch die Gewerkschaften 33 . Die besondere Bedeutung dieser Beiratstätigkeit der Gewerkschaften liegt darin, daß sie nicht nur über Konsultationen Einfluß auf die ausführende Regierungstätigkeit, sondern auch auf das parlamentarische „Vorfeld", die Vorbereitung von Gesetzesentwürfen, ausüben können. Neben diesen Institutionen auf Ministerialebene haben die Gewerkschaften i n zahlreichen Verwaltungsgremien der nachgeordneten Behörden nicht allein Beratungs-, sondern auch oft Verwaltungsfunktionen 34 .
26 So ein Kenner der Materie, zitiert nach Hennis, Politik, S. 192; Ellwein, a. a. O. 30 v. Beyme, Interessengruppen, S. 109 f.; Weber, Sozialpartner, S. 257; Eschenburg, Ämterpatronage, S. 66 ff. 31 Vgl. ζ. Β. H. Schmidt, Stellv. SPD-Vorsitzender u. Bundeskanzler: „ W i r Sozialdemokraten sind fast alle Mitglied, aktives M i t g l i e d unserer jeweiligen Gewerkschaft." 9. D G B — B K P , S. 21. 32 Vgl. die Übersicht i n W d A , Nr. 49 v o m 8. 12.1972, S. 8; ähnlich verhält es sich ζ. B. i n der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen: 6 von 10 K a b i nettsmitgliedern gehören einer DGB-Gewerkschaft an. E i n Minister ist ehrenamtliches M i t g l i e d des Hauptvorstandes der Gewerkschaft Gartenbau, L a n d wirtschaft u n d Forsten (Deneke), Schreiben d. Landespresse- u n d Informationsamtes an den Verf. v o m 8. 3.1973. 33 Vgl. dazu Völpel, Wirtschaftsgruppen, S. 84 ff. ; Hirsch, Gewerkschaften, S. 160 ff. 34 s. o. § 4, Tabellen 2, 3, 4.
72
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
V o n dieser vielgestaltigen und einflußreichen A r b e i t sind i m D G B - G e schäftsbericht 1969 - 1971 folgende Beratungsgremien 3 5 f ü r das Kabinett oder einzelne Ministerien e r w ä h n t 3 6 : Sozialpolitische Gesprächsrunde Sachverständigenkommission zur Weiterentwicklung der sozialen K r a n k e n versicherung Kommission Arbeitsgesetzbuch Kommission Sozialgesetzbuch Beratungsausschuß nach dem Maschinenschutzgesetz Kommission zur Vereinheitlichung der Verfahrensordnungen Steuerreformkommission Beirat f ü r Raumordnung Konzertierte A k t i o n , Lenkungsausschuß zur Vorbereitung der konzertierten Aktion Arbeitsgruppe zum Bildungsurlaub beim Bundesarbeitsministerium 3 7 Bundesausschuß f ü r Berufsbildung 3 8 Bund-, Länder-Kommission (Teilnahmerecht von Vertretern des Bundesausschusses f ü r Berufsbildung) 3 9 Sachverständigenkommission, Kosten u n d Finanzierung der beruflichen Bildung40 Wirtschafts- u n d Verbraucherausschuß der Stiftung Warentest 4 1 Arbeitskreis „Belange der F r a u i m Wohnungs- u n d Städtebau" beim Bundesministerium f ü r Städtebau u n d Wohnungswesen 4 2 Beirat f ü r die Erstellung eines Gutachtens zur Frage des Besoldungsrückstandes 43 Beirat f ü r die Bundesakademie für öffentliche V e r w a l t u n g 4 4 Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstrechts 4 5 Beirat f ü r Innere F ü h r u n g beim Bundesministerium f ü r Verteidigung 4 6 Wehrstrukturkommission 4 7 Kommission zur Neuordnung der Ausbildung und B i l d u n g i n der Bundeswehr48 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Z u m T e i l wurden sie wegen Aufgabenerledigung wieder eingestellt. Vgl. S. 116, 126, 140, 181, 188, 208. S. 236. S. 273. S. 272. S. 278. S. 343. S. 344. S. 448. S. 448. S. 449. S. 451. S. 451. S. 451.
§ 1 . Gewerkschaften und
iatie
73
I n ähnlicher Dichte werden die Landesregierungen von Kommissionen, Ausschüssen und dergleichen umrankt. Die Hessische Landesregierung ζ. B. w i r d von insgesamt 73 Gremien beraten, i n 37 davon wirken Gewerkschaftsvertreter direkt mit 4 9 . Der DGB ist nicht nur i n der Lage, Einfluß auf Bundes- und Landesebene geltend zu machen, sondern nutzt auch die Möglichkeiten politischen Wirkens, die der föderative Aufbau der Bundesrepublik und die notwendige M i t w i r k u n g des Bundesrates an der Bundespolitik bieten. Die Arbeit der DGB-Abteilung „Beamte" ist dafür ein Beispiel 50 : Nachdem die Versuche des DGB, einen Beschluß des Bundestages zur Änderung von Art. 75 GG zur einheitlichen Regelung von Besoldungsfragen für den öffentlichen Dienst zu verhindern, fehlgeschlagen waren, wandte sich der DGB nunmehr an den Bundesrat. Eingaben der DGBLandesbezirke bei den Landesregierungen konnten u. a. dazu beitragen, daß der Bundesrat zunächst den Vermittlungsausschuß anrief und später das Gesetz zur Änderung des GG vollends ablehnte.
§ 11. Gewerkschaften und Judikative
Neben der institutionellen Beteiligung der Gewerkschaften an den Arbeits- und Sozialgerichten 51 verdient der Versuch der Gewerkschaften — namentlich der DGB-Gewerkschaften — Beachtung, durch öffentliche Diskussion und K r i t i k politisch auf die Rechtsprechung Einfluß zu nehmen. Seit langem attackieren die DGB-Gewerkschaften die Rechtsprechung des B A G zum Arbeitskampf recht; sie fordern das Verbot der Aussperrung 52 und kritisieren, daß das Rechtswidrigkeitsverdikt über wilde Streiks den Gewerkschaften die Unterstützung solcher Aktionen wegen der Drohung einer Verpflichtung zum Schadenersatz erschwere 53 . Zum Thema „Streik und Aussperrung" veranstaltete die I G Metall vom 14. bis 16. 9.1973 eine Arbeitstagung i n München, wozu alle namhaften Wissenschaftler des Arbeitsrechts eingeladen, jedoch nur Gegner der Aussperung als Referenten eingesetzt wurden 5 4 . I m Verlauf dieser Tagung wurde erneut unter der Schirmherrschaft einer DGB-Gewerkschaft unmißverständliche K r i t i k am B A G formuliert, zum Teil i n äußerst scharfer A r t . I n diesem Zusammenhang stehen auch die Äuße49
Vgl. Landtagsdrucksache 7/1001 v o m 15.11.1971. D G B - G B , S. 436. 51 S. o. § 4 Tabelle 3. 52 Vgl. etwa F A Z v o m 17. 9. 1973, S. 15; Vetter, G M H 1972, S. 602 f.; Schwegler, G M H 1972, S. 299 ff. 53 Vgl. ζ. B. F A Z v o m 14. 9.1973, S. 15. 54 Vgl. F A Z v o m 14. 9.1973, S. 15; 17. 9.1973, S. 15, E. G. Vetter, F A Z v o m 18. 9.1973, S. 13. 50
74
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
rungen der GEW hinsichtlich des Urteils des BVerfG 5 5 zum Niedersächsischen Vorschaltgesetz zum Hochschulgesetz; i n scharfem Ton kritisiert die GEW-Führung dieses Urteil vor der Presse 56. § 12. Gewerkschaften und politische Parteien
Als bedeutendes Medium zur Transformation der politischen Vorstellungen der Gewerkschaften i n die gesamtstaatliche Willensbildung dienen die Parteien. A. Das Selbstverständnis der Gewerkschaften
Nach gewerkschaftlichen Vorstellungen sollen die Parteien die Verantwortung für die Gesamtgesellschaft tragen 57 . Die Position der Gewerkschaften zu diesem umfassenden politischen Aufgabenbereich der Parteien w i r d unterschiedlich beurteilt und reicht bis zur Feststellung, daß bei der Wahrnehmung politischer Interessen kein Unterschied zwischen Parteien und Gewerkschaften bestehe 58 . Parteipolitische Unabhängigkeit der Gewerkschaften ist i n den meisten Satzungen vorgeschrieben, § 2 Nr. 2 b DGB-Satzung; § 2 Satzung der I G Metall, § 3 DAG-Satzung; § 1 I I DBB-Satzung 59 . Der DGB betont, daß diese Unabhängigkeit jedoch keineswegs m i t parteipolitischer Neutralität gleichzusetzen sei 60 . Die Satzung der i m DGB organisierten DPG allerdings sieht noch parteipolitische Neutralität, § 2 I I I , vor; ein Änderungsantrag m i t dem Inhalt, Neutralität durch Unabhängigkeit zu ersetzen, wurde auf dem 9. Kongreß der DPG 1968 mit der Begründung abgelehnt, neutral besage unparteiisch und bedeute das Verbot, sich m i t parteipolitischen Angelegenheiten zu befassen 61 Die alte Satzung der I G Metall verpflichtete die Gewerkschaft ebenfalls zu parteipolitischer Neutralität, wurde jedoch auf dem 4. Gewerkschaftstag 1956 geändert; die Umformulierung i n Unabhängigkeit sei „sehr glücklich und zweckmäßig" 6 2 . Diese Satzungsdiskussionen zeigen, daß die genannten DGB-Gewerkschaften mit Ausnahme der DPG die satzungsgemäße Möglichkeit haben, parteipolitisch Stellung zu beziehen. 55
BVerfGE 35, 79 = B V e r f G N J W 1973, S. 1176 ff. Vgl. F A Z v o m 30. 5.1973, S. 8. 57 Vgl. § 6 D . 58 Vgl. § 6 E . 59 Vgl. auch die Präambel des DGB-Grundsatzprogramms. 60 Vgl. zur parteipolitischen Neutralität als M e r k m a l des Koalitionsbegriffs Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 297 f.; dagegen Maunz (Dürig-Herzog), A r t . 9, Rdnr. 100; v. Münch, B K , Zweitbearb., A r t . 9, Rdnr. 132. 61 9. D P G - K P , Anlagen, S. 7 f. 62 Ebd., S. 340. 56
§12. Gewerkschaften u n d politische Parteien
75
Allerdings soll die Grenze gewerkschaftlicher Aktivitäten dieser A r t i m Gebot der „weltanschaulichen, religiösen und politischen Toleranz" liegen 63 , zu der die Gewerkschaften nach eigener Aussage auch ententschlossen sind 64 . Der für Interessenverbände charakteristische politische Wille, auf Parteien Einfluß zu nehmen, w i r d also bei den Gewerkschaften nicht durch die Pflicht zur parteipolitischen Neutralität gebremst. Die Möglichkeit, „sich der Parteien zu bedienen" 65 , kann auf diese Weise m i t einer entsprechenden Gegenleistung durch die Gewerkschaften i n Form klarer Stellungnahmen zugunsten derjenigen Parteien gekoppelt werden, von denen sich die Gewerkschaften Unterstützung versprechen. Selbstbewußt kann Vetter i n seiner Eröffnungsrede vor dem 9. Bundeskongreß des DGB feststellen 66 : „Und die Parteien haben w i r daran zu messen, wie sie sich gegenüber den Forderungen der Arbeitnehmer verhalten." B. Gewerkschaftliche Unterstützung politischer Parteien
Die DGB-Gewerkschaften sind eng mit der SPD verbunden 67 . Zwar existiert eine Arbeitsgemeinschaft der DGB-Mitglieder i n den CDUSozialausschüssen, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft wurde die stellvertretende DGB-Vorsitzende Maria Weber 68 ; zwar rufen i n letzter Zeit CDU-Landesverbände ihre Mitglieder zum Eintritt in die Gewerkschaften auf 69 , aber die Kopplung zwischen DGB-Gewerkschaften und SPD ist erheblich enger. So konnte der IG-Metall-Vorsitzende Loderer feststellen, daß die Gewerkschaft m i t der SPD „fast ein Jahrhundert Hand i n Hand gegangen" sei 70 . A u f dem Bundesparteitag der SPD i m A p r i l 1973 wurde ein aktiver Gewerkschaftsführer, der Vorsitzende der I G Chemie, Papier, Keramik, Fitt, in den SPD-Partei vorstand gewählt 7 1 ; die ununterbrochene Anwesenheit des DGB-Vorsitzenden Vetter auf dem Parteitag sowie die maßgebliche M i t w i r k u n g des Vorstandsvorsitzenden der gewerkschaftseigenen Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) an der Vorbereitung 7 2 sind weitere Hinweise auf die Nähe des DGB zur SPD. Die meisten der haupt- oder ehrenamtlichen Gewerkschaftsfunktionäre sind Mitglieder der SPD. 63
Präambel des DGB-Grundsatzprogramms. Eröffnungsrede von Vetter, 9. D G B - B K P , S. 7. 65 Bericht der DPG-Kommission, Gewerkschaftliche Praxis 1971, S. 150. 60 9. D G B - B K P , S. 7. 67 Vgl. etwa Th. Ellwein, Regierungssystem, S. 163; sowie die Beispiele bei Varain, Interessenverbände, S. 307 f. 68 Vgl. den Bericht zur letzten Bundestagung der Arbeitsgemeinschaft, F A Z vom 14. 5.1973, S. 4. 69 Ζ. B. der CDU-Landesverband Rheinland, vgl. F A Z vom 11. 4.1973, S. 3. 70 F A Z v o m 25.10.1972, S. 5. 71 F A Z v o m 18. 4.1973, S. 15. 72 F A Z v o m 13. 4.1973, S. 4. 64
76
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
V o n insgesamt 9 geschäftsführenden Vorstandsmitgliedern des D G B - B u n desvorstandes gehören n u r 2 der C D U a n 7 3 ; i n den weiteren DGB-Gliederungen u n d den Einzelgewerkschaften w i r d der C D U - A n t e i l noch geringer: DGB-Bundesausschuß: 7 von 102. Geschäftsführende Mitglieder der DGB-Landesbezirke: 5 von 27. DGB-Kreisausschuß-Vorsitzende: 15 von 260. Geschäftsführende Mitglieder der Vorstände der 16 DGB-Gewerkschaften: 8 von 126. Der A n t e i l der CDU-Mitglieder unter den Funktionären sinkt m i t zunehmender Nähe zur gewerkschaftlichen Mitgliederbasis, i n den DGB-Kreisausschüssen u n d den Einzelgewerkschaften beträgt er n u r ca. 6 °/o.
Die nicht nur ideologische Verbindung mit der SPD äußert sich insbesondere i n — zumindest ideellen —Wahlunterstützungen des DGB und seiner Gewerkschaften zugunsten der SPD; ob der DGB darüber hinaus finanzielle oder sonstige materielle Hilfe leistet, läßt sich mangels klarer Beweise nicht beantworten 74 . Bereits zur Bundestagswahl 1953 verbreitete der DGB einen Wahlaufruf 7 5 , i n dem er zwar verdeckt, aber doch erkennbar zur Wahl von SPD-Kandidaten aufforderte. Dieser Aufruf wurde scharf kritisiert und hatte wenig Erfolg. Auch i m Bundestagswahlkampf 1972 ergriff der DGB Partei 7 6 : Führende Gewerkschaftsfunktionäre plädierten offen für die Fortsetzung der SPD/FDP-Koalition, die DGB-Zeitungen unternahmen SPD-Sympathiewerbung und attackierten die CDU/CSU-Opposition. I n einer breit angelegten Anzeigenkampagne unterbreitete der DGB den Parteien vor der Öffentlichkeit bestimmte Fragen, die sog. „Prüfsteine" 7 7 . Diese von der Mitbestimmung über die Vermögensbildung und Bildungsreform bis zum Umweltschutz weitgespannte Parteienbefragung war jedoch so gefaßt, daß die SPD nahezu alle Prüfsteine elegant oder zumindest m i t Mühe überspringen konnte, die FDP einige, während für die CDU/CSU aber kaum eine „Prüfung" positiv ausfallen konnte. Dies w i r d besonders deutlich an dem vom DGB zusammengestellten 73 Die Angaben sind einem Schreiben der CDU-Bundesgeschäftsstelle — Gewerkschaftsreferat — v o m 20. 3.1973 an den Verf. entnommen. Entsprechende Anfragen bei den Bundesvorständen der SPD u n d der FDP blieben ohne A n t w o r t bzw. Aufschluß. 74 I m Bundestagswahlkampf 1972 leistete der D G B nach eigenen Angaben keine finanzielle Hilfe, Schreiben an den Verf. v o m 14. 3.1973. 75 Vgl. Schuster, DGB, S. 95; Triesch, Macht der Funktionäre, S. 270. 76 Vgl. dazu Neumair, Die Zeit Nr. 44 v o m 3.11.1972, S. 3; „Stern" Nr. 49, v o m 26.11.1972, S. 32: „So parteilich wie bei diesen Wahlen engagierte sich der DGB nie zuvor." 77 DGB-Bundestagswahlen 1972 — Material zu unseren Prüfsteinen, E r läuterungen — Forderungen — Fragen; Vetter, G M H 1972, S. 601 ff.
§ 1 . Gewerkschaften u n d
enl
77
„Material zu unseren Prüfsteinen", das jeweils die DGB-Forderungen m i t den Parteiprogrammen oder sonstigen Äußerungen der Parteien detailliert vergleicht. Eine ähnliche A k t i o n veranstaltete schon die ÖTV zur Bundestagswahl 195378. Auch vor Beginn der Wahlzeit von 1972 gaben die Gewerkschaften des DGB ihrer Sympathie zur SPD/FDP-Regierungskoalition mehrfach Ausdruck. Als von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 26. A p r i l 1972 ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen den Bundeskanzler und SPDVorsitzenden Brandt angekündigt wurde, das bei der Abstimmung am 28. A p r i l aber scheiterte, w i r k t e n auch DGB-Organisationen an den daraufhin stattfindenden Protestdemonstrationen gegen diesen Schritt der CDU/CSU und an Sympathiestreiks zugunsten der Regierung maßgeblich m i t — teils passiv, teils initiativ 7 9 . Diese und ähnliche Aktionen sind geeignet, politische Parteien intensiver i n das Einflußfeld der Gewerkschaften einzubeziehen und den Gewerkschaften eine verbreiterte Basis für politische Handlungen zu bieten 80 . § 13. Gewerkschaften und Öffentlichkeit
Die unmittelbare Pressearbeit der Gewerkschaften i n gewerkschaftseigenen Zeitschriften, Zeitungen und Broschüren verfolgt zwei Ziele 8 1 : Information und Impulse zur Meinungsbildung i m Rahmen umfassender Mitgliederbetreuung und Mitgliederwerbung einerseits, die Einflußnahme auf die Bildung der öffentlichen Meinung und damit die Öffentlichkeit andererseits, die mittelbar auf die Staatswillensbildung, insbesondere auf die Verwaltung einwirkt 8 2 . Bei der mittelbaren Pressearbeit, nämlich der Einwirkung auf gewerkschaftsfremde Medien steht der letztgenannte Zweck stärker i m Vordergrund. A. Unmittelbare Pressearbeit
Der DGB und seine Einzelgewerkschaften verfügen über 125 verschiedene Publikationen mit einer monatlichen Auflagenhöhe von 12,5 Millionen Exemplaren nach Angaben des DGB von 197183, knapp 14 Millionen Exemplaren nach einer Untersuchung von Horst Borghs aus dem Jahre 197284. 73
W d A v o m 28. 8.1953; vgl. Triesch, Macht der Funktionäre, S. 270. Vgl. FR v o m 26. 4. 1972, S. 1 f.; v o m 27. 4., S. 1, 4, 13; v o m 28. 4., S. 9; F A Z v o m 27. 4.1972, S. 1, 4. 80 Vgl. „Stern" Nr. 49 v o m 26.11.1972, S. 32. 81 Vgl. Schuster, DGB, S. 121 ; D B B - G B 1972, S. 80. 82 Vgl. etwa Knöpfle, DVB1 1974, S. 711. 83 Vgl. Schuster, DGB, S. 121. 84 Meinungsbildung f ü r Millionen; Völpel, Wirtschaftsgruppen, S. 43 schätzt die Auflage auf ca. 18 Millionen Exemplare. 79
78
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme V o m DGB-Bundesvorstand werden herausgegeben:
— Die Wochenzeitung „ W e l t der A r b e i t " — Das Jugendmonatsmagazin „ r a n " m i t einer Auflage von 100 000 Exemplaren85 — Die Jugendfunktionärszeitschrift „Solidarität", m i t einer Auflage von monatlich über 25 000 Exemplaren — „Der Deutsche Beamte" — „Berufliche Bildung", m i t einer Auflage von 32 000 — „Gewerkschaftliche Monatshefte" — Die Mitbestimmungszeitung „ p r o " m i t einer Auflage von 1,5 M i l l i o n e n Exemplaren 8 6 — „Berufliche Bildung", Auflage 32 000 Exemplare — Die Funktionärszeitschrift „Die Quelle"
Allein der DGB-Bundesvorstand machte i m Jahre 1970 für die Pressearbeit Aufwendungen i n Höhe von ca. 1 400 000,— DM 8 7 , die I G Metall ca. 8 500 000,— DM 8 8 , die I G Chemie, Papier, Keramik 1 500 000,— DM 8 9 . Insgesamt werden annähernd 31 000 000,— D M i m Monat für die Veröffentlichungen des DGB und der Einzelgewerkschaften ausgegeben, je Mitglied und Monat D M 4,4790. Der DBB gibt als Spitzenorganisation die Monatszeitschrift „Der Beamtenbund" m i t einer Auflage von 700 000 Exemplaren sowie für Mitarbeiter und Amtsinhaber die Publikation „dbb-intern" m i t 30 000 Exemplaren heraus, ferner die DBB-Nachrichten für DBB-Führungskräfte. Die 49 Periodika der Einzelgewerkschaften des DBB erreichen insgesamt eine Auflage von ca. 700 000 Exemplaren 91 . Die Monatszeitschriften „Der Angestellte" und „jugendpost" sind Publikationen der DAG; für ehrenamtliche Mitarbeiter erscheint die Zeitung „Der Standpunkt" 9 2 . I m Jahre 1970 wandte die D A G rd. 3 M i l lionen D M für die Presse- und Werbungsarbeit auf 93 . B. Mittelbare Presse- und Öffentlichkeitsarbeit 94
DGB-eigene Nachrichtendienste versorgen mehrmals täglich Redaktionen von Presse, Funk und Fernsehen m i t Nachrichten, Kommenta85
D G B - G B (1969 - 1971), S. 371. D G B - G B , S. 105. 87 Vgl. Kassenbericht f ü r das Jahr 1970, D G B - G B , S. 44. 88 I G - M e t a l l - G B (1968 - 1970), Anhang nach S. 393. 89 GB (1969 - 1971), S. 282. 90 Vgl. Borghs, Meinungsbildung f ü r Millionen, S. 36 f. 91 Vgl. D B B - G B (1972), S. 80; Schreiben des D B B an Verf. v o m 26. 3.1973. 92 D A G - T B (1967 - 1971), S. 122 f. 93 Vgl. Anlage zum Finanzbericht. 94 Vgl. dazu D G B - G B , S. 24 ff., 109 ff.; I G M - G B , S. 33 ff.; DPG-GB, S. 966 ff., D B B - G B , S. 79 ff. 86
§ 1 . Gewerkschaften und
einh
79
ren und Stellungnahmen und informieren auch Parteien, Verbände und Personen der Wirtschaft und Wissenschaft 95 . DGB und DGB-Gewerkschaften sind m i t 300 000,— D M am Gesellschaftskapital der dpa (Deutsche Presse-Agentur) beteiligt* 6 . Zahlreiche von den Gewerkschaften veranstaltete Pressekonferenzen sind weitere M i t t e l zur Propagierung gewerkschaftlicher Vorstellungen 97 . Insbesondere die modernen Massenmedien Hörfunk und Fernsehen werden von den Gewerkschaften durch Interviews, eigene Beiträge und das Zusammenwirken m i t den Redaktionen i n ihren Dienst gestellt — bisweilen auch i n einer Form, die dem Sensationsinteresse breiter Bevölkerungsschichten entgegenkommt 08 . I n den Vordergrund des öffentlichen Interesses rücken gewerkschaftliche Aussagen meist aus Anlaß von Gewerkschaftstagen und -kongressen.
§ 14. Gewerkschaften und Arbeitnehmer
Die Gewerkschaftsarbeit gliedert sich i n die externe Wahrnehmung (Vertretung) von Arbeitnehmerinteressen und die interne Betreuung von Arbeitnehmern. A. Personeller und materieller Umfang der Interessenvertretung
Das DGB-Grundsatzprogramm formuliert i n der Präambel: „Als gemeinsame Organisation der Arbeiter, Angestellten und Beamten nehmen der DGB und die i n ihm vereinten Gewerkschaften die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen aller Arbeitnehmer und ihrer Familien wahr und dienen den Erfordernissen des Gesamtwohls." Dieser über die satzungsgemäße Interessenvertretung der Mitglieder hinausgehende umfassende Gruppenvertretungsanspruch w i r d auch heute wieder entschlossener betont 99 und m i t der Legitimation zur Vertretung der Mitglieder verwoben 100 . Dieser personell weitreichende Vertretungsanspruch ist ebenso materiell umfassend: A u f die Tatsache, daß nach Auffassung des DGB 1 0 1 nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch die Lebensbedingungen der Arbeitnehmerschaft, also alle Lebensbereiche dieser Gruppe Gegenstand 95
D G B - G B , S . 25. D G B - G B , S. 110. 97 Vgl. D G B - G B , S. 25; I G M - G B , S. 36 f.; D A G - T B , etwa S. 257. 98 Wie etwa die Kampagne der GdP gegen angebliche Mißstände bei der Ausbildung i m Bundesgrenzschutz, vgl. dazu F A Z v o m 6. 3.1973, S. 2; Deutsche Zeitung v o m 16. 3.1973, S. 2; F A Z v o m 22. 3.1973, S. 1. 99 Vetter, 9. D G B - B K P , S. 34. 100 Ebd., S. 167. 101 Der B u n d u n d die Einzelgewerkschaften vertreten dabei i m wesentlichen die gleiche Haltung, von einigen Nuancen abgesehen. 96
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
80
gewerkschaftlicher Tätigkeiten sein sollen, wurde bereits oben 102 verwiesen. Dies gilt i n engeren Grenzen auch für die D A G und den DBB. Zur materiellen Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen zählen auch die verbandsinternen Vorbereitungen für die externe politische Arbeit (Gewerkschaftstage, Kongresse, Funktionärsschulungen usw.). B. Die verbandsinterne Betreuung von Arbeitnehmern
1. Betriebsbezogene
Arbeit
Innerhalb des DGB gehört die betriebsbezogene Arbeit nicht zur Zuständigkeit des Bundes, sondern der Einzelgewerkschaften. Als Beispiel dient wiederum die mitgliederstärkste DGB-Gewerkschaft, die I G Metall. Die bedeutsamste betriebs- und berufsbezogene gewerkschaftliche Betreuung ist die Unterstützung der Mitglieder bei Streik und Aussperrung, § 12, 1 a) Satzung der I G Metall, daneben steht die Unterstützung für solche Mitglieder, die infolge gewerkschaftlicher Tätigkeit entlassen oder arbeitslos werden („Gemaßregeltenunterstützung", § 12, 1 b), 14), für Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit sowie die Gewährung von Rechtsschutz, § 12, 1 c), g) 1 0 3 — eine Aufgabe, die darüber hinaus auch vom DGB und seinen Untergliederungen erfüllt wird 1 0 4 . Nicht nur Gewerkschaftsmitglieder als Adressaten hat die Tätigkeit der gewerkschaftlichen Vertrauensleute 105 und Betriebsräte i m Auge: die Betreuung der gesamten Belegschaft steht dabei i m Vordergrund 1 0 0 . Einen besonderen Platz nehmen die Aufklärungsarbeiten über Arbeitsschutzmaßnahmen ein 1 0 7 . Ähnliche oder gleiche Fürsorge- und Unterstützungsmaßnahmen gewährt die DAG, z.B. Rechtsschutz 108 , § 5 DAG-Satzung, Ruhestands-, Alters-, Hinterbliebenen- und Heiratsbeihilfen gem. § 6 DAG-Satzung. 2. Gewährung von Sozialleistungen Als weitere Variante gewerkschaftlicher Schutzfunktion schließen 13 DGB-Gewerkschaften und die D A G für ihre Mitglieder eine Freizeit-Unfallversicherung ab 109 . Darüber hinaus gewährt z.B. die I G 102
Vgl. § 6 C . I G M - G B , S. 281 ff. 104 D G B - G B , S. 149. 105 Vgl. dazu Nickel, S. 223 ff. 106 Vgl. I G M - G B , S. 183 ff. 107 D G B - G B , S. 294 ff. 108 Vgl. D A G - T B , S. 223, 228, 238, 242, 249, 256. loa v g l . D G B - G B , S. 83; D A G - T B , S. 120. 103
§ 1 . Gewerkschaften u n d
einh
81
Metall Unterstützungen für Rentner, bei Sterbefällen und i n außerordentlichen Notfällen, § 12, 1 d)—f), § 16 DGB-Satzung. Der DBB beschränkt sich auf die Vermittlung von Versicherungen durch den DBB-eigenen Versicherungsdienst 110 . 3. Schulungs- und Bildungsarbeit Um die berufliche Ausbildung der Mitglieder bemühen sich der DGB mit dem Unterrichtsangebot des „Berufsbildungswerks des D G B " 1 1 1 und ein Teil der Einzelgewerkschaften m i t eigenen Fachschulen 112 , ebenso die D A G i n den Schulen des „Bildungswerks der D A G e.V." 1 1 3 , den Bildungskursen der „Deutschen-Angestellten-Akademie e. V.", dem „DAG-Technikum", der Veranstaltung von Berufswettkämpf en, den sog. „Scheinfirmen" und m i t regionalen Berufsbildungsmaßnahmen 114 . Allgemeinbildende Arbeit für die Mitglieder leistet der DGB i n der „Briefschule", die auch die Erwachsenenbildung umfaßt und i n einzelnen Kursen auf staatliche Prüfungen vorbereitet 115 . Allgemeine kulturelle Bemühungen ergänzen diese Arbeit 1 1 6 und erweitern sie, wie ζ. B. die Vergabe des jährlichen Kulturpreises des DGB 1 1 7 und des DAGFernsehpreises 118 . Auch und insbesondere vermitteln die DGB-Briefschule ebenso wie die Schulen des Bildungswerks der D A G und die örtlichen und regionalen Veranstaltungen politische und kulturelle Bildung 119 . Berufliche und allgemeine Bildung, insbesondere auch politische Bildung ist Zweck des „Bildungs- und Sozialwerks i m D B B " 1 2 0 . Den finanziell arbeit des DGB und Ausbildung tionären ein 1 2 1 . 110
und organisatorisch breitesten Raum i n der Bildungsund seiner Einzelgewerkschaften nimmt die Schulung von haupt- und ehrenamtlichen GewerkschaftsfunkZu diesem Zweck unterhält allein der DGB 5 Bundes-
D B B - G B , S. 90. D G B - G B , S. 397. 112 Ζ. B. die Fachschule der DPG, DPG-GB, S. 978. I m J u n i 1973 wurden mehrere Dozenten u n d Assistenten des Berufsfortbildungswerks m i t der Begründung gekündigt, m a n müsse wirtschaftlich kalkulieren, vgl. F A Z v o m 6. 7.1973, S. 9. Nunmehr sieht sich der D G B der kuriosen Situation gegenüber, daß er von diesen Arbeitnehmern v o r dem A r b G verklagt w i r d . 113 D A G - T B , S. 83. 114 Vgl. D A G - T B , S. 83, 84, 208, 223, 232, 238, 266. 115 Vgl. D G B - G B , S. 267 ff. 116 D G B - G B , S. 266. 117 D G B - G B , S. 259 f. 118 D A G - T B , S. 64. 119 D A G - T B , S. 82, 217, 238, 257. D B B - G B , S. 89 f. 121 Vgl. D G B -GB, S. 81 f., 242, 299. 111
6 Gießen
82
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
schulen 122 , an denen ein- oder mehrtätige Schulungskurse, Lehrgänge, Seminare u. ä. Veranstaltungen stattfinden; die Schulungsthemen reichen von arbeits- und wirtschaftspolitischen bis zu allgemeinpolitischen, insbesondere auch außenpolitischen Gegenständen 123 . Gewerkschaftsschulen der Einzelgewerkschaften betreiben ebenfalls Funktionärsschulung und -ausbildung i n vielfältiger Form und m i t umfangreichem Inhalt 1 2 4 . Außer der Arbeit i n den Schulen ergänzen örtliche und regionale oder auf Bundesebene stattfindende Bildungslehrgänge, Seminare 125 und Studienfahrten die Information und Schulung der Gewerkschaftsfunktionäre 126 . Neben der Vorbereitung auf die externe Interessenwahrnehmung und neben der internen Kommunikation und Willensbildung dienen die Sitzungen, Tagungen und Kongresse auch einem Schulungszweck. Einen bedeutsamen Stellenwert nimmt dabei die Schulung der Jugendfunktionäre ein 1 2 7 ; das DGB-eigene „Haus der Gewerkschaftsjugend" 1 2 8 sowie zahlreiche Jugendheime des DGB und der Einzelgewerkschaften 129 sind ein Zeichen für den besonderen Rang der Jugendarbeit; dabei spielt insbesondere die Schulung auf allgemeinpolitischen Sachgebieten eine besondere Rolle. Ziel ist die „Durchführung politischer und gewerkschaftlicher Bildungsarbeit nach fortschrittlichen Erkenntnissen, die junge Arbeitnehmer i n die Lage versetzt, für ihre politischen und gesellschaftlichen Interessen zu kämpfen" 1 3 0 . Die Aufgabe besonderer Jugendfunktionärslehrgänge 131 soll darin bestehen, Jugendlichen die Befähigung zu „kritischer Bewußtseinsbildung" zu vermitteln, damit sie „ihre Abhängigkeit i n richtigem Zusammenhang begreifen" 132 . Der DBB und die D A G stellen demgegenüber die Funktionärsausbildung mehr i n den Hintergrund 1 3 3 . Die D A G wendet weniger als 1 °/o, die I G Metall mehr als 4 % der Gesamtausgaben für die Schulung haupt122 D G B - G B , S. 246. 123
D G B - G B , S. 246 ff. Vgl. I G M - G B , S. 237 ff.; D P G - G B , S. 763 ff. 125 Insbesondere die Ost-West-Seminare, vgl. D G B - G B , S. 244 f. 126 Vgl. D G B - G B , S. 244 ff.; I G M - G B , nach S. 393 (Aufwands- u. Ertragsrechnung I I , 1). 127 D G B - G B , S. 351 ff., 371 f.; I G M - G B , S. 364 ff. 128 D G B - G B , S. 378. 129 DPG-GB, S. 763 ff. 130 Einer der „Leitsätze der Gewerkschaftsjugend", D G B - G B , S. 353. 131 I G M - G B , S. 364 ff. 132 I G M - G B , S. 365. 133 Vgl. etwa die k a u m nennenswerte Ausbildung von Presseobleuten und Werbern der D A G ; TB, S. 120. 124
§ 1 . Gewerkschaften und
i t e r
83
und ehrenamtlicher Funktionäre auf 1 3 4 . Die insbesondere i n der Jugendarbeit deutlich erkennbaren Politisierungstendenzen i m DGB scheinen offenbar auch auf die anderen Gewerkschaften überzugreifen: Versuche zur Politisierung gerade der Jugendarbeit sind auch i n der D A G festzustellen, wie dies aus einem Antrag der DAG-Bundesjugendkonferenz auf dem Bundeskongreß der D A G 1971 hervorgeht 1 3 5 : „Politische Bildungsarbeit, d. h. Aufklärung junger Arbeitnehmer über ihren Standort i n Staat und Gesellschaft hat die DAG-Jugend zu einem Schwerpunkt ihrer Aufgabenstellung und ihrer A k t i v i t ä t zu erklären. Verstärkt soll die DAG-Jugend Stellung nehmen zu politischen Problemen und i n exemplarischen gewerkschaftspolitischen Aktionen Politik transparent machen." Daß der Bundeskongreß diesen Antrag ablehnte, läßt die — jedenfalls gegenwärtigen — Bemühungen des D A G erkennen, diese Politisierung aufzuhalten. 4. Freizeit-
und
Ferienbetreuung
Die als Element der Schutzfunktion begriffene interne Mitgliederbetreuung befaßt sich nicht nur m i t der berufsbezogenen und gesellschaftspolitischen Stellung der Gewerkschaftsmitglieder, sondern auch m i t der Organisation der Freizeit. Ferien- und Freizeitgestaltung i n gewerkschaftseigenen Jugend- und Erholungsheimen des DGB, seiner Einzelgewerkschaften, des DBB und der D A G 1 3 6 sowie die Organisation sonstiger Freizeit-, Ferien- und Erholungsmöglichkeiten 137 für Gewerkschaftsmitglieder sind zu einem festen Bestandteil gewerkschaftlicher Mitgliederbetreuung geworden; allein die I G Metall wandte für Jugend- und Ferienheime sowie für sonstige Erholungsmaßnahmen i n den drei Jahren von 1968 bis 1970 finanzielle Mittel in Höhe von ca. 13 M i l lionen D M auf 138 .
134 Vgl. „Anlage zum Finanzbericht", D A G - T B ; I G M - G B , nach S. 393; n u r 8 Sonderseminare veranstaltete der D B B i m Jahr 1972, D B B - G B , S. 90. 135 10. D A G - B K P , S. 534. "β D G B - G B , S. 372 f.; I G M - G B , S. 435 ff.; D A G - T B , S. 106 f.; D B B - G B , S. 90. 137 D G B - G B , S. 374; „DAG-Reisen", D A G - T B , S. 233; der D B B unterhält einen eigenen Automobilclub u n d Reisedienst, D B B - G B , S. 90 f. 138 Vgl. I G M - G B , nach S. 393, I I , 6.
84
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme C. Das Gewerkschaftsbild bei Arbeitnehmern
Vom DGB veranlaßte repräsentative Umfragen unter den Arbeitnehmern ergeben folgendes Bild: 1. Notwendigkeit
der
Gewerkschaften
139
Frage: „Glauben Sie, daß die Gewerkschaften i n der heutigen Zeit notwendig sind, oder k a n n man auch ohne sie auskommen?" (infas-Repräsentativerhebungen, Bundesgebiet, Random-Auswahl) Die Gewerkschaften hielten f ü r notwendig i m : (in Prozent) Sommer 1964
Sommer 1965
Herbst 1966
Herbst 1967
Herbst 1968
Herbst 1969
Herbst 1970
Organisierte Arbeitnehmer
90
96
88
88
92
86
93
Nichtorganisierte Arbeitnehmer
69
72
63
65
57
66
69
Arbeitnehmer insgesamt
73
79
72
71
68
71
76
übrige Bevölkerung
52
55
52
52
48
50
56
Befragtengruppen
Nahezu alle organisierten Arbeitnehmer u n d mehr als 2/s der Nichtorganisierten halten also die Existenz der Gewerkschaften f ü r notwendig. Daß dies ein kleiner Teil der Organisierten verneint, soll auf ein niedriges Informationsniveau sowie darauf zurückzuführen sein, daß sich einige Arbeitnehmer aus opportunistischen Gründen oder infolge Gruppendrucks den Gewerkschaften anschließen 140 . Das Ansehen der Gewerkschaften scheint zu Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten abzunehmen: der Sympathiepegel unter den Organisierten sank m i t dem Einsetzen der wirtschaftlichen Rezession 1968/1969 auf einen Tiefstwert u n d nahm danach wieder zu.
139 140
D G B - G B , S. 100; Nickel, S. 264. Vgl. Nickel, S. 263.
§ 1 . Gewerkschaften und
i t e r
2. Gewerkschaften als Interessenvertretung
der
85
Arbeitnehmer
141
a) Allgemeines Interessenvertretung der Arbeitnehmer Fragend : „Was gibt es eigentlich f ü r Einrichtungen, die die Interessen der A r b e i t nehmer, d. h. der Arbeiter, Angestellten u n d Beamten vertreten?" „ V o n w e m werden die Interessen der Arbeitnehmer am ehesten vertreten?" (Den Befragten wurde folgende Karte vorgelegt: SPD, CDU, Gewerkschaften/DGB, Betriebs-Personalrat, Industrie- u n d Handelskammer). Zahl der Befragten
Insgesamt
abs. Gewerkschaftsmitglieder
Die Interessen der Arbeitnehmer werden am ehesten vertreten d u r c h . . . Betriebsrat, Personalrat
Β ef ragt engruppen
SPD
CDU
Andere
Weiß nicht, keine Angabe
%
%
%
%
%
86
23
12
3
5
0
124
80
21
10
3
5
4
116
131
82
27
12
3
5
2
187
124
77
25
9
4
3
6
Gewerkschaften, DGB °/o
°/o
206
129
Ehemalige Gewerkschaftsmitglieder
113
Beitrittswillige Nichtmitglieder Sonstige Nichtmitglieder
a) DGB-Motivanalyse, S. 73.
Die übergroße Mehrheit der Arbeitnehmer hält also die Gewerkschaften für diejenigen Organisationen, die a m wirksamsten Arbeitnehmerinteressen vertreten. Dieses Ergebnis sagt jedoch weder etwas über die Frage aus, w o r i n die befragten Arbeitnehmer diese Interessen sehen, noch über die Frage, i n welchem Verhältnis die Interessenvertretung der Mitglieder zur Vertretung aller Arbeitnehmer aus Arbeitnehmersicht steht. Dazu folgende Umfragen 1 4 2 :
141 Vgl. DGB-Motivanalyse 1970, D G B - G B , S. 73, nach Nickel, S. 277. Die folgenden Tabellen sind der Untersuchung von Nickel entnommen, zunächst die Tabelle von S. 277. 142 Vgl. die Tabellen bei Nickel, S. 274 f.
86
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
Fragea): „Denken die Gewerkschaften n u r an ihre Mitglieder, oder haben sie auch das Allgemeinwohl i m Auge?" Zahl der Insgesamt Befragten
Die G e w e r k s c h a f t . . . denkt n u r an ihre Mitglieder
hat auch das A l l gemeinwohl i m Auge
weiß nicht, keine Angaben
abs.
%
°/o
°/o
%
Gewerkschaftsmitglieder
206
100
12
84
4
Sonstige Nichtmitglieder
187
100
21
51
28
Gewerkschaft u n d Allgemeinwohl Frage b ) : „Über die Stellung der Gewerkschaften i n unserer Gesellschaft gibt es verschiedene Ansichten. Welcher von diesen hier w ü r d e n Sie eher zustimmen? (Kartentext:) A. Die Gewerkschaften tragen eine große Verantwortung f ü r die gesamte Gesellschaft. Sie müssen mithelfen, daß alles gut funktioniert. B. Die Gewerkschaften sollten n u r die Interessen der Arbeitnehmer vertreten. F ü r alles andere sind sie nicht verantwortlich." Befragtengruppen
Zahl der Befragten
Insgesamt
Die G e w e r k s c h a f t . . . muß Gesamtverantwortung tragen
soll n u r partikulare I n teressenvertretung sein
weiß nicht, keine Angabe
abs.
%
%
%
°/o
Gewerkschaftsmitglieder
206
100
46
51
3
Ehemalige Gewerkschaftsmitglieder
113
100
38
50
12
Beitrittswillige Nichtmitglieder
116
100
36
57
7
Sonstige Nichtmitglieder
187
100
27
56
17
a) DGB-Motivanalyse, S. 88. — b) DGB-Motivanalyse, S. 93.
§ 1 . Gewerkschaften u n d
i t e r
87
Während sich auf die Frage „Mitgliederinteressen oder Allgemeinwohl" 84 % der organisierten Arbeitnehmer und 51 °/o der Nichtmitglieder für die Wahrnehmung von Allgemeinwohlerfordernissen entscheiden, scheinen die Antworten i n der zweiten Tabelle dazu i m W i derspruch zu stehen: Nur noch 46 °/o der Gewerkschaftsmitglieder und durchschnittlich 34°/o der Nichtmitglieder sehen die Verfolgung des Allgemeinwohls als gewerkschaftliche Aufgabe an. Dieser scheinbare Gegensatz löst sich unter der Annahme auf, daß die Befragten in diesen beiden Fragestellungen unter dem Begriff „Allgemeinwohl" nicht dasselbe verstanden haben: bei der ersten Befragung „Allgemeinwohl" als Gegensatz zu „Mitgliederwohl", i n der zweiten Umfrage als Gegenbegriff zu „Gruppenwohl"; der in der ersten Befragung verwandte Begriff „Allgemeinwohl" ist daher eher zu interpretieren als „Gruppenwohl unter Berücksichtigung des Allgemeinwohls". Daraus ergeben sich folgende Schlußfolgerungen: (1) Die überwiegende Zahl der Gewerkschaftsmitglieder sieht als Aufgabe ihrer Organisation nicht nur die Vertretung von Mitgliederinteressen, sondern auch von Gruppeninteressen; lediglich die Hälfte der Nichtmitglieder ist dieser Meinung. (2) Durchschnittlich 54 °/o der Arbeitnehmer messen den Gewerkschaften keine Verantwortung für die Gesamtgesellschaft zu, sondern allein die Rolle einer partikularen Interessenvertretung. (3) Man sieht in den Gewerkschaften Organisationen, die auch an das Allgemeinwohl denken, wenn sie partikulare Gruppeninteressen vertreten 1 4 3 . b) Der Inhalt der gewerkschaftlichen Interessenvertretung Nach Auffassung von 73 % der Facharbeiter und 62 °/o der an- und ungelernten Arbeiter soll vordringliche Aufgabe der Gewerkschaften nicht so sehr die Regelung von Partikularfragen (Lohn- und Tariffragen, Urlaub, Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen, Lebensstandard, Preisstabilität), als vielmehr die Vertretung von allgemeinen Arbeitnehmerinteressen sein 144 . Falsch wäre es, daraus den Schluß zu ziehen, die überwiegende Mehrheit der Arbeiter setze sich für die gewerkschaftliche Vertretung ihrer umfassenden, also allgemeinpolitischen Interessen (sachliche Totalrepräsentanz) und nicht nur ihrer partikularen Interessen (Partialfunktion) ein 1 4 5 .
143 144 145
Vgl. Nickel, Arbeiterschaft-Gewerkschaft, S. 285. Gewerkschaftsbarometer H/1965, zitiert nach Nickel, S. 103. So aber w o h l Nickel, S. 102.
88
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
Dies beweisen die folgenden Ubersichten 146 : Gewerkschaften u n d Politik Fraget : „Die Gewerkschaften nehmen auch zu politischen Fragen Stellung. Gehört dies, I h r e r Meinung nach, zu den Aufgaben der Gewerkschaften oder sollten sie sich v ö l l i g aus der P o l i t i k heraushalten?" Die Gewerkschaften sollten politisch...
InsgeZahl der Be- samt fragten
Befragtengruppen
Stellung nehmen
sich heraushalten
kommt darauf an
weiß nicht, keine Angaben
abs.
°/o
%
°/o
°/o
°/o
DGB-Mitglieder
274
100
37
34
25
4
Facharbeiter
274
100
32
41
24
3
A n - u n d ungelernte Arbeiter
211
100
25
46
16
13
Gewerkschaften u n d politische Stellungnahme Frage b ) : „Es gibt zu den Gewerkschaften verschiedene Ansichten. Welcher würden Sie am ehesten zustimmen? (Kartentext:) A . Die Gewerkschaften sind die Interessenvertretung der Arbeitnehmer und keine Partei. Sie dürfen daher nicht politisch Stellung nehmen. B. Als Arbeitnehmervertretung haben die Gewerkschaften politisches Gewicht. Sie sind verpflichtet, politisch Stellung zu nehmen." Befragtengruppen
Z a h l der Befragten
Insgesamt
Die Gewerkschaften dürfen politisch Stellung . . . nicht nehmen
nehmen
weiß nicht, keine Angabe
abs.
%
°/o
%
°/o
Gewerkschaftsmitglieder
206
100
56
39
5
Nichtmitglieder (ohne Ehemalige u. Beitrittswilige)
187
100
64
18
18
a) Gewerkschaftsbarometer 1969, S. 89. — b) DGB-Motivanalyse, S. 81. 146
Vgl. Nickel, S. 270 ff.
§ 1 . Gewerkschaften u n d
i t e r
89
Gewerkschaft u n d politisches Engagement Frage*): „ K ü m m e r n sich die Gewerkschaften eigentlich heute zu v i e l oder zu wenig u m Politik, oder geht sie die Politik nichts an?" Befragtengruppen
Zahl der Befragten
Insgesamt
Gewerkschaften k ü m m e r n sich um Politik . . . zu v i e l
zu wenig
Politik geht sie nichts an
Weiß nicht, keine Angabe
abs.
°/o
%
°/o
°/o
°/o
Gewerkschaftsmitglieder
206
100
30
23
28
19
Sonstige Nichtmitglieder (ohne ehemalige Mitglieder u n d Beitrittswillige)
187
100
33
3
31
33
Beispiele f ü r ein zu starkes Engagement der Gewerkschaften Frage b ) : „Was meinen Sie da, können Sie m i r Beispiele nennen?" (Es w u r d e n n u r diejenigen befragt, die meinten, daß sich die Gewerkschaften zu viel u m Politik kümmerten.)
Insgesamt
Generelle Ablehnung
Partei- und SPD-Politik
Notstandsgesetzgebung
Andere politische Gebiete
Anderes
Keine Angaben
Einflüsse auf . . .
Zahl der Befragten
Befragtengruppen
abs.
°/o
%
°/o
°/o
°/o
°/o
%
Gewerkschaftsmitglieder
61
100
20
20
3
18
0
39
Sonstige Nichtmitglieder
62
102
28
27
5
0
11
31
a) DGB-Motivanalyse, S. 83. — b) DGB-Motivanalyse, S. 84.
Der größte T e i l der Befragten sowohl der Gewerkschaftsmitglieder als auch der Nichtmitglieder spricht den Gewerkschaften also jede politische F u n k t i o n ab oder hält den Umfang ihrer politischen A k t i v i t ä t f ü r zu groß; m i t z u nehmender Präzisierung der Fragestellung n i m m t dieser Prozentsatz sogar noch zu.
113
116
187
Beitrittswillige Nicht mitglieder
Sonstige Nichtmitglieder
a) Nickel, S. 280.
206
Ehemalige Gewerkschaftsmitglieder
abs.
122
136
121
132
o/o
und
%
9
°/o
26 22 18 11
5
6
6
3 21
8
13
3 14
3 21
ο/α
bildung
4 12
mung
4
17
10
°/o
^
°/o %
meines
S MitAus-, °£rale Anderes Stabüe bestim- WeiterJer-
22 20 22 13 12 10
29 19 12 18
21 20 19 17 21
°/o %
.
Wichtige Aufgaben sind...
Stellung Gehälter
Zahl der InsgeBefragsamt tGn Soziale Löhne Besser-
Gewerkschaftsmitglieder
Befragtengruppen
°/o
Angabe,
„Welchen Problemen sollten, Ihrer Meinung nach, die Gewerkschaften in Zukunft die meiste Aufmerksamkeit widmen?"
Frage3) :
Zukünftige Aufgaben der Gewerkschaften
90 4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme c) D i e w i c h t i g s t e n A u f g a b e n der G e w e r k s c h a f t e n
§ 1 . Gewerkschaften u n d
i t e r
91
Aus den Durchschnittswerten ergibt sich folgende Rangfolge 1 4 7 : (1) Soziale Besserstellung
(5) Stabile Preise
(2) Löhne u n d Gehälter
(6) Mitbestimmung
(3) Arbeitsplatzsicherung
(7) Aus- u n d Weiterbildung
(4) Allgemeines
(8) Soziale Verbesserungen
Bemerkenswert ist, daß die Erfüllung der klassischen Gewerkschaftsaufgaben — das Eintreten für höhere Löhne, verkürzte Arbeitszeit, bezahlten Urlaub, Unfallschutz usw 1 4 8 , also für die Verbesserung der A r beitsbedingungen 149 — auch heute nach Meinung der Arbeitnehmer i m Vordergrund stehen 150 . Der i m Durchschnitt geringe Stellenwert der Mitbestimmung auf Platz 6 ist bei Gewerkschaftsmitgliedern mit 21 °/o noch relativ hoch, sinkt aber bei den ehemaligen Gewerkschaftsmitgliedern auf 9 °/o ab, was darauf hinzudeuten scheint, daß dafür ein Ernüchterungseffekt ursächlich ist. Innen-, außen- und verteidigungspolitische Themen werden überhaupt nicht genannt. Diese tatsächlichen Erwartungen und Ansprüche, die Arbeitnehmer an ihre Gewerkschaften stellen, sind ein Indiz dafür, auf welche Sachgebiete sich die Vertretungslegitimation der Gewerkschaften erstrecken kann. Der DGB-Vorsitzende Vetter konzidiert denn auch auf dem Bundeskongreß 1972151, unter dem Aspekt der Legitimation sei es Aufgabe der Gewerkschaften, die Arbeitsbedingungen und den Lebensstandard zu verbessern, die Ausbeutung zu bekämpfen und die Arbeitnehmer sozial zu sichern; freilich geht der faktische Vertretungsanspruch weit darüber hinaus 152 . Daß — zumindest die repräsentativ befragten — Arbeitnehmer die gewerkschaftliche Tätigkeit auf mehr berufsbezogene Gegenstände beschränkt wissen wollen, w i r d auch deutlich am Ergebnis einer weiteren Umfrage 1 5 3 : „Haben Ihrer Meinung nach die Gewerkschaften, die Interessenvertreter der Arbeitnehmer, i n unserem Staat zu viel Einfluß, zu wenig Einfluß oder ist das gerade richtig?" 147 Eine andere Befragung m i t ähnlichem Ergebnis w i r d i n dem D P G - K o m missionsbericht, i n : Gewerkschaftliche Praxis 1971, S. 132 zitiert. 148 Vgl. Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 6; Hirsch, Gewerkschaften, S. 52; Nickel, Arbeiterschaft-Gewerkschaft, S. 280. 149 E i n Leitbild, das liberaler, sozialistischer u n d christlicher Gewerkschaftsbewegung gemeinsam w a r ; daneben verfolgten die sozialistischen Gewerkschaften das Ziel, die bestehende wirtschaftliche u n d politische Ordnung zu beseitigen, vgl. Eickhoff, Theorie, S. 113,115,119 f. 150 v g l . Nickel, S. 280. 151 152 153
9. D G B - B K P , S. 155; vgl. § 6 C 1. Vgl. § 6 C. Vgl. Nickel, Arbeiterschaft-Gewerkschaft, S. 279.
92
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme Einfluß der Gewerkschaften i n der Gesellschaft
Befragtengruppen
Z a h l der Befragten
Insgesamt
Die Gewerkschaften haben Einfluß . . .
zu viel
zu wenig
gerade richtig
weiß nicht, keine Angabe
abs.
%
°/o
°/o
°/o
°/o
Arbeitnehmer insgesamt
858
100
13
20
41
26
Mitglieder
320
100
6
30
49
15
potentielle Mitglieder
69
100
12
22
49
17
frühere Mitglieder
102
100
21
20
39
20
übrige Nichtmitglieder
392
100
18
12
33
37
Offenbar hält die Mehrheit der Befragten eine Ausweitung gewerkschaftlichen Einflusses i m wirtschaftlichen und politischen Raum für nicht wünschenswert. Dieses Ergebnis deckt sich m i t der Rangfolge, die man bei Befragung der Mitbestimmung zuweist. § 15. Zusammenfassung
M i t weit über 8 Millionen Mitgliedern sind die Gewerkschaften i n der Bundesrepublik die mitgliederstärksten Organisationen, wenn man von den Kirchen und Sportverbänden absieht. Der Gesetzgeber hat ihnen unmittelbar durch Gesetze oder mittelbar durch Rechtsverordnungen eine Fülle verschiedener Funktionen zugewiesen: als bedeutsamste die Ausübung der Tarifautonomie und weitere Aufgaben außerhalb öffentlich-rechtlicher Institutionen, weiterhin eine Fülle von Funktionen innerhalb von Verwaltungsbehörden, Selbstverwaltungskörperschaften und Gerichten. Daneben üben sie faktische Aufgaben m i t großer Bedeutung für die Sphäre des politischen Lebens aus. Diese Sachlage haben Rechtsprechung und Schrifttum dazu veranlaßt, die Aufgaben der Koalitionen als „öffentliche" zu bestimmen 154 . 154 BVerfGE 18, 18 (28, 32); BVerfG, D B 1974, S. 1293; Β GHZ 42, 210 (212, 217); Säcker, Grundprobleme, S. 26; Scheffler, N J W 1965, S. 849 ff.; Ossenbühl, N J W 1965, S. 1561 ff.; Hirsch, Gewerkschaften, S. 13 ff. (25 ff., 43 ff.); Martens, öffentlich, S. 161 ff.; Scheuner, Koalitionsfreiheit, S. 381, 62, 68; Wittkämper, Interessenverbände, S. 45; Gamillscheg, Koalitionsfreiheit, S. 52; ders., Diffe-
§15. Zusammenfassung
93
Sie gelten als „öffentliche" Aufgabenträger oder „öffentliche Verbände" 155 , denen man einen „öffentlichen Status" 1 5 6 , einen „öffentlichrechtlichen Einschlag" 157 zumißt. A m weitesten geht Krüger, wenn er die Koalitionen i n der staatlichen Sphäre ansiedelt und i n ihnen Träger „staatsintegrierender Funktion" sieht 158 . Der von diesen gesetzlichen und untergesetzlichen Zuweisungsnormen gebrauchte Gewerkschaftsbegriff ist jedoch nicht einheitlich: Meist sind dabei nur die streikfähigen und -willigen Verbände angesprochen, i n einigen Fällen aber auch die übrigen Organisationen, so daß namentlich der DBB von manchen dieser Vorschriften nicht erfaßt wird. Diese Auswirkung ist soziologisch nicht sehr erheblich, da die DGB-Gewerkschaften und die D A G mit ca. 7,5 Millionen Mitgliedern i n jedem Fall dem Gewerkschaftsbegriff genügen. I m wesentlichen sechs Sachbereiche werden den Gewerkschaften gesetzlich zugewiesen: (1) arbeitsrechtliche Materien, (2) Sozialversicherungsrecht, (3) Beamtenrecht, (4) Wirtschaftsrecht, (5) Bergarbeiterwohnungsbau, (6) die Wirtschaftsführung von Bundesbahn und Bundespost. Durch diese gewerkschaftiche Beteiligung sollen Arbeitnehmeraspekte zum Tragen kommen, vereinzelt auch Verbraucherinteressen. Paritätische Stellung, d. h. eine Beteiligungsposition, die — zumindest rechtlich — ebenso stark ist wie die der übrigen Beteiligten zusammen, kommt den Gewerkschaften dabei i m Tarifvertragsrecht, dem MitbestG und den Wirtschaftskammern zu. I n allen übrigen Bereichen bleiben sie auf andere Beteiligungsformen beschränkt. renzierung, S. 29 f., 37; v. Münch, B K , A r t . 9 Rdnr. 156; Weber, T a r i f autonomie, S. 28; Krüger, Allg. Staatslehre, S. 386 ff.; Kaiser, Repräsentation, S. 355; Hamann, Gewerkschaften, S. 13 ff., 16, 20, 24, 42; Wertenbruch, Peters-Gedächtnisschrift, S. 639; Zacher, Demokratie, S. 117; E. R. Huber, WirtschaftsverwaltungsR I I , S. 377; Lerche, Zentralfragen, S. 28 f.; ders., Verfassungsfragen, S. 31 ff.; Rüthers, Streik, S. 49 ff.; Ridder, Gewerkschaften, S. 3, 29 ff.; Galperin, D B 1970, S. 349; Wiedemann, RdA 1969 S. 327; ausführlich Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 195 ff., 217 ff. 155 Lerche, Zentralfragen, S. 29; Hirsch, Gewerkschaften, S. 25 ff.; Kaiser, Parität, S. 24. 156 Lerche, Zentralfragen, S. 29; Ridder, Gewerkschaften, S. 3; Scheuner, DÖV 1952, S. 610; Scheffler, N J W 1965, S. 849 ff. folgert aus der öffentlichen Aufgabe sogar einen öffentlich-rechtlichen Status, zur K r i t i k vgl. Ossenbühl, N J W 1965, S. 1561 ff. 157 Hamann, Gewerkschaften, S. 62. iss Allgemeine Staatslehre, S. 388 f.; ders., N J W 1956, S. 1220; zur K r i t i k vgl. Hesse, V V D S t R L 17, S. 43 Fußn. 92.
94
4. Kap.: Adressaten gewerkschaftlicher Einflußnahme
Demgegenüber dehnt das i n Programmen und Satzungen, Kommissionsberichten und anderen Stellungnahmen dokumentierte und i n Äußerungen führender Gewerkschafter ausgesprochene gewerkschaftliche Selbstverständnis die Funktionsbreite erheblich aus; i n der praktischen Gewerkschaftsarbeit w i r d diese Tendenz bestätigt. Sie geht i m wesentlichen vom DGB und seinen Einzelgewerkschaften aus, ihnen folgen die D A G und — wenn auch zögernd — der DBB. Neben dieser quantitativ-gegenständlichen Weite, die vom Arbeits- und Sozialversicherungsrecht über Gesundheitspolitik und Fragen des Umweltschutzes bis zu allgemeinen Problemen der Innen-, Verteidigungs- und Außenpolitik reicht, ist auch eine zunehmende qualitativ-gegenständliche Funktionserweiterung erkennbar: die Loslösung von typisch berufsbedingten Interessen und die Orientierung an den Lebensinteressen. Dies zeigt sich sowohl i n der externen Interessenwahrnehmung als auch i n der internen Mitgliederbetreuung, die nicht nur Streikunterstützung und Gewährung sonstiger Sozialleistungen, sondern auch Schulung und Bildung von Funktionären und Mitgliedern sowie eine umfangreiche Ferien- und Freizeitbetreuung umfaßt. Personell wollen sich der DGB und seine Einzelgewerkschaften nicht lediglich auf die Mitgliedervertretung beschränken, sondern sehen sich zur Vertretung aller Arbeitnehmer und ihrer Familien legitiminiert. D A G und DBB erheben diesen Anspruch nicht; ausschlaggebend dafür dürfte sein, daß diese Verbände i m Gegensatz zu den DGB-Gewerkschaften nach Berufsgruppen organisiert sind 159 . M i t der Präsenz von Gewerkschaftsmitgliedern i m Bundestag und seinen Ausschüssen, i n der Bundesregierung sowie i n den ministeriellen Beiräten, Kommissionen, Arbeitskreisen usw. verfügen die Gewerkschaften, namentlich der DGB, auch über — zumindest potentielle — M i t t e l zur Realisierung ihrer politischen Forderungen und Vorstellungen. Gewerkschaftliche Einflußnahme erstreckt sich insbesondere auf die Parteien, namentlich die SPD; die praktische politische Zusammenarbeit, besonders die gewerkschaftliche Wahlunterstützung hat gegenseitige politische Abhängigkeit zur Folge. A u f die Öffentlichkeit, d. h. den personell unbegrenzten Adressatenkreis, wirken die Gewerkschaften durch Information und Impulse zur Meinungs- und Willensbildung unmittelbar i n gewerkschaftseigenen Zeitungen und Zeitschriften und mittelbar durch umfassende Medienpolitik ein. Die Finanzierung dieser umfangreichen erfolgt durch Beitragseinnahmen und durch lichen Betätigung i n gemeinwirtschaftlichen weile eine bedeutende gesamtwirtschaftliche
gewerkschaftlichen Arbeit die Erträge der wirtschaftUnternehmen, die mittlerRolle spielen. Insbesondere
159 Vgl. ζ. B. die weitere Untergliederung der D A G i n „Bundesberufsgruppen", D A G - T B , S. 126 ff.
§15. Zusammenfassung
95
der DGB ist also ein Verband, der politisch umfassende Interessenvertretung beansprucht und ein entscheidender wirtschaftlicher und politischer Machtfaktor i n der BRD ist. Sozialempirische Untersuchungen über die Legitimation gewerkschaftlicher Funktionen, d.h. die Frage, welche Aufgaben die Gewerkschaften nach dem Willen und den Erwartungen ihrer Mitglieder und nicht organisierten Arbeitnehmern erfüllen sollen, ergeben, daß praktisch nur diejenigen Tätigkeiten i n diesem Sinn legitimiert sind, die sich mit den gesetzlich zugewiesenen Aufgaben decken, nicht aber die darüber hinausgehenden, von den Gewerkschaften faktisch ausgefüllten Aufgabengebiete.
ZWEITER T E I L
Die Beteiligung der Gewerkschaften am Prozeß der Staatswillensbildung Der zweite und dritte Teil der Untersuchung verfolgt das Ziel, verfassungsrechtliche Leitlinien für Stellung und Funktion der Gewerkschaften aufzuzeigen. Dabei genügt es nicht, die i m ersten Teil dargestellte Inkorporierung der Gewerkschaften i n die staatliche und gesellschaftliche Sphäre als Ausgangspunkt zu nehmen, daraus bestimmte 1 Prinzipien zu entwickeln und diese als Verfassungswirklichkeit zu apostrophieren, um damit die Frage der Verfassungsmäßigkeit außerhalb der Verfassung zu beantworten. Vielmehr ist erforderlich, an Hand einzelner Bestimmungen des GG die tatsächliche Rolle der Gewerkschaften normativ zu überprüfen 2 .
1
Pointiert gegen einer Verfassungswirklichkeit „contra constitutionem normatam" Hesse, Grundzüge, § 1 I I I 5 ; Maunz, Staatsrecht, § 9 V . 2 Den gleichen Ausgangspunkt w ä h l t Hamann, Gewerkschaften, S. 13 ff. 7 Gießen
Fünftes
Kapitel
Das System der Volks- und Staatswillensbildung § 16. Einordnung der Gewerkschaften A. Differenzierung
Die klassische Trennung zwischen Staat und Gesellschaft ist i m modernen Gemeinwesen aufgehoben. Stattdessen besteht eine „funktionale" Einheit von Staat und Industriegesellschaft 3 , die staatliche Herrschaft weicht einer breiten Kooperation zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Aufgabenträgern 4 . Zwischen Staat und Gesellschaft hat sich ein Zustand „unauffälliger Osmose" gebildet 5 . Vor allem Ehmke hat dargelegt, daß sich „Staat" und „Gesellschaft" heute als Glieder der höheren Einheit eines politischen Gemeinwesens begreifen 6 . Hesse differenziert zwischen verschiedenen Dimensionen des Gemeinwesens, dem „Staat" und der „politischen Einheit" 7 . Zur Verdeutlichung der verbandsmäßigen Identität w i l l Scholz8 das Begriffspaar „Staat" und „Gesellschaft" durch die Terminologie „Staatlichkeit" und „Gesellschaftlichheit" modifizieren und damit die staatliche bzw. gesellschaftliche Seite des Gemeinwesens ansprechen. Eine grundlegende Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft muß jedoch bei der Willensbildung des Gemeinwesens gemacht werden: Es ist zwischen zwei — allerdings miteinander verschränkten — 9 ' 1 0 Willensbildungssystemen zu differenzieren: der Staatswillensbildung 3
Forsthoff, Verfassungslehre, S. 185 (194); vgl. auch Häberle, JuS 1967, S. 66 f.; Achterberg, DVB1 1974, S. 698. 4 Forsthoff, Verfassungslehre, S. 199; Krüger, Grenzen, S. 31; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 154. 5 Forsthoff, Rechtsfragen der leistenden Verwaltung, S. 18; vgl. auch Ridder, Gewerkschaften, S. 14; Ossenbühl, V V D S t R L 29, S. 150; Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 106. 6 Smend-Festgabe, S. 24 ff.; ders., Wirtschaft, S. 5 ff.; vgl. auch Ridder, Gewerkschaften, S. 14. 7 Grundzüge, § 1 I I (S. 8 f.); vgl. auch Badura, Scheuner-Festschr., S. 27. 8 Koalitionsfreiheit, S. 153. 9 Vgl. BVerfGE 20, 56 (99). 10 Verschränkung durch bürgerschaftliche Partizipation, vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 237.
§16. Einordnung der Gewerkschaften
und den daran Beteiligten einerseits und der Volkswillensbildung den sie tragenden Kräften andererseits 11 .
99
mit
Während der Prozeß der Staatswillensbildung bestimmten Legitimationserfordernissen, Kompetenzzuweisungen und -begrenzungen unterliegt, bestehen solche Beschränkungen i m politisch-gesellschaftlichen Bereich nicht: vielmehr richten sich A r t und Umfang des Einflusses gesellschaftlicher Gruppen nach ihrer tatsächlichen Stärke und ihrem Verhältnis zueinander 12 , also nach eigener „Beliebigkeit des Individuums" 1 8 bzw. der Gruppe. Staat und Gesellschaft haben verschiedene Integraweisen: während die staatliche Integration auf dem Prinzip der Gleichheit beruht, erkennt die gesellschaftliche Integration die tatsächliche Ungleichheit der Individuen und Gruppen an 14 . Man mag diese Unterscheidung als einen den Tendenzen der modernen Industriegesellschaft widersprechenden Rückfall in vermeintlich unrealistische liberalistische Vorstellungsbilder ansehen 15 , jedenfalls entspricht sie, was noch zu zeigen sein wird, den Strukturprinzipien des GG. M i t der Gliederung i n gesellschaftlich-private Grundrechte und den staatlich-organisatorischen Verfassungsteil hält das GG insoweit am Dualismus von Staat und Gesellschaft fest 16 , als es von verschiedenen Willensbildungssystemen ausgeht — einem rechtsstaatlichen Dualismus 17 , den auch das Demokratieprinzip nicht leugnet 18 . Auch durch die Sozialstaatlichkeit w i r d dieser Unterschied nicht aufgehoben 19 . 11 Vgl. zur grundsätzlichen Differenzierung BVerfGE 8, 104 (113, 115 f.); 20, 98; 3, 26; 5, 134; 8, 122 (133); Badura, Scheuner-Festschr., S. 27 anders; dagegen BVerfGE 2, 73; 4, 30; 2, 225 f.; u n k l a r E 14, 133; Maunz (Dürig-Herzog), GG, A r t . 20 Rdnr. 54; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 192; Herzog, V V D S t R L 29, S. 114; Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 108 ff. stimmt dieser Differenzierung unter Vorbehalten zu; scharf w i r d sie von Häberle i m Hinblick auf die Tätigkeit der Parteien kritisiert, JuS 1967, S. 66 f. 12 BVerfGE 8, 115 f.; Evers, Der Staat 1964, S. 44 f.; Wittkämper, Interessenverbände, S.133. 13 Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), S. 82 ff.; ders., W D S t R L 31, S. 222, 236, 243, 252. 14 Vgl. Kaiser, Repräsentation, S. 355, 359 f.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 151 f. 15 So aber Hirsch, Gewerkschaften, S. 18, 28, 63, 65, 68; vgl. auch Häberle, JuS 1967, S. 67; Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 192 spricht i n diesem Z u sammenhang — freilich geschwollen — von einem „Notstand der mangelnden K o n t u r von Stadt u n d pluralistischer Gesellschaft", an dem alle westlichen Demokratien krankten, vgl. auch S. 196. 18 Ehmke, Smend-Festgabe, S. 25; Köttgen, ebd., S. 147; Weber, Sozialpartner, S. 260 f.; Kaiser, Repräsentation, S. 338; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 154; Ossenbühl, V V D S t R L 29, S. 201, 204; Martens, öffentlich, S. 166; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 211, 236 f. m. w . Nachw.; Hesse, Grundzüge, § 5 1 ; Eschenburg, Staat u n d Gesellschaft, S. 277; F. Mayer, V V D S t R L 31, S. 289 f.; Ridder, Gewerkschaften, S. 14 f., 21 f.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 152 ff.; Rupp, N J W 1972, S. 1541. 17 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 151 f., 205; Ridder, Gewerkschaften, S. 17. 18 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 192. 19 Ebd., S. 184.
7*
100
5. Kap.: Das System der Volks- u n d Staatswillensbildung
Eine verfassungsrechtliche Untersuchung über Inhalt und Grenzen gewerkschaftlicher Tätigkeit muß daher die verfassungsstrukturelle Verschiedenartigkeit der Willensbildung des Volkes und der Willensbildung des Staates berücksichtigen. B. Standort der Gewerkschaften
Auch wenn die Gewerkschaften als Großverbände „meilenweit" von den sonstigen Verbänden entfernt sind 20 , haben sie ihren Ursprung ebenso wie diese allein i n der Gesellschaft 21 . Die soziologische und j u r i stische Bestandsaufnahme zeigt jedoch, daß Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände i m Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Gruppen durch ihre Stellung als Tarifpartner und ihre besondere Teilnahme an der Staatswillensbildung Aufgaben wahrnehmen 22 , die i m „öffentlichen Interesse" 23 stehen 24 . Man kann sie daher als „öffentliche" Verbände charakterisieren 25 und damit verdeutlichen, daß sie in besondere Nähe zum Staat gerückt sind. Freilich sind ihre öffentlichen Funktionen nicht Grundlage für Art. 9 I I I , sondern Folge ihrer durch A r t . 9 I I I gewährleisteten Sondersteilung 2 6 . Da sie ihre Gründung und Funktion keinem staatlichen Organisationsakt, sondern ihrer historischen Entwicklung und dem Grundrecht des Art. 9 I I I und dessen sozialen Auswirkungen verdanken, sind sie keine öffentlich-rechtlichen Institutionen, sondern bleiben gesellschaftliche Gruppierungen 27 . Sie haben — der Differenzierung von Scholz folgend — 2 8 eine gesellschaftliche Öffentlichkeitsfunktion, keinen staatlichen, organisierten Öffentlichkeitsstatus, so daß aus ihren öffentlichen Aufgaben nicht der Schluß gezogen werden kann, ihnen käme ein öffentlich-rechtlicher Status zu 29 . Die Wahrnehmung öffent20
H. Huber, Verbände, S. 6. Vgl. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 222; Ossenbühl, N J W 1965, S. 1562 f.; Galperin, D B 1970, S. 349 m. w. Nachw.; Scheuner, DÖV 1965, S. 579; Weber, Sozialpartner, S. 242, 255, 261, 249. 22 Vgl. §§3—5. 23 Vgl. dazu vor allem Häberle, öffentliches Interesse (Habilitationsschrift) ; Müller, D B 1969, S. 1796; Rüfner, Formen öffentl. Verwaltung, S. 397; Röttgen, Gemeindliche Daseinsvorsorge, S. 9; Stern-Pütner, Gemeindewirtschaft, S. 34; Leisner, DÖV 1970, S. 217 ff. 24 BVerfGE 4,107; 18, 27 f., 32; 28, 295 (304). 25 Vgl. oben §15. 26 So ausdrücklich (Maunz-) D ü r i g (-Herzog), GG, A r t . 1 Rdnr. 98 Fußn. 3 (S. 47); i h m folgend Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 252. 27 Vgl. Fußn. 21; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 192 f. sieht i n ihnen beliehene Verbände; vgl. auch Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 50. 28 Koalitionsfreiheit, S. 200 f.; ebenso Martens, öffentlich, S. 160 ff., ferner S. 152 ff. bzgl. pol. Parteien. 29 §15. 21
§ 16. Einordnung der Gewerkschaften
101
licher Aufgaben kann also nicht dazu führen, daß die Koalitionen allmählich i n eine öffentlich-rechtliche Rechtsposition „hineinwachsen" 30 , ein solcher „Umschlag" von faktischer zu rechtlicher Stellung ist nicht möglich 31 , vielmehr bedarf es eines legislativen Aktes 32 . I n dieser Öffentlichkeitsfunktion sind die Koalitionen m i t den politischen Parteien vergleichbar 33 . Sie haben sich ebenso wie diese zu „Zwischengliedern" zwischen Staat und Gesellschaft entwickelt 34 , denen i m Hinblick auf die politische Einheitsbildung eine hervorragende Bedeutung zukommt. C. Art der gewerkschaftlichen Partizipation
Bei der Untersuchung gewerkschaftlicher Beteiligung an der Staatswillensbildung soll die von Schmitt Glaeser für die Partizipation an der Verwaltung getroffene Unterscheidung zwischen organschaftlicher und bürgerschaftlicher Partizipation 3 5 für den gesamten Bereich staatlicher Entscheidungen nutzbar gemacht werden: organschaftliche Partizipation meint die Aufteilung staatlicher Entscheidungen und sonstiger Handlungen auf verschiedene staatliche Organe, während „bürgerschaftliche Partizipation" die Teilhabe von Bürgern oder Bürgergruppen an der staatlichen Willensbildung kennzeichnet. Da man von einer partiellen Integration der Koalitionen i n den Staat, nicht aber von einer „Inkorpierung" 3 6 wie i m Falle öffentlich-rechtlicher Berufsverbände reden kann, ist m i t der gewerkschaftlichen Teilnahme nicht die organschaftliche, sondern die bürgerschaftliche Partizipation angesprochen Die Intensität gewerkschaftlicher Partizipation ist verschieden: sie reicht von der Anhörung bis zur Mitentscheidung 37 .
30 Forsthoff, VerwR, § 25 I I 2 (S. 492); Ossenbühl N J W 1965, S. 1562; Wertenbruch, Peters-Gedächtnisschrift, S. 639. 31 Forsthoff, B B 1965, S. 381; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 222; Ossenbühl, N J W 1965, S. 1562; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 59. 32 Forsthoff, B B 1965, S. 381; Ossenbühl, N J W 1965, S. 1562; ders., V V D S t R L 29, S. 173 f.; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 60; Scheuner, Peters-Gedächtnisschrift, S. 797 ff.; Wolff, V e r w R I I , S. 162 ff.; E. R. Huber, Selbstverwaltung, S. 40 f. 33 Vgl. § 37 B. 34 Vgl. Krüger, N J W 1956, S. 1219; Hamann, Gewerkschaften, S. 16; Galperin, D B 1970, S. 349 f.; Scheuner, DÖV 1965, S. 580; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 7 I I I 3. 35 V V D S t R L 31, S. 190 ff.; kritisch zum Begriff „Partizipation" Ossenbühl, Anforderungen, S. 120. 36 So aber Hamann, Gewerkschaften, S. 3 ff. u n d passim. 37 Vgl. oben die Tabellen, § 4 ; zu den verschiedenen Partizipationsformen vgl. Walter, V V D S t R L 31, S. 153 Fußn. 18; Schmitt Glaeser, ebd., S. 184 ff.
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5. Kap.: Das System der Volks- u n d Staatswillensbildung § 17. Gewerkschaftliche Partizipation und Gemeinwohl
Jede staatliche Tätigkeit, also jede Entscheidungs- bzw. Ausführungstätigkeit i m Rahmen der Staatswillensbildung, ist darauf gerichtet, das Gemeinwohl zu konkretisieren und zu verwirklichen 3 8 . Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die Erreichung dieses Zwecks die Beteiligung nichtsstaatlicher Kräfte, namentlich der Gewerkschaften ausschließt, sie zuläßt oder sogar erfordert. Die Beantwortung setzt zunächst Klarheit darüber voraus, i n welchem Verhältnis die Verbände und Individuen i m modernen Industriestaat grundsätzlich zueinander und zum Staat stehen. A. Gemeinwohl in einer pluralistisch strukturierten Gesellschaft
Die Grundrechte als der Teil der Verfassung, den man als „Gesellschaftsverfassung" bezeichnen kann 3 0 , sichern individuelle und kollektive „Beliebigkeit" und erkennen die verschiedenen Interessenlagen der Individuen sowie deren tatsächliche Verschiedenheit an. Sie lassen die verschiedenen Bestrebungen und Verhaltensweisen zum Tragen kommen und garantieren damit die Vielfältigkeit und Verschiedenartigkeit der Gesellschaft, d. h. ihre pluralistische Struktur* 0. Zwar w i r k t die industrielle Massengesellschaft von heute einerseits egalisierend und fördert die gesellschaftliche Homogenität dadurch, daß große Bevölkerungsgruppen relativ gleichartige und gleichförmige Beschäftigungsarten erfüllen, aber die m i t jeder technischen Weiterentwicklung stark zunehmende Differenzierung der Arbeitsleistung und Spezialisierung der Berufsausübung intensivieren diese pluralistische Struktur durch eine funktionale Aufteilung der Gesellschaft 41 . Die subjektiven Folgen dieser technisch-ökonomischen Bedingungen bestehen darin, daß das ehemals relativ einheitliche Lebensgefühl verlorengeht 42 , das Individuum sich politisch einem komplexen Mechanismus gegen38 Vgl. etwa Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 193, 236 Fußn. 240; Häberle, öffentliches Interesse, S. 453 ff., ferner S. 713 für die öffentl. Verwaltung. 39 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 152,177 m. w . Nachw. 40 Fraenkel, Deutschland, S. 42, 49, 53, 64, 67; ders., 45. DJT, I I Β 10 ff. (historischer Überblick über pluralistische Ideen); Kaiser, Repräsentation, S. 313; Görlitz, Handlexikon, S. 425; Herzog, Allg. StL, S. 68 ff.; 349, 222; Hesse, Grundzüge, § 1 I I (S. 5, 7 f.), § 5 I (S. 55 f.); Knöpfle, DVB1 1974, S. 715 f.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 113, 151, 254, 293; Sontheimer, Schriften d. B u n deszentrale, S. 22; ders., Grundzüge, S. 111 ff.; Weber, Spannungen, S. 166, 243; H. Huber, Verbände, S. 16 f.; Leibholz, V V D S t R L 24, S. 14 ff.; Hirsch, Gewerkschaften, S. 13 ff., 17, 62; zur Ermöglichung des Pluralismus durch das GG, insbesondere die A r t . 9 I, 9 I I I , 2 1,140 vgl. Evers, Der Staat 1964, S. 43. 41 Sontheimer, Schriften d. Bundeszentrale, S. 22; vgl. auch Löwenstein, V e r fassungslehre, S. 367; „technologischer Pluralismus", S. 373. 42 Darauf weist insbesondere Herzog, Allg. StL, S. 69 hin.
§17. Gewerkschaftliche Partizipation u n d Gemeinwohl
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ü b e r s i e h t , der u n d u r c h s c h a u b a r u n d u n k o n t r o l l i e r b a r w i r d 4 3 . D i e f a k tische U n m ö g l i c h k e i t , d e n Menschen z u m t o t a l k a l k u l i e r b a r e n u n d o r ganisierbaren, a l l e i n a n e i n e m v e r m e i n t l i c h e n G e m e i n w o h l o r i e n t i e r t e n Staats- u n d G e s e l l s c h a f t s p a r t i k e l zu erziehen 4 4 , z w i n g t z u r D i f f e r e n z i e r u n g u n d w i d e r s e t z t sich t o t a l e n Egalisierungstendenzen. Diese p l u r a l i s t i s c h e „ M i k r o - S t r u k t u r " w i r d i n der m o d e r n e n Gesellschaft z u n e h m e n d ü b e r l a g e r t d u r c h d e n P l u r a l i s m u s der V e r b ä n d e u n d G r u p p e n 4 5 — d u r c h eine p l u r a l i s t i s c h e „ M a k r o - S t r u k t u r " . A r t . 9 als die a l l e i n i g e E x i s t e n z g r u n d l a g e f ü r die V e r b ä n d e 4 8 z e i g t m i t der A n e r k e n n u n g insbesondere d e r sozialen K o a l i t i o n e n ( A r t . 9 I I I ) , daß das G G das V e r h ä l t n i s der Gegenspielerschaft der K o a l i t i o n , d. h. also d e n I n t e r e s s e n p l u r a l i s m u s auch auf diesem G e b i e t g e w ä h r l e i s t e n w i l l 4 7 . D i e A u s e i n a n d e r s e t z u n g s o l l sich also a u f der G r u n d l a g e gegenseitiger P a r i t ä t v o l l z i e h e n 4 8 . V o r a u s s e t z u n g f ü r das F u n k t i o n i e r e n dieser G e s e l l s c h a f t s s t r u k t u r i s t die — z u m i n d e s t p o t e n t i e l l e — A u s b a l a n c i e r u n g u n d G l e i c h g e w i c h t s b e s c h r ä n k u n g der verschiedenen p l u r a l i s t i s c h e n K r ä f t e 4 0 — e i n Ge43
Hirsch, Gewerkschaften, S. 21. Fraenkel, Deutschland, S. 206, 210 f., 213, 219. 45 Herzog, Allg. StL, S. 72 spricht von „Kräfteparallelogramm der Gruppen", das dasjenige der I n d i v i d u e n ablöse; Eschenburg, Verbände, S. 79 f.; Löwenstein, Verfassungslehre, S. 367 f., 371: Gruppen seien „organische Bestandteile der Biologie der Staatsgesellschaft" ; i m gleichen Sinn Weber, Spannungen, S. 243; Hirsch, Gewerkschaften, S. 22, 24, 62, 65, 122 ff.; Scheuner, ZRP 1969, S. 196; ders., DÖV 1965, S. 578; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 192; Wertenbruch, Peters-Gedächtnisschrift, S. 618; Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 42, 76, 204, 227; vgl. ferner die L i t e r a t u r i n Fußn. 40. 46 Insbesondere f ü r die Gewerkschaften als „die pluralistischen Organisationen par excellence", vgl. Fraenkel, Deutschland, S. 44; Maunz- (Dürig-Herzog), GG, A r t . 9 Rdnr. 14. 47 Krüger, Grenzen, S. 20, 66, 69, 88; Weber, Sozialpartner, S. 243, 246 f.; Kaiser, Repräsentation, S. 181 ff., 204 ff.; Scheuner, DÖV 1965, S. 580; Nikisch, A r b R I I , S. 45; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 49: „Die Koalitionsfreiheit verfaßt die Koalitionen als antagonistische Ordnungsmächte", vgl. auch S. 262 ff., 317 ff., 379 f.; Maunz (-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9 Rdnr. 130 spricht von einer „antagonistischen Grundlage"; Ridder, Gewerkschaften, S. 32 ff. (40); Abendroth, Gesellschaft, S. 261 ff. 48 Galperin, D B 1970, S. 347; Scheuner, DÖV 1965, S. 580; ders. Koalitionsfreiheit, S. 37 ff., 77 ff.; Lerche, Zentralfragen, S. 62 ff.; Biedenkopf, Grenzen, S. 148 f.; Evers, Arbeitskampffreiheit, S. 26 ff., 45 ff., 53 ff.; Kaiser, Parität, S. 4 ff., 38 ff., 44 ff., Zöllner, B B 1968, S. 597 ff.; Weber, Sozialpartner, S. 246 f.; ders., i n : Aufgaben, S. 145; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 13, 318, 262; B A G E 1, 291 (308 ff.); 10,111 (114); 14, 52 (59); 16,117 (120 f.). 49 Fraenkel, Deutschland, S. 41 f.; Herzog, A l l g . StL, S. 71 ff., 134; Kaiser, Repräsentation, S. 338 f.; ders. i n : Beutler, Verbände, S. 50; Weber, ebd., S. 22 f.; ders., Spannungen, S. 51; Hirsch, Gewerkschaften, S. 24 m. w. Nachw.; Scheuner, DÖV 1965, S. 580; diese gesellschaftliche Gleichgewichtsbeschränkung ist gleichsam das gesellschaftliche Pendant zur staatl. Gewaltenteilung, vgl. unten § 2 5 A ; Hirsch, Gewerkschaften, S. 146 ff.; Hoffmann, Gewerkschaftliche Monatshefte, 1968, S. 472, w i l l die staatliche Gewaltenteilung durch gesellschaftl. Kontrolle ersetzen (ähnlich Hirsch, Gewerkschaften, S. 24). 44
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5. Kap.: Das System der Volks- u n d Staatswillensbildung
danke, der i n dem Grundrechtsvorbehalt der „Rechte Dritter" i n A r t . 21 zum Ausdruck kommt 5 0 . Dies hat als eine Form der vertikalen Gewaltenteilung 5 1 Machtrationalisierung und -minimalisierung zur Folge. Möglich ist dieser rationalisierende und die Freiheit garantierende Ausgleich aber nur, wenn es neben der Differenzierung und Interessengegensätzlichkeit einen nicht kontroversen Bereich gibt 5 2 : ein solcher Grundkonsens hält das Gemeinwesen zusammen; die „Zentripetalkräfte" müssen stärker sein als die „Zentrifugalkräfte" 5 3 . Der Pluralismus benötigt also einen Bereich generell anerkannter „regulativer Ideen" 5 4 , die die verschiedenen und gegenläufigen pluralistischen Kräfte zu einer Wirkungseinheit des „kleinsten gemeinsamen Nenners" zusammenführen. Pluralismus muß also „Übereinstimmung und Differenzierung" bedeuten 55 . Eine bestimmte inhaltliche Einigungspflicht ist der Gesellschaft nicht aufgegeben, sondern das Verfahren „Konsens" 56 . Der Pluralismus sieht sich einer vielgestaltigen K r i t i k gegenüber 57 . Einen seiner schärfsten Widersacher fand er i n C. Schmitt. Er macht geltend 58 , i n einem labilen Koalitionsparteienstaat könne kein staatlicher überparteilicher Wille mehr formuliert werden, mangelnde Staatsgesinnung und das Eindringen der Gesellschaft in den Staat müßten überwunden werden. Schmitt setzt also seine hauptsächliche K r i t i k dort an, wo der Pluralismus der Gesellschaft sich i m Prozeß der Staatswillensbildung niederschlägt. Dies ist jedoch unvermeidbar, wenn man die Notwendigkeit insbesondere von Parteien für eine freiheitliche demokratische Ordnung sieht. Dadurch, daß sie aus dem Prozeß der politischen Willensbildung entstehen und erhalten werden, um diesen i n die Staatswillensbildung einzubringen, w i r d der gesellschaftliche Pluralismus i n dieser Weise auf den Staat übertragen. Alternative dazu ist allein die Einheitsgesellschaft, d. h. aber Gleichschaltung, wie die historische Erfahrung lehrt 5 9 . 50
Vgl. dazu etwa (Maunz-) D ü r i g (-Herzog),GG, A r t . 2 I, Rdnr. 13 ff. Löwenstein, Verfassungslehre, S. 367; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 95, 293; Weber, Spannungen, S. 51,165. 52 Fraenkel, Deutschland, S. 42, 64 ff.; Schmitt Glaeser, Mißbrauch, S. 128 f.; Kisker, DÖV 1972, S. 522; Hesse, Grundzüge, § 5 I I 1. 53 Herzog, A l l g . StL, S. 71; vgl. auch Eschenburg, Verbände, S. 79: „ Z e n t r i fugale D y n a m i k " . 54 Fraenkel, Deutschland, S. 43, 46,186. 55 Ebd., S. 68. 56 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 290 m. w . Nachw. 57 Z u m historischen Überblick vgl. Fraenkel, 45. DJT, I I Β 10 ff.; weitere Übersicht über die (nahezu uferlose) L i t e r a t u r zur Pluralismuskritik bei Scharpf, Demokratietheorie, S. 43 ff.; H. K o h l , Aus P o l i t i k u n d Zeitgeschichte, Β 12/70, S. 3 ff.; Schmidt, V V D S t R L 33, S. 188 ff.; Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 228. 58 Vgl. insbesondere i n : „ H ü t e r der Verfassung", S. 88. 59 Sontheimer, Schriften der Bundeszentrale, S. 21 ff. 51
§ 17. Gewerkschaftliche Partizipation u n d Gemeinwohl
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I n ähnliche Richtung wie C. Schmitt zielt Imboden 60 , wenn er k r i t i siert, daß der Staat durch die „pluralistische Funktionsgemeinschaft" zum „bloßen Werkzeug erniedrigt" 6 1 werde, und dies die abendländische Staatsidee verfälsche. Er w i r d damit jedoch weder der Wirklichkeit individueller und gesellschaftlicher Vielgestaltigkeit noch der Vorstellung gerecht, daß die offene Austragung von Meinungsunterschieden eher dem freiheitlichen demokratischen Willensbildungsprozeß entspricht als die Friedhofsstille i n einem zwar nicht mehr instrumentalen, dann aber totalen oder autoritären Staat: A l l e i n die Tatsache, daß i n dieser Ordnung die politischen Entscheidungen von nur wenigen gesellschaftlichen Gruppen oder nur einer getragen werden, läßt keine bessere Beurteilung des Charakters eben dieser Entscheidung zu, vor allem werden sie dadurch nicht „abendländischer" oder staatsnäher oder weniger nur einem „Nützlichkeitswert" 6 2 verhaftet. Aus der neueren Literatur sind insbesondere Werner Webers Warnungen vor den Fakten und Konsequenzen einer pluralistischen Gesellschaftsstruktur zu nennen 63 : Neben den Parteien hätten sich als Entrechtete des Dritten Reiches soziale Machtkörper m i t erheblichem politischen Einfluß etabliert 64 , die als reale politische Kräfte das „Autoritätsvakuum der Massendemokratie" 65 ausgefüllt hätten und eine Vielheit „oligarchischer Aktionsgemeinschaften und Einflußgruppen" bildeten 66 . Weber prägt dafür den Ausdruck „Pluralismus der oligarchischen Herrschaftsgruppen" 67 , wobei er unter Pluralismus eine „ungeordnete Vielzahl" versteht. Die Charakterisierung der Verbände als „Oligarchien" zieht sich als roter Faden durch seine gesamte kritische Pluralismusbetrachtung 68 . Die hauptsächliche Gefahr sieht Weber i n der Auslösung eines einheitlichen Staatsbewußtseins 69 und dadurch hervorgerufener Aufspaltung des verfassungsrechtlichen Kräftesystems durch dieses „ständestaatliche System nebeneinanderstehender Oligarchien" 70 . Drei Ursachen seien für das Erstarken der Verbände entscheidend 71 : 60
Die politischen Systeme, S. 81 ff. Ebd., S. 81. 62 Ebd., S. 81. 63 Spannungen, S. 44 ff. 64 Ebd., S. 45 ff. 65 Ebd., S. 161. 66 Ebd., S. 161. 07 Ebd., S. 44, 49, 131 f.; ähnlich Kaiser, Repräsentation, S. 359, der darin ebenfalls eine potentielle Gefahr f ü r das I n d i v i d u u m sieht, vgl. § 23 B. 68 Ebd., S. 55,122 f., 132, 341. 69 Ebd., S. 55. 70 Ebd., S. 55, vgl. auch S. 167,173. 71 Ebd., S. 243. 61
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5. Kap.: Das System der Volks- u n d Staatswillensbildung
(1) die Schwäche der Parteien, die ihren Anspruch auf Monopolisierung der politischen Willensbildung nicht mehr durchsetzen können 7 2 ; (2) das Bestreben der industriellen Massengesellschaft, sich nach Interessengruppen zu organisieren; (3) das sozialstaatliche Selbstverständnis des modernen Staates: durch den Einfluß der Verbände auf den staatlichen Verteilungsprozeß fördere der Sozialstaat die Bildung von Verbänden ebenso wie umgekehrt die Verbände die Sozialstaatlichkeit vorantrieben 73 . Insbesondere diese zutreffend analysierte Interdependenz von Sozialstaat und Verbandswesen 74 wie auch der Hinweis auf die Eigenart der modernen Industriegesellschaft machen deutlich, daß es Weber nicht um die Forderung nach Einebnung der pluralistischen Vielgestaltigkeit geht; vielmehr ist für i h n das Problem entscheidend, wie innerhalb dieses Pluralismus das gewaltenteilende Gleichgewicht eingehalten 75 , wie also die pluralistische Funktionsfähigkeit gesichert werden kann. Da Weber andererseits gerade der für derart gefahrvoll analysierten pluralistischen Wirklichkeit das Verdienst für den real freiheitlichen Charakter der heutigen Verfassungszustände i n der Bundesrepublik zuschreibt 76 , ist es falsch, ihn i n eine Reihe m i t Pluralismuskritikern wie C. Schmitt einzuordnen 77 . Die Gefahren, auf die Weber vor dem Hintergrund seiner klaren Wirklichkeitsanalyse warnend hinweist, sollten gerade diejenigen berücksichtigen, denen es u m die Weiterentwicklung dieser pluralistischen Struktur und die Funktionsfähigkeit der freiheitlich demokratischen Verfassung geht. Das gleiche gilt für die Pluralismusanalyse von Löwenstein 78 . Er erkennt ebenfalls die Wirklichkeit pluralistischer Gruppen an und sieht die Hauptgefahr i n der Kollektivierung des einzelnen, d. h. i m Verlust an individueller Selbstbestimmung gegenüber diesen sozialen Gewalten 79 . Weiterhin w i r d kritisiert, daß nicht alle Interessen organisierbar 80 sind und daß die pluralistische Theorie des Gruppenausgleichs und der Machtbeschränkung i m Widerspruch zur sozialen Wirklichkeit stehe 81 und diese zur konservativen Erstarrung gesellschaftlicher Ungleichhei72
Ebd., S. 124 f. Ebd., S. 234 f., 243, 340, 356; ders., Sozialpartner, S. 258 f. 74 Vgl. dazu auch Imboden, Politische Systeme, S. 82 ff. 75 Weber, Spannungen, S. 166. 76 Ebd., S. 51. 77 So aber Sontheimer, Schriften der Bundeszentrale, S. 18; Hirsch, Gewerkschaften, S. 17 f. 78 Verfassungslehre, S. 367 ff. 79 Ebd., S. 385 ff.; vgl. auch Kaiser, Repräsentation, S. 320. 80 Schmidt, V V D S t R L 33, S. 188 ff.; Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 228. S1 Vgl. etwa Sontheimer, Grundzüge, S. 124 ff.; Görlitz, Handlexikon, S. 431. 73
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ten führe 82 . Ebenso wie Webers und Löwensteins Einwände versuchen auch diese nicht, die Existenz pluralistischer Kräfte zu leugnen oder zu beseitigen, sondern bezwecken die Herstellung einer funktionsfähigen pluralistischen Struktur und zeigen Gefahren auf. Selbst wenn geltend gemacht wird, i n der „spätkapitalistischen" Gesellschaft sei ein pluralistischer Ausgleich allenfalls auf der Distributionsebene, nicht aber auf der ungleich wichtigeren Produktionsebene vorhanden 83 , der Puralismus werde also lediglich als Vehikel zur Verschleierung der wirklichen Klassengegensätze benutzt 84 und eine rationale Pluralismusdiskussion sei daher überhaupt nicht möglich, dann kann dies ebenfalls nicht als Argument zur Abschaffung pluralistischer Strukturen, zur Einebnung gesellschaftlicher und menschlicher Vielfältigkeit dienen, sondern zwingt zur Überprüfung pluralismus-feindlicher Tendenzen und Kräfte i n der Gesellschaft. I n diese Richtung freilich zielt diese K r i t i k nicht. Deutlich w i r d die Absicht marxistischer Kritiker, wenn sie die Vorherrschaft einer Gruppe oder Klasse anstreben und die Duldung vielfältiger, i n ihren Interessen oft gegensätzlicher Gruppen als „repressive Toleranz" 8 5 verurteilen. Diese A n t i pluralismusargumente widersprechen der durch die Grundrechte gewährleisteten gesellschaftlichen Vielgestaltigkeit 8 6 . Es gibt keine verfassungsrechtliche Alternativen zum Pluralismus. Aufgabe ist vielmehr, die pluralistischen Strukturen zu effektivieren 87 . B. Gemeinwohlkonkretisierung
Die zur Aufrechterhaltung freiheitsichernder pluralistischer Gesellschaftsstrukturen erforderlichen „regulativen Ideen" 8 8 bedingen, daß die gesellschaftlichen Kräfte nicht völlig ungeordnet wirken können, sondern einer allgemein anerkannten Grundordnung bedürfen. Nur innerhalb des durch sie gesteckten Rahmens ist Raum für individuelle Beliebigkeit, denn andernfalls könnten die „Zentrifugalkräfte" überhand nehmen. Art. 79 I I I zeigt, daß das GG diesen Grundkonsens i n der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sieht 89 ; sie muß bei jeder Grundrechtsausübung zumindest toleriert werden 90 . 82
So insbesondere Shell, Handlexikon, S. 310; Schmidt, V V D S t R L 33, S. 218. Agnoli/Brückner, Transformation, S. 23 f. u n d passim. 84 Vgl. Nachweise bei v. Beyme, Interessenverbände, S. 204; Sontheimer, Grundzüge, S. 124 ff. 85 Vgl. Nachweise bei v. Beyme, Interessenverbände, S. 204. 86 I m übrigen stehen sie auch i m Gegensatz zur sozialen Wirklichkeit i n den sozialistischen Staaten: Auch dort sind unleugbar nicht eingeplante pluralistische Gruppen vorhanden, vgl. v. Beyme, Interessenverbände, S. 202 f. 87 Ähnlich Hirsch, Gewerkschaften, S. 146; Knöpfle, DVB1 1974, S. 715 f. 88 Vgl. §17 A . 89 Schmitt Glaeser, Mißbrauch, S. 128 ff. 90 Ebd. 83
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5. Kap.: Das System der Volks- u n d Staatswillensbildung
Dieser notwendige Konsens i n grundlegenden Fragen des Gemeinwesens bedeutet für das Gemeinwohl einerseits, daß Gemeinwohl nie absolut offen ist 0 1 , sondern auf bestimmten, von der Verfassung vorgegebenen Größen basiert. Andererseits ist i n einer pluralistischen Gesellschaft Gemeinwohlkonkretisierung und Gemeinwohlverwirklichung im einzelnen jeweils das Ergebnis eines auf freier Entscheidung beruhenden Willensbildungsprozesses und nicht eines Erkenntnisprozesses92, i n dessen Verlauf Gemeinwohl als objektive, vorgegebene Größe definierbar wäre 9 3 . Vielmehr w i r d es i n offener Austragung von Meinungsverschiedenheiten ermittelt, i n einem „dialektischen Prozeß der divergierenden Ideen und Interessen der Gruppen und Parteien" 9 4 mit unterschiedlichem Ergebnis 95 . Wegen der Notwendigkeit, Gemeinwohl i m einzelnen dennoch für alle verbindlich zu fixieren, w i r d damit die Gemeinwohlfrage zur Kompetenzfrage, zur Frage „nach der Person oder Instanz, die es ,kompetent' verwirklicht" 9 6 . Dem Pluralismus der Gemein Wohlgesichtspunkte entspricht ein „Pluralismus der Verfahren" 9 7 und damit ein partizipatives Verfahren 98 . Gemeinwohl kommt also nicht trotz, sondern dank der M i t w i r k u n g der Verbände, namentlich der mitgliederstarken Gewerkschaften zustande 99 . Die A n t w o r t auf die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von gewerkschaftlicher Partizipation und Gemeinwohlrealisierung 100 lautet also: pluralistisches Gemeinwohlverständnis schließt Partizipation nicht aus, sondern w i r d „zum Legitimationsgrund für Partizipation" 1 0 1 .
91 Vgl. Hättich, Demokratie als Herrschaftsordnung, S. 119 ff.; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 192 Fußn. 51 m. w . Nachw. 92 BVerfGE 5, 85 (198 f.); Reuß, Z f A 1970, S. 320 ff.; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 192 f.; Stein, Staatsrecht, S. 76 f.; Häberle, öffentliches I n teresse, S. 88, 101, 209 f.; Ossenbühl, Anforderungen, S. 138; Schmidt, V V D S t R L 33, S. 195; Böckenförde, ebd., S. 299; Knöpfle, DVB1 1974, S. 714. 93 So aber die frühkonstitutionelle Staatsrechtslehre, vgl. dazu Fraenkel, Deutschland, S. 20 ff. 94 Fraenkel, Deutschland, S. 200; H. Huber, Verbände, S. 17 f.; Hesse, Grundzüge, § 1 I I , § 5 I, bezeichnet dies als „Herstellung politischer Einheit" ; Hirsch, Gewerkschaften, S. 14,16, 68. 95 Fraenkel, Deutschland, S. 63, weist zu Recht darauf hin, wie unrealistisch die Vorstellung von einem i n allen Bereichen staatlichen u n d gesellschaftlichen Lebens existierenden Gemeinwillens ist; i h m folgend Scheuner, DÖV 1965, S. 580; Söllner, A u R 1966, S. 263. 96 Häberle, öffentliches Interesse, S. 49, 468; vgl. auch Reuß, Z f A 1970, S. 322 f.; BVerfGE 5, 85 (198 f.). 97 Häberle, öff. Interesse, S. 499,101. 98 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 192. 99 Fraenkel, Deutschland, S. 46; vgl. auch Kaiser, Parität, S. 65. 100 Vgl. §17 A . 101 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 192.
Sechstes
Kapitel
Inhalt und Grenzen gewerkschaftlicher Beteiligung unter dem Aspekt des Demokratiegebots—Art. 20 I I GG Das Demokratiegebot des GG ist neben der Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und Bundesstaatlichkeit das grundlegende Staatsformmerkmal des Verfassungsstaates nach dem GG 1 . § 18. Das Erfordernis demokratischer Legitimation für die Ausübung von Staatsgewalt 2 A. Einführung
Daß die Beteiligung Privater eine demokratische Funktion erfüllt, w i r d heute allgemein anerkannt 3 : Vor allem i m Bereich der Verwaltung soll die Beteiligung von Privaten an der staatlichen Willensbildung einen demokratischen Effekt erzielen 4 . Zugleich müssen Inhalt und Umfang der Beteiligung Privater ebenso am Demokratiegebot gemessen werden wie die darüber hinausgehende Übertragung staatlicher Aufgaben, insbesondere von Verwaltungsaufgaben auf Private 5 . Für die weitere Untersuchung der durch die Gewerkschaften wahrgenommenen bürgerschaftlichen Partizipation sollen drei dem Demokratiegebot zuzuordnende Prinzipien herangezogen werden: erstens: das Erfordernis demokratischer Legitimation, A r t . 20 I I S. 1 (Prinzip der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung); zweitens: die demokratischer Selbstverwirklichung entsprechende Nutzbarmachung gesellschaftlicher Initiative und gesellschaftlichen Sachverstandes sowie, drittens, das Öffentlichkeitsprinzip. 1 Vgl. etwa Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr.29 ff.; A r t . 28, Rdnr. 4; Hesse, Grundzüge, § 4. 2 Vgl. ausführlich Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 209 ff. 3 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 180 ff.; 189 f., 209 if.; Walter, VVDStRL31, S. 148,150,154, 156, 173; Rupp, N J W 1972, S. 1537 ff.; Kisker, DÖV 1972, S. 527 f.; Oberndorfer, DÖV 1972, S. 529 ff.; v. Simson, V V D S t R L 29, S. 37; Kriele, V V D S t R L 29, S. 65 ff.; Naschold, Organisation u n d Demokratie, S. 19, 50 f.; Stammer, i n : Gehlen/Schelsky, Soziologie, S. 277 ff.; Ellwein/Zoll, Der beschäftigte Mensch, S. 7. 4 Vgl. Dagtoglou, Privater, S. 125, m. zahlreichen Nachw. 5 Vgl. dazu Ossenbühl, V V D S t R L 29, S. 159 f., 172; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 40, 43.
110
6. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Demokratiegebot B. Legitimationsfunktionen
Demokratische Legitimation nach dem GG erfordert, daß jede staatliche Machtausübung auf einen vom Volk ausgehenden Legitimationsakt zurückführbar sein muß, also eine Legitimationskette vom Volk zu den handelnden Staatsorganen bestehen muß, Art. 20 I I S. I e . Solche Legitimationsakte sind Wahlen und Abstimmungen, A r t . 20 I I S. 2, 1. Halbsatz. Legitimationsgrund ist also das auf diese Weise demokratisch tät i g gewordene Staatsvolk, die Aktivbürgerschaft 7 . I n neuester Zeit w i r d geltend gemacht, der Legitimationsbegriff dürfe nicht „auf der Schwelle der demokratischen Verfassung" verharren 8 und sei nicht ausschließlich gesetz- und parlamentsbezogen zu sehen9. Man unternimmt den Versuch, die demokratische Legitimation des Prozesses der Gesamtwillensbildung aufzuspalten und dem durch A r t . 20 I I S. 1 verankerten Legitimationsgrund, dem Staatsvolk, weitere legitimierende Prozesse entgegenzustellen oder zuzuordnen. Zu fragen ist jedoch, ob es für A r t . 20 I I S. 1 einen Ersatz geben kann und/oder ob man diese Legitimation verstärken kann 1 0 . Von dieser Ausgangsfrage hängt entscheidend die rechtliche Position ab, die den Gewerkschaften i m Prozeß der Staatswillensbildung zukommt. Alleinige Legitimation durch Beteiligung Privater, also anstelle der Volkswahl, widerspricht den Art. 20 I I und 28 I, weil die vom Gesamtvolk bzw. von den i n A r t . 28 I genannten „Teilvölkern" 1 1 zu den jeweiligen staatlichen Organen verlaufende Legitimationskette m i t der von den Gewerkschaften ausgehenden gleichsam „kurzgeschlossen" 12 würde. Damit verkürzt sich das Problem allein auf die zusätzliche Legitimation durch gewerkschaftliche Partizipation. C. Gewerkschaftliche Beteiligung als Problem zusätzlicher Legitimation 1. Gesetzgebung
und
Regierung
13
Wie oben dargestellt haben die Gewerkschaften teils auf den Geschäftsordnungen (GeschO)14 teils auf ihrer Tätigkeit als Lobby be6 Vgl. Scheuner, V V D S t R L 16, S. 124; Hesse, V V D S t R L 17, S. 20; Häberle, JuS 1967, S. 67; zur Trennung zwischen Legitimation u n d Ordnung i n A r t . 20 I I S. 1 u n d S. 2 vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 211, m. w. Nachw. i n Fußnote 142. 7 Maunz(Dürig-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 49, 53. 8 Schmidt, V V D S t R L 33, S. 212. 9 Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 226 f.; Böckenförde, ebd., S. 298. 10 Vgl. dazu Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 214 ff. 11 Z u r Terminologie vgl. Kelsen, A l l g . Staatslehre, S. 180 f. 12 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 215; Leisner, Mitbestimmung, S. 48, Ossenbühl, Anforderungen, S. 124. 13 4. K A P I T E L .
§ 18. Demokratische Legitimation
111
ruhende Einwirkungsmöglichkeiten, die noch dadurch verstärkt werden, daß ein Großteil der Parlamentarier zu den Gewerkschaftsfunktionären oder -mitgliedern zählt. Das Parlament ist i n der demokratischen Legitimationskette 1 5 das dem Legitimationsakt, den Volkswahlen, nächststehende Staatsorgan, die Volksvertretung i m Sinne verfassungsrechtlicher Repräsentation, Art. 38 I 1 6 . Das Einwirken eines oder mehrerer gesellschaftlicher Teilwillensbildungsprozesse auf das Ergebnis eines staatlichen Gesamtwillensbildungsprozesses kann diesen — zumindest i m Zeitpunkt der Parlamentswahlen — weder ersetzen noch ergänzen, sondern allenfalls stören. Auch zwischen den Wahlen ist an eine Ergänzung dieses durch die Parlamentswahlen gelegten Legitimationsgrundes nicht zu denken. Zwar geben die zahlreichen zwischen den BT-Wahlen stattfindenden Landtags-, Bürgerschafts- und Kommunalwahlen, bei denen sich i n der Regel die i m Bundestag vertretenen Parteien ebenfalls u m Mandate bewerben, der Bundespolitik politische Anstöße, ebenso gehen diese auch von der Tätigkeit der Verbände aus. Aber diese politisch-faktischen Auswirkungen haben keine rechtliche Bedeutung. Dies ist faktische Kontrolle, aber keine zusätzliche Legitimation. Auch sind die Gewerkschaften ebenso wie die Summe der übrigen Verbände weder m i t dem Gesamtvolk identisch noch dessen verfassungsrechtlich legtimierte Vertreter. Darüber hinaus ist selbst dem Gesamtvolk eine permanente Legitimationserneuerung verfassungsrechtlich durch A r t . 38 I versagt 17 . Die Beteiligung der Gewerkschaften kann daher alleinige Legitimation ohnehin nicht schaffen, einen zusätzlichen Legitimationsgrund aber ebenfalls nicht legen. 2.
Verwaltung
a) Die unmittelbar dem Parlament verantwortliche Regierung steht der Legitimationsquelle noch derart nahe, daß die Einbeziehung von gesellschaftlichen Teilwillensbildungsprozessen für die Regierungstätigkeit ebensowenig einen zusätzlichen Legitimationsgrund darstellen kann wie für die Tätigkeit des Parlaments zwischen den Wahlen. b) Zu den Verwaltungsorganen ist die Legitimationskette vom Gesamtvolk, A r t . 20 I I S. 1, bzw. dem ebenfalls legitimierenden Teilvolk 14
§ 73 I I GeschO B T ; § 10 GeschO BReg.; § 23 I I GGO I. Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 211, 213. 10 Vgl. etwa Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 38, Rdnr. 1. 17 Nicht Beauftragung, sondern „Betrauung" des Abgeordneten, vgl. etwa v. Simson, V V D S t R L 29, S. 33; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 38, Rdnr. 10. 15
112
6. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Demokratiegebot
eines Bundeslandes oder einer Gemeinde, Art. 28 I, bisweilen sehr lang 1 8 , so daß sich hier das Legitimationsproblem akut stellt. Zu denken ist wiederum an eine zusätzliche Legitimierung durch gewerkschaftliche Partizipation. Gerade die Einbeziehung der Gewerkschaften als Verbände, die auf Grund ihrer großen Mitgliederzahl eine besonders breite gesellschaftliche Basis haben, könnte diese Legitimationskette verkürzen und damit diese Organe intensiver „demokratisieren". Dieses Problem 19 , das sich aus unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Sicht stellt, soll an dieser Stelle allein unter dem Aspekt demokratischer Legitimation gesehen werden: Zusätzliche Legitimation wäre erforderlich, wenn der von der Aktivbürgerschaft zu dem jeweiligen Verwaltungsverhalten verlaufende Legitimationsstrang entweder zu schwach oder lückenhaft wäre. Die moderne Tendenz der zunehmenden Verselbständigung der Verwaltung gegenüber Parlament und Regierung 20 — eine Folge veränderter Verwaltungsfunktionen, insbesondere der sozialstaatlichen Daseinsvorsorge sowie der Planung m i t komplexen Interpendenzen — führt zu einem politischen Führungsdefizit von Parlament und Regierung und damit zu einem „demokratischen Legitimationsdefizit der Verwaltung" 2 1 . Zur Beseitigung dieses Defizits jedoch muß die defekte Legitimation wieder hergestellt oder verbessert werden, die Verwaltung ist also wieder „an die Legitimationskette zu legen" 22 . Das Einschieben anderer „Legitimationsquellen" ist kein Heilmittel und kann nichts ersetzen oder ergänzen; denn diese können die Ausübung von Staatsgewalt nicht legitimieren, jedenfalls nicht demokratisch und nicht entsprechend dem vom GG konstituierten Staatsaufbau 23 . Der zu den weiteren Verwaltungsorganen und -behörden verlaufende Legitimationsstrang kann also durch die Gewerkschaften weder intensiviert noch ergänzt werden. 18
Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 218. Vgl. ebd., S. 209, Fußn. 128, Lecheler, DÖV 1974, S. 442. 20 Vgl. den prägnanten Überblick bei Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 200 ff., m. zahlreichen Nachw.; Bartelsperger, V V D S t R L 33, S.222ff.; Forsthoff, V e r w R I, § 4, 3, weist auf den wachsenden Einfluß der Legislative etwa durch Budgetpraxis u. Maßnahmegesetze hin. Es ist also eine Bewegung i n gegenläufiger Richtung erkennbar: sowohl die Verselbständigung der Verwaltung, insbesondere auf dem Gebiet der Planung, als auch ihre Einengung i n anderen Bereichen. 21 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 203, s. auch S. 213. 22 Ebd., S. 213; i m Ergebnis ebenso Lecheler, DÖV 1974, S. 442 ff.; Ossenbühl, Anforderungen, S. 124 f.; a. Α.: Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 226 f.; Böckenförde, ebd., S. 299. 23 Kritisch Schmidt, V V D S t R L 33, 212 ff., der diese Sicht f ü r zu eng hält, aber offen läßt, welches Demokratiekonzept neben dem des GG noch verbindlich sein soll; ähnlich Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 226, 247; m i t Recht weisen demgegenüber Schmitt Glaeser, V V D S t R L 33, S. 301, u. Zacher, ebd., S. 279, darauf hin, daß allein das GG ein allgemein verbindliches Demokratiekonzept statuieren kann. 19
§ 18. Demokratische Legitimation
113
c) Für die mittelbare Staatsverwaltung 24 durch die sozialen Selbstverwaltungskörperschaften wie die durch Gesetze begründeten Sozialversicherungsträger 25 , die Wirtschaftskammern und Arbeitnehmerkammern i n Bremen 28 käme eine zusätzliche Legitimation 2 7 durch Partizipation der Gewerkschaften i n Betracht. Nicht nur das Gesamtvolk, sondern auch ein „Teilvolk" 2 8 kann Legitimationswirkungen entfalten: Das Legitimationsprinzip von A r t . 20 I I gilt gem. A r t . 28 I für die Herrschaftslegitimierung i n den Ländern, Kreisen und Gemeinden, also i n Verbänden m i t territorialem Bezug 29 . Art. 87 I I und I I I kann als Begründung für seine Ausweitung auch auf Personalkörperschaften ebensowenig wie A r t . 40 I oder A r t . 88 herangezogen werden 30 , w e i l diese Bestimmungen nichts zur Legitimation aussagen, so daß A r t . 20 I I und A r t . 28 I als abschließende Regelung aufzufassen sind 31 . Eine generelle Legitimierung durch die jeweils Betroffenen würde die politische Einheit des Gemeinwesens gefährden: dem Prinzip der Legalität würde die Legitimierung durch die Betroffenen gegenübergestellt und damit die verfaßte Herrschaft zerfasert 32 . A l l e i n der lapidare Hinweis darauf, diese Gefahr der zusätzlichen demokratischen Legitimation müsse durch den politichen Prozeß gebannt werden 33 , ist nicht ausreichend und kein stichhaltiges Gegenargument. Denn es ist gerade Aufgabe der Verfassung selbst, ein Instrumentarium zu schaffen, m i t dem sich Konfliktfälle lösen lassen und politische Einheit herzustellen ist 34 . 24
Die Partizipationsproblematik stellt sich auch f ü r Selbstverwaltungskörperschaften, vgl. Walter, V V D S t R L 31, S. 152; sie gehören zur Staatsverwaltung, Forsthoff, VerwR, S. 437 fï., 444 f., 452 f.; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 197, m. w . Nachw. auch zur gegenteiligen Ansicht; allgemein zur Selbstverwaltung vgl. Wolff, V e r w R I I , §§ 77 I b, 84 I V ; E. R. Huber, Selbstverwaltung. 23 Ausführlich Wolff, V e r w R I I , § 96; Leopold, Selbstverwaltung, S. 1 ff. 28 Vgl. § 4, Tabelle 2. 27 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 217. 29 s. Fußn. 11. 29 Vgl. zum folgenden Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 211, 217 ff., m. w . Nachw. auch zur Gegenmeinung, S. 229; Leisner, Mitbestimmung, S. 30; H. H. Klein, Forsthoff-Festschrift, S. 177, lehnt demgegenüber Legitimationswirkungen durch diese Teilvölker ab. 30 Vgl. aber Brohm, V V D S t R L 30, S. 245 ff., 270, Fußn. 69. 31 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 218, 306; Zeidler, DVB1. 1973, S. 719; Ossenbühl, Anforderungen, S. 124 f. 32 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 219 f.; Zeidler, DVB1. 1973, S. 721; vgl. auch Lecheler, DÖV 1974, S. 441 ff.; a . A . : Schmidt, V V D S t R L 33, S. 212 ff.; Bartelsperger, ebd., S. 226, 247. 88 Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 247. 34 Hesse, Grundzüge, § 1 I I . 8 Gießen
114
6. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Demokratiegebot
Das Verbandsvolk dieser Selbstverwaltungskörperschaften 35 kann also nicht Legitimationsgrund sein, vielmehr schöpfen diese ihre Legitimation aus dem demokratischen Gesetz, durch das sie begründet werden, also gem. A r t . 20 I I bzw. 28 I. Legitimation durch gewerkschaftliche Partizipation scheidet daher aus 36 . 3. Zur Legitimationsbedeutung
der Tarif
autonomie
Näher liegt der Gedanke einer zusätzlichen Legitimation durch die Gewerkschaften bei Ausübung der tarifvertraglichen Befugnis zur Setzung von Rechtsnormen, § 1 I TVG. Sieht man i n dieser Rechtsetzungsbefugnis eine originäre Kompetenz, ist eine Herrschaftslegitimierung durch das Gesamtvolk oder die Teilvölker der Länder nicht möglich, weil die tarifliche Rechtsetzungsmacht losgelöst vom staatlichen Gesetzgeber wäre. a) Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Staatsgewalt Nach Auffassung Herschels 37 wurzelt die Tarifautonomie „letztlich i m außerstaatlichen Raum" 3 8 , die Tarif autonomie sei also dem Staat vorgegeben und als Lebensbetätigung und Lebensform der sozialen Autonomie naturrechtlich begründet. Herschel begründet diese These mit der geschichtlichen Entwicklung: ursprünglich sei der Tarifvertrag nicht vom Staat geschaffen, sondern sogar gegen i h n durchgesetzt worden; sowohl 1918 als auch i n der Zeit nach dem Zusammenbruch von 1945 habe es Tarifverträge ohne staatliche Ermächtigung gegeben39. Gegen diese Lehre vom vorstaatlichen Charakter der Tarifautonomie spricht jedoch, daß allein oder hauptsächlich historische Erwägungen ein Interpretationsergebnis nicht begründen können, zumal wenn es sich — wie bei der von Herschel angegebenen Zeit — um ausgesprochene Krisenzeiten m i t Ausnahmecharakter handelt 40 . Überhaupt wäre die Annahme vorgegebener, naturrechtlicher Rechtsetzungsautonomie ein enger Ausnahmefall, der besonders begründet werden müßte: selbst für die gemeindliche Autonomie w i r d dieser Gedanke von der h M verworfen 41 , obwohl ζ. B. der Wortlaut der Bayer. Verf. und der Bayer. 35 Vgl. auch BVerfGE 11, 310 (321): das GG mache die Errichtung von Sozialversicherungsträgern nicht von der Zustimmung der Betroffenen abhängig. 36 I m Ergebnis auch Dagtoglou, DVB1. 1972, S. 717. 37 I n : Bogs-Festschrift, S. 125 ff. (129 ff.); ähnlich Söllner, AuR 1966, S. 260 f. 38 Ebd., S. 131 ; ebenso Kaiser, Parität, S. 26 ff. 39 Ebenso Söllner, A u R 1966, S. 261 ; Kaiser, Parität, S. 26 ff. 40 Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 12 f. 41 Vgl. Wolff-Bachof, V e r w R I, § 2 I I I b, V e r w R I I , § 86 I b; § 86 V I I b 2; (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 19 I I I , Rdnr. 37, 38; v. Unruh, i n : Besonderes Verwaltungsrecht, S. 91 f., 93,104; ders., Der Staat 1965, S. 441 ff. (455 ff., 464 ff.); Forsthoff, VerwR, § 26 B (S. 532).
§ 18. Demokratische Legitimation
115
GemeindeO dafür zu sprechen scheint 42 , A r t . 11 I I Bayer. Verf., A r t . 1 Bayer. GemeindeO. Nach nahezu einhelliger Auffassung gehört die Tarifautonomie zum Kernbereich von A r t . 9 I I I 4 3 . Bestritten ist jedoch, ob Art. 9 I I I die Tarifautonomie verfassungsunmittelbar oder lediglich -mittelbar dadurch garantiert, daß der Gesetzgeber verpflichtet wird, ein Tarifvertragssystem zur Verfügung zu stellen. Der ersten Ansicht zufolge 44 ist die Grundlage der arbeitsrechtlichen Rechtsetzungsbefugnis die gleiche, auf der auch das Gesetzgebungsrecht des Staates selbst beruht, nämlich die Verfassung 45 . Die Tarifautonomie sei damit der Disposition des Gesetzgebers entzogen. Diese Lehre von der „verfassungsunmittelbaren Autonomie" stellt also die Tarif autonomie neben die staatliche Normsetzungsbefugnis, denn ebenso wie diese gründe sie sich allein auf die Verfassung 40 . Gegen diese Ansicht sprechen indessen grundlegende Bedenken. Die Schlußfolgerung, der Gesetzgeber könne wegen des allgemeinen Satzes „nemo plus iuris transferre quam ipse habet" 4 7 die Tarifautonomie nicht delegieren 48 , w e i l diese infolge ihrer unmittelbaren verfassungsrechtlichen Gewährleistung dem gesetzgeberischen Zugriff entzogen sei, setzt voraus, daß der Gesetzgeber nicht schon das Grundrecht des Art. 9 I I I selbst ändern kann. Denn wenn selbst diese Grundlage für vermeintlich originäre Tarifautonomie dem Gesetzgeber zur Veränderungen offen steht, ist die Tarifautonomie zumindest von der Duldung des Gesetzgebers abhängig und steht nicht neben der legislativen Kompetenz. Ob eine Verfassungsnorm abänderbar oder sogar aufhebbar ist, richtet sich allein nach A r t . 79. Der Gesetzgeber kann — freilich nur 42 (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 19 I I I , Rdnr. 38, Fußn. 1; Wolff, V e r w R I I , § 86 I b. 43 BVerfGE 4,106 ff.; 18, 26 ff.; 19, 313 f.; 20, 317; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S.37, 46, 231 f., 347, 370; Krüger, Grenzen, S. 17; Weber, Tarifautonomie, S. 22 ff.; ders., Sozialpartner, S. 244; Hesse, Grundzüge, § 12 I 8 b; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 13 ff.; Ridder, Gewerkschaften, S. 31 f.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S.283; Säcker, Grundprobleme, S.71 ff.; Biedenkopf, Grenzen, S. 102 ff.; Hueck/Nipperdey/Stahlhacke, T V G , § 1, Rdnr. 16; a. A . Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 60, 253 f.: der Tarifvertrag sei zwar die prinzipielle, traditionelle u n d typische F o r m der Koalitionseinigung, die sich i n dieser Form aber weder erschöpfe noch m i t i h r identisch sei. 44 Biedenkopf, Grenzen, S. 102 ff.; ders. 46, DJT, S. 111 f.; Galperin, M o l i t o r Festschrift, S. 143 ff., 153 ff.; Söllner, A u R 1966, S.260 f.; Weber, T a r i f autonomie, S. 23 f.; Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, A n m . Β 8 b, aa; Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 61 f. 45 Galperin, Molitor-Festschrift, S. 157. 46 Biedenkopf, Grenzen, S. 104; Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, A n m . Β 8 b, aa (S. 232). 47 Vgl. Wolff, V e r w R I I , § 72 I V b 2. 48 Biedenkopf, Grenzen, S. 104.
B*
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6. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung und Demokratiegebot
durch verfassungsänderndes Gesetz unter den Voraussetzungen von A r t . 79 — A r t . 9 I I I einschränken oder sogar aufheben 49 ; daß dies ζ. B. gegen die Sozialstaatlichkeit, A r t . 20 I i. V. m. A r t . 79 I I I , verstößt, ist nicht ersichtlich. Z w a r ist die Koalitionsfreiheit auch und gerade unter sozialstaatlichen Aspekten zu sehen 50 , aber als unabdingbare Voraussetzung eines Sozialstaates kann die Tarifautonomie nicht betrachtet werden. Eine verfassungsrechtlich mögliche Änderung der Wirtschaftsordnung i n Richtung auf mehr staatliche Planung 5 1 würde sonst zumindest stark behindert, wenn nicht unmöglich gemacht werden. Die These von der Gleichgewichtigkeit des Gesetzgebers und der Tarifvertragsparteien ließe sich allenfalls dann aufrechterhalten, wenn man zwischen einfachem und verfassungsänderndem Gesetzgeber differenzieren könnte. Eine derartige Unterscheidung w i r d jedoch vom GG nicht gestützt: Es kennt nur ein Gesetzgebungsorgan, den staatlichen Gesetzgeber, der auch — jedoch unter besonderen Voraussetzungen — das GG ändern kann, A r t . 79 52 ; zu differenzieren ist nur das Gesetzgebungsverfahren bei einfachen und verfassungsändernden Gesetzen. Die tarifvertragliche Rechtsetzungsbefugnis bleibt den Tarifpartnern also nur solange erhalten, wie dies dem politischen W i l l e n der Legislative entspricht. Diese rechtliche Abhängigkeit der Tarifpartner vom staatlichen Gesetzgeber verbietet die Annahme einer originären, verfassungsunmittelbaren Autonomie. Vielmehr liegt der Delegationsgedanke verfassungsrechtlich näher. Nach den Delegationstheorien 53 w i r d der Gesetzgeber durch A r t . 9 I I I verpflichtet, ein Tarifvertragssystem zu schaffen. Tarifautonomie sei eine durch einfaches Gesetz vom staatlichen Gesetzgeber den Koalitionen verliehene (delegierte) Rechtsetzungsbefugnis 54 , zu deren Gewährung der Gesetzgeber freilich durch A r t . 9 I I I verpflichtet gewesen sei. Nach dieser Auffassung kann nicht A r t . 9 I I I die K o a l i t i o n zur Normsetzung legitimieren 5 5 , sondern nur das TVG. Der Gesetzgeber könne 49
Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 16. Vgl. §28. 51 Vgl. zur wirtschaftspolitischen Neutralität des GG grundlegend BVerfGE 4, 7 ff. (18); Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 107 f., m. w. Nachw.; Maunz(-DürigHerzog), GG, A r t . 14, Rdnr. 8, akzeptiert ebenfalls diese Neutralität, betont aber die Grundrechtsbindung auch der staatl. Wirtschaftsmaßnahmen. 52 Zutreffend Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 16. 53 So BVerfGE 4, 106 ff.; 20, 317 ff.; BVerfG, NJW1975, S. 1267; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 13 ff.; Hueck/Nipperdey, ArbR I I / l , S. 231, 339 ff.; Spanner, DÖV 1965, S. 156; Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 460; Ridder, Gewerkschaften, 5. 32. 54 Vgl. etwa B A G E 1, 262 ff.; 4,136; 4, 251 f.; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 9 ff.; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 339 ff.; Scheuner, VVDStRL 11, S. 31; E. R. Huber, WirtschaftsVerwR I I , S. 431 ff. 55 So aber Söllner, AuR 1966, S. 263. 50
§18. Demokratische Legitimation
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diese Ermächtigung jederzeit zurückziehen und die übertragene Aufgabe i n eigener Verantwortung übernehmen 56 . Peters/Ossenbühl 57 ziehen dieser gesetzgeberischen Freiheit engere Grenzen: Das T V G sei „Ausfüllungsgesetz" zu A r t . 9 I I I und normiere bestimmte Modalitäten der M i t w i r k u n g der Koalitionen; allein diese Mitwirkung, jedoch keine bestimmten Modalitäten würde A r t . 9 I I I den Koalitionen bei der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gewährleisten. A n sich wäre es konsequent, den Tarifvertragsparteien insoweit eine öffentlich-rechtliche Funktion zuzuweisen, als sie staatliche Rechtsetzungsmacht ausüben. Diesen Schritt unternimmt jedoch die ganz überwiegende Mehrzahl der Vertreter der Delegationstheorien nicht. Sie sehen nicht nur i m Tarifvertrag einschließlich seinem normativen Teil ein privatrechtliches Institut, sondern auch i n der zugrundeliegenden tariflichen Rechtsetzungsmacht eine rein privatrechtliche Befugnis 58 , während insbesondere E. R. Huber 5 9 und Nikisch 6 0 die Tarifautonomie als Delegation hoheitlicher Rechtsetzungskompetenz deuten. Den Vorgang der Delegation kann widerspruchslos allein diese Auffassung erklären: Eine Übertragung staatlicher Rechtsetzungsmacht an die Tarifpartner kann nicht i n der Hand der Delegatare i n privatrechtliche Normsetzung umschlagen 61 , auch nicht durch „privatrechtlichen Sanktionierungsakt" 6 2 . Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Tarifvertrag öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Charakter hat, denn auch die Setzung privatrechtlicher Normen ist und bleibt, wenn sie staatlich delegiert ist, öffentlich-rechtliche Funktion 6 3 . Auch der Hinweis auf eine „soziale Autonomie" oder besondere „Verbandsautonomie" 64 kann den öffentlich-rechtlichen Charakter der tariflichen Rechtsetzungskompetenz nicht abstützen. Denn entweder handelt es sich u m staatlich verliehene und damit öffentlich-rechtliche Satzungsautonomie oder Privatautonomie 65 . Gewichtig jedoch ist der Einwand, bei der Tarifautonomie könne es sich nicht u m verliehene Hoheitsmacht handeln, da die sonst 56
B A G E 4, 240 (251). Übertragung, S. 14 f. 58 Vgl. B A G E 1, 262 ff.; 4, 135 f.; 4, 252 ff.; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 339 ff.; Hueck/Nipperdey/Stahlhacke, TVG, § 1, Rdnr. 17, 181; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 9 ff. 59 WirtschaftsVerwR I I , S. 431 ff. 60 A r b R I I , S. 45, 216 ff.; ebenso Ridder, Gewerkschaften, S. 32. 61 Vgl. BVerfGE 9, 96 (108): der Gesetzgeber begebe sich „durch die V e r leihung der Tariffähigkeit seines Normsetzungsrechts". 62 Wie dies Zöllner, R d A 1964, S. 446 f., 450, annimmt. 03 Vgl. die zutreffende K r i t i k von Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 58. 64 Vgl. Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 347 f. 65 Zutreffend Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 58. 57
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6. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Demokratiegebot
ausnahmslos erforderliche Staatsaufsicht fehle 66 . Dieses Argument ist zweifellos nicht von der Hand zu weisen; fraglich ist jedoch, ob es schwerwiegend genug ist, die Tarifautonomie dem Privatrecht zuzuordnen und damit i n erhebliche konstruktive Schwierigkeiten m i t der Delegation zu geraten. Man sollte sich eher Gedanken darüber machen, wie man die fehlende Staatsaufsicht erklären kann 6 7 und ob Staatsaufsicht w i r k l i c h ausnahmslos 68 zur aufsichtsrechtlichen Wahrung des Gesamtinteresses erforderlich ist. Dieser Zweck der Staatsaufsicht eröffnet den Weg zu einer möglichen Lösung: Die Gesamtinteressen i m Bereich des Tarif rechts werden gerade dadurch gewahrt, daß interessengegensätzliche, d. h. antagonistische gesellschaftliche Kräfte 6 9 überhaupt zu einer Einigung geführt werden 70 , ohne daß der Inhalt dieser Einigung überwacht werden müßte 71 . Scholz 72 macht den Vorschlag, die privatrechtliche Grundordnung der Tarifautonomie nicht auf staatliche Delegation, sondern darauf zu stützen, daß man i m T V G eine gesetzliche Verweisung auf die von den Tarifpartnern abgeschlossenen Tarifverträge sieht. Das T V G spreche nämlich niemals von einer Normsetzungsmacht der Tarifpartner, sondern stets nur davon, daß der Tarif vertrag Rechtsnormen enthalte. Es sei daher der Gesetzgeber, der i n jedem Tarifvertrag selbst unmittelbar Recht setze, denn das T V G sei i n denjenigen Bestimmungen, die sich m i t tarifvertraglichen Rechtsnormen befassen, offener Tatbestand. Ähnlich verhalte es sich m i t der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, § 5 TVG, die ebenfalls als unmittelbar staatlich gesetzte Rechtsnorm wirkte. Das T V G nehme die künftigen Tarifverträge unmittelbar i n seinen Tatbestand auf und vereinige sich mit dem Tarifvertrag zur eigentlichen Norm. Es ist zwar Scholz zuzugeben, daß die Verweisung als Institut der Gesetzgebungstechnik verfassungsrechtlich zulässig ist 7 3 , es erscheint jedoch äußerst problematisch, ob eine gesetzgeberische Verweisung nicht nur bereits bestehende verbandsmäßige Regeln oder Konventionen, sondern auch erst noch zu schaffende zukünftige Regeln i n den Rang von 66 So (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 1, Rdnr. 116; Zöllner, R d A 1964, S. 446; Rehbinder, JR 1968, S. 170; Richardi, Kollektivgewalt, S. 147 ff., m. w. Nachw.; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 58. 67 Vgl. etwa Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 193, Fußn. 48. 68 So (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 1, Rdnr. 116. 69 s. o. § 1 7 A . 70 Vgl. i m näheren § 25 A , 2 d. 71 A r t . 9 I I I weist damit Ähnlichkeiten zu A r t . 5 I auf: alle bedeutsamen Kräfte, also auch gegensätzliche, sollen i n den Rundfunkanstalten an einen Tisch gebracht werden, vgl. BVerfGE 12, 205 (261), unten § 21 Β 1. 72 Koalitionsfreiheit, S. 59 f. 73 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 59; Ossenbühl, DVB1.1967, S. 401 ff.
§18. Demokratische Legitimation
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Normen erheben kann. Es ist nicht erklärbar, wie der Gesetzgeber mittels einer Verweisung etwas i n seinen Willen aufnehmen kann, was noch nicht existiert. Eine solche „Verweisung" auf eine zukünftige inhaltliche Ausfüllung überträgt den Koalitionen eine bestimmte Kompetenz und begründet für sie damit eine Zuständigkeit; dies aber ist nichts anderes als Delegation 74 . b) Legitimationsbedeutung gewerkschaftlicher Beteiligung an der tarifvertraglichen Rechtsetzung I m Ergebnis sprechen stärkere Argumente für die Theorie, derzufolge die Tarifautonomie staatlich verliehene und damit zwangsläufig öffentlich-rechtliche Normsetzungsmacht ist, als für andere Lehren. Eine eingehende Klärung dieses Problems ist zur Beantwortung unserer Ausgangsfrage jedoch nicht erforderlich: Hält man die Tarifautonomie für ein privatrechtliches Institut, ist dazu keine demokratische Legitimation nötig, denn diese kann sich nur auf staatliches Handeln beziehen. Sieht man i n den Tarifparteien hinsichtlich der Setzung von Tarifnormen Delegatare m i t (öffentlich-rechtlichen) Hoheitsbefugnissen, ist Legitimationsgrund allein das delegierende Gesetz, das TVG, und damit das Gesamtvolk, A r t . 20 I I S. 1. Da Art. 9 I I I keine originäre Regelungsbefugnis für nichtstaatliche Organisationen begründen kann, sich also aus A r t . 9 I I I keine Veränderung des demokratischen Legitimationserfordernisses von Art. 20 I I S. 1 ergibt, können Legitimationswirkungen dem „Teilvolk" der Tarifvertragsparteien ebensowenig beigemessen werden wie den „Teilvölkern" der Selbstverwaltungskörperschaften: Art. 20 I I gilt gem. A r t . 28 I nur für Länder, Kreise und Gemeinden, hat also territorialen Bezug 75 . Ein Vergleich zur Rechtsetzungsmacht der öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltungskörperschaften bietet sich an: Die Tarif Vertragsparteien sind zwar keine öffentlich-rechtlichen Organisationen, üben aber ebenso wie diese als Teilvolk Rechtsetzungsmacht aus. Sie unterstehen zwar keiner Staatsaufsicht, sind jedoch nach Entstehungsgeschichte und Funktion der Selbstverwaltung verwandt: ebenso wie die staatliche Selbstverwaltung w i l l A r t . 9 I I I die Eigeninitiative der Berufsverbände nutzbar machen 76 . Das B A G 7 7 zieht bei Untersuchung der Tarifautonomie ausdrücklich das Beispiel der gemeindlichen Selbstverwaltung heran. Auch der um74
Z u m Delegationsbegriff Wolff, V e r w R I I , § 72 I V b 2. Vgl. § 18 C 2. 76 Wiedemann, R d A 1969, S. 330; zum Ziel der Selbstverwaltung vgl. BVerf.GE 10,104; 15, 240; 33,156. 77 E 1, 258 (263); 1, 348 (352); A P Nr. 6 zu A r t . 3 GG; vgl. auch Scheuner, Koalitionsfreiheit, S. 39. 75
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6. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Demokratiegebot
gekehrte Fall zeigt diese Nähe: Die Handwerksinnungen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts, § 53 S. 1. HandwO, und können wie die Koalitionen Tarifverträge abschließen, § 54 I I I Nr. 1 ; dies ist m i t A r t . 9 I I I vereinbar und fördert die Tarifautonomie, da andernfalls die zahlreichen kleinen Handwerker nur schwer i n Tarifverträge einbezogen werden könnten 7 8 . Diese rechtliche Verwandtschaft des Koalitionswesens zur staatlichen Selbstverwaltung ist jedoch nicht gleichbedeutend damit, daß die M i t glieder der Koalitionen als Teilvolk Legitimationskraft besäßen. Daher ist Art. 9 I I I zwar insofern eine Modifizierung des Demokratieprinzips 79 , als die Verfassungsnorm bestimmte Sachgebiete nichtstaatlichen Ordnungsträgern zur Reglementierung zuweist, aber einen eigenen Legitimationsgrund können die Koalitionen auch auf diesen Sachgebieten nicht legen. 4. Die soziale
Selbstverwaltung
„Soziale Selbstverwaltung" soll die gemeinschaftliche Verantwortung der Sozialpartner für die Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen umfassen 80 , ihre aktive Beteiligung an der staatlichen Aufgabe der „Sozialverwaltung" 8 1 , i m Zentrum stehe die Tarifautonomie 82 . Da die soziale Selbstverwaltung nach dieser Auffassung m i t der gemeindlichen Autonomie vergleichbar ist 8 3 , würden die „Verbandsvölker" der Tarifpartner, namentlich der Gewerkschaften, ähnlich dem Volk des Territorialverbandes „Gemeinde", A r t . 28 II, den Legitimationsgrund für die Ausübung dieser sozialen Funktionen legen. Die Verfechter des Modells der „sozialen Selbstverwaltung" sehen i n ihr nicht nur eine Beschreibung soziologischer Gegebenheiten und Zusammenfassung rechtlicher wie tatsächlicher Machtausübung, sondern ein juristisches Zuständigkeitssystem 84 , das als Teil der allgemeinen 78
Vgl. BVerfGE 20, 312 (318 ff.). Vgl. Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 75; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 216, Fußn. 161. 80 Hamann, Gewerkschaften, S. 11. 81 Vgl. u. a. Bulla, Selbstverantwortung, S. 80. 82 Bulla, a. a. O., S. 81; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 91, 110, 112. 83 Hamann, Gewerkschaften, S. 11 ff.; Biedenkopf, Grenzen, S. 47 ff.; Weber, T a r i f autonomie, S. 25; Scheuner, Koalitionsfreiheit, S. 39; Hirsch, Gewerkschaften, S. 65; vorsichtig Galperin, D B 1970, S. 348; s. o. Fußn. 77 u n d unten § 18 D, 3 b. 84 Lerche, Zentralfragen, S. 31; Galperin, D B 1970, S. 348 f.; Gamillscheg, Koalitionsfreiheit, S. 39; Bulla, Selbstverantwortung, S. 79 ff.; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 193, 27 f.; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnrn. 91, 110, 112; Sitzler, Soziale Selbstverwaltung, S. 11 ff.; Herschel, Soziale Selbstverwaltung, S. 25 ff. 79
§ 18. Demokratische Legitimation
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staatlichen Ordnung gilt 8 5 . Soziale Selbstverwaltung sei der Staatsverfassung zugeordnet u n d soll gleichberechtigt neben der staatlichen Verwaltungsverantwortung stehen 86 . Grundlage für dieses System sei das Sozialstaatsprinzip, das die Verbände, insbesondere die Gewerkschaften, zur aktiven Mitgestaltung der sozialen u n d wirtschaftlichen Ordnung verpflichte 87 . Soziale Selbstverwaltung schließe die Verpflichtung zu sozialer Selbstverantwortung ein 8 8 . Gegen diese Auffassung ist einzuwenden, daß weder das GG noch gesetzliche Regelungen die Koalitionen zu öffentlich-rechtlichen Organisationen verfaßt haben. Wenn auch der staatliche Gesetzgeber durch A r t . 9 I I I zur Bereitstellung eines Tarifvertragssystems verpflichtet w i r d 8 9 , beruht die Tarifvertragszuständigkeit der Koalitionen doch allein auf dem TVG, das der Gesetzgeber auf der Grundlage von A r t . 74 Nr. 12 erlassen hat 9 0 . Nicht Gleichberechtigung also, sondern Subordination kennzeichnet das Verhältnis zwischen Tarifvertragsparteien und dem Staat 9 1 . Die Begründung sozialer Autonomie m i t dem Sozialstaatsprinzip geht fehl. Denn auch staatliche Sozialleistungen bleiben an die allgemeine staatliche Kompetenzverteilung gebunden. Das Sozialstaatsprinzip kann weder neue Kompetenzen begründen noch bestehende verändern 9 2 . Auch die Gleichstellung m i t der Autonomie der Gemeinden k a n n nicht überzeugen 93 : Ebenso w i e die Autonomie der Gemeinden findet zwar auch die Tarifautonomie ihre Grundlage i n der Verfassung, A r t . 9 I I I 9 4 , aber i m Gegensatz zur kommunalen Selbstverwaltung nicht i n einer Verfassungsbestimmung, die auf die B i l d u n g des Staatswillens Bezug n i m m t w i e A r t . 28, sondern allein i n einer Grundrechtsbestimmung. Das Koalitionswesen ist eben der Gemeindeautonomie lediglich vergleichbar 95, nicht jedoch gleichzusetzen. Als Ergebnis bleibt festhalten, daß die „soziale Autonomie" kein Rechtssystem ist, das bestimmte Zuständigkeiten begründet, sondern 85
Bulla, Selbstverantwortung, S. 80. Bulla, Selbstverantwortung, S. 80 ff.; E. R. Huber, Selbstverwaltung, S. 9 ff.; Rüthers, Streik, S. 41 ff.; Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 61 f. 87 Hamann, Gewerkschaften, S. 20 ff., 24; Rüthers, Streik, S. 54 ff., 65 ff.; Abendroth, in: Forsthoff, Rechtsstaatlichkeit, S. 128 f. 88 Bulla, Selbstverantwortung, S. 82. 89 Vgl. §18 C 3 a. 90 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 168; vgl. auch § 18 D 4 a, bb. 91 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 168; vgl. auch Hamann, Gewerkschaften, S. 53, vgl. § 18 C 3 a. 92 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 184, 187; ähnlich Weber, Sozialpartner, S. 241 f. 93 I m Ergebnis Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 167 f. 94 Vgl. §18 C 3 a. 95 § 18 C 3 b. 86
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6. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung und Demokratiegebot
allein als zusammenfassender, soziologischer Begriff verstanden werden kann, der die vielfältigen selbständigen Funktionen der Koalitionen umschreibt 06 . Der Legitimationsgrund, den die Gemeinden i n A r t . 28 I I finden, kann sich daher auf die soziale Selbstverwaltung nicht erstrecken. 5. Die Repräsentation
organisierter
Interessen
Unter bestimmten Voraussetzungen können Verbände repräsentativ für einzelne Interessen auftreten. Falls die aus der Vielzahl der Verbände folgende vielschichtige Repräsentation von Verbandsinteressen m i t der repräsentierenden Funktion des Staates vergleichbar ist oder diese ergänzt, kann die Verbandsrepräsentation zusätzliche demokratische Legitimation schaffen. Die Tätigkeit der Gewerkschaften würde unter dieser Bedingung Legitimation verstärken. a) Theorie der Repräsentationsfunktion von Interessenverbänden und ihre K r i t i k e r Joseph H. Kaisers Untersuchung der „Repräsentation organisierter Interessen" 97 analysiert eingehend die Rolle der Verbände. Er mißt ihnen eine Repräsentationsfunktion zu 98 , die jedoch nicht neben der politisch-institutionellen Repräsentation durch das Parlament stehe, sondern i m gesellschaftlichen Bereich verwurzelt sei. „Der Interessenpluralismus der modernen Gesellschaft ist dagegen der Repräsentation durch eine nationale Institution grundsätzlich nicht fähig. Vielmehr ist die organisierte Interessenwahrnehmung als solche, i n der unendlichen Vielfalt ihrer Formen und gegenüber den verschiedenen Adressaten selbst eine Art Repräsentation, keine institutionelle, sondern eine faktische Repräsentation, eine Représentation de f a i t ' . . . " " Diese bestehe nicht i n der Vertretung eines einzelnen Interesses, sondern erst die Summe und das Zusammenspiel aller i n der Sphäre der Öffentlichkeit wirkenden organisierten Interessen sei einer solchen Repräsentation fähig 1 0 0 . Kaiser hält strikt an der Unterscheidung zwischen Ge98 Zöllner, Rechtsnatur, S. 17 f.; E. R. Huber, WirtschaftsVerwR I I , S. 380 f.; Richardi, Kollektivgewalt, S. 2; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 16; ähnlich Weber, Sozialpartner, S. 252; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 255. 97 Vgl. die gleichnamige Monographie von Kaiser, insbesondere S. 181 ff., 308 ff. 98 Ebenso — m i t teilweise unterschiedlicher Argumentation — Biedenkopf, Grenzen, S. 48 ff., 57 ff.; Lerche, Zentralfragen, S. 28; Krüger, Grenzen, S. 37; Rittstieg, JZ 1968, S. 413; Gamillscheg, Differenzierung, S. 36 ff.; Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, A n m . Β 8 b, aa; Lenz, Unbehagliche Nähe, S. 210 ff.; Hamann, Gewerkschaften, S. 24; Krüger, A l l g . Staatslehre, S. 397 ff.; Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 27; Knöpfle, DVB1. 1974, S. 715 f.; Föhr, N J W 1975, S. 617 f.; kritisch W. Schmidt, V V D S t R L 33, S. 189 f.; Scharpf, Demokratietheorie, S. 33 f., 85 f. 99 Kaiser, Repräsentation, S. 354 f. (Hervorhebung durch Kaiser); ebenso Denninger, Rechtsperson, S. 191 ; Briefs, Laissez-faire-Pluralismus, S. 54. 100 Kaiser, Repräsentation, S. 355, 357, 363.
§18. Demokratische Legitimation
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sellschaft und Staat fest 1 0 1 und weist dieser faktischen Repräsentation, die dem auf Ungleichheit beruhenden sozialen Interessenpluralismus entspreche, einen Platz allein i n der Gesellschaft zu, weil sie eben wegen dieses Prinzips der Ungleichheit für den Aufbau des Staates unzulässig sei 102 . Nach Ansicht Herbert Krügers haben die Verbände öffentlichen Charakter, w e i l sie Repräsentationsfunktionen erfüllen sollen 103 . Die Darstellung des repräsentierenden Staates aus der Gesellschaft vollziehe sich nicht nur politisch über die Parteien, sondern auch über die Verbände 104 , die damit ebenso wie die Parteien „Bestandteile der politischen Verfassung i m materiellen Sinn" seien 105 , wenn sie auch i n erster Linie zur Gesellschaft gehörten 106 . Die Parteien seien gleichsam die „letzte Instanz des Repräsentationsvorganges" 107 . Hirsch 1 0 8 geht vom gleichen Ausgangspunkt aus und sieht i m Verbandswirken ebenfalls eine Repräsentation. Er schließt jedoch einen weiteren Schritt an, wenn er die Differenzierung zwischen staatlichem und gesellschaftlichem Bereich fallen lassen w i l l , zwar diese Repräsentation nicht neben das Parlament stellt 1 0 9 , aber meint, „daß das System der Interessenverbände ebenso wie die Staatsorganisation i m engeren Sinn Einrichtungen und Lebensausdruck ein und desselben politischen Gemeinwesens sind" 1 1 0 . Das System der Interessenverbände sei Teil der umfassenden Herrschaftsorganisation 111 . Wiedemann 112 begrenzt seine Repräsentationsuntersuchung auf die Koalitionen (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) und stellt zunächst fest, daß Repräsentanz keinen Zurechnungsgrund, sondern nur einen Legitimationsmodus bezeichne. Daher ersetze das Gerieren als Repräsentant nicht den fehlenden Auftrag. Einen solchen Repräsentationsauftrag der Koalitionen begründet er m i t deren Ordnungsfunktion und den faktischen Auswirkungen der Koalitionstätigkeiten auch auf Außenseiter, was zum Teil durch Gesetz oder Richterrecht anerkannt 101
Ebd., S. 355. Ebd., S. 359 f.; allerdings spricht er an anderer Stelle (S. 363) von einer „öffentlich-rechtlichen" Repräsentation der Interessen, was diese Unterscheidung v e r w i r r t . 103 A l l g . Staatslehre, S. 399 f., 407. 104 Ebd., S. 399. 105 Ebd., S. 407. 106 Ebd., S. 388. 107 Ebd., S. 400. 108 Gewerkschaften, S. 124 ff. 10f t Ebd., S. 127. 110 Ebd., S. 127. 111 Ebd., S. 128; ebenso Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 27. 112 RdA 1969, S. 328. 102
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6. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung und Demokratiegebot
werde 113 . Als Beispiele nennt er die Tariflöhne, die als „Leitlöhne" auf den gesamten Industriebereich abfärbten 114 , den auch für Außenseiter bedeutsamen gewerkschaftlichen Streikbeschluß und das über das Antragsrecht gem. § 98 I I Nr. 7 A k t G hinausgehende Recht der Gewerkschaften analog § 18 BetrVerfG, den Antrag auf Klärung der Streitfrage zu stellen, ob gem. § 76 BetrVerfG 1952115 Arbeitnehmer i n den Aufsichtsrat zu entsenden sind 116 . Die Gegenansicht hält Repräsentation außerhalb, neben oder i m Gefüge m i t der konstitutionellen Repräsentation für nicht möglich 117 . Repräsentation heißt hiernach durch „Vergegenwärtigung ausgezeichneter Zurechnungsgrund". Gem. Art. 38 I S. 2 repräsentiere der Abgeordnete „das ganze Volk", also eine ideelle politische Einheit 1 1 8 . Daraus folge, daß Repräsentation nur i n einer geistigen Wertsphäre funktioniere und nur Werte von konstituierender Allgemeingültigkeit und Gemeinsamkeit repräsentationsfähig seien, d.h. grundsätzlich keine partikularen Willen oder Interessen 119 . Diese könnten nur durch eine organisierte Vertretung artikuliert werden, weil sich die Repräsentanten folglich auf eine Gesamtheit beziehen müßten, die als solche eine politische Einheit darstelle 120 . I m Gegensatz dazu würden Verbände jeweils nur Teile des Ganzen sein und allenfalls i n ihrer Gesamtheit das Ganze ausmachen 121 . Den Verbänden komme jedoch eine Mittlerfunktion i m Verhältnis zwischen Parlament, Parteien einerseits und dem Volk anderseits zu 1 2 2 . Scholz 123 folgert aus dem Fehlen koalitionsrechtlicher Parallelvorschriften zu A r t . 21 I S. 3, 38 I S. 2 und aus dem Sinn der konstitutio113 Ebd., S. 329 f.; ähnlich Galperin, D B 1970, S. 346 f.; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 7 I I I 1. 114 Ebenso Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 7 I I I 1, der darauf verweist, daß die Tariflöhne zumeist als übliche Vergütung i. S.v. § 612 I I B G B aufgefaßt werden; vgl. auch Söllner, A u R 1966, S. 261. 115 Diese Bestimmungen gelten als „BetrVerfG 1952" gem. § 129 I BetrVerfG fort. 116 B A G , A P Nr. 3, Nr. 7, Nr. 14 zu § 76 BetrVerfG; B A G , A P Nr. 6 zu § 81 A r b G G ; a. A. Kötter, A n m . zu B A G , A P Nr. 7 zu § 76 BetrVerfG B l a t t 750; vgl. auch Ramm, R d A 1968, S. 417: die Repräsentationsstellung der Gewerkschaften soll aus den §§ 3 I I , 4 I 2 T V G folgen. 117 Leibholz, Repräsentation, S. 57 ff.; Dagtoglou, Privater, S. 43 ff.; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 170,175; Scheuner, DÖV 1965, S. 579 f.; Wittkämper, I n t e r essenverbände, S. 149 f. 118 Leibholz, Repräsentation, S. 57 ff. 119 Nach Leibholz, Repräsentation, S. 32 ff., 183 u n d Dagtoglou, Privater, S. 43 ff., scheiden damit ökonomische Interessen aus; a. A . Wolff, Organschaft I I , S. 53 ff.; Wittkämper, Interessenverbände, S. 150. 120 Scheuner, DÖV 1965, S. 579; Leibholz, Repräsentation, S. 57 ff.; i m Ergebnis Ballerstedt, Grundrechte I I I / l , S. 29, 85. 121 Scheuner, DÖV 1965, S. 580. 122 Ebd., S. 580; ähnlich Wittkämper, Interessenverbände, S. 150. 123 Koalitionsfreiheit, S. 170, 175.
§ 18. Demokratische Legitimation
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nellen Repräsentation, daß den Koalitionen kein repräsentationsrechtliches Mandat erteilt sei 124 . Das BVerG scheint einer Repräsentationsfunktion ebenfalls skeptisch gegenüberzustehen: Jedenfalls könnten Verbände oder Parteien nicht Grundrechte ihrer Mitglieder i m Rahmen einer Verfassungsbeschwerde geltend machen 125 . b) Bedeutung der Interessenrepräsentation für die Legitimation staatlicher Machtausübung Unabhängig von der Frage, ob sich Repräsentation nur auf das Ganze beziehen kann und „das Zusammenspiel organisierter Interessen" (Kaiser) oder das „System der Interessenverbände" (Hirsch) wirklich zu einer solchen Gesamtdarstellung fähig ist, hängt die für uns entscheidende Frage der Legitimation durch die Verbände davon ab, ob sich aus dieser (faktischen) Repräsentation ein zusätzlicher Legitimationsgrund für die staatliche Machtausübung ergibt. Die den modernen Verhältnissen vermeintlich besser gerecht werdende Konstruktion von Hirsch 1 2 6 kann darauf keine A n t w o r t geben, weil sie keinen Aufschluß darüber gibt, wo die Grenze zwischen nicht legitimationsbedürftiger gesellschaftlicher und Legitimation erfordernder staatlicher Macht verläuft oder ob die „umfassende Herrschaftsorganisation", als dessen Teil die Verbandsrepräsentation anzusehen sei, einer einheitlichen Legitimationsquelle bedarf. Ebenfalls unbeantwortet bleibt, ob das Staatsvolk als Aktivbürgerschaft jede A r t von Machtausübung oder nur die staatliche legitimieren kann oder ob dazu die Summe der Verbandsvölker i n der Lage ist, m i t anderen Worten: gerade wenn die Legitimationsfrage gestellt wird, erweist sich die gegenüber der „traditionellen, den bestehenden sozialen Verhältnissen inadäquate Trennung von ,Staat4 und ,Gesellschaft'" 127 vermeintlich realistischere, vom Traditionsmuff befreite Gesamtschau 128 als völlig ungeeignet, denn für die Ausübung gesellschaftlicher Macht stellt sich diese Frage m i t Rücksicht auf die Grundrechte entweder überhaupt nicht oder nur m i t gänzlich anderer Blickrichtung. Dieses Dilemma w i r d evident, wenn Hirsch schreibt 129 : „Die Notwendigkeit, faktische Repräsentanz zumindest teilweise (?) als ausreichenden Legitimationsgrund für die Herrschaft (?) i n einem pluralistischen Gemeinwesen anerkennen 124
94. 125
I m Ergebnis Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 108, daneben S. 32 f., 47, V g l
126 127
BVerfGE 10,134 (135 f.); 11, 30 (35); 13,1 (g); 13, 54 (89 f.).
Gewerkschaften, S. 16 ff., 124 ff. Hirsch, Gewerkschaften, S. 127, ähnlich Feuchtmeyer, Gewerkschaften,
S.106. 128
129
Hirsch, Gewerkschaften, S. 16,19,127. Ebd., S. 125.
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Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
e a t e b o t
zu müssen, w i r f t eine Fülle von Problemen auf, die sich einer klaren und eindeutigen Lösung entziehen." Diese Schlußfolgerung Hirschs dürfte richtig sein. Wenn er i m Anschluß daran erörtert 1 3 0 , ob es ratsam sei, „den Herrschaftsfunktionen der Verbände einen institutionell-organisatorischen Rahmen zu geben" 131 und dies ablehnt, w i r d deutlich, daß er offensichtlich die zuvor aufgegebene Trennung zwischen Staat und Gesellschaft nunmehr ersetzt durch die Differenzierung zwischen einem „institutionell-organisatorischen Rahmen" und einem anderen Rahmen; nur daß diese Unterscheidung unschärfer, unpräziser ist und keine Stütze i m GG findet. c) Ergebnis Alle Konstruktionen, die den Verbänden Repräsentationsfunktionen beilegen, können also keine konstitutionelle Wirkung dieser Repräsentation begründen 132 . Allenfalls kann es sich um faktische Repräsentation handeln: So weist Wiedemann zurecht darauf hin, daß die Koalitionen auf Grund faktischer Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf vielen Sachgebieten repräsentativ sind, d. h. auch für Nichtmitglieder handeln, und diese Repräsentation zum Teil gesetzlich oder richterrechtlich anerkannt wird 1 3 3 . Zur Schaffung eines zusätzlichen demokratischen Legitimationsgrundes aber bedarf es einer konstitutionellen Stütze, weil nur die Verfassung bestimmen kann, wer staatliche Machtausübung zu legitimieren vermag 1 3 4 . Die „Repräsentation organisierter Interessen" ist kein Anknüpfungspunkt für Legitimationswirkungen 1 3 5 . Die Auffassung, durch Rückkopplung mit der Verbandsrepräsentation, d. h. durch die Einschaltung der Verbände i n die Staatswillensbildung werde zusätzliche demokratische Legitimation erzielt 136 , ist unzutreffend 137 . Dies muß ebenso für die Einwirkung von Bürgerinitiativen oder von Gruppen einer „kritischen Öffentlichkeit" 1 3 8 gelten, da auch sie kein konstutionelles Repräsentationssystem bilden können. Demokratische Legitimation können sie ebensowenig erzeugen wie Verbände. Der von Bartelsperger 139 genannte wesentliche Unterschied zu pluralistischen Interessengruppen ist zumindest insoweit nicht vorhanden. 130
Ebd., S. 141 ff. Ebd., S. 141. 132 Vgl. Wittkämper, Interessenverbände, S. 149 f. 133 Vgl. §18 C, 5 a. 134 Vgl. § 18 B. 133 So auch Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 228. 136 So Rittstieg, JZ 1968, S. 411, 414. 137 Wie hier Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 218; ebenso Lecheler, DÖV 1974, S. 442 ff. 138 Bartelsperger, S. 227 ff. 139 Ebd., S. 235. 131
§ 18. Demokratische Legitimation
127
Damit w i r d jedoch keine Aussage darüber getroffen, ob das Heranziehen der Verbände, namentlich der Gewerkschaften, der Effektivierung weiterer Elemente des Demokratiegebots dienen kann oder sogar dienen sollte 140 . D. Gewerkschaftliche Beteiligung als Problem der Erhaltung demokratischer Legitimation
Während die Frage, ob die Beteiligung der Gewerkschaften an der Staatswillensbildung ein notwendiger oder zusätzlicher Legitimationsgrund ist, verneint werden muß, stellt sich nunmehr das Problem, inwieweit die gewerkschaftliche Beteiligung den vom Staatsvolk zu den Staatsorganen verlaufenden Legitimationsstrang auflösen oder verfälschen kann, ob also gerade Legitimationsaspekte eine Heranziehung der Gewerkschaften verbieten oder ihr Grenzen setzen. 1. Gewerkschaften
als politisch
mächtige
Wirkungseinheiten
Die ihnen gesetzlich zugewiesenen Aufgaben sichern den Gewerkschaften ein breites Spektrum gesellschaftlicher und politischer Mächtigkeit, i n der Hauptsache durch die Anerkennung ihrer Funktion als Tarifvertragsparteien und die Respektierung des Streikrechts. Waren Streiks i m 19. Jahrhundert regional begrenzt, so sind die Gewerkschaften, namentlich des öffentlichen Dienstes, heute tatsächlich i n der Lage, „alle Räder stillstehen" zu lassen 141 . Sie bilden einen bestimmenden Faktor i m Wirtschafts- und Sozialleben, ihr Votum besitzt i n der Öffentlichkeit und i m staatlichen Bereich großes Gewicht 142 . Sie sind i n Bestand und Funktion „befestigt" 1 4 3 , von Staat, öffentlicher Meinung und Arbeitgebern anerkannt und faktisch i n der Lage, auf die Politik i m weitesten Sinn Einfluß zu nehmen 144 . I n dieser realen Befestigung 145 haben sie sich zu Machtzentren ersten Ranges entwickelt 1 4 0 . Gewerkschaftsmitglieder befinden sich i m Bundestag ebenso wie in der Bundes140 Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 220, zur Partizipation allgemein; zu einseitig Schmidt, V V D S t R L 33, S. 212 ff., u. Bartelsperger, ebd., S. 226 f., 247, die die weiteren Demokratieelemente zu eng m i t der Legitimation verknüpfen. 141 Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 71, 97. 142 ßVerfG, N J W 1975, S. 1266 f. 143
Der Begriff stammt von Briefs; die befestigte Gewerkschaft der Gegenw a r t sei die Weiterentwicklung aus dem Stadium der „klassischen" Gewerkschaft des 19. Jhds., Stichwort „Gewerkschaft", HdSW, S. 556 ff.; Gewerkschaftsprobleme, S. 15, 17, 25 ff., und passim, Pirker, Blinde Macht I, S. 111. 144 Vgl. § 8 u n d 4. Kapitel. 145 y g i z u r Unterscheidung zwischen realer u n d legaler Befestigung Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 25, Fußn. 1. 146 Dazu ausführlich Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 17, 25, 47 f., 95, 97, 100, 102, 111, 202; Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 14; dieses F a k t u m ist nicht zu übersehen u n d k a n n nicht als der Versuch von vermeintlichen Gewerkschaftsgegnern abqualifiziert werden, die Gewerkschaften zu behindern, so aber Pirker, Blinde Macht I, S. 244.
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Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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regierung, ihre Funktionäre wirken i n den Ausschüssen der Parlamente, i n den Ministerien beigeordneten Kommissionen, Beiräten, „Gesprächskreisen" usw.; zur Einflußnahme auf die Öffentlichkeit steht den Gewerkschaften ein umfassendes Instrumentarium von Medien zur Verfügung; Wirtschafts- und Finanzkraft wächst ihnen nicht nur auf Grund der Beitragseinnahmen von über 8 Millionen Mitgliedern zu, sondern auch durch große Unternehmen; sie haben das Bestreben, auf alle politischen Bereiche Einfluß zu nehmen. Viele Anzeichen sprechen dafür, daß die Gewerkschaften dies Möglichkeiten politischen Wirkens auch tatsächlich ausschöpfen, also ihre politische Macht auch gebrauchen 147 , wenn dies auch i m einzelnen nur schwer konkret nachweisbar ist. Die ÖTV setzte z.B. i m Februar 1974 einen Tarifabschluß von 1 1 % Lohn- und Gehaltserhöhung i m öffentlichen Dienst gegen den eindeutig erklärten Willen von Bundestag, Bundesregierung und Landesregierung, ja sogar gegen den Willen der politischen Parteien durch, wobei sie nicht nur vom M i t t e l der Streikdrohung, sondern vor der breiten Palette des Einsatzes von Machtmitteln Gebrauch machte. 2.
Problemlage
Es ergibt sich folgende Problemlage: Die ohnehin zu lange Legitimationskette vom Volk zum Parlament bis h i n zu den einzelnen Verwaltungsagenden unterliegt der möglichen Gefahr, durch das Einwirken eines politisch mächtigen Verbandes abgeschwächt oder unterbrochen zu werden. Denn die Einbeziehung von Verbandsvertretern i n die Verwaltung hat ohnehin eine „gewisse Verdrängung des Parlaments" zur Folge 148 . Dagtoglou sieht dafür zwei Gründe 1 4 9 : Durch die M i t w i r k u n g von fachlich spezialisierten Verbandsfunktionären werde die fachliche Überlegenheit der Verwaltung gegenüber dem Parlament 1 5 0 noch intensiviert und die Machtstellung der Verwaltung verstärkt; zum anderen verschaffen ihr die Verbandsvertreter einen eigenen direkten Kontakt mit den verschiedenen Teilen des Volkes, was sich ζ. B. auf das Gesetzesinitiativrecht der Regierung insofern auswirke, daß sie sich mehr nach der Zustimmung der Verbände als der erwarteten Zustimmung des Parlaments orientiere 151 . 147
Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 50: „Die befestigte Gewerkschaft ist darum der Versuchung, hemmungslos zu sein, i n einem ganz anderen Maße ausgesetzt als jemals die klassische Gewerkschaft." vgl. auch Bernholz, I n t e r essenverbände, S. 345. 148 Dagtoglou, Privater, S. 146; vgl. auch Kisker, DÖV 1972, S. 523. ι « Privater, S. 146 ff. 150 Z u m Autonomiebestreben der V e r w a l t u n g als demokratischem Problem vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 200 f., 212 f., 218 f., m. w. Nachw.; vgl. § 18 C 2, § 25 A , 2 b. 151 Dagtoglou, Privater, S. 148 f.
§ 18. Demokratische Legitimation
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Diese Schlußfolgerung Dagtoglous auf die Verdrängung des Parlaments ist zutreffend, wobei das erste Argument deswegen nicht recht überzeugt, weil nicht nur die Verwaltung und Regierung, sondern auch das Parlament von den Verbänden als Einflußobjekt gewählt wird, und die Verstärkung der Fachlichkeit durch Interessenvertreter zumindest nicht zwingend und eindeutig ist 1 5 2 . Schwerer wiegt das zweite Argument: parlamentsferne Kooperation zwischen Verwaltung und Verbänden ist ein Faktum, das die parlamentarische Demokratie gefährden kann. Die Verwaltung vermeidet bei Heranziehung von Interessenvertretern den Eindruck einseitiger Entscheidung und versucht damit, ihr Prestige zu steigern 153 . Tarifvertragsähnliche Abmachungen zwischen Bürokratie und Verbänden führen nicht selten zu einer Situation, i n der dem Gesetzgeber nichts anderes übrigbleibt, als sich anzuschließen 154 . Oft aber ist selbst der Gesetzgeber nur allzuleicht bereit, seine Verantwortung auf die Verbände, namentlich die Koalition, abzuschieben und sich zum „bloß beurkundenden Notar" herabzusetzen 155 . Wenn angesichts dieser Situation auch die politischen Parteien zu schwach sind, der Einflußnahme durch die Verbände zu widerstehen, so können sich diese tatsächlich an die Stelle des Parlaments setzen 156 und die repräsentative parlamentarische Demokratie aushöhlen 157 : Insbesondere die Koalitionen können zu „politischen Potenzen ersten Ranges" emporwachsen 158 , die Integration der politischen Einheit, die i n erster Linie Aufgabe der politischen Parteien ist 1 5 9 , würde gefährdet, wenn nicht unmöglich. Die bereits feststellbare Erscheinung, daß sich manche staatlichen Entscheidungsträger eher als Repräsentanten eines Verbandes denn als Staatsbeamte verstehen 160 , kann zur echten Gefahr werden, wenn dahinter nicht nur irgendein Verband, sondern ein mächtiger Großverband steht, sei es eine Gewerkschaft oder ein Arbeitgeberverband. Die demokratische Legitimationskette kann durch eine politisch-faktische Abhängigkeitskette überlagert oder ersetzt werden. Es findet sich bei der Partizipation das gleiche Problem, das bei der Erfüllung von Ver152
s. u. § 19 B. Dagtoglou, Privater, S. 134 f.; vgl. auch H. Huber, Verbände, S. 27. 154 Vgl. Hirsch, Gewerkschaften, S. 61; Dagtoglou, Privater, S. 148 f. iss Dagtoglou, Privater, S. 137 f., m i t anschaulichem Beispiel; Ossenbühl, Anforderungen, S. 136. 153
156
Vgl. Scheuner, DÖV 1965, S. 580. Galperin, D B 1970, S. 350. iss Weber, Sozialpartner, S. 258, vgl. auch S. 250, 259 f.
157
159
Vgl. Kaiser, Repräsentation, S. 347. Eschenburg, Verbände, S. 17; vgl. auch Schmidt, V V D S t R L 33, S. 192; Varain, Interessenverbände, S. 307. 160
9 Gießen
. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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waltungsaufgaben durch Private auftritt, nämlich die Verschränkung von Individualwillen oder autonomen Verbandswillen einerseits und dem Staatswillen andererseits 181 . Das Spannungsverhältnis zwischen Kompetenzausübung und Freiheitsentfaltung 162 kann zu einer gefährlichen Situation für die Staatswillensbildung führen, insbesondere wenn der partizipierende Verband politischer Machtträger ist. Der „Pluralismus oligarchischer Herrschaftsgruppen 163 gewinnt dann Konturen. Es ließe sich der Einwand erheben, daß man diese durch die politische Macht begründete W i r k u n g allein schon deswegen nicht für gefahrvoll halten darf, w e i l man ebenfalls die Macht der Unternehmerverbände als Gegenkräfte zu berücksichtigen habe. Diese Legitimationsgefährdung jedoch w i r d nicht dadurch, daß nicht nur ein Verband, sondern mehrere u m Einfluß ringen, nicht vermindert, sondern eher verstärkt. Der zweifellos zutreffende Hinweis auf inhaltliche Gegenströmungen zu den Gewerkschaften führt daher zu keiner anderen Problemanalyse. 3. Mittel
zur Erhaltung
konstitutionell-demokratischer
Legitimation
a) Die Rechtsprechung des BVerfG zur Satzungsbefugnis öffentlich-rechtlicher Berufsverbände Die Frage, inwieweit (ursprünglich) gesellschaftliche Kräfte bei der Wahrnehmung von Staatsaufgaben nützlich sein können, hat das BVerfG i n verschiedenen Urteilen 1 6 4 am Beispiel der öffentlich-rechtlichen Berufsverbände, zuletzt i n der Arbeitnehmerkammer-Entscheidung 1 6 5 , geklärt: (1) Die Aktivierung gesellschaftlicher Kräfte i m Rahmen öffentlichrechtlicher Selbstverwaltung durch Körperschaften des öffentlichen Rechts ist zweckmäßig bei solchen Angelegenheiten, die „sie selbst betreffen und die sie i n überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können" 1 6 6 . (2) Allerdings darf sich der Gesetzgeber seiner Rechtsetzungsmacht nicht völlig entäußern 167 , dabei kommt ihm insbesondere die Rolle zu, 161
Vgl. Gallwas, V V D S t R L 29, S. 224; Ossenbühl, Anforderungen, S. 135. Ebd., S. 225. 163 Weber, Spannungen, S. 49, 131; vgl. § 17 A ; vgl. auch Ipsen, D Ö V 1974, S. 299; Steinberg, ZRP 1972, S. 210, schlägt die I n k o m p a t i b i l i t ä t v o n Abgeordnetenmandat u. Verbandsfunktion vor. 164 Vgl. BVerfGE 10, 89 (104); 15, 235 ff.; 33, 125 (156 ff.); vgl. die Rezensionen von Häberle, DVB1.1972, S. 909 ff.; Starck, N J W 1972, S. 1489 ff. 165 N J W 1975, S. 1265 ff. 168 E 33, 125 (156 f., 159); 33, 342, 346; 15, 235 (240); 10, 89 (104); BVerfG, N J W 1975, S. 1265; vgl. auch Wolff, V e r w R I I , § 84 I V . 167 E 33,158. 162
§ 18. Demokratische Legitimation
131
die dem einzelnen durch die Macht der gesellschaftlichen Gruppen drohenden Gefahren zu verhindern (Funktion des Gesetzesvorbehalts) 188 und die vom GG nicht entschiedenen Fragen selbst zu regeln 189 . Das BVerfG begrenzt also die den öffentlich-rechtlichen Körperschaften verliehene Regelungsbefugnis (Satzungsbefugnis) von drei Richtungen: durch gegenständliche und personelle Grenzen sowie durch das Erfordernis der Staatsaufsicht. Die gegenständliche Beschränkung liegt erstens dort, wo die dem Parlament zustehende Aufgabe, die politischen Grundentscheidungen selbst zu treffen 170 , berührt und zweitens die den öffentlich-rechtlichen Beruf sverbänden zukommende Sachnähe und Betroffenheit überschritten, also der Kreis der eigenen Angelegenheit des ermächtigten Verbandes verlassen wird. Die personelle Grenze findet darin ihren Ausdruck, daß allein eigene Angelegenheiten (der Mitglieder) dieser Normsetzungsbefugnis unterstehen. Weiteres Erfordernis ist die Staatsaufsicht als notwendige Rückkopplung der Selbstverwaltung m i t dem Staatswillen. Der Staat hat die öffentliche Verwaltung monopolisiert und muß daher die Eingliederung aller Träger öffentlicher Verwaltung einschließlich der Selbstverwaltung i n den Staat sicherstellen. Er hat darüber zu wachen, daß sich die Hoheitsträger gemäß dem bestehenden Recht der Staatsgewalt unterordnen und die ihnen zukommenden öffentlich-rechtlichen Pflichten erfüllen. Daher ist über die Selbstverwaltungskörperschaften zumindest Rechtsauf sieht erforderlich 171 . Begrenzungskriterien sind also Sachnähe und Betroffenheit, Ziel ist, den Gesetzgeber zu entlasten und rasche Entscheidungen zu ermöglichen 172 , sowie das Ausnutzen „der i n den gesellschaftlichen Gruppen lebendigen Kräfte" 1 7 3 . b) Anwendung auf die gewerkschaftliche Beteiligung an der Staatswillensbildung Die Anwendung dieser Grundsätze auf die Teilnahme der Gewerkschaften an der Staatswillensbildung liegt aus verschiedenen Gründen 168
Ebd., S. 160. Ebd., S. 159. 170 Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 219. 171 Vgl. zum Erfordernis der Staatsaufsicht über Selbstverwaltungsträger etwa (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 1, Rdnr. 116; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 167 f.; Wiedemann, R d A 1969, S. 330; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 102 ff.; Wolff, V e r w R I I , § 84 I V b 5; § 77 I I b 3, c 2; E. R. Huber, Selbstverwaltung, S. 7 f.; 17; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 217; zur Staatsaufsicht i m einzelnen Salzwedel, V V D S t R L 22, S. 206 ff. 172 BVerfGE 33, S. 342 na BVerfGE 33, S. 159; 10,104. 169
9*
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Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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nahe: Hier wie dort geht es darum, den Alleinzuständigkeitsbereich des Parlaments ebenso wie den Aufgabenkreis von Verbänden zu fixieren, um die oben aufgezeigte Gefahr des Legitimationsverlustes zu verhindern. Dazu erscheint das vom BVerfG gewählte Verfahren zweckmäßig, sowohl den parlamentarischen Aufgabenbereich (politische Grundentscheidung) 174 positiv zu umreißen als auch den Funktionskreis dieser Körperschaften positiv wie negativ dazu abzugrenzen. I n einem demokratisch verfaßten Gemeinwesen müsse der Gesetzgeber Regelungen, die den Kreis eigener Angelegenheiten des ermächtigten Verbandes überschreiten, selbst treffen 175 . Diese von zwei Seiten vorgenommene Eingrenzung erscheint als sinnvolle A n t w o r t auf die Ausgangsfrage: Die vom Volk über das Parlament bis zu den einzelnen Agenden verlaufende Legitimationskette kann nur unverfälscht bleiben, wenn das Parlament zumindest die politischen Grundentscheidungen selbst fällt und die ermächtigten Verbände auf den Rahmen eigener Angelegenheiten und spezifischer Sachnähe beschränkt bleiben. Bestehen bleibt die Gefahr der Unterbrechung oder Überlagerung dieses Legitimationsstranges allerdings für eben diesen Bereich der „Verbandsangelegenheiten". Hier ist sie jedoch nicht relevant, weil nicht das Gesamtvolk, sondern unmittelbar allein das „Teilvolk" (Verbandsvolk) betroffen w i r d und über das M i t t e l der Staatsaufsicht eine Bindung an staatliche Organe gewährleistet bleibt. Diese personelle Begrenzung folgt aus dem demokratischen Erfordernis der „Identität zwischen Regierenden und Regierten" 176 . Eine Teileinheit kann nur über Angelegenheiten befinden, die primär diese Teileinheit und nicht die Gesamtheit berühren 177 . Personelle und gegenständliche Beschränkungen der Befugnisse von Teileinheiten sind also eng miteinander verzahnt. Politische Grundentscheidungen etwa, welche die gegenständliche Schranke bilden, werden auch von der personellen Beschränkung erfaßt, denn sie betreffen primär die Gesamtheit und nicht nur eine Teileinheit. Bedenken gegen eine derart allgemeine Anwendung der vom BVerfG entwickelten Entscheidungsgründe auf die gewerkschaftliche Beteiligung können sich jedoch daraus ergeben, daß sich die genannten Entscheidungen nur auf die Tätigkeit von öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltungskörperschaften und i n diesem Rahmen allein auf deren Satzungsgewalt beziehen. Die Beteiligung der Gewerkschaften vollzieht sich zwar nicht nur i n öffentlich-rechtlichen Körperschaften, aber die für diese sinnvoll erscheinenden Beschränkungen 174 s. o. Fußn. 170; vgl. auch BVerfGE 9, 268 (282), charakteristisches M e r k m a l von Regierungsaufgaben sei die politische Tragweite. 175 E 33, S. 346. 176 C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 234 ff.; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 57, 80. 177 Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 22, 57.
§18. Demokratische Legitimation
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müssen erst recht der Beteiligung in solchen Bereichen gezogen werden, die über Angelegenheiten der Selbstverwaltung hinausgehen. Auch sind die Gewerkschaften selbst keine öffentlich-rechtlichen Körperschaften. Doch müssen die für diese geltenden Beschränkungen auch und insbesondere dann eingehalten werden, wenn der an der Staatswillensbildung mitwirkende Verband nicht total, sondern nur partiell i n diesen Prozeß einbezogen, also nicht selbst „verstaatlicht" wird, sondern i m gesellschaftlichen Bereich verbleibt. Denn die Gefahr, daß ein Verband übermäßigen Einfluß entfaltet, w i r d i n diesem Fall noch verschärft. Dafür, daß der Gesetzgeber die Koalitionen i n vergleichbare Nähe zu öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltungskörperschaften gerückt hat, spricht weiterhin 1 7 8 , daß die tarifvertragliche Hechtsetzung ähnlichen Begrenzungen unterstellt w i r d wie die Satzungsgewalt der öffentlichrechtlichen Körperschaften: § 1 I 2. Alt. T V G normiert bestimmte gegenständlich begrenzte Regelungsinhalte für die Tarifnormen. Personell beschränkt ist die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien auf die Mitglieder, § 3 I TVG, wenn auch die Tarifpartner i n der praktischen Auswirkung zugleich die Arbeitsverhältnisse der Nichtorganisierten regeln 179 . Normativ aber bleiben sie — außer i m Falle von § 3 I I T V G — auf ihre Mitglieder beschränkt 180 . Diese Ähnlichkeit i n Methode und Umfang, i n der den Körperschaften wie den Koalitionen bestimmte Tätigkeitsinhalte zugewiesen werden 1 8 1 , sind ein weiteres Argument dafür, daß staatliche Selbstverwaltung und Koalitionswesen i n enger rechtlicher Verwandtschaft zueinander stehen 182 . Es erscheint daher verfassungsrechtlich sinnvoll wie geboten, diese gegenständlich und personell umschriebenen Beschränkungen auch auf die Beteiligung der Gewerkschaften ebenso wie auf die der Arbeitgeberverbände zu beziehen, soweit sich bei ihnen ähnliche Machtstrukturen zeigen, wie bei den Gewerkschaften. Dies jedoch wäre Gegenstand einer gesonderten Untersuchung. Diese für Normsetzungsfunktionen gezogenen Grenzen können grundsätzlich auch für Verwaltungs- und Rechtsprechungsfunktionen Geltung 178 s. § 18 C, 3 b; Th. Ellwein, Regierungssystem, S. 155, zählt die Körperschaften des öffentlichen Rechts zu den Interessenvereinigungen. 179 Vgl. §18 C, 5 a. 180 V ö l l i g hM, vgl. Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 478; Biedenkopf, Grenzen, S. 47 ff., 59 ff. u n d passim; Galperin, D B 1970, S. 346; Zöllner, Differenzierungsklauseln, S. 43 ff.; anders die Lehre der sogenannten „erweiterten Autonomie"; danach setzen die Tarifvertragsparteien Recht f ü r alle Arbeitnehmer oder A r beitgeber unter dem Vorbehalt eines zusätzlichen Staatsaktes, vgl. Bogs, R d A 1956, S. 1 ff. 181 Vgl. § 18 C, 3 b. 182 Vgl. §18 C, 3 b.
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beanspruchen, um auch i n diesen Sachbereichen der Gefahr des Legitimationsverlustes oder der Legitimationsabschwächung zu begegnen. Auch ein Blick auf die Grundsätze der Beleihung, d. h. der selbständigen Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben durch Private, beweist, daß die Heranziehung Privater zu staatlichen Aufgaben nur innerhalb eng umgrenzter Bereiche vorgenommen werden darf, also eine quantitative Beschränkung erfordert 183 . Ob diese Begrenzungen freilich i n jedem Fall i n gleicher A r t und Intensität anzuwenden sind, soll die weitere Untersuchung i m einzelnen zeigen. c) Ständestaatliche Tendenzen als Gefahren für die grundgesetzliche Staatswillensbildung Die Erhaltung demokratischer Legitimation erfordert also eine sinnvolle Begrenzung der gewerkschaftlichen Beteiligung an der Staatswillensbildung. Eine politisch umfassende Partizipation weist Ähnlichkeiten zu ständestaatlichen Konzeptionen auf. Der Ständestaat 184 ist ein Staat, i n dem bestimmte Stände verfassungsmäßig anerkannt an der Gesetzgebung und Verwaltung m i t w i r ken 1 8 5 . Unter Ständen versteht man Gruppen von Menschen, die durch ein besonderes K r i t e r i u m — Geburt, Beruf, Besitz, politisches Verdienst usw. — bestimmt und zusammengehalten werden 1 8 6 . Der Ständestaat war i m Mittelalter die herrschende Staatsform, i n der als Reichsstände Adel, Klerus und Städte und bis zum Beginn des Absolutismus i n den Territorien die Landstände staatstragende Gruppen waren 1 8 7 . I m 19. und auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden — als Versuche zur Erneuerung der ständischen Idee — Vorschläge gemacht, die verfassungsmäßige staatliche Gliederung auf berufsständischer Basis vorzunehmen 188 . Diese Vorstellungen sind erklärbar als „pragmatische Reaktion" 1 8 9 auf die K l u f t zwischen pluralistischer Wirklichkeit und dem politischen Monopol des Parlaments und wurden politisch von den 183 Vgl. Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 43, m. w . Nachw.; Ossenbühl, V V D S t R L 29, S. 161, 201 stellt p r i m ä r auf das politische Gewicht, den „ a d m i n i strativen Machtgehalt" der dezentralisierten Aufgaben ab. 184 Allgemein dazu vgl. etwa Härtung, Verfassungsgeschichte, S. 17 ff., 82 ff., 102 ff., 132 ff.; Wittkämper, Interessenverbände, S. 13 f., m. w. Nachw.; zu den preußischen Provinzialständen vgl. Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 165 ff.; Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 151 ff. 185 Großer Brockhaus, Stichwort „Ständestaat", 18. Bd., S. 127. 186 Krüger, A l l g . Staatslehre, S. 644, 653. 187 Großer Brockhaus, 18. Bd., S. 12; Härtung, Verfassungsgeschichte, S. 82 ff., 132 ff. 188 Großer Brockhaus, 18. Bd., S. 12 f. 189 Löwenstein, Verfassungslehre, S. 403.
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verschiedensten Richtungen aufgegriffen: vom Faschismus bis zum Syndikalismus 1 0 0 ; in der staatlichen Struktur von Portugal und Spanien war bzw. ist diese staatliche Gestaltungsidee partiell realisiert 191 , ebenso i m Rätesystem der Sowjetunion 1 9 2 . Sowohl i n der Staatsform des mittelalterlichen Ständestaates als auch den neueren Bestrebungen zufolge vertreten die staatstragenden Stände Spezialinteressen 193 , d. h. die besonderen Interessen dieser Gruppe. Ständisches Recht ist stets Sonderrecht 194 . Obwohl nicht zu verkennen ist, daß die i m Absolutismus 195 neu entwickelten ständischen Bildungen wie die der Beamten und Offiziere auch Allgemeininteressen zu verfolgen suchten 196 , kann i n dieser Struktur von einer Allgemeinheit des Staatsbürgertums nicht die Rede sein 197 . Eine quantitative Zuständigkeitsbegrenzung dagegen besteht nicht: Die Stände nehmen am gesamten öffentlichen Leben teil 1 9 8 , w e i l sie eine umfassende Lebensgemeinschaft sind oder danach streben 199 . Da nach dieser Ideologie der Staat demgegenüber nur solche Belange wahrnehmen soll, die die Stände nicht erfüllen können 2 0 0 , kann man sogar von einer Allzuständigkeit der Stände sprechen, die durch das Subsidiaritätsprinzip abgedeckt wird. Die Ständeidee moderner Gestalt versucht durch Konzipierung einer „zweiten Kammer" die Zuständigkeit der Berufsstände über Angelegenheiten des einzelnen Berufszweiges hinaus auch auf allgemeinpolitische Aufgaben auszudehnen 201 . Neben der Uberwindung der Klassenspaltung der Gesellschaft ist das Ziel der neuen berufsständischen Ideologie die Beseitigung der Repräsentativverfassung — des Parlamentarismus — und der Kampf gegen die Massenparteien, die von den Berufsständen 190 191 192 193
S.326.
Kaiser, Repräsentation, S. 54 ff., 320 ff.; Großer Brockhaus, 18. Bd., S. 12 f. Kaiser, Repräsentation, S. 324 ff. Löwenstein, Verfassungslehre, S. 404. Krüger, Allg. Staatslehre, S. 653; Fischer Lexikon, Stichwort „Stände",
194
Leibholz, Strukturprobleme, S. 200. Härtung, Verfassungsgeschichte, S. 91, weist auf die F u n k t i o n der Stände hin, die fürstliche Gewalt zu beschränken. 196 Fischer Lexikon, S. 326. 197 Krüger, Allg. Staatslehre, S. 653. 198 v g L z u m historischen Aspekt, Härtung, Verfassungsgeschichte, S. 91. ΐ9θ Krüger, A l l g . Staatslehre, S. 654; Kaiser, Repräsentation, S. 323 f.; gegenüber der fürstlichen Gewalt versuchten die Stände, auf den gesamten Bereich innerer u n d äußerer Regierung Einfluß zu nehmen, vgl. Härtung, Verfassungsgeschichte, S. 86, 91, insbesondere gilt dies f ü r die preußischen Provinzialstände, Huber, Verfassungsgeschichte I, S. 170. 195
200 201
Krüger, Allg. Staatslehre, S. 651. Vgl. Großer Brockhaus, 18. Band, S. 12 f.
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Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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ersetzt werden sollen 202 . Nicht allein diese historische Zielrichtung, sondern i n erster Linie prinzipielle Erwägungen führen zu einem Widerspruch zwischen einem Berufsständestaat und der modernen Demokratie: I m Gegensatz zum Mehrheitsprinzip der Demokratie besteht das Prinzip des Ständestaates darin, daß politische Entscheidungen nicht durch die Mehrheit, sondern durch den vermeintlichen Sachverstand legitimiert werden 203 . Dies beruht darauf 204 , daß der Ständestaat die für die Demokratie grundlegende Idee der Gleichheit der Bürger i n Frage stellt: Da nicht Bürger, sondern Stände den Staat konstituieren, ist eine „Allgemeinheit des Staatsbürgertums" 205 undenkbar. Standesbewußtsein hat Vorrang vor dem Staatsbewußtsein, allein noch Koordinierung und Schlichtung der verschiedenen besonderen Zielsetzungen der Berufsstände 200 kann Aufgabe des Gemeinwesens sein, so daß es allenfalls wegen der Durchsetzung des stärksten Interesses Oligarchie sein könnte 2 0 7 , wenn nicht seine Staatsqualität überhaupt i n Frage gestellt wäre 2 0 8 . Historische Erfahrung insbesondere am Beispiel Portugals und Spanens bestätigt diese Demokratiefeindlichkeit des Ständestaates oder „Korporativismus". „Der natürliche Standort des heutigen Korporativismus ist das autoritäre Regime 209 ." I m Ständestaat w i r d die öffentliche Meinungs- und Entscheidungsbildung durch obrigkeitliche Lenkung „kanalisiert" 2 1 0 . Die Ständeidee soll lediglich die „gnadenlose Kontrolle" des gesamten gesellschaftlichen Bereichs durch den Staat ermöglichen 211 . Krüger 2 1 2 sieht i n dieser historischen Erscheinung diejenige Alternative des Ständetums, i n der der Staat die Gesellschaft überwältigt; i n der zweiten Alternative sei es die ständische Gesellschaft, die den Staat überwältige 2 1 3 . 202
Krüger, A l l g . Staatslehre, S. 647; Huber, Verfassungsgeschichte I I , S. 334 f.; Fischer Lexikon, S. 295, 327; Fraenkel, Deutschland, S. 41, 68, 150; Löwenstein, Verfassungslehre, S. 403 ff. 203 Löwenstein, Verfassungslehre, S. 413. 204 Vgl. zum folgenden Krüger, Allg. Verfassungslehre, S. 653 f. 205 Ebd., S. 653; vgl. auch Huber, Verfassungsgeschichte I I , S. 335; Leibholz, Strukturprobleme, S. 201 ff.; ders., Repräsentation, S. 183 ff. 206 Krüger, A l l g . Staatslehre, S. 384. 207 Ebd., S. 383. 208 Krüger zieht die Folgerung: „ E i n Ständestaat vermag seiner N a t u r nach weder Staat noch demokratischer Staat zu sein." „Die ständische Idee ist die Verneinung der Staatsidee." Ä h n l i c h Leibholz, Strukturprobleme, S. 204. 209 Löwenstein, Verfassungslehre, S. 410; Leibholz, Strukturprobleme, S. 199; ders., Repräsentation, S. 191; Fraenkel, Deutschland, S. 41, 68; Krüger, Allg. Staatslehre, S. 396. 210 BVerfG, N J W 1975, S. 1266. 211 212 213
Löwenstein, Verfassungslehre, S. 412. Allg. Staatslehre, S. 396, Fußn. 62. Ebenso Leibholz, Strukturprobleme, S. 204.
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§ 18. Demokratische Legitimation
Historisch erklärbar als der Versuch der i m 19. Jahrhundert „standlos" gewordenen Menschen, sich i n und durch die Verbände einen neuen gesellschaftlichen „Stand" zu schaffen 214 sind die Gewerkschaften auch heute i n ihrer Tätigkeit nur dadurch empirisch ebenso wie rechtlich zu analysieren, daß man auch auf ständische Gedanken zurückgreift 215 . Die Gewerkschaften des DGB verstehen sich ebenso wie Stände als Institutionen aus eigenem unabgeleitetem Recht. „ W i r und sonst niemand legen fest, für was w i r uns einsetzen und wofür w i r kämpfen wollen" ruft der DGB-Vorsitzende Vetter auf dem 9. DGB-Bundeskongreß aus 216 . Die DGB-Gewerkschaften wollen nicht nur auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen, sondern auch der Lebensbedingungen der Arbeitnehmer und ihrer Familien politisch bedeutsamen Einfluß gewinnen 217 . I n die gleiche Richtung zielt die Forderung des DGB-Landesbezirks Hessen, einen Landwirtschafts- und Sozialrat m i t maßgebender Gewerkschaftsbeteiligung zu schaffen 218 . Die gleichzeitig damit bewirkte — partielle — Verdrängung des Parlaments und Austrocknung parlamentarischer Legitimation läßt deutlich werden, daß die Verstärkung ständischer Tendenzen demokratische Strukturen gefährdet 219 . Eine Normierung der ständischen Idee ist daher abzulehnen 220 . Eine politisch umfassende Einbeziehung der Koalitionen i n den Prozeß der Staatswillensbildung würde also das nach Meinung Webers 221 ohnehin auf partiellen Gebieten bestehende gruppenbündische System durch ein ständestaatliches Gesamtsystem ergänzen. Diese Überlegungen stützen die aus Legitimationsaspekten gewonnene Erkenntnis, daß überhaupt eine Beschränkung bei der Einbeziehung mächtiger gesellschaftlicher Wirkungseinheiten i n den Staatsorganismus erforderlich ist, und deuten zugleich die Richtung einer Begrenzung an: n ä m l i c h die Wahrnehmung
spezifischer
beruflicher
Interessen.
Denn
Alternative wäre ein ständestaatliches System, das demokratische Legitimation auflösen würde. 214
Vgl. Krüger, A l l g . Staatslehre, S. 394. Kaiser, Repräsentation, S. 324; Weber, V V D S t R L 11, S. 173 ff.; Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 151. 216 § 6 C 1. 217 § 6 C 1. 218 § 7 D < 215
219 I m Ergebnis ebenso Sontheimer, Schriften der Bundeszentrale, S. 19; Weber, Spannungen, S. 55,122 f., 341; Hesse, Grundzüge, § 12 I 8 a; Wittkämper, Interessenverbände, S. 14; Hamann, Wirtschaftsverfassungsrecht, S. 62 f.; K a i ser, Repräsentation, S. 324, 361; Hirsch, Gewerkschaften, S. 151; Leibholz, V V D S t R L 11, S. 249 f.; Leisner, Mitbestimmung, S. 14, 20, 25, 32, 61, 77; Scheuner, DÖV 1965, S. 580; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 28, Rdnr. 4; Kisker, V V D S t R L 31, S. 276. 220 So Kaiser, Repräsentation, S. 324. 221 Spannungen, S. 167; ders., Sozialpartner, S. 260.
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Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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4. Anwendung der Begrenzungsmethode auf die gewerkschaftliche Beteiligung an der Staatswillensbildung a) Gewerkschaftliche Beteiligung an der Tätigkeit der Gesetzgebungsorgane des Bundes und der Länder aa) Beteiligungsformen Daß die gewerkschaftliche Einwirkung auf die Parlamente nicht zu rechtlichen Mitentscheidungsbefugnissen gestaltet werden kann, versteht sich aus Legitimationsgründen von selbst 222 . Ihre Einflußnahme durch Beratung, Wahrnehmung von Anhörungsrechten und durch sonstige Tätigkeit der Gewerkschaftslobby 223 scheint auf den ersten Blick unter Legitimationsaspekten keiner Untersuchung zu bedürfen, w e i l sich diese Tätigkeiten auf die Parlamentsentscheidungen nicht rechtlich zwingend auswirken 2 2 4 . Die Praxis zeigt jedoch, daß die eigentlichen Entscheidungsträger bestimmte Maßnahmen oft erst nach Absprache und Einigung m i t den Verbänden zu treffen bereit sind, u m dadurch die politische Verantwortung auf diese abzuwälzen und mit deren faktischer Machtposition abzusichern 225 . Die Vorklärung m i t den Verbänden w i r d auf diese Weise zu einer A r t von „Vorentscheidung", der die endgültige Entscheidung zwingend nachfolgt, w e i l niemand diesen politischen Kompromiß anzugreifen wagt. Beratung — allzu breit und intensiv angelegt — bedeutet daher oft auch faktisch Mitentscheidung 226 . Beratungstätigkeit muß daher ihrem Inhalt nach i n gleicher Weise beschränkt werden wie Mitentscheidung, damit nicht über den Umweg der Beratung i n solchen Bereichen Einfluß gewonnen wird, die der Mitentscheidung nicht zugänglich sind. Davon zu trennen ist das Problem des Ber atungs verfahr ens, das besonders zu regeln ist 2 2 7 . Die aus Legitimationsgründen erforderliche personelle Begrenzung hat für die Partizipation der Koalitionen die Konsequenz, daß sie i n dem beschriebenen Verfahren nur auf solche Gesetzesvorhaben legitim Ein222
Vgl. § 18 C 1. Vgl. 4. Kapitel. 224 Evers, Der Staat 1964, S. 51, nennt eine n u r beratende F u n k t i o n verfassungsrechtlich unbedenklich. 225 Vgl. Dagtoglou, Privater, S. 137 f., 148 f., 162; vgl. § 18 D 1. 226 Vgl. Dagtoglou, Privater, S. 162 f.; Leisner, Mitbestimmung, S.49; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 202, 232, Fußn. 225, 234, Fußn. 235, m. w . Nachw.; ders., DÖV 1974, S. 155; Kisker, DÖV 1972, S. 520; Forsthoff, V e r w R I, § 4, 3.; Ossenbühl, Anforderungen, S. 136 f.; diese faktische A u s w i r k u n g übersieht Schmidt, V V D S t R L 33, S. 200 ff., wenn er zwischen Entscheidungsvorbereitung u n d Entscheidung differenziert u. Partizipation an der Vorbereitung generell f ü r unbedenklich hält. 227 Vgl. § 19 D 3, § 20 B. 223
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§18. Demokratische Legitimation
fluß nehmen können, deren Normadressaten allein oder vorwiegend die Koalitionen selbst oder ihre Mitglieder sind. Ein Gesetz dieser A r t ist z.B. das TVG. Bei anderen Tätigkeiten der Legislative versagt diese Partizipationsbegrenzung jedoch, denn das Berufsbildungsgesetz etwa betrifft nicht allein die Koalitionen oder deren Mitglieder, sondern einen weiteren Adressatenkreis. Eine unbeschränkte Einflußnahme der Koalitionen auf solche den personellen Rahmen eigener Angelegenheiten sprengende Gesetzesvorhaben der Legislative aber begründet Gefahren für die Erhaltung parlamentarischer Legitimation. Daß die Koalitionen gleichwohl versuchen, auch i n solche, durch keinen personellen Adressatenbezug mehr gerechtfertigte Bereiche vorzustoßen 228 , beweist etwa die Debatte u m die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Das gewerkschaftliche Engagement richtete sich nicht nur gegen diejenigen Notstandsregelungen 229 , die — wie etwa Art. 12 a I I I - V I — i n erster Linie Arbeitnehmer betreffen, sondern auch gegen solche Bestimmungen, die allgemeine Geltung haben (z. B. A r t . 53 a, 80 a, 87 a, 91). Verfassungsrechtlich zulässig ist die Einflußnahme der Koalitionen hinsichtlich derartiger Tätigkeiten der Legislative nur, wenn der fehlende personelle Bezug durch andere legitimationserhaltende Begrenzungslinien kompensiert wird. Da die Gefahr der Legitimationsabschwächung und -Verfälschung dann am geringsten ist, wenn der beteiligte Verband sich auf den Willen seines „Teilvolkes" berufen kann, ist als Partizipationskriterium auf die Mitglieder inter essen zurückzugreifen 230 . So bleibt auch bei der Partizipation a n s t a a t l i c h e n E n t s c h e i d u n g s v o r g ä n g e n der Rahmen
eigener
Angelegen-
heiten erhalten. Die Mitgliederinteressen eines Verbandes werden vorwiegend — wenn auch nicht ausschließlich — durch den Verbandszwec/c bestimmt. Für die Koalitionen w i r d er i n A r t . 9 I I I beschrieben: die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist Koalitionszweck 231 . Verfassungsrechtlich konkretisiert werden also die Interessen der Koalitionsmitglieder durch A r t . 9 I I I . Über diesen Rahmen hinausgehende 228 Vgl. z u den Methoden politischer Einflußnahme durch Verbände Hennis, Politik, S. 192; Hättich, P o l i t i k I I , S. 164; Herzog, EvStL, Sp. 1552; Leibholz, V V D S t R L 24, S. 28 ff.; weitere Nachw. bei Wittkämper, Interessenverbände, S. 5 ff. 229
Vgl. § 7 A . Vgl. zur Begrenzung der Partizipation auf den personellen Einzugsbereich des jeweiligen Problems Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 238. 231 Vgl. Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 102 ff., 137 ff., 914 ff.; Scholz, K o a l i tionsfreiheit, S. 2 ff., 43 ff., 47 ff., 257, 274, 297, 312 f., m. w. Nachw.; Maunz (-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 97; Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, A n m . 8 b, aa (S. 235); Hamann, Gewerkschaften, S. 44, spricht von „Tendenzbestimmung"; Weber, Sozialpartner, S. 244, m. w . Nachw.; Galperin, D B 1970, S. 300; Wiedemann, R d A 1969, S. 330. 230
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Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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Interessen finden keine verfassungsrechtliche Stütze mehr und sind daher bei der inhaltlichen Bestimmung verfassungsrechtlich anerkannter Partizipation nicht zu berücksichtigen. Damit wird der in Art. 9 III konkretisierte
Koalitionszweck
zum
Partizipationskriterium.
Deses Grundrecht soll auf diese Weise nicht unmittelbar i m Prozeß der Staatswillensbildung Geltung erlangen — was nicht möglich wäre 2 3 2 —, sondern mittelbar nutzbar gemacht werden. Das oben 233 dargestellte weitere K r i t e r i u m zur Legitimationserhaltung, die spezifische Sachnähe, weist i n die gleiche Richtung: Der Gegenstand, der den Koalitionen historisch 234 und rechtlich i m Prozeß der Volkswillensbildung zur Regelung zugewiesen ist, nämlich die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, dient zugleich dazu, ihre Beteiligung an der Staatswillensbildung inhaltlich zu bestimmen und zu begrenzen 235 . bb) Beteiligungsbegrenzung durch Art. 9 I I I GG „Arbeitsbedingungen" beziehen sich auf das Arbeitsverhältnis, vor allem auf alle tarif vertraglich zu regelnden Gegenstände; „Wirtschaftsbedingungen" gehen darüber hinaus und betreffen auch allgemeine W i r t schafts- und sozialpolitische Sachgebiete, die von den Koalitionen i n ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber bzw. Arbeitnehmer aufgegriffen werden können, also durch das Verhältnis der „sozialen Gegenspielerschaft" charakterisiert werden 2 3 6 ; sie umfassen daher alle rechtlichen und tatsächlichen Beziehungen, die mit der Eigenart der Stellung des Arbeitnehmers zusammenhängen 237 . Einer sehr restriktiven Auslegung zufolge soll sich der Aufgabenbereich der Koalitionen m i t dem des A r t . 74 Nr. 12 decken 238 . Staat und 232
§ 21 A. § 18 D 3 b. 234 A r t . 9 I I I erkennt diese historische F u n k t i o n an; vgl. etwa Söllner, ArbR, S. 129 (§ 17 I ) ; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 113 ff. (121), 124; Stein, Staatsrecht, S. 186 ff. 235 Vgl. Wiedemann, R d A 1969, S. 327: „Die Gewerkschaften dürfen i m Rahmen des A r t . 9 I I I GG, also zugunsten der Arbeits- u n d Wirtschaftsbedingungen, ersichtlich auf weitergehende Befugnisse drängen als bei anderen Materien." Auch Wertenbruch, Peters-Gedächtnisschrift, S. 626, sieht A r t . 9 I I I unter dem Aspekt sachlicher L i m i t i e r u n g wirtschaftlicher Verbände. Vgl. Hueck/ Nipperdey, A r b R I I / l , S. 105: A r t . 9 I I I schütze auch die Wahrnehmung von Mitgliederinteressen gegenüber dem Staat. 236 BVerfGE 18, 28; 4, 106; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 97; v. Münch, B K , A r t . 9, Zweitbearb., Rdnr. 122; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 103, vgl. aber S. 371; v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 9, A n m . V 9; Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 421; Biedenkopf, 46. DJT, S. 160; Scheuner, B A r b B l . 1965, S. 674, Fußn. 86. 233
237
Galperin, D B 1970, S. 300. Forsthoff, B B 1965, S. 386; Herschel, 46. DJT, D 21; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 371. 238
§ 18. Demokratische Legitimation
141
Koalitionen werden als konkurrierende Kompetenzträger verstanden 239 . Diese Sicht scheint jedoch verfehlt, weil sich Staat und Koalitionen nicht i m Verhältnis konkurrierender Zuständigkeit, sondern i m Verhältnis von Zuständigkeit und Freiheit gegenüberstehen 240 . Scholz versteht die Koalitionsfreiheit als eine „funktionelle Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses" 241 , die Koalitionsfunktion stehe „ i m Sinnzusammenhang m i t der Regelung des Arbeitsverhältnisses" 242 . Die Koalitionsfreiheit bilde i n ihrer organisierten Ausübung das zentrale Gegengewicht zur Eigentümer- oder Unternehmermacht und bestimme damit das verfassungssystematische Verhältnis von Art. 14 und A r t . 9 III243. Sowohl aus der Entstehungsgeschichte 244 als auch aus dem von Scholz zutreffend genannten grundrechtlichen Beziehungsrahmen, der durch Art. 12, A r t . 14 und A r t . 9 I I I gebildet w i r d 2 4 5 , folgt, daß A r t . 9 I I I kein Grundrecht des allgemeinen Wirtschaftsrechts ist und daher auch nicht allgemeine Wirtschafts verbände wie ζ. B. Kartelle und Genossenschaften, sondern allein arbeitsrechtliche Berufsverbände schützt 246 . Das Begriffspaar „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" ist also nicht alternativ, sondern kumulativ 2 4 7 als funktionale Einheit zu verstehen 248 . Zwar ist davon auszugehen, daß der Koalitionszweck i m K e r n auf das Arbeitsverhältnis bezogen bzw. i m unmittelbaren und engen Zusammenhang mit diesem zu verstehen ist 2 4 9 , jedoch kann eine solche enge Auslegung dem Wortlaut von A r t . 9 I I I Satz 1 nur unzureichend gerecht werden. Der Verfassungstext erwähnt nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch die Wirtschaftsbedingungen, so daß nicht beide Begriffe gleich239 V g L Biedenkopf, Grenzen, S. 152 ff.; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 18 ff.; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 370 f. 240 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 330; i m Ergebnis ebenso Scheuner, B A r b B l . 1965, S. 672. 241 Ebd., S. 13. 242 Ebd., S. 43,147. 243 Ebd., S. 11 f. 244 Vgl. dazu Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 103. 245 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 4 ff., 330 f. 240 H M , vgl. Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 97; v. Münch, B K , Zweitbearb., A r t . 9, Rdnr. 123; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 104; E. R. Huber, WirtschaftsVerwR I I , S. 370, 383, Fußn. 8; v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 9, A n m . V 9; Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 427; Scheuner, Peters-Gedächtnisschrift, S. 797 (819); Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 46. 247 Vgl. v. Münch, B K , Zweitbearb., A r t . 9, Rdnr. 123. 248 Ebd., Rdnr. 123; Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 421 f. 249 BVerfGE 4, 96 (106 f.); 18, 18 (26); Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 421 f.; Biedenkopf, 46. DJT, S. 114, 139 ff., 156 ff.; Weber, Tarifautonomie, S. 22; ders., Der Staat 1965, S. 409, 434 f.; ders., Sozialpartner, S. 246, 249; Hueck/Nipperdey/ Stahlhacke, T V G , § 1, Rdnr. 158; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 103 f.
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. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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gesetzt werden können 2 5 0 . Sie bezeichnen vielmehr Verhältnisse i n allen Sektoren der Wirtschaftspolitik 2 5 1 , i n denen die Koalitionen i n ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer- bzw. Arbeitgeberorganisationen stehen, die also dadurch charakterisiert werden, daß die Koalitionsmitglieder Arbeitgeber bzw. Arbeitnehmer sind. Dazu zählen i n erster L i n i e A r beitsverhältnisse, aber nicht nur diese. Beide Begriffe bilden so verstanden eine funktionale Einheit, ohne jedoch inhaltsgleich zu sein 2 5 2 . Diese Auslegung trifft keine Bestimmung über I n h a l t u n d Grenzen der Tarifautonomie, bedeutet also nicht, daß Sachgebiete, die zu den Arbeits- u n d Wirtschaftsbedingungen gehören, automatisch Gegenstände der Tarifautonomie sind. Die Funktionsbestimmung v o n A r t . 9 I I I ist weiter als die Tarifautonomie 2 5 3 , denn i n A r t . 9 I I I ist von „ W a h r u n g u n d Förderung" u n d nicht nur „Regelung" der Arbeits- u n d Wirtschaftsbedingungen die Rede. Z w a r können unstreitig nicht alle Wirtschaftsbedingungen zum I n h a l t eines Tarifvertrages gemacht werden, wie etwa Fragen der überbetrieblichen Mitbestimmung, andererseits gibt es keine verfassungsrechtliche Stütze dafür, solche Gegenstände aus dem durch A r t . 9 I I I gewährleisteten Funktionskreis der Koalitionen auszugliedern. I m Gegenteil: es w ü r d e n wichtige außertarifliche Aufgaben der Koalitionen, die i h r e soziale Ordnungsfunktion 254 erfordert, nicht m e h r v o n A r t . 9 I I I 250
Biedenkopf, 46. DJT, B, S. 139 f., 158 f.; Krüger, Grenzen, S. 22, kritisiert, die h M werfe das Tatbestandsmerkmal „Wirtschaftsbedingungen" „kurzerhand über Bord"; Scheuner, Verfassungsmäßigkeit, S. 20, w i l l den Ton primär auf „Wirtschaftsbedingungen" legen; auch Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 61, gebrauchen beide Begriffe nebeneinander; vgl. weiterhin Söllner, A u R 1966, S. 262; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 103 f.; v. Münch, a.a.O., Rdnr. 122; Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, A n m . 10 (243); f ü r eine Gleichsetzung beider Begriffe ausdrücklich Forsthoff, B B 1965, S. 386, Fußn. 38. 251 Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, Anm. 10 (S. 243). 252 I n BVerfGE 4, 107 ist n u r von „Interessen . . . auf arbeits- u n d sozialrechtlichem Gebiet" die Rede, i n BVerfGE 17, 333; 18, 226 aber von „Arbeitsu n d Wirtschaftsbedingungen"; vgl. auch E 19, 313; 28, 304 ff.; BVerfG, N J W 1975, S. 1267. 253 H M , vgl. BVerfGE 19, 303 (314, 319 ff.); 28, 304, 313; BVerfG, N J W 1975, S. 1267; Hesse, Grundzüge, § 12 I 8 b; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 97, 103, 110; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 40, 137, 231 f., A r b R II/2, S. 915 ff., 1633 ff.; Rüthers, Streik u n d Verfassung, S. 41 ff.; ders., RdA 1968, S. 169, m. w. Nachw.; Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, A n m . Β 8 b, aa (S. 234 f.); v. Münch, B K , Zweitbearb., A r t . 9, Rdnr. 147; Galperin, D B 1970, S. 349; Lenz, i n : Gesellschaft, Recht und Politik, S. 205 ff.; Ramm, R d A 1968, S. 417; zur gegenteiligen Ansicht: Weber, Sozialpartner, S. 249, 296; Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 462; Nikisch, A r b R I I , S. 58; Biedenkopf, 46. DJT, B, S. 157 f.; Söllner, A u R 1966, S. 260; Forsthoff, B B 1965, S. 386; unklar Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 44 einerseits, S. 49, Fußn. 80, andererseits. 254 Vgl. BVerfGE 4, 96 (107): „sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens"; 19, 303 (319); 18, 27 f.; Herschel, 46. DJT, I I D, S. 11 ff.; Söllner, ArbR, § 12 I I 3 a, § 15 I I 3; Rüthers, RdA 1968, S. 168; Wiedemann, RdA 1969, S. 328 f.; Galperin, D B 1970, S. 293, 346 f.; E. G. Vetter, Ordo Bd. 23 (1972), S. 338, 343; Hirsch, Gewerkschaften, S. 32 f.; Boldt, RdA 1971, S. 264 ff.; Limmer, Gewerkschaftsbewegung, S. 128 ff., verweist namentlich auf die Rolle G. Lebers und der IG-Bau-Steine-
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geschützt, was auf lange Sicht das Tarifvertragssystem gefährden kann 2 5 5 . Freilich w i r d der Koalitionszweck von den Gewerkschaften vorwiegend dadurch erfüllt, daß sie Tarifverträge mit dem sozialen Gegenspieler abschließen 256 ; i n dieser Tätigkeit liegt das „eigentliche Betätigungsfeld der Gewerkschaften" 257 . Manche Versuche einer engen Auslegung von A r t . 9 I I I haben ihren Grund darin, daß Tarifautonomie und das Begriffspaar „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" gleichgesetzt werden. Die zu einseitig an A r beitsverhältnissen orientierte Interpretation der Koalitionsfunktionen ist daher zu eng, auch wenn gerade der personale und nicht nur vermögensoder austauschmäßige Charakter des Arbeitsverhältnisses das Feld erweitert 2 5 8 . H. Krüger dagegen mißt dem Begriffspaar „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" nur beispielhafte Bedeutung bei, der Koalitionszweck werde vielmehr bestimmt durch die „Eigenart der Koalitionen und ihrer Stellung i n den konstitutionellen und sozialen Zusammenhängen" 259 . Entscheidend sei die Funktion, die den Koalitionen nach der Verfassungswirklichkeit zukomme 260 . Abgesehen davon, daß „Verfassungswirklichkeit" ein schillernder Begriffist, dessen Rechtsquellencharakter äußerst problematisch erscheint 261 , dürfte Krüger die Grenze verfasungsrechtlicher Interpretation dadurch überschreiten, daß er der Funktionsbestimmung von A r t . 9 I I I jede konstituierende und limitierende W i r k u n g aberkennt 262 . Es geht ebenfalls zu weit über den Wortlaut von A r t . 9 I I I hinaus, den Schutzbereich dieser Verfassungsnorm über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auf weitere Bereiche wie z.B. die Bildungsarbeit auszudehnen 263 . A r t . 9 I I I würde dieser Auffassung zufolge das „Hauptgebiet" Erden i n der Diskussion u m die Ordnungsfunktion der Gewerkschaften; eine solche F u n k t i o n ist typisches M e r k m a l der real u n d legal „befestigten" (Briefs) Gewerkschaften, s. o. § 18 D 1 u. Fußn. 143; i n neuerer Zeit verstärken sich jedoch i n den Gewerkschaften Tendenzen zur Systemüberwindung, s. o. § 6 A u. E. G. Vetter, Ordo 23, S. 329 ff. 255 Rüthers, RdA 1968, S. 170. 25β BVerfGE 4,106; 18,26; BVerfG, N J W 1975, S. 1267. 257
BVerfG, N J W 1975, S. 1267. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 44; Scheuner, Verfassungsmäßigkeit, S. 21, 84 ff.; ders., B A r b B l . 1965, S. 674. 259 Grenzen, S. 23. 280 Ebd., S. 24 ff., 34 ff. 261 Vgl. Hesse, Grundzüge, § 1 I I I 5; Ritter, Der Staat 1968, S. 352 ff. 262 Zutreffende K r i t i k von Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 44; Ritter, Staat 1968, S. 352 ff.; Galperin, D B 1970, S. 301. 283 So aber Scheuner, B A r b B l . 1965, S. 672 f.; ders., Verfassungsmäßigkeit, S. 22, 85. 258
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der (normativ zu gestaltenden) Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen umfassen und daneben weitere Sachgebiete, was aber von der Enumeration i n Art. 9 I I I nicht mehr gedeckt wird. Säcker 264 entwickelt zur Konkretisierung der allgemeinen Begriffe „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" ein System von Kernbereichen. Er bestimmt vier Funktionsgewährleistungen: die verbandsmäßige Gestaltung der allgemeinen Arbeitsbedingungen 265 , die verbandsmäßige Mitgestaltung der betriebs- und unternehmensverfassungsrechtlichen Ordnung 2 6 0 , die verbandsmäßige materielle und ideelle Selbstbehauptung 2 6 7 und die betriebs- und personalverfassungsrechtliche Regelungsbefugnis 268 . Zweifelhaft mag sein, ob diese — methodisch grundsätzlich zutreffende — Analyse komplexer Tatbestände ausreicht; abschließend kann Säckers System freilich nicht sein 269 . Dieser Weg erscheint jedoch gangbar, weil er der Problemabschichtung dienen kann. Er muß allerdings einer Einzelfallsubsumtion offen bleiben 270 , die die soziale Wirklichkeit ebenso berücksichtigt 271 wie sie den sinnvollen Wortlaut der Verfassungsnorm als Interpretationsgrenze anerkennt 272 . Der Aufgabenbereich der Koalitionen muß i m „lebendigen Strom der sozialen Verhältnisse verstanden werden" 2 7 3 . Da der Verfassungsgeber mit Art. 9 I I I eine bestehende soziale Verbandsmacht anerkennt und gestaltet, also die soziale Wirklichkeit zur Grundlage seiner Normierung gemacht hat, ist „ A r t . 9 I I I i n einer aktualen Ubereinstimmung m i t der evolutionären sozialen Wirklichkeit" zu interpretieren 2 7 4 . cc) Weitere Begrenzung Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus dem Erfordernis demokratischer Transparenz: 264
Grundprobleme, S. 39 ff., 93. Ebd., S. 45 ff., 55, 93. Ebd., S. 58 ff., 93. 267 Ebd., S. 63 ff. 268 Ebd., S. 75 ff. 209 Dies gesteht Säcker selbst ein, w e n n er formuliert, daß der Koalitionszweck offen sein müsse, ebd., S. 40 f.; ähnlich Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 61. 270 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 20, 50, 373; zur Offenheit der Verfassung Hesse, Grundzüge, § 1 I I I 2; Hamann, Gewerkschaften, S. 44. 271 Grundrechte aktualisieren sich i n der sozialen Ordnung (s. u. § 36) u n d stehen daher i m Konnex m i t dieser, vgl. Hesse, Normative K r a f t , S. 6 ff.; ders., Grundzüge, § 1 I I I 5; ders., V V D S t R L 17, S. 12 ff.; Ehmke, V V D S t R L 20, S. 57; F. Müller, Normstruktur, S. 77 ff., 114 ff., 184 ff. 272 Hesse, Grundzüge, § 1 I I I 3, 5 b, § 2 I I I 3; Klein, BVerfG, S. 16 ff., 28 f. 273 Scheuner, Verfassungsmäßigkeit, S. 19. 274 Scheuner, Verfassungsmäßigkeit, S. 20, 22; ders., B A r b B l . 1965, S. 672, 674. 265
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§18. Demokratische Legitimation
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Die Kräfte der pluralistischen Gesellschaft determinieren die staatliche Willens- und Entscheidungsbildung 275 , was auch zwangsläufig ist 2 7 6 . Dies aber muß — aus Legitimationsgründen — für die Öffentlichkeit kalkulierbar und kontrollierbar, d. h. transparent sein. Daher muß, u m Inhalt und Umfang der gewerkschaftlichen Einflußnahme auf das Parlament transparent zu machen, diese Einwirkung transparent sein, was sie aber nur ist, wenn sie sich innerhalb beschriebener Grenzen bewegt und sich i m Rahmen dessen hält, was durch die Verbandsbezeichnung noch gedeckt erscheint. Von einer „Gewerkschaft" erwartet man eben keinen Einfluß etwa auf außenpolitische Gegenstände ohne jeden typischen Bezug zu Arbeitnehmerinteressen. b) Gewerkschaftliche Beteiligung an der Regierung und der unmittelbaren Staatsverwaltung Um eine Abschwächung oder Verfälschung der Legitimationskette durch Uberlagerung seitens der Gewerkschaften zu verhindern, muß diese Beteiligung — unabhängig von ihrer A r t — um so mehr zurücktreten je mehr Bereiche der Regierungstätigkeit betroffen werden. Denn diese haben i n der Regel nicht nur Auswirkungen auf eng begrenzte Sachgebiete, sondern umfassen die politischen Grundentscheidungen 277 . Eine gegenständliche Begrenzung auf typische Arbeitnehmerinteressen i m Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist aus den gleichen Gründen geboten wie i m Falle der Einwirkung auf die Parlamentsarbeit. Daß diese Begrenzung besonders hervorgehoben werden muß, ergibt sich daraus, daß es auch bei der Beteiligung an Regierungs- und Verwaltungstätigkeiten an einer möglichen Kompensierung durch personelle Grenzen meist fehlt, w e i l diese Entscheidungen oft i n ihren rechtlichen und realen Auswirkungen nicht allein Gewerkschaftsmitglieder oder sonstige A r beitnehmer, sondern auch andere Personengruppen betreffen. B e i der M i t w i r k u n g a n Verwaltungsorganen
mit
Entscheidungskompe-
tenzen ist zu beachten, daß das Demokratieprinzip ebenso wie die Rechtsstaatlichkeit eine parlamentarisch verantwortliche Regierung fordert 2 7 8 . Parlamentarische Verantwortlichkeit setzt voraus, daß Regierungsentscheidungen von der Regierung selbst und nicht von außerhalb stehenden selbständigen Entscheidungsorganen getroffen werden. Das BVerfG 275
Herzog, Allg. Staatslehre, S. 346. Ebd., S. 343. 277 Vgl. BVerfGE 9, 268 (282) ; das Gericht zieht zur Abgrenzung von Regierungsaufgaben das K r i t e r i u m der „politischen Tragweite" heran, vgl. § 18D4b. 278 Vgl. insbesondere BVerfGE 9, 268 (281); Scheuner, Smend-Festschrift, S. 275 f., 277; ders., DÖV 1969, S. 589 f., 591 f.; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 212, m. w. Nachw.; Dagtoglou, DVB1.1972, S. 717; Knöpf le, DVB1.1974, S. 708; Lecheler, DÖV 1974, S. 443. 276
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wählt bei der Bestimmung derjenigen Bereiche, die parlamentarischer Verantwortung unterstehen müssen, einen vernünftigen Mittelweg, wenn es parlamentsfreie Verwaltungstätigkeit nicht schlechthin für verfassungswidrig erklärt, sondern nur bei genereller Zuweisung von Regierungsaufgaben m i t politischer Tragweite an unabhängige Stellen 279 . Damit orientiert sich das Gericht an den Kriterien der „politischen Tragweite" und dem Umfang der Aufgabenübertragung. Zulässig ist demgemäß die Übertragung politisch unerheblicher Regierungsaufgaben; haben sie politische Tragweite, darf die Übertragung nur beschränkt, nicht generell erfolgen 280 . Die oben 281 angegebene gegenständliche Begrenzung für die Beteiligung von Privaten ist daher zu konkretisieren: soweit es sich u m die generelle Zuweisung von Aufgaben m i t erheblichem politischen Gewicht handelt, ist die parlamentarische Verantwortung der Entscheidungsträger sicherzustellen 282 . Daraus folgt eine absolute Partizipationsbegrenzung: Organe m i t letztentscheidender Kompetenz m i t diesem sachlichen Umfang stehen weder einer Bedienstetenpartizipation 283 noch einer Partizipation durch externe Kräfte offen 284 , denn auch eine Minderheitsbeteiligung dieser Mitglieder ist Letztentscheidung, w e i l die Minderheit den Ausschlag geben kann und dann geradezu Alleinentscheidungsrecht hat 2 8 5 . Die parlamentarische Verantwortlichkeit des gesamten Entscheidungsgremiums ist daher auch dann logisch ausgeschlossen, wenn die Mehrheit parlamentarisch verantwortlich ist. Etwas anderes gälte allenfalls dann, wenn man von einer durchgehenden Polarisierung der Gruppen ausgehen müßte, w e i l diese ihr Entscheidungsgewicht dann gegenseitig aufheben würden. Eine solche Vorstellung ist jedoch keine 279 BVerfGE 9, 282; zustimmend Dagtoglou, Privater, S. 156, m. w . Nachw.; vgl. auch: Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 88, Rdnr. 122; Leisner, Mitbestimmung, S. 47 f.; Gallwas, V V D S t R L 29, S. 226; Evers, Der Staat 1964, S. 51 f. 280 Zutreffend Dagtoglou, Privater, S. 156; vgl. auch B V e r w G E 12, 28; kritisch dazu i m Hinblick auf die Bedienstetenpartizipation Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 234. 281 § 18, D, 4 a. 282 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 235; Kisker, DÖV 1972, S. 525; Ossenbühl, V V D S t R L 29, S. 161, 172, begrenzt ebenso die Übertragung von V e r w a l tungsaufgaben auf Private; ähnlich Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 47, 56; Hirsch, Gewerkschaften, S. 148 f., fordert generell, daß „ f ü r Entscheidungen, die die Lebensinteressen des ganzen politischen Gemeinwesens wesentlich berühren" der Staat, d. h. Parlament u n d Regierung, zuständig bleiben soll; die Institution der Tarifautonomie stehe gerade noch an der Grenze dieser staatl. Zuständigkeit. 283 Vgl. Leisner, Mitbestimmung, S. 47; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 233, m. w. Nachw.; ders., DÖV 1974, S. 154 f.; Dagtoglou, DVB1.1972, S. 716. 284 I m Ergebnis Schmidt, V V D S t R L 33, S. 200 ff. 285 Leisner, Mitbestimmung, S. 40, 47, 57 f.
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Erfahrungstatsache und widerspricht den auf Kooperation gehenden Intentionen der Partizipation fordernden Kräfte 2 8 6 . Unter diesen Gesichtspunkten ist die Aufgabenzuweisung an den Bundespersonalausschuß, § 95 BBG, wegen seiner Zusammensetzung verfassungswidrig 287 : seine sieben Mitglieder sind unabhängig, § 97 I I BBG; drei von ihnen werden durch die Spitzenorganisationen der Gewerkschaften ernannt, § 96 I I I BBG. Der Bundespersonalausschuß hat nicht nur Beratungs-, sondern auch Entscheidungskompetenzen in personalpolitischen Fragen (ζ. B. bei Prüfungen, Befähigungsbeurteilungen, §§ 98 I Nr. 3, 21 BBG). Diese haben nicht lediglich politisch zweitrangige Bedeutung und können deshalb nicht generell übertragen werden; der Ausschuß nimmt jedoch eine solche generelle Befugnis wahr 2 8 8 . Aktualität hat i n letzter Zeit die Organisation der Deutschen Bundespost gewonnen, nachdem die Bundesregierung einen Entwurf zu einem Postverfassungsgesetz vorgelegt hat 2 8 9 . Bevor einige Regelungen dieser Gesetzesinitiative unter Demokratieaspekten erörtert werden, soll die bestehende Rechtslage dargestellt werden: D e r Verwaltungsrat
der
Deutschen
Bundespost
besteht aus 24 M i t -
gliedern; 7 werden auf Vorschlag der zuständigen Gewerkschaften von der Bundesregierung ernannt, wobei die Gewerkschaften doppelt so viele Vertreter vorschlagen wie zu ernennen sind, §§ 5 II, 6 I I I , 7 PostVerwG. Dem Verwaltungsrat ist die Beschlußfassung über bestimmte kontrollierende und dirigierende Aufgaben zugewiesen, § 12 I PostVerwG, die man wegen der Bedeutung der Post für die Funktionen des modernen Industriestaates als Leistungsstaates der Daseinsvorsorge 290 zu den Aufgaben m i t erheblichem politischen Gewicht rechnen muß. Zwar erfolgt die Übertragung generell, jedoch ist i n allen Fällen durch ein Beanstandungsrecht des Ministers, dessen Beanstandung zur Letztentscheidung durch die Bundesregierung führt, § 13, die parlamentarische Verantwortlichkeit sichergestellt 291 . Eine „direktive Mitbestimmung" 2 9 2 des Verwaltungsrats ist also ausgeschlossen. Der Regierungsentwurf für das Postverfassungsgesetz sieht neben einem Vorstand einen Aufsichtsrat aus 24 Mitgliedern vor, von denen die 286
Ebd., S. 57. Vgl. Dagtoglou, Privater, S. 153 ff.; a. A. Leisner, Mitbestimmung, S. 51. 288 Α. A . Leisner, Mitbestimmung, S. 51. 289 B T —Drucksache V I , 1385. 287
290 Vgl. statt vieler Forsthoff, VerwR, vor § 20 (S. 368 if.), § 28 C (S. 567); Wolff-Bachof, V e r w R I, § 3 I b 2, § 11 I I b 5; V e r w R I I I , § 137; Schmidt, N J W 1964, S. 2390 ff. 291 Allgemein zum Beanstandungsrecht als ausreichendes M i t t e l parlamentarischer Verantwortlichkeit Leisner, Mitbestimmung, S. 58. 292 Vgl. zu diesem Begriff Leisner, Mitbestimmung, S. 9, u. passim.
io*
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Gewerkschaften 8 Mitglieder benennen 293 , § 10 I i . V . m. § 11 I I I Regierungsentwurf; 4 davon müssen dem Personal der Deutschen Bundespost angehören, § 11 I I I Satz 3. Die Ernennung erfolgt durch die Bundesregierung, § 12. Der Aufsichtsrat hat gegenüber dem Verwaltungsrat erheblich erweiterte Aufgaben, § 17, insbesondere umfangreiche Leitungsbefugnisse, § 2 I I Satz 2, § 17 I I I , ζ. B. die Beschlußfassung über den mittelfristigen Investitions- und Finanzierungsplan, § 17 I I I Nr. 1, die Feststellung des Wirtschaftsplans, § 17 I I I Nr. 2, die Ermächtigung des Vorstandes zur Aufnahme von Krediten und zur Übernahme von Bürgschaften, § 17 I I I Nr. 3. Abgesehen von der Frage, ob der Begriff „ A u f sichtsrat" für ein Organ, das neben Überwachungs- und Kontrollfunktionen auch Leitungsfunktionen ausübt 294 , nicht irreführend ist 2 9 5 , verdient Beachtung, inwieweit das Prinzip parlamentarischer Verantwortlichkeit zumindest für die generelle Wahrnehmung politisch bedeutsamer Aufgaben i n diesem Fall berücksichtigt wird. Das „einfache" Beanstandungsrecht des Ministers m i t Letztentscheidung durch die Regierung ist ersetzt worden durch ein kompliziertes Gefüge von Beanstandungs- und Widerspruchsrechten, in die sich Vorstand und Minister teilen. (1) Die wichtigsten Beschlüsse des „Aufsichtsrats" (Investitions- und Finanzierungsplan, Wirtschaftsplan, Kredite, Bürgschaften, Benutzungsbedingungen und -gebühren usw.) bedürfen der Genehmigung durch den zuständigen Bundesminister, §§17 I I I , 20 I I I , der i n bestimmten Fällen die Entscheidung der Bundesregierung herbeiführen kann, § 20 II, I I I . Diese Regelung stellt die parlamentarische Verantwortlichkeit sicher. (2) Die weiteren, ebenfalls politisch bedeutsamen Aufgaben des Aufsichtsrats unterliegen einem anderen Überwachungssystem, § 18: eine Entscheidung der Bundesregierung kann nicht herbeigeführt werden, ein fachliches Letztentscheidungsrecht hat der Minister nur, wenn der Vorstand Einspruch erhoben und der Aufsichtsrat den Einspruch m i t Zweidrittelmehrheit zurückgewiesen hat; Rechtsauf sieht steht i h m i n allen Fällen zu, § 19. Dieser Entscheidungsvorgang wäre — wenn auch kompliziert und umständlich — unter dem Gebot parlamentarischer Verant293 Es findet also keine W a h l durch das Personal der Deutschen Bundespost statt; i n der amtl. Begründung zu § 11 heißt es: „Das Benennungsrecht der M i t glieder des Aufsichtsrats aus dem Personal oder aus den Gewerkschaften steht naturgemäß den Gewerkschaften zu, die f ü r das Personal der Deutschen B u n despost zuständig sind." Ob das Benennungsrecht der Gewerkschaften „ n a t u r gemäß" sein kann, ist äußerst problematisch; der Hinweis ist w o h l eher politisch zu verstehen, ist aber n u r These u n d nicht — wie beabsichtigt — A r g u ment. 294 Dem Aufsichtsrat ist „neben der F u n k t i o n der Überwachung u n d der Beratung auch die Stellung eines i n den wesentlichen Fragen der unternehmerischen Leistungsfunktionen beschließenden Organes zugedacht". Vgl. amtl. Begründung zu § 17, B T — Drucksache V I , 1385. 295 Vgl. demgegenüber die Aufgaben des A u f sichtsrats gem. § 111 A k t G , insbesondere § 111 I V , S. 1.
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wortlichkeit unbedenklich, wenn dem Minister gegenüber dem beanstandenden Vorstand ein klares Weisungsrecht zugedacht wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn gem. § 20 I gibt der Minister dem Vorstand lediglich die für die Unternehmenspolitik bedeutsamen Zielsetzungen bekannt; der Vorstand muß ihnen Rechnung tragen. Der Vorstand ist jedoch nicht allein dem Minister gegenüber faktisch verantwortlich, weil bei der Ernennung der Vorstandsmitglieder, § 7 III, der Aufsichtsrat ebenso beteiligt ist wie bei ihrer Abberufung, § 8 II. Ein klares Letztentscheidungsrecht kommt damit dem Bundesminister nicht zu, er ist vielmehr abhängig von der Initiative eines Vorstandes, der nicht i h m allein verantwortlich ist. Berücksichtigt man weiter, daß i n dieses Entscheidungssystem politisch mächtige Verbände, nämlich die Gewerkschaften integriert sind, w i r d die reale politische Durchsetzungschance des Ministers noch geringer. Die Rechtsaufsicht kann keinen Ersatz bieten 296 , da sie auf die zu verantwortenden fachlichen Entscheidungen keinen Einfluß nehmen kann 2 9 7 . Die ministerielle und damit parlamentarische Verantwortlichkeit ist auf diese Weise rechtlich durchlöchert, faktisch ausgeschlossen. Diese Feststellung trifft erst recht zu auf die Vorschläge der DPG 2 9 8 : von den 24 Mitgliedern des Aufsichtsrats sollen 12 durch die Gewerkschaften ernannt werden, der Aufgabenkatalog, der zu dem 2. Uberwachungssystem gehört, erheblich gegenüber dem Regierungsentwurf erweitert werden. Unter Legitimationsaspekten wäre ein Organ m i t derartigen (Letzt-)Entscheidungskompetenzen allenfalls dann zu rechtfertigen, wenn alle Mitglieder des Aufsichtsrats einen verfassungsrechtlich anerkannten Legitimationsgrund nachweisen könnten, also nur vom Bundestag bzw. Bundesrat gewählte Vertreter i m Aufsichtsrat Entscheidungsbefugnisse hätten, während Vertretern der Gewerkschaften bzw. der Wirtschaft allein Beratungsfunktionen zugesprochen werden könnten. Es ließe sich der Einwand erheben, die ministerielle Weisungsbefugnis und damit die parlamentarische Kontrolle sei deswegen nicht völlig ausgeschaltet, weil die Bundesregierung die Mitglieder dieses Organs ernenne 299 . Dies verschaffe ihr die Möglichkeit, wenn auch nicht auf die Einzelbeschlüsse, so doch auf die „allgemeine P o l i t i k " 3 0 0 dieser Organe Einfluß zu nehmen. 296 Anders die Argumentation der D P G i n der Broschüre „Mitbestimmung i m öffentlichen Dienst u n d paritätische Vertretung des Personals i m A u f sichtsrat der Deutschen Bundespost", S. 50. 297 Vgl. Leisner, Mitbestimmung, S. 57. 298 v g L obengenannte Broschüre (Fußn. 296), Anhang 1, 4. 299 y g L d a z u — jedoch nicht i m Zusammenhang m i t der Postverfassung — Dagtoglou, Privater, S. 151 f., 157. 300
Ebd., S. 152.
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Jedoch erschöpft sich das Ernennungsrecht der Bundesregierung in einem einmaligen A k t und kann i m Gegensatz zum Weisungsrecht das weitere Handeln der Organmitglieder nicht beeinflussen. Die mittels des Ernennungsrechts bewirkte Lenkung der „allgemeinen Politik" ist — auch wenn die Auswahl unter mehreren Vorschlägen besteht, was bei der Ernennung der Aufsichtsratsmitglieder jedoch nicht der Fall ist — wohl eher Fiktion als Wirklichkeit, wenn man bedenkt, daß sich ein Minister i u m nur selten den Ernennungswünschen insbesondere eines mächtigen Verbandes widersetzen wird, sondern eher zur Kooperation m i t diesem bereit ist 3 0 1 . Aber selbst wenn man eine Aus Wahlmöglichkeit für die ernennende Regierung unterstellt, ist diese an die Vorschläge gebunden, die von den vorschlagsberechtigten Verbänden so gestaltet werden können, daß sich eine bestimmte politische Richtung durchsetzen muß. Vom Einfluß der Regierung auf die „allgemeine Politik" der jeweiligen Organe kann nicht mehr die Rede sein. Eine derartige demokratischen Legitimationserfordernissen nicht genügende Zusammensetzung und Unabhängigkeit von Organen, die Aufgaben m i t politischem Gewicht erfüllen, kann auch nicht dadurch zulässig werden, daß das Parlament dem selbst zustimmt 3 0 2 ; denn dadurch w i r d die Tätigkeit dieser Organe auch nicht der wegen der politischen Tragweite notwendigen demokratischen Verantwortlichkeit unterstellt. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn das Parlament selbst Vertreter entsendet und diese i n der Minderheit sind oder kein ausschlaggebendes Gewicht haben 303 . A r t . 87 I bestätigt dieses Ergebnis: nach absolut h. L. w i r d i n dem Begriff „bundeseigen" die Entscheidung des GG zugunsten unmittelbarer Bundesverwaltung zum Ausdruck gebracht. Damit verbietet A r t . 87 I die Führung der dort genannten Verwaltungszweige durch selbständige Rechtspersönlichkeiten 304 . Ein paritätisch zusammengesetztes Aufsichtsund Leitungsorgan wie der Aufsichtsrat der Bundespost wäre zwar kein rechtlich selbständiges Führungsorgan, aber der parlamentarischen Verantwortung derart entzogen, daß von unmittelbarer bundeseigener Verwaltung keine Rede mehr sein könnte. 301 Darauf weist Dagtoglou auch selbst hin, Privater, S. 137 f., 148 f., 163, Fußn. 14. 302 So aber Dagtoglou, Privater, S. 157, unter Hinweis auf B V e r w G E 12, 29. Diese Entscheidung k a n n jedoch nicht als Beleg dafür herangezogen werden, daß die Parlamentszustimmung ausreichen soll, denn das Gericht macht m i t Prüfung des Umfanges der gesetzlichen Zuweisung deutlich, daß die generelle Zuweisung, selbst wenn sie durch den Gesetzgeber vorgenommen w i r d , unzulässig ist. 303 Α. A . Dagtoglou, Privater, S. 157 f. 304 Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 87, Rdnr. 20.
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Die von der Bundesregierung beabsichtigte Reform der Postverfassung ist also insoweit verfassungswidrig 305. Es ist auf diese Beteiligungsgrundsätze ohne Einfluß, ob die Gewerkschaften allein oder zusammen m i t anderen Verbänden mitentscheiden: der mögliche Vorteil, daß eine solche Zusammensetzung der Entscheidungsorgane gegenseitigen Ausgleich und Machtbalance zur Folge haben kann 3 0 6 , w i r d durch die allenthalben zu verzeichnende Tatsache i n Frage gestellt, daß unsachliche Koalitionen m i t gegenseitigen „Stillhalteabkommen" geschlossen werden und der Verbandseinfluß nicht ausgeglichen, sondern auf Teilbereichen sogar noch potenziert wird 3 0 7 . Die gewerkschaftliche M i t w i r k u n g an reinen Beratungsorganen (Beiräte, Ausschüsse, Kommissionen usw.) 308 hat oft i n nicht unerheblichem Maß aus politisch-faktischen Gründen gleiche oder ähnliche Wirkungen wie rechtliche (Mit-)Entscheidungsbefugnis insbesondere dann, wenn es sich — wie bei den Gewerkschaften — um politisch mächtige Wirkungseinheiten handelt. Es ist daher erforderlich, die für die Beteiligung an Gremien m i t Entscheidungsbefugnissen entwickelten Begrenzungskriterien auch auf den Inhalt der Beteiligung an Beratungsorganen anzuwenden 309 . c) Gewerkschaftliche Beteiligung an der Tätigkeit der mittelbaren Staatsverwaltung A m stärksten ist die gewerkschaftliche Beteiligung i n den Selbstverwaltungskörperschaften des Soziallebens ausgebildet 310 . Gerechtfertigt ist dies wegen der gegenständlichen Begrenzung auf Angelegenheiten, die sicherlich zu den „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" i. S. v. Art. 9 I I I zählen, wegen der personellen Beschränkung dieser Körperschaften auf die Versicherten und deswegen, w e i l die Gewerkschaften i n diese Organe nicht Vertreter entsenden, sondern Wahllisten aufstellen, über die die Versicherten abstimmen 311 . Der gewerkschaftliche Einfluß besteht also nicht direkt, sondern mittelbar. Ebenfalls ist Staatsaufsicht gewährleistet. Die Frage der Staatsaufsicht stellt sich bei der Partizipation i n gleicher Weise wie bei der Selbstverwaltung 3 1 2 . Bei der Partizipation an der unmitelbaren staatlichen Verwaltung ist der Staat selbst tätig. Sobald die Partizipation i n Selbstverwaltung umschlägt, muß der 305
Ebenso Ipsen, DÖV 1974, S. 299 f.; Krüger, Scheuner-Festschrift, S. 295 ff. Vgl. § 17 A. 307 Vgl. Weber, Spannungen, S. 125. 308 Vgl. §§4, io. 309 Vgl. §18 D, 4 b. 310 Vgl. § 4, Tabelle 2. 311 §71, I I S V w G . 312 Vgl. § 18 D, 3 b. 306
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demokratisch legitimierte Zusammenhang zur originären Staatskompetenz durch Staatsaufsicht hergestellt werden. Diese Beteiligungsprinzipien sind auf die übrigen Selbstverwaltungskörperschaften sowie die sonstigen selbständigen Verwaltungseinheiten anzuwenden. d) Gewerkschaftliche Beteiligung an der Rechtsprechung Die Erhaltung der demokratischen Legitimationskette für die Rechtsprechungsorgane stellt sich ebenso als Aufgabe wie bei der Gesetzgebung oder Verwaltung. Die Gefahr der Uberlagerung durch politischfaktische Abhängigkeiten besteht für sie i n gleichem Umfang. Daher ist eine gewerkschaftliche Beteiligung nur möglich, soweit sie sich gegenständlich i m Rahmen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen und personell i m Rahmen „eigener" Angelegenheiten hält, d.h. Gewerkschaftsmitglieder oder zumindest Arbeitnehmer beteiligt sind. Dies ist i n der Regel bei den Arbeits- und Sozialgerichten der Fall, §§ 2, 3 ArbGG, § 51 SGG. Die Rechtsprechung ist an Gesetz und Recht gebunden, Art. 20 I I I , diese Legalität enthält zugleich ein Stück Legitimität 3 1 3 . Rechtsfindung muß daher norm-, nicht gruppenorientiert sein 314 . Die von den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden vorgeschlagenen (§ 20 ArbGG, § 14 SGG) und vom Landesarbeitsministerium bzw. von der Landesregierung ernannten Arbeits- bzw. Sozialrichter (§ 20 I ArbGG, § 13 I SGG) können nicht wie Laienrichter als Unbeteiligte i n klarer Distanz zur Streitfrage stehen 315 . Denn sie sind Verbandsrepräsentanten. Sie bringen kein Element unbefangener Laienauffassung ein, das die Neutralität des Gerichts verstärken und größere „Volksnähe" schaffen soll 3 1 6 , i n diesem Anspruch jedoch äußerst fragwürdig und i n der Praxis wohl kaum anzutreffen ist. Der i n vielen Prozessen feststellbare „Rollenwechsel" von Arbeitnehmerund Arbeitgebervertretern 3 1 7 deutet darauf hin, daß die denkbare und mögliche Gefahr der einseitigen Gruppenorientierung 318 i n der Praxis geringer ist als dies von der rechtlichen Konstruktion der Gerichtsbesetzung her 3 1 9 den Anschein hat. Verbandsvertreter können sinnvoll zur Informationsverbreiterung für die Arbeits- und Sozialgerichte beitragen, w e i l sie — auch wenn sie nicht direkt aus den Betrieben, sondern 313
Hesse, Grundzüge, § 6 I I 1 b. Kisker, DÖV 1972, S. 525. 315 Kisker, DÖV 1972, S. 525. 316 Vgl. zu diesen Funktionen des Laienelements Lent-Jauernig, Zivilprozeßrecht, S. 23; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, § 24 I I 2 c; Kern, Gerichtsverfassungsrecht, § 23 I 4. 317 Klausa, Ehrenamtliche Richter, S. 140 ff., 167,199. 318 Kisker, DÖV 1972, S. 525. 319 Dem Gewerkschaftsvertreter steht ein Vertreter der Arbeitgeberverbände gegenüber, vgl. §§ 16 I I , 35 I I ArbGG, § 12 I SGG. 314
§19. Gesellschaftliche Initiative u n d Sachverstand
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aus den Verbandszentralen kommen — doch über erheblich engeren Kontakt zur Arbeitswelt und damit über erheblich umfangreicheres Wissen auf diesem Gebiet verfügen als die Berufsrichter. Das weitere Problem liegt jedoch darin, ob es sich bei diesen Gerichten m i t mehr Laien- als Berufsrichtern überhaupt noch u m staatliche und nicht ständisch-gesellschaftliche Gerichte 320 handelt, die i m Hinblick auf das Erfordernis demokratischer Legitimation fragwürdig erscheinen. Diese Frage kann hier nicht weiter vertieft werden. § 19. Das Nutzbarmachen gesellschaftlicher Initiative und gesellschaftlichen Sachverstandes A. Einführung
Das Ausnutzen gesellschaftlicher, primär vom einzelnen Bürger oder primär von Bürgergruppen ausgehender Initiative für die Staatswillensbildung, also die Mitgestaltung, erweckt demokratisches Bewußtsein und staatsbürgerliche Verantwortung und hat damit einen Effekt politischer Erziehung 321 . Das demokratische Ziel, daß der Bürger staatliche Entscheidungen als „seine" Sache betrachtet 322 , rückt durch Mitgestaltung, durch „innerlich tätige Anteilnahme" 3 2 3 näher 324 . „Die Selbstgestaltung nicht nur des Individuums, sondern auch freier Gruppen zu sichern und i n das Ganze einzufügen" ist daher Bestandteil des Demokratiegebots 325 ; es w i r k t der Entfremdung 3 2 6 des Menschen vom Staat entgegen. Diese gleichsam „gesellschaftliche" Seite der Selbst- bzw. Mitgestaltung w i r d ergänzt durch eine „staatliche" Seite: die Mitgestaltung durch gesellschaftliche Kräfte ist sinnvoll und möglich, wenn sie die Sachlichkeit der Herrschaft verstärkt 3 2 7 . Unmittelbare gesellschaftliche 320 Vgl. zu den gesellschaftl. Gerichten i n der DDR die Darstellung von Eser, Gesellschaftsgerichte i n der Strafrechtspflege, Tübingen 1970. 321 Dagtoglou, Privater, S. 126, m. w . Nachw., sieht i n pol. Erziehung ebenfalls ein Demokratieelement; vgl. auch Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 40; Knöpfle, DVB1. 1974, S. 716. 322 Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 228. 323 Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 42; vgl. auch Maintz, i n : Demokratie u n d Verwaltung, S. 351. 324 Vgl. Ryffel, i n : Demokratie u n d Verwaltung, S. 198; Häberle, V V D S t R L 30, S. 60 f. 325 Dies ist „Selbstverwaltung i m politischen Sinn", Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 42; Wolff, V e r w R I I , § 84 I V a ; Ryfïel, i n : Demokratie u n d Verwaltung, S. 196; zum Zweck der Selbstverwaltung, nämlich auch der A k t i vierung der gesellschaftlichen Kräfte vgl. BVerfGE 33, 125 (156 f.); 15, 235 (240); 10, 89 (104); Köttgen, Stichwort „Selbstverwaltung", HdSW, Bd. 9, S. 223, Sp. 2, S. 224, Sp. 2, u n d oben § 18 D 3 a; Scheuner, Verfassungsmäßigkeit, S. 23. 326 Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 228, 257, m. w. Nachw.; Dagtoglou, DVB1.1972, S. 719; Walter, V V D S t R L 31, S. 168.
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Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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Initiative i m Prozeß der Staatswillensbildung darf daher nur berücksichtigt werden, soweit sie zur Sache etwas zu sagen hat. Sachkenntnis und Sachverständnis sind also Grenze demokratischer Initiative 3 2 8 , zugleich aber auch positives Demokratieelement. Das Nutzbarmachen gesellschaftlicher Initiative und gesellschaftlichen Sachverstandes erweist sich als Element staatlicher Integration 3 2 9 und hat insoweit demokratische Funktionen 3 3 0 . Der Entfaltung gesellschaftlicher Initiative kann bürgerschaftliche Partizipation dienen 331 , gewerkschaftliche Partizipation jedoch nur unter Vorbehalt: denn gewerkschaftliche Initiative ist — soweit es sich u m die Mitarbeit von Gewerkschaftsfunktionären handelt, die von den Gewerkschaften entsandt werden — nicht unmittelbarer Bürgerwille, sondern vorgeformte, vereinheitlichte gesellschaftliche Einflußnahme, die der durch die Parteien vergleichbar ist. Der Grad der von den Gewerkschaften ausgehenden Spontaneität ist daher oft kaum größer als der von den Parteien und Parlamenten hervorgerufene 332 . Relevant w i r d das Apathieproblem 3 3 3 : solange nicht sichergestellt ist, daß die gewerkschaftliche Partizipation mehr ist als die einer politischen Elite, mehr als „Partizipation politischer Aktivisten" 3 3 4 , w i r d durch sie keine zusätzliche gesellschaftliche Initiative entfacht. Festzuhalten bleibt jedoch, daß dieser Effekt v o n den Gewerkschaften ausgehen kann. B. Sachverstand und Verbandstätigkeit
Eines der wesentlichen Motive (insbesondere der Verwaltung) zur Heranziehung von Interessenvertretern soll das Ausnutzen ihres Fach327 Galperin, D B 1970, S. 350, stellt ebenfalls die Verbindung zwischen Demokratie u n d Ausnutzen des SachVerstandes (der Verbände) her; ebenso Winkler, V V D S t R L 31, S. 290 f.; vgl. auch BVerfGE 35, 79 (125 f., 131 f.): Sachverstand u n d Sachinteresse können M i t w i r k u n g (der Hochschulgruppen i n der Hochschulselbstverwaltung) rechtfertigen; diese Sicht schließt nicht aus, Sachlichkeit auch i m Zusammenhang m i t sachgerechter u n d effizienter V e r w a l t u n g (vgl. dazu etwa Leisner, Mitbestimmung, S. 39, m. w . Nachw.) zu sehen u n d dem Sozialstaatsprinzip zuzuordnen (so Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 189-f.); vgl. auch Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 250 f.; Ossenbühl, Anforderungen, S. 134. 328 Vgl. Ryffel, i n : Demokratie u n d Verwaltung, S. 199 f. 329 Ossenbühl, Anforderungen, S. 134 f.; grundlegend dazu Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, S. 189; Hesse, Grundzüge, § 1 I I (S. 5 f.). 830 Vgl. die i n Fußn. 327 zitierte L i t . 331 I n ähnlichem Sinn Evers, Der Staat 1964, S. 44, 52; Ryffel, i n : Demokratie und Verwaltung, S. 198 f.; Ossenbühl, Anforderungen, S. 125; gesellschaftliche I n i t i a t i v e ist auch ein M o t i v f ü r das der Partizipation ähnliche Institut der Beleihung Privater, vgl. dazu Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 39 ff., 46, 107. 332 Vgl. Maintz, in: Demokratie u n d Verwaltung, S. 344 ff. (351 f.); kritisch zur „Gruppenrepräsentation" auch Walter, V V D S t R L 31, S. 166,168 f. 333 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 239 f. 334 Ebd., S. 240.
§ 19. Gesellschaftliche I n i t i a t i v e u n d Sachverstand
155
Wissens und ihrer Erfahrung sowie ihres Kontaktes mit der konkreten Wirklichkeit sein 335 . 1. Interessenbezogenheit
und Sachlichkeit
Es stellt sich jedoch die Frage, ob für die Gewerkschaften als Interessenvertretung überhaupt eine Einbeziehung i n staatliche Entscheidungsvorgänge aus Gründen der Sachlichkeit möglich ist oder ob ihr Charakter als Interessenvertretung dies ausschließt. Denn es ist problematisch, ob es die Interessenbezogenheit der Gewerkschaften, die sie selbst betonen33®, zuläßt, daß sachliche, d. h. unter größtmöglicher Objektivität und Interessenunabhängigkeit stehende Gesichtspunkte i n den Willensbildungsprozeß des Staates eingebracht werden können oder ob die Gewerkschaften dazu wegen Befangenheit außerstande sind. A b hängige Interessenbezogenheit und unabhängige Sachlichkeit scheinen sich zu widersprechen 337 . A l l e i n diese Abschichtung ist jedoch zu theoretisch. Ob gewerkschaftliche Partizipation die Sachlichkeit eines Entscheidungsvorgangs verbessern kann, hängt von seiner Strukturierung sowie davon ab, was unter einer „sachlichen" Entscheidung zu verstehen ist. Nach der herrschenden behavioristisch-rationalen Entscheidungstheorie 3 3 8 , die sich m i t dem Entscheidungsverhalten von Individuen und Gruppen bzw. Organisationen befaßt, ist Entscheiden kein Willensakt, der zur einzig richtigen Entscheidung führt, sondern ein empirischer Prozeß 339 . Wegen der Problem- und Umweltkomplexität und menschlicher Leistungsbegrenztheit ist das Erarbeiten von „brauchbaren, befriedigenden, vertretbaren Lösungen" 3 4 0 nur durch Lernen und Suchen i n arbeitsteiliger Informationsverarbeitung möglich 341 . Ein Entscheidungsprozeß verläuft i m wesentlichen i n vier Phasen 342 : 335 Vgl. v o r allem Dagtoglou, Privater, S. 130 ff.; zur Effektivierung der Sachlichkeit durch Einbeziehen von Verbänden s. auch Wittkämper, Interessenverbände, S. 165; Ossenbühl, Anforderungen, S. 134; Varain, EvStL, Sp. 2324; Weber, i n : Beutler, Verbände, S. 19 f.; Krüger, Grenzen, S. 37; Jahrreis, Grundfragen, S. 13; Herzog, A l l g . Staatslehre, S. 74; Hesse, Grundzüge, § 5 I I 2 c; Völpel, Wirtschaftsgruppen, S. 132 ff.; E l l wein, Regierungssystem, S. 164; ein ähnlicher Sachlichkeitseffekt w i r d v o n der Beleihung privater Einzelner oder Organisationen erwartet, vgl. Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 39, 41, 46,107; Ossenbühl, V V D S t R L 29, S. 162,181. 336 Vgl. etwa § 2 Nr. 1 b DGB-Satzung; Präambel des DGB-Grundsatzprogrammes. 337 Dagtoglou, Privater, S. 56, 59, 63,173. 338 Vgl. zum folgenden die zusammenfassende Darlegung v o n Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 194 ff., m. zahlreichen Nachw.; Schmidt, V V D S t R L 33, S. 200 ff. 339 Vgl. Naschold, Staatslexikon, Sp. 700; Brohm, V V D S t R L 30, S. 235 ff., 259; B V e r w G E 39,197 (203 f.) = JZ 1972, S. 206. 340 Naschold, Staatslexikon, Sp. 702; Luhmann, Theorie, S. 51, 68 f. 341 Naschold, Staatslexikon, Sp. 702; Luhmann, Theorie, S. 51 f., 69; ders., Legitimation, S. 203.
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Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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(1) Problemformulierung; (2) Informationssammlung, Situationsanalyse, Ausarbeitung von Alternativen; (3) Abwägung und Beratung unter Infragestellung des Bisherigen, ggf. Rückkopplung; (4) Beschluß. Eine „sachliche", d.h. also vertretbare Entscheidung ist diesen Erkenntnissen entsprechend ein Vorgang, i n dem die auf die Problemformulierung (1. Phase) folgenden drei Phasen ein Höchstmaß an Problembezogenheit, d. h. an Entscheidungsrelevanz erreichen 343 . Da die Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder effektiv nur vertreten können, wenn sie über entsprechende Informationen, Kenntnisse und Erfahrungen verfügen, sind sie zur Auseinandersetzung m i t problembezogenen Gesichtspunkten gezwungen. Die Interessenvertretung etwa i m Hinblick auf Arbeitsschutzfragen setzt voraus, daß der Interessenvertreter die Verhältnisse am Arbeitsplatz ebenso kennt wie die wirtschaftlichen und technischen Voraussetzungen bestimmter Schutzmaßnahmen und über das Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer informiert ist. Das letztere weist auf einen zweiten Grund dafür hin, daß die Gewerkschaften zu problembezogenen Aussagen i n der Lage sind: Gewerkschaften können Informationen sowohl über eigene Handlungsabsichten als auch über spezifische Arbeitnehmerbelange geben, wenn ihr Kontakt zur Mitgliederbasis eng genug ist. Dies sind Informationswerte, die i n einem entsprechenden Entscheidungsprozeß verarbeitet werden müssen. Partizipation kann i n allen der oben genannten Entscheidungsphasen erfolgen 344 , eine sachnahe Beteiligung der Gewerkschaften insbesondere i n der zweiten Phase. Entscheidung ist ein „Ablaufprozeß innerhalb einer Zeiteinheit, der sich aus der Interaktion zwischen einem Entscheidungsträger, dem System und dessen Umwelt ergibt" 3 4 5 . Da sich Entscheidungen von Verwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung lediglich i n der A r t dieser drei Faktoren, nicht aber prinzipiell unterscheiden, gelten die vorstehenden Ausführungen für Entscheidungen aller Staatsgewalten. Gewerkschaften können also generell sachgerechtem Entscheiden dienen. Zu Recht geht Dagtoglou davon aus, der Interessenvertreter sei, weil er Fachkreise vertrete, oft der bestunterrichtete Fachmann 346 . Jedoch w i r d 342 Vgl. etwa K . König, Erkenntnisinteressen, S. 250 ff.; D. Weiss, V e r w Archiv 63 (1972), S. 245 ff. 343 I n ähnlichem Sinn Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 245: „Vertretbar ist eine Entscheidung nur, w e n n sie die Umweltkomplexität i n ihrer nahezu vollkommenen Interdependenz aller Lebenssachverhalte, wenn sie möglichst alle entscheidungsrelevanten Daten optimal berücksichtigt." Es geht u m die Qualität des Entscheidungsprozesses, u m eine „gute Entscheidung", Häberle, V V D S t R L 31, S. 298 f. 344 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 195. 345 Naschold, Staatslexikon, Sp. 700.
§ 19. Gesellschaftliche I n i t i a t i v e u n d Sachverstand
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die Abhängigkeit des Interessenvertreters, sein fehlender Abstand zur Sache 347 sowie sein imperatives Mandat 3 4 8 den Wert der sachlichen Aussage schmälern 349 . Zutreffend weist Dagtoglou jedoch darauf hin, daß auch umgekehrt der Fachmann „unvermeidlicherweise" Interessen meist technischer Kreise vertrete 3 5 0 . Eine klare Trennung zwischen Fachmann und Interessenvertreter ist wohl kaum möglich. Die Verdrängung von Interessenvertretern aus Kollegialorganen zugunsten unabhängiger Fachleute würde diese vielmehr dem nunmehr verstärkten Druck der Verbände ausliefern und damit die Sachlichkeit gefährden 351 . Interessenvertreter dienen insoweit zumindest mittelbar der Sachlichkeit. Ob jedoch, wie Dagtoglou weiterhin meint 3 5 2 , Interessenvertreter besser als die unabhängigen Fachleute dazu beitragen, daß die Kollegialorgane gerechte und akzeptable Lösungen finden, ist sehr zweifelhaft. Eine unter M i t w i r k u n g von Interessenvertretern zustandegekommene Lösung w i r d meist Kompromiß sein 353 oder sogar Durchsetzung des stärksten Interesses, nicht die bessere Lösung. Das Problem liegt dort allerdings nicht. I n einem Staat m i t verbandsmäßig gegliederter pluralistischer Gesellschaft 354 kann der Einfluß der Verbände — auch direkt auf den Prozeß der Staatswillensbildung — nicht ohne Schaden für diese Gesellschaftsstruktur unterbunden werden. Es kommt vielmehr darauf an, diese Einwirkung so zu gestalten, daß sie zugleich die Sachlichkeit fördert. Das BVerfG 3 5 5 sieht i n der besonderen Sachnähe ursprünglich gesellschaftlicher Berufsverbände ein entscheidendes Motiv für ihre Einbeziehung als Körperschaften i n die Sphäre der Staatlichkeit. 2. Ergebnis
Abschließend läßt sich daher festhalten: die Gewerkschaften sind auch als Interessenvertretungen zu sachnahen Aussagen in der Lage. Ob sie 346 Dagtoglou, Privater, S. 29, 130; ders., DVB1. 1972, S. 718; ähnlich Evers, Der Staat 1964, S. 46, 52; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 305; damit ist nicht die Beteiligung des Sachverständigen gemeint, die nach Auffassung Dagtoglous, DVB1. 1972, S. 715, u. Walters, V V D S t R L 31, S. 173, keine Partizipation sei (kritisch dazu Winkler, V V D S t R L 31, S. 290 f.), sie könne aber Zwecke der Partizipation erfüllen, Dagtoglou, ebd. 347 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 305 f. 348 Vgl. Dagtoglou, Privater, S. 57 ff. 349 Ä h n l i c h Rittstieg, JZ 1968, S. 411. 350 Privater, S. 29. 351 Privater, S. 64. 352 Privater, S. 63 f. 353 354 355
Ebenfalls Dagtoglou, Privater, S. 136. Vgl. § 17 A u n d Dagtoglou, Privater, S. 167. Vgl. BVerfGE 33,125 (156,159); 33, 342; 15, 235 (240).
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Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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diese Sachlichkeitsfunktion auch tatsächlich erfüllen, ist eine andere Frage. Jedenfalls können sie zur Sachlichkeit staatlicher Herrschaft verhelfen; die Funktion der Sachlichkeit ist zumindest möglicher Effekt der Heranziehung von Interessenverbänden. Die Chance dazu ist um so größer, je stärker gegenseitige Kontrollmechanismen vorgesehen sind. Die gleichzeitige Teilnahme von Vertretern der Arbeitgeberverbände kann i n diesem Sinne nützlich sein. Eine Mindestbeteiligung der Gewerkschaften unter dem Aspekt von Sachlichkeit und Initiative kann aus den eben erwähnten Gründen nicht hergeleitet werden. Denn wer zur Sachlichkeit nur verhelfen kann, kann eben auch nur herangezogen werden, muß es aber nicht. C. Grenzen gewerkschaftlicher Beteiligung 1. Sachangemessene
Beteiligung
Beteiligungsgrenzen ergeben sich dort, wo die Gewerkschaften über keine besondere Sachnähe mehr verfügen. Jenseits dieser Grenzlinie würde die Einbeziehung der Gewerkschaften entweder durch die besondere Sachnähe anderer Verbände überlagert und wäre damit überflüssig oder — was wegen der politischen Aktivitäten der Gewerkschaften wahrscheinlicher ist — die Gewerkschaften würden ihrerseits die Sachnähe anderer Verbände verdrängen. Daß diese M i t w i r k u n g dem Prozeß der Sachlichkeit geradezu entgegenlaufen würde, liegt auf der Hand. Weitere Konsequenz einer derartigen überproportionalen Verstärkung gewerkschaftlichen Einflusses wäre: m i t der Verdrängung oder relativierenden Überlagerung mancher anderen Fachverbände durch die Gewerkschaften würde eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Funktionieren der pluralistischen Gesellschaft gefährdet, nämlich die — zumindest potentielle — Ausbalancierung und Gleichgewichtsbeschränkung der verschiedenen pluralistischen Gruppen 356 . Dieses Gebot folgt aus dem Grundsatz gleicher Partizipation, Art. 20 I i. V. m. A r t . 3 I 3 5 7 . I n diesem Zusammenhang steht auch die repräsentative Darstellung von organisierten Interessen 358 . Zwar ist eine verfassungsrechtlich konstitutive Wirkung einer möglichen Verbandsrepräsentation abzulehnen — allein die parlamentarische Repräsentation kommt nach dem GG i n Frage —, aber unter dem Aspekt der Sachlichkeit kann diese Theorie unter Vorbehalt fruchtbar gemacht werden. Geht man davon aus, daß i m 356
Vgl. §17 A . Vgl. dazu Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 239; Walter, V V D t S R L 31, S. 166; Kisker, D Ö V 1972, S. 528 f.; Scheuner, DÖV 1965, S. 579; Steinberg, ZRP 1972, S. 211. 358 Vgl. § 18 C 5. 357
§ 19. Gesellschaftliche I n i t i a t i v e u n d Sachverstand
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Rahmen bürgerschaftlicher Partizipation gerade das unter dem Gleichheitsgebot, A r t . 3 I, stehende Zusammenwirken der Interessenverbände eben i n dieser Vielheit die Basis für staatliche Entscheidungen verbreitert, kann dieser Vorgang Elemente der Sachlichkeit fördern. Eine funktionsgerechte „Repräsentation organisierter Interessen" (Kaiser) ist freilich nur möglich 359 , wenn die Verbände der jeweiligen Sachfrage und ihrer besonderen Sachnähe gemäß beteiligt sind. Ebenfalls Voraussetzung ist, daß sie w i r k l i c h repräsentativ sind, d. h. eine demokratische Binnenstruktur aufweisen 360 . Vorbehalte gegen ein umfassendes System der Interessenrepräsentation ergeben sich vor allem daraus, daß bei weitem nicht alle Interessen organisiert, ja manche nicht einmal organisierbar sind 3 6 1 , und nicht alle Bürger i n Interessenverbänden zusammengeschlossen sind. 2. Typische
Arbeitnehmerinteressen
als personelle
Grenze
Sachliche Nähe können die Gewerkschaften entsprechend ihrem Organisationsprinzip bei solchen Gegenständen beanspruchen, die sich als typische Arbeitnehmerbelange i n arbeits- und wirtschaftspolitischen Fragen darstellen. Soweit es sich nicht mehr u m Arbeitnehmerbelange handelt, wären die Gewerkschaften nicht mehr „repräsentativ" und w ü r den i n die besondere Sachnähe von Verbänden eingreifen, die die Interessen anderer Personengruppen wahrnehmen. I n anderen als arbeitsund wirtschaftspolitischen Bereichen wiederum sind die politischen Parteien, andere Fachverbände und sonstige Private sachnäher. 3. Organisatorische
Grenze
Ähnlich wie unter Legitimationsaspekten sind zwei Begrenzungsarten erkennbar: eine gegenständliche Begrenzung durch arbeits- und w i r t schaftspolitische Sachgebiete sowie eine personelle durch Arbeitnehmerinteressen. Auch kommt als dritte eine organisatorische Begrenzung hinzu: Entscheidungs- oder auch Beratungsorgane, an denen die Gewerkschaften entweder unmittelbar aufgrund von Entsendungsrechten oder mittelbar aufgrund von Vorschlagsrechten teilnehmen, müssen gleichmäßig und entsprechend der jeweiligen besonderen Sachnähe der einzelnen Verbände zusammengesetzt sein. Daß diese Mitwirkungsvertei359 Bei der Erörterung der Zusammensetzung der Bundesprüfstelle f ü r jugendgefährdende Schriften gem. § 9 GjS zieht das B V e r w G den Gedanken „gesellschaftlicher Repräsentation" heran, vgl. B V e r w G E 39, 197 (203 f.). 360 Vgl. Rittstieg, JZ 1968, S. 413; Brenner, B B 1960, S. 876. sei V g l > Walter, V V D S t R L 31, S. 172; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 240; Schmidt, V V D S t R L 33, S. 189 f.; Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 228; Scharpf, Demokratietheorie, S. 33 f., 85 f.; Offe, Interessenverbände, S. 370 f.; Föhr, N J W 1975, S. 618.
160
. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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lung auf politisch wie fachlich bedeutsame Verbände beschränkt bleibt 3 6 2 und nicht jede Gruppe teilhaben kann, w i r d durch Art. 20 I i. V. m. 3 I gerechtfertigt, soweit vernünftige Differenzierungsgründe 383 — wie die Zweckmäßigkeit der Heranziehung — dies erfordern. Diese organisatorische Begrenzung ist um so enger, je schmaler der Bereich der Sachnähe ist, die zu der jeweiligen Entscheidung besteht. D. Konkretisierung der Begrenzungsmethoden
Entsprechend diesen Begrenzungen ist die gewerkschaftliche Teilnahme an der Tätigkeit von Rechtsetzungsorganen auf arbeits-, sozialund wirtschaftspolitische Fragen beschränkt. Sie ist u m so weiter, je enger der Normadressatenkreis Arbeitnehmer umfaßt. Diese gegenständlichen, personellen und organisatorischen Beschränkungen wirken sich auf die gewerkschaftliche Partizipation an der Verwaltung i n folgender Weise aus: (1) innerhalb der Selbst Verwaltungskörperschaften des Soziallebens ist sie am stärksten, (2) nicht gerechtfertigt werden kann sie bei der unmittelbaren oder mittelbaren Staatsverwaltung, die weder spezifische Arbeitnehmerbelange noch Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen betrifft 3 6 4 , (3) i n den dazwischenliegenden Bereichen sind je nach Sachfrage verschiedene Beteiligungsformen möglich. Die gewerkschaftliche Mitdirektion ist also mit Argumenten der Sachlichkeit nicht zu rechtfertigen: denn es geht nicht um die sachgerechte, informierte Darstellung von Arbeitnehmerbelangen, d. h. nicht u m Interessenvertretung, sondern um Verwaltungsentscheidung 365 . Bediensteteninteressen werden durch den Personalrat wahrgenommen, dort haben auch die Gewerkschaften ihr legitimes Betätigungsfeld. A n Organen mit Leitungsfunktionen können also Gewerkschaftsvertreter nur i n dem materiellen und organisatorischen Umfang beteiligt werden, der durch das Erfordernis parlamentarischer Verantwortung 3 6 6 gezogen w i r d ; Sach362 Steinberg, ZRP 1972, S. 211; vgl. f ü r die Rundfunkorgane BVerfGE 12, 205 (262 f.): Repräsentanten aller bedeutsamen Gruppen sollten ihnen angehören; Kisker, DÖV 1972, S. 528; kritisch dazu Bettermann, DVB1. 1963, S. 43; Dagtoglou, Privater, S. 76 f. 363 Vgl. dazu Kisker, DÖV 1972, S. 528. 364 Ζ. B. Wahllisten der GEW zur W a h l des Konvents, Senats u n d der Fachbereichskonferenzen der Universität Marburg, vgl. „Marburger Universitätszeitung" Nr. 17 v. 15. 3. 1973, S. 2; Nr. 14 v. 29. 1. 1973, S. 3, 6; Nr. 15 v. 15. 2. 1973. ses v g l t Leisner, Mitbestimmung, S. 61 ; Schmidt, V V D S t R L 33, S. 200. 366
§ 1 8 D , 4 b.
§ 19. Gesellschaftliche I n i t i a t i v e u n d Sachverstand
161
lichkeitsgründe machen eine darüber hinausgehende M i t w i r k u n g nicht notwendig, dies gilt insbesondere für die Post Verwaltung 3 6 7 : die Regelung gem. § 5 I I Post VerwG, wonach 7 Mitglieder des 24 Personen umfassenden Verwaltungsrates von den Gewerkschaften entsandt werden, ist sicherlich zulässig, w e i l der Verwaltungsrat keine direkte Mitbestimmung ausübt, sondern die Letztentscheidung bei der Bundesregierung verbleibt, § 13 PostVerwG. Nach dem Regierungsentwurf für das Postverfassungsgesetz dagegen steht dem Minister gegenüber dem aus 24 M i t gliedern bestehende Aufsichtsrat ein klares Letztentscheidungsrecht nicht zu, so daß der Aufsichtsrat als Entscheidungsorgan angesprochen werden muß. Dies ist wegen der fehlenden parlamentarischen Verantwortlichkeit verfassungswidrig 308 . Ist parlamentarische Kontroll- und Einflußmöglichkeit dagegen sichergestellt, stößt die Entsendung von Gewerkschaftsvertretern i n den Aufsichtsrat auf keine verfassungsrechtliche Bedenken. Ob die Einbeziehung der Gewerkschaften sachlich notwendig erscheint, ist eine politische Frage; Gewerkschaften müssen nicht, können aber angemessen insoweit beteiligt werden, als dies den sachlichen Aufgaben des Organs nicht widerspricht. Daß 8 von 24 Mitgliedern des Aufsichtsrates von der Gewerkschaft entsandt werden sollen, erscheint angemessen und nicht sachwidrig. Nicht zu rechtfertigen ist jedoch die Forderung der Postgewerkschaft nach paritätischer Besetzung 369 . Gerade Gründe der Sachlichkeit schließen eine gleichgewichtige Beteiligung der Gewerkschaften aus, denn die Verfolgung und Befriedigung von Bediensteteninteressen ist nicht Zweck der Bundespost, jedenfalls kein Zweck, der vor- oder gleichrangig neben den öffentlichen Versorgungsaufgaben der Bundespost steht 370 . A n der Rechtsprechung sind die Gewerkschaften insoweit beteiligt, als sie Vertreter i n die Spruchkammern der Arbeits- und Sozialgerichte entsenden, §§ 14 I, 16, 20, 35, 37 II, 38, 43 I, 45 ArbGG, §§ 11, 13, 14 II, 35 I, 46 I I SGG. Diese Partizipation entspricht der gegenständlichen Begrenzung der Sachlichkeit. Da zur Effektivierung der Sachlichkeit den Gerichten der Sachverständige zur Verfügung steht, §§ 402 ff. i. V. m. § 495 ZPO i. V. m. § 46 I I ArbGG, § 83 I I I ArbGG, §§ 402 ff. ZPO i. V. m. § 202 SGG, dieser „vor, nicht auf die Richterbank" 3 7 1 gehört, ist eine gewerkschaftliche Beteiligung aus Gründen der Sachlichkeit nicht zwingend erforderlich. Denn 367 368 369 370 371
Vgl. §18 D, 4 b. § 18 D, 4 b. § 18 D, 4 b. Vgl. dazu Hamm, F A Z v o m 30.4.1973, S. 13. Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, § 24 I I 2 c.
11 Gießen
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Sachrichtigkeit bei Aufklärung des Sachverhalts kann bereits durch die Sachverständigen erzielt werden. Andererseits fördert gewerkschaftliche Partizipation sachliche Entscheidung auf diesem Gebiet. Grundsätze der Sachrichtigkeit staatlicher Entscheidungen erfordern die Beteiligung der Gewerkschaft an der Rechtsprechung zwar nicht, schließen sie jedoch nicht aus. § 20. Gewerkschaftliche Einflußnahme und demokratische Transparenz A. Transparenz und Demokratie
Demokratische K r i t i k und Kontrolle der öffentlichen Machtausübung ebenso wie die politisch bewußte Betätigung der Aktivbürgerschaft und demokratische Partizipation sind nur möglich, wenn Entscheidungsvorgänge und -ergebnisse für die Bürger bekannt und durchschaubar sind 3 7 2 ; es besteht ein grundgesetzliches öffentliches Interesse an Publizität des politischen Prozesses 373. Publizität ist Voraussetzung für Selbstverwirklichung und damit Element vor allem des Demokratiegebots 374 , aber auch der Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit 375 . Die schwächste Form der Publizität ist die Veröffentlichung der Ergebnisse staatlicher Willensbildung, die intensivste die (Möglichkeit zur) Präsenz während der Entscheidungsbildung also während des Vorgangs der Willensbildung 3 7 6 . Sollte man annehmen, daß gerade die Beteiligung von Bürgern oder Verbänden an der Staatswillensbildung per se Methode und Garantie für Öffentlichkeit sei, so ist dies theoretisch erklärbar, i n der Praxis aber ein Trugschluß 377 . 372 Hesse, Grundzüge, § 5 I I 2 d; Schmitt Glaeser, Mißbrauch, S. 106 f.; Knöpfle, DVB1.1974, S. 716. 373 Häberle, öffentliches Interesse, S. 232, 500 f. 374 Vgl. Hamann, Gewerkschaften, S. 88; Häberle, öffentl. Interesse, S. 124; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 221, 226, 228; Kriele, V V D S t R L 29, S. 67 ff.; Hesse, Grundzüge, § 5 I I 2 d; Herzog, i n : Demokratie u n d Verwaltung, S. 492 ff. 375 Häberle, öffentl. Interesse, S. 102 ff.; die Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens, § 169, S. 1 GVG, bezweckt eine gewisse Kontrolle des Gerichts, vgl. Lent/Jauernig, Zivilprozeßrecht, § 27 I V ; Schönke-Kuchinke, Zivilprozeßrecht, S. 43; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, § 23 I V ; diese rechtsstaatliche F u n k t i o n der Öffentlichkeit w i r d v o n der ZPO als so wesentlich f ü r ein geordnetes Verfahren angesehen, daß sie die Verletzung der Öffentlichkeitsvorschriften zum absoluten Revisionsgrund erklärt, § 551 Nr. 6 ZPO. 376 Vgl. z. B. A r t . 42 I GG, A r t . 89, S. 1, Hess. Verfassung f ü r Sitzungen des Bundes- bzw. Landtages, § 9 H U G f ü r Sitzungen des Konvents u. der Fachbereichskonferenzen. 377 Partizipation k a n n auch Instrument zur Verschleierung ministerieller Verantwortung sein, vgl. Dagtoglou, DVB1.1972, S. 717.
§ 20. Gewerkschaftliche Einflußnahme u n d demokratische Transparenz 163 B. Die Einflußnahme auf Parlament und Regierung
Insbesondere die Einflußnahme der Verbände auf Parlament und Regierung geschieht meist hinter „verschlossenen Türen". I n der pluralistischen Demokratie ist weniger problematisch, daß Verbände Einfluß zu nehmen versuchen, sondern mehr die Methode dieser Einwirkung 3 7 8 , insbesondere die fehlende Öffentlichkeit. Verfassungspolitisch begrüßenswert ist daher, wenn der DGB und manche seiner Einzelgewerkschaften i n Bonn parlamentarische Verbindungsstellen unterhalten 3 7 9 , die auch als solche bekannt sind, die gewerkschaftliche Einflußnahme koordinieren und auf Anfrage interessierten Bürgern Informationen geben. Wenn auch durch diese Einrichtung bestenfalls transparent werden kann, ob die Gewerkschaften überhaupt politische Aktivitäten in dieser Richtung entfaltet haben und auf welche Gegenstände sie sich erstreckten, nicht aber, wie breit und intensiv sich diese Einflußnahme gestaltet hat, so ist dies immerhin ein erster Schritt hin zu mehr Transparenz. I n diesem Zusammenhang stehen auch die unter dem Stichwort „Parlamentsreform" teils bereits realisierten, teils konzipierten Regelungen zur Offenlegung des tatsächlichen Verbandseinflusses 380 . Parlamentsreform steht auch und gerade unter der Transparenzforderung 381 . Nahezu i m völligen Dunkel dagegen befindet sich noch die Einwirkung auf Regierung und Ministerialbürokratie — eine Einflußnahme, die für die Verbände i n vielen Fällen ungleich bedeutsamer ist als die auf das Parlament 3 8 2 , denn hier gewinnen sie Zugang zum gesetzgeberischen Vorstadium, den Referentenentwürfen und Gesetzesvorlagen sowie den übrigen Regierungsentscheidungen 383 . Ein Verbot dieser A r t der politischen Verbandstätigkeit jedoch wäre nicht nur effektlos, weil es i n der politischen Praxis kaum durchsetzbar wäre, sondern würde auch manche sachnahe Entscheidung und manche gesellschaftliche Initiative erschweren oder unterlaufen. Verfassungspolitisch erwünscht ist die Transparenz der von den Verbänden zur Regierung verlaufenden Kontakt- und Beeinflussungskanäle. Transpa378 Vgl. Hennis, Politik, S. 192; Hättich, Politik I I , S. 164; Herzog, EvStL, Sp. 1542; Wittkämper, Interessenverbände, S. 5 ff., m. w. Nachw.; Leibholz, V V D S t R L 24, S. 28 ff.; Th. Ellwein, Regierungssystem, S. 164 ff. 379 Vgl. § 9 A . 380 Vgl. etwa §§ 23, 25, 39 GGO I ; § 73 BT-GeschO; BT-Drucksachen V/2053, V/2954, V/2955; V/4373; Thaysen, Parlamentsreform, S. 50, 118, 122, 126, 138, 169,175. 381 Thaysen, Parlamentsreform, S. 84 ff.; vgl. weiterhin die L i t . i n Fußn. 378; Scheuner, DÖV 1965, S. 581. 382 Hennis, Politik, S. 189 ff . 383 Vgl. §10.
11*
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Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
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renz muß sich dabei nicht allein auf das „Ob" der Verbandstätigkeit beziehen, sondern setzt gegenständliche, inhaltliche Begrenzung voraus. C. Die Einflußnahme auf die Verwaltung
Ähnlich verhält es sich m i t dem Einfluß insbesondere der Gewerkschaften auf die Verwaltungsorgane. Soweit dieser sich zu Partizipation verdichtet hat, ist die Gefahr mangelnder Transparenz nicht so groß wie i n den übrigen Bereichen, w e i l diese Institutionalisierung der M i t w i r k u n g meist i n Gesetzen und Verordnungen veröffentlicht ist 3 8 4 und der interessierte Bürger zumindest wissen kann, bei welchen Entscheidungen Gewerkschaftsvertreter ebenso wie Vertreter anderer Verbände mitwirken. Aber auch i n diesen „Partizipationsgebieten" besteht latent die Gefahr, daß Interessenbereiche und politische Intentionen verschleiert und damit unmerklich verschoben werden. Namentlich die Selbstverwaltungsorgane der Universitäten unterliegen einer solchen Gefahr: an der Wahl zum Konvent, Senat und zu den Fachbereichskonferenzen der Universität Marburg i m Februar 1973 beteiligte sich die dem DGB angehörende GEW mit eigenen Listen und verschaffte sich auf diese Weise Zugang zu diesem Universitätsorgan 385 ; andererseits stehen Vertreter derselben oder einer anderen DGB-Gewerkschaft eben diesem Organ als Interessenvertreter der Universitätsbediensteten gegenüber. Es soll an dieser Stelle nicht das Problem der quasi „Doppelvertretung" der Bediensteten 386 — als Gruppe i n den Organen einerseits und i m Personalrat andererseits — i m einzelnen erörtert werden, auch nicht die Bedienstetenpartizipation 387 . Es geht hier allein um die Transparenz des Vorgangs der Entscheidungen, die von Organen mit einer solchen Zusammensetzung getroffen werden. Zwei Alternativen sind denkbar: entweder handeln die Angehörigen der Gewerkschaftsliste als Interessenvertreter oder sie benutzen allein den Gewerkschaftsnamen, u m damit letzten Endes mehr oder etwas anderes als Interessenvertretung zu betreiben. I m ersten Fall bringen die Gewerkschaften i n den Entscheidungsprozeß des Universitätsorgans das ein, was sie bereits i m Personalrat geltend machen können, nämlich berufliche Interessen der Universitätsbediensteten. Weiterhin w i r d damit der Zweck der Personalvertretung, 384 V g l . § 4 j Tabellen 2 - 4 . 385 Marburger Universitätszeitung Nr. 17 v o m 15. 3.1973, S. 2. 38β v g l . dazu Weber, Staatsbürger u n d Staatsgewalt, S. 147 ff.; Ipsen, V V D S t R L 31, S. 295 f.; ders., Mitbestimmung i m Rundfunk, S. 71 ff. (für die Rundfunkanstalten); Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 307. 387 Ausführlich dazu Leisner, Mitbestimmung i m öffentlichen Dienst; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 232 ff., m. w. Nachw.; ders., DÖV 1974, S. 153 ff.; Zeidler, DVB1. 1973, S. 724 ff.
§ 21. Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Grundrechte
165
die sozialen und persönlichen Belange der Bediensteten mit den dienstlichen Aufgaben der Behörde i n Einklang zu bringen, vgl. §§ 55, 56, 57 BPersVG 388 , unterminiert: die Gewerkschaften können nicht zugleich auf „beiden Seiten des Verhandlungstisches sitzen". I m zweiten Fall dagegen ist der Gebrauch des Gewerkschaftsnamens eine A r t von Formenmißbrauch, der einem „Etikettenschwindel" gleicht und der Transparenz entgegenläuft: man etikettiert mit „Gewerkschaft", t r i t t aber i n Wirklichkeit nicht als gewerkschaftliche Berufsvertretung auf, sondern verfolgt allgemeine politische Ziele, die bei der Masse der Bediensteten bisher kaum als „gewerkschaftlich" bekannt sind. Es handelt sich hier ebenso u m die Wahl der falschen Form wie i n dem Fall, daß die Verwaltung, die dem Inhalt nach einen Verwaltungsakt erläßt, dies aber i n die Form einer Rechtsverordnung kleidet 3 8 9 , oder daß die Verwaltung echte Leistungsverwaltung mit öffentlichen Zwecken betreibt, sich aber einer privaten Rechtsreform bedient 390 . Freilich kann dieser Vergleich nicht dazu führen, das oben erwähnte gewerkschaftliche Verhalten für rechtswidrig zu erklären; jedoch schadet es demokratisch gebotener Öffentlichkeit und ist verfassungspolitisch bedenklich. § 21. Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Grundrechte A. Grundrechte und Partizipationsanspruch
Grundrechte, insbesondere A r t . 5 I, 8 I, 9 I, I I I , sind zwar für die Konstituierung des Gemeinwesens als Demokratie äußerst bedeutsam 391 , aber für den Aufbau der Staatswillensbildung können sie nicht herangezogen werden, weil das ihnen zugrundeliegende Prinzip individueller Beliebigkeit 3 9 2 dem bestimmten Kompetenznormen unterworfenen Aufbau der staatlichen Willensbildung 3 9 3 widerspricht. Wollte man aus ihnen A n sprüche auf Teilhabe an der Staatswillensbildung ableiten, hätten diese nicht nur für den noch außerhalb dieses Prozesses stehenden Bürger Geltung, sondern auch für den daran teilhabenden. A u f diesem Umweg aber würden die Grundrechte letzten Endes zu Grundrechten des Staates 388 v g l . etwa Molitor, PersVG, § 55, Rdnr. 11, der die Erfüllung der dienstlichen Aufgaben an die Spitze stellt; Wolff, V e r w R I I , § 108 I I a. 389 Eyermann/Fröhler, V w G O , § 42, Rdnr. 11 b; Ule, Verwaltungsgerichtsbarkeit, § 42, A n m . I V 2 b. 390
Leisner, Mitbestimmung, S. 76; Wolff-Bachof, V e r w R I, § 23 V b. M a n spricht auch von einer demokratischen Komponente dieser Grundrechte, vgl. (Maunz-Dürig-)Herzog, GG, A r t . 5, Rdnr. 2, 4, 5; A r t . 8, Rdnr. 2; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 9, 13; Schmitt Glaeser, AöR 97, S. 60 ff., m. w. Nachw.; ders., V V D S t R L 31, S. 221; vgl. auch § 37 D 1. 392 Vgl. § 16 A. 393 Vgl. §16 A. 391
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Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
e a t e b o t
gegenüber dem Bürger umfunktioniert, was sie i n ihr Gegenteil verkehren würde 3 9 4 . Weiterhin würde ein solches Grundrechtsverständnis die Grundrechte i n „staatliche Verwaltung nehmen" 3 9 5 und die freiheitliche Demokratie auflösen 396 . Der Gedanke an einen grundrechtlichen Anspruch auf Beteiligung ist zwar heute nicht mehr „so fremd" 3 9 7 , aber gleichwohl abzulehnen 398 . Dieses Grundrechtsverständnis w i r d auch an der völlig h M zur Grundrechtsgeltung im Beamtenverhältnis deutlich. Nur soweit der Beamte i n seiner persönlichen Stellung betroffen ist, stehen i h m die Grundrechte zur Seite, ist er dagegen i n seiner Eigenschaft als Organwalter und Glied der Verwaltung tätig, unterliegt er bestimmten Kompetenzen, nicht aber kann er sich individuell beliebig auf Grundrechte berufen 399 . Eine dem Organwalter i n seiner persönlichen Stellung vergleichbare Position hat auch der an der Staatswillensbildung teilhabende Bürger oder die teilhabende Bürgergruppe. Grundrechte sind (unmittelbar) nicht auf die Staatswillensbildung, sondern die Volkswillensbildung bezogen 400 . Die spezifisch „demokratische Komponente" der Grundrechte gewährt vielmehr mittelbare Teilhabe über den gesellschaftlichen Prozeß der öffentlichen Meinung 4 0 1 und ergänzt insofern demokratische und rechtsstaatliche Partizipation 4 0 2 . Für die Gewerkschaften bedeutet dies, daß sich für sie weder aus A r t . 9 I I I noch aus anderen Grundrechten Ansprüche auf M i t w i r k u n g am Prozeß der Staatswillensbildung, also Mindestbeteiligungsrechte begründen lassen. Die Grundrechte haben vielmehr allein Bedeutung für den Prozeß der Volkswillensbildung. Grundrechte sind gegenüber der (unmittelbaren) Partizipation ein „aliud" 4 0 3 . 394 (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 19 I V , Rdnr. 8, 31 ff.: es sei ein „Schelmenstück", sollte der Staat grundrechtsfähig sein. 395 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 222 f. 396 Ebd., S. 222; ähnlich Kisker, DÖV 1972, S. 526 f.; Ossenbühl, V V D S t R L 29, S.201. 397 Ossenbühl, V V D S t R L 29, S. 185. 398 Ebenso Ossenbühl, V V D S t R L 29, S. 186. 399 Vgl. etwa B V e r w G E 14, 84 ff.; Rupp, Grundfragen, S. 46 ff., 54 ff., 65 ff., 69; Wolff-Bachof, V e r w R I, § 32 I V c 3, § 46 V I I a; (Maunz-Dürig)-Herzog, GG, A r t . 5, Rdnr. 106 - 108; v. Münch, in: Besonderes VerwR, S. 62 f. 400 Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 222; s. oben § 16 A . 401 Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L , S. 221 f., m. w. Nachw. ; Kriele, V V D S t R L 29, S. 65. 402 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 223, 252. 403 Ebd., S. 222, 242, 252.
§ 21. Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Grundrechte
167
B. Grundrechte als Partizipationsgrenzen
I n bestimmten Fällen können sich aus der Gewährleistung von Grundrechten nicht allein Beschränkungen für den Staat, sondern auch für die Partizipation von Privaten ergeben 404 . Es sind dies Bereiche m i t „grundrechtssichernder Binnenstruktur" 4 0 5 . I n Betracht kommen A r t . 5 I für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und A r t . 5 I I I für die Selbstverwaltung der Universitäten 4 0 6 . 1. Die Rundfunkfreiheit
— Art.
51 Satz 2 GG
407
I m „Fernseh-Urteil" leitet das BVerfG aus A r t . 5 I bestimmte Organisationsprinzipien für die Rundfunkanstalten ab. Danach müssen i n deren Organen alle bedeutsamen gesellschaftlichen Gruppen „ i n angemessenem Verhältnis" 4 0 8 vertreten sein; der Rundfunk darf also nicht „einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert" werden 4 0 9 . Dieses Urteil fixiert damit eine Mitwirkungsbegrenzung 4 1 0 ebenso wie ein Mitwirkungsgebot 4 1 1 . Für die Gewerkschaften bedeutet dies, daß ihnen ein bestimmter angemessener Platz zugewiesen ist, den sie nicht zu ihren Gunsten und zu Lasten anderer pluralistischer Kräfte ausweiten können, auch nicht durch gewerkschaftliche Einbeziehung über den Umweg eines Redaktionsstatuts. A u f diese Weise würde gerade das Verhältnis, das die Verwaltungs- bzw. Rundfunkräte zwischen den Gruppen vorsehen, unterlaufen. Würde ein derartiges Redaktionsstatut erlassen, dann wäre an einer Verringerung der Sitze für die Gewerkschaften i n den Rundfunk- bzw. Verwaltungsräten zu denken. Denn Art. 5 I verbietet eine institutionelle Majorisierung bestimmter Gruppen 412 . Zwar können sich grundrechtliche Partizipationsverbote grundsätzlich nur auf die Beteiligung durch Mitentscheidung, nicht auf Beteiligung i n anderer Form beziehen 413 , aber eine überproportionale, zusätzliche 404
Ebd., S. 230 ff.; Ossenbühl, V V D S t R L 29, S. 165. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 230. 406 Z u weiteren grundrechtlichen Partizipationsverboten vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 231 ff. 407 E 12, 205 ff.; zur K r i t i k dieses Urteils s. etwa (Maunz-Dürig)-Herzog, GG, A r t . 5, Rdnr. 226 ff., m. w . Nachw.; Dagtoglou, Privater, S. 75 ff. 408 BVerfGE 12, 205 (261); kritisch Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 230, Fußn. 219. 409 BVerfGE 12, 205 (262); zur neueren L i t e r a t u r vgl. Ipsen, Mitbestimmung i m Rundfunk, S. 38 ff., 68 ff., m. w. Nachw.; insbesondere die politischen Parteien beschuldigen sich gegenseitig, daß jeweils der politische Gegner die Rundfunkanstalten majorisieren und manipulieren wolle, vgl. zur K r i t i k der hess. CDU, F A Z v o m 21. 3.1973, S. 6, ebenso etwa die SPD i n Bayern. 405
410 411 412 413
Z u A r t . 5 I als Partizipationsverbot vgl. Ipsen, V V D S t R L 31, S. 296. Evers, Der Staat 1964, S. 53 ff. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 230. Ebd., S. 232.
168
Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
e a t e b o t
Beratung etwa 4 1 4 der Rundfunk- und Fernsehanstalten durch die Gewerkschaften kann leicht die von A r t . 5 I geforderte gleichmäßige Beteiligung der gesellschaftlichen Kräfte überspielen. 2. Die Wissenschaftsfreiheit
— Art.
5 III
GG
Als ähnliche Partizipationsbegrenzung kommt i m Hinblick auf die Universitäten A r t . 5 I I I i n Betracht 415 . Auch für diesen Bereich hat das BVerfG neuerdings bestimmte Organisationsprinzipien aufgestellt 416 . Da Art. 5 I I I die Wissenschaft i n Forschung und Lehre schützt, dürfen gerade i n solchen Fragen die Hochschullehrer nicht i n den entsprechenden Entscheidungsorganen derart durch andere Gruppen verdrängt werden, daß sie nicht mehr maßgeblichen bzw. entscheidenden Einfluß auf diese A n gelegenheiten ausüben können 417 . A r t . 5 I I I w i r d damit nicht allein zu einer Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit, sondern zu einem Grundrecht, das insbesondere den Wissenschaftlern einen auf Verhältniszahlen genau bestimmten universitätsorganisatorischen Mindeststatuts garantiert 4 1 8 . Die Wissenschaftsfreiheit zieht bestimmte Partizipationsgrenzen, die auch für die Gewerkschaften relevant werden, soweit sie Vertreter i n den Kollegialorganen haben oder mittelbar über das PersVG nicht nur die Belange der Bediensteten dem Dienstherrn gegenüber wahrnehmen, sondern Einfluß auf Inhalt und Gestaltung der wissenschaftlichen Tätigkeit zu nehmen versuchen. Eine gewerkschaftliche Beteiligung i n Form der Anhörung oder Beratung der entsprechenden Entscheidungsorgane w i r d durch A r t . 5 I I I nicht ausgeschlossen, solange sich diese M i t w i r k u n g nicht faktisch zu Mitentscheidung verdichtet 419 .
414 415 416 417 418 419
Vgl. § 18 D, 4 a, bb; § 19 D, 1, 3. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 232; Kisker, DÖV 1972, S. 529. BVerfGE 35, 79 (120 ff., 124 ff.) = BVerfG, N J W 1973, S. 1176 ff. E 35, 79 (129 ff.). E 35, 79 (126 f., 134 f.). Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 232, Fußn. 225; vgl. § 18 D, 4 a, bb.
Siebentes
Kapitel
Inhalt und Grenzen gewerkschaftlicher Beteiligung unter dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit1 § 22. Rechtsstaatliche Prinzipien
F ü r eine umfassende Darstellung grundgesetzlicher Rechtsstaatlichkeit, ihrer einzelnen Elemente und deren — teilweise divergierenden — Deutung ist hier nicht der Ort 2 . Vielmehr geht es darum, einzelne rechtsstaatliche Prinzipien herauszugreifen und als Maßstab für die Einbeziehung der Gewerkschaften i n den Prozeß der Staatswillensbildung anzulegen. Rechtsstaatlichkeit hat zwei Gewährleistungsrichtungen: den „Schutz der persönlichen u n d politischen Freiheit des Bürgers u n d die Mäßigung u n d rechtliche B i n d u n g aller öffentlichen Machtausübung" 3 . Während m i t dem ersten Teil dieses Satzes 4 die Grundrechte angesprochen werden, deren Sicherung die Aufgabe des Rechtsstaates ist 5 , also gleichsam der individuell-materielle Gehalt der Rechtsstaatlichkeit 6 , bezieht sich der zweite Teil auf das P r i m a t des Rechts 7 , die Gewaltenteilung u n d Gewaltenkontrolle 8 sowie die Voraussehbarkeit u n d Vorausberechenbarkeit staatlicher Machtausübung 9 — also auf den gleichsam formellen Gehalt der Rechtsstaatlichkeit 10 . 1 Zur rechtsstaatlichen Dimension der Partizipation vgl. Schmitt Glaeser, VVDStRL 31, S. 189, 207, 240 ff.; Walter, V V D S t R L 31, S. 157,174. 2 Vgl. etwa Maunz-Dürig-Herzog, GG, Art. 20, Rdnr. 58 ff.; Hesse, Grundzüge, § 6; ders., in: Forsthoff, Rechtsstaatlichkeit, S. 557 ff.; v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 20, Anm. V I ; Bachof, VVDStRL 12, S. 37 ff.; Böckenförde, A r n d t Festschrift, S. 53 ff.; Scheuner, Rechtsstaat, S. 229 ff. 8 Scheuner, Rechtsstaat, S. 250. 4 Z u r Deutung s. Schmitt Glaeser, VVDStRL 31, S. 242 f. 5 Maunz-Dürig(-Herzog), GG, Art. 20, Rdnr. 70 - 72. 6 Schmitt Glaeser, VVDStRL 31, S. 242, m. w. Nachw. 7 Hesse, Grundzüge, § 6 I I 1; Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 58, 61. 8 Vgl. etwa Hesse, Grundzüge, § 13 I 2; Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 74 ff. 9 Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 86; Schmitt Glaeser, VVDStRL 31, S. 243. 10 Vgl. weiterhin zur formellen und materiellen Komponente des Rechtsstaatsbegriffs etwa Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 58 f., 70.
170
7. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Rechtsstaatsgebot
§ 23. Die Bedeutung gewerkschaftlicher Beteiligung für die Sicherung der Grundrechte Daß die Grundrechte gegenüber der Partizipation ein „aliud" sind, wurde oben dargestellt 11 . Diesen Problemkreis soll die folgende Erörterung auch nicht wieder aufgreifen, sondern es geht darum, daß Partizipation neben den anderen Zielrichtungen auch Grundrechtsverstärkung und -ergänzung 12 beinhalten und damit die rechtsstaatlich gebotene Sicherung der Grundrechte fördern kann. Nicht grundrechtliche Teilhabe an staatlicher Machtausübung ist angesprochen, sondern die rechtsstaatliche Aufgabe des Staates, die Grundrechte effektiv zu gestalten, eine Aufgabe, deren Beziehung zur Partizipation, insbesondere der gewerkschaftlichen, zu untersuchen ist. A. Gewerkschaftliche Mindestbeteiligung
Unter diesem Gesichtspunkt käme eine Beteiligung der Gewerkschaften i n Betracht, wenn dadurch der Schutz der persönlichen und politischen Freiheit des Bürgers effektiviert würde 1 3 ; die Grenze einer so motivierten Partizipation läge dort, wo sie diese Freiheiten gefährden würde. Historisch sind die Gewerkschaften Kämpfer für die Grundrechte und deren Verfechter gewesen. Gerade die Etablierung des sozialen Rechtsstaats m i t grundrechtlichen Gewährleistungen war eines der Antrittsgesetze der Gewerkschaftsbewegung 14 . Denn die angestrebte soziale Umschichtung konnte nur m i t der Auflösung der Feudalmonarchie einhergehen, so daß sich auch die sozialistischen Gewerkschaften 15 zunächst denjenigen anschlossen, die liberale Prinzipien vertraten und den Absolutismus bekämpften 16 . Ob das Erkämpfen von Freiheitsrechten für die Gewerkschaften — insbesondere die sozialistischen — primäres Ziel war, ist unerheblich, denn auf jeden Fall sind sie auch dafür eingetreten, so 11
Vgl. § 21 A . Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 221, 223, 232, 243; Maunz-Dürig (-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 70 - 72; Kisker, DÖV 1972, S. 524: „grundrechtssicherndes K o r r e k t i v " . 13 s. zur Grundrechtseffektivierung durch Personalratsmitbestimmung Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 232; Th. Ellwein, Regierungssystem, S. 164, w i l l i n „manchen" Verbänden eine Verstärkung des Rechts- u n d Freiheitsschutzes sehen. 14 Vgl. Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 35. 15 Z u r Entwicklung der liberalen, sozialistischen u n d christlichen Gewerkschaftsidee vgl. Eickhoff, Theorie der Gewerkschaftsentwicklung, S. 111 ff. 16 Der gewerkschaftliche A u f r u f zum Generalstreik gegen den Kapp-Putsch 1920 w a r entschiedene Verteidigung auch demokratischer Staatsbürgerrechte, vgl. Hirsch-Weber, Gewerkschaften, S. 29 ff.; dies ist eine der historischen Wurzeln dafür, daß sich die Gewerkschaften auch heute als Garanten des demokratischen Rechtsstaates verstehen, Hirsch-Weber, ebd., S. 52; vgl. § 6 B. 12
§ 23. Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Grundrechtssicherung
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daß es nahe liegt, auch heute die Gewerkschaften zur Verstärkung dieser Grundrechte heranzuziehen. Sinnvoll ist dies jedoch nur bei solchen Grundrechten, für deren Schutz und Verstärkung gerade die Gewerkschaften besondere Gewähr bieten. Unter diesem Aspekt kommen diejenigen Grundrechte i n Betracht, die besonderen sozialpolitischen Bezug haben wie etwa A r t . 31,9 I I I , 121,1417. Weiterhin können i m besonderen Interesse der Gewerkschaften und dam i t auch — potentiell — unter besonderem Schutz durch die Gewerkschaften gerade solche Grundrechte stehen, die ihre politische Bedeutung durch primär oder ausschließlich kollektive Ausübung erlangen, nämlich A r t . 5 I, 8 I, 9 I und I I I . Ein Beteiligungsgebot ergibt sich, soweit der Staat das Grundrecht aus Art. 9 I I I einschränken, ausgestalten oder in sonstiger Form modifizieren w i l l . Denn ohne Hinzuziehen der Gewerkschaften kann der Staat in diesem Fall seine Aufgabe, die Koalitionsfreiheit zu schützen und abzusichern, nicht erfüllen. Vielmehr muß er die Gewerkschaften bei der Regelung eines solchen Gegenstandes angemessen beteiligen. Dieser Blickwinkel hat enge Nähe zur Betroffenenpartizipation, auf die unten noch näher einzugehen ist 1 8 . Bei der staatlichen Machtausübung, die die übrigen oben genannten Grundrechte berührt, besteht kein M i t wirkungsgebot, w e i l gewerkschaftliche Partizipation nicht notwendig zur Effektivierung dieser Grundrechte beiträgt, sondern diese Wirkung nur haben kann. B. Grenzen gewerkschaftlicher Beteiligung
Beteiligungsgrenzen verlaufen zunächst dort, wo die Verbände und damit auch die Gewerkschaften ihrerseits nicht dem Grundrechtsschutz dienen, sondern diesen eher gefährden können. Die latente Gefahr, die Großverbände für die individuelle Selbstverwirklichung darstellen 19 , verbietet eine Partizipation dieser Verbände bei solchen staatlichen Regelungen und Maßnahmen, die gerade die individuelle Ausübung von Grundrechten sichern oder herstellen sollen; wenn das spezifische Verbandsinteresse mit dem Individualinteresse des Mitglieds konkurriert, ist das Verbandsinteresse häufig vorrangig, zumal bei „befestigten" Ge17
Vgl. Badura, DÖV 1968, S. 448; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 252. Vgl. §24 A . 19 V. Beyme, Interessengruppen, S. 14 if.; Ossenbühl, Anforderungen, S. 144; Fraenkel, Deutschland, S. 64; Wittkämper, Interessenverbände, S. 5 ff., m. w . Nachw.; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 293 f.; Hättich, P o l i t i k I I , S. 166; Häberle, V V D S t R L 3D, S. 68; Kisker, DÖV 1972, S. 526 ff.; Wertenbruch, PetersGedächtnisschrift, S. 639 f.; Scheuner, DÖV 1965, S. 580; Löwenstein, Verfassungslehre, S. 387, 389; Kaiser, Repräsentation, S. 347, 349, 359; BVerfGE 33, 125 (160): die F u n k t i o n des Gesetzvorbehalts sei auch, die Freiheit des einzelnen vor der „Macht gesellschaftlicher Gruppen" zu schützen. 18
1 7 2 7 . Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Rechtsstaatsgebot
werkschaften, bei denen die „unmittelbare Identität von Verbandsinteresse und Mitgliedsinteresse geschwunden" ist 2 0 . Ähnlich wie bei der demokratischen Partizipation sind auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten gegenständliche und personelle Begrenzungen zu beachten. Gegenständlich begrenzt ist die Beteiligung der Gewerkschaften durch Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, weil Grundrechtseffektivierung i n anderen Bereichen sinnvoller durch andere Verbände oder durch die Parteien erreicht werden kann. Insoweit w i r d also der durch die obengenannten Grundrechte abgesteckte Rahmen präziser bestimmt. Beispielsweise ist die staatliche Ausgestaltung der Demonstrationsfreiheit, Art. 8 I, oder der Pressefreiheit, Art. 5 I Satz 2, gewerkschaftlicher M i t w i r k u n g insoweit entzogen, als nicht arbeits- und wirtschaftspolitische Sachgebiete spezifisch angesprochen sind. Aus den gleichen Gründen sind personelle Begrenzungen vorzunehmen. Jenseits typischer Arbeitnehmerbelange ist durch die Gewerkschaften eine besondere Sicherung und Verstärkung der Grundrechtsgewährleistungen nicht zu erwarten. C. Konkretisierung der Beteiligungsgrenzen
Die Anwendung dieser Grundsätze auf die einzelnen Staatsgewalten bedeutet: I m Vordergrund steht der Gesetzgeber, da wegen der einzelnen grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte die Ausgestaltung und Beschränkung der Grundrechte i h m obliegt. (1) Gegenständlich und personell umschrieben ist die gewerkschaftliche Beteiligung durch spezifische (typische) Arbeitnehmerbelange und durch Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, so daß institutionalisierte Einflußnahme verfassungspolitisch erwünscht ist, soweit das Grundrecht des Art. 9 I I I tangiert und etwa eine Änderung des TVG vorgenommen w i r d ; zulässig ist sie insoweit, als sich der Gesetzgeber mit Gegenständen befaßt, die die Grundrechte der Art. 3 I, 5 I, 8 I, 9 I, 12 I und I I I und 14 tangieren und spezifische Arbeitnehmerinteressen aus arbeits- und w i r t schaftspolitischer Sicht unmittelbar betreffen. (2) Bestimmte organisatorische Mitwirkungsprinzipien lassen sich aus diesem Element der Rechtsstaatlichkeit nicht herleiten, so daß sich hier verschiedene Formen — je nach politischer Gewichtung — anbieten. Unter diesem Aspekt ergeben sich für die Beteiligung an der Rechtsprechung und Verwaltung keine Besonderheiten; die Überlegungen zur Gesetzgebung sind entsprechend auf diese Staatsfunktionen anzuwenden. 20
Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 152.
§ 24. Gewerkschaftliche Beteiligung unter dem Primat des Rechts
173
§ 24. Gewerkschaftliche Beteiligung unter dem Primat des Rechts A. Betroffenenpartizipation und Gewerkschaften
„Mäßigung und rechtliche Bindung aller öffentlichen Machtausübung" 21 als Element der Rechtsstaatlichkeit bedeutet in erster Linie Primat des Rechts 22.
I m Hinblick auf die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung, A r t . 20 I I I , erscheint eine gewerkschaftliche Beteiligung ohne Bedeutung, w e i l die Gewerkschaften weder als besondere Garanten noch Interpreten des GG angesehen werden können 23 . Ein Anknüpfungspunkt für Partizipation bietet sich unter diesem Aspekt nicht. Engere Verbindung zur bürgerschaftlichen Partizipation dagegen hat die Rechtsstaatlichkeit von Verwaltung und Rechtsprechung. Rechtsstaatliche Verwaltung heißt gerechte Verwaltung 2 4 , die oft ohne angemessene Beteiligung
von (nicht
nur
rechtlich)
Betroffenen
nicht möglich
ist 25 . Gerade i m Hinblick auf die M i t w i r k u n g der Gewerkschaften stellt sich die entscheidende Frage, ob nicht nur eine Beteiligung von Betroffenen schlechthin erforderlich ist 26 , sondern auch und gerade die der Gewerkschaften. Die A n t w o r t kann nicht pauschal erteilt werden, sondern bedarf der Aufschlüsselung. Zu denken ist dabei an das Übermaßverbot 27. Bei staatlichen Eingriffen i n private Rechtssphären ist diesem Verbot Genüge getan, wenn der Eingriff erforderlich ist, sich als das mildeste M i t t e l darstellt und zu dem verfolgten Zweck i n angemessenem Verhältnis steht 28 (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit). Voraussetzung für die Erfüllung dieser Entscheidungsprinzipien ist die gründliche Sachverhaltsaufklärung, die oft nur durch direkte Erörterung m i t den Betroffenen möglich 21
Vgl. §22. Vgl. §22. 23 Vgl. § 6 B . 24 Vgl. etwa Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 245. 25 Ebd., S. 244 f.; Walter, V V D S t R L 31, S. 154; ähnlich Dagtoglou, Privater, S. 85 m i t dem zutreffenden Hinweis, daß Beteiligung von Betroffenen p r a k tisch die Beteiligung betroffener Verbände bedeutet, dazu Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 238 („Neigung zu sozialer Gruppenbildung"), ähnlich Maurer, V V D S t R L 31, S. 293; Ipsen, ebd., S. 295; Leisner, Mitbestimmung, S. 20; zur Betroffenheit als K r i t e r i u m f ü r studentische Mitentscheidung i n der Hochschulselbstverwaltung vgl. BVerfGE 35, 79 (125 f.). 28 Dazu Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 246; zur Betroffenenpartizipation insbesondere bei der Planung s. Ossenbühl, Anforderungen, S. 119 ff.; Kaiser, 50. DJT, Bd. I I , J 23. 27 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 246 ff., m. w. Nachw. 28 Vgl. etwa Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, 1961; (Maunz-)Dürig (-Herzog), A r t . 2 I, Rdnr. 63; Wolff-Bachof, V e r w R I, § 30 I I b 1; Wolff, V e r w R I I I , § 138 V, m. w. Nachw. 22
1 7 4 7 . Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Rechtsstaatsgebot
ist 29 . Auch kann durch die Partizipation von Betroffenen ein höheres Maß an Zustimmung als durch Dekretierung erzielt 30 und damit ein demokratischer Effekt hervorgerufen werden 31 . Bei Eingriffen i n das Arbeits- und Wirtschaftsleben wäre i m Grunde, soweit Arbeitnehmer dadurch unmittelbar betroffen sind, eine direkte Erörterung m i t diesen Arbeitnehmern erforderlich, um eine Aufklärung über ihre Belange und Interessen zu erzielen. Aus verwaltungsökonomischen Gründen dürfte dies i n den meisten Fällen, i n denen eine große Zahl von Arbeitnehmern zu den Betroffenen zählt, kaum möglich sein 32 . Vielmehr bieten sich dafür die Gewerkschaften an: als Interessenvertretungen von Arbeitnehmern können sie Auskunft über Arbeitnehmerinteressen geben, deren Aufklärung ansonsten überhaupt nicht oder nur umständlich, langwierig und mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich wäre. Insoweit ermöglicht und vereinfacht also gewerkschaftliche Beteiligung die notwendige gründliche Sachverhaltsaufklärung 33 ; insoweit wirken die Gewerkschaften repräsentativ für die Arbeitnehmer und sind Mittel für die Betroffenenpartizipation von Arbeitnehmern 3 4 . Es handelt sich i n diesem Fall also u m eine mittelbare Partizipation 3 5 . Bei staatlichen Regelungen, die Tätigkeiten der Gewerkschaften selbst berühren, sind diese nicht als Repräsentanten, sondern unmittelbar in ihrer Eigenschaft als Organisationen betroffen; daraus ergibt sich die zweite Fallgruppe gewerkschaftlicher Betroffenheitspartizipation. Voraussetzung für eine Beteiligung i n dieser Argumentationssicht ist unmittelbare Betroffenheit 38 , w e i l jede beliebige Betroffenheit kein besonderes Aus- und Abgrenzungskriterium bedeutet; i n der einer modernen Gesellschaft entsprechenden „nahezu vollkommenen Interdependenz aller Lebenssachverhalte" 37 w i r d jeder Bürger irgendwie von nahezu 29 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 246 f.: „Der Bürger ist nicht selten die fündigste Informationsquelle." 30 Vgl. Knöpfle, DVB1. 1974, S. 714. 31 Z u den Gefahren einer „Betroffenendemokratie" s. Lecheler, DÖV 1974, S. 442 ff.; einen demokratischen Effekt verneint Ossenbühl, Anforderungen, S. 125 f. 32 Ζ. B. bei Maßnahmen i m Zusammenhang m i t der konzertierten Aktion, § 3 StabilitätsG. 33 Z u diesem Effekt d. Verbandsbeteiligung s. Bernholz, Interessenverbände, S. 343 f. 34 Vgl. Kisker, DÖV 1972, S. 520. 35 Walter, V V D S t R L 31, S. 154; diese Partizipation ist jedoch insofern u n mittelbar, als sie nicht über gewählte Volksvertreter erfolgt, Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 192 f. 36 BVerfGE 35, 79 (125 f.) verbindet das K r i t e r i u m der Betroffenheit ebenfalls m i t diesem A d j e k t i v (bei Erörterung student. Mitsprache i n der Hochschulselbstverwaltung), ebenso bei der Definition der „wissenschaftsrelevanten" Angelegenheiten: wissenschaftsrelevant sind sie, wenn sie die Forschung und Lehre unmittelbar berühren, E 35, 79 (123,131 f.).
§ 24. Gewerkschaftliche Beteiligung unter dem Primat des
echts
175
jeder staatlichen Maßnahme zumindest potentiell betroffen, ohne daß daraus ein Beteiligungsgebot ableitbar wäre 3 8 . Denn damit würde der rechtsstaatliche Gewinn, den der Begriff der Betroffenheit als besonderes Beteiligungsgebot m i t sich bringt, wieder verloren gehen 39 . Es kann vielmehr nur der Kreis derjenigen Personen i n Betracht kommen, die i n besonderer, spezifischer Nähe zur betreffenden Regelung stehen, die also unmittelbar betroffen sind. Zwar ist der Begriff der Unmittelbarkeit in Grenzfällen ein äußerst schwieriges Abgrenzungskriterium 4 0 , aber dennoch scheint dieser Begriff für eine erste Ausgrenzung geeignet. Als untere Grenze bietet sich ein Rückgriff auf das K r i t e r i u m der Rechtsverletzung i. S. v. § 42 I I VwGO an: wer plausibel vorbringen kann, i n seinen subjektiven Rechten verletzt zu sein 41 , ist auch immer unmittelbar betroffen. Unmittelbare Betroffenheit i n diesem Sinn muß jedoch weitergehen als rechtliche Betroffenheit 42 , kann also auch nur faktisch sein, endet aber dort, wo keine besondere, spezifische Nähe mehr feststellbar ist. Unmittelbar betroffen sind die Gewerkschaften nicht schon dann, wenn eine staatliche Entscheidung nur reflexmäßig, i n ihrer Ausstrahlungsw i r k u n g die Interessen von Arbeitnehmern tangiert, sondern erst, wenn diese primär spezifische Arbeitnehmerfragen regeln soll. Maßgeblich sind also nicht irgendwelche Neben- oder Fernwirkungen, sondern der primäre Zweck einer Entscheidung 43 . Unmittelbarkeit, spezifische Nähe und primärer Zweck können als Kriterien zur Feststellung von Betroffenheit kumulativ berücksichtigt werden, ebenso das „berechtigte Interesse" 44 . B. Mindestbeteiligung und Beteiligungsgrenzen
Aus diesen Überlegungen ergibt sich ein Beteiligungsgebot für die Gewerkschaften, das nicht allein Anhörung erfordert, sondern zumindest 37
Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 245. F ü r die „Fortschreibung" des Betroffenheitsbegriffs vgl. Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 253. 39 U n k l a r Bartelsperger, ebd. 40 Vgl. etwa zur Abgrenzung zwischen unmittelbarem u n d mittelbarem Schaden Fikentscher, Schuldrecht, § 50 I 3, 4; Soergel/Siebert/Schmidt, BGB, § 249, Rdnr. 9; Palandt/Heinrichs, BGB, vor § 249, A n m . 2 f.; Larenz, Schuldrecht I, § 14 I I b; vgl. zur unmittelbaren Störung i m Polizeirecht Drews/Wacke, Polizeirecht, S. 208, 223 ff.; Wolff, V e r w R I I I , § 127 I b 2. 41 So die h M zur Voraussetzung der Klagebefugnis, vgl. Tschira/Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, S. 76; Redeker/v. Oertzen, V w G O , § 42, Rdnr. 14; Eyermann/Fröhler, V w G O , § 42, Rdnr. 85. 42 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 226, Fußn. 203, schlägt dazu das „berechtigte Interesse" vor; vgl. auch S. 245, 247, m. w. Nachw.; Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 258. 43 Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 61 f., verwenden diese K r i t e r i e n zur Klärung, ob bestimmte Regelungen zu den „Arbeits- u n d Wirtschaftsbedingungen" i. S. v. A r t . 9 I I I GG zu zählen sind. 44 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 226, Fußn. 203. 38
1 7 6 7 . Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Rechtsstaatsgebot
Erörterung zwischen den jeweiligen Entscheidungsbehörden und den betroffenen Gewerkschaften verlangt. Eine Beteiligungsbegrenzung folgt zunächst aus dem Zweck dieser Betroffenenbeteiligung: wo es nicht u m die Betroffenheit der Gewerkschaften als Organisationen oder um ihre Funktion als M i t t e l zur Darstellung allgemeiner Arbeitnehmerinteressen geht, sondern i n erster Linie u m individuelle Betroffenheit, ist für gewerkschaftliche Beteiligung kaum Platz. I n diesen Fällen ist vielmehr der betroffene Bürger selbst zu beteiligen. Gewerkschaftliche Partizipation muß i n gleichem Maß zurücktreten, wie die Spezialität und der individuelle Bezug der jeweiligen Maßnahme zunimmt. Verbandsbeteiligung darf also diese wegen individueller Betroffenheit notwendige individuelle Partizipation nicht verdrängen 45 . Ζ. B. ist die Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern und Vertretern der Arbeitgeberverbände an den Spruchkörpern der Arbeits- und Sozialgerichte nicht erforderlich, weil diese Verbände nicht unmittelbar betroffen sind. A n den dort zu entscheidenden Streitigkeiten sind überwiegend einzelne Personen, nicht die Verbände selbst beteiligt. Unmittelbare Verbandsbetroffenheit ließe sich allenfalls dadurch annehmen, daß gerade i n Arbeits- und Sozialsachen Musterprozesse m i t Signal- und Rechtsfortbildungswirkung geführt werden. Zweck des Arbeits- und Sozialgerichtsprozesses ebenso wie des Zivilprozesses ist jedoch die Feststellung und Verwirklichung subjektiver Rechte i m konkreten Fall 4 0 . Dies kann nur subsidiär bei Präzedenzentscheidungen generelle Auswirkungen haben. Auch ließe sich ein solches Partizipationserfordernis wegen seiner Konsequenzen nicht halten. Wollte man nämlich aus einer generellen Wirkung der Rechtsprechung Argumente für die Beteiligung von Gruppenvertretern herleiten, müßten sie praktisch an allen Gerichten auf der Richterbank Platz nehmen. Das BVerfG etwa, das rechtliche Grundentscheidungen mit oft erheblichen politischen Auswirkungen fällt, wäre dann zumindest partiell m i t Funktionären der politischen Parteien zu besetzen, die Senate etwa m i t jeweils 2 Vertretern der Bundestagsparteien und 2 Berufsrichtern. Zwar spielen i n der politischen Praxis bei der Wahl der Bundesverfassungsrichter oft Überlegungen des Parteiproporzes eine Rolle, aber man sollte diese von allen verantwortlichen Seiten als nicht ungefährlich verstandene Entwicklung nicht auch noch mit Argumenten der Betroffenheit institutionalisieren. 45 Vgl. Zacher, V V D S t R L 33, S. 276; Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 257: organisierte Partizipation könne die Beteiligung unmittelbar Betroffener u. Engagierter nicht ersetzen. 46 Vgl. Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, § 1 I I , I I I ; Dietz/Nikisch, A r b GG, § 1, Rdnr. 12; Mellwitz, SGG, § 1, Rdnr. 4.
§ 24. Gewerkschaftliche Beteiligung unter dem Primat des Rechts
177
Die Beteiligung von Verbandsvertretern an den Spruchkörpern der Arbeits- u n d Sozialgerichte ist also m i t Betroffenheit nicht zu rechtfertigen; ein Partizipationsgebot besteht daher nicht. Als Partizipationsverbot kann Betroffenheit herangezogen werden, wenn die Verbandsbeteiligung die individuelle Partizipation verdrängen oder erschweren würde. Da der unmittelbar Betroffene als Kläger oder Beklagter i n jedem F a l l direkt als Partei beteiligt ist, w i r d individuelle Partizipation jedenfalls nicht verdrängt. Die Möglichkeit der Beeinträchtigung kann i n Einzelfällen, nicht aber generell bestehen, so daß daraus kein Partizipationsverbot abzuleiten ist. Eine weitere Begrenzung folgt aus dem Grad der gesetzlichen Gebundenheit der Verwaltung. Je weiter der Beurteilungs- oder Ermessensspielraum der V e r w a l t u n g ist, desto stärker kann bürgerschaftlich Partizipation zum Zuge kommen 4 7 . I n den Fällen dagegen, i n denen der Gesetz» oder Verordnungsgeber dem Entscheidungsprozeß der V e r w a l t u n g die Problemformulierung (Phase l ) 4 8 als feste u n d bestimmte Größe vorgibt, der Ermessensspielraum also sehr eng oder ganz beseitigt ist, ist i m wesentlichen nur noch die Informationssammlung und die Situationsanalyse (Phase 2), d.h. die Sachverhaltsaufklärung erforderlich. Die 3. Phase wiederum (Abwägung und Beratung) läßt der V e r w a l t u n g ebenfalls wenig Spielraum. Eine Erörterung m i t den Betroffenen kann daher allenfalls i n der 2. Entscheidungsphase erforderlich werden 4 9 . C. Die Verwaltung der Deutschen Bundespost als Beispiel
Diese Grundsätze gewinnen insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussion u m eine neue Postverfassung 50 Bedeutung. Da von den Entscheidungen des Aufsichtsrats als neuen K o n t r o l l - und Leitungsorgans der Deutschen Bundespost nicht allein oder primär das Personal betroffen ist, sondern i n zumindest ebenso starker Intensität auch die Interessen des Bundes als Eigentümer und der Postbenutzer 51 berührt werden, kann eine überproportionale M i t w i r k u n g von Gewerkschaftsvertretern i n diesem Organ etwa durch 12 Gewerkschaftsvertreter von 24 Mitgliedern 5 2 m i t dem Aspekt der Personalbetroffenheit nicht gerechtfertigt werden, selbst wenn man voraussetzt, daß die für die Bundespost zuständigen Gewerkschaften repräsentativ für das Postpersonal sind und 47
256. 48 49 50 51 52
Vgl. Walter, VVDStRL 31, S. 157 f.; Bartelsperger, VVDStRL 33, S. 250 f., Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Wie
12 Gießen
§19 Β 1. Schmidt, V V D S t R L 33, S. 200 ff. §18 D, 4 b; §19 E. Hamm, F A Z vom 30. 4.1973, S. 13. es die DPG erfordert, vgl. § 18 D, 4 b.
1 7 8 7 . Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Rechtsstaatsgebot
daher M i t t e l zur Betrofïenenpartizipation sein können. Eine derartig starke Stellung der Gewerkschaften i m Aufsichtsrat der Bundespost ließe sich allenfalls aus der Hypothese ableiten, daß diese Gewerkschaften auch für die Interessen der Postbenutzer sprechen könnten, gleichsam als Verbrauchervertreter, was jedoch — abgesehen davon, daß bedeutsame Postbenutzer nicht einmal Arbeitnehmer sind — deswegen fiktiv ist, weil praktisch keine Postbenutzer außer den Postbediensteten Mitglied der Postgewerkschaft sind und die Interessen des von den Gewerkschaften vertretenen Postpersonals zu denen der Benutzer oft i m Widerspruch stehen 53 . § 25. Gewerkschaftliche Beteiligung unter dem Grundsatz der Gewaltenteilung — Art. 20 I I Satz 2 GG 5 4 A. Gewaltenteilung und Verbandstätigkeit 1. Zuweisung
staatlicher
Gewalt
und
Staatsorgane
Der Inhalt des Grundsatzes der Gewaltenteilung besteht darin, bestimmten Staatsorganen bestimmte materielle Staatsfunktionen zuzuweisen und diese untereinander abzugrenzen 55 . Daraus folgt als erstes, daß die M i t w i r k u n g von Verbänden an der Staatswillensbildung an der i n A r t . 20 I I Satz 2 normierten Zuweisung staatlicher Gewalt an Staatsorgane zu messen ist. Die Ausübung von Staatstätigkeiten ist allein Staatsorganen vorbehalten 56 , nicht gesellschaftlichen Kräften. Eine allmähliche „Vergesellschaftung" des Staates ist demnach ausgeschlossen. Zweitens folgt aus dieser Verfassungsbestimmung, daß die Aufzählung der Staatsgewalten abschließend ist 5 7 . Sie verbietet daher neben den drei (materiellen und organisatorischen) Ausübungsgewalten die Etablierung einer selbständigen „vierten Gewalt" 58, einer „gesellschaftlichen" Gewalt i m Prozeß der Staatswillensbildung. A r t . 20 I I Satz 2 w i r d also dann zu 53
Vgl. Hamm, F A Z v o m 30. 4.1973, S. 13. A r t . 20 I I Satz 2 ist die eigentliche Begründung der Gewaltenteilung, weder A r t . 1 I I I noch A r t . 20 I I I , vgl. Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 75. 55 Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 76; Hamann/Lenz, GG, Einf. A n m . I D 7; v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 20, A n m . V 5 b; Hesse, Grundzüge, S. 195 ff.; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 54. 56 Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 76. 57 A r t . 20 I I Satz 2 sieht die einzig möglichen Adressaten u n d Pflichtsubjekte der Staatstätigkeit vor, Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 75. 58 Z u m Begriff vgl. Wittkämper, Interessenverbände, S. 209; Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 116. 54
§ 25. Grundsatz der Gewaltenteilung
179
einer Bestimmung, die das überproportionale, unkontrollierte M i t w i r k e n gesellschaftlicher Kräfte an der Staatswillensbildung begrenzt, wenn diese M i t w i r k u n g zugleich zur allmählichen Entstehung einer „vierten Gewalt" führt 5 9 . Ein gleichsam automatischer „Umschlag" der Koalitionen zu Institutionen m i t verfassungsrechtlicher Potenz ist ausgeschlossen 60 . Diese Hürde kann auch nicht mit dem Hinweis auf die Verfassungswirklichkeit 0 1 übersprungen werden: Sollte vielmehr die Wirklichkeit zeigen, daß sich die Koalitionen oder eine von ihnen zu einer „vierten Gewalt" entwickelt haben, so ist diese Wirklichkeit zu verändern. Zwar w i r d grundsätzlich die Delegation von ζ. B. Rechtsetzungsbefugnissen auf außerstaatliche Organisationen nicht durch das Gewaltenteilungsprinzip verfassungsrechtlich verboten 02 , so daß ein solches Verbot auch nicht für die M i t w i r k u n g Privater gelten kann; aber diese Übertragung bzw. Einbeziehung bleibt aus der Sicht der Gewaltenteilung nur solange zulässig, als der Staat i n der Lage ist, die übertragenen bzw. geteilten Befugnisse jederzeit wieder an sich zu ziehen 63 . Aber gerade dazu w i r d er bei Übertragung auf politisch wie wirtschaftlich mächtige Verbände, namentlich die Gewerkschaften, nicht mehr i n der Lage sein, so daß i n diesem Fall das Gewaltenteilungsprinzip relevant w i r d und der Übertragung staatlicher Befugnisse bzw. der Einbeziehung i n die staatliche Willensbildung Grenzen setzt. Ist das Zusammenwirken der Tarifvertragsparteien i m Rahmen der sozialen Selbstverwaltung 64 ohnehin ein „Abschied vom Staat" i m klassischen Sinn 6 5 , so darf diese Entwicklung nicht unbegrenzt und unkontrolliert ausufern. Die „Repräsentation organisierter Interessen" 66 kann weder eine konstitutionelle noch eine i n sonstiger Weise für die Staatswillensbildung verbindliche Repräsentation sein. Aus der Sicht der Gewaltenteilung erscheint diese Konstruktion nicht allein überflüssig, sondern verwirrend: verfassungsrechtlich repräsentativ sind allein die drei Staatsgewalten, eine zusätzliche Repräsentation ist — zumindest verfassungsrechtlich — nicht möglich, weder „neben" der staatlichen noch als „Ausdruck ein und desselben politischen Gemeinwesens" 67 . 59 H. Huber, Verbände, S. 28 ff.: die Verbände seien i n ihrer Gesamtheit zu einer Gewalt geworden, einer „elementaren, einer unverfaßten Gewalt" (S. 30). 60 Weber, Sozialpartner, S. 255; Wittkämper, Interessenverbände, S. 208 f. 61 Vgl. §16. 62 Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 56. 63 Ebd., S. 56. 64 Vgl. §18 C 4. 65 Vgl. Walter, V V D S t R L 31, S. 171. 66 Vgl. §18 C 5 a. 67 So aber Hirsch, Gewerkschaften, S. 127; ähnlich Rittstieg, JZ 1968, S.413f.; s. o. § 18 C 5 a. 12*
1 8 0 7 . Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung und Rechtsstaatsgebot 2. Funktionssicherung
der
Staatsgewalten
a) Allgemeines Die Eingliederung gesellschaftlicher Teilwillensbildungsprozesse i n die Staatswillensbildung 68 zu dem Zweck, gesellschaftliche Kräfte für den staatlichen Bereich nutzbar zu machen, muß daher diese grundlegende verfassungsrechtliche Kompetenzaufgliederung berücksichtigen. Der Staat kann zwar auch m i t Privaten kooperieren 09 , dies darf jedoch nicht dazu führen, daß ganze Aufgabenfelder des Staates durch diese gesellschaftlichen Gruppen okkupiert werden und auf diese Weise die Staatswillensbildung gleichsam überlagert und kassiert wird 7 0 . Diese Gefahr besteht insbesondere bei der M i t w i r k u n g gesellschaftlich mächtiger W i r kungseinheiten w i e der Gewerkschaften 7 1 ; der „Gewerkschaftsstaat"
72
gewinnt Konturen. Der grundsätzliche Vorrang staatlicher Entscheidungsträger bei der Staatswillensbildung ist also (auch) Inhalt des Gewaltenteilungsprinzips. b) Gefahren und Nutzen des Verbandswirkens für das Ziel der Gewaltenteilung Gewaltenteilung bedeutet nicht allein die formale Zuweisung von Kompetenzen an verschiedene Staatsgewalten, sondern verfolgt den Zweck, Machtbegrenzung und Machtkontrolle durch gegenseitiges Ausbalancieren zu erreichen 73 . Gewerkschaftliche Partizipation kann dazu führen, daß dieser Zweck faktisch unterlaufen w i r d — weniger dadurch, daß eine Staatsgewalt aufgrund gewerkschaftlicher Beteiligung eher i n den „Kernbereich" 7 4 einer anderen überzugreifen geneigt ist als ohne eine solche Partizipation, 68 Z u gesellschaftlichen Willensbildungsprozessen als „teilnehmende Größen" am Staatswillensbildungsprozeß vgl. v. Simson, V V D S t R L 29, S. 133. 69 Ζ. B. durch Beleihung, vgl. dazu Ossenbühl, V V D S t R L 29, S. 149 f. 70 Vgl. Knöpfle, DVB1.1974, S. 713; Ossenbühl, Anforderungen, S. 136. 71 Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 18: die Gewerkschaften stünden i n der Versuchung, „nach der ganzen Macht zu greifen", vgl. auch S. 47, 50, 70, 71; ähnlich H. Huber, Verbände, S. 29; zur gewerkschaftlichen Machtkonzentration i n der Wirtschaft vgl. Roeper, F A Z v o m 15. 3.1971, S. 13; vgl. weiterhin § 8. 72 E. G. Vetter, Ordo 1972, S. 339; ders., F A Z v o m 9. 5. 1973, S. 1; Leisner, Mitbestimmung, S. 61; Wertenbruch, Peters-Gedächtnisschrift, S. 624 f.; Stadler, Gewerkschaften, S. 100 f.; Triesch, Macht der Funktionäre, S. 257 if.; Deist, zitiert nach Mundorf, Handelsblatt v o m 16. 10. 1972, S. 2; Ipsen, DÖV 1974, S.299. 73 Vgl. etwa BVerfGE 5, 85 (199); Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 78; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 55, m. w . Nachw.; v. Mangoldt/ Klein, GG, A r t . 20, A n m . V 5 b; H. Huber, Verbände, S. 29; das gesellschaftliche Pendant zu dieser staatlichen Gewaltenteilung besteht (im Ziel der) Ausbalancierung u n d Gleichgewichtsbeschränkungen der politischen Kräfte, vgl. §17 A. 74 Vgl. etwa Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 81.
§ 25. Grundsatz der Gewaltenteilung
181
wenn auch zu berücksichtigen ist, daß gerade Großverbände wie die Gewerkschaften i n „grenzüberschreitenden" Aktionen die verfassungsrechtlichen Kompetenzgrenzen verwischen und damit die Gewaltenteilung auflösen können 75 . Vielmehr ist eine Gefährdung der Gewaltenteilung dadurch möglich, daß durch Beteiligung der Gewerkschaften das politische Gewicht einer Staatsgewalt gegenüber den anderen unproportional erhöht wird. Dies gilt insbesondere für Regierung und Verwaltung gegenüber dem Parlament, womit zugleich ein Problem demokratischer Legitimation angesprochen ist 7 6 . Die zunehmende „Osmose" von Staat und Gesellschaft 77 , die sozialstaatlichen Aufgaben der Verwaltung vor allem auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge und Planung verstärken die Komplexität der zu ordnenden Lebenssachverhalte 78 . Es werden dadurch mehr und differenziertere Gesetze notwendig 7 9 , das Parlament w i r d mangels entsprechender Apparatur von der Exekutive abhängig, der Fachmann setzt sich an die Stelle des Politikers. Die Sachverhaltskomplexität hat zur Folge, daß der Informant nicht allein berät, sondern faktisch m i t entscheidet 80. Die Verwaltung entzieht sich zunehmend der „Herrschaft der Gesetze" und damit der „Herrschaft des demokratischen Gesetzes" 81 — vor allem die planende, beobachtende und vorbereitende Verwaltung programmiert sich selbst 82 . Kann sich die Verwaltung infolge der Partizipation nicht nur auf eigenen Informationsvorsprung und besondere Sachkenntnis stützen, sondern zusätzlich noch auf politische Machtzentren wie die Gewerkschaften, w i r d diese Autonomietendenz noch verstärkt. Weiterhin entsteht die Gefahr, daß sich durch Verlagerung staatlicher Macht auf gesellschaftliche Einheiten Machtakkumulation i n privater Hand bilden kann 8 3 . Der Effekt der Machtbegrenzung und -kontrolle schlägt auf diese Weise u m i n allmähliche Machtübernahme 84 . 75 Leisner, Mitbestimmung, S. 60 f.; Weber, Spannungen, S. 161; Ipsen, DÖV 1974, S. 299. 76 Vgl. dazu §18. 77 Vgl. § 16 A . 78 Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 200 ff., m. w. Nachw., 212 f., 218 f. 79 Dichgans, Grundgesetz, S. 65 ff. 80 Vgl. § 18 D, 4 a, aa. 81 Heller, V V D S t R L 4, S. 102; Jesch, Gesetz u n d Verwaltung, S. 26 ff. 82 Vgl. Brohm, V V D S t R L 30, S. 259 f., 267 ff.; Lecheler, DÖV 1974, S. 441 ff., jeweils m. w . Nachw.; oben § 18 C 2, D 2. 83 Vgl. ζ. B. Ipsen, V V D S t R L 31, S. 295; Leisner, Mitbestimmung, S. 61, 64: die Gewerkschaften könnten zu einem „riesigen ,beliehenen Unternehmen'" werden. 84 Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 236, vgl. § 25 A 2; Ipsen, DÖV 1974, S. 299.
1 8 2 7 . Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Rechtsstaatsgebot
Andererseits kann die Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte i n die Staatswillensbildung diesem Ziel auch dienen 85 , Partizipation kann ein zusätzliches
Element
der Machtkontrolle
sein 86 , w e n n der entsprechende
politische Wille der Mitwirkenden vorhanden ist. Die i n modernen Demokratien festzustellende enge Verschmelzung zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung 87 m i t der Folge, daß insoweit eine parlamentarische Kontrolle der Verwaltung bzw. Regierung nur sehr schwach ausgebildet ist, kann m i t diesem M i t t e l partiell aufgelöst werden. Eine zweite positive Wirkung kann darin bestehen, daß durch die Beteiligung gesellschaftlicher Kräfte i n der Verwaltung eine Reserviertheit oder sogar Illoyalität des die Verwaltung tragenden Beamtentums gegenüber dem System einer freiheitlichen Demokratie gering gehalten w i r d — freilich nur i n dem Maß, i n dem die Partizipanten selbst sich diesem System verpflichtet fühlen. Einer der Gründe für die Schwäche der Weimarer Republik lag i n der reservierten Einstellung großer Teile des eher monarchisch als republikanisch orientierten Beamtentums gegenüber der republikanischen Demokratie, wenn dies auch nicht zur Illoyalität des Beamtentums führte 8 8 . c) „Staat i m Staate" I n enger Verwandtschaft dazu steht das Problem des „Staates i m Staate" 89 . Da ein unintegrierter Staat nicht lebensfähig ist, sind neue Quellen zur Integration der Individuen in den Staat zu erschließen 90 . Daher ist der Vorgang, daß sich neben dem Staat gesellschaftliche Autoritätsquellen wie ζ. B. Verbände bilden, legitim 9 1 . Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß sich diese Integrationsquellen dem Staat überordnen 92 oder v o n i h m isolieren u n d damit einen „Ersatzstaat", 85
„Gegenstaat",
eine
Evers, Der Staat 1964, S. 44; Kisker, D Ö V 1972, S. 524; diese Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte k a n n jedoch nicht, w i e Hirsch, Gewerkschaften, S. 123, vorschlägt, „anstelle des vielfach überholten ,klassischen Gewaltenteilungsprinzips'" fungieren. 86 Knöpfle, DVB1. 1974, S. 716; Conradi, Interessenverbände, S. 299; kritisch zur „Gewaltenteilung innerhalb der Gewalten" Leisner, Mitbestimmung, S. 34. 87 Vgl. Friesenhahn, V V D S t R L 16, S. 33 fï.; Th. Ellwein, Regierungssystem, S. 271; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 95. 88 Vgl. G. Mann, Deutsche Geschichte, S. 696 f., 775 ff. (789); Görg, Stichwort „Beamte", Staatslexikon, Sp. 959. 89 Vgl. Krüger, Allg. Staatslehre, S. 394 ff. ; Wittkämper, Interessenverbände, S. 208 f.; Galperin, D B 1970, S. 350, m. w. Nachw.; w e i t e r h i n die L i t . i n Fußn. 72. 90 Herzog, Allg. Staatslehre, S. 82 f. 91 Ebd., S. 183 ff.; zu diesem Ergebnis gelangen alle Autoren, die p l u r a l i stische Gesellschaftsstrukturen akzeptieren, vgl. § 17. 92 Diese Gefahr scheint Pirker zu übersehen oder f ü r nicht relevant zu halten, w e n n er i m K a m p f u m die Betriebsverfassung 1952 die „blinde Macht der Gewerkschaften" kritisiert, ihre „Unterwerfung . . . unter die Grundgesetze der repräsentativen Demokratie", ihre „Niederlage" u n d „ K a p i t u l a t i o n " gegenüber dem Bundestag, vgl. Blinde Macht I, S. 285, 295 f.
§ 25. Grundsatz der Gewaltenteilung
183
„Gegenmacht" bilden. Genau dies aber verletzt den Grundsatz der Gewaltenteilung: die diese Intention verfolgenden gesellschaftlichen Kräfte würden zu einer unzulässigen „vierten Gewalt". Diese wäre nicht nur selbständig, sondern von den konstitutionellen Staatsgewalten isoliert und könnte auf diese Weise Instrument zur Uberwindung eben dieser konstitutionellen Gewalten werden. Das Problem des „Staates i m Staate" ist sowohl ein Problem der Staatswillensbildung wie auch der Volkswillensbildung, weil es dem Prozeß der politischen Einheitsbildung stört. „Gegenstaat" oder „Gegenmacht" durch die Gewerkschaften 93 zielt nicht auf politische Einheit, sondern gerade auf ihr Gegenteil: auf ein bipolares Machtsystem, das den einen Pol — nämlich den konstitutionellen Staat — allmählich überwinden soll 94 . A u f diesem Weg kann die Zerfaserung des Staates i n Gegenkräfte 95 umschlagen i n die Kassierung des Staates. Die Entwicklung eines Gegenstaates, einer Gegenkraft gegen die staatlichen Instanzen kann sich von „außen", d. h. aus dem Prozeß der Volkswillensbildung her vollziehen. Nicht nur das Wirken von Verbänden, namentlich von politisch bedeutsamen Verbänden wie den Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, kann eine solche Entwicklung einleiten, sondern auch die Tätigkeit von Wirtschaftsunternehmen, insbesondere i n einem Prozeß zunehmender wirtschaftlicher Konzentration. So konstatiert das Bundeskartellamt i n seinem Tätigkeitsbericht 197296, daß die auch 1972 fortgeschrittene Konzentration die Handlungsfähigkeit und den Handlungserfolg staatlicher Instanzen beeinträchtige; die Bemühungen von Regierung und Bundesbank zur Wiedergewinnung der Stabilität könnten von Preis-, Investitions- und anderen Absprachen der Unternehmen insbesondere auf oligopolistisch strukturierten Märkten unterlaufen werden 97 . Eine Gegenkraft kann aber auch von „innen" her entstehen, innerhalb der Staatswillensbildung als Ergebnis eines „Marsches durch die Institutionen" 9 8 . Ihre Durchsetzungschance w i r d geradezu verdoppelt, wenn 93
Nicht n u r zur Unternehmensleitung (vgl. dazu L. v. Friedeburg, Arbeitshefte Nr. 4, 1964, S. 11; Eb. Schmidt, Ordnungsfaktor, S. 38 ff., 167 ff.), sondern auch zur staatlichen Ordnung, vgl. Schmidt, a . a . O . ; kritisch zu diesen Tendenzen E. G. Vetter, F A Z v o m 9. 8. 1973, S. 9; Übersicht bei L i m m e r , Gewerkschaftsbewegung, S. 131 ff. 94 Vgl. etwa Altvater, Mitbestimmung, S. 147 ff. (162 if.). 95 Dazu Krüger, Allg. Staatslehre, S. 394 ff. 96 BT-Drucksache VII/986. 97 BT-Drucksache VII/986, S. 6. 98 Dieser Ausdruck stammt w o h l von Rudi Dutschke und hat sich m i t t l e r weile i n der politischen Diskussion eingebürgert, vgl. H. Schelsky, F A Z v o m 10.12.1971.
1 8 4 7 . Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Rechtsstaatsgebot
sie auf diese Weise „zweigleisig" fahren kann". Es soll zwar nicht übersehen werden, daß der Prozeß der „Verstaatlichung" gesellschaftlicher Mächte, d. h. ihre Institutionalisierung, durchaus integrativ wirken kann, aber dieser Effekt ist abhängig vom politischen Willen eben dieser Mächte, insbesondere dem ihrer Führung. Ist er nicht auf Integration bedacht, so kann ein ursprünglich zur Integration konstruiertes Mittel leicht i n ein M i t t e l zur Desintegration „umfunktioniert" werden. Die Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte i n die Staatswillensbildung ist also durchaus ambivalent. Eine staatsrechtliche Untersuchung muß daher beide Entwicklungsmöglichkeiten berücksichtigen, auch wenn die Gefahr möglicher Desintegration ζ. Z. i n der politischen Wirklichkeit gering zu sein scheint. Aber diese Wirklichkeit kann sich ändern, die politischen Schwerpunkte können sich verlagern. d) Staatliche Gemeinwohlrealisierung Nur solange die Kräfte der pluralistischen Gesellschaft die Organisations- und Verfahrensregeln staatlicher Willensbildung respektieren, bleibt der pluralistische Staat existent 100 . Werden sie überschritten, schlägt er i n einen totalitären oder — i m Hinblick gerade auf gewerkschaftliche Tätigkeit — syndikalistischen Staat u m 1 0 1 : der pluralistische Staat kann also nur ein Rechtsstaat sein 102 . Auch eine — mögliche — Gemeinwohlverpflichtung insbesondere der Großverbände muß unter diese Kompetenzverteilung gestellt werden. Zwar ist i n einer pluralistischen Gesellschaft „die Frage danach, was Gemeinwohl i m einzelnen bedeutet, hic et nunc, immer offen" 1 0 3 ; zwar kommt Gemeinwohl nicht trotz, sondern dank der M i t w i r k u n g der Verbände zustande, aber die Summe von Partikularinteressen ist noch nicht das Gemeinwohl 1 0 4 , sondern ein Interessenbündel. Gerade wegen der wohlbekannten Tatsache, daß jeder politisch aktive Verband versucht, sein spezifisches Interesse als Gemeinwohl hinzustellen, damit zu rechtfertigen und i n der Bedeutung zu steigern 105 , darf diese Verbandsvor99 Z u m Nebeneinander privatrechtl. u. öffentlichrechtl. Interessenorganisationen s. Schmidt, V V D S t R L 33, S. 187. 100 Wittkämper, Interessenverbände, S. 134, 159, 160, 165, 209; Eschenburg, Verbände, S. 79 f.; Kaiser, Repräsentation, S. 319; Fraenkel, Deutschland, S. 220. 101 Vgl. Stavenhagen, Staatslexikon, Stichwort „Syndikalismus", Sp. 898 ff. 102 Fraenkel, Deutschland, S. 220. 103 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 192; Häberle, öffentliches Interesse, S. 101; vgl. § 17 B. 104 Vgl. Leibholz, V V D S t R L 24, S. 22; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 114; Fraenkel, Deutschland, S. 45; Sontheimer, Schriften d. Bundeszentrale, S. 22; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 220: „Binsenweisheit"; Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 228; Knöpfle, DVB1.1974, S. 714. los Y g i etwa DGB-Grundsatzprogramm, Präambel; Otto v. Gablentz spricht von einer „schleimigen Sauce von patriotischen Sorgen", m i t der die Verbände
§ 25. Grundsatz der Gewaltenteilung
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klärung kein Präjudiz für die parlamentarische Entscheidung sein. Der Inhalt des Gemeinwohls kann allein durch die demokratisch legitimierten Staatsorgane entsprechend ihrer Kompetenz verbindlich bestimmt werden 1 0 0 ; „das Gemeinwohl w i r d vom . . . demokratischen Gesetzgeber als öffentliche Aufgabe erkannt und als solche der Exekutive, der Legislative und nichtstaatlichen Beteiligten anvertraut 1 0 7 ." Für die Verbände ist Gemeinwohl äußere Begrenzung
i h r e r Tätigkeit, ebenso w i e I n d i v i d u e n
i n ihrer Handlungsfreiheit durch gesetzlich bestimmte Allgemeininteressen begrenzt werden 1 0 8 . Es gilt ein Identifizierungsverbot : ebenso wie es dem Staat verboten ist, sich mit einer Gruppe zu identifizieren 109 , ist den Verbänden — auch den Koalitionen i. S. v. A r t . 9 I I I — untersagt, sich m i t dem staatlich-allgemeinen Gesamtinteresse zu identifizieren 110 . Dies ist aber nur möglich, wenn sie ihren spezifischen Bezug i m Auge behalten. Selbst bei der Wahrnehmung wirtschaftspolitischer Belange besteht für die Verbände keine positive Verpflichtung, das Gemeinwohl inhaltlich zu bestimmen und dies zum Maßstab für ihre konkrete Tätigkeit zu machen 111 . Denn dem Gemeinwohl w i r d i n der Regel schon dadurch genügt, daß die Koalitionen zusammenwirken und eine der Intention von Art. 9 I I I entsprechende ausgewogene Interessenlösung 112 erzielt wird. Die Verfassung ruft die Sozialpartner zur gemeinschaftlichen Regelung ihre Interessen „verkleistern", zitiert nach Th. Ellwein, Regierungssystem, S. 117; Biedenkopf, Grenzen, S. 65, hält die Verbände f ü r außerstande, das eigene v o m Allgemeininteresse zu unterscheiden; vgl. weiterhin v. Beyme, Interessengruppen, S. 46; Sontheimer, Grundzüge, S. 113; Görlitz, Handlexikon, S. 428; Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 149; Th. Ellwein, Regierungssystem, S. 165 f. 108 Häberle, öffentl. Interesse, S. 101, 209 f.; Knöpfle, DVB1. 1974, S. 714; Wolff-Bachof, V e r w R I, § 29 I I I 3 a; Achterberg, DVB1. 1974, S. 698 f.; Wertenbruch, Peters-Gedächtnisschrift, S. 624; oben § 17 B ; auch können i n diesem Verfahren Partikularinteressen zu öffentlichen Interessen werden, vgl. Schmidt, V V D S t R L 33, S. 198, müssen es aber nicht. 107 Häberle, öffentliches Interesse, S. 101, 209 f.; Schmidt, V V D S t R L 33, S. 217. 108 Leibholz, V V D S t R L 24, S. 22 ff.; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 221; Fraenkel, Deutschland, S. 44; Galperin, D B 1970, S. 301; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 22, 106; Bulla, Soziale Selbstverantwortung, S. 83 ff. (zur K r i t i k an Bulla vgl. Reuß, Z f A 1970, S. 328 f.); Krüger, A l l g . Staatslehre, S. 400: einem Verband brauche es jedenfalls nicht p r i m ä r u m das Allgemeinwohl zu gehen; Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 42. 109 Krüger, Grenzen, S. 36 ff. 110 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 220 f., 312; Ipsen, DÖV 1974, S. 300: „ W e r sich m i t den Interessen der Nation identifiziert, operiert totalitär.". 111 Reuß, Z f A 1970, S. 327 ff. 112 Vgl. BVerfGE 18,18 (28); Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 17; Hamann/ Lenz, GG, A r t . 9, A n m . 10 (S. 243 f.); Lenz, i n : Gesellschaft, Recht u n d Politik, S. 218; Lerche, Zentralfragen, S. 30; Reuß, Z f A 1970, S. 326 ff.; Söllner, A u R 1966, S. 263; Biedenkopf, 46. DJT, S. 165 f.
1 8 6 7 . Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Rechtsstaatsgebot
auf und verpflichtet damit beide Seiten einem „gemeinen Besten" 1 1 3 als dem „gemeinsamen Besten" 114 . Das Koalitionsverfahren soll die Interessen beider Seiten i n integrierender Allgemeinheit verbinden 1 1 5 . Wegen der existentiellen Bedeutung der Wirtschaftspolitik für das Gemeinwesen müssen freilich die Partikularinteressen auf diesem Sektor erhöhter Rücksichtnahme auf Allgemeininteressen unterliegen 1 1 6 . Die Gewerkschaften befinden sich i n einem „Zielkonflikt" zwischen ihrer Funktion als Interessenvertretung für ihre Mitglieder einerseits und ihrer Stellung als sozialer Ordnungsfaktor, der auf die Lage von Außenseitern ebenso einwirkt wie auf das gesamte Wirtschaftsgeschehen, andererseits 117 . Diese Überlegung ändert jedoch nichts daran, daß Gemeinwohl auch auf diesem Sachgebiet für die Gewerkschaften allein Handlungsbegrenzung ist. Aus den vorstehenden Ausführungen folgt: Der Hinweis der Gewerkschaften, dem Gemeinwohl zu dienen, kann kein Grund sein, ihnen eine Sonderrolle einzuräumen 118 , die die rechtsstaatliche Kompetenzverteilung modifizieren könnte. Ein Mitwirkungsgebot kann unter diesem Blickwinkel also nicht hergeleitet werden. B. Grenzen der Einbeziehung der Gewerkschaften in die Staatswillensbildung 1. Folgerungen
aus Inhalt
und Zweck der
Gewaltenteilung
Aus den ersten der oben entwickelten Grundsätze, nämlich dem Verbot der „Vergesellschaftung" des Staates, der Etablierung einer „vierten Gewalt" und der privaten Machtakkumulation ergeben sich bestimmte Begrenzungen für die Einbeziehung der Gewerkschaften i n die Staatswillensbildung. Bevor weitere Stufen i n diesem Prozeß der Institutionalisierung beschritten werden, ist jeweils zu prüfen, wie groß die Machtdichte dadurch bei den Gewerkschaften wird. Dabei kann nicht allein die Beteiligungsart, -form und -tragweite i m einzelnen Aufschluß geben, sondern es ist auch abzustellen auf die Gesamtheit der den Gewerkschaften zugewiesenen öffentlichen Machtelemente, die alle Staatsgewalten durchdringen. 113
Lerche, Zentralfragen, S. 29 f. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 221. 115 Ebd., S. 315. ne BVerfG, N J W 1975, S. 1267; Weber, Sozialpartner, S. 246 f.; (E. G. Vetter, F A Z v o m 6. 6. 1973, S. 1); Krüger, Grenzen, S. 58 ff., 88, leitet eine B i n d u n g der K o a l i t i o n an das Gemeinwohl aus ihrer besonderen „Mächtigkeit" ab, vgl. dazu auch Nikisch, A r b R I I , S. 45 f. 114
117 118
Vgl. Wiedemann, R d A 1969, S. 328. Vgl. Ipsen, DÖV 1974, S. 299; Badura, Scheuner-Festschrift, S. 30.
§ 25. Grundsatz der Gewaltenteilung
187
Neben dieser Summe an staatlicher Machtausübung ist die besondere gesellschaftliche Mächtigkeit ein weiteres zu berücksichtigendes Element. Vor jeder weiteren Integration i n die Ausübung staatlicher Aufgaben ist daher festzustellen, wie groß und intensiv die Bündelung staatlicher und gesellschaftlicher Macht bei den Gewerkschaften w i r d und ob sie einen derartigen Umfang erreicht, daß staatliche Entscheidungen letzten Endes abhängig vom jeweiligen Willen der Gewerkschaften werden und auf diesem Weg rechtsstaatliche Gewaltenteilung aufgelöst w i r d 1 1 9 . Insbesondere für die direkte Mitbestimmung i n der Verwaltung folgt aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung, daß Entscheidungen m i t politischer Tragweite nicht von der Regierung auf Gremien übertragen werden dürfen, die keiner parlamentarischen Verantwortung unterworfen sind. Diese Mitbestimmungsgrenze ist also Forderung des Demokratiegebots und der Gewaltenteilung 1 2 0 , sie beschränkt die Mitbestimmung des Personals 121 und erst recht Externer wie der Gewerkschaften, bei denen als zusätzliches Element das der Machtbündelung hinzukommt 1 2 2 . Je wirkungsvoller die innerorganisatorischen Mechanismen der Machtbegrenzung und -kontrolle ausgebildet sind, desto eher kommt eine institutionalisierte M i t w i r k u n g der Gewerkschaften an staatlichen Entscheidungen i n Betracht. Ausschlaggebend sind dabei die demokratische Binnenstruktur der einzelnen Gewerkschaften und der Grad der Zentralisierung 1 2 3 . Das Gewaltenteilungsprinzip gebietet also, daß die Gewerkschaften i n die Staatswillensbildung nur einbezogen werden können, wenn sie ihre soziale Mächtigkeit institutions- und kompetenzachtend handhaben 124 . Die Gefahr der Desintegration, des Gegenstaates w i r d um so größer, je weiter der den Gewerkschaften zugewiesene öffentlich-rechtliche Aktionsradius ist. Leicht können die Verbände, insbesondere auch die Gewerkschaften zur „eigentlichen Regierung" 1 2 5 werden. Sind sie dagegen auf bestimmte Gegenstände der M i t w i r k u n g beschränkt, ist diese Entwick119
Vgl. Ipsen, D Ö V 1974, S. 300. Vgl. Leisner, Mitbestimmung, S. 45 ff., 51 u n d § 18 D, 4 b. 121 Ebd. 122 Vgl. Ipsen, D Ö V 1974, S. 300. 123 Kontroversen zwischen dem DGB einerseits und den großen Einzelgewerkschaften andererseits oder zwischen den Einzelgewerkschaften u n t e r einander treten nicht selten offen zu Tage, etwa beim Plan zur Vermögensbildung. M i t n u r 3 Stimmen Mehrheit (55 : 52) setzte der DGB-Bundesvorstand i m Bundesausschuß seine Vorstellungen insbesondere gegenüber der ÖTV, der I G Metall u n d der DPG durch, vgl. F A Z Nr. 81 v o m 5. 4. 1973, S. 13; Nr. 84 v o m 9. 4.1973, S. 13. 124 Vgl. Wittkämper, Interessenverbände, S. 134, 160, 165, 209; Knöpfle, DVB1.1974, S. 708, 713. 125 Löwenstein, Verfassungslehre, S. 387. 120
7. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Rechtsstaatsgebot
lung zumindest begrenzt, transparent und kontrollierbar. Ein Verband darf sich daher nicht m i t dem Staat, dem Gemeinwohl identifizieren, sondern muß bei seiner politischen A k t i v i t ä t gegenständlich begrenzt werden. Das Prinzip der Gewaltenteilung verlangt also überhaupt eine gegenständliche Begrenzung gewerkschaftlicher Beteiligung, ohne allerdings diese Grenze näher zu bestimmen. Dies gilt insbesondere für die gewerkschaftliche Partizipation an der Verwaltung: unkontrollierte und unbegrenzte Beteiligung der Gewerkschaften führt zu noch stärkeren Autonomiebestrebungen der Verwaltung. Gewaltenteilung fordert, daß eine Begrenzung gezogen wird, nicht wie diese i m einzelnen ausgestaltet werden muß. 2. Beispiele
Zwei Beispiele sollen diese Gedanken konkretisieren und verdeutlichen: die Zusammensetzung der Arbeits- und Sozialgerichte 126 sowie die geplante Postverfassung 127 . Die Beteiligung von Laien an der Rechtsprechung galt als wirksamer Schutz der Privatperson gegen die Übermacht des Staates 128 , sollte also gleichsam gewaltenhemmende Funktionen erfüllen. I m pluralistischen Staat moderner Prägung kann dem einzelnen die Macht der Verbände nahezu ebenso als mögliche Gefahr individueller Freiheit gegenübertreten wie die Macht des Staates 129 . Vertreter mächtiger Verbände wären schwerlich geeignet, die von den Berufsrichtern ausgehenden Gefahren für die Freiheit zu verringern, und müßten daher als Laienrichter ausscheiden. Diese Folge gälte unter der Prämisse, daß auch heute noch der Berufsrichter als potentielle Gefahr für die individuelle Freiheit anzusehen wäre. Diese Prämisse hat sich jedoch m i t der verfassungsrechtlich verankerten Unabhängigkeit des Richters, A r t . 97 GG, gewandelt. Er erscheint heute vielmehr als Garant der Freiheitssicherung, wie dies etwa i n den Bestimmungen zur Anordnung und Überprüfung der Untersuchungshaft erkennbar wird, §§ 114 ff., 125 ff. StPO. Die DPG fordert, daß i m Zuge der Reform der Postverfassung die Hälfte der Sitze i m Aufsichtsrat, dem Kontroll- und Leitungsorgan der Bundespost, von Gewerkschaftsvertretern besetzt werden sollen 130 . Ausgangspunkt für die verfassungsrechtliche Prüfung der paritätischen Mitbestimmung i m Bereich der Bundespost ist, daß die Verwaltung 126 127 128 129 130
Vgl. § 18 D, 4 d; § 19 E. Vgl. §18 D, 4 b; §19 E. Lent/Jauernig, Zivilprozeßrecht, § 8 I. Vgl. § 23 B, § 30 b. Vgl. §18 D, 4 b.
§ 25. Grundsatz der Gewaltenteilung
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der Bundespost ebenso wie der Bundesbahn dem Bereich der Staatswillensbildung zuzurechnen ist, und zwar der bundeseigenen Verwaltung, Art. 87 I. Es handelt sich i n beiden Fällen u m öffentliche Verwaltung, unabhängig davon, wie das Benutzungsverhältnis zwischen dem die Leistung i n Anspruch nehmenden Bürger und dem öffentlichen Leistungsträger ausgestaltet ist, ob öffentlichrechtlich oder privatrechtlich 1 3 1 . Diese besonders bedeutsame A r t der Leistungsverwaltung 1 3 2 bleibt auch bei Benutzung privatrechtlicher Formen öffentliche Verwaltung 1 3 3 , bleibt also Staatlichkeit 134 . Die verfassungsrechtliche Überprüfung der paritätischen Mitbestimmung i n diesen Bereichen ist daher unter gänzlich andere Prüfungsmaßstäbe zu stellen als i m privatwirtschaftlichen Bereich. Hier sind vor allem die Grundrechte, insbesondere A r t . 9 I I I und A r t . 14 bedeutsam — A r t . 20 spielt auch dann keine Rolle, wenn die öffentliche Hand selbst privatwirtschaftlich tätig w i r d 1 3 5 . Innerhalb der staatlichen Sphäre — insbesondere der Leistungsverwaltung — dagegen sind die Grundrechte kein Maßstab für die paritätische Mitbestimmung, dort setzt Art. 20 die Grenzen. Die für die Partizipation an Verwaltungsentscheidungen dargestellten Grundsätze sind daher auch unmittelbar auf die öffentliche Daseinsvorsorge, wie die Bundespost, anzuwenden. M i t der Hälfte der Sitze i m Aufsichtsrat erhielte die Gewerkschaft praktisch einen wesentlichen Teil der Verfügungsmacht über die Post. Von der Gewerkschaftsansicht abweichende Vorstellungen der Bundesregierung könnten i n der Praxis entweder überhaupt nicht oder nur unter äußerst schwierigen Bedingungen modifiziert durchgesetzt werden 136 . Ein solcher Zuwachs an staatlicher Macht i n den Händen nichtstaatlicher Organisationen überschreitet die Grenze zur Usurpierung von Staatsgewalt. Denn bei der Bundespost handelt es sich nicht u m eine relativ unbedeutende Instanz staatlichen Wirkens, sondern u m ein Unternehmen großen Ausmaßes, dessen Verhalten, ζ. B. i n Form von Gebührenfestsetzungen, Investitionsvorhaben gravierende Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft hat 1 3 7 . Es besteht kein Grund, Einsatz und Kon131 Vgl. zu dieser mehr historisch bedingten Organisation der Leistungsverhältnisse Wolff, V e r w R I I , § 99 V a. 132 Vgl. Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 83, Rdnr. 17; Wolff, V e r w R I I I , § 137 I I I . 133 Vgl. (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 1, Rdnr. I l l ; Wolff, V e r w R I I , § 99 V a. 134 Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 30, Rdnr. 10. 135 Vgl. z u m Grundrechtsschutz f ü r öffentliche Unternehmen als juristische Personen des Privatrechts bzw. f ü r gemischtwirtschaftliche Unternehmen Emmerich, Wirtschaftsrecht, S. 91 ff. 136 Vgl. Hamm, F A Z v o m 30. 4. 1973, S. 13; vgl. auch das „Schwarzbuch" des Verbandes der Postbenutzer, F A Z vom 20. 3.1973, S. 13. 137 Hamm, F A Z v o m 30. 4. 1973, S. 13.
190
7. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Rechtsstaatsgebot
trolle dieses Apparates parlamentarisch verantwortlichen Instanzen aus den Händen zu nehmen und den Gewerkschaften zu überantworten 1 3 8 , es sei denn, man wollte Gewerkschaftsmacht per se höher und moralischer als demokratisch legitimierte Staatsmacht einschätzen. Diese aus dem Demokratiegebot folgende Begrenzung muß i n gleicher Weise auch für die Verwaltung der Bundesbahn gelten, auch wenn diese privatrechtlich tätig wird. A r t . 87 I ordnet Bundespost und Bundesbahn der unmittelbaren Bundesverwaltung zu und verbietet damit, die Führung dieser Verwaltungszweige rechtlich selbständigen Organen anzuvertrauen 139 . Diese unmittelbare Anbindung an die Bundesregierung aber wäre bei paritätischer M i t bestimmung i m Aufsichtsrat zwar nicht rechtlich, aber faktisch aufgelöst. Bei jeder bedeutsamen Entscheidung wäre die Bundesregierung auf das Einverständnis der Gewerkschaftsvertreter angewiesen, eine Entscheidung ohne oder gegen die Gewerkschaft wäre unmöglich. Dies aber widerspricht dem Zweck von A r t . 87 I.
§ 26. Gewerkschaftliche Beteiligung unter dem Gebot der Voraussehbarkeit staatlicher Machtausübung A. Voraussehbarkeit und Transparenz staatlicher Machtausübung
Weiteres und bedeutsames Element der Rechtsstaatlichkeit ist die Rechtssicherheit, d. h. die Vorausberechenbarkeit und Voraussehbarkeit staatlicher Gewaltausübung 140 . Während der Rahmen dieser Vorausschaubarkeit für das Tätigwerden des Gesetzgebers allein durch die Verfassung abgesteckt wird, also relativ weit und unbestimmt ist, w i r d er für die Verwaltung — zumindest für die Eingriffsverwaltung — sowie die Rechtsprechung durch die Gesetze näher konkretisiert. Bei allen drei Staatsgewalten sind aber nicht nur die Verfassung bzw. Gesetz und Verfassung Instrument zur Gewährleistung der Rechtssicherheit, sondern daneben kommt der Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle zu: die Rechtssicherheit steigt mit der Transparenz staatlicher Entscheidungen 141 ; insbesondere die aktuelle Öffentlichkeit durch die modernen Massenmedien ist oft stärkere Effektivierung der Rechtssicherheit als die — i n Wirklichkeit eher fiktive als aktuelle — Öffentlichkeit durch Gesetze. So sind ζ. B. manche parlamentarischen Gesetzesvorhaben dank der beson138
Ipsen, DÖV 1974, S. 299 f.; Krüger, Scheuner-Festschrift, S. 295 ff. Vgl. §18 D, 4 b. 140 Vgl. Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 86; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 243. 141 Vgl. §20. 139
§ 26. Gebot der Voraussehbarkeit staatlicher Machtausübung
191
deren Öffentlichkeit des Parlaments bekannter als manche — oft ebenso gravierenden — Vorhaben der Exekutive. B. Partizipation und Voraussehbarkeit
I n diesem Zusammenhang ist bürgerschaftliche Partizipation ebenfalls zu sehen. Partizipation an staatlichen Entscheidungen bedeutet zunächst für die persönlich Mitwirkenden selbst ein Höchstmaß an Voraussehbarkeit eben dieser Entscheidungen. Sie kann aber—und dies ist die Kehrseite — für die persönlich Außenstehenden zu einem gerade umgekehrten Effekt führen. Solche Gefahrenquellen für die Rechtsstaatlichkeit entstehen etwa dann, wenn die Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen auf eine schmale Schicht von Berufsfunktionären beschränkt bleibt, das Partizipationsverfahren unübersichtlich ist und unsachliche Motivationen zum tragen kommen können. I n allen diesen Fällen ist mit der Beteiligung weniger Außenstehender nicht nur für die Rechtsstaatlichkeit nichts gewonnen, sondern sie w i r d dadurch akut gefährdet. Zwar ist auch dann, wenn staatliche Entscheidungen allein von Organwaltern getroffen werden, wegen der Problem- und Umweltkomplexität niemals allein ein säuberlich zerlegbarer und i n allen Fasern übersehbarer Motivstrang, sondern ein komplexes Motivbündel i m Spiel. Aber dieser i n manchen Richtungen nur schwer übersichtliche, eben nicht auf ein Robotersystem denaturierbare Entscheidungsvorgang 142 kann durch gesellschaftliche M i t w i r k u n g noch unüberschaubarer und damit noch schwerer voraussehbar werden, wenn die den staatlichen Entscheidungsprozeß u m weitere Motivationen ausdehnende M i t w i r k u n g gesellschaftlicher Gruppen ungeordnet bleibt. Aus diesen Überlegungen ergeben sich beispielhafte Ordnungskriterien für die Partizipation von Gruppen und Verbänden an Entscheidungen der drei Staatsgewalten: Bei der Heranziehung von Gruppen/Verbänden können selbstverständlich nicht sämtliche Mitglieder teilnehmen, sondern nur eine begrenzte Anzahl von Vertretern. Damit die — auch als Effektivierung der Rechtssicherheit anzusehende—Verbandsmitwirkung nicht zu einer die Rechtssicherheit i n keiner Weise mehr fördernden, sondern eher beeinträchtigenden Beteiligung allein der (Spitzen-)Funktionäre herabsinkt 1 4 3 , muß diese M i t w i r k u n g verbandsintern transparent und beeinflußbar sein, satzungsmäßig vorgesehen oder zumindest faktisch für die Verbandsmit142
Vgl. §19 B. Dies ist sicherlich ein Problem der sozialstaatlichen Partizipation von Verbänden, vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 256, aber nicht n u r dieser Parxizipationsrichtung. 143
192
7. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Rechtsstaatsgebot
glieder überschaubar sein 144 . Aber gerade i n dieser Hinsicht ist die Lage bei den Gewerkschaften kritisch zu beurteilen: ihre Vertreter i n staatlichen Gremien werden durch die Satzungen nicht zur Transparenz ihrer Tätigkeit verpflichtet. Die auf den Gewerkschaftstagen und -kongressen sowie i n den Tätigkeits- und Geschäftsberichten erstatteten Rechenschaftsberichte 145 gehen zwar auch auf die Arbeit der Gewerkschaftsfunktionäre i n öffentlichrechtlichen Institutionen ein; aber angesichts der übrigen, von den Kongreßdelegierten meist für bedeutsamer erachteten Berichtsgegenstände nehmen diese Fragen kaum einen solchen Raum ein, daß von einer Transparenz gewerkschaftlicher Tätigkeit i n staatlichen Institutionen für die Delegierten oder sogar die Mitglieder gesprochen werden könnte. Sowohl i m Interesse der Außenstehenden als auch der Verbandsmitglieder muß sichergestellt sein, daß die Verbandsmitwirkung nicht zu einem nicht mehr zu entwirrenden Knäuel von Einflußnahmen jeglicher A r t auf jeglicher Ebene ausufert, sondern übersichtlich bleibt. Dazu ist ein formalisiertes Partizipationsverfahren sowie auch über die Verbandsgrenzen hinausgehende Transparenz erforderlich 146 . U m der Rechtssicherheit willen sollten i n den staatlichen Vorschriften, die eine Einbeziehung der Verbände i n die Staatswillensbildung vorsehen, nicht allein das „Ob" der M i t w i r k u n g und deren zahlenmäßige Realisierung bestimmt werden, sondern auch detailliert und enumerativ die einzelnen Mitwirkungsgegenstände sowie ein Verfahren der verbandsinternen Benennung 147 , das demokratischen Grundsätzen genügt. Der rechtsstaatliche Bestimmtheitsgrundsatz 148 w i r d hier zur entscheidenden Voraussetzung. Beispielhaft sind i n diesem Zusammenhang A r t . 36 I Bayerische Verfassung und § 5 I I I , I V Hess. RundfunkG. Diese Bestimmungen schreiben für die Besetzung der den Verbänden zugedachten Sitze i m bayerischen Senat, A r t . 35 Bayerische Verfassung, bzw. i m Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks, § 5 I I Hess. RundfunkG, ein nach demokratischen Grundsätzen geordnetes Delegationsverfahren innerhalb der Verbände vor 1 4 9 . 144 Vgl. i m näheren Th. Ellwein, Regierungssystem, S. 158 f.; Wertenbruch, Peters-Gedächtnisschrift, S. 633. 145 Vgl. etwa DGB — GB (1969 - 1971) ; 9. D G B — B K P , S. 32 ff. 146 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 220, w i l l die Koalitionen generell zur Publizität i n allen wesentlichen Entscheidungsvorgängen verpflichten (jedoch m i t anderer Begründung). 147 Th. Ellwein, Regierungssystem, S. 158. 148 Vgl. etwa Maunz-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 20, Rdnr. 91. 149 A r t . 36 I Bayerische Verfassung: „Die Senatoren werden von den zuständigen Körperschaften des öffentlichen oder privaten Rechts nach demokratischen Grundsätzen gewählt; die Vertreter der Religionsgemeinschaften werden von diesen bestimmt." § 5 I I I hess.RundfunkG: „Die Vertreter, die von den i n Absatz 2 unter den Ziffern 1 bis 8 genannten Stellen zu entsenden sind,
§ 26. Gebot der Voraussehbarkeit staatlicher Machtausübung
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Diese Ordnungskriterien sind nicht abschließend und bedürfen der Erweiterung und Vertiefung, wenn die jeweilige Wirklichkeitslage dies erfordert. Zur Zeit jedoch scheinen sie als Forderungen der Rechtssicherheit auszureichen. C. Mindestbeteiligung und Grenzen gewerkschaftlicher Beteiligung
Rechtssicherheit verlangt keine Mindestbeteiligung, w e i l Partizipation nur die Rechtsstaatlichkeit fördernde Wirkungen haben kann, ebensogut aber auch das Gegenteil bewirken kann 1 5 0 . Konkrete Partizipationsgrenzen folgen aus ihr ebensowenig; jedoch sind bestimmte Strukturprinzipien für die Heranziehung von Verbänden als Elemente der Rechtssicherheit anzusehen und damit verfassungsrechtlich zumindest erwünscht, wenn nicht zwingend notwendig. Transparenz und hinreichend bestimmtes Partizipationsverfahren sind rechtsstaatliche Kriterien für die Integration gesellschaftlicher Kräfte i n den Staatsaufbau.
müssen mittelbar oder unmittelbar v o n den Beteiligten m i t einfacher Mehrheit gewählt werden." Z u A r t . 36 I BayVerf. i m Näheren Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 184 ff. 150 Vgl. § 19 C. 13 Gießen
Achtes
Kapitel
Inhalt und Grenzen gewerkschaftlicher Beteiligung unter dem Aspekt der Sozialstaatlichkeit—Art. 20 1/28 I GG § 27. Grundsätze der Sozialstaatlichkeit
Das Sozialstaatsprinzip steht i n engem Zusammenhang mit den Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaates und ist ebenso wie diese Staatsziel- und Staatsstrukturbestimmung 1 . Es ist ein für das ganze Gemeinwesen verbindliches Prinzip, bindet also nicht allein den Staat, sondern auch den gesellschaftlichen Bereich 2 und ist damit „Homogenisierungsbestimmung zwischen Staat und Gesellschaft" 3 . Den Staat ruft es zur Gewährung sozialer Gerechtigkeit auf und schafft Garantie, Auftrag und Ermächtigung der staatlichen Organe zur aktiven Sozialgestaltung 4 , Gesellschaftsförderung und Ausgleichung gesellschaftlicher Gegensätze5, wobei der Grundsatz der sozialen Gleichheit wichtigster Maßstab ist 6 . Zielformel ist die „soziale Gerechtigkeit" 7 . § 28. Mindestbeteiligung der Gewerkschaften A. Partizipationsfolgerungen aus dem Gedanken der „sozialen Selbstverwaltung"
Die Koalitionsfreiheit, A r t . 9 I I I , zielt auf die Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips 8 . I m sachlichen Bereich der Sozialstaatlichkeit 9 1 I m Ergebnis BVerfGE 22, 180 (204); Badura, DÖV 1968, S. 446; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 191 f.; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 181, m. w. Nachw. 2 Ridder, Gewerkschaften, S. 8 ff., 18 ff., 24; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 193; Hesse, Grundzüge, § 6 I I 3 b; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 181; Hamann, Gewerkschaften, S. 21. 3 Ridder, Gewerkschaften, S. 18. 4 Vgl. dazu insbesondere Ipsen, V V D S t R L 10, S. 74 f.; ders., DÖV 1974, S. 294 f.; BVerfGE 1, 97 (105); 21, 245 (251); 22, 180 (204); BVerfG, N J W 1975, S. 1266; Hesse, Grundzüge, § 6 I I 3 b. 5 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 182, m. w. Nachw. 6 Vgl. Zacher, AöR 93, S. 341 ff.; Bachof, i n : Forsthoff, Rechtsstaatlichkeit, S. 201 (207); Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 193; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 182. 7 Vgl. etwa Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 250, m. zahlr. Nachw.; Maunz, Staatsrecht, § 11 V ; Hamann/Lenz, GG, Einf. I D 2 (S. 67). 8 BVerfGE 4, 96 (101 f., 106); 19, 303 (319); v. Münch, B K , Zweitbearb., A r t . 9, Rdnr. 113; i h m folgend Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 91, 92, 110;
§ 28. Mindestbeteiligung der Gewerkschaften
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kommt den Koalitionen eine Ordnungsfunktion zu 10 . Sie sind zu „gesellschaftspolitischer Eigenverantwortung" 1 1 aufgerufen, die durch Tarifautonomie und Arbeitskampfsystem charakterisiert wird 1 2 . Insoweit ist also der Staat zur Bereitstellung eines entsprechenden Systems verpflichtet. Darüber hinaus bezeichnet der Begriff „soziale Selbstverwaltung" kein juristisches System, sondern ist juristisch irrelevant 1 3 . Bestimmte K r i t e rien für die M i t w i r k u n g der Gewerkschaften an der Staatswillensbildung sind daher aus i h m nicht ableitbar. B. Partizipationsfolgerungen aus dem Verlust gesellschaftlicher Funktionen
Infolge der sozialen Gestaltungsfunktion des Staates gehen für die freiheitliche Selbstentfaltung des einzelnen Funktionen verloren 1 4 : er verliert die „Autonomie . . . i n seiner individuellen Daseinssicherung und Daseinsgestaltung" 15 . Dies gilt insbesondere für die Gestaltung des A r beitslebens: der Staat hat m i t der Einführung des Sozialversicherungszwanges nicht nur selbst die Verantwortung für die soziale Sicherheit übernommen, sondern regelt auch i n zunehmendem Maß den Inhalt von Arbeitsverhältnissen, wie ζ. B. den Kündigungsschutz, die wirtschaftliche Sicherung der Arbeiter i m Krankheitsfall, die Lohnfortzahlung bei Betriebsstörungen, den Mindesterholungsurlaub, den Arbeitsschutz und mit dem Mittel der Allgemeinverbindlicherklärung auch tarifvertragliche Abreden 16 . I m Rahmen seiner Sozialverantwortung ist dem Staat ein solcher Ubergriff i n die gesellschaftliche Sphäre erlaubt, Grenzen werden i h m dabei durch die verfassungsrechtlich gewährleistete Tarifautonomie, Art. 9 I I I , gesetzt 17 . Außerhalb dieses den Tarifvertragspartnern zugeGalperin, D B 1970, S. 301; Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, A n m . 8 a, aa (S. 234 f.); Rüthers, RdA 1968, S. 168, 170, 173; ders., Streik, S. 66 ff.; Hamann, Gewerkschaften, S. 44 f.; Ridder, Gewerkschaften, S. 24 ff. u n d passim; Lerche, Zentralfragen, S. 27 ff. 9 Vgl. §29 D. 10 BVerfGE 18, 18 (27) u n d § 18 D, 4 a, bb. 11 Lerche, Zentralfragen, S. 27. 12 Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 91. 13 Vgl. § 18 C 4. 14 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 189; Hesse, Grundzüge, § 6 I I 3 a. 15 Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 209, 307. 16 Vgl. die entsprechenden Arbeitsgesetze. 17 Z u r i m einzelnen strittigen u n d problematischen Abgrenzung zwischen staatl. Gesetzgebung bzw. unternehmerischer Zuständigkeit u n d T a r i f autonomie: Scholz, Koalitionsfreiheit, S.229 ff.; Biedenkopf, Grenzen, S.152 ff.; Hueck/ Nipperdey, A r b R I I / l , S. 370 f. 13*
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. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
staatsgebot
wiesenen Regelungsbereichs kann der Staat Aufgaben, die bisher von der Gesellschaft erfüllt wurden, i n eigener Verantwortung übernehmen 18 . Wenn der Staat dem Gleichheitsgebot des A r t . 3 I gerecht werdende soziale Leistungen i m weitesten Sinn gewährt, können die grundrechtlichen Freiheitsrechte i n ihrer Funktion als Abwehrrechte (status negativus) unmittelbar nicht mehr eingreifen, weil diese entweder nicht tangiert oder i n verfassungsrechtlich zulässiger Weise durch die soziale Funktion des Staates relativiert werden 19 . Zutreffend w i r d i n diesem Zusammenhang auf die nunmehr erforderliche Kompensation des gesellschaftlichen Funktionsverlustes hingewiesen 20 . Diese soll der grundrechtliche status activus herstellen 21 , der zum Ausgleich des i m status negativus eingetretenen Freiheitsverlustes imstande sei, indem er einen Anspruch auf Teilhabe an der staatlichen Sozialordnung schaffe (status activus processualis 22 ). Richtig ist, daß der status negativus diese Kompensation eingeschränkter freiheitlicher Entfaltungsmöglichkeit unmittelbar nicht bewirken kann. Dazu ist neben dem Aktivstatus die Sozialstaatsklausel heranzuziehen: die Einbuße gesellschaftlicher Funktionen ist auch unter dem Aspekt zu sehen, daß sozialstaatliche Gerechtigkeit vom Staat eine soziale Ordnung unter Beachtung menschlicher Personalität 23 , d. h. Orientierung an den Bedürfnissen des Individuums fordert. Der Staat w i r d also zur bürgergerechten Daseinsvorsorge verpflichtet 24 . Die Sozialstaatsklausel, A r t . 20 I/Art. 28 I, w i r d insofern durch das „oberste Konstitutionsprinzip" von Art. 1 I 2 5 , den „höchsten Wert der Verfassung" 26 und durch den Gleichheitsgrundsatz des A r t . 3 I ergänzt 27 . Partizipation der Bürger an der Gestaltung der Sozialordnung ist folglich dann notwendig, wenn ohne sie das Ziel bürgergerechter Daseinsvorsorge nicht realisierbar ist 2 8 . Durch den Rückgriff auf Art. 1 1 folgt der Anspruch auf Beteiligung nicht nur aus einem Aktivstatus, sondern auch 18
Vgl. § 18 D, 4 a, bb. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 190. 20 Ebd., S. 189 f.; vgl. auch Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 209, 307. 21 Vgl. insbesondere Häberle, V V D S t R L 30, S. 73, 80 ff.: der status activus sei der „Grundstatus", aus dem ein weiteres Instrumentarium zu entwickeln sei. 22 Ebd., S. 39 ff. - 55, 80 f. 23 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 251, m. w. Nachw., insbesondere BVerf.GE 26,16 (37). 24 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 208 f., 251. 25 (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 1, Rdnr. 4. 26 BVerfGE 35, 202 (221). 27 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 253; zur Beziehung Sozialstaatlichkeit— Menschenwürde vgl. Hamann, Gewerkschaften, S. 21 f.; (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 1, Rdnr. 43. 28 Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 253. 19
§ 28. Mindestbeteiligung der Gewerkschaften
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mittelbar aus dem grundrechtlichen Abwehranspruch, dem status negativus 2 9 . Die Schrumpfung gesellschaftlicher Gestaltungsräume w i r d auf diese Weise auch durch einen mittelbaren Negativstatus kompensiert. Zugleich b e w i r k t er eine Gegenrichtung gegen die sozialstaatlichen Tendenzen der Nivellierung u n d Einebnung individueller Differenziertheit, der „ V e r k ü m m e r u n g der Gleichheitsidee" 30 . Diese Betrachtung bietet gegenüber der alleinigen Heranziehung des Aktivstatus den Vorzug einer von vornherein differenzierten Lösung, während die von Scholz vorgeschlagene Kompensationsbegründung zunächst keinen Aufschluß über A r t u n d Umfang dieses „kompensatorischen Aktivstatus" geben kann. C. Kriterien gewerkschaftlicher Mindestbeteiligung im einzelnen
Die i m obigen Sinn kompensatorische Einbeziehung der Koalitionen 3 1 , insbesondere der Gewerkschaften unter sozialstaatlichen Aspekten hat gegenüber der bürgerschaftlichen M i t w i r k u n g als solcher noch eine zusätzliche Voraussetzung. Erforderlich ist eine gewerkschaftliche P a r t i zipation nämlich nicht schon dann, wenn (1) überhaupt eine bürgerschaftliche M i t w i r k u n g notwendig ist, sondern (2) diese ohne wirksame Interessenvertretung nicht das oben beschriebene Ziel erreichen kann. 1. Schutz der sozial
Schwachen
Gewerkschaftliche Beteiligung stellt sich dar als Intensivierung u n d Effektivierung bürgerschaftlicher Beteiligung und hat damit sozialstaatlich einen ähnlichen Effekt wie unter rechtsstaatlichen Aspekten 3 2 . Notwendig w i r d sie also i n der Regel bei der Ordnung von „Massenerscheinungen des sozialen Lebens" 3 3 sein. A n dieser Stelle w i r d der Zusammenhang zwischen sozialstaatlich gebotenem Schutz der sozial Schwachen 34 auf der Ebene der Grundrechtsausübung™ u n d der Heranziehung von Verbänden besonders deutlich. Der pluralistische Sozialstaat ist geradezu dazu angehalten, zum Schutz der Schwachen deren Vereinigungen von Staats wegen zur Effektivierung ihrer sozialen Belange einzusetzen, w e i l anders diese Fürsorgeaufgabe nicht oder nur unzureichend erfüllt werden kann. 29 U n k l a r Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 190, Fußn. 57; differenzierend Schmitt Glaeser, VVDStRL 31, S. 221, m. w. Nachw.: ein Grundrecht lasse sich nicht i n staatliche Verwaltung nehmen, sondern müsse i m „Bereich prinzipiell-individueller Beliebigkeit" verbleiben. 30 Schmitt Glaeser, VVDStRL 31, S. 253. 31 Ζ. B. i n der „Konzertierten A k t i o n " gem. § 3 StabilitätsG; auf dieses Beispiel verweist Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 257 f. 32 Vgl. §23. 33 BVerfGE 26,16 (37). 34 Scheuner, DÖV 1965, S. 580. 35 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 189, m. w. Nachw.
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. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d 2. Soziale
staatsgebot
Gestaltungsfunktion
Anstöße zur Weiterentwicklung der Sozialstaatlichkeit, d. h. zu einer Gesellschaftsreform, gehen vorwiegend von den sozial Schwachen aus, die ein Interesse an sozialer Veränderung haben. Gegenüber den Arbeitgebern und Kapitaleignern sind dies die abhängigen Arbeitnehmer. Als deren traditionelle Interessenvertretungen sind es also i n aller Regel die Gewerkschaften, die „etwas haben wollen" 3 6 , nicht allein von der Arbeitgeberseite, sondern auch vom Staat. Sie sind zweifellos historisch als Motor sozialer Gestaltung anzusehen 37 und erfüllen diese Funktion auch heute. Das Sozialstaatsgebot zielt materiell auf soziale Gerechtigkeit 38 und enthält damit zugleich ein evolutionäres Element 39 . Es verpflichtet zum „Offenhalten für die Evolution der Gesellschaft" 40 . Sozialstaatlichkeit verpflichtet nicht allein den Staat, sondern ist auch ein für den gesellschaftlichen Bereich verbindliches Prinzip 4 1 , insbesondere wenn Aufgaben m i t öffentlicher Bedeutung wahrgenommen werden 42 . Da die Anstöße zur sozialen Evolution i m Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen i n besonderer Weise von den Koalitionen, namentlich den Gewerkschaften, ausgehen, hat der Verfassungsgeber ihre M i t w i r k u n g bei der Wahrung und Förderung der Arbeits- und W i r t schaftsbedingungen i n A r t . 9 I I I garantiert und der Gesetzgeber die tarifliche Normsetzung an sie delegiert 43 . Einmal vom Staat ermächtigt sind die Koalitionen nunmehr auch i n Pflicht genommen mit der Folge, daß die Pflicht des Staates zu sozialer Evolution insoweit auf sie übergeht. Für die Gewerkschaften bedeutet dies: nicht nur Tradition und Selbstverständnis, sondern auch das GG verpflichten sie i n A r t . 20/28 zu sozialer Gestaltung mit dem Ziel sozialer Gerechtigkeit 44 . Auch i n A r t . 9 I I I kommt diese Pflicht durch den Begriff „Förderung" der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zum Ausdruck. Ob aus der Verpflichtung zu sozialer Evolution die rechtliche Folgerung abgeleitet werden kann, die Verbände — insbesondere die nicht auf 36
Ridder, Gewerkschaften, S. 33. Vgl. Hamann, Gewerkschaften, S. 24; Reuß, RdA 1968, S. 412; Hamann/ Lenz, GG, A r t . 9, A n m . 8 a, aa (233 f.), 8 d (240), 10 (243), 11 (244); vgl. § 6 A . 38 Vgl. § 28 A , Fußn. 7. 39 Hamann, Gewerkschaften, S. 20 ff.; Hamann/Lenz, GG, Einf. I D 2 Nr. 5 (S. 67). 40 Maihofer, i n : Rechtsstaat — Sozialstaat, S. 25. 41 Vgl. § 27, Fußn. 2. 42 Hamann, Gewerkschaften, S. 23, 25, 50 ff. 43 Vgl. § 18 C, 3 a. 44 Hamann, Gewerkschaften, S. 25, 50 ff.; Lenz, i n : Gesellschaft, Recht u n d Politik, S. 208 ff. 37
§ 29. K r i t e r i e n für die Begrenzung gewerkschaftlicher Beteiligung
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soziale Evolution angelegten — zur Sicherung dieser Pflicht einer staatlichen Aufsicht zu unterstellen 45 , erscheint äußerst fragwürdig. Denn der Begriff der sozialen Gerechtigkeit und Evolution ist zu unbestimmt — nur durch abstrakte Kriterien definiert —, u m ihn zum Gegenstand einer staatlichen Aufsicht zu machen. Unter dem Aspekt der Sozialstaatlichkeit ist eine inhaltliche Überwachung der Koalitionen ebenso bedenklich wie unter Berufung auf eine „Pflicht zur sozialen Selbstverantwortung", der nach Ansicht von Bulla 4 6 die Koalitionen rechtlich unterliegen sollen. (Ein Verstoß dagegen — etwa durch übersetzte gewerkschaftliche Lohnforderungen — führe dazu, daß ein sich anschließender Streik nicht mehr sozial adäquat sei und damit rechtswidrig werde 47 .) Der Staat könnte zwar die durch das TVG delegierte tarifvertragliche Rechtsetzungsbefugnis beschränken oder den Koalitionen sogar entziehen 48 , ihnen nicht aber etwa unter Verweis auf sozialstaatliche Erfordernisse bestimmte Verhaltensweisen diktieren. 3.
Folgerung
Sozialgerechte Gestaltungsinitiativen des Staates sind ohne die sozialstaatliche Sachnähe der Gewerkschaften schlechterdings nicht denkbar. I m sachlichen Anwendungsbereich der Sozialstaatlichkeit ist also die gewerkschaftliche Einflußnahme auf die staatliche Willensbildung notwendig 4 9 . Daher erfordert Sozialstaatlichkeit die Beteiligung der Gewerkschaften schon i m Stadium der Gesetzesvorbereitung und Gesetzgebung 50 , ebenfalls auf der Ebene der Verwaltung und Rechtsprechung, soweit sozialpolitische Gegenstände tangiert werden. Dies ist Inhalt sozialstaatlicher Partizipation; sie bedeutet, daß die Gewerkschaften dort m i t w i r k e n müssen, wo es dem einzelnen kaum oder gar nicht möglich ist. § 29. K r i t e r i e n für die Begrenzung gewerkschaftlicher Beteiligung A. Bürgergerechte Daseinsvorsorge
Aus der Aufgabe des Sozialstaates, die Schwachen zu schützen, folgt einerseits, Interessenvertretungen eben dieser sozial Schwachen zur 45 Dies schlägt Hamann, Gewerkschaften, S. 25, i n Anlehnung an Abendroth, Die deutschen Gewerkschaften, S. 99 ff., vor. 46 Soziale Selbstverwaltung, S. 83 ff., 89 ff. 47 Ebd., S. 96 ff. 48 Vgl. § 18 C, 3 a; B A G E 4, 240 (251). 49 Hamann, Gewerkschaften, S. 32; grundsätzlich gegen ein verfassungsrechtliches Mitwirkungsgebot Weber, Sozialpartner, S. 255; u n k l a r Scheuner, DÖV 1965, S. 579. 50 Partizipation muß möglichst f r ü h einsetzen, w e n n es noch etwas zu entscheiden gibt, vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 239, m. w. Nachw., 249.
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. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
staatsgebot
Wahrnehmung von Schutzfunktionen nicht allein zuzulassen, sondern auch i n die Staatswillensbildung einzubeziehen. Andererseits besteht die sozialstaatliche Aufgabe darin, die nicht durch solche Interessenverbände vertretenen Bürger diesen nicht schutzlos auszuliefern 51 , also vor allem i m Schutz der sozial schwachen Außenseiter. Aus dieser Funktion des Staates erwächst die Pflicht, den Wirkungskreis der Verbände zu ordnen 52 , d. h. abzugrenzen. Daher muß die gewerkschaftliche Partizipation an der Staatswillensbildung immer dann zurücktreten, wenn damit das sozialstaatliche Ziel der Intensivierung und Effektivierung bürgergerechter Daseinsvorsorge eher gefährdet als gefördert wird. Bei der Regelung genereller Fragen gleichmäßiger Lebenssachverhalte ist individuelle Partizipation wenig effektiv, sie würde zersplittert werden. Dies ist vielmehr der Bereich legitimer gewerkschaftlicher Partizipation als Verbandsbeteiligung, denn auf diese Weise können gleichförmige Sachverhalte durch Faktensammlung, die von den Verbänden vorgenommen wird, aufgeklärt und damit letzten Endes bürgergerecht gestaltet werden. Geht es dagegen allein um individuelle Belange — etwa um die konkrete Höhe eines Krankengeldes — ist institutionalisierte verbandsmäßige Partizipation nicht mehr nötig. Hier muß der betroffene Bürger selbst seine Belange unmittelbar wahrnehmen 53 . Verbandspartizipation auch i n diesem engeren Individualbereich würde individuelle Selbstverantwortung und -gestaltung selbst dort verdrängen, wo sie nötig und auch möglich ist. Dies wäre nicht nur sozialstaatswidrig, sondern die generelle Unterstellung des einzelnen unter die „Fittiche" einer Verbandsmacht verstieße zudem gegen das demokratische Erfordernis, Eigeninitiative so weit wie möglich zu fördern 54 . Ohne Frage kann sich der einzelne der Hilfe seiner Gewerkschaft bedienen, von ihr Rat und Auskunft einholen und sie mit seiner Vertretung beauftragen, insbesondere wenn er allein nicht i n der Lage ist, seine Belange empirisch zu untermauern. Dies aber ist keine institutionelle Verbandspartizipation. Zwar hat eine Vielzahl gleichgerichteter individueller Belange generelle Bedeutung, jedoch folgt daraus nicht, daß deshalb gewerkschaftliche Partizipation bereits bei Wahrnehmung der individuellen Belange ein51
Vgl. § 23 B ; s. auch Schmidt, V V D S t R L 33, S. 188 ff.; Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 228. 52 Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 293 f.; i m Ergebnis ebenso Löwenstein, Verfassungslehre, S. 414 f. 53 Vgl. Schmitt Glaeser, DÖV 1974, S. 157; s. §§ 23 B, 24 A . 54 Vgl. §19 A .
§ 29. K r i t e r i e n f ü r die Begrenzung gewerkschaftlicher Beteiligung
201
setzen muß. Denn die Regelung genereller Belange erfolgt m i t generellen Maßnahmen, an denen die Gewerkschaften — wie oben ausgeführt — beteiligt werden können. Auch allein ein gewerkschaftliches Informationsinteresse an den geltend gemachten individuellen Interessen erfordert keine Verbandspartizipation, w e i l dieses gewerkschaftliche Interesse auf verbandsdemokratischem Weg befriedigt werden kann: nämlich durch Information und Willensbildung von unten nach oben, von den Mitgliedern zu den Funktionsträgern. Ein Partizipationsgebot für die Gewerkschaften besteht also dann nicht, wenn es vorwiegend oder allein um die Wahrnehmung individueller Interessen geht. I m engsten Individualbereich, der Intimsphäre, ist von einem Verbot der Gruppenpartizipation auszugehen 55 , w e i l durch sie die individuell-soziale Interessenwahrnehmung i m Intimbereich nur gefährdet, niemals gefördert werden kann. B. Die verbandsinterne Willensbildung
Da nicht die sozialen Interessen der an staatlichen Entscheidungen m i t wirkenden Gewerkschaftsvertreter geschützt und gefördert werden sollen, sondern i n erster Linie die der durch sie vertretenen Gewerkschaftsmitglieder, erfordert die dem Sozialstaatsgebot genügende Partizipation eine demokratische Binnenstruktur 5 6 . Es muß sichergestellt sein, daß diese über besondere staatliche Einflußnahme verfügenden Gewerkschaftsfunktionäre auch tatsächlich Sprachrohr ihrer Mitgliedschaft sind und nicht allein für eine begrenzte Mitgliederschicht oder den Funktionärsapparat sprechen. Zweifellos sind die Gewerkschaftsorgane binnendemokratisch legitimiert, so daß die von ihnen i n staatliche Entscheidungs- bzw. Beratungsgremien entsandten Funktionäre an dieser Legitimation teilhaben. Jedoch erscheint die Legitimationskette von den Mitgliederversammlungen und Vertreterversammlungen zu den Delegierten der Kongresse und Gewerkschaftstage über die von diesen gewählten Vorstände und Ausschüsse bis zu den Gewerkschaftsvertretern i n staatlichen Gremien angesichts der Bedeutung dieser Aufgabe zu lang, auch dann, wenn Partizipanden an staatlichen Entscheidungen zugleich 55 Vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 254 f.; ders., DÖV 1974, S. 157; Ridder, Gewerkschaften, S. 28; Schmidt, V V D S t R L 33, S. 208 f. 56 Vgl. dazu Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 114 f., 144; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, § 7 I I I 4; Pirker, Blinde Macht I, S. 311 f.; i n f o r m a t i v die U n tersuchung von Gewerkschaftssatzungen von Hanau/Stindt, Der Staat 1971, S. 539 ff.; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 256 f., 304.; Maurer, ebd., S. 293; Dagtoglou, DVB1. 1972, S. 716 f.; zur Herleitung einer demokratischen Binnenstruktur aus dem Sozialstaatsprinzip insbesondere Ridder, Gewerkschaften, S. 19, 29, 43; Föhr, Willensbildung, S. 123 ff.; ders., N J W 1975, S. 618 if., leitet das Erfordernis verbandsinterner Demokratie aus A r t . 21 I 3 GG ab, a. A . Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 174 ff.; s. auch § 37 C.
202
. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
staatsgebot
demokratisch gewählte Vorstandsmitglieder sind. Denn bei diesen Wahlen werden Personen als Vorstandsmitglieder, nicht als Partizipationsträger gewählt. Die letzte Funktion hat m i t der ersten nichts zu tun. Verfassungsrechtlich erwünscht wäre daher eine Verkürzung dieser Legitimationskette dahingehend, daß diese Gewerkschaftsvertreter ebenso wie die Vorstandsmitglieder durch Delegierten- oder Mitgliederversammlungen zu wählen wären 5 7 . Dieser Problemkreis ist nicht allein eine gewerkschaftseigene Angelegenheit, die ausschließlich gewerkschaftlicher Souveränität unterliegt 5 8 . Es handelt sich vielmehr u m eine allgemein interessierende Frage, da die Gewerkschaften nicht auf sich selbst beschränkt werden, sondern Eingang i n die Staatswillensbildung finden. Ansätze zu solchen Regelungen finden sich i n A r t . 36 I Bayerische Verfassung und § 5 I I I Hess. RundfunkG für die Entsendung von Verbandsvertretern i n den bayerischen Senat bzw. den Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks 59 . C. Sozialstaatliche Funktionen des Gesetzgebers
Ein weiteres Beteiligungskriterium ergibt sich aus dem Sozialstaatsgebot i n Verbindung m i t dem Demokratiegebot. Soweit sozialpolitische staatliche Entscheidungen grundlegende politische Tragweite haben, ist dies i n erster Linie Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. I n diesen Fällen findet gewerkschaftliche M i t w i r k u n g dort ihre Grenzen, wo die Entscheidungsprärogative des Parlaments bedroht wird. Sozialpolitische Akzente und Richtungsanweisungen müssen vom Gesetzgeber gesetzt werden, wobei Beratung durch die Verbände zweifellos möglich bleibt. D. Sozialstaatliche Sachbereiche
Eine bestimmte gegenständliche Begrenzung folgt aus dem Sozialstaatsprinzip nicht. Auch eine gewerkschaftliche Beteiligung an der Regelung von Sachgebieten jenseits staatlicher Daseinsvorsorge würde nicht gegen das Sozialstaatsprinzip verstoßen. Es sagt dazu nichts aus. Andererseits läßt sich aus der vom Sozialstaatsprinzip geforderten M i n destbeteiligung der Gewerkschaften i m sachlichen Anwendungsbereich der Sozialstaatlichkeit nicht folgern, daß die Gewerkschaften nunmehr auch bei allen politischen Fragen zu beteiligen wären, da soziale Evolution ohne politische Gesamtkonzeption nicht denkbar sei und Sozialpolitik i n äußerst engem Zusammenhang mit allen übrigen Bereichen stehe. Dieser Beziehungszusammenhang mag angesichts der Interdepen57
s. o. das ähnliche Problem für die Transparenz, § 26 B. Wie dies Vetter, 9. D G B — B K P , S. 7, 155, kategorisch bei der Bestimmung des gewerkschaftlichen Aufgabenbereiches feststellt, vgl. § 6 C 1. 30 Vgl. §26 C. 58
§ 29. K r i t e r i e n für die Begrenzung gewerkschaftlicher Beteiligung
203
denz politischer Entscheidungen verschiedener A r t und verschiedenen Inhalts zutreffend sein 80 . Unter dem Aspekt „Sozialstaatlichkeit" sind zwar nicht nur — was die geregelte Rechtsmaterie angeht — sozialrechtliche Aufgaben des Staates zu verstehen 61 , aber sozialstaatliche Partizipation soll Ausgleich für die verlorene Autonomie des einzelnen i n seiner individuellen Daseinssicherung und Daseinsgestaltung sein 62 . Dazu zählen vor allem arbeits-, sozial- und wirtschaftspolitische Sachgebiete, aber auch bildungs- und kulturpolitische Gegenstände. Auch und insbesondere Fragen des Umweltschutzes sind i n diesem Zusammenhang zu nennen 63 : Die Umweltschutzdiskussion 64 bietet ein anschauliches Beispiel dafür, i n welchem Maße ein bisher vorwiegend der gesellschaftlichen Initiative unterworfener Komplex der Daseinsgestaltung zur dringenden Staatsaufgabe werden kann. Da i n diesem Bereich die gruppenmäßige Partizipation individuelle Interessenlagen verstärken und intensivieren kann, ist die gewerkschaftliche Beteiligung bei Fragen des Umweltschutzes aus sozialstaatlichen Gründen begrüßenswert. Sachgebiete etwa der Innenpolitik aber (ζ. B. Notstandsgesetzgebung) können selbst bei extensivster Auslegung der Sozialstaatlichkeit 65 ebensowenig zum legitimen gewerkschaftlichen Partizipationsbereich gehören wie Angelegenheiten der Außenpolitik oder Verteidigungspolitik. Denn dabei geht es nicht u m ehemals gesellschaftliche Bereiche, für die ein Partizipationsausgleich erforderlich wäre. Die Untersuchung zeigt, daß eine Ableitung konkreter inhaltlicher Gestaltungspflichten der Verbände, namentlich der Gewerkschaften aus dem Sozialstaatsprinzip nicht möglich ist. Wohl aber trifft diese Staatszielbestimmung einer Aussage über die verfassungsrechtliche Rolle der Verbände, insbesondere bei ihrer Beteiligung an der Staatswillensbildung. Es ist also nicht allein — wie Werner Weber meint 6 6 — der Grundrechtsteil, der Aussagen über die Verbände macht. Dies zeigte sich bereits bei den Untersuchungen zum Demokratiegebot und zur Rechtsstaatlichkeit und w i r d an dieser Stelle erneut bestätigt. 60
Vgl. §§ 19 B, 24 A . Hamann/Lenz, GG, A r t . 20, A n m . Β 3 b 1 (S. 341). 62 Vgl. § 28 B. 63 Vgl. zu den gerade i n diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen der Partizipation von Bürgerinitiativen die Referate von Schmidt u. Bartelsperger, V V D S t R L 33, S. 183 ff., 221 ff. 64 Vgl. etwa das Berliner Programm der CDU, Nr. 126 ff.; Sozialdemokratische Perspektiven, 21. 3.1968 (Flechtheim, Dokumente, S. 61 f., 183). 65 Selbst Hamann, Gewerkschaften, S. 10, 32, geht trotz weiter Auslegung des Begriffs „Sozialstaat" bei der Bestimmung des legitimen gewerkschaftlichen Einflusses nicht über den Bereich spezifisch arbeitsrechtlicher u n d allgemeiner sozialer Aufgaben hinaus. 66 Sozialpartner, S. 242. 61
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8. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d Sozialstaatsgebot
§ 30. Anwendung der Begrenzungskriterien A. Gesetzgebung
Sozialstaatlich geboten ist die Mitarbeit der Gewerkschaften bei sozialpolitischen Gesetzesvorhaben. Anhörung und Beratung sind die adäquaten Beteiligungsformen auf der Ebene des Gesetzgebers. B. Regierung und Verwaltung
A n der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit i n sozialpolitischen Fragen sind die Gewerkschaften zunächst an allen generellen Regelungen durch die Verwaltung zu beteiligen. Denn diese typisierende und generalisierende Tätigkeit verschafft gerade allgemeinen, kollektiven Aspekten Geltung und steht daher einer Einflußnahme durch kollektive Einheiten wie den Gewerkschaften i n besonderer Weise offen. Sozialstaatlich geboten ist zumindest eine Beratung, nicht nur Anhörung, weil nur auf diese Weise die von den Gewerkschaften eingebrachten Motive in vollem Umfang zum Tragen kommen können. Über die Stärke dieser M i t wirkungsposition allerdings sagt das Sozialstaatsprinzip nichts aus. Sie w i r d vielmehr durch das Demokratiegebot und dessen Konsequenzen für die Verwaltung bestimmt 6 7 . Soweit die Verwaltung dagegen Einzelmaßnahmen trifft, erfordert das Sozialstaatsprinzip die M i t w i r k u n g der betroffenen einzelnen, u m das Ziel bürgergerechter, d. h. individueller Daseinsvorsorge zu realisieren, nicht dagegen die M i t w i r k u n g von Gruppenvertretern. Freilich w i r d deren Teilnahme durch das Sozialstaatsprinzip auch nicht ausgeschlossen. Sie ist neben der Einbeziehung des einzelnen Bürgers weiterhin möglich. Unzulässig w i r d sie nur dann, wenn dadurch das individuelle Sozialinteresse zugunsten kollektiver Belange zurückgedrängt wird, auch und insbesondere bei solchen Einzelmaßnahmen, die die Intimsphäre des Bürgers tangieren 68 (ζ. B. Krankheitsfürsorge). Gerade i n diesem Grenzbereich wäre eine Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen, also von außerhalb der Verwaltung stehenden Personen, die nicht i m gleichen Maß wie Beamte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes strengen Pflichten zum Schutz der Bürger (etwa Schweigepflichten, § 39 BRRG) unterworfen werden können, äußerst bedenklich. A n dieser Stelle w i r d erneut deutlich, daß der Staat nicht immer als potentielle Bedrohung der individuellen Intimsphäre anzusehen ist, sondern durchaus auch ihrem Schutz dienen kann. Relevant w i r d dies insbesondere bei Einzelmaßnahmen gegenüber dem nichtorganisierten Bürger. Er würde i n einen verfassungsrechtlich unzulässigen Konflikt gestürzt, sollten etwa bei der Be67
Vgl. § 18 D, 4 b, 4 c; § 19 E; § 20 C; § 21 B. «8 Vgl. §29 A.
§31. Zusammenfassung
205
handlung seines Antrags auf bestimmte soziale Leistungen Vertreter von Gewerkschaften m i t w i r k e n , denen er nicht beitreten wollte. Eine halbparitätische Mitentscheidung der Gewerkschaften an der Leitung u n d Kontrolle der Bundespost 69 kann m i t sozialstaatlichen A r g u menten nicht begründet werden: Weder handelt es sich dabei u m typische Gegenstände, die zum sachlichen Anwendungsbereich der Sozialstaatlichkeit gehören, noch kann eine solche M i t w i r k u n g m i t dem Gedanken der Kompensation gesellschaftlichen Funktionsverlustes gerechtfertigt werden, w e i l Postaufgaben seit jeher zu den Funktionen des modernen Staates zählen. C. Rechtsprechung
Die M i t w i r k u n g von Vertretern der Gewerkschaften u n d der A r b e i t geberverbände an der Rechtsprechung der Sozial- und Arbeitsgerichte ist weitere Folge des Sozialstaatsprinzips. A n sich stößt die Beteiligung von Verbänden an Einzelfallentscheidungen auf grundsätzliche Bedenken. Denn individuelle Belange, insbesondere die Intimsphäre, sind vor Eingriffen der Verbände zu schützen. Die Praxis zeigt jedoch, daß die Verbandsbeteiligung an den Entscheidungen dieser Gerichte keine Gefahr für die individuelle Freiheit darstellt. Vielmehr kann sie die Realisierung privater Rechte etwa dann begünstigen, wenn zur Untermauerung des Anspruchs eine umfangreiche empirische Datensammlung erforderlich ist, die gerade die Verbände sachkundig bereitstellen können. Sollte von den Arbeits- oder Sozialrichtern, die einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband angehören, i m Einzelfall eine Gefährdung des I n d i vidualbereichs ausgehen, können diese ebenso w i e die Berufsrichter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, § 49 ArbGG, § 60 SGG i. V. m. § 42 ZPO. § 3 1 . Zusammenfassung
Die gewerkschaftliche Beteiligung am Prozeß der Staatswillensbildung ist verfassungsrechtlich zu prüfen am Demokratiegebot, der Rechtsstaatlichkeit u n d der Sozialstaatlichkeit. Unter dem Aspekt demokratischer Legitimation staatlicher Machtausübung, A r t . 20 I I Satz 1, w i r d die gewerkschaftliche M i t w i r k u n g nicht relevant: sie kann weder einen Legitimationsgrund schaffen noch einen bestehenden verstärken. Der Gedanke der „Repräsentation organisierter Interessen" würde — falls man i h n nicht schon m i t der Begründung v e r w i r f t , daß Interessen nicht repräsentationsfähig sind — allenfalls unter der Voraussetzung zu einem anderen Ergebnis führen, daß den Koalitionen originäre Recht69
Vgl. § 18 D, 4 b; § 19 E; § 24 C; § 25 B.
206
. Kap.: Gewerkschaftliche Beteiligung u n d
staatsgebot
setzungsmacht zukäme. Die Tarif autonomie ist jedoch nicht originär, sondern abgeleitet. Der Aspekt demokratischer Legitimation w i r f t vielmehr das Problem auf, wie die vom Volk zu den Staatsgewalten verlaufende Legitimationskette vor einer Abschwächung oder Unterbrechung durch das Einwirken von politisch mächtigen Wirkungseinheiten wie den Gewerkschaften auf die Staatswillensbildung geschützt werden kann. Als M i t t e l bietet sich eine gegenständliche und personelle Beschränkung an: danach ist gewerkschaftliche Beteiligung an arbeits- und wirtschaftspolitischen Sachgebieten möglich, die typische Mitgliederinteressen berühren. Ohne eine solche Beschränkung verstärken sich die demokratiebedrohenden, ständestaatlichen Tendenzen, die in der Praxis anzutreffen sind. Aus der Aufgabe der Erhaltung demokratischer Legitimation folgt als dritte Beschränkungsform eine organisatorische Begrenzung: Den staatlichen Entscheidungsträgern und nicht den mitwirkenden gesellschaftlichen Kräften gebührt der rechtliche und faktische Vorrang innerhalb der Staatswillensbildung. Verfassungsrechtliche Bedenken erheben sich i n diesem Zusammenhang gegen die Zusammensetzung der Arbeits- und Sozialgerichte sowie gegen die geplante neue Postverfassung. Bestätigt w i r d dieses Ergebnis durch weitere Elemente des Demokratiegebots. Während das Prinzip demokratischer Öffentlichkeit erfordert, daß gewerkschaftliche Beteiligung überschaubar, d. h. aber begrenzt ist, ohne dafür konkrete Anhaltspunkte geben zu können, sind diese aus dem Prinzip der Sachlichkeit und gesellschaftlichen Initiative ableitbar und stimmen m i t der oben entwickelten gegenständlichen und personell zu ziehenden Begrenzungen überein. Da Grundrechte allein Geltung haben für die Willensbildung des Volkes und nicht für die Staatswillensbildung, können sie Ansprüche auf bestimmte M i t w i r k u n g an diesem Prozeß nicht begründen. Vielmehr ergeben sich aus Art. 5 I und Art. 5 I I I Grenzen für die Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte i n die Rundfunkanstalten und Universitäten. Die vom Rechtsstaatsprinzip gebotene M i t w i r k u n g von Betroffenen bedeutet für die Gewerkschaften, daß sie allein i n arbeits- und w i r t schaftspolitischen Angelegenheiten m i t unmittelbarem Bezug zu typischen Arbeitnehmerinteressen als Betroffene i n Betracht kommen. Eine weitere Konkretisierung ergibt sich daraus, daß die Gewerkschaften zurücktreten müssen, wo nicht kollektive, sondern individuelle Betroffenheit i m Vordergrund steht.
§ 31. Zusammenfassung
207
Die zur Rechtsstaatlichkeit zählende Gewaltenteilung, A r t . 20 I I Satz 2, erfordert, daß die weitere Integration von Verbänden i n den Staat dort ihre Grenzen findet, wo dies zu einer allmählichen „Vergesellschaftung" des Staates oder zur Etablierung einer quasi „vierten", d. h. gesellschaftlichen Gewalt führen würde. Es entsteht die Gefahr, daß politisch mächtige Wirkungseinheiten aufgrund zunehmender Akkumulation staatlicher und gesellschaftlicher Macht nicht nur ein „Staat i m Staate", ein „Ersatzstaat" werden, sondern — dieses Stadium überspringend — zum „eigentlichen Staat" emporwachsen, indem sie die konstitutive Staatlichkeit gleichsam kassieren. Andererseits kann die Einbeziehung gesellschaftlicher Machteinheiten i n den Staatsapparat die Funktion der Gewaltenteilung, nämlich Machtbegrenzungen und -kontrolle fördern, jedoch nur dann, wenn die Macht dieser Wirkungseinheiten wie der Gewerkschaften ihrerseits sinnvoll — etwa durch demokratische Binnenstruktur — begrenzt wird, d. h. wenn der Prozeß der Machtakkumulation einer vernünftigen Schranke unterworfen wird. Über deren konkrete Ausgestaltung freilich gibt die Gewaltenteilung keinen Aufschluß. Ein ähnliches Ergebnis folgt aus der rechtsstaatlichen Komponente des Öffentlichkeitsprinzips, der Voraussehbarkeit und Vorausberechenbarkeit staatlicher Machtausübung. Das weitere Staatsformmerkmal der Sozialstaatlichkeit, A r t . 20 1/28 I, erfordert die staatliche Einbeziehung der Gewerkschaften bei der Regelung von Massenerscheinungen des sozialen Lebens, da die Gewerkschaften i n besonderem Maße auf soziale Weiterentwicklung eingestellt sind. Geht es dagegen um individuell soziale Belange, insbesondere auch von Nichtorganisierten, scheidet eine gewerkschaftliche Beteiligung aus. Schließlich folgt aus dieser sozialstaatlichen Institutionalisierung gewerkschaftlichen Einflusses, daß die Gewerkschaften demokratisch organisiert sein müssen. Die moderne Tendenz der Gewerkschaften, einen Anspruch auf Totalrepräsentanz in zwei Richtungen zu erheben, nämlich auf Repräsentanz aller Arbeitnehmer und ihrer Familien und auf Repräsentanz i n allen Sachbereichen, kann i n den Prozeß der Staatswillensbildung keinen Eingang finden; hier sind sie auf bestimmte Partizipationsinhalte und -formen beschränkt.
DRITTER TEIL
D i e M i t w i r k u n g der Gewerkschaften am Prozeß der Volkswillensbildung Neuntes
Kapitel
Grenzen der gewerkschaftlichen Meinungsfreiheit im betrieblichen und überbetrieblichen Bereich § 32. Allgemeines: Grundrechte u n d Gewerkschaftspartizipation
Die durch die Grundrechte gewährleistete offene und pluralistische Gesellschaft 1 ist der Bereich der individuellen bzw. kollektiven Beliebigkeit 2 . Dem Volksbefragungsurteil des BVerfG zufolge 3 ist die Willensbildung des Volkes i m Gegensatz zu der des Staates „ungeregelt" 4 . Wegen seiner Offenheit kann der gesellschaftliche Willensbildungsprozeß nicht unmittelbar den gleichen Konstitutionsprinzipien unterstellt werden, die für den Bereich der Staatswillensbildung gelten 5 . Die für diese entwickelten Kriterien der Einbeziehung der Gewerkschaften können daher nicht direkt für die Betätigung der Gewerkschaften i m Rahmen der Volkswillensbildung herangezogen werden. Die Teilnahme der Gewerkschaften an der Volkswillensbildung, insbesondere die gewerkschaftliche Öffentlichkeitsarbeit, ist daher an den Grundrechten zu messen. Ob i n diesem Zusammenhang für gewerkschaftliche Meinungsäußerungen ähnliche Beschränkungen eingreifen wie für die Partizipation der Gewerkschaften an der Staatswillensbildung, soll die weitere Untersuchung zeigen, die zunächst auf den betrieblichen und überbetrieblichen Unternehmensbereich eingeht, u m sich danach der übrigen gesellschaftlichen Sphäre zuzuwenden. 1 2 3 4 5
Vgl. § 17 A . Vgl. §16 A . BVerfGE 8, 104. S.115. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 192 f.
14 Gießen
210
9. Kap.: Gewerkschaften i m betrieblichen u. überbetriebl. Bereich § 33. D i e bestehende gesetzliche Rechtslage A. Der betriebliche Bereich
Das BetrVG normiert zwar ein Zutrittsrecht der Gewerkschaften zu den Betrieben, § 2 I I BetrVG, regelt aber nicht ausdrücklich die Frage, i n welchem Umfang den Gewerkschaften dabei die Freiheit zur Meinungsäußerung zukommt. Weiterhin werden gewerkschaftliche Mitwirkungsrechte normiert, die sich jedoch auf betriebliche Fragen beschränken 6 . Sieht man i n diesem Zusammenhang die Regelung der §§ 45, 76 I I BetrVG, wonach den Betriebs« und Abteilungsversammlungen bzw. dem Betriebsrat und dem Arbeitgeber die Behandlung von tarifpolitischen, sozialpolitischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten m i t betriebsspezifischem Bezug, nicht aber parteipolitische Angelegenheiten gestattet werden 7 , w i r d an dieser Gesetzessystematik der Wille des Gesetzgebers deutlich, nicht betrieblich bezogene politische Gegenstände i m Interesse des Betriebsfriedens aus den Betrieben fernzuhalten 8 . Dieses Fernhalten der Parteien von den Betrieben würde sinnlos, wenn nunmehr die Gewerkschaften allgemeinpolitische Themen ohne spezifischen Bezug zu betrieblichen Arbeitnehmerinteressen i n die innerbetriebliche Diskussion einbringen könnten. Die Auslegung von § 2 I I BetrVG ergibt also, daß das Zugangsrecht der Gewerkschaften zur Wahrnehmung der i m Betriebsverfassungsgesetz genannten Aufgaben und Befugnisse die Äußerung allgemeiner, nicht betriebsbezogener Meinungen nicht umf aßt 9 . Diese gegenständliche Begrenzung der gewerkschaftlichen Tätigkeit w i r d auch von der Rechtsprechung des BVerfG sowie des B A G festgestellt 10 . Danach w i r d das Zugangsrecht durch § 2 I I BetrVG inhaltlich begrenzt und insoweit gewährt, als es zur Wahrnehmung von Funktionen ausgeübt werden soll, die m i t dem BetrVG innerlich zusammenhängen und einem berechtigten Interesse der Gewerkschaften dienen 11 . B. Der überbetriebliche Bereich
I n den nach den Bestimmungen des BetrVG und MitbestG besetzten Aufsichtsräten 12 stellt sich das Problem der Begrenzung gewerkschaft6
Vgl. § 4, Tabellen 1 u n d 4. Vgl. Fitting/Auffahrt, BetrVG, § 74, Rdnr. 8 - 10. 8 Ebd., § 74, Rdnr. 10; Frauenkorn, BetrVG, § 45, Nr. 5, § 74, Nr. 10; E r d mann/ Jürging/Kammann, BetrVG, § 45, Rdnr. 2, 6,10. 9 Vgl. Fitting/Auffahrt, BetrVG, § 2, Rdnr. 17; Erdmann/Jürging/Kammann, BetrVG, § 2, Rdnr. 7; i m Ergebnis Thiele, B B 1973, S. 3 f. 10 BVerfGE 19, 303; 28, 295; B A G A P Nr. 10 zu A r t . 9 B l a t t 456; B A G , N J W 1973, S. 2222. 11 B A G , N J W 1973, S. 2222 = JZ 1974, S. 454, m i t kritischer A n m e r k u n g von Schwerdtner. 12 §§ 76, 77 B e t r V G 1952; §§ 3 if. MitbestG. 7
§34. Verfassungsrechtliche Überprüfung der gesetzl. Rechtslage
211
licher Meinungsäußerung weder rechtlich noch faktisch: Denn die Gewerkschaften haben kaum ein Interesse daran, den Aufsichtsratsmitgliedern gegenüber politische Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Da die Aufgaben des Aufsichtsrates i n der Gesellschaft (AG, GmbH) gesetzlich bestimmt sind, kommt dieses Gremium als mögliches Instrument politischer Meinungsäußerung der Gewerkschaften gegenüber den Belegschaften nicht i n Betracht. § 34. Verfassungsrechtliche Uberprüfung der gesetzlichen Rechtslage
Die weitere Frage besteht darin, ob eine solche Beschränkung gewerkschaftlicher Äußerungen i n den Betrieben auf spezifische Arbeitnehmerfragen, auf Stellungnahmen arbeits- und wirtschaftspolitischer A r t m i t unmittelbarem Bezug zu Arbeitnehmerinteressen verfassungsgemäß ist. Bei dieser Untersuchung ist die verfassungsrechtliche Problematik der Mitbestimmung 1 3 — insbesondere i m Hinblick auf A r t . 14 und 9 I I I GG — auszuklammern, weil es nicht u m Mitbestimmung, sondern allein u m Meinungsäußerung geht. Die i n diesem Fall i n Betracht kommenden Grundrechte sind die des A r t . 5 I und Art. 9 I I I GG. Dabei wird, obwohl es sich u m das privatrechtliche Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber auf betrieblicher Basis handelt, die Drittwirkungsproblematik nicht relevant, weil der Gesetzgeber m i t dem BetrVG eine i n die Rechtssphäre Privater eingreifende Regelung vorgenommen hat. A. Die Koalitionsfreiheit — Art. 9 I I I GG
Nach h L und Rechtsprechung 14 schützt A r t . 9 I I I nicht nur die individuelle Koalitionsfreiheit, sondern auch die Existenz der Koalitionen und 13 Kunze, RdA 1972, S. 257 ff.; Schwerdtfeger, Mitbestimmung, passim; Z ö l l ner, R d A 1969, S. 65 ff.; Zöllner/Seiter, Z f A 1970, S. 97 ff.; Bericht der M i t bestimmungskommission („Biedenkopfkommission"), BT-Drucksache V I 334, S. 25 ff., 74 ff.; das BVerfG läßt die Frage, ob die Montanmitbestimmung m i t A r t . 14 GG vereinbar ist, ausdrücklich offen, E 25, 371 (407); Scholz, Paritätische Mitbestimmung u. Grundgesetz. 14 s. etwa BVerfGE 4, 101 ff.; 17, 333; 18, 26; 20, 317 ff.; 28, 303 ff.; B A G , D B 1968, S. 1540; D B 1969, S. 621; B A G E 14, 282 (288 f.); 17, 218 (223); 19, 217 (221 ff.); Scheuner, Koalitionsfreiheit, S. 36 ff.; ders., Verfassungsmäßigkeit, S. 19, 23; Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 458 f., 460 ff.; ders., JZ 1959, S. 425 (430); ders., JuS 1968, S. 1 (3); Rüthers, Streik, S. 29 ff.; Weber, Sozialpartner, S. 242 f.; Maunz(Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnrn. 103- 109; Lerche, Zentralfragen, S. 25 f.; Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 13 f.; Ridder, Gewerkschaften, S. 32 ff.; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 40, 46 f., 134 ff.; Säcker, Grundprobleme, besonders S. 33 ff.; v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 9, A n m . V 3; v. Münch, B K , Z w e i t bearb., A r t . 9, Rdnr. 114, 141 ff.; Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 84 f.
14*
212
9. Kap.: Gewerkschaften i m betrieblichen u. überbetriebl. Bereich
deren typisch koalitionsmäßige Betätigung 15 , ohne daß es eines Rückgriffs auf A r t . 19 I I I bedürfte 16 . Die Gewerkschaften können sich daher unmittelbar auf A r t . 9 I I I berufen. Näher umschrieben werden die drei Gewährleistungsrichtungen der positiven Koalitionsfreiheit durch den i n A r t . 9 I I I normierten Zweck der „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen". Man spricht deshalb von A r t . 9 I I I als einem zweckgebundenen Grundrecht 17 . Bei nicht diesem Zweck dienenden gewerkschaftlichen Meinungsäußerungen, die über arbeits- und wirtschaftspolitische Gegenstände hinausgehen und in keinem Zusammenhang m i t der sozialen Ordnungsfunktion 1 8 der Koalitionen stehen, scheidet der durch A r t . 9 I I I gewährleistete Schutz koalitionsmäßiger Betätigung aus 19 . A u f die Koalitionsfreiheit können sich die Gewerkschaften allein bei „spezifisch koalitionsmäßigen Betätigungen" berufen 20 , für die sie gegründet sind und die zur Erfüllung der verfassungsmäßigen Funktion der Gewerkschaften „unerläßlich" 2 1 sind. Dies sind vor allem die tarifvertraglichen Aufgaben, bei ihnen liegt das „eigentliche Betätigungsfeld der Gewerkschaften" 22 . B. Die Beschränkung der Meinungsfreiheit — Art. 5 1 GG — durch das BetrVerfG 1. Konkurrenz
zwischen
Art. 51 und Art. 9 III
GG
Für die nicht den Koalitionsfunktionen von A r t . 9 I I I dienenden politischen Meinungsäußerungen der Gewerkschaften kommt daher A r t . 5 I i n Betracht. Zweifellos werden diese Äußerungen vom Schutzbereich von A r t . 5 I S. 1 bzw. — soweit es sich u m Pressetätigkeit handelt — A r t . 5 I S. 2 — erfaßt. Dabei taucht nicht wie i m Fall der gewerkschaftlichen Information und Mitglieder- bzw. Wahlwerbung i m Betrieb 2 3 das Problem auf, ob A r t . 5 I wegen des allgemeinen Grundsatzes, daß der Rückgriff auf 15 Vgl. zu A r t . 9 als „Doppelgrundrecht" Maunz(-Dürig-Herzog), a.a.O., Rdnr. 92; Übersicht bei Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 53 ff., m. zahlr. Nachw., Scholz lehnt diese K o n s t r u k t i o n ab u n d zieht A r t . 19 I I I heran, s. S. 135 ff. 16 So ausdrücklich (Maunz)-Dürig(-Herzog), GG, A r t . 19 I I I , Rdnr. 55; a. A . Scholz, Koalitionsfreiheit, der dies aus A r t . 19 I I I ableitet. 17 s. § 18 D, 4 a, bb. 18 s. § 18 D, 4 a, bb. 19 Z u r gewerkschaftlichen Informations- u n d Werbetätigkeit: B A G A P Nr. 10 zu A r t . 9 GG, B l a t t 456; Thiele, B B 1973, S. 2. 20 BVerfGE 17, 319 (333); 18,18 (26); 20, 312 (319 f.); 28, 295 (303 ff.). 21 BVerfG, N J W 1975, S. 1267; E 17, 333; 19, 313; 28, 304; ähnlich E 18, 27. 22 BVerfG, N J W 1975, S. 1267; E 18, 26. 23 Vgl. dazu BVerfGE 19, 303; 28, 295; B A G A P Nr. 10 zu A r t . 9 GG; Rüthers, R d A 1968, S. 161 ff.
§34. Verfassungsrechtliche Überprüfung der gesetzl.
echtslage
213
allgemeine Grundrechtsbestimmungen bei Eingreifen eines speziellen Grundrechts nicht zulässig ist 24 , hinter A r t . 9 I I I zurücktritt 2 3 . Eine solche Grundrechtskonkurrenz 26 , die nach der Konkurrenzregel der Spezialität oder — nach Maunz 2 7 — der Idealkonkurrenz zu lösen wäre, t r i t t in dieser Untersuchung nicht auf, weil die i n Frage stehende gewerkschaftliche Tätigkeit nicht unter den Tatbestand von Art. 9 I I I subsumiert werden kann 2 8 . 2. Geltung
von Art. 5 I GG für
Gewerkschaften
Fraglich erscheint jedoch, ob A r t . 5 I ebenso wie A r t . 9 I I I nicht nur den einzelnen Gewerkschaftsvertreter, sondern auch die Gewerkschaft als solche schützt. Die klare Terminologie von A r t . 19 I I I , wonach die Grundrechte für „inländische juristische Personen" gelten können, läßt für Analogieschlüsse und Erst-Recht-Folgerungen zugunsten der Grundrechtsfähigkeit nicht rechtsfähiger Personenvereinigungen wie der Gewerkschaften keinen Raum 29 . Andererseits erhebt Art. 19 I I I „keinen Ausschließlichkeitsanspruch" 30 , daß nur natürliche oder juristische Personen Grundrechtsträger sein könnten, und verhindert daher nicht die eigenständige Interpretation der Grundrechte i m Hinblick auf die Wahrnehmung auch durch nicht rechtsfähige Personengruppen 31 . Inwieweit ihnen allgemein eine (partielle) Grundrechtsträgerschaft zukommt, kann an dieser Stelle offen bleiben 32 . Zu klären ist daher, ob die Auslegung von A r t . 9 I I I i. V. m. Art. 5 I zu dem Ergebnis gelangt, daß auch den Gewerkschaften als solchen das 24
Vgl. etwa BVerfGE 19, 314; 19, 225; (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 2, Rdnr. 7 f.; Hesse, Grundzüge, S. 119 f., m. w. Nachw.; Weber, Koalitionsfreiheit, S. 35; Rüthers, RdA 1968, S. 166. 25 BVerfGE 19, 314; 28, 310; B A G A P Nr. 10 zu A r t . 9 nehmen Spezialität von A r t . 9 I I I an, ebenso Rüthers, RdA 1968, S. 166; a. A. Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 40,142,146 ff. 26 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Grundrechtskonkurrenz u n d Grundrechtskollision Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 110,115, m. w. Nachw. 27 Vgl. zur „Idealkonkurrenz" zwischen A r t . 9 I I I u n d A r t . 5 I Maunz(-DürigHerzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 58, 122. 28 s. aber BVerfGE 28, 310: „Eine Verletzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus A r t . 5 Abs. 1 Satz 1 GG scheidet hier schon deshalb aus, w e i l die Betätigung von Koalitionen u n d die ihrer Mitglieder durch A r t . 9 Abs. 3 GG als lex specialis geschützt sind." Der I n h a l t der Betätigung soll offenbar nicht entscheidend sein. 29 (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 19 I I I , Rdnr. 12, 55; anders Hueck/ Nipperdey, A r b R I I / l , S. 142. 30 (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 19 I I I , Rdnr. 55. 31 (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 19 I I I , Rdnr. 13, 56; Wittkämper, I n t e r essenverbände, S. 80 f.; a. A . Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 139. 32 Vgl. dazu (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 19 I I I , Rdnr. 13, 56; W i t t kämper, Interessenverbände, S. 80 ff.; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 142 f.
214
9. Kap.: Gewerkschaften i m betrieblichen u. überbetriebl. Bereich
Grundrecht des A r t . 5 I zusteht. Dabei bietet sich die teleologische Interpretation an 33 . Der grundrechtlich geschützte Vorgang der Koalitionsbildung, A r t . 9 I I I , ist m i t dem Zusammenschluß nicht abgeschlossen, sondern verfolgt damit weitere Zwecke 34 . Das Recht der Koalitionen zur spezifisch koalitionsmäßigen Betätigung steht i n diesem Zusammenhang 35 . Die Koalitionen sind gerade zur Erfüllung der Aufgaben, die der Zusammenschluß ihrer Mitglieder zum Ziel hat, auf die Freiheit der Meinungsäußerung angewiesen; die Meinungsfreiheit ist für die Gewerkschaften eine „der ersten Voraussetzungen für ihr bestimmungsgemäßes Funktionieren" 3 6 . Die teleologische Auslegung von Art. 9 I I I i. V. m. Art. 5 I gebietet daher, daß die Gewerkschaften auch Träger des Grundrechts aus A r t . 5 I sein müssen 37 . 3. Das Betriebsverfassungsgesetz als allgemeines Gesetz i. S. v. Art. 5 II GG
Die Einschränkung durch das BetrVG ist verfassungsmäßig, wenn dieses Gesetz ein „allgemeines Gesetz" 38 ist und dem Grundrechtsvorbehalt von A r t . 5 I I auch weiterhin genügt. Während man — der herrschenden Auffassung der Weimarer Zeit folgend — unter einem „allgemeinen Gesetz" solche Normen verstand, die sich i n ihrer Zielrichtung nicht unmittelbar gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit als solche richten 39 , hat das BVerfG erstmals i m „ L ü t h U r t e i l " 4 0 dem Gesetzesvorbehalt eine andere Auslegung gegeben. Danach kann A r t . 5 I nicht durch jedes einfache Gesetz relativiert werden, sondern „die allgemeinen Gesetze müssen i n ihrer das Grundrecht beschränkenden W i r k u n g ihrerseits i m Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts . . . auf jeden Fall gewahrt bleibt". 33 Vgl. grundsätzlich zu dieser Methode (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 19 I I I , Rdnr. 56; i h m folgend Wittkämper, Interessenverbände, S. 80 f.; BVerfGE 10, 89 (99); 4, 96 (101 f.); a. A . Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 130 ff., 138 ff. 34 (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 19 I I I , Rdnr. 56. 35 Vgl. Rspr.- u n d Literaturübersicht i n Fußn. 14. 36 Ridder, Gewerkschaften, S. 48. 37 (Maunz-)Dürig(-Herzog), GG, A r t . 19 I I I , Rdnr. 58; Wittkämper, I n t e r essenverbände, S. 85 f.; Ridder, Gewerkschaften, S. 48; i m Ergebnis Hueck/ Nipperdey, A r b R I I / l , S. 146; B A G E 6, 321 (363); nach BVerfGE 10, 89 (99); B A G E 1, 291 (299); 6, 321 (358 f., 364); Weber, Sozialpartner, S. 242, können sich die G. auch auf A r t . 2 I bzw. 3 I berufen. 38 Vgl. dazu, daß die Bestimmungen des BetrVerfG als „allgemeine" Gesetze i. S. v. A r t . 5 I I GG i n Betracht kommen, B A G A P Nr. 2 zu § 13 KSchG. 39 Vgl. etwa Bettermann, JZ 1964, S. 603 ff.; v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 5, A n m . I X 3 a; Rehbinder, Presserecht, S. 32 ff.; Scholz, DVB1. 1968, S. 737; K e m per, Pressefreiheit, S. 65 ff.; Lerche, EvStL, Sp. 1605; ders., Übermaß, S. 113, 149; vgl. auch Überblick bei (Maunz-Dürig)-Herzog, GG, A r t . 5, Rdnr. 242, 248. 40 BVerfGE 7,198 (208).
§34. Verfassungsrechtliche Überprüfung der gesetzl.
echtslage
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Das BetrVG t r i t t also der Weimarer Lehre entgegen, daß beim Konflikt zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit und einem durch ein „allgemeines" Gesetz geschützten anderen Rechtsgut die erstere automatisch zurücktreten muß; es nimmt vielmehr eine Güterabwägung vor 4 1 . Die dagegen vorgebrachten Bedenken, diese Abwägung würde vom BVerfG zu einer Interessenabwägung i m Einzelfall gemacht und ein juristischer Zirkelschluß zwischen A r t . 5 I und Art. 5 I I wäre unvermeidlich 42 , haben dann keine Grundlage mehr, wenn man den Konflikt zwischen Art. 5 I und dem jeweiligen von dem einschränkenden Gesetz geschützten Rechtsgut einer abstrakten und differenzierten Betrachtung unterstellt 4 3 . Für die Zuordnung von Grundrecht und grundrechtsbegrenzenden Rechtsgütern bietet sich als rationale Methode die von Konrad Hesse geprägte Interpretation zur Herstellung „praktischer Konkordanz" 4 4 an — insbesondere dann, wenn das grundrechtsbeschränkende Rechtsgut seinerseits grundrechtlich geschützt ist 43 , also ein Fall der Grundrechtskollision vorliegt. Diese ist bei Beschränkung gewerkschaftlicher Meinungsäußerung durch das BetrVG gegeben: insoweit bezweckt das BetrVG den Schutz des Arbeitsablaufs und des Betriebsfriedens, § 74 I I S. 1 BetrVG 4 6 . Der Gesetzgeber sieht sich nicht allein dem Grundrecht aus A r t . 51 auf Seiten der Gewerkschaften gegenüber, sondern auch einem Grundrecht des Betriebseigentümers, dem Hausrecht aus A r t . 14 I 4 7 . Der 41 BVerfGE 7, 198 (207 ff.); 12, 113 (124 f.); 15, 77 (78 f.); 15, 223 (225); 19, 73 f.; 20, 162 (176 f.); 21, 271 (280 f.); 25, 44 (55 ff.); 25, 69 (77); vgl. aber auch BVerfGE 21, 280 (286); (Maunz-Dürig-)Herzog, GG, A r t . 5, Rdnr. 250, m. w. Nachw., grundlegend Smend, V V D S t R L 4, S. 51 ff. 42 Vgl. L i t e r a t u r bei (Maunz-Dürig-)Herzog, GG, A r t . 5, Rdnr. 252 f. 43 (Maunz-Dürig-)Herzog, GG, A r t . 5, Rdnr. 260 ff. (267). 44 Hesse, Grundzüge, § 2 I I I 2 c, bb; § 10 I I 2 a; § 12 I 5 b, bb. 45 Ebenso verhält es sich i m Lebach-Fall: die als allgemeine Gesetze i. S. v. A r t . 5 I I anzusehenden §§ 22, 33 K u n s t U r h G betreffen Rechtsgüter, die ihrerseits durch A r t . 2 I u n d A r t . 1 GG geschützt sind, vgl. BVerfGE 35, 202 (219 ff.). 46 Fitting/Auffahrt, BetrVG, § 74, Rdnr. 9. 47 Diesen K o n f l i k t n i m m t auch Hueck/Nipperdey, ArbR I I 1, S. 146, i m F a l l der gewerkschaftl. Werbung vor Betriebs- u n d Personalratswahlen an. Z w a r sind auch Geschäfts- u n d Betriebsräume „Wohnung" i. S. v. A r t . 13 (hM, statt vieler v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 13, A n m . I I I ; Maunz[-Dürig-Herzog], GG, A r t . 13, Rdnr. 8), jedoch fällt die Normierung des gewerkschaftlichen Z u t r i t t s zum Betrieb unter keine der i n A r t . 13 genannten Beschränkungsformen (vgl. dazu v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 13, A n m . I V ; Maunz[-Dürig-Herzog], GG, A r t . 13, Rdnr. 13 ff.). Das privatrechtliche Hausrecht des Unternehmers ist eine der i n § 903 B G B genannten Befugnisse u n d — da A r t . 14 I auf jeden Fall das Eigentum i. S. d. B G B schützt (vgl. v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 14, Anm. I I I b; Maunz[-Dürig-Herzog], GG, A r t . 14, Rdnr. 32) — durch A r t . 14 I geschützt (so Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 146); das B A G stützt das Hausrecht i m Hinblick auf gewerkschaftl. Werbe- u n d Informationstätigkeit auf A r t . 13, A P Nr. 10 zu A r t . 9, B l a t t 455 = B A G E 19, 217 (225); Rüthers, JuS 1970, S. 610, nennt i m Z u sammenhang m i t dem Hausrecht des Arbeitgebers A r t . 13 u n d A r t . 14 nebeneinander.
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9. Kap.: Gewerkschaften i m betrieblichen u. überbetriebl. Bereich
Bedeutungsgehalt von A r t . 51 ist also nur i n Zusammenhang mit A r t . 141 zu ermitteln. Herstellung praktischer Konkordanz bedeutet 48 , die Einheit der Verfassung zu wahren und die miteinander kollidierenden verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter so einander zuzuordnen, daß jedes zu optimaler Wirksamkeit gelangt und nicht das eine durch das andere verdrängt w i r d ; praktische Konkordanz heißt also verhältnismäßige Zuordnung, „Ausgleich" 4 9 . Das Hausrecht des Arbeitgebers, das auch die Regelung gewerkschaftlicher Öffentlichkeitsarbeit i n seinem Betrieb umfaßt, würde der Meinungsäußerungsfreiheit der Gewerkschaften gegenüber unvertretbar stark beeinträchtigt, wenn die Gewerkschaften zu jeder politischen oder sonstigen Frage ungehindert i m Betrieb Stellung beziehen könnten 5 0 , während andererseits A r t . 5 I unbeschränkt bliebe. Umgekehrt würde es ebensowenig praktischer Konkordanz entsprechen, wenn der Arbeitgeber den Gewerkschaften jede politische Äußerung in seinem Betrieb untersagen könnte. Vielmehr ist eine Differenzierung angebracht: diejenigen Gegenstände, die sich auf die besondere Stellung der Arbeitnehmer i n ihrer Eigenschaft als unselbständig Arbeitende und dem Direktionsrecht des Arbeitgebers Unterstellte i n arbeits- und w i r t schaftsrechtlicher Hinsicht beziehen, haben eine besonders enge Verbindung zum Betrieb und zur Tätigkeit der i n i h m beschäftigten Arbeitnehmer. Daher sind gewerkschaftliche Äußerungen, die darauf Bezug nehmen, keine unsachliche Beschränkung des dem Arbeitgeber zustehenden Hausrechts, A r t . 14 I, aber auch keine unzumutbare Begrenzung gewerkschaftlicher Meinungsäußerungsfreiheit. Diese Grenzlinie kann vielmehr als optimale Verwirklichung beider Grundrechte angesehen werden. Der Bedeutungsgehalt von Art. 5 I erstreckt sich also auf die Äußerung von Meinungen dieser A r t , so daß die oben 51 begründete Auslegung des BetrVG, die damit deckungsgleich ist, der Ausstrahlungswirkung von A r t . 5 1 gerecht wird. Eine gegenständlich unbeschränkte gewerkschaftliche Werbe- und Informationstätigkeit i m Betrieb, insbesondere zu allgemeinen politischen Fragen, würde überdies den Betriebsfrieden durch unbegrenzte Politi48 Hesse, Grundzüge, § 2 I I I 2 c, bb; § 10 I I 2a; § 12 I 5b, bb, (159); vgl. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 112 f., 116, m. w. Nachw.; er verbindet das Gebot der optimalen Grundrechtsgeltung m i t der grundrechtlichen Funktionsgerechtigkeit, die sich nach den Regeln des Übermaßverbots richtet. Dies gelte i n gleicher Weise f ü r Grundrechtskonkurrenz w i e Grundrechtskollision. 49 Vgl. BVerfGE 35, 202 (225). 50 Vgl. zur Abwägung zwischen A r t . 9 I I I u n d A r t . 13 B A G E 19, 217 (225 f.). 31 Vgl. § 33 A .
§ 34. Verfassungsrechtliche Überprüfung der gesetzl. Hechtslage
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sierung gefährden und damit die Funktionsfähigkeit des Arbeitsablaufs stören. Das durch Art. 14 I geschützte Recht des Betriebsinhabers am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb 52 würde unverhältnismäßig zugunsten der Meinungsäußerungsfreiheit der Gewerkschaften, Art. 5 I, beeinträchtigt 53 . Auch unter diesem Aspekt kann die verfassungsrechtlich gebotene praktische Konkordanz, d.h. Freiheitsoptimierung, nur hergestellt werden, wenn die Werbe- und Informationstätigkeit der Gewerkschaften entsprechend beschränkt wird. 4. Ergebnis
Die Gewerkschaften haben i n den Betrieben kein unbeschränktes Recht auf freie Meinungsäußerung, sondern sind auf Stellungnahmen i n solchen Angelegenheiten beschränkt, die sich m i t den Belangen der Arbeitnehmer auf arbeits- und wirtschaftspolitischen Gebieten betriebsbezogener A r t befassen.
52 Vgl. etwa v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 14, A n m . I I I , 1 b; Maunz(-DürigHerzog), GG, A r t . 14, Rdnr. 32; Hamann/Lenz, GG, A r t . 14, A n m . Β 1 b (S. 281), jeweils m. w . Nachw. 53 Eine ähnliche Grundrechtsabwägung n i m m t das B A G zwischen A r t . 14 I u n d A r t . 9 I I I i m Fall gewerkschaftl. Mitgliederwerbung vor, E 19, 217 (226).
Zehntes
Kapitel
Grenzen politischer Handlungsweisen der Gewerkschaften im außerbetrieblichen gesellschaftlichen Bereich § 35. Die politische Tätigkeit der Gewerkschaften im Hinblick auf die Koalitionsfreiheit — Art. 9 I I I GG A. Der Umfang des Freiheitsbereichs
Nach einhelliger Auffassung gewährleistet Art. 9 I I I als individuelles Recht die Freiheit der Koalitionsbildung 1 (positive Koalitionsfreiheit), zu der der Beitritt zu einer bestehenden Koalition zählt 2 . Die Vorschrift des A r t . 9 I I I S. 2, die den Grundrechtsträger vor Behinderungen und Beschränkungen durch nichtstaatliche Maßnahmen schützt, der Koalitionsfreiheit also horizontale (unmittelbare) D r i t t w i r k u n g verschafft 3, umfaßt daher auch die Beitrittsfreiheit. Da weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte von A r t . 9 I I I dafür sprechen, A r t . 9 I I I S. 2 nur auf Arbeitnehmer zu beziehen 4 , hat diese Verfassungsbestimmung auch Geltung für die Koalition selbst 3 und umfaßt damit auch die Beziehung zwischen Gewerkschaften einerseits und Gewerkschaftsmitgliedern sowie Außenseitern andererseits, denen A r t . 9 I I I S. 2 die Möglichkeit interner koalitionsmäßiger Betätigung 6 bzw. die Möglichkeit des Beitritts oder der Gründung konkurrierender Koalitionen offenhält. 1 Vgl. BVerfGE 4, 101; 17, 333; 18, 25; 19, 312; 20, 321; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 104; Weber, Sozialpartner, S. 242; Richardi, Kollektivgewalt, S. 62 fï.; v. Münch, B K , Zweitbearb., A r t . 9, Rdnr. 136 f.; Nikisch, A r b R I I , S. 21 ff.; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 125 ff.; Wittkämper, Interessenverbände, S. 73 f.; Biedenkopf, Grenzen, S. 88 ff.; Rüthers, Streik, S. 29; Scheuner, Koalitionsfreiheit, S. 36 ff.; Lerche, Zentralfragen, S. 25; Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 444 ff.; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 41. 2 Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 104; v. Münch, B K , Zweitbearb., A r t . 9, Rdnr. 137; Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 125; Weber, Tarifautonomie, S. 11; Lerche, Zentralfragen, S. 25; Biedenkopf, Grenzen, S. 89; Scholz, K o a l i tionsfreiheit, S. 41. 3 Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 120; v. Münch, B K , Zweitbearb., A r t . 9, Rdnr. 115, 157 ff.; Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 449 ff.; v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 9, A n m . V 8,11; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 276. 4 Ramm, R d A 1968, S. 415. 5 Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 120 f.; ähnlich Ramm, R d A 1968, S. 415; Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, A n m . Β 11 (S. 244). 6 Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 121.
§ 35. Politische Tätigkeit u n d Koalitionsfreiheit
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Art. 9 I I I S. 2 ist nicht nur Schutzbestimmung und Komplettierung der durch A r t . 9 I I I S. 1 gewährleisteten Freiheiten, sondern auch selbst „soziale" (weil drittgerichtete) Grundrechtsgewährleistung 7. Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, die Koalitionsfreiheit einzuschränken oder zu behindern, sind gemäß A r t . 9 I I I 2 rechtswidrig. Hätten die bereits existierenden Gewerkschaften ein rechtliches Monopol, könnten sie einem Beitrittswilligen die Aufnahme i n die Gewerkschaft nicht verweigern. Denn dies wäre eine Maßnahme, die auf die Beschränkung der Koalitionsfreiheit gerichtet wäre, weil der Beitrittswillige weder die Möglichkeit hätte, auf eine andere Gewerkschaft auszuweichen, noch eine neue Gewerkschaft gründen könnte. Die Ablehnung wäre nur rechtmäßig, wenn ein Rechtfertigungsgrund vorläge. Aus A r t . 9 I I I 2 würde also ein Anspruch auf Aufnahme folgen. Die DGB-Gewerkschaften sind nach dem Industrieverbandprinzip organisiert (Ausnahmen: GEW, Gewerkschaft Kunst), nach Beruf sverbänden 8 organisieren sich i m wesentlichen nur noch die DAG, der DBB und die GdP. Folge ist, daß für die meisten Gewerkschaftsinteressenten, die mangels entsprechender beruflicher Voraussetzungen nicht einer der Berufsgewerkschaften beitreten können, tatsächlich allein eine Gewerkschaft zur Verfügung steht: eine Auswahlmöglichkeit scheidet daher aus. Ähnlich verhält es sich real m i t der Chance, eine neue Gewerkschaft ins Leben zu rufen. Die Existenz einer (tariffähigen) Gewerkschaft 9 setzt nämlich einen bestimmten Organisationsgrad unter den Arbeitnehmern voraus, weil eine Gewerkschaft i n der Lage sein muß, fühlbaren und wirkungsvollen Druck auf den Gegenspieler auszuüben 10 ; sie muß vom Gegner ernst genommen werden 11 . Ein solcher Organisationsgrad aber kann i n Konkurrenz zu den politisch und wirtschaftlich mächtigen Gewerkschaften faktisch nicht erzielt werden, wenn man einmal von eng begrenzten Wirtschaftssparten absieht. Da faktisch weder die Auswahlmöglichkeit noch die Möglichkeit der Neugründung besteht, ist — jedenfalls i n den meisten Wirtschaftsbereichen — zwar nicht von einem rechtlichen 12 , wohl aber faktischen Monopol der bestehenden Gewerkschaften auszugehen 13 . Dies verstößt auch nicht gegen das GG, w e i l das GG keine 7 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 275 if.; Scholz sieht dies allerdings mehr i n Verbindung m i t der negativen Koalitionsfreiheit; ebenso aber k a n n A r t . 9 I I I , S. 2, i n dieser Auslegung auf die positive Koalitionsfreiheit bezogen werden. 8 Vgl. zu diesem Organisationsprinzip Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 179. 9 Z u tariffähigen u. nicht tariffähigen Gewerkschaften § 1. 10 B A G E 21, 98 (101 ff.); 23, 320 (323 f.); Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 426, Fußn. 16; Maus, Handbuch des Arbeitsrechts, S. 121; Löwisch, Z f A 1970, S. 309, m. w . Nachw. 11 Löwisch, Z f A 1970, S. 310. 12 B A G E 21,102 f. 13 Vgl. Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 32,105.
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Kap.: Gewerkschaften i m
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konkurrierende Mehrheit gleichgerichteter Koalitionen vorschreibt 14 ; es fordert jedoch ein plurales Koalitionswesen, das der Vielfalt und Weite des modernen Arbeitslebens gerecht wird 1 5 . Dem dürfte das derzeitige Koalitionswesen i n der Bundesrepublik Deutschland genügen. A r t . 9 I I I S. 2 schützt die Koalitionsfreiheit vor Behinderungen durch zwei- oder mehrseitige Vereinbarungen („Abreden") oder durch einseitige Akte („Maßnahmen") 16 rechtlicher oder tatsächlicher A r t 1 7 . Die Weigerung einer Gewerkschaft, beitrittswillige Arbeitnehmer aufzunehmen, würde diese zwar nicht rechtlich, aber faktisch i n ihrer Koalitionsfreiheit behindern. Es würde sich u m eine faktische Maßnahme handeln, die auf einen koalitionsfeindlichen Erfolg gerichtet 18 wäre. Auch das faktische Monopol kann einen Aufnahmeanspruch begründen. Es bedarf daher keines Rückgriffs auf § 826 BGB, um einen Anspruch auf Aufnahme zu begründen, wenn die Ablehnung durch keinerlei sachliche Gründe gerechtfertigt sei und den Arbeitnehmer unbillig belasten würde 1 9 , denn A r t . 9 I I I S. 2 gewährleistet wegen der unmittelbaren D r i t t w i r k u n g einen solchen Anspruch verfassungsunmittelbar. B. Politisch umfassende Tätigkeit der Gewerkschaften i m Licht der koalitionsrechtlichen Beitrittsfreiheit
E i n Arbeitnehmer, der sich einer Gewerkschaft anschließen w i l l , weil er arbeits- und wirtschaftspolitisch interessiert ist und für diese Gegenstände eine wirksame Interessenvertretung sucht, muß auf diesen Beit r i t t verzichten, wenn er m i t den allgemeinpolitischen Äußerungen und Tätigkeiten dieser für i h n zuständigen Gewerkschaft nicht übereinstimmt. T r i t t er dennoch ein, ist er dazu angehalten, sich zugleich mit Gegenständen zu befassen, auf die sich A r t . 9 I I I S. 1 nicht bezieht und m i t denen er sich i n Ausübung dieses Grundrechts nicht beschäftigen w i l l . Er w i r d gezwungen, sich i n einer politischen Richtung repräsen14 Vgl. Ridder, Gewerkschaften, S. 31: Koalitionen sollen kartellähnliche bilaterale Monopole ausbilden dürfen. 15 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 379; B A G E 21, 201 (208). 16 Vgl. zu dieser Differenzierung v. Münch, B K , Zweitbearb., A r t . 9, Rdnr. 167, m. w . Nachw. 17 Hamann/Lenz, GG, A r t . 9, A n m . Β 11 (S. 244); Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 120, m. w. Nachw.; Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 451. Das B V e r f G berücksichtigt i n der Innungsentscheidung (E 20, 312) die rechtliche u. tatsächliche Behinderung der Koalitionsfreiheit (S. 321 f.). Da die Handwerksinnung öffentlich-rechtl. Körperschaften sind, § 53, S. 1, HandwO, bedarf es f ü r die Koalitionsfreiheit des einzelnen Handwerkers gegenüber der I n n u n g nicht der Begründung durch A r t . 9 I I I , S. 2, sondern A r t . 9 I I I , S. 1, greift unmittelbar ein; daher geht das BVerfG auch nicht auf A r t . 9 I I I , S. 2, ein. 18 Vgl. zu diesem Tatbestandsmerkmal von A r t . 9 I I I , S. 2, Dietz, Grundrechte I I I / l , S. 451. 10 So Hueck/Nipperdey, A r b R I I / l , S. 102.
§ 35. Politische Tätigkeit u n d Koalitionsfreiheit
221
tieren zu lassen, m i t der er sich nicht befassen w i l l , w i r d also i n seiner „pluralen Repräsentationsfreiheit" 20 tangiert. Der „Pluralismus oligarchischer Herrschaftsgruppen" kann auf diese Weise zu einer Gefahr für die individuelle Freiheit werden, noch dazu, wenn den Gewerkschaftsfunktionären die verbandsdemokratische Legitimation zu allgemeinpolitischen Aussagen fehlt 2 1 . Allgemeinpolitische Betätigung der Gewerkschaften beeinträchtigt daher die individuelle Koalitionsfreiheit. Die sozialstaatliche Aufgabe des Staates, die Schwachen zu schützen, insbesondere auch das Individuum vor gesellschaftlichen Gewalten 22 , findet bei dieser Auslegung von A r t . 9 I I I ihre grundrechtliche Entsprechung. Das verfassungsrechtlich garantierte Recht der Gewerkschaften zur Selbstbestimmung ihres Aufgaben- und Zuständigkeitsbereichs 23 — die Verbandsautonomie 24 — besteht also vorwiegend innerhalb des durch Art. 9 I I I S. 1 und das Sozialstaatsgebot, A r t . 20 I, abgesteckten Rahmens 25 . Reuß meint 2 6 , die Gewerkschaften könnten auch Aufgaben, die nicht m i t der Gestaltung der Arbeitsbedingungen i n Zusammenhang stünden, wie ζ. B. Aufgaben kultureller, gesellschaftspolitischer oder wirtschaftlicher A r t i n legitimer Weise wahrnehmen; dies ist entsprechend dem obigen Ergebnis nur insofern richtig, als die Gewerkschaften damit nicht allgemeinpolitische Stellung- und Einflußnahmen auf die öffentliche Meinung verbinden. Die Richtigkeit dieses Ergebnisses erweist sich ebenfalls i n einem Vergleich dieses Behinderungstatbestandes m i t den tarifvertraglichen Organisations-, Ausschluß- und Differenzierungsklauseln die — wenn auch i n ihrer Abgrenzung untereinander äußerst umstritten 2 7 — von der Rechtsprechung und h L wegen Verstoßes gegen die negative Koalitionsfreiheit für verfassungswidrig erklärt werden 28 . Sowohl die Wahrnehmung unbeschränkter politischer Meinungsäußerung als auch die Tarifvertragsklauseln beeinträchtigen die individuelle 20
Vgl. Hättich, Politik I I , S. 167. Eschenburg, Verbände, S. 77, vgl. oben § 6 C 1. 22 Vgl. zum staatlichen Schutz gegen den „Machtmißbrauch intermediärer Oligarchien", Kaiser, Repräsentation, S. 361; s. o. §§ 23 B, 30 B. 23 Vgl. etwa Vetter, 9. B K P , S. 155; Reuß, R d A 1968, S. 412. 24 Vgl. dazu Galperin, D B 1970, S. 299 f. 25 So auch Hamann, Gewerkschaften, S. 45 ff. 26 R d A 1968, S. 412; ebenso Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 19 f., 32, m. w . Nachw. 27 Galperin, D B 1970, S. 302 f.; Gamillschegg, Differenzierungen, S. 61 ff., 84 ff.; Biedenkopf, Grenzen, S. 94 ff.; v. Münch, B K , Zweitbearb., A r t . 9, Rdnr. 160 ff.; Hanau, JuS 1969, S. 213 ff., jeweils m. w . Nachw. 28 Vgl. B A G A P Nr. 13 zu A r t . 9 GG; oben Fußn. 27; a. A . Hanau, JuS 1969, S. 216 ff., m. w. Nachw.; Nitschke, DÖV 1972, S. 43 ff. 21
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Koalitionsfreiheit der Außenseiter, diese die negative 29 , jene die positive Koalitionsfreiheit. Die o. g. Tarifvertragsklauseln üben mittelbaren Zwang aus 30 , ebenso ein umfassendes politisches Verhalten der Gewerkschaften; jene entfalten zwar keinen rechtlichen, aber faktischen Druck 3 1 : nicht anders verhält es sich m i t dem „allgemeinpolitischen Mandat". Auch ein Vergleich zur verfassungsrechtlichen Beurteilung gewerkschaftlicher Mitgliederwerbung 3 2 bietet sich an: sie ist an sich verfassungsrechtlich zulässig, überschreitet jedoch den Gewährleistungsrahmen von Art. 9 I I I S. 1, soweit sie zur Bedrängung für Außenseiter wird 3 3 . Auch i n diesem Fall ist also schon mittelbare, faktische Zwangseinwirkung unzulässig. Der Unterschied besteht jedoch darin, daß es sich hier allein um politischen, dort um wirtschaftlichen Zwang handelt. Das BVerfG sieht einen Hoheitsakt für verfassungswidrig an, wenn dadurch einer Koalition deren legitime Tätigkeit faktisch unmöglich gemacht w i r d 3 4 ; bei der (offengelassenen) Frage, ob und inwieweit auch die negative Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich geschützt ist, hält es faktischen Zwang erst für relevant, wenn er die „Entschließungsfreiheit fühlbar beeinträchtigt" 35 . Unmittelbarer oder mittelbarer wirtschaftlicher Druck ist sicherlich eine fühlbare Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit, politische Einflußnahme jedoch nur dann, wenn sich ihr der einzelne nicht mehr entziehen kann. Solange er nicht zum Verbleib i n der Gewerkschaft gezwungen ist, sondern jederzeit ohne wirtschaftliche Nachteile austreten kann, w i r d durch gewerkschaftliche Betätigung i n allgemeinpolitischen Bereichen die Schwelle fühlbarer Freiheitsgefährdung nicht überschritten. Der Zwang würde jedoch eine solche Intensität erreichen, wenn die Gewerkschaften öffentliche Zwangskörperschaften wie etwa die Studentenschaften würden, die zu allgemeinpolitischen Aussagen nicht befugt sind 30 . Unbeschränkte politische Betätigung der Gewerkschaften ist demnach zwar de lege lata kein Rechtsverstoß, beeinträchtigt aber, was die Ge29 (Hueck-)Nipperdey, A r b R I I / l , S. 156 ff., lehnt die Begründung der negat i v e n Koalitionsfreiheit aus A r t . 9 I I I ab u n d leitet sie aus A r t . 2 I her; vgl. ausführlich Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 267 ff. 30 Vgl. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 275. 31 Ebd.; zum faktischen Z w a n g vgl. auch BVerfGE 31, 297 (302). 32 Vgl. dazu B A G E 19, 217 (221 ff.); Rüthers, Recht, S. 26 ff., 43 ff. (m. Nachw. zum Streitstand, S. 13 ff.); Säcker, Grundprobleme, S. 63 ff., 75 ff., 137 ff. 33 B A G E 19, 217 (227). 34 N J W 1975, S. 1266, hinsichtlich der Arbeitnehmerkammern i m Saarland u. Bremen. 35 E 31, 297 (302). 36 Herrschende Rechtsprechung, vgl. etwa B V e r w G E 34, 69 (74 ff.); OVG Hamburg, N J W 1972, S. 72 ff.; Berner, JZ 1967, S. 242 ff.; Schmitt Glaeser, Rechtsstellung der Studentenschaft, S. 14 ff.; kritisch Ridder/Ladeur, Das sog. pol. Mandat, m. w . Nachw.
§ 3 . Politische Tätigkeit u n d
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werkschaften fördern wollen, nämlich den Ausbau individueller Freiheit. Dieses Verhalten der Gewerkschaften ist politisch bedenklich, w e i l letzten Endes dadurch die politische Idee der Einheitsgewerkschaft 37 zugunsten von Richtungsgewerkschaften gefährdet wird, die bei allen w i r t schaftspolitischen Nachteilen doch gewährleisten, daß sich der beitrittswillige Arbeitnehmer die Gewerkschaft auswählen kann, die auch m i t seinen sonstigen politischen Auffassungen übereinstimmt. Betätigen sich die Gewerkschaften auch allgemeinpolitisch, w i r d daher das durch die „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" funktional 3 8 bestimmte Grundrechte des A r t . 9 I I I S. 1 i n seiner aktualen Geltung dadurch gefährdet, daß ein gerade an diesen Gegenständen interessierter Arbeitnehmer entweder nicht beitreten kann oder daneben andere politische Tätigkeiten i n Kauf nehmen muß 39 . § 36. Die politische Tätigkeit der Gewerkschaften im Hinblick auf die Meinungsfreiheit — Art. 5 I GG A. Problemstellung
Ebenso wie die Parteien w i r k e n die Verbände an der i m wesentlichen durch A r t . 5 I gewährleisteten „Vorformung" 4 0 des politischen Willens m i t 4 1 — wenn auch wegen ihrer partikulären Ausrichtung nicht „auf gleichem Fuß" wie die Parteien 42 — und haben damit maßgeblichen Einfluß auf den Prozeß der politischen Einheitsbildung. Die Funktion dieser „Vorformung" des politischen Willens, der öffentlichen Meinung, besteht 37
Ausführlich dazu Hirsch-Weber, Politik, S. 49 ff.; Eschenburg, Verbände,
S. 77. 38
Vgl. § 18 D, 4 a, bb. Faßt man A r t . 9 I I I als „Doppelgrundrecht" auf, entsteht freilich ein K o n flikt zwischen der individuellen u n d der kollektiven Koalitionsfreiheit (vgl. dazu ausführlich Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 62 ff., m . w . Nachw.). E i n K o n f l i k t zwischen der Beitrittsfreiheit des einzelnen u n d der Betätigungsfreiheit der Gewerkschaften scheidet jedoch aus, w e n n sich die Gewerkschaften außerhalb des von A r t . 9 I I I geschützten Funktionsbereich betätigen. 40 Der Ausdruck stammt von Scheuner, Zeitschrift f ü r ev. Ethik, 1957, S. 34 ff.; ders., DÖV 1958, S. 643; Hesse, V V D S t R L 17, S. 23; BVerfGE 8, 113; Herb. Krüger, V V D S t R L 17, 110; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 21, Rdnr. 5. 41 BVerfGE 20, 114; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 21, Rdnr. 36; Wertenbruch, Peters-Gedächtnisschrift, S. 630, m. w. Nachw.; Knöpfle, DVB1. 1974, S. 714; Völpel, Wirtschaftsgruppen, S. 143 ff., 146, 148 f.; Hesse, Grundzüge, § 5 I I 2 c; Herzog, EvStL, Sp. 714; Varain, EvStL, Sp. 2326; Fraenkel, Deutschland, S. 45; ders., 45, DJT, Β 9; Scheuner, i n : Beutler, Verbände, S. 12 ff.; ders., DÖV 1965, S. 578; Wittkämper, Interessenverbände, S. 160, m. w . Nachw., 163 ff., 208; Löwenstein, Verfassungslehre, S. 369; Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 73; kritisch differenzierend Thiele, B B 1973, S. 1 f., 4; A r t . 5 I ist für die Demokratie „schlechthin konstituierend", vgl. etwa BVerfGE 7, 198 (208); 35, 202 (221 f.); vgl. § 37 D 1. 42 Badura, Scheuner-Festschrift, S. 30. 39
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nicht darin, Konflikte zu verdecken, sondern darzustellen und zum Tragen zu bringen. A u f dieser Grundlage der Vielfalt und oft auch Gegensätzlichkeit ist gleichwohl politische Einheit herzustellen 43 , denn diese i n einem fortwährenden Prozeß zu gestalten, ist Aufgabe der Verfassung 44 . Daher sind bei der Interpretation von A r t . 5 I die realen Auswirkungen 4 3 umfassender politischer Gewerkschaftstätigkeit m i t der verfassungsrechtlich aufgegebenen Einheitsbildung i n Beziehung zu setzen. Dabei deutlich werdende Gegensätze sind gegeneinander abzuwägen und a b zugleichen. Auch diese möglichen Konflikte können ebenso wie die K o l l i sionen, die sich bei unbeschränkter gewerkschaftlicher Meinungsäußerungsfreiheit i m betrieblichen Bereich ergeben 46 , durch Herstellung praktischer Konkordanz 4 7 gelöst werden. Der Vorzug dieser Methode liegt u. a. darin, daß sie nicht nur normlogisch den Zweck der jeweiligen Verfassungsnormen zu ermitteln sucht, sondern darüber hinaus die Einbeziehung der realen Normausübung, insbesondere der Grundrechtsausübung, m i t ihren praktischen Wirkungen, ihrer „soziologischen Breitenw i r k u n g " 4 8 zuläßt. B. Vorzüge umfassender politischer Gewerkschaftstätigkeit
Für eine weitreichende politische Aussagekompetenz der Verbände, insbesondere der Gewerkschaften, scheint zunächst die Überlegung zu sprechen, daß die Verbände das politische Bewußtsein ihrer Mitglieder ebenso wie Außenstehender stimulieren und als Gruppenfilter aussieben können. Je intensiver und umfassender desto rationaler — w e i l vielgestaltiger — kann auf diese Weise der politische Gesamtwille entwickelt werden. Aus historischer Sicht wäre außerdem die Schutz- und Hilfsfunktion 4 9 der Gewerkschaften heranzuziehen: i m 19. Jahrhundert wurden die Gewerkschaften für einen Großteil der Bevölkerung geradezu zur Gesellschaft schlechthin 50 , so daß sämtliche die Mitglieder tangierenden politischen Gegenstände von ihnen auch legitim erfaßt werden konnten. 43
Hesse, Grundzüge, § 5 I ; vgl. auch Schmitt Glaeser, Mißbrauch, S. 111 f. Hesse, Grundzüge, § 1 I I , m. w . Nachw.; Krüger, Grenzen, S. 37. 45 Vgl. zu den W i r k u n g e n der Meinungsfreiheit, die über die Grundrechtsgewährleistung von A r t . 5 I hinausgehen: BVerfGE 12, 125; 24, 285 ff.; L u h mann, Grundrechte, S. 98 ff.; Lerche, Werbung, S. 76 ff.; Scholler, Person, S. 106 ff., 212, 236 ff., 316 ff., 345 ff.; Smend, V V D S t R L 4, S. 50; Ridder, Grundrechte I I , S. 249; Scheuner, V V D S t R L 22, 27 ff.; Hesse, Grundzüge, § 12 I 8 a. 46 Vgl. §34 Β 3. 47 Vgl. §34 Β 3. 48 (Maunz-Dürig-)Herzog, A r t . 5, Rdnr. 13; A r t . 8, Rdnr. 8; vgl. auch Herzog, Hirsch-Festschrift, S. 63 (70); Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 79 ff. 49 Briefs, HdSW, Stichwort „Gewerkschaften", S. 554; Huber, Verbände, S. 8; Löwenstein, Verfassungslehre, S. 385. 50 Krüger, Allg. Staatslehre, S. 394; Briefs, Gewerkschaftsprobleme, S. 41, 94. 44
§ 3 . Politische Tätigkeit u n d
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Weiterhin w i r d die besondere Verantwortung der Gewerkschaften erwähnt, die sie als Großverbände haben 51 . Daraus wäre ebenfalls eine umfassende politische Aussage- und Handlungskompetenz ableitbar. Z u diesem Ergebnis gelangt man ebenfalls, wenn man die Gewerkschaften als eigentliche Träger der Gesellschaftsreform ansieht 52 , zu der nicht allein die Neuordnung des ökonomischen Bereichs gehört. Die Gewerkschaften weisen häufig auf ihre historische Rolle als diejenigen Organisationen hin, die zu den wichtigsten Vorkämpfern für einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat zählen, und leiten daraus ihre gegenwärtige Funktion als Hüter der Verfassung ab 53 . Daß auf der Grundlage dieses Verständnisses eine Beschränkung auf bestimmte politische Gegenstände ausscheidet, ist selbstverständlich. Dies läßt sich weiterhin damit begründen, daß die Regelung der Lohnund Arbeitsbedingungen tiefgreifende Folgen für die gesamte W i r t schaftspolitik hat 5 4 , diese wiederum auf den gesamtpolitischen Bereich existentiell einwirkt. C. Gefahren
Die Betonung der politischen Interdependenzen widerspricht jedoch einer Beschränkung der Verbände auf partikulare Interessen und Teilbereiche nicht 5 5 und erweist sich als vordergründiges Argument, w e i l rechtlich abzugrenzen ist 5 6 . Allgemeinpolitische Aussagen der Gewerkschaften geraten zumindest m i t einem Teil der politischen Parteien nicht nur i n partielle, sondern umfassende Konkurrenz 5 7 , was die Funktion der Parteien zur politischen Integration ebenso gefährdet 58 wie der Fall, daß sich eine Partei m i t den Verbänden, namentlich den Gewerkschaften identifiziert 5 9 . A u f diese Weise können die Parteien von solchen Großverbänden wie den Gewerkschaften allmählich überrundet oder ausmanövriert werden 6 0 , w e i l die ohnehin bestehende Tendenz der Verbände, Einfluß auf Parteienent51
Hirsch, Gewerkschaften, S. 26, 28, 32 ff. Vgl. § 6 A . 53 Vgl. § 6 B ; zur K r i t i k vgl. Weber, Spannungen, S. 358. 54 Vgl. Weber, Spannungen, S. 244. 55 So aber v. Beyme, Interessengruppen, S. 44; vgl. auch Herzog, A l l g . Staatslehre, S. 255: religiös-weltanschauliche, politische u n d sozialpolitische „Ebenen" seien nicht scharf voneinander getrennt. 56 § 24 A , § 29 D. 57 Weber, Spannungen, S. 123 f., 357. 58 Krüger, Grenzen, S. 37; auch Hamann, Gewerkschaften, S. 32, sieht die legitime Konkurrenz zwischen Parteien u n d Gewerkschaften n u r „ i m A n w e n dungsbereich der Sozialstaatlichkeit". 59 Wittkämper, Interessenverbände, S. 166. 60 Weber, Spannungen, S. 124. 52
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Scheidungen und -programme zu nehmen 61 , noch intensiviert und erheblich ausgeweitet würde 6 2 . Darüber hinaus w i r d durch Bündnisse und Kartellbildungen zwischen Parteien und Verbänden 63 die Konkurrenzlage der Parteien untereinander verschoben oder verzerrt. Die entscheidende Bedeutung von A r t . 21 für die Volkswillensbildung 6 4 läuft so Gefahr, zugunsten der Verbände, insbesondere der Gewerkschaften, ausgehöhlt zu werden, ohne daß sich diese wie die Parteien i n allgemeinen Wahlen der Kontrolle durch das Volk unterwerfen müßten. Dagegen w i r d der spezifische Aspekt, den die Gewerkschaften als Arbeitnehmerorganisationen i n den politischen Prozeß einbringen und zur Darstellung typischer Interessenlagen verwenden können, aufgelöst oder abgeschwächt. Der bestehende „Zielkonflikt" 6 5 zwischen sozialer Ordnungsfunktion 0 6 und effektiver Interessenvertretung w i r d noch erweitert, indem bei der Konfliktlösung auf zusätzliche allgemeine Zielvorstellungen Rücksicht genommen wird. Die ohnehin recht schwache Möglichkeit der Gewerkschaften, dem Staat zur Sachlichkeit der politischen Diskussion zu verhelfen 67 , w i r d vollends beseitigt. Die Gewerkschaften können untereinander oder mit anderen Verbänden i n einen Konkurrenzkampf mit unspezifischen Gesichtspunkten geraten, die keinen sachlichen Bezug mehr haben 68 . Die Bereitschaft der Parteien, einen Verband hauptsächlich als Wählerreservoir anzusehen und weniger nach seinem Sachverstand oder der Legitimität des von i h m vorgetragenen Interesses zu bewerten, w i r d verstärkt. Die dadurch bedingte Rangsteigerung der Massenverbände, wie gerade der großen Gewerkschaften, kann zur Monopolisierung des Verbandswesens führen 6 0 und die lebendige Vielfalt der Interessengruppen zugunsten eines „Pluralismus oligarchischer Herrschaftsgruppen" 70 lähmen. Der (zumindest potentielle) Ausgleich der Gruppen w i r d gefährdet und damit eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Funktionsfähigkeit der pluralistischen, d. h. offenen Gesellschaftsstruktur 71 . 01
Vgl. etwa Fraenkel, Deutschland, S. 150. Vgl. auch Badura, Scheuner-Festschrift, S. 30; Ipsen, DÖV 1974, S. 299. 63 Dazu Weber, Spannungen, S. 125. 64 Vgl. § 37 A . 63 Vgl. §25 A , 2d. 66 Vgl. § 18 D, 4 a, bb. 67 Vgl. Wittkämper, Interessenverbände, S. 165; Varain, EvStL, Sp. 2324; Weber, i n : Beutler Verbände, S. 19 f.; Krüger, Grenzen, S. 37; Jahrreis, Grundfragen, S. 13; Herzog, A l l g . Staatslehre, S. 74; Hesse, Grundzüge, § 5 I I 2 c. 68 Krüger, Grenzen, S. 37. 69 Vgl. dazu Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 379 f.; Wittkämper, a. a. O., S. 167, sieht darin einen Verstoß gegen A r t . 21 ( „ M i t w i r k e n " ) . 70 Weber, Spannungen, S. 44, 49,131 f. 71 Vgl. §17 A. 62
§ 36. Politische Tätigkeit u n d Meinungsfreiheit
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D. Die Theorie der „Repräsentation organisierter Interessen"
Zu dem gleichen Ergebnis führt auch die Weiterentwicklung der Theorie der Repräsentation organisierter Interessen 72 . Diese kann für den Bereich der Staatswillensbildung keine rechtlichen Konsequenzen haben, wohl aber ist sie für die Volkswillensbildung verwendbar 7 3 . Sie ist Ausdruck der gesellschaftlichen Mannigfaltigkeit 7 4 , die jedoch nur erhalten werden kann, wenn dadurch gerade die verschiedenen typischen und spezifischen Auffassungen der Gruppen und Verbände zum Tragen kommen 75 , nicht aber, wenn dieser spezifische Bezug zu den Interessen der M i t glieder verlorengeht, die Konstitutionsmerkmale des jeweiligen Verbandes sind. Denn nach wie vor werden die Gewerkschaftsfunktionäre nicht unter allgemeinpolitischen, sondern unter verbandsspezifischen Gesichtspunkten gewählt 7 6 . Legitimierte allgemeinpolitische Repräsentation ist daher nicht möglich 77 . Während i m staatlichen Bereich eine gegenständlich unbegrenzte M i t w i r k u n g mächtiger Wirkungseinheiten wie der Gewerkschaften Tendenzen eines „Staates i m Staate" 78 verstärkt, drohen der Gesellschaft entsprechende Gefahren, wenn sich die Gewerkschaften zu einer alle Sachgebiete durchdringenden und daneben existentielle Lebensbedingungen ihrer Mitglieder vertretenden „Gesellschaft i n der Gesellschaft" entwickeln, abgesehen von der dadurch intensivierten Totalpolitisierung des gesellschaftlichen Bereiches. I n diesem Zusammenhang ist die Warnung Löwensteins 79 vor einem „Despotismus der pluralistischen Gruppen", die stärker als der Staat die individuelle Freiheit bedrohen können 80 , ernst zu nehmen. E. Herstellung praktischer Konkordanz
Eine gegenständlich unbegrenzte Ausübung des Grundrechts aus A r t . 5 I durch die Gewerkschaften stört den Prozeß der politischen Einheitsbildung erheblich. Die möglichen Vorzüge stehen dazu außer Verhältnis. Die durch Art. 51, 9 I I I und 21 geschützten verfassungsrechtlichen Rechtsgüter entfalten optimale Wirksamkeit jeweils nur dann, wenn die 72
Vgl. §18 C 5. Vgl. §18 C, 5 b. 74 Kaiser, Repräsentation, S. 338 ff. (352); Huber, Verbände, S. 19; Weber, Spannungen, S. 356; gegen diese Auffassung ausdrücklich Hirsch, Gewerkschaften, S.127. 75 Krüger, Allg. Staatslehre, S. 400 f. 76 Eschenburg, Verbände, S. 77; vgl. auch § 14 C 2. 77 Galperin, D B 1970, S. 349. 78 § 2 5 A , 2 c. 79 Verfassungslehre, S. 387. 80 § 23 B, § 29 A. 73
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gewerkschaftliche Meinungsäußerung beschränkt wird. Aus der Sicht der Einheit der Verfassung 81 und unter Berücksichtigung ihrer praktischen Verwirklichung ist also eine gegenständliche Begrenzung erforderlich. Die Gesamtstruktur der verfassungsrechtlichen Ordnung verteilt die Funktionen innerhalb des Gemeinwesens 82 und weist den Gewerkschaften eine soziale Sphäre zu 83 , nicht mehr und nicht weniger. Dabei kommt den Verbänden, namentlich den Gewerkschaften, eine allgemeinpolitische Funktion nicht zu 84 . § 37. Die politische Tätigkeit der Gewerkschaften im Hinblick auf ihre öffentliche Aufgabe 85 A. Vergleich zwischen politischen Parteien und Gewerkschaften 86
Die Gewerkschaften beteiligen sich zwar nicht wie die Parteien unmittelbar an den Wahlen 8 7 , nehmen aber gleichwohl Einfluß auf Wähler und Parteien 88 . Sie haben zwar keinen direkten Z u t r i t t zum Parlament, sondern können diesen Weg nur über die Parteien gehen 89 , haben aber dort ebenso wie die Parteien eigene Repräsentanten 90 . Sie sind an Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung beteiligt. Ihre Vertreter werden dazu meist von der Gewerkschaftsführung benannt und entsandt, nur i n seltenen Fällen von den Gewerkschaftsmitgliedern dazu gewählt 9 1 . Sie üben so neben der inoffiziellen faktischen Einwirkung offiziell neben den Parteien und über sie „hinweg" Einfluß auf die Verwaltung aus 92 . Die Koalitionsfreiheit gewährleistet als wesentliches Element die Tarifautonomie der Gewerkschaften und Arbeitgeber bzw. Arbeitgeber81
Vgl. §34 Β 3. Krüger, Grenzen, S. 38. 83 Galperin, D B 1970, S. 301. 84 I m Ergebnis ebenso Krüger, Grenzen, S.38; Thiele, B B 1973, S. 2 ff.; Ipsen, DÖV 1974, S. 299. 85 Vgl. Krüger, Grenzen, S. 35: v o n der öffentlichen F u n k t i o n her sei die Grundrechtsgeltung zu entscheiden; er geht dabei aber v o n A r t . 19 I I I aus, vgl. §34 A . 86 Vgl. auch § 6 D, § 16 B. 87 Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 21, Rdnr. 24; Hesse, Grundzüge, § 5 I I 2 c. 88 Vgl. §§ 12,13; Dagtoglou, Privater, S. 145. 89 Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 21, Rdnr. 24; Thiele, B B 1973, S. 1 f. 90 Vgl. §9. 91 § 4, Tabellen 3 u n d 4. 02 Dagtoglou, Privater, S. 145 f. 82
§ 37. öffentliche F u n k t i o n der Gewerkschaften
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verbände 93 . Damit weist die Verfassung den Tarifvertragsparteien eine Gestaltungs- und Ordnungsfunktion zu 94 , die sie ebenfalls aus der rein gesellschaftlich-privaten Sphäre heraushebt. I n ihrer Stellung als Tarifpartner und Streikführer haben die Gewerkschaften ein Instrument zur Beeinflussung der Wirtschaftspolitik i n der Hand, das der wirtschaftspolitischen Macht der Parteien durchaus gleichkommt 95 , wenn nicht sogar überlegen ist. Die Koalitionen sind zwar keine politischen „Kreationsorgane" wie die Parteien 96 und auch m i t keiner dem Parteimandat vergleichbaren repräsentationsrechtlichen Zuständigkeit ausgestattet 97 , aber i n ihrer öffentlichen Stellung sind sie — wenn auch mit anderen Aufgaben — i m Prinzip den Parteien vergleichbar 98 . Scheuner 99 sieht diese Entwicklung als charakteristisch für die Verbände schlechthin an, sie befänden sich heute i n ähnlicher Situation wie die Parteien vor A u f nahme des A r t . 21 i n die Verfassung. Man charakterisiert die Koalitionen als „Arbeitsmarktparteien" 1 0 0 . B. Die Stellung der politischen Parteien in der Volks- und Staatswillensbildung
M i t A r t . 21 erkennt das GG an, daß ohne ein funktionsfähiges Parteiwesen parlamentarische Demokratie nicht möglich ist, und legalisiert die politische Wirklichkeit des Parteienstaates 101 . Die politischen Parteien sind „aus dem Bereich des Politisch-Soziologischen i n den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution" hineingewachsen 102 . Sie gehören als freiheitliche, nicht-staatliche Gebilde nach wie vor dem gesellschaftlichen Bereich an 1 0 3 . Für die politischen Parteien ist A r t . 21 gegenüber Art. 9 93
§ 18 C 4. § 18 D, 4 a, bb. 95 §18 D l . 96 BVerfGE 20,106 f., 114; 1. 225. 97 Scheuner, i n Beutler Verb., S. 12 ff.; Leibholz, Strukturprobleme, S. 330 ff.; Wiedemann, RdA 1969, S. 327 ff.; Henke, Parteien, S. 19 f.; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 21, Rdnr. 24; Scholz, R d A 1970, S. 211. 98 Ridder, Gewerkschaften, S. 20 ff.; Scheuner, Koalitionsfreiheit, S. 39, 52, 68; Lerche, Zentralfragen, S. 27 f.; ders., Verfassungsfragen, S. 31; Hamann, Gewerkschaften, S. 32 f.; u n d Abendroth, i n : Forsthoff, Rechtsstaatlichkeit, S. 142 f., leiten die Nähe zu den Parteien v o m demokratischen Koalitionsmandat ab; kritisch dazu Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 165 ff.; Wittkämper, Interessenverbände, S. 164, vergleicht i m Bereich v o n A r t . 9 I I I die Koalitionen m i t den Parteien. 99 D Ö V 1965, S. 578; ders., Koalitionsfreiheit, S. 39. 100 Galperin, D B 1970, S. 349; unter Hinweis auf ein U r t e i l des L A G Bayern. 101 Vgl. etwa BVerfGE 20, 110; ähnlich schon E 1, 208 (225); Hesse, G r u n d züge, § 5 I I 6. los BVerfGE 2,1 (73); 11, 266 (273); 20, 56 (100). 94
103 BVerfGE 1, 208 (224 f.); 3, 383 (393); 13, 54 (81, 95); 20, 101 ff.; Hesse, V V D S t R L 17, 11 (22 ff.); Henke, Parteien, S. 10 f., 83 ff.; Scheuner, DÖV 1968, S. 89.
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eine Spezialregelung 104 . Als „Zwischenglieder" 1 0 5 zwischen dem einzelnen und der politisch ungeformten Masse bewirken sie die „Vorformung" 1 0 6 des politischen Willens des Gesamtvolkes i m Staat. Das Volk t r i t t dabei also nicht als Einheit auf, sondern ist i n Gruppen gegliedert und mediatisiert 1 0 7 . Dieser Tatbestand w i r d i n § 1 ParteienG ausdrücklich bestätigt. Darüber hinaus w i r k e n die Parteien unmittelbar und maßgeblich an der Willensbildung des Staates mit 1 0 8 , indem sie die „Funktionen eines Verfassungsorgans" 109 wahrnehmen, ohne allerdings selbst Verfassungsorgane zu sein 110 . Aus dieser besonderen Stellung erklären sich das aus Art. 21 folgende Gebot der innerparteilichen Demokratie, Art. 21 I S . 3, und die Pflicht zur Offenlegung der Finanzierung, A r t . 21 I S. 4. Dies wäre nicht verständlich, wenn die Parteien nur Funktionen i m gesellschaftlichen Bereich hätten 1 1 1 . I n ähnlichem Sinnzusammenhang steht das Parteienverbot von A r t . 21 I I : Gemäß Art. 21 II, 1. Alt., ist eine Partei verfassungswidrig, die die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen beabsichtigt. Das BVerfG 1 1 2 definiert diese als „eine Ordnung, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den i m GG konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition". Die Elemente dieser Grundordnung sind also größtenteils Prinzipien für den Prozeß der »Staatswillensbildung; folglich ist es zwar denkbar, 104 BVerfGE 1, 13; 12, 296 (304); Henke, Parteien, S. 11, 32 ff., 36, 179, 181 f.; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 21, Rdnr. 38. 105
Vgl. Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 21, Rdnr. 5, m. w . Nachw. s.o. Fußn. 40. 107 Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 21, Rdnr. 5. los BVerfG 20, 99, 101 ff.; 14, 133; 3, 19 (26); sie sind „letzte Kreationsorgane aller anderen Organe", E 1, 208 (224). io» BVerfGE 4, 27 (30 f.); 5, 85 (134); 6, 367 (372, 375); 20,100. 106
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So aber noch BVerfGE 1, 225; 12, 280. Vgl. BVerfGE 20, 106; Hesse, V V D S t R L 17, S. 30; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 174. 112 BVerfGE 2, 1 (12 f.); vgl. dazu Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 21, Rdnr. 114; ausführlich Schmitt Glaeser, Mißbrauch, S. 32 ff. (43 ff.), m. w. Nachw. 111
§ 37. öffentliche Funktion der Gewerkschaften
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daß eine Partei, die diese Prinzipien v e r w i r f t und bekämpft, noch als gesellschaftlich-politische Gruppe an der VolksWillensbildung teiln i m m t 1 1 3 . Es ist n u n aber nicht mehr möglich, daß „ i h r die verantwortliche, rechtlich maßgebliche M i t w i r k u n g bei der Bildung des Staatswillens verfassungsrechtlich garantiert werden könnte" 1 1 4 . Diese zutreffende Schlußfolgerung des BVerfG macht die Interdependenz zwischen der Teilnahme an der Staatswillensbildung und der M i t w i r k u n g an der Volkswillensbildung deutlich und läßt sich folgendermaßen abstrahieren: Die i n der Gesellschaft wurzelnden Parteien können nur so lange an der Staatswillensbildung beteiligt sein, wie ihre Tätigkeit i m Rahmen der Staats- und Volks Willensbildung nicht denjenigen Prinzipien widerspricht, deren Beachtung für die Staatswillensbildung unerläßlich ist. C. Konsequenzen für Stellung und Funktion der Gewerkschaften im Prozeß der Volkswillensbildung
Da die Gewerkschaften i n ähnlicher Weise wie die Parteien i n die Staatswillensbildung integriert sind, muß der oben für die Parteien entwickelte Grundsatz auch auf die Gewerkschaften Anwendung finden. Der Verfassungsgeber hat die Koalitionen i m Gegensatz zu den Parteien nicht aus der Zone ungebundener, freier Kommunikation herausgehoben, was durch das Fehlen koalitionsrechtlicher Parallelvorschriften zu A r t . 21 I S. 3 u n d 38 I S. 2 bewiesen w i r d 1 1 5 . Offenbar mißt er den Koalitionen keine konstitutionellen Repräsentationsfunktionen zu wie den Parteien 1 1 8 , so daß ein Vergleich zwischen der Stellung der Parteien und derjenigen der Koalitionen nicht zur völligen repräsentationsrechtlichen Gleichstellung führen darf 1 1 7 . Dies w i r d auch nicht bezweckt, wenn die Prinzipien, die für die M i t w i r k u n g der Parteien an der Staatswillensbildung gelten, auch auf die Gewerkschaften bezogen werden, soweit diese i n ähnlicher Weise i n den Staat inkorporiert werden 1 1 8 . Es kann auch die „öffentliche" Eigenschaft der Koalitionen keinen wesensverändernden Einfluß auf deren verfassungsrechtliche Stellung haben 1 1 9 . I n dieser Untersuchung geht es u m die verfassungsrechtlichen A u s w i r k u n gen und Konsequenzen ihrer Tätigkeit auf die Staatswillensbildung. Z i e l 113
BVerfGE 5, 85 (134). BVerfGE 5,134. 115 Vgl. BVerfGE 20, 106 ff., 114; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 175; Leibholz, Strukturprobleme, S. 330 ff.; Wiedemann, RdA 1969, S. 327 ff.; Henke, Parteien, S. 19 f.; Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 21, Rdnr. 24. 118 BVerfGE 20,106 f.; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 174 ff. 117 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 175; Ipsen, DÖV 1974, S. 299; Badura, Scheuner-Festschrift, S. 30. 118 s. auch Föhr, N J W 1975, S. 61 ff. 119 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 222. 114
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ist, die Funktionsfähigkeit der Staatswillensbildung zu sichern, auszubauen und vor Gefahren zu schützen, die ihr durch gesellschaftliche, aber i n sie partiell integrierte Kräfte drohen. Die Gewerkschaften können demgemäß nur so lange an der staatlichen Willensbildung mitwirken, wie sie die für diesen Bereich entwickelten Beteiligungsprinzipien auch bei ihrer M i t w i r k u n g an der politisch-gesellschaftlichen Willensbildung berücksichtigen, insbesondere also die gegenständliche Beschränkung politischer Betätigung beachten 120 . Da sich diese m i t der durch A r t . 9 I I I S. 1 begründeten arbeits- und wirtschaftspolitischen Funktion decken, kann dieser Grundsatz i n der spezifisch politischen Funktion von A r t . 9 I I I S. I 1 2 1 verfassungsrechtlich verankert werden, allerdings nur mittelbar. Überschreiten die Gewerkschaften diese Beteiligungsgrenze i m gesellschaftlichen Bereich, setzen sie sich damit i n Widerspruch zu ihrer intensiven Integration i n den Staatsapparat und können die Staatswillensbildung verfälschen. Dies ist die verfassungsrechtliche
Alternative
für
die
Gewerkschaften.
Das anscheinend für ein Recht zu politisch umfassender Aussage sprechende Argument, den Gewerkschaften müsse erlaubt sein, was jedermann erlaubt sei, ist widersprüchlich 122 : die Gewerkschaften sind nicht jedermann, sondern Organisationen m i t besonderen Funktionen. Z u weitgehend erscheint jedoch die Folgerung, die Gewerkschaften könnten, wenn sie öffentliche Funktionen wahrnehmen wollten, nicht zugleich unbeschränkt durch eigene Unternehmen am Wirtschaftsleben teilnehmen 1 2 3 . Denn damit würde die Funktionsfähigkeit der Gewerkschaften erheblich eingeschränkt. Die Sicherung der Streikfähigkeit sowie die Wahrnehmung der übrigen Gewerkschaftsfunktionen setzen voraus, daß die Gewerkschaften ihr Vermögen ökonomisch sinnvoll, d. h. m i t möglichst hoher Rendite anlegen. Von dieser verfassungsrechtlichen und wirtschaftspolitischen Aufgabe her gesehen ist die Beteiligung der Gewerkschaften am Wirtschaftsleben nicht nur unbedenklich, sondern geradezu geboten. Dies ist m i t der nur beschränkt zulässigen p r i v a t w i r t schaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand rechtlich daher nicht zu vergleichen.
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Vgl. §31. Z u r politischen F u n k t i o n v o n A r t . 9 I vgl. Maunz(-Dürig-Herzog), GG, A r t . 9, Rdnr. 14. 122 Krüger, Grenzen, S. 39. 128 So Galperin, D B 1970, S. 351. 121
§ 37. öffentliche F u n k t i o n der Gewerkschaften
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D. Weitere Konsequenzen aus der öffentlichen Funktion der Gewerkschaften 1. Vergleich
zur öffentlichen
Funktion
der
Pressefreiheit
Daß dem Verfassungsrecht die Folgerung von der öffentlichen Funktion auf bestimmte Verpflichtungen i m gesellschaftlichen Bereich nicht fremd ist, beweist ein Blick auf die Meinungs- und Pressefreiheit, A r t . 5 I S.1,2. Die überwiegende Auffassung definiert diese Rechte als politische Grundfreiheiten m i t Konnex zum Demokratieprinzip, A r t . 20 I 1 2 4 , die Pressefreiheit erfülle auch öffentliche Aufgaben 1 2 5 . U m dieser Funktion willen bestehen bestimmte Pflichten 126 bei der Ausübung der Meinungsund Pressefreiheit, wie ζ. B. die journalistische Sorgfalts- und Wahrheitspflicht 127 . Daß das wegen öffentlicher Funktionen pflichtgebundene Recht aus A r t . 5 1 nicht allein unter diesem Aspekt des Pflichtrechts gesehen werden darf, sondern wegen seines freiheitlichen Charakters auch andere Intentionen verfolgt, also gleichsam „zwei Wurzeln" hat 1 2 8 , soll an dieser Stelle nur klargestellt werden, braucht jedoch zur Veranschaulichung des Themas dieser Arbeit nicht weiter vertieft zu werden. Da die Gewerkschaften nicht nur politisch-öffentliche, sondern überdies öffentlich-rechtliche Funktionen erfüllen, liegt eine Pflichtbindung, d. h. Beschränkung der Ausübung dieses Grundrechts noch näher als i m Fall der Presse. Auch korrespondiert m i t der Einräumung eines aktivbürgerlichen Status für die Gewerkschaften die Statuierung entsprechender Pflichten; dies folgt aus dem Sozialstaatsprinzip 129 , nach Auffassung Hamanns auch aus dem demokratischen Prinzip 1 8 0 . 124 Vgl. v o r allem Ridder, Grundrechte I I , S. 249 ff., 258; BVerfGE 7, 198 (208); 12, 113 (125); 10, 118 (121); B V e r f G N J W 1973, S. 1228; Krüger, Allg. Staatslehre, S. 437 ff.; Schmitt Glaeser, Mißbrauch, S. 107. 125 Vgl. insbesondere B V e r f G 12, 113 (128); 20, 162 (175); N J W 1969, S. 1019 f.; N J W 1973, S. 1228; BGHSt. 18, 182 (187); B G H N J W 1963, S. 665 (667); Ridder, Grundrechte I I , S. 249 ff., 258; Löffler, Presse, S. 1 ff.; ders., Presserecht I, S. 7 ff.; I I § 3 L P G Nr. 15 ff.; P. Schneider, Pressefreiheit, S. 67, 83 ff.; F. Schneider, Presse- u n d Meinungsfreiheit, S. 118 ff.; ders., N J W 1963, S. 665 f.; W. Schmidt, JZ 1967, S. 151 (154); Kemper, Pressefreiheit, S. 25 f., 33; A r n d t , N J W 1960, S. 425; v. Mangoldt/Klein, GG, A r t . 5, A n m . V I 3; Krüger, Massenmedien, S. 4 ff.; Groß, DVB1. 1966, S. 562 f.; ders., N J W 1963, S. 893 f.; Scheuner, V V D S t R L 22, S. 30, 68 f., 75 f.; Dürig, V V D S t R L 22, S. 167 f., 196 f. 126 BVerfGE 12, 113 (130); 20, 162 (212); vgl. zur Analyse dieser Rechtsprechung Schmitt Glaeser AöR 97 (1972), S. 113 f., 119 ff. 127 BVerfGE 12,113 (130); (Maunz-Dürig-)Herzog, GG, A r t . 5, Rdnr. 144 ff. 128 Vgl. (Maunz-Dürig-)Herzog, GG, A r t . 5, Rdnr. 5 ff. ( 6 - 8 ) , 127 ff.; allgemein etwa BVerfG, DVB1. 1969, S. 497; Martens, Öffentlich, S. 63, 66 f., 125 ff.; Scheuner, V V D S t R L 22, 68 f.; Czajka, Pressefreiheit, S. 142 ff.; P. Schneider, S. 23 ff.; Mallmann, JZ 1966, S. 629 ff.; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 211 ff. 129 Vgl. § 28 C 2. wo Gewerkschaften, S. 30 f.
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Kap.: Gewerkschaften i m
2. Rechtsstaatliche
e e l c h e n
Beschränkung
öffentlicher
Bereich Macht
Die Gewerkschaften stehen gleichsam „ m i t einem Bein" i m Staat, mit dem anderen i n der Gesellschaft. Daher ist die durch sie ausgeübte Macht, auch wenn sie nicht einer gerade öffentlich-rechtlichen Befugnis entspringt, niemals lediglich gesellschaftlich-private Machtentfaltung, sondern geht darüber hinaus. Die Mäßigung und rechtliche Bindung aller öffentlichen Machtausübung ist Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips, so daß die oben beschriebene Beschränkung gewerkschaftlicher Machtausübung i m Prozeß der Volkswillensbildung auch aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit geboten erscheint. 3. Vergleich
zu öffentlich-rechtlichen
Berufskörperschaften
Ein weiteres Argument folgt aus der Praxis der öffentlich-rechtlichen Berufskörperschaften wie den Rechtsanwalts-, Ärzte-, Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern 1 3 1 usw. Bei relativ eng begrenztem gesetzlichen Aufgabenbereich erfüllen sie ihre Funktion, die auch i n der Interessenvertretung liegt 1 3 2 , zweifellos effektiv, ohne auf ein umfassendes politisches Mandat angewiesen zu sein 133 . Der Vergleich zu diesen ursprünglich gesellschaftlichen Institutionen 1 3 4 zeigt, daß spezifische Interessen dadurch wirksam vertreten werden können, daß diese von anderen getrennt werden. Der vermeintlich untrennbare Zusammenhang zwischen Interessenvertretung und sonstigen politischen Bereichen 135 ist also durchaus auflösbar, ohne daß dies notwendig zu Lasten der Interessenvertretung ginge. Die Gewerkschaften bedürfen also keines „allgemeinpolitischen Mandats", jedenfalls nicht zur Wahrnehmung von Arbeitnehmerinteressen. Versucht man sie jedoch weniger als Ordnungs- denn als Gegenmacht zu begreifen 136 , ist das Ergebnis sicherlich ein anderes. Als Gegenmacht jedoch ist ihnen die — auch nur teilweise — Integration i n die Staatswillensbildung versperrt. Hier stellt sich den Gewerkschaften erneut die oben skizzierte Alternative 1 3 7 . 131 Vgl. § 62 B R A O ; § 3 I I H K - G ; § 90 I HandwO, ζ. Β . § 1 Berufsvertretung Heilberufe (Ges. Hessen). 132 Vgl. § 90 I, S. 1, H a n d w O ; § 1, S. 1, I H K - G ; BVerfGE 15, 235 (241); Th. E l l wein, Regierungssystems, S. 155. 133 Scheuner, Koalitionsfreiheit, S. 39, zieht auch einen Vergleich zu den Gemeinden. 134 Vgl. BVerfGE 15, 235 (240); Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31, S. 235, meint, es handele sich „materiell mehr u m Interessenverbände". 135 Hirsch, Gewerkschaften, S. 28, 33; v. Beyme, Interessenverbände, S. 44. 136 V g l E b Schmidt, Ordnungsfaktor oder Gegenmacht, S. 38 ff., 167 ff. 137 § 37 C.
§ 38. Schlußfolgerungen u n d rechtspolitischer Ausblick
235
Da diese Untersuchung von der staatlichen Einbeziehung der Gewerkschaften ausgeht, scheidet eine weitere verfassungsrechtliche Analyse einer solchen Gewerkschaftsposition i n diesem Rahmen aus. Für dieses Ergebnis sprechen weiterhin rechtspolitische Erwägungen. Eine die M i t w i r k u n g i m staatlichen Bereich permanent gegenständlich überschreitende gesellschaftliche Betätigung der Gewerkschaften kann zur Folge haben, daß sich die gewerkschaftliche Einbeziehung i n die Staatswillensbildung als laufendes Funktionsdefizit gegenüber der gesellschaftlichen Stellung der Gewerkschaften darstellt. Daraus kann die Gefahr entstehen, daß die von den Gewerkschaften wahrgenommenen öffentlichen Aufgaben von deren gesellschaftlichen Betätigung überlagert oder m i t dieser vermischt werden und damit die Begrenzung dieser staatlichen Mitwirkungsaufgaben ausgehöhlt wird. Weiterhin können sich aus einer solchen Funktionsdifferenz Schwierigkeiten m i t den Gewerkschaftsmitgliedern ergeben. Diesen stellen die Gewerkschaften einen politischen Anspruch vor, der i m staatlichen Bereich von den Gewerkschaften selbst gar nicht verwirklicht werden kann. Das daraus resultierende Mißtrauen gegenüber der Gewerkschaftsführung kann schließlich die Tariffähigkeit der Gewerkschaften gefährden.
§ 38. Schlußfolgerungen und rechtspolitischer Ausblick
I m betrieblichen und überbetrieblichen Unternehmensbereich steht den Gewerkschaften ein unbeschränktes Recht auf politische Meinungsäußerungen nicht zu, vielmehr stellen die arbeits- und wirtschaftspolitischen Belange der Arbeitnehmer Inhalt und Grenze dar. I m übrigen gesellschaftlichen Bereich geraten die Gewerkschaften durch Wahrnehmung eines umfassenden politischen Mandats sowohl i n Konflikt m i t A r t . 9 I I I als auch mit politischen Leitlinien, die sich aus der spezifisch-politischen Funktion der Grundrechte und damit aus einer mittelbaren verfassungsrechtlichen Gewährleistung sowie aus A r t . 21 ergeben. Weiterhin setzen sich die Gewerkschaften damit i n Widerspruch zu ihrer öffentlichen Funktion. Daraus kann freilich nicht die rechtliche Schlußfolgerung gezogen werden, daß unbeschränkte politische Meinungsäußerung durch die Gewerkschaften i m außerbetrieblichen Bereich verfassungswidrig ist. U m diesen Nachweis geht es auch nicht, sondern darum, die verfassungsrechtlichen Zusammenhänge herzustellen, i n denen umfassende, unbegrenzte politische Äußerungen der Gewerkschaften stehen, und aufzuzeigen, daß eine solche Verhaltensweise der Gewerkschaften verfassungsrechtlichen Strukturelementen widerspricht. Dies kann zu einer Situation führen,
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Kap.: Gewerkschaften i m
e e l c h e n
Bereich
die nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich ist, sondern Verfassungsstrukturen abbaut und damit verfassungswidrig wird. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, solchen Gefahren für das Grundgesetz zu begegnen. Die Schaffung eines dem Parteiengesetz ähnlichen „Koalitionsgesetzes", das die Funktion und Organisation der Koalitionen i m staatlichen und gesellschaftlichen Bereich regelt 1 3 8 , wäre eine geeignete gesetzgeberische Maßnahme.
138 Säcker, Grundprobleme, S. 88 f.; Galperin, D B 1970, S. 350 ff.; kritisch Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 262; Feuchtmeyer, Gewerkschaften, S. 134 f.; Scheuner, D Ö V 1965, S. 581.
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