Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Wiedervereinigung: Zur Funktion einer Argumentationsfigur anhand ausgewählter Beispiele [1 ed.] 9783428523528, 9783428123520

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Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Wiedervereinigung: Zur Funktion einer Argumentationsfigur anhand ausgewählter Beispiele [1 ed.]
 9783428523528, 9783428123520

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1059

Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Wiedervereinigung Zur Funktion einer Argumentationsfigur anhand ausgewählter Beispiele

Von Anja Bräunig

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ANJA BRÄUNIG

Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Wiedervereinigung

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1059

Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur deutschen Wiedervereinigung Zur Funktion einer Argumentationsfigur anhand ausgewählter Beispiele

Von Anja Bräunig

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Werksatz, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12352-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2006 von der Juristischen Fakultät der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg als Dissertation angenommen. Mein Dank gilt zunächst Herrn Prof. Dr. Winfried Kluth, Halle/Saale, der die Arbeit in thematischer Hinsicht angeregt hat. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich sodann Herrn Prof. Dr. Horst Dreier, der die Arbeit betreut und mir an seinem Lehrstuhl die zu ihrer Anfertigung nötigen Freiräume gegeben hat. Gedankt sei ferner Herrn Prof. Dr. Helmuth Schulze-Fielitz für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Herzlich bedanken möchte ich mich aber vor allem bei meinem Kollegen am Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht, Herrn Privatdozent Dr. Fabian Wittreck, der mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand. Gleiches gilt für meine Freundin, Frau Assessorin Kathrin Otto, die die Arbeit intensiv und kritisch Korrektur gelesen hat, für meinen Kollegen, Herrn Assessor Niels Magsaam, für unsere ehemalige Sekretärin am Lehrstuhl, Frau Gertrud Bauer, sowie für alle anderen, die während der „heißen Phase“ für Aufmunterung gesorgt haben. Schließlich seien alle (ehemaligen) studentischen Hilfskräfte am „Lehrstuhl Dreier“ erwähnt, die mich bei der Beschaffung der Literatur unterstützt haben. Für alles andere danke ich meinen Eltern. Ihnen ist die Arbeit gewidmet. Würzburg, im Herbst 2006

Anja Bräunig

Inhaltsverzeichnis Fragestellung und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Kapitel 1 Charakterisierung des Transformationsprozesses in Ostdeutschland

21

A. Der deutsche Einigungsprozeß als Sonderform der Transformation . . . . . . . . . . 21 I. Transformation als Inbegriff für Systemwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 II. Rechtseinheit als Zielvorgabe für den Systemwechsel in Deutschland . . . . . 23 B. Der Fluchtpunkt der Rechtsangleichung: die bundesdeutsche Rechtsordnung . . I. Rechtseinheit als zwingende Folge der Staatseinheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Regelungen des Einigungsvertrages zur Rechtsanpassung . . . . . . . . . . . 1. Geltungserstreckung des Grundgesetzes mit Abweichungen . . . . . . . . . . . a) Übergangsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen von der Geltungserstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Dauerhafte Grundgesetzänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geltungserstreckung des einfachen Bundesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aufrechterhaltung von Einzelentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Technik und Charakteristika der Rechtsanpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die normative Erfassung der DDR-Rechtswirklichkeit als Grundproblem der Rechtsanpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Technik der Rechtsanpassung: Überführung, Neubewertung, Korrektur . a) Überführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neubewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Korrektur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Stufung der Rechtsüberleitung nach Maßgabe der Sozialverträglichkeit . 4. Orientierung am Maßstab der Einzelfallgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .

27 28 31 31 32 33 34 34 36 37 37 38 39 39 40 41 41

Kapitel 2 Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

43

A. Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit in der grundgesetzlichen Ordnung . . . 43 I. Die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

8

Inhaltsverzeichnis II. Das Verhältnis von Verfassungsbindung und gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit als Chiffre für das vom Grundgesetz nicht Normierte – Ausgestaltungsbefugnis und Ausgestaltungspflicht 3. Ausgestaltungsbefugnis als Resultat der Verfassungsinterpretation . . . . . III. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Argumentationsfigur . . . . . . .

B. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei einzelnen Grundrechtsgewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anteil eigener Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nutzung des Eigentumsobjekts durch Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wandel ökonomischer Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Neuordnung eines Rechtsgebiets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zwischenergebnis: zweidimensionale Bedeutung der Gestaltungsfreiheit im Rahmen der Eigentumsgarantie – Argumentationsfigur und Mittel zur Konturierung der Ausgestaltungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Gleichheitssatz des Art. 3 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Weite Gestaltungsfreiheit bei sachverhaltsbezogener Differenzierung . . . 2. Typisierung und Pauschalierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einzelne Sachbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenergebnis: Gestaltungsfreiheit als Reaktion auf die besondere Normstruktur des Gleichheitssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Konstellationen erweiterter Gestaltungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gesetzgebung im wirtschaftslenkenden Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Experimentelle Gesetzgebung – Versuchsgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . III. Insbesondere: Prognoseentscheidung und Prognosespielraum . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung

45 45 47 50 53 54 54 56 58 60 61

63 63 66 66 67 68 68 69 71 74

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 Kapitel 3

Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung und ihre Behandlung durch das Bundesverfassungsgericht A. Auswahl und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Abgrenzungskriterium: transformatorischer Wesenszug . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausschluß der Fallgruppen, die die bloße Rechtsanpassung betreffen . . . 2. Ausschluß der Fallgruppen, die die „Vergangenheitsbewältigung“ betreffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Altschuldenfrage

78 78 81 81 82 85

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

Inhaltsverzeichnis

9

I. Die Staatskredite vor und nach der deutschen Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 1. Die Wandlung vom sozialistischen zum marktwirtschaftlichen Kredit . . . 87 2. Behandlung durch die Zivilgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3. Zivilrechtliche Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 II. Das Altschuldenurteil des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 1. Vertragsfreiheit als Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Herabgesetzte Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . 93 3. Grundentscheidung: Fortbestand der Altschulden mit Entschuldungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4. Verhältnismäßigkeit im Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Kompensationspflicht des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 aa) Treuhandentschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 bb) Die bilanzielle Entlastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 cc) Der Ausschluß nicht sanierungsfähiger Betriebe . . . . . . . . . . . . . . 99 b) Gleichheitssatz als inzidenter Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 III. Weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 IV. Verfassungsrechtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Grundrechtsprüfung als methodischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Die besonders weite Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . 104 a) Die weite Gestaltungsfreiheit im wirtschaftslenkenden Bereich als Argumentationsbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Besonders weite Gestaltungsfreiheit aufgrund Zeit- und Erfahrungsmangels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3. Abweichung von den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts . . . . . . . . . 106 4. Alternativlösung: Konzentration auf die „Transformationsleistung“? . . . 106 C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in die gesetzliche Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Intelligenzrenten im Rentenversicherungssystem der DDR . . . . . . . . . 1. Die Errichtung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme . . . . . . . . . . a) Zusatzversorgungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sonderversorgungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entwicklung bis zum Einigungsvertrag und dessen Vorgaben für die Rentenüberleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rentenüberleitung und Korrektur durch das AAÜG . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Folgen für die Intelligenzrenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur rentenrechtlichen Systementscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Prüfungsmaßstab Art. 14 I 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zusatzversorgungsanwartschaften als Eigentumsposition . . . . . . . . . b) Bestimmung des Gestaltungsspielraums bei der Rentenüberleitung . c) Anwendung der Maßstäbe auf die Systementscheidung . . . . . . . . . .

108 108 109 110 111 112 114 116 116 117 117 118 119

10

Inhaltsverzeichnis aa) Überführungsschutz bei durchschnittlichen Einkommen . . . . . . bb) Kappungseffekt bei hohen Einkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfungsmaßstab Art. 3 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestimmung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums . . . . . . . b) Anwendung der Maßstäbe auf die Systementscheidung . . . . . . . . . . aa) Vergleichbare Versicherte aus den alten Bundesländern . . . . . . . bb) Noch Erwerbstätige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Versorgungsberechtigte mit Durchschnittseinkommen . . . . . . . . III. Weitere Entwicklung, insbesondere: die „Systemnähe“-Rechtsprechung . . IV. Verfassungsrechtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsprüfung als methodischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fortbestand der Rechtspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neubewertung als rentenversicherungsrechtliche Positionen . . . . . . 2. Weite Gestaltungsfreiheit im Rentenversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . 3. Stillschweigende Ausweitung der Gestaltungsfreiheit durch die Differenzierung von System- und Einzelfallentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121 122 123 123 123 124 124 125 125 129 129 130 132 133

D. Die Schuldrechtsanpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die sozialistische Eigentumsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Eigentumsformen in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nutzungsrecht statt Grundeigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nutzungszweck: Wohnen oder Erholung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nutzung zu Wohnzwecken: Sachenrechtsbereinigung . . . . . . . . . . . . b) Nutzung zu Freizeitzwecken: Schuldrechtsanpassung . . . . . . . . . . . . II. Die Überführung von Nutzungsverhältnissen an Erholungsgrundstücken in die bundesdeutsche Privatrechtsordnung – Die Schuldrechtsanpassung . . . 1. Zuordnung zu Miete und Pacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Kündigungsschutz bei der Nutzung von Erholungsgrundstücken . . III. Der „Datschen-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . 1. Prüfungsmaßstab Art. 14 I 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Konzept des gestuften Kündigungsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die erste Stufe – Kündigungsausschluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die zweite und dritte Stufe – Kündigungsbeschränkungen . . . . . cc) Kündigungsausschluß wegen Lebensalters . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Teilkündigungsrecht bei großen Grundstücken und weitere Beschränkungen des Kündigungsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Nutzungsentgelt- und Entschädigungsregelung . . . . . . . . . . . . . 2. Prüfungsmaßstab Art. 3 I GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Verfassungsrechtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundrechtsprüfung als methodischer Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136 136 136 137 138 138 139

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Inhaltsverzeichnis 2. Weite Gestaltungsfreiheit bei veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen

11 152

E. Zwischenergebnis: Die Argumentationsfigur der Gestaltungsfreiheit als Schlüsselbegriff der Vereinigungsrechtsprechung zur Bewältigung transformationsbedingter Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Kapitel 4 Sonderverfassungsrecht Ost?

155

A. Sonderverfassungsrecht als Fremdkörper in der grundgesetzlichen Ordnung . . 155 B. Geschriebenes Sonderverfassungsrecht Ost – Art. 143 I, II GG . . . . . . . . . . . . I. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 143 I, II GG . . . . . . . . . . . . II. Die Wesensmerkmale des Art. 143 I, II GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unerreichbarkeit eines voll verfassungsmäßigen Zustands . . . . . . . . . . . 2. Die „unterschiedlichen Verhältnisse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Legitimation von Verfassungsverstößen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenergebnis: Art. 143 I, II GG als transformationsbedingter Dispens

156 157 160 160 162 163 165

C. Ungeschriebenes Sonderverfassungsrecht Ost? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Singuläre Ausnahme beim Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Relativierung verfassungsrechtlicher Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . 1. Erweiterte Gestaltungsspielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Modifizierte Ausgestaltungsbefugnis bei Art. 14 I 2 GG . . . . . . . . . . . . III. Fazit: die Argumentationsfigur der Gestaltungsfreiheit als Prolongation des Art. 143 I, II GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Alternativlosigkeit der gewählten Überleitungskonzeption . . . . . . . . . . . . . 1. Entbehrlichkeit einer Sonderdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wahrung der Prärogative des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sozialverträglichkeit und Vorbehalt des Möglichen . . . . . . . . . . . . . . . .

165 166 167 167 168 170 170 171 172 173

D. Gefährdungslagen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Schluß: Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

Abkürzungsverzeichnis a. A. AAÜG

Abs. Abschn. a. F. AfNS Alt. ÄndG, ÄnderungsG Anl. Anm. AöR Art. AufhebG Aufl. Az. BAG BAGE BauGB BayVBl. BB Bd. Bde. Beschl. BezG BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ BLN BSG BSGE BT-Drucks. BuW BVerfG BVerfGE BVerfGG

andere(r) Ansicht Gesetz zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets (Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz) Absatz Abschnitt alte Fassung Amt für Nationale Sicherheit Alternative Änderungsgesetz Anlage Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Aufhebungsgesetz (der DDR vom 29. 6. 1990) Auflage Aktenzeichen Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Baugesetzbuch Bayerische Verwaltungsblätter. Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung Betriebsberater Band Bände Beschluß Bezirksgericht Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts Bundestagsdrucksache Betrieb und Wirtschaft Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz

Abkürzungsverzeichnis BVerwG BVerwGE BWahlG DAngVers DB-AVItech I bzw. II

DDR ders. dies. DMBilG DÖV DRiG DtZ DVBl. DZWir/DWiR E EALG ebd. EG EGBGB EGMR EinigungsV, EV

Einl. EuGRZ f. FDGB Festgabe BVerfG

ff. Fn. FS FS 50 Jahre BVerfG FZR G 131 GBl. DDR GG GmbHG GST GVG GWB

13

Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundeswahlgesetz Die Angestelltenversicherung Erste bzw. Zweite Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben Deutsche Demokratische Republik derselbe dieselbe, dieselben D-Markbilanzgesetz Die Öffentliche Verwaltung. Zeitschriftfür öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft Deutsches Richtergesetz Deutsch-deutsche Rechtszeitschrift (seit 1998 vereint mit VIZ) Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Entscheidung Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz Ebenda Europäische Gemeinschaft(en) Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 31. 8. 1990 (BGBl. 1990 I S. 889) Einleitung Europäische Grundrechte-Zeitschrift folgend(e) Freier Deutscher Gewekschaftsbund Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, herausgegeben von Christian Starck, 2 Bde., Tübingen 1976 folgende Fußnote Festschrift, Festgabe Peter Badura / Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2 Bde., Tübingen 2001 Freiwillige Zusatzrentenversicherung Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes fallenden Personen Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik Grundgesetz Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung Gesellschaft für Sport und Technik Gerichtsverfassungsgesetz Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen

14 HGB h. M. Hrsg. HStR

HStR 3

i. d. F. insb. InvestVG

i. V. m. JA JBl. JOR JöR JuS JZ Kap. KG KreditVO LAG lit. LKV LPG LPG (P) LPG (T) m. MDR MfS m. w. N. n. F. N. F. NJ NJW Nr. NStZ NutzEV

Abkürzungsverzeichnis Handelsgesetzbuch herrschende Meinung Herausgeber Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben von Josef Isensee und Paul Kirchhof, 10 Bde., 1./2. Aufl., Heidelberg 1987–2000 (Bd. I: 1987/1995; Bd. II: 1987/1998; Bd. III: 1988/1996; Bd. IV: 1990/1999; Bd. V: 1992/2000; Bd. VI: 1989; Bd. VII: 1992; Bd. VIII: 1995; Bd. IX: 1997; Bd. X: 2000) Handbuch des Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben von Josef Isensee und Paul Kirchhof, 3. Aufl., Heidelberg 2003 ff. (Bd. I: 2003; Bd. II: 2004; Bd. III: 2005). in der Fassung insbesondere Gesetz über den Vorrang für Investitionen bei Rückübertragungsansprüchen nach dem Vermögensgesetz (Investitionsvorranggesetz) in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Juristische Blätter Jahrbuch für Ostrecht Jahrbuch des öffentliches Rechts der Gegenwart Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Kommanditgesellschaft Kreditverordnung (der DDR) Gesetz über den Lastenausgleich (Lastenausgleichsgesetz) Buchstabe Landes- und Kommunalverwaltung Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (Pflanzenproduktion) Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (Tierproduktion) mit Monatsschrift für Deutsches Recht Ministerium für Staatssicherheit mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Folge Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Strafrecht Verordnung über eine angemessene Gestaltung von Nutzungsentgelten

Abkürzungsverzeichnis NVA NVwZ NZA NZM NZS OLG PVS RAnglG

Rn. ROW Rü-ErgG RÜG rv Rz. S. SachenRÄndG SachenRBerG Sachg. SBZ SchuldRAnpG SED SeemG SGb SGB Der Staat StaatsV

StGB StGB-DDR st. Rspr. StUG

StWStP ThürVBl. u. a. u. ö. VermG

15

Nationale Volksarmee Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht Neue Zeitschrift für Mietrecht Neue Zeitschrift für Sozialrecht Oberlandesgericht Politische Vierteljahresschrift Gesetz zur Angleichung der Bestandsrenten an das Nettorentenniveau der Bunderepublik Deutschland und zu weiteren rentenrechtlichen Regelungen Randnummer(n) Recht in Ost und West Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung (Rentenüberleitungsgesetz) Die Rentenversicherung Randziffer(n) Seite Sachenrechtsänderungsgesetz Sachenrechtsbereinigungsgesetz Sachgebiet Sowjetische Besatzungszone Schuldrechtsanpassungsgesetz Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Seemannsgesetz Die Sozialgerichtsbarkeit Sozialgesetzbuch Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. 5. 1990 (BGBl. II S. 537) Strafgesetzbuch Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik ständige Rechtsprechung Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-Unterlagen-Gesetz) Staatswissenschaften und Staatspraxis. Rechts-, wirtschaftsund sozialwissenschaftliche Beiträge zum staatlichen Handeln Thüringer Verwaltungsblätter. Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung und andere und öfter Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz)

16 Die Verwaltung

VerwArch. vgl. VIZ VO Vorb., Vorbem VSSR VVDStRL WiB ZfBR ZfSH/SGB ZGB-DDR ZHR ZIP ZOV ZRP ZSR ZTR Zwei-plus-Vier-Vertrag

Abkürzungsverzeichnis Die Verwaltung. Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften (Untertitel bis 1995: Zeitschrift für Verwaltungswissenschaft) Verwaltungsarchiv. Zeitschrift für Verwaltungslehre, Verwaltungsrecht und Verwaltungspolitik vergleiche Zeitschrift für Vermögens- und Immobilienrecht (früher: Zeitschrift für Vermögens- und Investitionsrecht) Verordnung Vorbemerkung(en) Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wirtschaftsrechtliche Beratung Zeitschrift für deutsches und internationales Baurecht Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch Zivilgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis Zeitschrift für offene Vermögensfragen Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Sozialreform Zeitschrift für Tarifrecht Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. 9. 1990, BGBl. II S. 1318

Fragestellung und Gang der Untersuchung Die deutsche Wiedervereinigung bildete auch und gerade in verfassungsrechtlicher Hinsicht eine einmalige Sondersituation 1, die zahlreiche Rechtsfragen aufwarf. Die einschlägige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umfaßt daher mittlerweile eine stattliche Anzahl von Entscheidungen. Einige wurden in der juristischen und nichtjuristischen Öffentlichkeit intensiv und kontrovers diskutiert, wie etwa die Urteile zur sog. „Warteschleife“ im Öffentlichen Dienst, zu den Mauerschützen oder die drei Bodenreform-Entscheidungen, andere befaßten nur das juristische Fachpublikum, wie etwa die Entscheidungen zur Rentenüberleitung, und wieder andere wurden kaum diskutiert. In einer ganzen Reihe dieser Judikate, die in erster Linie Grundrechtsfragen betrafen, taucht der Terminus von der „weiten“ oder gar „besonders weiten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ auf. Er wird zumeist durch den Hinweis untermauert, daß die in die Transformation des gesamten Ostblocks eingebettete deutsche Wiedervereinigung eine einzigartige Sonder- bzw. Ausnahmesituation geschaffen habe, die eine weite oder erweiterte Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers erfordere oder doch wenigstens rechtfertige. Damit ist die Frage nach der Funktion dieser Rechtsfigur aufgeworfen. Was bedeutet es, wenn dem Gesetzgeber wegen der Ausnahmesituation ein Mehr an Gestaltungsfreiheit zugebilligt wird als üblich? Ist damit eine Flexibilisierung oder gar Relativierung verfassungsrechtlicher, insbesondere grundrechtlicher, Anforderungen verbunden? Und war dies angesichts der unterschiedlichen Nachkriegsentwicklung in Ost und West und dem selbstgesetzten ehrgeizigen Ziel, so schnell wie möglich Rechtseinheit in beiden Teilen Deutschlands zu schaffen, womöglich

1 Vgl. BVerfGE 84, 90 (119); 99, 332 (337): besondere Situation; 85, 360 (377): historische Einmaligkeit der zu bewältigenden Aufgabe; 92, 277 (327): singuläre staats- und strafrechtliche Situation; 95, 267 (313): Sondersituation; zu dieser Rechtsprechung E. Klein, Die verfassungsrechtliche Bewältigung der Wiedervereinigung, in: Festschrift Gesellschaft für Deutschlandforschung, 1998, S. 417 ff. (426 f.); H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 29. In der Entscheidung BVerfGE 104, 126 (149) heißt es: „Ausnahmesituation der Wiedervereinigung“; gleichlautend J. Isensee, HStR IX, § 202, Rn. 21; L. Michael, AöR 124 (1999), 583 (594 ff.) m. w. N.; die Sondersituation in einen umfassenderen Kontext stellend H. SchulzeFielitz, AöR 122 (1997), 1 (17); P. Kirchhof , NJW 1996, 1497 (1499 f.); zum Kontext von Sondersituation und Gestaltungfreiheit K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 765.

18

Fragestellung und Gang der Untersuchung

unumgänglich? Diesen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit anhand dreier Judikate des Bundesverfassungsgerichts. Bevor diese Fallbeispiele erörtert werden, ist allerdings zu untersuchen, welche Funktion der Topos von der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor der Wiedervereinigung eingenommen hat (Kapitel 2). Insbesondere ist zu ermitteln, ob sich dabei Fallkonstellationen herauskristallisieren, in denen die Verfassungsrichter von weiten oder erweiterten Gestaltungsspielräumen ausgegangen sind, und wenn ja, mit welchen Argumenten dies geschah. Das Augenmerk hierbei liegt auf solchen Fallkonstellationen, die für die anschließende Erörterung der beispielhaft ausgewählten Entscheidungen von Bedeutung sind. Aus diesem Grund beschränkt sich die Darstellung zudem auf zwei zentrale Grundrechte: die Eigentumsgarantie des Art. 14 I GG und den Gleichheitssatz des Art. 3 I GG. Dabei wird sich zeigen, daß der Begriff der „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ vom Bundesverfassungsgericht seit jeher als Argumentationsfigur gebraucht wird, um im Einzelfall die Prüfungsintensität abzusenken. Das befreit den Gesetzgeber zwar nicht von der Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen, gestattet ihm aber, sie großzügiger zu handhaben, ohne daß dies die Verfassungswidrigkeit der Regelung zur Folge hat. Vor diesem Hintergrund sind die drei Entscheidungen aus der vereinigungsspezifischen Verfassungsrechtsprechung vorzustellen (Kapitel 3). Die erste betrifft die sog. „Altschuldenproblematik“, deren zentrale Frage lautete, ob zwangsweise an Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) vergebene Staatsbankkredite nach der Wiedervereinigung fortbestanden und zurückgezahlt werden mußten. Der bundesdeutsche Gesetzgeber traf dazu keine ausdrückliche Regelung, ermöglichte den LPG aber unter bestimmten Voraussetzungen eine Teilentschuldung der Altverbindlichkeiten. Die verfassungsrechtliche Frage war, ob die Grundrechte der Genossenschaften als juristische Personen des Privatrechts durch den Fortbestand der Altkredite und die daraus resultierende Rückzahlungsverpflichtung verletzt sind. Das zweite Fallbeispiel betrifft die Überleitung von Rentenansprüchen und -anwartschaften aus DDR-Zusatzversorgungssystemen in die gesetzliche Rentenversicherung. Hier hatte der Einigungsvertrag nur generelle Vorgaben gemacht, so daß die konkrete Ausgestaltungsaufgabe dem Gesetzgeber oblag. Dieser entschied sich für die Eingliederung der Ansprüche in die gesetzliche Rentenversicherung, obwohl dies bei einem Teil der Anwartschaften zu erheblichen Einbußen führte. Gesetzliche Sonderregelungen, um diesen Kappungseffekt zu vermeiden, wurden vom Gesetzgeber nicht getroffen. Fraglich war demzufolge, ob die Minderung der Rentenansprüche die Betroffenen in ihrem Grundrecht aus Art. 14 I 2 GG verletzt. Als drittes Beispiel dient die sog. „Schuldrechtsanpassung“, mit der der Gesetzgeber Nutzungsrechte an sog. Erholungsgrundstücken in das Vertragssystem des BGB integrierte. Diese Nutzungsverhältnisse waren eine Besonderheit des DDRBodenrechts und vermittelten den Nutzern eine eigentümerähnliche Stellung. Da

Fragestellung und Gang der Untersuchung

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der Gesetzgeber die Nutzungsrechte den Vorschriften für Miet- und Pachtverhältnisse unterstellte, galten auch deren Kündigungsmodalitäten. Die durch das DDR-Recht bewirkte eigentümerähnliche Stellung wäre ohne Übergangsregelung verlorengegangen. Um dies zu verhindern, erstellte der Gesetzgeber ein zeitlich langgestrecktes Kündigungsschutzkonzept, das allerdings den Eigentümern nur nach und nach erlaubt, ihre Eigentümerrechte wieder in vollem Umfang geltend zu machen. Auch hier war fraglich, ob die temporäre Beschränkung der Eigentümerbefugnisse mit der Eigentumsgarantie vereinbar war. Das verbindende Glied zwischen diesen Entscheidungen ist nicht allein, daß dort jeweils von der „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ die Rede ist, sondern zudem, daß sie das Wesen und die Problematik des Transformationsprozesses deutlich werden lassen. In allen Fällen geht es um in der DDR begründete Rechtsverhältnisse, für die das bundesdeutsche Recht keine Entsprechung kennt, die aber gleichwohl in die Kategorien der bundesrepublikanischen Rechtsordnung einsortiert bzw. in deren Farben nachgezeichnet, sozusagen „übersetzt“ werden mußten, da die Entscheidung für die Rechtseinheit keinen dauerhaften Fortbestand in der alten Form zuließ. Die Rechtsverhältnisse wurden demnach – im Wortsinne – einer Transformation, einer Umformung, unterworfen. Dieses transformatorische Element hebt die ausgewählten Judikate von anderen Entscheidungen ab, in denen es entweder um Vergangenheitsbewältigung oder um allgemeine Rechtsanpassungsbzw. Übergangsprozesse geht, und damit (lediglich) um Probleme im Zuge der gesamtgesellschaftlichen Transformation. Die Untersuchung wird zeigen, daß der Terminus der Gestaltungsfreiheit auch in diesen Fällen als Argumentationsfigur dient, diese Funktion allerdings aufgrund der Sondersituation noch stärker zum Tragen kommt. Mit der Billigung weiter oder besonders weiter Gestaltungsspielräume für den Gesetzgeber können auch solche Grundrechtseingriffe gerechtfertigt werden, die üblicherweise („im Normalfall“) mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zulässig wären. Daran anknüpfend wird im letzten Kapitel (Kapitel 4) untersucht, ob durch die Erweiterung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit nicht mehr nur eine Flexibilisierung einhergeht (wie sie der Argumentationsfigur der Gestaltungsfreiheit ohnehin immanent ist), sondern darüber hinaus sogar eine Relativierung verfassungsrechtlicher Anforderungen, die sich dann als vom Grundgesetz abweichendes „Sonderverfassungsrecht Ost“ bezeichnen ließe. Als Referenznorm soll Art. 143 I, II GG dienen, der es gestattete, daß Recht in den neuen Bundesländern bis spätestens zum Ende des Jahres 1995 von Bestimmungen des Grundgesetzes einschließlich der Grundrechte abweichen durfte, und somit als Sonderverfassungsrecht bezeichnet werden kann. Dabei ist herauszuarbeiten, daß Art. 143 I, II GG auf die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den neuen Ländern reagierte, die eine verfassungsgemäße Regelung unter Umständen gar nicht zuließen. Mit dem Ende der Frist durfte die Verfassungswidrigkeit einer Regelung nicht mehr mit dem Hinweis auf Art. 143 I, II GG hingenommen werden, ohne daß sich aber

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Fragestellung und Gang der Untersuchung

die unterschiedlichen Lebensverhältnisse schlagartig angeglichen hätten. Daher soll abschließend dargelegt werden, daß die Argumentationsfigur der (weiten) gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit einen Weg bot, um Abweichungen von Anforderungen des Grundgesetzes, die zuvor Art. 143 I, II GG erlaubte, auch nach dessen Auslaufen zu rechtfertigen. Bevor sich die Arbeit schwerpunktmäßig der Argumentationsfigur der „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ in der vereinigungsspezifischen Rechtsprechung zuwendet, soll einleitend und als Grundlage für die weitere Untersuchung der Ursprung der gesamten Thematik beleuchtet werden, der gesellschaftliche und rechtliche Transformationsprozeß, als dessen Inbegriff der Systemwechsel gilt (Kapitel 1). Dieser hatte in Deutschland in Gestalt des Einigungsprozesses eine Sonderform angenommen. Abgesehen von der Herstellung der staatsrechtlichen Vereinigung selbst, bestand die zentrale Festlegung des Einigungsvertrages in der Entscheidung für die Rechtseinheit, die zwar keine zwingende Folge der Staatseinheit war, für die aber Alternativen aus vielerlei Gründen nicht in Betracht gezogen wurden. Von ihr nimmt der gesamte Überleitungs- und Rechtsanpassungsprozeß seinen Ausgang, so daß die wesentlichen Regelungen des Einigungsvertrages zur Herstellung der Rechtseinheit vorab zu skizzieren sind.

Kapitel 1

Charakterisierung des Transformationsprozesses in Ostdeutschland Unter den Transformationsprozessen der ehemaligen sozialistischen Staaten Osteuropas tritt die Entwicklung in der ehemaligen DDR besonders hervor, die in der deutschen Wiedervereinigung am 3. 10. 1990 ihren Höhepunkt fand. Sie unterscheidet sich von den anderen Umgestaltungsprozessen im wesentlichen dadurch, daß mit der deutschen Einheit die Übernahme einer kompletten Rechtsordnung einherging, während sich der Transformationsprozeß anderer postsozialistischer Staaten weitaus entwicklungsoffener vollzog. Die Systemtransformation in Ostdeutschland bildet daher eine Sonderform der Transformation (A). Mit der Einigung Deutschlands fiel zugleich die Entscheidung für Rechtseinheit (dazu B). Dieses Ziel beruht auf einer bewußt getroffenen politischen Entscheidung, die zwar Sachzwängen unterlag, jedoch nicht als rechtlich zwingende, unausweichliche Folge der staatlichen Einheit angesehen und dadurch in ihrer weichenstellenden Bedeutung verkannt werden darf (B. I.). Nach der Darstellung der einschlägigen Bestimmungen des Einigungsvertrages, auf deren Grundlage die Rechtsanpassung vollzogen wurde (B. II.), werden zum Abschluß des ersten Kapitels die Technik der Rechtsanpassung sowie ihre wesentlichen Charakteristika skizziert (B. III.).

A. Der deutsche Einigungsprozeß als Sonderform der Transformation I. Transformation als Inbegriff für Systemwechsel „Transformation“ bedeutet „Umformung, Umwandlung“, etwas in eine andere Form bringen, in eine solche überführen 1. Der Begriff der Transformation begegnet in vielen Wissenschaftszweigen und in vielerlei Bedeutungen, so z. B. in der Physik, in der Biologie, in den Sprachwissenschaften, in den Rechtswissenschaften, vor allem aber in der Volkswirtschaftslehre und den Politikwissenschaften. In den beiden zuletzt genannten Wissenschaftsbereichen hat er seit den Umbrüchen der Jahre 1989/90 starke Resonanz gefunden, was sich auch an der Entwicklung 1 Vgl. M. Wermke / K. Kunkel-Razum / W. Scholze-Stubenrecht (Hrsg.), Der Duden, Die deutsche Rechtschreibung, Bd. 1, 24. Aufl. 2006, Stichwort „Transformation“ (S. 1018).

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Kap. 1: Der Transformationsprozeß in Ostdeutschland

der (interdisziplinären) Transformationsforschung 2 zu einem weitgehend eigenständigen Zweig der Politikwissenschaften ablesen läßt. Gleichwohl ist es dieser politikwissenschaftlichen Transformationsforschung bisher nicht gelungen, eine einheitliche und tragfähige Definition des Begriffs herauszuarbeiten. Der Hauptgrund dafür – neben der Verschiedenheit politologischer Theorieansätze 3 – dürfte darin liegen, daß der Transformationsbegriff außerordentlich komplex ist und man ihm eine Vielzahl von Phänomenen zuordnen kann. Für die Vorgänge, die heute mit dem Transformationsbegriff bezeichnet werden, waren lange Zeit andere Begrifflichkeiten in Gebrauch. Zu denken ist etwa an die Unterscheidung von „evolutionärem“ und „revolutionärem Wandel“ bzw. von „Evolution“ und „Revolution“ 4 oder von „Reform“ und „Revolution“ 5. In welchem Verhältnis der Transformationsbegriffs zu diesen anderen Formen steht, ist nicht sicher. In der politikwissenschaftlichen Literatur fungiert die Transformation zum einen als Oberbegriff all dieser Phänomene, so daß auch revolutionäre Erscheinungen mit umfaßt sind, andere Stimmen beschränken den Transformationsbegriff auf die evolutionären Formen des Systemwandels und des Systemwechsels, so daß der Systemzusammenbruch als revolutionäre Erscheinung ausgeklammert bleibt 6. Damit wird der unbestimmte Transformationsbegriff freilich nur durch die im Detail ebenso unbestimmten Begriffe der Evolution und Revolution ersetzt. Trotz dieser Vagheiten läßt sich die Transformation zumindest als ein Vorgang bezeichnen, der den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel eines Systems einschließlich seiner Subsysteme umfaßt 7 und als dessen Prototyp der Sy2 Zu ihr E. Sandschneider, Stabilität und Transformation politischer Systeme, 1995, S. 21 ff.; zum (ost)deutschen Transformationsprozeß R. Reißig, Politische Vierteljahresschrift 39 (1998), 301 (302 ff.); zur Transformationstheorie W. Merkel, Theorien der Transformation: Die demokratische Konsolidierung postautoritärer Gesellschaften, in: K. von Beyme / C. Offe (Hrsg.), Politische Theorie in der Ära der Transformation, 1996, S. 30 ff. (32). Aus anderem Blickwinkel P. Häberle, Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Transformationsforschung, in: FS Mahrenholz, 1994, S. 133 ff. (141). 3 Sandschneider, Stabilität (Fn. 2), S. 53 ff. 4 Dazu H. Mohnhaupt, Spielarten „revolutionärer“ Entwicklung und ihrer werdenden Begrifflichkeit seit dem Zeitalter der Aufklärung, in: ders. (Hrsg.), Revolution, Reform, Restauration, 1988, S. 1 ff. (3 ff.); Sandschneider, Stabilität (Fn. 2), S. 35 f. 5 Die „Revolution“ bildet danach die konsequente Folge von nicht oder zu spät eingeleiteten oder nicht hinreichenden Reformen, vgl. R. Koselleck, Revolution VI, in: O. Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, 1984, S. 775 ff.; ebenso Mohnhaupt, Spielarten (Fn. 4), S. 5 m. w. N.; ähnlich Sandschneider, Stabilität (Fn. 2), S. 36: „Je stärker evolutionärer Wandel auf der Zeitachse verdichtet und zusammengedrängt wird, desto eher erreicht er revolutionären Charakter.“; zum Reformbegriff M. Greiffenhagen, Überlegungen zum Reformbegriff, in: ders. (Hrsg.), Zur Theorie der Reform, 1978, S. 7 ff. 6 Überblick bei Sandschneider, Stabilität (Fn. 2), S. 34 ff., der selbst für ein weites Verständnis unter Einbeziehung des Systemzusammenbruchs plädiert (S. 38); vgl. zum Ganzen auch K. Harms, Verfassungsrecht in Umbruchsituationen, 1999, S. 120 f.

A. Der deutsche Einigungsprozeß

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stemwechsel gelten kann. Er ist dadurch gekennzeichnet, daß ein System in einen neuen Zustand übergeht, dabei Strukturen und Organisationsmuster ausgetauscht werden und eine neue Systemidentität entsteht 8. Die Mehrzahl der osteuropäischen Transformationsstaaten haben einen solchen Systemwechsel vollzogen: in politischer Hinsicht von einem sozialistischen Staat mit der Herrschaft einer Staatspartei zu einer pluralistischen parlamentarischen Demokratie, in sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht von einem überwachenden paternalistischen Staat zu einem freiheitlichen auf Eigenverantwortung beruhenden Staatswesen sowie in wirtschaftlicher Hinsicht von einer staatlichen Planwirtschaft zu einem marktwirtschaftlichen Modell. Bei diesen Definitionsansätzen ist zu berücksichtigen, daß die politische Forschung andere Erkenntnisinteressen verfolgt als die Rechtswissenschaft. Die Transformationsforschung zielt darauf ab, bestimmte mit den Umbrüchen der Jahre 1989/90 verbundene Vorgänge und Phänomene zu beschreiben und zu klassifizieren. Die sich dabei herausschälenden Begriffe, wie Systemwechsel, Systemwandel oder Transformation, sind wegen ihrer deskriptiven Natur allerdings für die Rechtswissenschaft von eher begrenztem Wert, da sie im eigentlichen Sinne keine Rechtsbegriffe sind, an deren Vorliegen unmittelbar Rechtsfolgen anknüpfen. Aus der Bejahung einer Transformationssituation allein folgt nicht ohne weiteres, daß bestimmte Rechtsregeln gelten oder nicht gelten. Andererseits sind „Recht“ und „Transformation“ insoweit aufeinander bezogen, als der Systemwechsel als Inbegriff der Transformation auch das Rechtssystem erfaßt und das juristische Subsystem dabei Veränderungen und Anpassungen erfährt 9. Die tragende Bedeutung der genannten Vokabeln liegt deshalb in erster Linie darin, daß sie als Mittel juristischer Argumentation dienen. In dieser Funktion können mit ihrer Hilfe freilich rechtliche Maßstäbe verändert bzw. rechtliche Bindungen modifiziert werden. Darauf wird zurückzukommen sein.

II. Rechtseinheit als Zielvorgabe für den Systemwechsel in Deutschland Der deutsche Transformationsprozeß bildet im Verhältnis zu den Veränderungen in anderen osteuropäischen Transformationsstaaten einen Sonderfall 10, da in ihm zwei Entwicklungslinien zusammenfließen: der noch in der DDR begonnene 7

Sandschneider, Stabilität (Fn. 2), S. 38 f. Vgl. Sandschneider, Stabilität (Fn. 2), S. 34, 40. Demgegenüber zeichnet sich der „Systemwandel“ dadurch aus, daß Systemstrukturen lediglich verändert und angepaßt, in ihrer Identität aber erhalten bleiben (ebd., S. 39). Die Schwierigkeit besteht hier folglich darin, die Identität eines Systems präzise zu bestimmen. 9 S.-M. Werner, Recht im Systemwandel, 2004, S. 33. 10 Zur Charakterisierung als Sonderfall aus der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung: R. Reißig, Politische Vierteljahresschrift 39 (1998), 301 (307 f.); anders 8

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Kap. 1: Der Transformationsprozeß in Ostdeutschland

Systemwechsel und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 11. Theoretisch können beide Geschehnisse unabhängig voneinander gedacht werden. Einerseits ist die Vereinigung von zwei Staaten zu einem neuen Staatsgebilde nicht notwendig mit einem umfassenden Systemwechsel verknüpft, andererseits kann ein Systemwechsel natürlich auf anderem Wege als durch eine staatliche Einigung vollzogen werden. Im deutschen Falle hätte ein Systemwechsel, oder wenigstens ein Systemwandel, auch in einer fortbestehenden DDR stattfinden können; einige hätten dies als Alternative zur deutschen Einheit lieber gesehen. Ob die Umgestaltung dann in dieser Form, in dieser Deutlichkeit und in diesem Tempo verwirklicht worden wäre, muß Spekulation bleiben – die deutsche Einheit hat eine solche Entwicklung überholt. Trotz der theoretisch möglichen Trennung dieser beiden Entwicklungsstränge bildeten Systemwechsel und staatsrechtliche Vereinigung in der Realität eine untrennbare Symbiose, die das Wesen der deutschen Transformation ausmacht. Die politische Entwicklung in der Zeit von der Maueröffnung im November 1989 bis zur letzten DDR-Volkskammerwahl im März 1990 ist dafür kennzeichnend 12. Diese „Verfassungswahl“ beinhaltete nicht nur die endgültige Entscheidung für ein pluralistisches parlamentarisches Regierungssystem 13, für Demokratie, Rechtstaatlichkeit und eine marktwirtschaftliche Ordnung, sondern zugleich ein deutliches Votum für die deutsche Einheit 14. Mit der Ausrichtung auf die Wiedervereinigung war dem stattfindenden Systemwechsel nunmehr ein ganz bestimmtes Ziel implantiert worden: nicht irgendeine demokratische, rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Ordnung sollte aufgebaut werden, sondern genau die der Bundesrepublik 15. Die Besonderheit des deutschen Transformationsprozesses zeichnet sich in rechtlicher Perspektive also dadurch aus, daß eine bestehende Rechts- und

insoweit Sandschneider, Stabilität (Fn. 2), S. 41, der von einem Systemzusammenbruch der DDR ausgeht, da sie aufgehört hat zu existieren. 11 Verlauf und Entwicklung des Umbruchs in der DDR werden eingehend geschildert von W. Fiedler, HStR VIII, § 184; vgl. auch K. Stern / B. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit Vertragsgesetz, Begründung und Materialien, 1990, S. 23 f.; ferner K. Hesse, JöR 44 (1996), 1 (3 ff.). 12 Zum Wechsel der revolutionären Zielrichtung von „reformierter DDR“ zu „geeintem Deutschland“ W. Fiedler, HStR VIII, § 184 Rn. 38 f.; K. Hesse, JöR 44 (1996), 1 (5). 13 Zu seiner Errichtung O. Luchterhandt, HStR VIII, § 185 Rn. 3, 5 f., 13 ff. 14 So O. Luchterhandt, HStR VIII, § 185 Rn. 7 ff.; T. Würtenberger, HStR VIII, § 187 Rn. 12. – Damit begann zugleich der Prozeß der Rechtsanpassung, mit dem zunächst die rechtlichen Grundlagen für eine marktwirtschaftliche Ordnung geschaffen wurden. So bekannte sich die DDR bereits im Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990 zu den (wirtschafts-) verfassungsrechtlichen Grundprinzipien des Grundgesetzes (vgl. Art. 2); dazu M. Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 236 ff. Mit dem Staatsvertrag wurden eine Reihe bundesdeutscher Gesetze auf dem Gebiet der DDR in Kraft gesetzt, etwa das Erste bis Dritte Buch des HGB, das GmbHG oder das GWB, vgl. Art. 3 i. V. m. Anlage II Abschnitt III StaatsV; K. Letzgus, VIZ 1998, 1 (2 f.).

A. Der deutsche Einigungsprozeß

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Verfassungsordnung durch das neu hinzugekommene Staatsgebiet übernommen bzw. 15auf dieses erstreckt wurde 16. Demgegenüber verfügten die osteuropäischen Staaten lediglich über mehr oder weniger konkrete Vorbilder für die künftige Ausgestaltung ihrer Verfassungs- und Rechtsordnung. In Anlehnung an die westeuropäischen Ordnungen bestanden die fundamentalen Ziele in der Verwirklichung der Grundrechte, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie einer marktwirtschaftlichen Ordnung 17. Deren konkrete Ausformung vollzog sich aber überwiegend im nationalen Kontext. Die westlichen Strukturen konnten daher nur in weitaus beschränkterem Umfang als Schablone für die eigene Verfassungs- und Rechtsordnung herangezogen werden. Die Transformation in den osteuropäischen Staaten hatte in stärkerem Maße als im Osten der Bundesrepublik prozeßhaften Charakter und war insoweit ergebnisoffen, als es keinen inhaltlich determinierten Fixpunkt gab, auf den sich der Umwälzungsprozeß ausrichtete 18. Die Kehrseite dessen zeigt sich in einer größeren Gefahr von Fehlentwicklungen oder – wie es sich in der Russischen Föderation andeutet – in einem Abbruch, wenn nicht sogar Rückbau des Transformationsprozesses. Ein zweiter Unterschied zum deutschen Transformationsprozeß liegt in dem stärkeren Gewicht der jeweiligen Verfassungen für den Umwälzungsprozeß. Die meisten der postsozialistischen Staaten Osteuropas haben sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eine neue Verfassung gegeben (Tschechien, Polen) oder die

15 Kritisch dazu vor allem R. Will, Die deutsche Wiedervereinigung und das Grundgesetz – Die Verfassung als Maßstab für die ostdeutsche Systemtransformation, in: J. J. Hesse / G. F. Schuppert / K. Harms, Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, 1999, S. 117 ff. (119 ff., insb. S. 123 f.): „einzigartiges Beispiel einer holistischen Reform“, „kompletter Institutionentransfer“; dies., Eigentumstransformation unter dem Grundgesetz, 1996, S. 6. 16 Im staatsrechtlichen Schrifttum überwog die Forderung nach einer Bewahrung des Grundgesetzes als gesamtdeutsche Verfassung („Verfassungskontinuität“): J. Isensee, VVDStRL 49 (1990), S. 39 ff. (56); C. Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), S. 70 ff. (92 f.); P. Badura, HStR VIII, § 189 Rn. 11; ferner P. Kirchhof , Der Auftrag zur Rechtseinheit im vereinten Deutschland, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristenkommission (Hrsg.), Die Wiedervereinigung und damit zusammenhängende Rechtsprobleme (Rechtsstaat in der Bewährung, Bd. 26), 1991, S. 3 ff. (3 f.). Die Gegenauffassung (vgl. etwa W. Thieme, DÖV 1990, 401 ff.) plädierte für eine neue gesamtdeutsche Verfassung auf der Grundlage des Art. 146 GG. 17 Am Beispiel der Tschechischen Republik K. Schmid, Probleme der Rechtsüberleitung in der Tschechischen Republik, in: I. Slawinski / M. Geistlinger (Hrsg.), Probleme der Rechtsüberleitung in der Tschechischen Republik, Ungarn, Polen und der Slowakischen Republik, 1997, S. 73 ff. (75 ff., 79 ff.); zur Mongolei D. Nelle, Die Verwaltung 36 (2003), 530 (540). Weitere Beispiele bei B.-O. Bryde, Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, in: J. J. Hesse / G. F. Schuppert / K. Harms (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, 1999, S. 197 ff.; A. Schmitt, JOR 43 (2002), S. 31 ff. 18 Vgl. R. Will, Eigentumstransformation unter dem Grundgesetz, Berlin 1996, S. 6.

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Kap. 1: Der Transformationsprozeß in Ostdeutschland

bestehende umfassenden Änderungen unterzogen (Ungarn) 19, während das deutsche Grundgesetz in dem unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Wiedervereinigung weitgehend unverändert blieb. Diese Revisionen begleiteten die politische und gesellschaftliche Umgestaltung, die sich dadurch auch weitaus stärker an den Verfassungstexten ablesen läßt. Als ein Nebenprodukt der Transformation dürfte dieser Verfassungsrevisionsprozeß zudem nicht unerheblich zur Bildung oder Revitalisierung einer nationalen Identität in diesen Staaten beigetragen haben. Die Verfassung wurde daher in weitaus größerem Maße zum Sinnbild für den Systemwechsel als das Grundgesetz, in dem die mit der „friedlichen Revolution“ von 1989/90 angestrebten Ziele bereits vorbildhaft verwirklicht waren. Zwar wurde die Ausarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung nach Art. 146 a. F. GG als ein möglicher Weg zur deutschen Einheit neben der Beitrittslösung nach Art. 23 a. F. GG diskutiert 20, jedoch wegen des rasant verlaufenden Einigungsprozesses nie ernsthaft in Betracht gezogen 21; und auch die davon zu unterscheidende Frage einer gesamtdeutschen Verfassung nach der Wiedervereinigung auf der Grundlage des Art. 146 n. F. GG verschwand alsbald aus dem Blickfeld 22. Änderungen erfuhr das Grundgesetz daher zunächst nur durch die in Art. 4 Einigungsvertrag enthal-

19 Weitere Beispiele bei C. Mögelin, Die Transformation von Unrechtsstaaten in demokratische Rechtsstaaten, 2003, S. 268 f., auch zur Abgrenzung von Verfassunggebung und Verfassungsänderung; zu letzerem auch H. Schäfer, Rechtsüberleitung und Rechtsübergang, in: I. Slawinski / M. Geistlinger (Hrsg.), Probleme der Rechtsüberleitung in der Tschechischen Republik, Ungarn, Polen und der Slowakischen Republik, 1997, S. 17 ff. (21 f.). 20 Zur Kontroverse, ob die deutsche Einheit durch einen Beitritt der DDR nach Art. 23 a. F. GG oder durch Verfassunggebung nach Art. 146 a. F. GG vollzogen werden sollte, zusammenfassend H. H. Klein, HStR VIII, § 198 Rn. 8 ff.; dezidiert für die Beitrittslösung J. Isensee, VVDStRL 49 (1990), 39 (48 ff.); C. Degenhart, DVBl. 1990, 973 (974 ff.); ferner C. Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), S. 70 ff. (92 f.); für den Weg über Art. 146 a. F. GG etwa W. Thieme, DÖV 1990, 401 (401 f.). 21 Die Wiedervereinigung ist dann schließlich weder durch Verfassunggebung noch durch Beitritt vollzogen worden, sondern durch völker- bzw. staatsrechtlichen Vertrag (Einigungsvertrag mit Verabschiedung der zugehörigen Zustimmungsgesetze): so H. Weis, AöR 116 (1991), 1 (12 f.); zum Ganzen P. Lerche, HStR VIII, § 194 Rn. 47 ff. (insb. Rn. 50); mit Blick auf die vertragliche Herstellung der deutschen Einheit wird auch von „paktiertem Beitritt“ gesprochen (dazu Klein, ebd. Rn. 7). 22 Die Gründe waren zum einen ganz praktischer Natur, da man eine neue Verfassung aufgrund der guten Erfahrungen mit dem Grundgesetz schlicht für überflüssig hielt, in diesem Sinne G. Roellecke, NJW 1991, 657 (659 f.); vgl. auch C. Degenhart, DVBl. 1990, 973 (976). Zum anderen war die Frage, ob Art. 146 n. F. GG die Option einer (gesamtdeutschen) Verfassunggebung eröffnet, höchst umstritten: die h. M. verneint dies mit Verweis auf ein angebliches Obsoletwerden des Art. 146 a. F. GG durch die Wiedervereinigung, vgl. J. Isensee, VVDStRL 49 (1990), S. 39 ff. (53 ff.); vorzugswürdiger a. A. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3 (2000), Art. 146 Rn. 27 ff. mit ausführlicher Darstellung des Streitstandes und m. w. N.; zum Ganzen auch B. Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität, 1997; R. Bartlsperger, DVBl. 1990, 1285 (1292 ff.).

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tenen sog. „beitrittsbedingten Grundgesetzänderungen“ 23. Die spätere Einsetzung der durch Art. 5 EinigungsV empfohlenen Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK), die sich mit den durch die deutsche Einheit aufgeworfenen Fragen zur Änderung des Grundgesetzes befassen sollte, brachte keine auf die Gesamtheit des Grundgesetzes bezogenen Reformen 24.

B. Der Fluchtpunkt der Rechtsangleichung: die bundesdeutsche Rechtsordnung Bestand die Besonderheit des deutschen Transformationsprozesses in seiner Ausrichtung auf die Übernahme einer bereits vorhandenen und erprobten Rechtsordnung „qua staatlicher Vereinigung“ 25, so war damit auch das Ziel vorgegeben, an dem sich der im Fluß befindliche Angleichungsprozeß zu orientieren hatte – die bundesdeutsche Rechtsordnung. Deshalb sollte der begrifflichen Präzision wegen im folgenden besser von „Rechtsanpassung“ als von „Rechtsangleichung“ gesprochen werden 26. Das zentrale Regelungswerk zur Verwirklichung der rechtlichen Einheit war der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 (Einigungsvertrag) 27, der das Ziel der Rechtseinheit festlegte (I.) und zugleich die notwendigen Regelungen traf, um sie so schnell wie möglich herzustellen (II.).

23 Dazu Stern/Schmidt-Bleibtreu, Staatsvertrag (Fn. 11), S. 41 ff.; K.-D. Schnapauff , DVBl. 1990, 1249 (1251 f.); K. Hesse, JöR 44 (1996), 1 (9 f.). 24 Eingehend U. Berlit, JöR 44 (1996), 17 ff.; H. H. Klein, HStR VIII, § 198 Rn. 56 ff. 25 So Will, Wiedervereinigung (Fn. 15), S. 119, 122; andeutungsweise auch L. Burián, Probleme der Rechtsüberleitung in Ungarn, in: I. Slawinski / M. Geistlinger (Hrsg.), Probleme der Rechtsüberleitung in der Tschechischen Republik, Ungarn, Polen und der Slowakischen Republik, 1997, S. 87 ff. (89). 26 Rigoros G. Roellecke, NJW 1991, 657 (661): „Den Menschen (in den neuen Ländern, A. B.) bleibt nichts, als sich anzupassen.“; ebenso E. Eichenhofer, Wende – Ende sozialer Sicherheit?, in: E. Koch (Hrsg.), 10 Jahre Deutsche Rechtseinheit, 2001, S. 47 ff. (63): „Die deutsche Einheit wurde auf der Grundlage des westdeutschen Wirtschafts-, Gesellschaftsund Rechtssystems vollzogen. Dieses wurde so Grundlage der Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland. Der Osten hat sich daran anzupassen.“; gegensätzlich dazu R. Höppner, NJ 1997, 281 (282). – Der Staatsvertrag sprach im übrigen noch von „Rechtsanpassung“ (vgl. Art. 4), der Einigungsvertrag nicht mehr – hier heißt es „Rechtsangleichung“ (vgl. die Überschrift zum Kapitel 3). 27 BGBl. II, S. 889; dazu K. Stern / B. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Einigungsvertrag und Wahlvertrag mit Vertragsgesetzen, Begründungen, Erläuterungen und Materialien, 1990.

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I. Rechtseinheit als zwingende Folge der Staatseinheit? Der Einigungsvertrag enthält in Kapitel III mit den unter der Überschrift „Rechtsangleichung“ zusammengefaßten Art. 8 bis 10 die vertragliche Grundlage zur Herstellung der Rechtseinheit im wiedervereinigten Deutschland. Bei der Ausarbeitung des Vertrages verfügten beide Vertragsparteien, von der Bindung an die jeweilige Verfassung bzw. von der politischen Durchsetzungskraft einmal abgesehen, über eine umfassende Dispositionsbefugnis, die sich grundsätzlich auch auf die Frage nach der Herstellung von Rechtseinheit erstreckte. Gleichwohl entsteht beim Lesen staatsrechtlicher Beiträge aus den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung bisweilen der Eindruck, als ob sich das Ziel der Rechtseinheit zwingend aus der staatsrechtlichen Einigung abgeleitet hätte 28. Diese Sichtweise würde allerdings die große gestalterische Bedeutung des Einigungsvertrages 29 untergraben. Im folgenden ist zwischen der Rechtseinheit auf verfassungsrechtlicher Ebene und auf einfachgesetzlicher Ebene zu unterscheiden. In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist die Annahme, die staatliche Einheit impliziere die Einheit der Verfassungsordnung 30, im Prinzip zutreffend, sofern man eine einheitliche Verfassungsordnung nicht mit der grundgesetzlichen Verfassungsordnung gleichsetzt. Die Annahme gilt jedenfalls, wenn man mit der herrschenden Meinung in der Staatsrechtslehre davon ausgeht, daß die Herstellung der deutschen Einheit auf dem Wege des Beitritts nach Art. 23 a. F. GG erfolgte 31. Dessen Satz 2 ordnete die Inkraftsetzung des Grundgesetzes in den beigetretenen „anderen Teilen Deutschlands“, im Falle der Wiedervereinigung also der neugebildeten ostdeutschen Länder, an 32. Zwar galt das Grundgesetz damit dort

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Das mag seinen Grund darin haben, daß bereits mit dem Staatsvertrag die Weichen hin zu einer Angleichung der beiden Rechtsordnungen gestellt waren und die Übernahme der bundesdeutschen Rechtsordnung wegen der rasanten Entwicklung die wohl einzige Möglichkeit war, die deutsche Einheit schnell zu vollziehen. Das Ziel der Rechtseinheit stand daher nie wirklich in Zweifel. 29 So spricht P. Lerche, HStR VIII, § 194 Rn. 29 vom „durchgestaltenden Charakter“ des Vertragssystems Einigungsvertrag. 30 Vgl. etwa C. Degenhart, JuS 1993, 627 (627): „Staatliche Einheit bedingt im Verfassungsstaat die Einheit der Verfassung.“; nur im Ergebnis ebenso J. Isensee, VVDStRL 49 (1990), S. 39 ff. (46): Staatseinheit und Verfassungseinheit müssen juristisch geschieden werden, gehören aber praktisch zusammen. 31 Vgl. Stern/Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag (Fn. 27), S. 21 f.; Kirchhof , Auftrag (Fn. 15), S. 3; eingehend P. Lerche, HStR VIII, § 194 (insb. Rn. 31 ff.); H. H. Klein, HStR VIII, § 198 Rn. 1 ff.; R. Scholz, in: T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Art. 23 a. F. (1996), Rn. 33, 42 ff. 32 Art. 23 a. F. GG lautete: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, NordrheinWestfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und WürttembergHohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“

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nicht automatisch 33, es war aber zwingend in Kraft zu setzen 34. In diesem Falle folgte in der Tat auf die staatsrechtliche Einheit die Einheit der Verfassungsordnung. Zum gleichen Ergebnis wäre man bei einer Wiedervereinigung durch Verfassunggebung nach Art. 146 a. F. GG gelangt, denn nur die Verabschiedung der gesamtdeutschen neuen Verfassung hätte die staatsrechtliche Einigung auf diesem Wege bewirken können 35. Weniger klar ist das Ergebnis allerdings, geht man mit der richtigen Ansicht davon aus, daß die deutsche Einheit durch völker- und staatsrechtlichen Vertrag 36 zustandegekommen ist 37. Es war hypothetisch denkbar, im Einigungsvertrag die staatsrechtliche Vereinigung zu einem Hoheitsgebiet und zugleich den Fortbestand von zwei Verfassungsrechtsräumen zu vereinbaren. Die daran anknüpfende staatstheoretische Frage ist, ob man damit einen Staat oder lediglich einen Staatenverbund begründet hätte 38. Zumindest unter der Voraussetzung, daß die fortbestehenden Verfassungen mit einem gesamtdeutschen „verfassungsrechtlichen Dach“ überspannt worden wären, ließe sich am Staatscharakter des entstandenen Gebildes wohl nicht zweifeln. Allerdings müßte man dann folgerichtig schon wieder von einer einheitlichen Verfassungsordnung sprechen, die aber nicht die des Grundgesetzes wäre. Ohne eine solche, die Territorialverfassungen überwölbende, gesamtdeutsche Verfassungsebene hätte man es lediglich mit einem Staatenverbund zu tun, wenngleich das Beispiel Großbritannien zeigt, daß es in einem als 33

Mißverständlich daher Scholz (Fn. 31), Art. 23 a. F. Rn. 13, der einerseits von einer „automatischen Rechtsfolge“ spricht, andererseits aber konstatiert, daß die Inkraftsetzung zuständigkeitsmäßig durch den Bundestag geschah. 34 So H. v. Mangoldt / F. Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 1966, Art. 23 Anm. IV. 3; Stern/Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag (Fn. 27), S. 29; H. Weis, AöR 116 (1991), 1 (8 f.). 35 H. Weis, AöR 116 (1991), 1 (4). Umstritten war auch, ob die Kombination beider Möglichkeiten – erst Beitritt nach Art. 23 a. F., dann Verfassunggebung nach Art. 146 a. F. GG – verfassungsrechtlich zulässig gewesen wäre: dafür D. Rauschning, DVBl. 1990, 393 (401); dagegen C. Degenhart, DVBl. 1990, 973 (976); J. Isensee, VVDStRL 49 (1990), S. 39 ff. (53); Stern/Schmidt-Bleibtreu, Staatsvertrag (Fn. 11), S. 42. 36 Der Einigungsvertrag war zunächst völkerrechtlicher Vertrag; vgl. zum Grundlagenvertrag BVerfGE 36, 1 (23 f.), wonach bilaterale Verträge zwischen beiden deutschen Staaten völkerrechtliche Verträge waren, die sog. „Inter-se-Beziehungen“ regelten. Fraglich war, ob sich seine Rechtsnatur nach der Wiedervereinigung wegen Fortfalls des einen Vertragspartners gewandelt hat; für Fortgeltung als staatsrechtlicher Vertrag (Bund-Länder-Vertrag) und Bundesgesetz H. Wagner, Der Einigungsvertrag nach dem Beitritt, 1994, S. 86 ff., 156 ff.; nur für Fortgeltung als Bundesgesetz A. R. Anker, DÖV 1991, 1062 (1065). 37 So H. Hofmann, StWStP 6 (1995), 155 (158); H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl. 2004, Präambel, Rn. 53; ferner H. Weis, AöR 116 (1991), 1 (12 f.). 38 Zu den noch um die Jahreswende 1989/90 erörterten Möglichkeiten einer Konföderation bzw. Fusion R. Wahl, Der Staat 30 (1991), 181 (190 ff. bzw. 192 ff.); ferner C. Tomuschat, VVDStRL 49 (1990), S. 70 ff. (73).

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Einheitsstaat anerkannten Staat sehr wohl Territorien (Schottland, Wales) geben kann, deren gewählte Organe durch Parlamentsgesetz mit eigenen Legislativkompetenzen ausgestattet wurden (devolution), die mit den Kompetenzen des britischen Parlaments konkurrieren 39. Festzuhalten ist, daß die Inkraftsetzung des Grundgesetzes durch den Einigungsvertrag nicht zwingend geboten war. Daß es jetzt als gesamtdeutsche Verfassung gilt, beruht auf dem politischen Willen beider Parteien des Einigungsvertrages 40. In einfachgesetzlicher Hinsicht kam dieser politische Wille ungleich stärker zum Tragen. Unter der Ordnung des Grundgesetzes sind verschiedene einfachgesetzliche Rechtsordnungen möglich, ohne daß dies die Verzahnung von Verfassungs- und einfacher Rechtsordnung negiert. Das Verfassungsrecht gebietet in der Regel gerade keine bestimmte einfachgesetzliche Ausgestaltung, sondern beschränkt sich auf die Vorgabe eines Rahmens, innerhalb dessen Grenzen der Gesetzgeber grundsätzlich frei gestaltend tätig werden darf 41. Es war also denkbar, zunächst alle DDR-Bestimmungen fortgelten zu lassen und sie unter den Vorbehalt der Verfassungsmäßigkeit zu stellen. Damit wären die Regelungen ausgeschieden worden, die mit den Vorgaben des Grundgesetzes nicht in Einklang zu bringen waren. In den Art. 9 und 19 EinigungsV ist dieses Regelungsprinzip sogar verwirklicht; es bildet jedoch die Ausnahme vom Grundsatz der kompletten Erstreckung des einfachen Bundesrechts. Diese juristischen Erwägungen lassen freilich die vielfältigen Wirkungszusammenhänge unberücksichtigt, in die das Recht eingebunden ist. So war die Herbeiführung von Rechtseinheit auf einfachgesetzlicher Ebene nach der Einschätzung der Vertragsparteien nicht zuletzt von großem wirtschaftlichen Interesse, da man davon ausging, daß einheitliche Rechtsvorschriften ein höheres Maß an Rechtssicherheit und Vereinfachung für den gesamtdeutschen Wirtschaftsverkehr gewährleisteten als zwei Rechtsordnungen auf einem Staatsgebiet 42. Diese Einschätzung

39 Die devolution wäre mit „Föderalisierung“ oder „Dezentralisierung“ daher auch nur ungenau beschrieben, vgl. G. Sydow, Parlamentssuprematie und Rule of Law, 2005, S. 59 ff. (insb. S. 63 ff. zu den parallelen Gesetzgebungskompetenzen zwischen dem britischen Parlament und den Regionalparlamenten). 40 Vgl. die Denkschrift zum Einigungsvertrag (BT-Drucks. 11/7760, S. 356): „Er [der Einigungsvertrag, A. B.] bildet die Grundlage für die Schaffung eines einheitlichen Rechtsraums und die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland.“ 41 Dezidiert a. A. C. Degenhart, JuS 1993, 627 (628): „Die Herstellung der Verfassungseinheit unter dem Grundgesetz bedurfte der Rechtseinheit innerhalb der verfassungsbezogenen Rechtsordnung, die sich auf Grundlage des Grundgesetzes in der Bundesrepublik entwickelt hatte. Diese Rechtseinheit konnte in der gegebenen Situation nur durch Überleitung des Bundesrechts hergestellt werden.“ 42 Denkschrift zum Einigungsvertrag (BT-Drucks. 11/7760, S. 356): Mit der Entscheidung für die Rechtseinheit sollte „– auch im Interesse des wirtschaftlichen Aufbaus –

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nunmehr auf der Grundlage hinzugewonnenen Wissens zu kritisieren, wäre sicher wohlfeil. Allerdings haben auch die durch den Einigungsvertrag und auf seiner Grundlage etablierten Überleitungsregelungen zu einem sehr differenzierten Sonderrecht 43 in den neuen Ländern geführt, ohne daß behauptet werden würde, dies sei der Grund für den ausbleibenden Aufschwung Ost. Noch stärker als in verfassungsrechtlicher Perspektive gilt daher für die Rechtserstreckung des einfachen Bundesrechts, daß sie in dieser Gestalt vom Grundgesetz nicht verlangt wurde. Alternativen waren denkbar, ob sie gangbar waren, soll offen bleiben. Falls sie realisierungsfähig waren und dies erkannt wurde, muß akzeptiert werden, daß sich die Vertragsparteien im Einigungsvertrag bewußt gegen diese Alternativen entschieden haben. Von einem Automatismus dergestalt, daß die staatliche Einigung die Rechtseinheit in Form der Übernahme der bundesdeutschen Rechtsordnung bedingt hat, kann jedenfalls nicht gesprochen werden.

II. Die Regelungen des Einigungsvertrages zur Rechtsanpassung Zu den wichtigsten Bestimmungen des Einigungsvertrages gehören die Artikel, die die Rechtsanpassung regeln. Dazu zählen einerseits die Artikel 3 bis 7 EinigungsV, aufgrund derer das Grundgesetz mit einigen Änderungen bzw. Modifizierungen auf die neuen Länder erstreckt wurde (1), und andererseits die Art. 8 bis 10 EinigungsV, die die Rechtsanpassung auf einfachgesetzlicher Ebene konzeptionell ausgestalten (2). 1. Geltungserstreckung des Grundgesetzes mit Abweichungen Aufgrund von Art. 3 EinigungsV trat am 3. Oktober das Grundgesetz auch auf dem Gebiet der fünf neuen Bundesländer in Kraft; damit galt in der Bundesrepublik im Grundsatz einheitliches Verfassungsrecht 44. Gleichwohl waren im Vertragswerk eine Reihe von Modifikationen grundgesetzlicher Normen vorgesehen. Sie lassen sich grob nach Übergangsregelungen (dazu a) und Ausnahmeregelungen (dazu b) unterscheiden, ohne daß der Einigungsvertrag eine solche

möglichst rasch und umfassend Rechtseinheit und damit Rechtsklarheit geschaffen werden“. 43 Überblick bei A. Birkmann, LKV 2001, 529 ff.; ferner R. Robra, NJW 2001, 633 ff.; S. Lörler, NJ 2000, 73 ff. 44 C. Degenhart, JuS 1993, 627 (627): „einheitliche Verfassungsordnung“. – Damit ist keine einheitliche gesamtdeutsche Verfassungswirklichkeit entstanden, zu deren Vollendung beispielsweise auch die Durchdringung der einfachen Rechtsordnung durch das Verfassungsrecht gehört, vgl. dens., DVBl. 1990, 973 (978); dieses Ziel sollte besser mit dem Begriff „Verfassungseinheit“ bezeichnet werden, vgl. J. Isensee, VVDStRL 49 (1990), S. 39 ff. (46 m. Fn. 17; auch 55: „materielle Verfassungseinheit“).

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dogmatische Einteilung getroffen hätte, und ohne daß stets eine sichere Zuordnung zu einer der beiden Gruppen möglich ist. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Formen ist jedoch feststellbar: während die Übergangsregelungen von den Vorschriften des Grundgesetzes suspendieren, die Geltung des Grundgesetzes aber unberührt lassen, sparen die hier als Ausnahmen bezeichneten Vorschriften einzelne Grundgesetznormen für eine gewisse Zeit schon von der Geltungserstreckung auf die neuen Länder ganz oder teilweise aus 45. Als dritte Gruppe sind noch die sonstigen aus Anlaß der deutschen Einheit erfolgten Grundgesetzänderungen zu nennen, die dauerhaft im Verfassungstext verblieben (dazu c). a) Übergangsregelungen Die prominenteste verfassungsrechtliche Übergangsregelung ist der durch Art. 4 Nr. 5 EinigungsV in das Grundgesetz eingefügte Art. 143 I und II GG 46. Er gestattete für eine näher bestimmte Übergangszeit Abweichungen vom Grundgesetz einschließlich der Grundrechte, „soweit und solange infolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung nicht erreicht werden kann“. Die Norm wird in Kapitel 4 eingehend erörtert 47. Neben Art. 143 I und II GG gab es eine Reihe weiterer Vorschriften des Grundgesetzes, die zwar auf die neuen Länder erstreckt wurden, von denen aber abgewichen werden durfte. Dazu zählt zum einen der beamtenrechtliche Funktionsvorbehalt des Art. 33 IV GG, für den Art. 20 EinigungsV anordnete, daß er „sobald wie möglich“ anzuwenden sei 48. Zum anderen sind hier die Normen zu nennen, die nach der Erstreckung des Grundgesetzes im ganzen Bundesgebiet galten, von denen aber aus zwingenden staatsorganistorischen Gründen abgewichen wurde, ohne daß sich dies auf das Beitrittsgebiet begrenzen ließe. Als Beispiel sei Art. 42 EinigungsV genannt, der die Entsendung von Abgeordneten der Volkskammer in den Bundestag regelte, um die Repräsentation der ostdeutschen Bevölkerung im Bundestag sicherzustellen 49. Diese (stimmberechtigten) Abgeordneten waren 45 Vgl. M. Sachs, Vom Grundgesetz abweichendes Recht nach der Wiedervereinigung Deutschlands – Art. 143 Abs. 1 und 2 GG, in: J. Ipsen u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 193 ff. (194), allerdings ohne die hier getroffene terminologische Unterscheidung. 46 Anders Harms, Verfassungsrecht (Fn. 6), S. 143, nach der die Übergangsvorschrift der Art. 143 I, II GG keine auch nur punktuelle Suspendierung von verfassungsrechtlichen Vorschriften beinhalte. 47 Kapitel 4. B. 48 W. Schwanengel, Die Wiedereinführung des Berufsbeamtentums in den neuen Ländern, 1999, S. 96 f.; D. Merten, Zur Übernahme des Staatspersonals der DDR nach der Wiedervereinigung, in: FS Steinberger, 2002, S. 525 ff. (535 ff.); P. Kunig, in: I. v. Münch / ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 33 Rn. 43 mit umfangreichen weiteren Nachweisen. 49 Denkschrift zum Einigungsvertrag (BT-Drucks. 11/7760, S. 377).

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lediglich durch die DDR-Bürger aufgrund der letzten Volkskammerwahl im März 1990 legitimiert. Gleiches galt für die nur von den Bürgern in den alten Bundesländern gewählten bisherigen Bundestagsabgeordneten. Nach der Vereinigung bis zur ersten gesamtdeutschen Wahl am 2. Dezember 1990 waren beide Gruppen von Abgeordneten im Grunde nicht „Vertreter des ganzen Volkes“. Darin liegt eine kurzzeitige Modifikation bzw. staatsvertragliche Überlagerung von Art. 38 I 2 GG. b) Ausnahmen von der Geltungserstreckung Neben den Übergangsregelungen sah der Einigungsvertrag auch „echte“ Ausnahmen von der Erstreckung des Grundgesetzes vor. Nach Art. 6 EinigungsV – explizit als Ausnahmebestimmung hervorgehoben – trat der dort in Bezug genommene Art. 131 GG, der den Gesetzgeber zur Regelung der Rechtsverhältnisse im Öffentlichen Dienst nach 1945 ermächtigte, im Beitrittsgebiet „vorerst“ 50 nicht in Kraft und wurde bis heute nicht in Kraft gesetzt. Der Geltungsbereich des aufgrund der Ermächtigung erlassenen G 131 51 wurde bereits nicht mehr auf das Gebiet der neuen Länder ausgedehnt 52. In den alten Bundesländern ist das Gesetz im Jahre 1994 aufgehoben worden. Schließlich erstreckte der Art. 7 EinigungsV auch die Finanzverfassung des Grundgesetzes nur mit bestimmten zeitlich befristeten Maßgaben auf das Beitrittsgebiet, um der besonderen Situation, die durch die Einbeziehung der neuen Länder in die Verteilung des Steueraufkommens entstanden war, gerecht zu werden. Die Art. 106 und 107 GG galten somit im Beitrittsgebiet nur eingeschränkt 53,

50 Die Verfassungsmäßigkeit dieser Ausnahme anzweifend D. Merten, Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, 1991, S. 48 ff. (insb. S. 66, 74 f.). 51 Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen (G 131) vom 11. 5. 1951 (BGBl. I S. 307). Das G 131 verkürzte im Vergleich zur Rechtslage vor seinem Inkrafttreten beamtenrechtliche Ansprüche oder schloß sie ganz aus, vgl. zu den Einzelheiten G. Lübbe-Wolff , in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2000, Art. 131 Rn. 4 ff. – Das Bundesverfassungsgericht hat die Regelungen für verfassungsgemäß erachtet: BVerfGE 3, 58 (76 ff.). Die höchst umstrittene Frage nach dem Fortbestand der Beamtenverhältnisse hat das Gericht verneint (a. A. L. Ambrosius / J. Löns / H. Rengier, Gesetz zu Art. 131 des Grundgesetzes, Kommentar, 1952, § 1), weshalb die Regelungen des G 131 auch nicht als grundrechtsbeschränkend an Art. 14 GG, sondern als anspruchsbegründend am Gleichheitsgrundsatz gemessen wurden; zur Entscheidung ausführlich Harms, Verfassungsrecht (Fn. 6), S. 54 ff. 52 Vgl. Anlage I Kapitel II Sachgebiet B Abschnitt I EinigungsV; zur Begründung Stern/ Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag (Fn. 27), S. 216. 53 So Stern/Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag (Fn. 27), S. 50; anders K.-D. Schnapauff , DVBl. 1990, 1249 (1252), der die Art. 7 EinigungsV und Art. 143 I, II GG unter der Rubrik Überleitungsvorschriften zusammenfaßt; zur gestuften Inkraftsetzung der Finanz-

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ohne daß sich das im Text des Grundgesetzes niederschlug. Die Übergangsfristen sind zwischenzeitlich auch hier abgelaufen. c) Dauerhafte Grundgesetzänderungen Hierzu zählen etwa die Neufassung der Präambel und des Art. 51 II GG 54, mit dem die Sitzverteilung im Bundesrat an die veränderten Bevölkerungszahlen angepaßt wurde und der höchst umstrittene Art. 143 III GG 55, der die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage zwischen 1945 und 1949 für bestandsfest erklärte 56. 2. Geltungserstreckung des einfachen Bundesrechts Auf einfachgesetzlicher Ebene stellte sich die Rechtserstreckung im Gesamtbild als ungleich kleinteiliger dar. Sie folgte zunächst dem Grundsatz, das einfache Bundesrecht unverändert in den neuen Ländern in Kraft zu setzen (Art. 8 EinigungsV), sozusagen en bloc. Angesichts der spezifischen Verhältnisse in den neuen Ländern erfuhr dieser Grundsatz dann aber weitreichende Einschränkungen (vgl. Art. 8 letzter Halbsatz EinigungsV), die hier der Übersichtlichkeit halber in drei Gruppen unterteilt werden. Eine erste Beschränkung erfuhr der Grundsatz der Rechtserstreckung dadurch, daß einzelne Teile des Bundesrechts entweder gar nicht 57, in modifizierter Form 58

verfassung näher H. Bauer, HStR IX, § 206 Rn. 16 ff.; zu Art. 7 EinigungsV W. Patzig, DÖV 1991, 578 (583 f.). 54 Dazu jeweils M. Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, 1991, S. 7 f. bzw. S. 9 f. 55 Seine Verfassungsmäßigkeit bejahend BVerfGE 84, 90 (117 ff.); 94, 12 (33 ff.); zuletzt BVerfGE 112, 1 (24 ff.) mit Sondervotum Lübbe-Wolff . 56 Vgl. die als Anlage III dem Einigungsvertrag beigefügte „Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen vom 15. Juni 1990“; die Festschreibung der Enteignungen soll „Vorbedingung“ für die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Einheit gewesen sein; aus politikwissenschaftlicher Perspektive die Existenz einer „Vorbedingung“ anzweifelnd C. Paffrath, Macht und Eigentum, 2004, allerdings mit nicht überzeugenden Schlußfolgerungen (so auch J. Lege, DVBl. 2005, 482 [483 f.]). 57 Jeweils in Abschnitt I eines Sachgebiets aufgeführt; nicht erstreckt wurde z. B. das G 131 (Anlage I Kapitel II Sachgebiet B Abschnitt I Nr. 1) und die Konkursordnung (Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt I Nr. 2), an deren Stelle bis zum Inkrafttreten der Insolvenzordnung im Jahre 1999 die Gesamtvollstreckungsordnung der DDR fortgalt. 58 Jeweils Abschnitt II eines Sachgebiets; diese Fälle bilden den Hauptteil der Rechtserstreckung; Beispiele sind § 246a BauGB (Anlage I Kapitel XIV Abschnitt II Nr. 1) und die Einfügung der Art. 230 bis 236 EGBGB (Anlage I Kapitel III Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 1).

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oder mit Maßgaben versehen 59 auf die neuen Länder ersteckt wurden (vgl. Art. 8 i. V. m. Anlage I zum Einigungsvertrag). Im Falle des modifiziert erstreckten Bundesrechts wurde das Bundesrecht ausdrücklich geändert oder um längerfristig angelegte „Überleitungsregelungen aus Anlaß der Herstellung der deutschen Einheit“ ergänzt. Bei dem mit Maßgaben versehenen Bundesrecht (jeweils Abschnitt III) wurden die Maßgaben, die in sachlichem Zusammenhang standen, in der Regel unter Beibehaltung des Gesetzeswortlauts in einem geschlossenen Text zusammengefaßt, so z. B. die umfangreichen Maßgaben zur Gerichtsverfassung in den neuen Ländern. Eine zweite Abweichung stellt das nach Art. 9 II, III i. V. m. Anlage II EinigungsV fortgeltende DDR-Recht dar. Für diese Materien wurde vorerst von der Erstreckung des Bundesrechts (wenn überhaupt vorhanden) abgesehen. Ähnlich wie in den Fallgruppen des Art. 8 EinigungsV wurde das fortgeltende DDRRecht entweder unverändert beibehalten 60, mit Änderungen beibehalten 61 oder mit bestimmten Maßgaben versehen 62. Das fortgeltende Recht der DDR mußte mit dem Grundgesetz vereinbar sein; es galten aber die Erleichterungen des Art. 143 I und II GG, sofern dessen Voraussetzungen erfüllt waren. Das war im Hinblick auf das Merkmal „Recht“ problematisch, da die Anlage II des Einigungsvertrages nicht nur Gesetze und Verordnungen enthielt, die nach rechtstaatlicher Lesart als Rechtsnormen gelten konnten, sondern auch Anordnungen und Durchführungsbestimmungen, deren Rechtsnormqualität zweifelhaft war 63. Außerdem durfte fortgeltendes DDR-Recht nicht gegen unmittelbar geltendes EG-Recht verstoßen. Art. 9 IV integrierte die fortgeltenden DDR-Vorschriften schließlich in kompetenzmäßiger Hinsicht: Regelten sie Gegenstände der ausschließlichen, der

59 Jeweils Abschnitt III eines Sachgebiets; Beispiele: Maßgaben für das Inkrafttreten des GVG (Anlage I Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1) und des DRiG (ebd., Nr. 8). 60 Jeweils Abschnitt I eines Sachgebiets; so galt § 153 StGB-DDR (Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbruch) fort (Anlage II Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt I Nr. 1, 4 und 5), ebenso die Kommunalverfassung vom 17. 5. 1990 in den neu errichteten Bundesländern (Anlage II Kapitel II Sachgebiet B Abschnitt I). 61 Jeweils Abschnitt II eines Sachgebiets; Beispiele: Gesamtvollstreckungsordnung (Anlage II Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt II Nr. 1); Grundstücksverkehrsverordnung (Anlage II Kapitel III Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 1). 62 Jeweils Abschnitt III eines Sachgebiets; Beispiele: §§ 20 a und b des Parteiengesetzes der DDR, relevant für die spätere Auseinandersetzung des SED-Parteivermögens (Anlage II Kapitel II Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1); DDR-Staatshaftungsgesetz (Anlage II Kapitel III Sachgebiet B Abschnitt III Nr 1). 63 Überblick über das Rechtsquellensystem der DDR bei M. Sauthoff / R. Bauer, DÖV 1991, 1054 ff.; als „Recht“ zu qualifizieren sein dürften jedenfalls die staatlichen Regelungen, die im Gesetzblatt der DDR veröffentlicht wurden, vgl. G. Brunner, HStR IX, § 210 Rn. 6.

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Kap. 1: Der Transformationsprozeß in Ostdeutschland

konkurrierenden oder der Rahmengesetzgebung, so galten sie als Bundesrecht fort, ansonsten als Landesrecht. Komplizierter ist die dritte Begrenzung nach Art. 9 I EinigungsV. Sie hat im Grunde Auffangcharakter. Mit ihr sollte die Möglichkeit der Fortgeltung auch für solches DDR-Recht offengehalten werden, das während der kurzen Ausarbeitungsphase des Einigungsvertrages nicht auf seine Integrierbarkeit mit der bundesdeutschen Rechtsordnung untersucht und daher nicht in die Anlage II aufgenommen wurde. Die Fortgeltung erfolgte entsprechend der grundgesetzlichen Kompetenzordnung 64. Betraf es landesrechtliche Materien, so galt es als Landesrecht in den neuen Ländern fort und mußte mit dem Grundgesetz (ohne Art. 143 GG), mit dem nach Art. 8 erstreckten einfachen Bundesrecht und mit unmittelbar geltendem EG-Recht vereinbar sein (vgl. Art. 9 I 1 EinigungsV). Sofern sich das fortgeltende DDR-Recht auf Materien des Bundesrechts bezog, traf Art. 9 I 2 EinigungsV nur partielle Aussagen. Waren Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung betroffen, galt das DDR-Recht als Landesrecht fort, wenn es keine bundeseinheitliche Regelung gab, der Bundesgesetzgeber also von seinem Zugriffsrecht noch nicht (oder nicht mehr) Gebrauch gemacht hatte. Die betreffende Materie war dann auch im alten Bundesgebiet landesrechtlich geregelt, so daß insoweit Einheitlichkeit bestand. Hingegen trat DDR-Recht, das Gegenstände der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz oder Rahmengesetzgebungskompetenz betraf, außer Kraft, sofern es nicht in Anlage II aufgeführt war 65. Nur der Vollständigkeit halber zu nennen sind Art. 10 EinigungsV, der die Verträge über die Europäischen Gemeinschaften und die auf dieser Grundlage ergangenen Rechtsakte auf das Beitrittsgebiet erstreckt, sowie die Art. 11 und 12 EinigungsV, die die Behandlung der bestehenden völkerrechtlichen Verträge und Vereinbarungen regeln, bei denen die Bundesrepublik oder die DDR Vertragspartner war. 3. Aufrechterhaltung von Einzelentscheidungen In rechtstechnischer Hinsicht wesentlich einfacher als die kleinteiligen Regelungen zur Erstreckung des einfachen Bundesrechts stellt sich die Behandlung von Gerichtsentscheidungen (Art. 18 EinigungsV) und Verwaltungsentscheidungen (Art. 19 EinigungsV) dar. Sie bleiben im Grundsatz wirksam. Sofern sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sind, können sie aber überprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden 66. Für die Urteile von DDR-Strafgerichten

64 Näher dazu und zu Detailfragen M. Kloepfer / H. Kröger, DVBl. 1991, 1031 (1035 f.); G. Brunner, HStR IX, § 210 Rn. 12 ff. (insb. 14 f.). 65 Vgl. zum Ganzen auch K.-D. Schnapauff , DVBl. 1990, 1249 (1253 f.); R. Nissel, DtZ 1990, 330 (330); C. Degenhart, JuS 1993, 627 (628). 66 Näher dazu R. Dolzer, HStR VIII, § 195 Rn. 20.

B. Der Fluchtpunkt der Rechtsangleichung

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führte der Einigungsvertrag eigens die Möglichkeit der gerichtlichen Kassation rechtskräftiger rechtswidriger Entscheidungen ein. Daran anknüpfend wurden in der Folgezeit umfangreiche Regelungen zur strafrechtlichen, beruflichen und verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung geschaffen 67.

III. Technik und Charakteristika der Rechtsanpassung Mit dem erstreckten Bundesrecht mußten nunmehr Sachverhalte erfaßt und bewältigt werden, die über vier Jahrzehnte eine eigengeartete Prägung erfahren hatten. Schnell wurde deutlich, daß sich damit ein grundlegendes Problem der Rechtsanpassung verband: die Schwierigkeit, die Rechtswirklichkeit in den neuen Ländern zutreffend normativ zu erfassen (1). Für diese Erfassung fand eine Technik Anwendung, mit der sowohl die Rechtswirklichkeit als auch die normativen Vorgaben berücksichtigt werden konnten, und die als eine Abfolge von drei Schritten – Überführung, Neubewertung, Korrektur – beschrieben werden kann (2). Zum Abschluß des Kapitels ist auf einige Charakteristika des Rechtsanpassungsprozesses hinzuweisen (dazu 3 und 4). 1. Die normative Erfassung der DDR-Rechtswirklichkeit als Grundproblem der Rechtsanpassung Der Prozeß der Rechtsanpassung nahm seinen Ausgang von zwei grundverschiedenen Rechtsordnungen. Bei deren Zusammenführung waren Probleme und Ungereimtheiten daher kaum vermeidbar. Die Ursache dafür liegt jedoch nicht darin, daß die Rechtsanpassung nur schrittweise vollzogen wurde oder daß zum Teil noch DDR-Recht fortgalt. Die Rechtsanpassung war mit dem Einigungsvertrag zu einem großen Teil schon vollzogen, und man hätte sie sogar sofort verwirklichen können, hätte man einfach die zahlreichen Übergangsregelungen im Einigungsvertrag weggelassen. Die Probleme beruhen vielmehr auf den Unterschieden im Tatsächlichen. Sie sorgten und sorgen dafür, daß das wohlerprobte Bundesrecht (einschließlich des Verfassungsrechts) häufig keine befriedigenden Ergebnisse hervorbringt 68. Das gilt im übrigen nicht nur für die besonderen Überleitungsregelungen, von denen man durchaus behaupten könnte, daß sie wegen der kurzen Zeitspanne, in der sie erarbeitet wurden, hier und da Mängel aufweisen. Es 67 Die strafrechtliche Rehabilitierung regelte das Erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vom 29. 10. 1992 (BGBl. I, S. 1814), die berufliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitierung das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vom 23. 6. 1994 (BGBl. I, S. 1311); zu beiden Komplexen H.-J. Papier, HStR IX, § 213 Rn. 4 ff., 18 ff., 23 ff.; H. Dreier, Verfassungsstaatliche Vergangenheitsbewältigung, in: FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 1, 2001, S. 159 ff. (189 f., 190 ff.). 68 Problembewußt R. Nissel, DtZ 1990, 330 (330); R. Höppner, NJ 1997, 281 (283); ferner K.-D. Schnapauff , DVBl. 1990, 1249 (1252 f.).

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Kap. 1: Der Transformationsprozeß in Ostdeutschland

kann auch für Rechtsvorschriften gelten, die gänzlich unverändert im Gebiet der neuen Länder anzuwenden waren 69. So wäre eine Anwendung der Kündigungsvorschriften des BGB für Miet- und Pachtverträge auf die DDR-Nutzungsverhältnisse ohne jede Übergangsphase nicht nur rechtspolitisch, sondern auch unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit zweifelhaft gewesen 70. Ein weiteres Beispiel, das die These stützt, ist die erste gesamtdeutsche Wahl. Das mit dem Wahlvertrag 71 und dem anknüpfenden Wahlvertragsgesetz 72 in Bezug auf die hier interessierende Problematik unverändert in Kraft gesetzte Bundeswahlgesetz (BWahlG) sah unterschiedslos in allen Teilen Deutschlands die 5 %-Sperrklausel vor. Das Bundesverfassungsgericht hat dies wegen der noch bestehenden Unterschiede in der Parteienlandschaft der neuen Länder für mit der Wahlrechtsgleichheit des Art. 38 I 1 GG unvereinbar angesehen 73. Es waren also die tatsächlichen Verhältnisse, an denen eine einheitliche Anwendung der Sperrklausel im ganzen Bundesgebiet scheiterte. Pointiert gesprochen, geht es bei dem hier erörterten Prozeß nicht um Rechtsanpassung, sondern um Rechtswirklichkeitsanpassung. 2. Technik der Rechtsanpassung: Überführung, Neubewertung, Korrektur Die gesetzgeberische Technik der Eingliederung von DDR-Rechtspositionen in die bundesdeutsche Rechtsordnung stellt sich als Abfolge von drei Schritten dar: An erster Stelle steht die Überführung der Positionen in das geltende Recht (a), sodann erfolgte ihre verfassungsrechtliche Neubewertung (b); schließlich wurden die Ansprüche, wenn für nötig erachtet, einer Korrektur unterzogen (c).

69 In diese Richtung auch R. Nissel, DtZ 1990, 330 (330): Anlage I zum EinigungsV enthalte Maßgaben, mit denen beabsichtigt sei, die teilweise erheblichen sozialen, strukturellen und wirtschaftlichen Unterschiede zu erfassen, „die einem ungestörten Funktionieren übergeleiteter Bundesgesetze entgegenstehen“; vgl. auch W. Binne, DtZ 1990, 209 (209); a. A. hingegen Merten, Grundfragen (Fn. 50), S. 79. 70 Zum Ganzen siehe Kapitel 3. D. 71 Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Wahlvertrag) vom 3. 8. 1990 (BGBl. II, S. 822). 72 Gesetz zu dem Vertrag vom 3. August 1990 zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sowie dem Änderungsvertrag vom 20. August 1990 (Wahlvertragsgesetz) vom 29. 8. 1990 (BGBl. II, S. 813). 73 Vgl. BVerfGE 82, 332 (339 ff.); kritisch zur Entscheidung H. Weis, AöR 116 (1991), 1 (21 ff.); eher zustimmend K. J. Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S. 312 ff.

B. Der Fluchtpunkt der Rechtsangleichung

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a) Überführung An erster Stelle steht die Überführung der jeweiligen Rechtsposition in die geltende Rechtsordnung. Mit „Überführung“ ist der Fortbestand bzw. die Anerkennung der Position gemeint. Der Einigungsvertrag selbst bestimmte in seinem Art. 19, daß Verwaltungsentscheidungen der DDR-Behörden (z. B. Erlaubnisse, Genehmigungen etc.) fortgelten, wenn sie nicht gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen 74. Sofern keine solche ausdrückliche Regelung besteht, führt die Problematik auf das Gebiet des Verfassungskollisionsrechts 75 und hin zu der Frage, ob die unter einer fremden Staatsgewalt begründeten Rechtspositionen im Falle des Untergangs des Staatswesens an dessen Schicksal teilnehmen. Insbesondere das Bundesverfassungsgericht ist in seiner Rechtsprechung zu überleitungsbedingten Rechtsproblemen im Grundsatz vom Fortbestand der Rechtspositionen ausgegangen, wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen 76. b) Neubewertung Durch die Überführung waren die Rechtspositionen – soweit nicht das DDRRecht, auf dessen Grundlage sie entstanden waren, fortgalt – ihrer ursprünglichen rechtlichen Fundierung enthoben und „über Nacht“ mit einer neuen versehen worden. Mit dem zweiten Schritt erfolgte dann die Neubewertung anhand der Kriterien, die die bundesdeutsche Rechtsordnung für strukturell vergleichbare westdeutsche Rechtspositionen vorgab. So war etwa zu entscheiden, ob staatliche „Kredite“ dem Begriff des „Darlehens“ im Sinne des § 607 a. F. BGB entsprechen 77, ob Zusatzversorgungs„renten“ auch dann „Renten“ sind, wenn sie nicht alle Merkmale einer Rente im Sinne der Eigentumsgarantie aufweisen 78 und ob man die spezifisch ausgestalteten Nutzungsverhältnisse ohne weiteres mit den Miet- oder Pachtverhältnissen des BGB gleichsetzen kann 79. Das implizierte notwendigerweise das Verschwinden der eigengearteten Begrifflichkeiten und Insti-

74 Dazu mit Fallbeispielen J. Dietlein, „DDR-Verwaltungsakte“ vor bundesdeutschen Gerichten, in: Festschrift für Ernst Kutscheidt, 2003, S. 119 ff. (121 ff.); R. Dolzer, HStR VIII, § 195 Rn. 20. 75 Vgl. D. Blumenwitz, HStR IX, § 211 Rn. 1 ff. (insb. Rn. 75). 76 BVerfGE 95, 267 (304): der Fortbestand sei die Regel, der Untergang der unter einer fremden Staatsgewalt begründeten Rechtsposition aber müsse ausdrücklich bestimmt werden; anders hingegen BVerfGE 100, 1 (33), Fortbestand durch Anerkennung im Einigungsvertrag; dazu J. Isensee, HStR IX, § 202, Rn. 97, der davon ausgeht, daß der Fortbestand der Rechtsverhältnisse auf der „Überleitungsleistung“ des Einigungsvertrages beruht (ebd., Rn. 112). 77 Eingehend zur Altschuldenproblematik siehe Kapitel 3. B. 78 Zur Überleitung der Zusatzversorgungsanwartschaften siehe Kapitel 3. C. 79 Zur Schuldrechtsanpassung siehe Kapitel 3. D.

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Kap. 1: Der Transformationsprozeß in Ostdeutschland

tute des DDR-Rechts nach einer kürzeren oder längeren Zeit des Übergangs. Die Aufrechterhaltung der DDR-Rechtspositionen in der vorgefundenen rechtlichen Gestalt (nicht in der Rechtssubstanz) war somit in der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle eine Erscheinung des Übergangs 80. Die Neubewertung der Rechtspositionen war dabei unterschiedlich großen Schwierigkeiten ausgesetzt. Manche Rechtspositionen glichen denen in der Bundesrepublik, so daß lediglich die rechtliche „Hülle“ ausgetauscht wurde, der Inhalt aber kaum verändert werden mußte. Andere Rechtspositionen, insbesondere solche, die Ausdruck der sozialistischen Gesellschafts- und Rechtsordnung waren und daher Inhalte aufwiesen, für die es in der bundesdeutschen Rechtsordnung gar keine Entsprechung gab oder geben durfte, verursachten größere Probleme. c) Korrektur Die überführten und neubewerteten Rechtspositionen waren zwar nunmehr bundesdeutsche Rechtspositionen, wiesen aber gleichwohl Besonderheiten aufgrund ihrer ostdeutschen „Herkunft“ auf. Kollidierten diese Besonderheiten mit geltenden Rechtsmaximen, insbesondere mit rechtsstaatlichen Grundsätzen, waren sie einer Korrektur ohne weiteres zugänglich 81. Komplizierter liegen die Dinge, wenn die Rechtsverhältnisse, wie etwa die noch zu erörternden Zusatzversorgungsrenten, in rechtsstaatlicher Hinsicht keine Bedenken aufwarfen, sie aber doch Ausdruck und Überbleibsel des sozialistischen Gesellschaftssystems waren. Die rechtspolitisch motivierte, (verfassungs-)rechtlich aber nicht notwendige, Beseitigung oder Beschränkung solcher Privilegien stieß bisweilen an die Grenzen des Grundrechtsschutzes 82. Dies zeigt, daß der Rechtsstaat bei der Herstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse in den neuen Ländern mitunter selbst Gefahr lief, mit den eigenen Grundsätzen zu kollidieren 83.

80 Ausnahmen sind etwa die in der DDR erlangten Ausbildungs- und Berufsabschlüsse, die weitgehend beibehalten wurden. Sie konnten zudem als den bundesdeutschen Abschlüssen gleichwertig anerkannt werden (vgl. Art. 37 EinigungsV). Dazu jetzt BVerwG, Urteil vom 24. 11. 2005 – 6 C 19/04. 81 Vgl. vor allem Art. 19 EinigungsV; gleiches gilt aber auch für Rechtspositionen, die nicht in den Anwendungsbereich dieser Norm fallen; dazu J. Isensee, HStR IX, § 202 Rn. 119. 82 So aus genereller Sicht J. Isensee, HStR IX, § 202 Rn. 121, eine rechtsstaatliche Ordnung lasse es nicht zu, daß personen- oder vermögensrechtliche Positionen „ins Leere“ fielen; wie sie geschützt würden, sei gleichgültig, die Sicherung der substanziellen Rechtsposition sei entscheidend. 83 Vgl. J. Isensee, HStR IX, § 202 Rn. 25; in anderem thematischen Zusammenhang U. Ebert, Aus Recht wird Unrecht? Deutsche Wiedervereinigung und Strafrecht, in: E. Koch (Hrsg.), 10 Jahre Deutsche Rechtseinheit, 2001, S. 21 ff. (25).

B. Der Fluchtpunkt der Rechtsangleichung

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3. Stufung der Rechtsüberleitung nach Maßgabe der Sozialverträglichkeit Neben dieser besonderen Überführungstechnik weist die Rechtsanpassung einige Spezifika auf. Hierzu zählt der Grundsatz der gestuften Rechtsüberleitung. Der Begriff der „Überleitung“ impliziert bereits eine gewisse Streckung des Anpassungsprozesses 84. Zeugnis davon legen die umfangreichen Überleitungsvorschriften aus Anlaß der Deutschen Einheit ab, die sich in einer großen Zahl von Gesetzen fanden und immer noch finden lassen, allerdings mit deutlich abnehmender Tendenz. Sie sahen mehr oder weniger lange Übergangszeiträume vor, die sich von einem Jahr bis zu mehreren Jahrzehnten 85 erstrecken konnten. In engem Zusammenhang hiermit steht die sozialverträgliche Rechtsanpassung. Im Hinblick auf den Vertrauensschutz der ehemaligen DDR-Bürger war eine gleitende Überleitung im Grunde gleichbedeutend mit sozialverträglicher Überleitung. Das Merkmal „sozialverträglich“ ist dabei nicht in dem Sinne zu verstehen, daß der gesamtdeutsche Gesetzgeber die Erfordernisse des Sozialstaatsprinzips zu beachten hat – denn daran ist er ohnehin gebunden. Vielmehr wird mit der „Sozialverträglichkeit“ die Beachtung der spezifischen sozialen Bedeutung einzelner Rechtspositionen in den neuen Ländern angedeutet 86. Das führt letztlich zu den bestehenden tatsächlichen Unterschieden zwischen Ost und West zurück. 4. Orientierung am Maßstab der Einzelfallgerechtigkeit Die Überleitung der gesamten DDR-Rechtsordnung einschließlich der Rechtspositionen war ein Vorhaben von enormer Komplexität. Generalisierende Regelungen waren dabei unvermeidlich. Eine korrigierende Rolle nahm hier die Verfassungsgerichtsbarkeit ein. Grundlegende Weichenstellungen des Überleitungsgesetzgebers hat das Bundesverfassungsgericht zwar nicht verworfen; sie erwiesen sich, soweit im Rahmen dieser Arbeit berücksichtigt, alle als verfassungsgemäß. Es hat jedoch in einer ganzen Reihe von Entscheidungen belastende

84 R. Scholz, in: T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Art. 143 (1991), Rn. 4; C. Feddersen, DVBl. 1995, 502 (502), beide in sachlichem Zusammenhang mit Art. 143 I, II GG. 85 Relativ kurze Übergangsfristen von einem Jahr galten im Bereich des technischen Arbeitsschutzes, der aus nachvollziehbaren Gründen schnell an das hohe westdeutsche Niveau herangeführt werden sollte (vgl. Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet B Abschnitt II EingungsV). Sehr lange Übergangsphasen galten im Bereich der Rentenversicherung (z. B. stufenweise Nichtanrechnung von Ausbildungszeiten für die Rentenberechnung); ein weiteres Beispiel sind die Kündigungsschutzbestimmungen im Rahmen der Schuldrechtsanpassung (ca. 25 Jahre). 86 Vgl. BVerfGE 101, 54 (97).

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Kap. 1: Der Transformationsprozeß in Ostdeutschland

Regelungen in Orientierung am Ziel größtmöglicher Einzelfallgerechtigkeit im Detail verworfen und damit für die Betroffenen die gröbsten Härten des Rechtsanpassungsprozesses beseitigt. Das zeigt sich insbesondere an Urteilen, in denen das Gericht zum Teil recht diffizile Unterscheidungen einführte, die anders als mit dem Argument der Einzelfallgerechtigkeit kaum zu begründen sind 87.

87 Genannt sei die Unterscheidung von Umlaufkrediten und Investitionskrediten für betriebsfremde Zwecke im Altschuldenurteil (BVerfGE 95, 267 [312]) oder die Unterscheidung von normal und besonders großen Grundstücken im Urteil zur Schuldrechtsanpassung (BVerfGE 101, 54 [84 f.]); zu beiden Komplexen vgl. die eingehenden Erörterungen in Kapitel 3.

Kapitel 2

Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bevor im nächsten Kapitel an drei Fallbeispielen untersucht wird, wie der Begriff der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit in der „einigungsspezifischen Verfassungsrechtsprechung“ 1 Verwendung fand, ist darzulegen, welche Funktion er in den vorangegangenen Perioden der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eingenommen hat und in welchen Erscheinungsformen er begegnet. Dazu ist in erster Linie sein Verhältnis zur Verfassungsbindung des Gesetzgebers zu beleuchten (A). Daran anknüpfend ist zu erörtern, welche Ausprägung die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei einzelnen Grundrechten erfahren hat (B). Schließlich werden mit Blick auf das folgende Kapitel die Konstellationen vorgestellt, in denen sich das Bundesverfassungsgericht der Argumentation mit erweiterten Gestaltungsspielräumen bedient hat (C).

A. Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit in der grundgesetzlichen Ordnung Um die Funktion des Terminus der „gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit“ zu bestimmen, ist als Ausgangspunkt zunächst eine der zentralen Aussagen des Grundgesetzes, die Bindung des parlamentarischen Gesetzgebers an die Verfassung nach Art. 20 III GG, zu skizzieren (I). Im Anschluß daran wird das Verhältnis von Verfassungsbindung und gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit beleuchtet; hier sind grundsätzlich zwei Erklärungsmöglichkeiten denkbar. Zum einen könnte die Bedeutung der Gestaltungsfreiheit darauf beschränkt sein, als Bezeichnung für den nicht durch verfassungsrechtliche Vorgaben geprägten Bereich gesetzgeberischer Gestaltungsmacht zu fungieren (II). Vorzugswürdiger erscheint es jedoch, in ihr zugleich eine Argumentationsfigur zu sehen, mit der verfassungsrechtliche Vorgaben flexibler gestaltet und gehandhabt werden können (III).

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H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 27.

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

I. Die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung Die Gesetzgebung ist nach Art. 20 III GG an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Diese Entscheidung für einen Vorrang der Verfassung gegenüber der gesetzgebenden Gewalt und deren Produkt, dem Gesetz, ist ein Kernbestandteil des rechtsstaatlichen Prinzips in Deutschland 2 und Ausdruck eines modernen freiheitlichen Verfassungsstaates 3. Sie bindet den demokratischen Gesetzgeber bei seiner politischen Gestaltungsaufgabe an die Regeln des Rechts der Verfassung 4. Neben dem Terminus „Vorrang der Verfassung“ ist der Begriff der „Verfassungsbindung“ in Gebrauch. Beide Begriffe werden als Synonym für die Verbindlichkeit der Verfassung gegenüber dem einfachen Recht verwendet 5. Auch wenn die Gleichsetzung in der Sache unschädlich ist, so bezeichnen beide Begriffe doch unterschiedliche Aspekte des Verhältnisses von Verfassung und einfachem Recht 6. Während der Vorrang der Verfassung auf die Höchstrangigkeit der Verfassung 7 verweist, und damit eine Kollisionsregel für den Fall enthält, daß einfaches Gesetz und Verfassung in Widerspruch stehen 8, rückt der Begriff der Verfassungsbindung die Beschränkungen durch die Verfassung in den Vordergrund, die der Gesetzgeber bei seiner politischen Gestaltungsaufgabe zu beachten hat. Ungeachtet dieser verschiedenen Perspektiven ist mit der Entscheidung des Grundgesetzes für die Verfassungsbindung einer Suprematie des Gesetzgebers der Boden entzogen 9. Angesichts dieser eindeutigen Vorgabe des Grundgesetzes wird in der 2

K. Sobota, Das Rechtsstaatsprinzip, 1997, S. 39 ff.; H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 6, 39; R. Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (499); streitig ist, ob es überhaupt das „Rechtsstaatsprinzip“ gibt oder dies nur die Gesamtheit einzelner rechtsstaatlicher „Unterprinzipien“ des GG bezeichnet: so etwa P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 458 ff. (insb. S. 463); F. E. Schnapp, in: I. v. Münch / P. Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 20 Rn. 24; dagegen K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 20 II 2 (S. 778); R. Herzog, in T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 3, Art. 20 VII (1980), Rn. 3. 3 Vgl. E. Schmidt-Aßmann, HStR 3 II, § 26 Rn. 28; anders R. Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (499). – Zu einer „Verfassungs“bindung auf europäischer Ebene T. v. Danwitz, JZ 2003, 1125 ff. 4 R. Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (485 f.); Stern, Staatsrecht (Fn. 2), 20 IV 2b (S. 788); H. Dreier, JZ 1994, 741 (744); C. Starck, Verfassung und Gesetz, in: ders. (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 29 ff. (29); P. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 400 f.; Schulze-Fielitz (Fn. 2), Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 81; K.-P. Sommermann, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20 Rn. 253. 5 Vgl. Sobota, Rechtsstaat (Fn. 2), S. 41. 6 Dazu R. Wahl, Der Staat 20 (1981), S. 485 ff. (486). 7 Sobota, Rechtsstaat (Fn. 2), S. 39. 8 M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2003, Art. 20 Rn. 95; a. A. H. Lecheler, Vorrang der Verfassung?, in: Festschrift für Ernst Wolf, 1985, S. 361 ff. (366): keine Eignung als Kollisionsregel.

A. Gestaltungsfreiheit in der grundgesetzlichen Ordnung

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Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf den Vorrang der Verfassung auch meist nur knapp im Rahmen der Argumentation und durch Nennung der Art. 20 III, 1 III GG Bezug genommen 10. Die Begrifflichkeiten „Verfassungsbindung“ oder „Bindung an die Verfassung“ tauchen, soweit ersichtlich, ebenfalls nur sporadisch auf 11.

II. Das Verhältnis von Verfassungsbindung und gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit Nach einem Überblick über die terminologische Verwendung des Begriffs der Gestaltungsfreiheit (1) ist darzulegen, daß sich seine Bedeutung nicht darin erschöpft, das verfassungsrechtlich nicht Normierte zu bezeichnen. Ausschließlich in diesem engeren Sinne verstanden, wäre seine Existenzberechtigung neben dem Begriff der Verfassungsbindung, die die Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers eo ipso beschränkt, eher zweifelhaft. In diesem engeren Sinne wird die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers etwa im Zusammenhang mit den ausgestaltungsbedürftigen Grundrechten gebraucht, firmiert dort jedoch unter der Bezeichnung „Gestaltungsbefugnis“ oder „Ausgestaltungsbefugnis“ (2). Da die Reichweite der Ausgestaltungsbefugnis somit unmittelbar von den verfassungsrechtlichen Vorgaben abhängt, kommt der Interpretation der Verfassungsnormen besonderes Gewicht zu (3). 1. Terminologie Der Begriff der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers taucht im Text des Grundgesetzes nicht auf. Ganz im Gegensatz dazu spielt der Terminus in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine prominente Rolle. Das läßt sich an den Sachverzeichnissen der inzwischen 113 Entscheidungsbände des Gerichts ablesen. Es gibt kaum einen Band, in dem das Stichwort „Gestaltungsfreiheit“, „politische Gestaltungsfreiheit“ oder „Gestaltungsspielraum“ nicht genannt wird. In den verfassungsgerichtlichen Urteilen selbst finden sich desweiteren die Begriffe „gesetzgeberisches Ermessen“ und „Ermessensspielraum“ 12, „Regelungs9

P. Badura, HStR VII, § 163 Rn. 18 f.; Sachs (Fn. 8), Art. 20 Rn. 95; Unruh, Verfassungsbegriff (Fn. 4), S. 401; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 1 III Rn. 1, 54; Sommermann (Fn. 4), Art. 20 Rn. 249. 10 Beispiele: BVerfGE 2, 1 (75); 31, 58 (72); 61, 1 (10). 11 Der Begriff der „Verfassungsbindung“ wurde bisher lediglich in der Entscheidung zur Pensionsbesteuerung verwendet: BVerfGE 105, 73 (132). 12 So vor allem in der früheren Rechtsprechung: BVerfGE 3, 162 (182); 7, 377 (400); 22, 349 (361); 25, 1 (19 f.): gesetzgeberisches Ermessen; BVerfGE 4, 7 (18); 5, 77 (81); 9, 268 (286); 11, 203 (212); 43, 242 (278); 59, 216 (229): Ermessensspielraum; vgl. K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 713.

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

spielraum“ und „Regelungsfreiraum“ 13 oder auch „Bewegungsfreiheit“ 14, die in der Sache Gleiches ausdrücken 15. Dagegen wird man bei einer kursorischen Durchsicht der wichtigsten Standardwerke zum Staatsrecht weitaus seltener fündig, zumindest wenn man die Publikationen unter dem Aspekt der Staatsfunktion „Gesetzgebung“ durchmustert 16. Als eigenständiges verfassungsrechtliches Institut scheint man die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit in der verfassungsrechtlichen Literatur eher selten wahrzunehmen, was mit seinem Fehlen im Verfassungstext durchaus korreliert. Häufiger begegnet der Terminus dort, wo man sich dem Thema aus anderer Perspektive nähert, etwa der Verfassungsbindung des Gesetzgebers 17, der Grenzen richterlicher Kontrolle des Gesetzgebers 18 oder auch aus dem Blickwinkel der Verfassungsinterpretation 19. Damit sind zugleich die zentralen Problemkreise angesprochen, die mit dem Verhältnis von gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit und Verfassungsbindung verknüpft sind 20.

13 „Regelungsspielraum“: BVerfGE 37, 1 (20), der Terminus wird aber auch für die Befugnis des Verordnunggebers zur Normkonkretisierung (vgl. BVerfGE 55, 207 [227]) verwendet, desweiteren für die Befugnis des Landesgesetzgebers zur Ausfüllung von Rahmengesetzen nach Art. 75 GG oder anderer bundesgesetzlicher Vorgaben (vgl. BVerfGE 65, 1 [63]; 106, 51 [56]) oder der Universitäten zum Erlaß von Satzungsrecht (vgl. BVerfGE 33, 303 [346]); „Regelungsfreiraum“: BVerfGE 98, 17 (38). – Der Begriff „Regelungsfreiheit“ findet demgegenüber eher als Gegenstück zu „Ermessensspielraum“ oder „Gestaltungspielraum“ Verwendung: vgl. BVerfGE 9, 268 (286); 11, 203 (215); 43, 242 (278): Der Gesetzgeber hat einen weiten Ermessensspielraum, aber nicht etwa völlige Regelungsfreiheit. Vgl. aber auch BVerfGE 79, 127 (156): gemeindliche Regelungsfreiheit; BVerfGE 76, 256 (298): Er [der Alimentationsgrundsatz des Art. 33 V GG, A. B.] setzt der Regelungsfreiheit des Gesetzgebers Grenzen. 14 BVerfGE 9, 338 (349). 15 Bestandsaufnahme bei Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen (Fn. 12), S. 713 ff. 16 Als eigenständiger Rechtsbegriff wird die „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ verwendet von P. Badura, Staatsrecht, 3. Aufl. 2003, Rn. F 14; ders., HStR VII, § 163 Rn. 7 ff.; ansatzweise auch K. Hesse, Verfassung und Verfassungsrecht, in: E. Benda / W. Maihofer / H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Teil 1, 2. Aufl. 1995, § 1 Rn. 15 ff. 17 So E. Stein / G. Frank, Staatsrecht 19. Aufl. 2004, § 20 II 2; Sachs (Fn. 8), Art. 20 Rn. 94. 18 Vgl. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 320, 570; T. Maunz / R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Aufl. 1998, § 41 I 2; A. Rinken, in: E. Denninger u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2001, vor Art. 93 Rn. 112; F. Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, 2001, Bd. 1, S. 33 ff. (52 f.); B. Pieroth, in: H. D. Jarass / ders., Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 8. Aufl. 2006, Art. 93 Rn. 4. 19 Vgl. etwa M. Kaufmann, StWStP 8 (1997), 161 (166 ff.); Hesse, Grundzüge (Fn. 18), Rn. 73. 20 So R. Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (505).

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2. Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit als Chiffre für das vom Grundgesetz nicht Normierte – Ausgestaltungsbefugnis und Ausgestaltungspflicht Das Bundesverfassungsgericht thematisiert das Verhältnis von Verfassungsbindung und Gestaltungsfreiheit in der Regel nur mit knappen Worten. So heißt es in der Entscheidung zur Zulässigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe, daß die einfachgesetzliche Ausgestaltung einer Verfassungsnorm „in dem durch die Verfassung gezogenen Rahmen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen bleiben“ muß 21. Die Verfassung markiert demnach die Grenzen der Gestaltungsfreiheit und nicht umgekehrt; innerhalb dieses Terrains ist der Gesetzgeber prima facie frei 22. Damit ist zugleich eine Aussage über den Umfang der Gestaltungs- oder Regelungsfreiheit des Gesetzgebers getroffen. Er ergibt sich unmittelbar aus dem materiellen Verfassungsrecht 23. Je stärker das Grundgesetz bereits selbst Entscheidungen trifft bzw. je konkreter seine Vorgaben sind, desto geringer sind die gestalterischen Freiräume für den Gesetzgeber 24. Ist die Verfassung hingegen unbestimmt oder regelt sie nur die Leitlinien und Modalitäten für die Entscheidungsfindung, so obliegt es dem Gesetzgeber um so mehr, die belassenen Gestaltungsfreiräume auszugestalten und mit Leben zu füllen 25. Diese Freiräume des Gesetzgebers variieren also je nach der Regelungsdichte der einschlägigen Verfassungsnorm. Bestimmt also letztlich das Grundgesetz, welche gesetzgeberischen Freiräume bestehen, so könnte daraus gefolgert werden, daß durch den Begriff der Gestal-

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So BVerfGE 45, 187 (246); das Gericht verlangt vom Gesetzgeber eine rechtsstaatlichen Anforderungen entsprechende Regelung der Entlassungspraxis durch Gesetz bei der lebenslangen Freiheitsstrafe. 22 Vgl. G. F. Schuppert, AöR 120 (1995), 32 (48). 23 C. Gusy, JöR 33 (1984), 105 (110); K. Schlaich / S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 6. Aufl. 2004, Rn. 527 ff., 530. 24 Sehr konkrete Vorgaben enthält etwa Art. 93 GG im Verhältnis zu den §§ 36 ff. BVerfGG. Im Detail weniger konkret sind die Maßgaben von Art. 41 im Verhältnis zum WahlprüfungsG oder von Art. 107 II 2 zum sog. „Maßstäbegesetz“ (zu letzterem BVerfGE 101, 158 ff.); diese Regelungsaufträge des Grundgesetzes sind gleichwohl hier zu nennen, weil die konkretisierenden Gesetze eher den Charakter von Ausführungsbestimmungen haben und die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers darauf beschränkt, die Verfassungsnorm handhabbar machen. 25 Das dürfte – abgesehen von den verfassungsrechtlich verbürgten Wahlgrundsätzen – für Art. 38 III GG im Verhältnis zum BWahlG zutreffen, der unter anderem das Wahlsystem und die Wahlvorbereitung ausgestaltet, ohne daß die Verfassung hierfür im einzelnen zwingende Vorgaben enthält (hinsichtlich des Wahlsystems vgl. aber auch H. Dreier, in: ders. [Hrsg.], Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 [Demokratie], Rn. 101).

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tungsfreiheit des Gesetzgebers das „verfassungsrechtlich Erlaubte“ 26 lediglich eine Bezeichnung erhalten hat. Die Gestaltungsfreiheit wäre im Grunde nicht mehr als eine Chiffre für das vom Grundgesetz nicht Normierte, für das Offengelassene. Es drängt sich dann die Frage auf, warum dies mit einer eigenständigen Begrifflichkeit belegt werden muß, wenn sich das verfassungsrechtlich nicht Erlaubte bzw. das verfassungsrechtlich Geforderte doch schon im Wege der Auslegung und Interpretation der Verfassungsnormen bestimmen läßt. Eine solche Begrenzung des Begriffs der Gestaltungsfreiheit würde ihn überflüssig machen. Dafür, daß sich seine Bedeutung hierin nicht erschöpft, spricht desweiteren die häufige Verwendung in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung; dort werden regelmäßig zunächst die Anforderungen des jeweiligen Grundrechts dargestellt und dann, im Rahmen dessen, die konkreten Grenzen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit bestimmt. Anderenfalls wäre es einfacher und im Grunde auch richtiger, wenn das Gericht formulieren würde, das Grundgesetz mache in Bezug auf eine bestimmte Fallkonstellation keine Vorgaben, so daß keine Verletzung des Grundgesetzes feststellbar sei. Schließlich kann die oben zitierte Urteilspassage angeführt werden, in der das Verfassungsgericht beide Begriffe, sowohl die Verfassungsbindung ( . . . in dem durch die Verfassung gezogenen Rahmen . . . ) als auch die Gestaltungsfreiheit, nebeneinander verwendet hat. Der Terminus „Gestaltungsfreiheit“ muß folglich noch eine andere – weitergehende – Bedeutung und Funktion aufzuweisen: die einer Argumentationsfigur zur Flexibilisierung verfassungsrechtlicher Anforderungen (dazu III). Zur besseren begrifflichen Abgrenzung beider Aspekte soll im folgenden der Begriff der „Gestaltungsfreiheit“ oder des „Gestaltungsspielraums“ für die Bezeichnung der Argumentationsfigur vorbehalten bleiben, da er in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor allem in diesem Sinne Verwendung findet. Für den zweiten angesprochenen Aspekt, der sich auf die noch ausgestaltungsbedürftigen Freiräume des Gesetzgebers bezieht, sollte demgegenüber besser der Terminus „Gestaltungsbefugnis“ oder auch „Ausgestaltungsbefugnis“ gebraucht werden. Beide Begriffe finden sich zwar in der Rechtsprechung schon im Zusammenhang mit der Thematik der ausgestaltungsbedürftigen Grundrechte, vor allem der Eigentumsgarantie 27, der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit 28 oder der Rundfunkfreiheit 29. Der zu bezeichnende Aspekt ist aber ähnlich gelagert,

26 So C. Gusy, JöR 33 (1984), 105 (110); in der Sache ebenso Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht (Fn. 23), Rn. 530. 27 BVerfE 70, 191 (201); 97, 1 (7); 102, 1 (17); vgl. auch B.-O. Bryde, in: I. v. Münch / P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 14 Rn. 32; ähnlich M. Rodi, Gestaltungsfreiheit und Gestaltungsauftrag des Steuergesetzgebers, in: Festschrift für Klaus Vogel, 2000, S. 187 ff (190 f.): Gestaltungsauftrag. 28 Vgl. BVerfGE 92, 26 (41): der Gesetzgeber ist hier zur Ausgestaltung befugt, wenn es darum geht, die notwendigen Voraussetzungen zur Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit als Freiheitsrecht erst zu schaffen; ebenso BVerfGE 92, 365 (393).

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so daß diese Rubrizierung unproblematisch erscheint. Insgesamt stellen beide Begriffe deutlicher als der Terminus der Gestaltungsfreiheit die Abhängigkeit des Gesetzgebers von den verfassungsrechtlichen Vorgaben heraus. Der ebenfalls in Betracht kommende Begriff der „Entscheidungs- oder Gestaltungsprärogative“ verweist demgegenüber eher auf die Beziehung zwischen Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht; er soll daher hier nicht verwendet werden. Die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers bezieht sich somit auf die Bereiche, die die Verfassung nicht selbst rechtlich determiniert. Das Grundgesetz beschränkt sich aber nicht darauf, bestimmte Sachverhalte ungeregelt zu lassen, sondern es verlangt in einer Reihe von Konstellationen sogar die positive Ausgestaltung und Konkretisierung des Verfassungsrechts durch den Gesetzgeber. Das ist namentlich bei den verfassungsrechtlichen Regelungsaufträgen der Fall, aber vor allem im Bereich der grundrechtlichen Schutzpflichten, die der Vermittlung durch den Gesetzgeber bedürfen 30. Hier wandelt sich die Ausgestaltungsbefugnis zu einer Ausgestaltungspflicht. Das gilt nach herrschender Auffassung jedenfalls, soweit das „Ob“ eines staatlichen Eingreifens in Rede steht; bei der Frage, welche gesetzgeberischen Maßnahmen zu treffen sind, also dem „Wie“, verbleiben der Legislative demgegenüber weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten und -freiräume, da sich den Grundrechten konkrete Handlungsdirektiven, die dem Gesetzgeber eine bestimmte Maßnahme abverlangen, nicht entnehmen lassen 31. Das Bundesverfassungsgericht verwendet hier analog zur abwehrrechtlichen Dimension unter anderem die Begriffe „Einschätzungbereich“, „Wertungsbereich“, „Gestaltungsbereich“ oder wiederum „Gestaltungsfreiheit“ 32. Sie können mit der hier vorgeschlagenen Bezeichnung als Ausgestaltungsbefugnis ebenso erfaßt werden.

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Vgl. BVerfGE 74, 297 (334 ff.). Dazu und zur Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten allgemein: BVerfGE 39, 1 (41); 46, 160 (164); 49, 89 (141 f.); aus dem Schrifttum: J. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl. 2005, S. 176; ferner J. Isensee, HStR V, § 111 Rn. 151; F. Dirnberger, DVBl. 1992, 879 (881 f.); H. H. Klein, DVBl. 1994, 489 (494 f.); P. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 79 f.; H. Maurer, Staatsrecht I, § 9 Rn. 25; Badura, Staatsrecht (Fn. 16), Rn. C 22; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rn. 102; B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte, 21. Aufl. 2005, Rn. 97. 31 Hesse, Grundzüge (Fn. 18), Rn. 350; Badura, Staatsrecht (Fn. 16), Rn. C 22; Dreier (Fn. 30), Vorb. Rn. 103; H. H. Klein, DVBl. 1994, 489 (495); Unruh, Dogmatik (Fn. 30), S. 74; knapp H. D. Jarass, in: ders. / B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 8. Aufl. 2006, Vorb. vor Art. 1, Rn. 6; aus der Rechtsprechung: BVerfGE 46, 160 (164 f.); 56, 54 (80 f.); 77, 140 (215). 32 BVerfGE 77, 170 (214 f.); 79, 174 (202), dort alle genannten Begriffe; BVerfGE 49, 89 (137): Gestaltungsspielraum. 30

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3. Ausgestaltungsbefugnis als Resultat der Verfassungsinterpretation Soweit die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers in Rede steht, muß deren konkreter Umfang bestimmt werden. Dieser ergibt sich aus dem materiellen Verfassungsrecht, also daraus, was das Grundgesetz im einzelnen verbindlich festlegt und was nicht. Das erschließt sich wegen der allgemein und unbestimmt gehaltenen Verfassungsrechtssätze nur selten unmittelbar aus dem Wortlaut. Der Gehalt der jeweiligen Norm ist deshalb mit Hilfe der Verfassungsinterpretation zu bestimmen und zu konkretisieren. Das stößt insoweit auf Probleme, als das Maß und die normative Dichte der vom jeweiligen Verfassungsinterpreten zu konkretisierenden Verfassungsnorm maßgeblich von dessen Vorverständnis der Verfassung abhängt 33. Wer die Verfassung eher als eine lediglich dirigierende, handlungsleitende „Rahmenordnung“ betrachtet, die in erster Linie als Grenze und Schranke der Gesetzgebung fungiert 34, wird die zu konkretisierende Verfassungsnorm mit anderen Augen sehen als derjenige, der im Grundgesetz eine „Wertordnung“ oder einen allumfassenden programmatischen Entwurf verwirklicht sieht, dessen Einzelgewährleistungen in der Verfassung nur noch gefunden und (evtl. sachverhaltsbezogen) herauspräpariert werden müssen. Der Begriff der Konkretisierung selbst birgt also schon die Gefahr von Mißverständnissen. Da jede Verfassungsinterpretation ein spezifizierendes bzw. konkretisierendes Element aufweist, ist es jedoch sachgerecht, den Begriff der Verfassungskonkretisierung als Oberbegriff für die einzelnen Interpretationsvarianten zu verwenden 35. Die Verfassungskonkretisierung kann sich dann im einzelnen auf die bloße „Auslegung“ der grundgesetzlichen Normen beschränken 36, sie kann aber auch auf eine „konkretisierende Aktualisierung“ bzw. „Verwirklichung“ 37 oder gar auf die

33 Hesse, Grundzüge (Fn. 18), Rn. 61 f.; R. Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (505 ff., insb. 507 f.); C. Gusy, JöR 33 (1984), 105 (112 ff.). 34 So R. Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (507); am Beispiel der Eigentumsgarantie ders., NVwZ 1984, 401 (404 ff.); P. Badura, HStR VII, § 163 Rn. 5, 22: rahmensetzende Direktiven; C. Starck, HStR VII, § 164, Rn. 5; ders., Verfassung (Fn. 4), S. 32 f.; M. Bullinger, JZ 2004, 209 (211 ff.); vor allem auf die Offenheit der Verfassung abstellend C. Gusy, JöR 33 (1984), 105 (120 f.). 35 Vgl. Hesse, Grundzüge (Fn. 18), Rn. 60; anschaulich R. Wahl, Der Staat 20 (1981), 485 (506): Konkretisierung könne einerseits „Auslegung“, andererseits „Weiterdenken“ bzw. „Auffüllen“ der Verfassung bedeuten. C. Starck, HStR VIII, § 164 Rn. 6 lehnt bereits den Begriff der Konkretisierung ab, weil sich dahinter die unzutreffende Vorstellung der Verfassung von einem normativen Ganzen verberge. 36 Sehr restriktiv beispielweise C. Starck, HStR VIII, § 164 Rn. 7, 16. 37 Hesse, Grundzüge (Fn. 18), Rn. 49: im Vorgang der Verfassungsinterpretation wird die Verfassung aktualisiert; mit „Verfassungsverwirklichung“ ist hingegen nicht nur die Verfassungsinterpretation angesprochen, sondern auch andere Formen der „Realisierung“, also der tatsächlichen Umsetzung der Verfassung durch menschliches Verhalten (ebd., Rn. 41 ff.), etwa durch Teilnahme an einer Demonstration.

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„Vervollständigung“ der Verfassung im Sinne eines Weiterdenkens der Verfassungsrechtssätze ausgerichtet sein. Dieser letztgenannten Variante der Vervollständigung oder Ausfüllung neigt das Bundesverfassungsgericht zu, wenn es davon ausgeht, daß das Grundgesetz „keine wertneutrale Ordnung“ ist 38. Nach seiner ständigen Rechtsprechung gilt das Wertsystem des Grundgesetzes, das vor allem durch die Grundrechte verkörpert wird, als „verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts“, von der die Gesetzgebung neben den anderen staatlichen Gewalten „Richtlinien und Impulse“ empfängt. Ist das Grundgesetz also auch dort maßstabs- oder impulsgebend, wo es selbst keine verbindlichen Regeln aufstellt, gibt es letztlich keine verfassungsrechtlich nicht in irgendeiner Weise vorbestimmten Sachbereiche. In dieser Lesart erscheint das Grundgesetz als eine vollständige und in sich geschlossene Ordnung 39. Der Umfang der Ausgestaltungsbefugnis wird dadurch, wenn nicht potentiell verringert, so doch stärker ausdifferenziert, da der Gesetzgeber damit stärker von der interpretatorischen Vorleistung des Bundesverfassungsgerichts abhängig ist. All dies betrifft das Ziel bzw. den Zweck der Verfassungsinterpretation. Als zentraler Problempunkt erweist es sich jedoch, daß für die Verfassungsinterpretation selbst verschiedene Methoden existieren, die wiederum vom jeweiligen Grundrechtsverständnis beeinflußt werden und daher zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Namentlich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeichnet sich durch eine „Methodenpluralität“ aus 40, bei der verschiedene Inter-

38 Grundlegend BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth; zur weichenstellenden Bedeutung der Entscheidung R. Wahl, Lüth und die Folgen, in: T. Henne / A. Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-) historischer Sicht, 2005, S. 371 ff. (380 ff.); weiter BVerfGE 28, 243 (261); 30, 1 (19); 30, 173 (193): Wertordnung, grundlegendes Wertsystem; 33, 1 (11); 34, 269 (280, 292); 35, 202 (235); 49, 24 (56): verfassungsmäßige Ordnung bildet ein Sinnganzes; 81, 242 (254); auch 102, 347 (360); zur frühen Rechtsprechung W. Geiger, BayVBl. 1974, 297 ff.; K. Hesse, EuGRZ 1978, 427 (432); H. D. Jarass, AöR 110 (1985), 363 ff.; zusammenfassend jetzt H. Maurer, Staatsrecht I, 3. Aufl. 2003, § 9 Rn. 20. – Kritisch zur Wertordnungslehre statt aller H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, S. 133 f., 137 f.; J. Isensee, HStR V, § 111 Rn. 84; vgl. auch C. Starck, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 1 Rn. 180; nur im Detail kritisch, sonst eher zustimmend K. Hesse, EuGRZ 1978, 427 (432); H. D. Jarass, AöR 110 (1985), 363 (367 f.). 39 Kritisch zur These von der potentiellen Geschlossenheit des Grundgesetzes C. Gusy, JöR 33 (1984), 105 (112 ff., 120 ff.): eine auf Vollkommenheit und Vollständigkeit ausgerichtete Grundgesetzinterpretation sei vom Grundgesetz weder geboten noch zugelassen (ebd., S. 120); anders W. Geiger, BayVBl. 1974, 297 (299): das Grundgesetz enthält zahlreiche „Grundwertentscheidungen“, die aber keine geschlossene Ordnung bilden. 40 Vgl. E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089 ff.; G. Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, 1976, S. 22 ff.; M. Herdegen, JZ 2004, 873 (873). – Zu den Methoden der Verfassungsinterpretation ferner Schlaich/Korioth, Bundesverfassungsgericht

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pretationsregeln miteinander kombiniert werden oder einzelne von ihnen jeweils sachverhaltsbezogen Anwendung finden; hinzu kommen neuere Interpretationsmaximen oder -gesichtspunkte 41. Diese differenzierte und einzelfallorientierte Handhabung der verschiedenen Maßstäbe macht die Verfassungsrechtsprechung für den Gesetzgeber vor allem deshalb schwer vorhersehbar, weil der letztlich entscheidende Interpretationsgesichtspunkt selten offengelegt wird 42. Das Problem der Verfassungsinterpretation, die Methodenabhängigkeit ihrer Ergebnisse, wird damit freilich noch verschärft. Gleichwohl sollte sie nicht ohne weiteres verworfen werden. Die denkbare Alternative, sich auf eine Interpretationsmethode festzulegen, dürfte gleichwohl nicht zu sachgerechteren Ergebnissen führen 43, zumal hier eine Zementierung der Verfassungsinterpretation in Richtung eines bestimmten Verfassungs- oder Grundrechtsverständnisses droht. Der pragmatische Ansatz des Bundesverfassungsgerichts wird also der besonderen Eigenart der Verfassung, deren Auslegung gerade nicht nur Gesetzesauslegung im klassischen Sinne Savignys ist 44, und der besonderen Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit als (auch) verfassungspolitische Institution durchaus gerecht. Den damit einhergehenden Gefahren einer Expansion des Verfassungsrechts und damit der gerichtlichen Kontrollkompetenz 45 sollte eher mit einer deutlicheren Abgrenzung der Kompetenzbereiche von Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht begegnet werden. Mögliche Lösungsansätze für das Problem eines Übergreifens der Karlsruher Kontrollinstanz in die Sphäre des Gesetzgebers werden andernorts eingehend geschildert 46, so daß hierauf verwiesen werden kann 47. 46 47 (Fn. 23), Rn. 506; Hesse, Grundzüge (Fn. 18), Rn. 53 ff.; speziell zur Grundrechtsinterpretation F. Ossenbühl, NJW 1976, 2100 (2105 f.); E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 ff.; R. Schubert / F. Thedieck, ZRP 1979, 254 (255 ff.). 41 F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, 9. Aufl. 2004, S. 48 ff.: z. B. Natur der Sache, Notwendigkeit eines sachgemäßen Ergebnisses etc.; F. Ossenbühl, NJW 1976, 2100 (2106 f.). 42 Vgl. Müller/Christensen, Methodik (Fn. 41), S. 45; ebenso E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1530, 1537 f.): nach der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung seien die Interpretationsansätze „frei wählbar“. 43 So Hesse, Grundzüge (Fn. 18), Rn. 59, die Nichtanwendung der ‚herkömmlichen Auslegungsregeln‘ sei kein Hinweis auf mangelnde juristische Korrektheit, sondern auf das häufige Versagen jener Regeln. 44 Dazu nur E.-W. Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2091); U. Huber, JZ 2003, 1 ff. 45 Etwa durch Schaffung neuer verfassungsrechtlicher Kontrollmaßstäbe. So hat das Gericht in jüngerer Zeit des öfteren mehrere Grundrechte zu einem Prüfungsmaßstab zusammengefaßt (sog. „i. V. m.-Grundrechte“) und damit im Grunde neue Schutzbereiche bzw. Grundrechte kreiert, deren Schrankenregelungen nicht selten unklar bleiben, so daß der Eindruck von dogmatischer Beliebigkeit entsteht; am Beispiel der Schächtentscheidung F. Wittreck, Der Staat 42 (2003), 519 (531 ff.). 46 Für eine Anknüpfung an funktionale Kriterien, etwa die Gerichtsförmigkeit des Bundesverfassungsgerichts, das somit in erster Linie kontrollierend tätig wird, A. Rinken, in: E. Denninger u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2001, vor Art. 93 (2001), Rn. 80; vgl. Schlaich/Korioth, Bundesver-

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III. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Argumentationsfigur Wie schon angesprochen, enthält der Terminus der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eine zweite Bedeutungsebene, die einer Argumentationsfigur. Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß der Gesetzgeber dort, wo die Verfassung keine Vorgaben macht, frei ist, die Rechtsordnung inhaltlich näher auszugestalten. Aber auch dort, wo Vorgaben fehlen, kann die Notwendigkeit bestehen, verfassungsrechtliche Anforderungen flexibler handhabbar zu machen. Das wirft die Frage auf, ob eine solche Flexibilisierung verfassungsrechtlicher Anforderungen möglich ist, ohne zugleich die Relativierung der Verfassungsbindung des Gesetzgebers (Art. 20 III GG) heraufzubeschwören. Ob verfassungsrechtliche Anforderungen erfüllt sind, kann nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden. Eine „vermittelnde Lösung“ zwischen Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit ist nicht denkbar. Eine großzügigere Anwendung von Maßgaben des Grundgesetzes, etwa vermittelt durch das Zugeständnis einer weiten oder besonders weiten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers 48 verschiebt jedoch die Grenzlinie zur Verfassungswidrigkeit und versieht die grundgesetzliche Norm mit milderen inhaltlichen Anforderungen. Eine Regelung, die sich am Rande des verfassungsrechtlich Zulässigen bewegt, kann durch den Hinweis auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers dem Ausspruch der Verfassungswidrigkeit entgehen. Die Vorgabe des Grundgesetzes wird dadurch freilich relativiert, da die gesetzgeberische Regelung erst dann für verfassungswidrig erklärt werden kann, wenn selbst ein weiter oder besonders weiter Gestaltungsspielraum die Maßnahme nicht mehr trägt. Bildlich gesprochen, schafft die Argumentationsfigur der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit eine logisch eigentlich nicht mögliche „Pufferzone“ zwischen Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit, die vom Bundesverfassungsgericht keiner Kontrolle unterzogen wird. Hinter der Argumentationsfigur verbirgt sich demnach die Strategie, den Ausspruch der Verfassungswidrigkeit durch Reduktion der bun-

fassungsgericht (Fn. 23), Rn. 508, die dies als einziges tragfähiges funktionell-rechtliches Merkmal anerkennen, aber im Ergebnis einen materiellrechtlichen Ansatz präferieren (dort auch eingehend zum Streitstand, Rn. 505, 519 ff.). 47 In letzter Zeit deuten einzelne Entscheidungen darauf hin, daß das Gericht wieder stärker auf den Gesetzgeber und dessen Ausgestaltungsaufgabe verweist und sich selbst einer extensiven Verfassungsinterpretation enthält, so im Kopftuch-Urteil: BVerfGE 108, 282 (306 ff.); entgegengesetzte Tendenz aber im Urteil zur Juniorprofessur: BVerfGE 111, 226 (246 ff.). 48 Vgl. aber auch Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht (Fn. 18), S. 52, der anzweifelt, daß den Formeln von einem „weiten“ oder „besonders weiten Gestaltungsspielraum“ überhaupt Erkenntniswert zukommt.

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

desverfassungsgerichtlichen Kontrollintensität zu vermeiden 49. Darin zeigen sich in funktionaler Hinsicht Ähnlichkeiten zum Institut der verfassungskonformen Auslegung. Dies alles heißt jedoch nicht, daß sich der Gesetzgeber von der Bindung an die Verfassung (Art. 20 III GG ) lossagen kann. An ihre Maßgaben bleibt er gebunden. Dies soll im nachfolgenden Abschnitt anhand der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu zwei Grundrechtsgewährleistungen, der Eigentumsgarantie und dem Gleichheitssatz (dazu B), sowie zu besonderen Gesetzgebungsformen (dazu C) näher ausdifferenziert werden. Die Auswahl erfolgt mit Blick auf die im dritten Kapitel zu bearbeitenden Fallbeispiele, so daß die nachfolgend dargestellten Grundsätze dort wieder begegnen werden.

B. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei einzelnen Grundrechtsgewährleistungen Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in ihrer Funktion als Argumentationsfigur spielt bei zwei zentralen Grundrechtsgewährleistungen eine exponierte Rolle: bei der Eigentumsgarantie des Art. 14 I, II GG und beim Gleichheitssatz des Art. 3 I GG. Allerdings übernimmt sie bei der Eigentumsgarantie wegen deren besonderer Eigenart als ausgestaltungsbedürftiges Grundrecht auch die Aufgabe, die dem Gesetzgeber durch Art. 14 I 2 GG überantwortete Ausgestaltungspflicht zu strukturieren und zu konkretisieren; hier kommt also auch der Bedeutungsgehalt der Gestaltungsfreiheit zum Tragen, der im vorangegangenen Abschnitt mit dem Begriff der Ausgestaltungsbefugnis versehen wurde (I). Im Rahmen der Rechtsprechung zu Art. 3 I GG resultiert die Bedeutung der Gestaltungsfreiheit als Argumentationsfigur vor allem aus der besonderen Normstruktur des Gleichheitsgrundrechts (II).

I. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 I GG Eine besondere – zweidimensionale – Ausprägung erfährt die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit bei der Eigentumsgarantie. Sie resultiert daraus, daß Art. 14 GG nicht nur als individuelles Abwehrrecht vor staatlichen Eingriffen schützt, sondern als Institutsgarantie zugleich vom Gesetzgeber die normative Ausgestaltung von Inhalt und Schranken des Eigentums verlangt. Das Eigentum gehört somit zu den ausgestaltungsbedürftigen Grundrechtsgewährleistungen 50. Die konkrete Reichweite des Eigentumsschutzes ergibt sich erst aus der Bestimmung von

49 Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht (Fn. 18), S. 52: die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sei nichts anderes als das sprachliche Etikett für die Justierung der Kontrolldichte durch das Bundesverfassungsgericht selbst.

B. Die Gestaltungsfreiheit bei einzelnen Grundrechtsgewährleistungen

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Inhalt und Schranken des Eigentums, die nach Art. 14 I 2 GG Sache des Gesetzgebers 50ist 51. Der Gesetzgeber ist bei dieser Gestaltungsaufgabe zum einen an das durch die Verfassung vorgebene Rechtsinstitut „Eigentum“ 52 gebunden, das ihm eine Ausformung des Grundrechts verbietet, die die Wesensmerkmale des Privateigentums, Privatnützigkeit und grundsätzliche Verfügungsbefugnis, mißachtet 53. Zum anderen muß der Gesetzgeber bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung auch der Sozialbindung des Eigentums aus Art. 14 II GG hinreichend Rechnung tragen 54. Das Recht des Eigentümers und das Gebot einer sozialgerechten Eigentumsordnung sind daher in einen gerechten Ausgleich zu bringen 55, wobei als Schranke insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten ist 56. Wann ein gerechter Ausgleich hergestellt ist, läßt sich nicht punktgenau und für alle Fallkonstellationen einheitlich bestimmen. Das Bundesverfassungsgericht verwendet daher seit langem die Formulierung, daß der gesetzgeberischen Gestal-

50 Dazu eingehend M. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 249 ff., allerdings mit stärkerer Betonung der Steuerungsfunktion der verfassungsrechtlichen Eigentumgsgarantie als die herrschende Ansicht (S. 153 ff.); vgl. ferner U. Mager, Einrichtungsgarantien, 2003, S. 182 f. 51 So die Formulierung, mit der das Gericht die verfassungsrechtliche Überprüfung von Inhalts- und Schrankenbestimmungen regelmäßig einleitet, vgl. nur BVerfGE 24, 367 (389); 50, 290 (340); 104, 1 (10 f.). 52 Vgl. BVerfGE 24, 367 (389); 58, 300 (339); von der Existenz eines Rechtsinstituts „Eigentum“ geht auch die h. M. im Schrifttum aus: R. Scholz, NVwZ 1982, 337 (338); H.-J. Papier, in: T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Art. 14 (2002), Rn. 1, 11; J. Wieland, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rn. 125; O. Depenheuer, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. 2005, Art. 14 Rn. 17 f., 227; ebenso Pieroth/Schlink, Grundrechte (Fn. 30), Rn. 952 f.; W. Berg, JuS 2005, 961 (963); kritisch hingegen Bryde (Fn. 27), Art. 14 Rn. 32; auch H. D. Jarass, in: ders. / B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 2006, Art. 14 Rn. 4. 53 BVerfGE 24, 367 (389 f.); 31, 229 (240); 37, 132 (140); 50, 290 (339); 52, 1 (30); 79, 292 (303); 100, 226 (241); 102, 1 (15); zur Rechtsprechungsentwicklung knapp Mager, Einrichtungsgarantien (Fn. 50), S. 179 ff. 54 BVerfGE 18, 121 (131); 50, 290 (340); 52, 1 (29); 68, 361 (370); 70, 191 (200); 87, 114 (146); aus der Literatur statt aller Papier (Fn. 52), Art. 14 Rn. 305; Depenheuer (Fn. 52), Art. 14 Rn. 223. 55 BVerfGE 37, 132 (140); 52, 1 (49); 87, 114 (138) – sog. „Abwägungsgebot“ oder „Abwägungsmodell“; dazu Papier (Fn. 52), Art. 14 Rn. 305 ff.; Bryde (Fn. 27), Art. 14 Rn. 59; Wieland (Fn. 52), Art. 14 Rn. 127. 56 Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 52, 1 (29 ff.); 87, 114 (146 ff.) und dazu Mager, Einrichtungsgarantien (Fn. 50), S. 183 ff.; aus dem Schrifttum: Papier (Fn. 52), Art. 14 Rn. 315; Depenheuer (Fn. 52), Art. 14 Rn. 227. – Kritisch zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf ausgestaltungsbedürftige Grundrechte wie die Eigentumsgarantie, da sie keinen vorgegebenen Eigentumsbegriff kennt, Bryde (Fn. 27), Art. 14 Rn. 63; ebenso Wieland (Fn. 52), Art. 14 Rn. 126.; Pieroth/Schlink, Grundrechte (Fn. 30), Rn. 929 gehen daher von einer „besonderen Struktur“ des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Art. 14 I 2 GG aus (dagegen wiederum Depenheuer, ebd., Rn. 226).

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

tungsfreiheit je nach Art des Regelungsgegenstandes unterschiedliche Grenzen gesetzt sind: Steht die Funktion des Eigentums als Sicherungsmittel der persönlichen Freiheit im vermögensrechtlichen Bereich im Vordergrund, genießt es einen besonders ausgeprägten Schutz. Demgegenüber ist die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts- und Schrankenbestimmung um so weiter, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion steht 57. Die Sozialbezogenheit des Eigentums und seine Ausrichtung am Wohl der Allgemeinheit implizieren, daß der Gesetzgeber befugt ist, grundlegende politische Wertentscheidungen in Bezug auf das Eigentum zu treffen 58, die über die Bereiche politischer Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers hinausreichen. An diesem Grobraster ausgerichtet, hat sich mittlerweile eine umfangreiche Rechtsprechung zu einer Vielzahl von Fallkonstellationen gebildet. Dabei fallen vier Aspekte auf, bei denen das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen großzügigeren Gestaltungsspielraum zugesteht als bei den übrigen Fällen der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums. Das ist einmal der Aspekt eigener Leistung, der vor allem bei rentenversicherungsrechtlichen Positionen zu einer Modifikation der Prüfungsmaßstäbe führt (1). Weitere Fallgruppen sind die Nutzung des Eigentumsobjekts durch Dritte (2) und der Wandel ökonomischer Verhältnisse (3). Schließlich soll dem Gesetzgeber bei der Neuordnung oder Reform eines Rechtsgebietes ein erweiterter Gestaltungspielraum offenstehen (4). 1. Anteil eigener Leistung Für den Umfang der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit ist von Bedeutung, in welchem Umfang die Eigentumsposition auf eigener Leistung beruht. Der Aspekt eigener Leistungserbringung begegnet in erster Linie bei der Frage, ob öffentlich-rechtliche Rechtspositionen aus der Sozialversicherung, insbesondere Renten und Rentenanwartschaften, von Art. 14 GG erfaßt werden. Diese Frage war auch Gegenstand der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung zu den Zusatzversorgungssystemen, die auf die nachfolgend dargestellten Grundsätze Bezug nimmt. Das Bundesverfassungsgericht hatte anfangs einen Eigentumsschutz von öffentlich-rechtlich begründeten Positionen verneint 59, später aber auch diese dem Art. 14 GG zugeordnet, 59sofern sie die Merkmale des Eigentums erfüllen 60. Für

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BVerfGE 50, 290 (340); 53, 257 (292); 70, 191 (201); 100, 226 (241); 102, 1 (17); zu diesem „abgestuften Schutz“ statt aller Papier (Fn. 52), Art. 14 Rn. 311; Bryde (Fn. 27), Art. 14 Rn. 59. 58 Vgl. Wieland (Fn. 52), Art. 14 Rn. 29; soweit ersichtlich hat das Bundesverfassungsgericht ist hierzu bisher nicht Stellung genommen. 59 So noch BVerfGE 1, 264 (277 f.) und – mit eingehender Argumentation – BVerfGE 2, 380 (399 ff., insb. 402): „Die verfassungsmäßige Garantie vom Staat verliehener sub-

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die Einbeziehung sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche in den Eigentumsschutz hat das Gericht in seiner Entscheidung zur Krankenversicherung der Rentner insbesondere das Vorliegen von drei konstituierenden Merkmalen verlangt 61. Die Rechtsposition muß dem Inhaber „nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts privatnützig zugeordnet“ sein, der Existenzsicherung dienen und „auf nicht unerheblichen Eigenleistungen“ beruhen 62. Hier scheint deutlich die ursprünglich privatrechtliche Prägung des Eigentumsbegriffs durch. Das betrifft vor allem das Merkmal der Eigenleistung, die als besonderer Schutzgrund für die Eigentümerposition anerkannt ist 63. Für diese Voraussetzung werden allerdings erhebliche Einschränkungen zugelassen, so daß sich die sozialversicherungsrechtlichen Positionen im Ergebnis sichtlich vom überkommenen Bild einer Eigentumsposition entfernen 64. Der Eigentumsschutz basiert zwar wesentlich darauf, daß die künftige Rechtsposition durch die persönliche Arbeitsleistung des Versicherten „mitbestimmt“ wird. Dennoch ist es unschädlich, wenn die Rechtsposition zu einem Teil oder auch überwiegend auf staatlicher Gewährung beruht. Insofern sind relevante Eigenleistungen

jektiver öffentlicher Vermögensrechte wäre, wenn auch begrifflich möglich, doch höchst ungewöhnlich.“ Andererseits zeigen sich bereits Einbruchstellen für die künftige Rechtsprechung, wenn das Gericht formuliert, es sei im vorliegenden Fall „nicht zu untersuchen, ob öffentlich-rechtliche Ansprüche denkbar sind, die so starke privatrechtliche Elemente enthalten, daß sie dem verfassungsrechtlichen Begriff des Eigentums zugerechnet werden müssen“. 60 BVerfGE 4, 219 (240), obgleich hier noch betont wird, daß „Art. 14 GG weder auf alle subjektiven öffentlichen Rechte noch auch nur auf alle vermögenswerten subjektiven öffentlichen Rechte zu erstrecken ist“; dann BVerfGE 16, 94 (112 f.); 18, 392 (397); zu dieser frühen Rechtsprechung W. Weber, AöR 91 (1966), 382 (385 ff., 400). 61 Vgl. die beiden Grundsatzentscheidungen BVerfGE 53, 257 (289 ff.) und BVerfGE 69, 272 (298 ff.); zu beiden Entscheidungen A. v. Brünneck, JZ 1990, 992 (993 ff.). In BVerfGE 32, 111 (128); 40, 65 (83) hatte das Gericht den Eigentumsschutz sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche noch offengelassen; anders das abweichende Sondervotum der Richterin Rupp-von Brünneck dazu: BVerfGE 32, 129 (142 ff.). 62 BVerfGE 53, 257 (291 f.); 69, 272 (300 ff.). – Die Literatur ist dem im Wesentlichen gefolgt: A. v. Brünneck, JZ 1990, 992 (993); Hesse, Grundzüge (Fn. 18), Rn. 445; H. Simon, DtZ 1996, 41 (42); Wieland (Fn. 52), Art. 14 Rn. 63; zurückhaltender Bryde (Fn. 27), Art. 14 Rn. 27 f.; auch Papier (Fn. 52), Art. 14 Rn. 130; kritisch Depenheuer (Fn. 52), Art. 14 Rn. 182; R. Scholz, NVwZ 1982, 337 (349). – Im Detail wird auch von denen, die die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung im Grundsatz billigen, weitaus häufiger Kritik geübt: zur Eigenleistung etwa Papier, ebd., Rn. 131, 133; skeptisch auch Bryde, ebd., Rn. 28; zum Erfordernis der Existenzsicherung H.-D. Jarass, NZS 1997, 545 (546). 63 BVerfGE 69, 272 (301). 64 Grundsätzliche Kritik an allen drei Voraussetzungen daher bei Depenheuer (Fn. 52), Art. 14 Rn. 182 ff., mit dem Hinweis, daß wegen des am Generationenvertrag ausgerichteten Umlageverfahrens gerade nicht von einer „Eigenleistung“ gesprochen werden kann, aus der ein eigener Rentenanteil resultiere; vielmehr entstehe nur eine Anspruch auf künftige Teilhabe (ebd., Rn. 183); in diese Richtung auch R. Scholz, NVwZ 1982, 337 (349).

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

nicht nur Beitragszahlungen des Versicherten, sondern ebenso Beiträge Dritter (z. B. Arbeitgeberanteile), die dem Träger der Sozialversicherung zu Gunsten des Versicherten zufließen 65. Das Merkmal der Eigenleistung dient somit vor allem zur Abgrenzung von der ausschließlich staatlich gewährten Fürsorgeleistung, die nicht von Art. 14 GG geschützt wird 66. Der Umfang der vom Versicherten selbst geleisteten Beiträge wirkt sich damit zwar nicht auf die Einbeziehung in den Schutzbereich des Art. 14 GG aus, er ist aber für die Grenzen der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit von Bedeutung 67. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ist umso größer, je geringer der Anteil eigener Leistung bzw. je größer der Anteil staatlicher Gewährung und je größer damit – wegen der Umlagefinanzierung in der Sozialversicherung – auch der Sozialbezug ist 68. Da der Anteil eigener Leistung wegen der Besonderheiten des Umlageverfahrens ohnehin nicht real bezifferbar ist und die staatlichen Ausgleichszahlungen an die Rentenversicherung stetig steigen, heißt dies, daß sich der Gesetzgeber im Bereich des Rentenversicherungsrechts grundsätzlich auf eine weite Gestaltungsfreiheit berufen kann 69. Diese Aussage wird im dritten Kapitel wieder begegnen. 2. Nutzung des Eigentumsobjekts durch Dritte Die zweite Fallgruppe, die in der Rechtsprechung nach der Wiedervereinigung neue Bedeutung erlangte, bilden die Fälle, in denen das Eigentumsobjekt nicht oder nicht allein durch den Eigentümer genutzt wird, sondern vor allem durch Dritte. Sind diese auf die Nutzung angewiesen, so ist nach den allgemeinen Grundsätzen des Eigentumsschutzes die Sozialbindung des Eigentumsobjekts besonders ausgeprägt. Zur Veranschaulichung sollen zwei Beispiele aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dienen. Eine ausgeprägte Sozialbindung besteht zum einen im Bereich des sozialen Wohnungsmietrechts 70. Der starke soziale Bezug des zu Wohnzwecken vermiete-

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BVerfGE 69, 272 (301 f.). Deutlich Hesse, Grundzüge (Fn. 18), Rn. 445; Jarass (Fn. 52), Art. 14 Rn. 11. 67 Ausdrücklich BVerfGE 69, 272 (301); ähnlich auch, aber in anderem thematischen Zusammenhang, BVerfGE 30, 292 (334). 68 Sinngemäß BVerfGE 53, 257 (292). 69 BVerfGE 53, 257 (293). 70 Zum gesamten Komplex des „sozialen Mietrechts“ liegen mittlerweile eine Reihe von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu verschiedenen Einzelaspekten vor: zum Eigenbedarf BVerfGE 68, 361 (368); 79, 292 (302); vgl. aber auch BVerfGE 81, 29 (31 ff.) mit abweichendem Sondervotum Grimm, Dieterich und Kühling; Vergleichsmiete: BVerfGE 37, 132 (141); 53, 352 (357 f.); Mietpreisbindung: BVerfGE 95, 64 (84 f.); zum Mietbesitz als Eigentumsposition: BVerfGE 89, 1 (6); allgemein zum Mieterschutz: BVerfGE 18, 121 (131 f.); Zweckentfremdung von Wohnraum: BVerfGE 38, 348 (370). – Aus 66

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ten Eigentums folgt hier aus der Tatsache, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerung aus Mangel an Wohneigentum auf Mietwohnungen angewiesen ist, welche in gleicher Weise Lebensmittelpunkt ihres Inhabers sind wie ein Eigenheim 71. Die Regelungen des Wohnungsmietrechts (§§ 549 ff. BGB) tragen diesem Umstand durch einen ausgeprägten Kündigungsschutz zugunsten des Mieters Rechnung, der dem Eigentümer faktisch nur geringe Möglichkeiten der einseitigen Vertragsbeendigung beläßt. In dieses Bild paßt es, wenn das Bundesverfassungsgericht – in allerdings umstrittener Weise – den Mietbesitz als Eigentumsposition im Sinne des Art. 14 I 2 GG wertet 72. Bei der Nutzung des Eigentums durch Dritte verfügt der Gesetzgebers also über einen tendenziell umfassenderen Gestaltungsspielraum als in anderen Konstellationen 73. Das Angewiesensein auf die Nutzung fremden Eigentums zeigte sich in der Nachkriegszeit nicht nur auf dem Wohnungsmarkt, sondern auch bei der Verpachtung von Land zur kleingärtnerischen Nutzung 74. Die bis 1969 geltenden Kündigungsregelungen für Kleingartenland boten dem privaten Verpächter faktisch keine Möglichkeit der Vertragsauflösung. Die restriktive Regelung beruhte auf den besonderen Umständen der Kriegs- und Zwischenkriegszeit sowie der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die kleingärtnerische Nutzung von Pachtland der Verbesserung der Ernährungslage und damit der Entlastung des Lebensmittelmarktes insgesamt diente (sog. „Armengarten“). Mit dem zunehmenden Wohlstand trat die Funktion des Kleingartens als Ernährungsgrundlage jedoch zugunsten eines erhöhten Freizeitwertes in den Hintergrund 75. Das Bundesverfassungsgericht hatte schließlich Ende der 70er Jahre zu entscheiden, ob die weiterhin geltenden restriktiven Kündigungsvorschriften noch als verfassungsmäßige Inhalts- und Schrankenbestimmung zu werten waren. Es verweist auch in diesem Zusammenhang darauf, daß der „Gestaltungsbereich des Gesetzgebers“ um

dem Schrifttum zum Ganzen: R. Scholz, NVwZ 1982, 337 (342 f.), mit stärkerer Betonung der Eigentümerrechte als das BVerfG; mit Betonung der Mieterposition G. Roellecke, NJW 1992, 1649 (1653 f.). 71 Vgl. dazu BVerfGE 89, 1 (6). 72 BVerfGE 89, 1 (6 ff.): das Besitzrecht ist danach eine privatnützige, vermögenswerte Rechtsposition, die dem Mieter eine Nutzungsbefugnis verleiht; daß der Mieter über sein Besitzrecht nur eingeschränkt verfügen könne, sei unerheblich, da dies keine Voraussetzung des Eigentumsschutzes sei; daher bestehe kein sachlicher Grund, den Mietbesitz vom Schutz durch Art. 14 I GG auszunehmen; in dieser Richtung auch Wieland (Fn. 52), Art. 14 Rn. 32; Bryde (Fn. 27), Art. 14 Rn. 14; sehr kritisch O. Depenheuer, NJW 1993, 2561 ff. 73 Vgl. BVerfGE 95, 64 (85). 74 Dazu BVerfGE 52, 1 (18 ff.); zur Entscheidung H. Weber, JuS 1981, 142 ff.; Bryde (Fn. 27), Art. 14 Rn. 66; J. Berkemann, EuGRZ 1979, 594 ff.; R. Niethammer, ZfBR 1980, 64 ff.; A. Rittstieg, in: E. Denninger u. a. (Hrsg.), Alternativkommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Auflage, Art. 14 (2001), Rn. 92, 94. 75 BVerfGE 52, 1 (33 ff.), ausführlich auf den Wandel des Kleingartenwesens eingehend.

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

so weiter ist, je stärker der Einzelne auf die Nutzung fremden Eigentums angewiesen ist 76. Unter den besonderen Umständen der Nachkriegszeit war die drastische Beschränkung der Eigentümerbefugnisse hinzunehmen; der mittlerweile vollzogene Wandel des Kleingartenwesens ließ die Eigentumsbeschränkung nun nicht mehr gerechtfertigt erscheinen 77. Den Verpächtern waren daher umfangreichere Kündigungsmöglichkeiten einzuräumen 78. Einem ähnlichen Mechanismus folgte das Kündigungsschutzkonzept im Rahmen der Schuldrechtsanpassung nach der Wiedervereinigung. 3. Wandel ökonomischer Verhältnisse Ein weiterer Aspekt, der später in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur einigungsbedingten Rechtsüberleitung wieder auftaucht, ist der Wandel gesellschaftlicher oder ökonomischer Verhältnisse. Er erfaßt ein besonders breites Spektrum an Fallkonstellationen. So hat das Bundeverfassungsgericht erweiterte Gestaltungsspielräume anerkannt, wenn der Gesetzgeber mit einer eigentumsrelevanten Regelung auf Veränderungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse reagiert. Diese Prozesse können zu einer „Verschiebung der Maßstäbe“ führen 79. Das Argument gewandelter ökonomischer Verhältnisse wurde unter anderem im Zusammenhang mit dem soeben dargestellten Bedeutungswandel des Kleingartenwesens verwendet 80. Der wirtschaftliche Aufschwung und die gesicherte Versorgungslage ließen den freiheitsbezogenen Aspekt des verpachteten Eigentums (wieder) in den Vordergrund treten. In diesem konkreten Fall und im konkreten zeitlichen Kontext bewirkte die „Verschiebung der Maßstäbe“ zwar eine Verengung der Gestaltungsspielräume. Das Argument einer größeren gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit infolge wirtschaftlichen und sozialen Wandel kommt aber gleichwohl zum Tragen. Denn bei einer künftigen wirtschaftlichen Entwicklung, die der Eigentumsposition (wieder) einen stärkeren Sozialbezug vermittelt, könnte sich der Gesetzgeber folglich erneut auf eine größere Gestaltungsfreiheit berufen. 76

BVerfGE 52, 1 (32) mit Verweis auf BVerfGE 42, 263 (294). BVerfGE 52, 1 (36); zustimmend J. Berkemann, EuGRZ 1979, 594 (595 f.); H. Bäumler, DÖV 1980, 339 (340), beide mit Kritik im Detail; insgesamt kritisch Rittstieg (Fn. 74), Art. 14 Rn. 94. 78 BVerfGE 52, 1 (32 ff.). Die Möglichkeiten der Vertragsbeendigung sind nunmehr wesentlich zahlreicher, vgl. § 9 BundeskleingartenG. 79 Eher allgemein formuliert in BVerfGE 24, 367 (389), wonach Inhalt und Funktion des Eigentums der Anpassung an die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse fähig und bedürftig sind; nach BVerfGE 52, 1 (30); 70, 191 (201) sind die Maßstäbe für die Zulässigkeit einer Inhalts- und Schrankenbestimmung Veränderungen unterworfen. 80 BVerfGE 52, 1 (30). 77

B. Die Gestaltungsfreiheit bei einzelnen Grundrechtsgewährleistungen

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Eine ähnliche Argumentation hat das Bundesverfassungsgericht im Sozialversicherungsrecht gebraucht, wo es bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken rentenversicherungsrechtlicher Positionen von einer grundsätzlich weiten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ausgeht 81. Das gilt insbesondere für Regelungen, die die Funktions- und Leistungsfähigkeit des gesetzlichen Rentenversicherungssystems gewährleisten oder es an veränderte wirtschaftliche Verhältnisse anpassen sollen 82. Der Gesetzgeber darf in einer solchen Konstellation Rentenansprüche und -anwartschaften beschränken, Leistungen kürzen oder Ansprüche umgestalten, sofern es dem Gemeinwohl dient – etwa die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung aufrechterhält – und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt wird 83. Daß der Gesetzgeber von diesen Optionen in der Zeit bis zur Wiedervereinigung keinen Gebrauch gemacht hat, beruhte auf der wirtschaftlichen Stärke der Bundesrepublik, aufgrund der die Beschneidung von Sozialleistungen beinahe schon außerhalb des Vorstellbaren lag. Eine solche signifikante Änderung wirtschaftlicher Gegebenheiten, die den Gesetzgeber hätte veranlassen können, von dieser weiten Gestaltungsfreiheit Gebrauch zu machen, lag daher bisher nicht vor. Ob dies angesichts der aktuellen Diskussionen um die Umgestaltung der Sozialversicherungssysteme auch künftig gilt, bleibt abzuwarten. Insgesamt ist der Gesichtspunkt der „veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse“ mit Vorsicht zu gebrauchen und seine Verwendung in den einschlägigen Urteilen entsprechend kritisch zu hinterfragen. Da die Formulierung ein hohes Maß an Flexibilität vermittelt, kann sie leicht als argumentative Allzweckwaffe zum Einsatz kommen. Die begriffliche Unschärfe läßt es zudem zweifelhaft erscheinen, ob sie als überzeugende Begründung für eine Erweiterung gesetzgeberischer Gestaltungsspielräume tauglich ist. 4. Neuordnung eines Rechtsgebiets Einen weiten Gestaltungsspielraum hat das Bundesverfassungsgericht schließlich bei der Neuordnung, Neugestaltung oder Reform eines Rechtsgebietes angenommen 84. Eine solche Neuordnung ist zumeist die Reaktion des Gesetzgebers auf veränderte ökonomische und gesellschaftliche Verhältnisse, so daß hier Verschränkungen mit den soeben unter c) erörterten Konstellationen kaum vermeidbar sind. Dieser Fall soll gleichwohl separat erörtert werden, da die Kriterien für

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Siehe B. I. 1. BVerfGE 53, 257 (293); 58, 81 (110). – Aus dem Schrifttum zur Entscheidung F. Ruland, JuS 1980, 524 ff.; ausführlich D. Katzenstein, Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz sozialrechtlicher Positionen, in: Festschrift für Helmut Simon, 1987, S. 847 ff. (851 ff.). 83 BVerfGE 53, 257 (293); vgl. auch W. Berg, JuS 2005, 961 (965). 84 Vgl. BVerfGE 70, 191 (202); 78, 58 (75). 82

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

die Neuordnung eines Rechtsgebietes auch für die Überleitungsgesetzgebung von Bedeutung waren, läßt sich doch die Rechtsanpassung im Gebiet der neuen Länder ohne weiteres als umfassende Neugestaltung der Rechtsordnung begreifen. Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß der Gesetzgeber nicht dauerhaft an eine bestehende Rechtslage gebunden sein kann. Er muß den aktuellen Rechtszustand nicht als unveränderliches Faktum betrachten, das ihn zwingt, alte Rechtspositionen zu konservieren oder sie nur gegen Entschädigung zu entziehen 85. Der Gesetzgeber darf vielmehr das Entstehen von Rechtspositionen (nach alter Rechtslage) für die Zukunft ausschließen oder alte Rechte, für die es im neuen Recht keine Entsprechung gibt, verwerfen 86 sowie bestehende Rechtspositionen umgestalten 87; inbesondere übertritt er die Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit nicht, wenn er die Geltung der neuen Vorschriften auch auf alte Rechtsverhältnisse erstreckt 88. Schließlich dürfen Rechtspositionen des alten Rechts im Rahmen einer grundlegenden Reform beschränkt 89, unter Umständen sogar gegen Ersatz beseitigt werden 90. Das freilich nur, sofern nach den allgemeinen Grundsätzen des Art. 14 GG der soziale Bezug der Eigentumsposition stärker wiegt als der personale. Eine Beschränkung seiner Gestaltungsspielräume erfährt der Gesetzgeber gleichwohl dadurch, daß das Bundesverfassungsgericht bei grundlegenden Neugestaltungen „angemessene und zumutbare Übergangsregelungen“ verlangt 91. Ferner ist die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Beschränkung oder Umgestaltung von Rechtspositionen von der Frage zu trennen, ob das Neuordnungskonzept als solches verfassungsgemäß ist 92. Diese Unterscheidung wird bei den im dritten Kapitel zu erörternden Fallgruppen zur Rechtsüberleitung erneut begegnen. Die Frage firmiert dort unter dem Schlagwort der „Grundentscheidung“ bzw. der „Systementscheidung“. Die Aufspaltung der verfassungsrechtlichen Überprüfung des Neuordnungskonzepts einerseits und der Umgestaltung der individuellen Rechtsposition andererseits birgt insoweit Gefahren für letztere, als die Verfassungsmäßigkeit des Neuordnungskonzepts stets gewisse Vorwirkungen für die Einzelfallprüfung entfaltet. 85

So BVerfGE 58, 300 (351) m. w. N.; auch BVerfGE 70, 191 (201); 83, 201 (212). BVerfGE 83, 201 (212): Neuordnung und Vereinheitlichung des Bergrechts durch das Bundesberggesetz 1980 (zu den Einzelheiten der Neuordnung instruktiv H. Schulte, NJW 1981, 88 ff.). 87 BVerfGE 58, 300 (351); desweiteren BVerfGE 70, 191 (201): Umgestaltung privater Fischereirechte in genossenschaftlich ausgeübte Fischereirechte, so daß den Berechtigten (nur noch) die Verfügungsbefugnis über das genossenschaftlich eingebundene Fischereirecht verblieb. 88 BVerfGE 31, 275 (285); 43, 242 (288 f.); 70, 191 (201 f.). 89 BVerfGE 78, 58 (75): Eintragungsverbot für Lagebezeichnungen nach dem WeinG. 90 BVerfGE 78, 58 (75); 83, 201 (212). 91 BVerfGE 58, 300 (351); 70, 191 (201). 92 BVerfGE 31, 275 (285); 58, 300 (338); 83, 201 (212). 86

B. Die Gestaltungsfreiheit bei einzelnen Grundrechtsgewährleistungen

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5. Zwischenergebnis: zweidimensionale Bedeutung der Gestaltungsfreiheit im Rahmen der Eigentumsgarantie – Argumentationsfigur und Mittel zur Konturierung der Ausgestaltungsbefugnis Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bezeichnet im Rahmen der Eigentumsgarantie zum einen die in Art. 14 I 2 GG explizit verankerte Ausgestaltungsbefugnis bzw. Ausgestaltungspflicht des einfachen Gesetzgeber. Als Institutsgarantie bedarf das Eigentum erst der normativen Formung, um als Freiheitsgewährleistung wirksam zu werden. Die vom Bundesverfassungsgericht unterschiedlich weit gezogenen Grenzen der Gestaltungsfreiheit ermöglichen es, die Ausgestaltungsbefugnis inhaltlich zu konturieren, und damit dem Gesetzgeber Anhaltspunkte für die Ausgestaltung zu geben. Zum anderen kann die „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ als Argumentationsfigur fungieren, wenn der Gesetzgeber bereits von seiner Ausgestaltungsbefugnis Gebrauch gemacht und Eigentumspositionen geschaffen hat. Es gelten dann die allgemeinen Regeln, so daß der Gesetzgeber bei Eingriffen in den Eigentumsbestand die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes beachten muß.

II. Der Gleichheitssatz des Art. 3 I GG Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers erfüllt beim allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I GG die Funktion als Argumentationsfigur zur Berücksichtigung der gleichheitsrechtlichen Besonderheiten. So läßt der Begriff der „Gleichheit“ Abstufungen an sich nicht zu – ein Mehr oder ein Weniger an Gleichheit ist mit dieser Wortbedeutung nicht zu vereinbaren. Abstufungen sind daher nur in einem anderen Sinne möglich, bei der Bestimmung der Vergleichspaare im Wege der Differenzierung. Der Gleichheitssatz erfüllte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anfangs die Funktion eines Willkürverbots 93. Das Gericht beschrieb diesen Umstand mit der markanten Formulierung, der Gleichheitssatz des Art. 3 I GG verbiete es, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln 94. Danach war der Gleichheitssatz verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden ließ 95. Die Beurteilung dessen, was gleich bzw. ungleich war, orientierte

93 Grundlegend zum Verständnis des Gleichheitssatzes als Willkürverbot G. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl. 1959, S. 72 ff. (insb. S. 86 f.). 94 BVerfGE 4, 144 (155); die Wendung ist trotz des Abgehens von der Willkürtheorie weiter in Gebrauch: BVerfGE 76, 256 (329); 103, 242 (258). 95 So BVerfGE 1, 14 (52); aus neuerer Zeit: BVerfGE 89, 132 (141); 105, 73 (110).

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

sich in den ersten Entscheidungen am Gerechtigkeitsgedanken 96. Eine effektive Begrenzung bzw. Disziplinierung der legislativen Gestaltungsfreiheit war damit allerdings nicht erreicht 97. Die Kritiker einer Qualifizierung des Gleichheitssatzes als Willkürverbot sahen in erster Linie die Gefahr einer allgemeinen Gerechtigkeitskontrolle von Gesetzen, die sich selbst dem Vorwurf der Willkür aussetzen müsse, denn was willkürlich bzw. ungerecht sei und was nicht, unterliege letztlich gleichfalls subjektiven Wertungen 98. Zudem enthalte der Gleichheitssatz in der Auslegung als Willkürverbot selbst keine positiven Kriterien, an denen sich eine Überprüfung von Gesetzen ausrichten könne 99. Im Schrifttum zeigten sich daher Ansätze, den Gleichheitssatz stärker mit inhaltlichen Kriterien aufzufüllen, insbesondere faktisch bestehende Differenzierungen stärker in die Gleichheitsdogmatik einzubeziehen, wofür der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Mittel dienen sollte 100. In diese Richtung verlief auch die weitere Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts zog mit Hilfe der von ihm entwickelten sog. „neuen Formel“ dem Gesetzgeber engere Grenzen. Nach ihr ist der allgemeine Gleichheitssatz vor allem dann verletzt, „wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten“ 101. In der Sache entspricht dies einer Bindung an den im Vergleich zum 96

Vgl. BVerfGE 1, 264 (276); 2, 118 (119); bereits mit BVerfGE 3, 162 (182) folgte aber die Klarstellung: „Soweit dabei der Gleichheitssatz in Betracht kommt, ist hier nochmals zu betonen, daß dieser Grundsatz dem Bundesverfassungsgericht keine Möglichkeit bietet, ein Gesetz unter dem Gesichtspunkt ‚allgemeiner Gerechtigkeit‘ nachzuprüfen und damit seine Auffassung von Gerechtigkeit derjenigen des Gesetzgebers zu substituieren.“ – Eingehend zum Ganzen M. S. Jungbauer, Die Verwendung des Begriffs der „Gerechtigkeit“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2002, S. 14 ff., 97 ff.; M. Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, 1980, S. 31 f.; G. Müller, VVDStRL 47 (1989), S. 37 ff. (42). 97 Kloepfer, Gleichheit (Fn. 96), S. 32 f. 98 Vgl. H. Scholler, Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit, 1969, S. 33 f., 36 ff.; vgl. auch Kloepfer, Gleichheit (Fn. 96), S. 56; E. Stein, in: E. Denninger u. a. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 2001, Art. 3 Abs. 1 Rn. 28 ff. 99 Stein (Fn. 98), Art. 3 Abs. 1 Rn. 28 ff. 100 Etwa Kloepfer, Gleichheit (Fn. 96), S. 56 ff.; M. Gubelt, in: I. v. Münch / P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 3 Rn. 14 f.; Stein (Fn. 98), Art. 3 Abs. 1 Rn. 35 ff., allerdings mit Vorbehalten hinsichtlich der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (ebd., Rn. 42); Überblick dazu bei G. Robbers, DÖV 1988, 749 (150 f.). 101 So die grundlegende Entscheidung BVerfGE 55, 72 (88 f.) aus dem Jahre 1980; seither BVerfGE 60, 123 (133 f.); 70, 230 (239 f.); 71, 146 (154 f.); 74, 9 (24); 88, 87 (96); 89, 15 (22); 92, 365 (407); 93, 386 (397); 99, 367 (388); 105, 73 (110). Der Zweite Senat hat die Formel insoweit aufgegriffen, als er auf die „Eigenart des konkreten Sachverhalts“

B. Die Gestaltungsfreiheit bei einzelnen Grundrechtsgewährleistungen

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Willkürverbot wesentlich strengeren Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 102. Wie der Wortlaut der „neuen Formel“ deutlich macht, unterliegt der Gesetzgeber dieser strengen Bindung jedoch nur bei einer personenbezogenen Ungleichbehandlung. Anderes gilt für die ungleiche Behandlung von Sachverhalten. Hier läßt Art. 3 I GG dem Gesetzgeber weitgehende Freiheit, Lebenssachverhalte und das Verhalten einer Person je nach Regelungszusammenhang verschieden zu behandeln; die Grenze bildet insoweit lediglich das Willkürverbot 103. Diese so klar scheinende Differenzierung nach personenbezogener bzw. sachverhaltsbezogener Ungleichbehandlung führt allerdings zu Abgrenzungsproblemen, da man im Grunde jede Verschiedenbehandlung von Sachverhalten zugleich als unterschiedliche Behandlung von Personen auffassen kann 104. Das Gericht geht daher mittlerweile auch bei der Ungleichbehandlung von Sachverhalten, sofern sie eine personenbezogene Verschiedenbehandlung implizieren, von einer strengeren Bindung des Gesetzgebers aus 105. Der unterschiedlich strengen Bindung durch den Gleichheitssatz korrespondiert notwendig eine unterschiedlich weite Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die an drei Fallgruppen nachvollzogen werden kann. Das ist zum einen bei sachverhaltsbezogenen Differenzierungen der Fall (1), zum anderen erweitert die im Rahmen des Art. 3 I GG zugestandene Befugnis zur Typisierung und Generalisierung den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum (2). Schließlich geht das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Sachbereiche generell von einem weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum aus (3).

abstellt, im wesentlichen aber hat er an der Willkürformel festgehalten, vgl. BVerfGE 75, 108 (157); 78, 249 (287). 102 Sondervotum Katzenstein in BVerfGE 74, 28 (30). Aus der Literatur mit einer strengen Orientierung am freiheitsrechtlich geprägten Verhältnismäßigkeitsgebot S. Huster, JZ 1994, 541 (547 ff.); Kloepfer, Gleichheit (Fn. 96), S. 62 f. – Die Übertragung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf den Gleichheitssatz ist zwar durchaus gebräuchlich, kann aber wegen der nach wie vor bestehenden dogmatischen Zweifel nicht als durchgesetzt gelten: vgl. nur W. Heun, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 3 Rn. 26 ff.; Dreier (Fn. 30), Vorb. Rn. 152 f. 103 BVerfGE 55, 72 (89); später BVerfGE 78, 104 (121); 83, 1 (23); 89, 365 (375); zu den jeweiligen Prüfungsanforderungen mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen H. D. Jarass, in: ders. / B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 8. Aufl. 2006, Art. 3 Rn. 17 ff., 26 ff. 104 Zur Kritik vgl. statt aller K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 121 ff. (124); Heun (Fn. 102), Art. 3 Rn. 21. 105 Vgl. aus jüngster Zeit BVerfGE 101, 54 (101); 103, 310, (319).

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

1. Weite Gestaltungsfreiheit bei sachverhaltsbezogener Differenzierung Das Bundesverfassungsgericht gesteht dem Gesetzgeber im Bereich des Gleichheitsgebotes grundsätzlich eine „weitgehende“ oder „weite Gestaltungsfreiheit“ zu 106, was beispielsweise bei der Bildung der Vergleichspaare oder bei der Auswahl des (zulässigen) Differenzierungsmerkmals zum Tragen kommt. Die Gründe für diese größeren Spielräume liegen, trotz der Fruchtbarmachung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für den Gleichheitssatz, in dessen eigengearteter dogmatischer Struktur, die sich einer Parallelisierung mit der freiheitsrechtlichen Dogmatik entzieht. Das konkrete Maß an Gestaltungsfreiheit, auf das sich der Gesetzgeber letztendlich berufen kann, resultiert aus den unterschiedlichen Anforderungen, die Art. 3 I GG an personenbezogene Ungleichbehandlungen auf der einen und sachverhaltsbezogene Ungleichbehandlungen auf der anderen Seite stellt (siehe oben). Bei der Differenzierung von Sachverhalten kann der Gesetzgeber folglich eine weite Gestaltungsfreiheit beanspruchen 107. 2. Typisierung und Pauschalierung Eine erweiterte Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers kann ferner aus der notwendigen und zulässigen Typisierung von Lebenssachverhalten folgen 108. Das Problem resultiert daraus, daß es zwei völlig identische Lebenssachverhalte nicht gibt. Zwei zu vergleichende Sachverhalte mögen zwar in bestimmter Hinsicht gleich sein, in anderer Hinsicht aber weisen sie unterschiedliche Gestaltungen auf. Das gilt insbesondere bei Massenerscheinungen. Wollte der Gesetzgeber auch diese Unterschiede im Detail erfassen, wäre eine immenses Maß an Differenzierung notwendig. Eine solche ausdifferenzierte, jedwede Ungleichheit ausschließende Regelung ist kaum möglich, ohne neue Ungleichheiten zu schaffen, jedenfalls aber 106 So BVerfGE 17, 319 (330); 37, 217 (259); 52, 277 (280); 78, 249 (287); 80, 109 (118); 90, 22 (26): weitgehende Gestaltungsfreiheit; BVerfGE 17, 1 (24); 77, 308 (332): weite Gestaltungsfreiheit; BVerfGE 76, 256 (330): verhältnismäßig weite Gestaltungsfreiheit; in BVerfGE 81, 156 (205): besonders weite Gestaltungsfreiheit (auf dem Gebiet des Sozialrechts); in der frühen Rechtsprechung war noch von einem weiten Bereich des Ermessens die Rede, vgl. BVerfGE 3, 58 (135); 3, 162 (182); 22, 349 (361); H. H. Rupp, Art. 3 GG als Maßstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, 1976, S. 364 ff. (371 f.); kritisch zur Rede von der „weitgehenden Gestaltungsfreiheit“ Heun (Fn. 102), Art 3 Rn. 51. 107 Diese kann sich aber wiederum verengen, wenn die Ungleichbehandlung zugleich andere Grundrechtsgewährleistungen tangiert, vgl. BVerfGE 60, 123 (134); 82, 126 (146); 88, 87 (96). Eine strengere Prüfung hat das Gericht beispielsweise bei einer gleichzeitigen Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorgenommen, BVerfGE 88, 87 (96 f.). 108 Eingehend zum Ganzen C. Starck, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 5. Aufl. 2005, Art. 3 Rn. 23 ff.; Jarass (Fn. 103), Art. 3 Rn. 30 f.

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wäre sie angesichts ihres Konkretisierungsgrades in der Praxis nicht handhabbar. Das Bundesverfassungsgericht hat daher stets betont, daß bei Massenerscheinungen eine Typisierung und Generalisierung von Lebenssachverhalten zulässig ist 109. Auch empirische Aspekte wie die Praktikabilität einer Norm und die Verwaltungsökonomie können zu größeren gesetzgeberischen Freiheiten führen 110. Dogmatisch ist der Aspekt der Typisierung bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung einer zuvor festgestellten Ungleichbehandlung bzw. Gleichbehandlung verortet. An die Typisierung stellt das Gericht allerdings gewisse Anforderungen. So muß sie ihrer Natur nach wirklich die typischen Sachverhalte erfassen und darf nicht etwa atypische einbeziehen oder typische Sachverhalte ausschließen bzw. stärker belasten als atypische 111. Insofern verschieben sich die an den Gesetzgeber gestellten Anforderungen. Bei Einzelerscheinungen muß der Gesetzgeber die Vergleichsgruppen und das jeweilige Differenzierungsmerkmal aufzeigen. Im Bereich der Typisierung kommt es vor allem darauf an, unter Beiseitelassen von Details die typischen Sachverhaltsgruppen herauszuarbeiten und die einzelnen Fälle entsprechend zuzuordnen. 3. Einzelne Sachbereiche Schließlich legt das Gericht bei einzelnen Sach- bzw. Regelungsbereichen, für die die Anwendung des Gleichheitssatzes häufig in Betracht kommt, insgesamt großzügigere Maßstäbe an 112, wenngleich die Rechtsprechung durchaus Schwankungen aufweist. Eine weite Gestaltungsfreiheit kann der Gesetzgeber danach unter anderem im Besoldungsrecht 113, im Sozialrecht 114 und bei gewährender

109

BVerfGE 11, 245 (253); 17, 1 (23 f.); 26, 16 (32); 39, 316 (332); 51, 115 (122); 71, 146 (157); aus der Literatur eingehend Starck (Fn. 108), Art. 3 Abs. 1 Rn. 23, der ohnehin unter Hinweis auf die Generellität und Allgemeinheit des Gesetzes von größeren Spielräumen für den Gesetzgeber ausgeht, da tatsächliche Verschiedenheiten nicht durch rechtliche Regelungen nachgezeichnet werden müßten (ebd., Rn. 9). 110 BVerfGE 17, 337 (354); 63, 119 (128); 78, 214 (227); 84, 348 (359 f.); ebenso Rupp, Maßstab (Fn. 106), S. 377; Starck (Fn. 108), Art. 3 Abs. 1 Rn. 23. 111 BVerfGE 30, 292 (327); ebenso Jarass (Fn. 103), Art. 3 Rn. 31; Rupp, Maßstab (Fn. 106)), S. 378. 112 Kloepfer, Gleichheit (Fn. 96), S. 34 konstatiert die Herausbildung spezifischer Sachgesetzlichkeiten hinsichtlich einzelner Sachbereiche, etwa in der Steuer- oder Sozialgesetzgebung. 113 BVerfGE 76, 256 (330) m. w. N. 114 BVerfGE 97, 271 (291). Detaillierte Rechtsprechungsübersicht bei D. Katzenstein, VSSR 1982, 167 (179 ff.); ferner ders., Die Sozialgerichtsbarkeit 1988, 177 (182 f.); Sommermann (Fn. 4), Art. 20 Rn. 116.

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

Staatstätigkeit 115 sowie bei wirtschaftspolitischen Maßnahmen und beim Recht der Wiedergutmachung 116 für sich in Anspruch nehmen. Die weite Gestaltungsfreiheit bei wirtschaftslenkender Gesetzgebungstätigkeit wird als eigenständiger Komplex sogleich behandelt (C. I.).

III. Zwischenergebnis: Gestaltungsfreiheit als Reaktion auf die besondere Normstruktur des Gleichheitssatzes Der Gleichheitssatz des Art. 3 I GG verpflichtet den Gesetzgeber auf Rechtsetzungsgleichheit. Der Begriff der Gleichheit impliziert jedoch eine Stringenz und Absolutheit, die im praktischen Leben weder durchführbar noch wünschenswert ist. Um „absolute“ Gleichheit kann es also nicht gehen, sondern nur um eine rechtliche Gleichbehandlung. Die Problematik des Gleichbehandlungsgrundsatzes liegt aber weniger in der Gleichbehandlung, als vielmehr in der Bestimmung dessen, was gleichbehandelt werden soll. Der zentrale Aspekt ist also die Bestimmung der Vergleichsgruppen, die je nach dem sachgerecht zu bestimmenden Bezugspunkt verschieden sind. Es ist daher der besonderen Normstruktur geschuldet, wenn das Bundesverfassungsgericht bei Art. 3 I GG generell von einer „weitgehenden Gestaltungsfreiheit“ des Gesetzgebers ausgeht. Darin liegt keine Befugnis zur Ungleichbehandlung, sondern lediglich zur sachgerechten Differenzierung. Eine für bestimmte Fallkonstellationen zugestandene „weite“ oder „erweiterte“ Gestaltungsfreiheit gibt also dem Gesetzgeber die Möglichkeit großzügigerer bzw. gröberer Differenzierung, was im Einzelfall nichts anderes als eine Flexibilisierung verfassungsrechtlicher Anforderungen ist.

C. Konstellationen erweiterter Gestaltungsfreiheit Der vorangegangene Abschnitt knüpfte für die Bestimmung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit und ihren Umfang an eine bestimmte Grundrechtsgewährleistung an. Zugleich hat das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Sachmaterien oder bei einzelnen Charakteristika der Gesetzgebung erweiterte Gestaltungsspielräume angenommen, und diese bisweilen als besonders weit bezeichnet. Eine solche einschlägige Sachmaterie ist (neben dem Sozialversicherungsrecht) die Gesetzgebung im wirtschaftspolitischen Bereich, wobei die

115 Subventionsgewährung (Wohnungsbauprämie): BVerfGE 17, 210 (216); Zeugenentschädigung: BVerfGE 49, 280 (283), allerdings später zurückhaltender (vgl. D. Katzenstein, Die Sozialgerichtsbarkeit 1988, 177 [182]). 116 Zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei Fragen der Wiedergutmachung nach dem Zweiten Weltkrieg: BVerfGE 27, 253 (270, 286); 41, 126 (175 f.); nach der deutschen Einheit: BVerfGE 84, 90 (130); 102, 254 (299); zur letzteren Entscheidung K.-A. Schwarz, JZ 2001, 319 (322 f.). – Vgl. im einzelnen Kapitel 3. A. I.

C. Konstellationen erweiterter Gestaltungsfreiheit

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These von der „wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes“ von besonderer Bedeutung ist (I); gleichsam hat das Bundesverfassungsgericht in den Fällen der Versuchsgesetzgebung erweiterte Gestaltungsspielräume postuliert (II); beide Konstellationen sind vom sog. „Prognosespielraum“ abzugrenzen (III).

I. Gesetzgebung im wirtschaftslenkenden Bereich Im Verlauf der bisherigen Ausführungen hat sich gezeigt, daß der Terminus der Gestaltungsfreiheit nicht einheitlich im Sinne der Argumentationsfigur gebraucht wird. So bezeichnet er bei der Eigentumsgarantie unter anderem den vom Grundgesetz nur grob umrissenen Bereich (Art. 14 I, II GG), den der Gesetzgeber eigenverantwortlich auszugestalten hat. Gestaltungsfreiheit kann dort also auch die Ausgestaltungsbefugnis meinen. Ähnliche Bedeutung kommt der Gestaltungsfreiheit im Bereich wirtschaftspolitischer Gesetzgebung zu. Das Grundgesetz enthält vielfach keine konkreten Vorgaben, die vom Gesetzgeber lediglich nachzuvollziehen wären. Es beschränkt sich auf Maßgaben genereller Art, die der Konkretisierung durch den Gesetzgeber bedürfen. Ob von einer solchen „Offenheit des Grundgesetzes“ auch in Bezug auf die das Wirtschaftsleben betreffenden Verfassungsnormen gesprochen werden kann, war in den 1950/60er Jahren heftig umstritten. Dieser „Streit um die Wirtschaftsverfassung“ soll hier nicht erneut aufgerollt werden; er kann seit geraumer Zeit als beigelegt gelten 117. Durchgesetzt hat sich die auch vom Bundesverfassungsgericht favorisierte Ansicht von der „wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes“ 118, aufgrund der das Gericht in ständiger Rechtsprechung einen weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Bereich wirtschaftspolitischer Entscheidungen anerkennt 119. 117 Vgl. daher aus der Lehrbuchliteratur W. Frotscher, Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 4. Aufl. 2004, § 2 Rn. 28 ff.; H. Maurer, Staatsrecht I, 3. Aufl. 2003, § 8 Rn. 85 ff., jeweils m. w. N. auch zu den Gegenstimmen, die aus einer „Gesamtschau“ des Grundgesetzes eine bestimmte „Wirtschaftsverfassung“ (etwa das Modell einer sozialen Marktwirtschaft oder einer globalgesteuerten Marktwirtschaft) ableiten wollen (vgl. auch die nachfolgende Fußnote). 118 BVerfGE 4, 7 (17). Aufschwung hat die Gegenthese von der „Wirtschaftsverfassung“ noch einmal durch den Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion erfahren, der in seinem Art. 1 III „die soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung“ der beiden damals noch bestehenden deutschen Staaten festschrieb; in einzelnen dazu und gegen die „Neutralitätsthese“ M. Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 236 (240); ebenso W. Leisner, Die soziale Marktwirtschaft als Grundlage der Wirtschaftsund Sozialverfassung, in: H. Sodan (Hrsg.), Die sozial-marktwirtschaftliche Zukunft der Krankenversicherung, 2005, S. 35 ff. (43), allerdings mit der fraglichen Behauptung, dies sei die herrschende Lehre (vgl. S. 43 m. Fn. 31). 119 Vgl. BVerfGE 4, 7 (18: weiter Ermessensspielraum); 7, 377 (400: grundsätzlich freies Ermessen); 25, 1 (19 f.: weiter Bereich des Ermessens); 30, 292 (319: wie zuvor); 50, 290 (338: weitgehende Gestaltungsfreiheit); 77, 84 (106: weite Gestaltungsfreiheit); 99, 367 (392: beträchtlicher Spielraum).

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

Ihren Ausgang nahm diese Rechtsprechungslinie in der Entscheidung zum Investitionshilfegesetz aus dem Jahre 1954. Das Grundgesetz ist danach insofern „neutral“, als es sich nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat. Der Gesetzgeber darf vielmehr die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen, wenn er sich dabei an das Grundgesetz hält 120. Diese Ausführungen hat das Gericht später – teils wortgleich – wiederholt, dabei aber die Grundrechte als Grenzen der wirtschaftspolitischen Gestaltungsfreiheit stärker hervorgehoben 121. Die „wirtschaftspolitische Neutralität“ in diesem Sinne impliziert somit, daß die jeweils bestehende Wirtschafts- und Sozialordnung nicht als normativer Maßstab für die künftige Wirtschaftspolitik und die in deren Umsetzung erlassenen wirtschaftslenkenden bzw. -ordnenden Gesetze herangezogen werden darf; ebensowenig dürfen volkswirtschaftliche Lehrmeinungen zum Prüfungsmaßstab erhoben werden 122. Die Grenze für den Gesetzgeber bildet vielmehr allein das Grundgesetz. Herauszustellen ist, daß sich diese Aussagen in erster Linie auf wirtschaftslenkende Gesetze beziehen – denn gerade in diesem Zusammenhang wurden sie getätigt – und weniger auf Regelungen allgemein wirtschaftspolitischer Natur 123. Damit resultiert die weite wirtschaftspolitische Gestaltungsfreiheit in erster Linie aus der Offenheit des Grundgesetzes, das im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung keinen eigenen Abschnitt über das Wirtschaftsleben kennt. Maßgebend ist, daß das Grundgesetz keine Vorgaben speziell für die wirtschaftspolitische Gesetzgebung enthält, sondern die notwendigen Grenzen in anderer Weise zieht, insbesondere durch die dem Schutz wirtschaftlicher Betätigung dienenden Grundrechte. Die gesetzgeberische Aufgabe besteht darin, die grundrechtliche Freiheit mit dem grundsätzlich freien Ermessen des Gesetzgebers bei Regelungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialordnung in Einklang zu bringen ist 124. Hierfür muß der Bereich grundrechtlicher Freiheit möglichst genau bestimmt werden. 124

120

BVerfGE 4, 7 (17 f.). Zustimmend P. Badura, AöR 92 (1967), 382 (392 f.); ders., Richterliches Prüfungsrecht und Wirtschaftspolitik, in: Festschrift für Ludwig Fröhler, 1980, S. 321 ff. (322 f.); im Ergebnis auch H.-J. Papier, ZHR 142 (1978), 71 (78 f.), allerdings kritisch zur Rede von der „Neutralität“; R. Schmidt, Der Staat 19 (1980), 235 (247). 121 BVerfGE 7, 377 (400); stärkere Hervorhebung der Grundrechte vor allem im Mitbestimmungsurteil BVerfGE 50, 290 (336 ff.); vgl. dazu die Besprechungen von K. M. Meessen, NJW 1979, 833 ff.; T. Schramm, DVBl. 1979, 413 f.; R. Schmidt, Der Staat 19 (1980), 235 ff.; zuvor schon eingehend zur Sache H.-J. Papier, ZHR 142 (1978), 71 ff. und auf gegensätzlicher Linie dazu G. Schwerdtfeger, ZHR 142 (1978), 301 ff.; ferner Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen (Fn. 12), S. 740 ff. 122 So BVerfGE 4, 7 (18); 7, 377 (400). 123 Als problematisch wird daher angesehen, daß das Bundesverfassungsgericht auch im Mitbestimmungsurteil mit der wirtschaftspolitischen Neutralität operiert; die Arbeitnehmermitbestimmung lasse sich kaum als wirtschaftslenkende Maßnahme deuten, sie sei allenfalls wirtschaftsordnend, vgl. R. Schmidt, Der Staat 19 (1980), 235 (243).

C. Konstellationen erweiterter Gestaltungsfreiheit

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Im Ergebnis kommt es hier vor allem auf die Konkretisierung der Verfassungsnormen an, da diese darüber entscheiden, wie „offen“ das Grundgesetz im konkreten Fall ist und auf welches Maß an Gestaltungsfreiheit sich der Gesetzgeber berufen kann. Die Gestaltungsfreiheit findet hier folglich in erster Linie im Sinne der Ausgestaltungsbefugnis Anwendung. Bestätigung findet dies darin, daß das Bundesverfassungsgericht für die Bestimmung des gesetzgeberischen Ziels einerseits und die Beurteilung der Geeignetheit des Mittels („Zwecktauglichkeit“) andererseits unterschiedliche Maßstäbe anlegt. Während für das Ziel ein weiter Gestaltungsspielraum gilt 125, der es dem Gesetzgeber erlaubt, im Grunde jedes wirtschaftspolitische Ziel zu verfolgen, das sich im Rahmen der Verfassung hält 126 und durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur äußerste Grenzen gezogen werden 127, findet bei der Wahl des Mittels und vor allem bei dessen Geeignetheit zur Erreichung des wirtschaftspolitischen Ziels eine eingehendere Kontrolle statt 128.

II. Experimentelle Gesetzgebung – Versuchsgesetzgebung Ein plausibles Beispiel für eine weite Gestaltungsfreiheit, hier jedoch verstanden im Sinne der Argumentationsfigur, bildet die experimentelle Gesetzgebung. Der Begriff selbst befremdet beim ersten Zugriff, erweckt er doch den Eindruck mangelnder Ernsthaftigkeit. Dies stünde in einem krassen Gegensatz zur Bedeutung der Staatsfunktion Gesetzgebung. Nicht selten vermittelt die Gesetzgebungstätigkeit aber eben diesen Eindruck. Daher rückte das Gesetzgebungsexperiment vor allem Ende der 1970er Jahre, als zum ersten Mal eine breitere Debatte über die „Gesetzesflut“ geführt wurde 129, als ein mögliches Mittel zur Eindämmung

124

BVerfGE 7, 377 (400). So BVerfGE 25, 1 (17); 30, 292 (317); aus neuerer Zeit BVerfGE 103, 293 (307). – Zur Koppelung von Gesetzeszwecken bzw. -zielen vgl. BVerfGE 30, 292 (318) – Erdölbevorratung; hier führte der gesetzgeberische Hauptzweck (Sicherstellung der Erdölversorgung) zu Kostensteigerungen bei den vorratspflichtigen Unternehmen, die geeignet waren, den Wettbewerb zu dämpfen (Nebenzweck). 126 Aus dem Schrifttum ebenso P. Badura, AöR 92 (1967), 382 (385 f.); ders., Prüfungsrecht (Fn. 120), S. 340 f.; H. Spanner, DÖV 1972, 217 (219). 127 BVerfGE 30, 292 (317). 128 Vgl. dazu und zum folgenden Badura, Prüfungsrecht (Fn. 120), S. 341: während die Wahl des Ziels wegen der „Offenheit des Grundgesetzes“ in wirtschaftsverfassungsrechtlicher Hinsicht nur eingeschränkter Kontrolle unterliege, komme bei der Beurteilung der Zielverwirklichung der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit voll zum Tragen. 129 Vgl. etwa H. Maassen, NJW 1979, 1473 (1476 ff.); H.-J. Vogel, JZ 1979, 321 (324 f.); W. Leisner, DVBl. 1981, 849 (850); M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 63 ff. (68 ff.); vgl. auch C. Pestalozza, NJW 1981, 2081 ff.; die gemachten Vorschläge zur Eindämmung der ausufernden Gesetzgebung haben sich angesichts der weiteren Entwicklung als fruchtlos erwiesen. 125

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

der Übernormierung in das verfassungsrechtliche Blickfeld. Mittlerweile ist das Interesse am schillernden Begriff des Gesetzgebungsexperiments dem Bestreben gewichen, ihn verfassungsdogmatisch zu erfassen 130. Jedoch gehen aktuelle Diskussionen über die Gesetzesfolgenabschätzung oder die Befristung von Gesetzen, angeregt durch den Erlaß des Signaturgesetzes im Jahre 1997, in eine vergleichbare Richtung 131. Ob das Gesetzgebungsexperiment eine Flexibilisierung oder gar Relativierung verfassungsrechtlicher Anforderungen erlaubt, ist umstritten. Folgt man der Betrachtung von Jahrreiß, so hat jede Form der Gesetzgebung aufgrund der Ungewißheit des Zukünftigen ein Stück weit experimentellen Charakter 132. Diese Sicht verkürzt das Gesetzgebungsexperiment allerdings auf den Aspekt der Verbesserbarkeit, der allen Gesetzen immanent ist, in dem sich das Wesen eines Gesetzes aber nicht erschöpft 133. Die Aussage führt zu der Frage, ob es eine eigenständige verfassungsrechtliche Kategorie der experimentellen Gesetzgebung bzw. der Versuchsgesetzgebung gibt. Einerseits kann zwar in der Bezeichnung „Versuchsgesetz“ eine beschönigende Beschreibung für unzulängliche und auf fehlerhaften Prognosen beruhende Gesetzgebung erblickt werden, die sich einem an tagesaktuellen Erfordernissen orientierten Pragmatismus unterwirft 134. Die besseren Gründe sprechen aber dafür, das Versuchsgesetz bzw. das Gesetzgebungsexperiment als eine selbständige Rechtsfigur anzuerkennen 135. Dafür streitet, daß in der Gesetzgebungspraxis durchaus der Bedarf besteht, neue und unbekannte Materien zunächst versuchsweise oder zeitlich begrenzt gesetzlich zu regeln 136. Dem würde man durch eine herabgesetzte Kontrollintensität wie bei Prognoseentscheidungen 130 Vgl. H.-D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989; R. Stettner, NVwZ 1989, 806 ff.; ebenso schon Kloepfer, Gesetzgebung (Fn. 129), S. 93 ff. 131 Zur Gesetzesevaluation im Falle des Signaturgesetzes (SignG), mit dem erstmals weitweit die Möglichkeit einer digitalen Signatur für elektronische Dokumente eingeführt wurde, A. Roßnagel, NJW 1999, 1591 (1594 ff.). 132 Vgl. die expressive Formulierung in H. Jahrreiß, Größe und Not der Gesetzgebung, 1953, S. 32: „Das Gesetzgeben ist ein Experimentieren mit Menschenschicksalen: das ist seine Größe und seine Not aus seinem Wesen.“ (Hervorhebg. i. O.) 133 Vgl. Kloepfer, Gesetzgebung (Fn. 129), S. 92. 134 Zurückhaltend M. Kloepfer, VVDStRL 40 (1982), S. 63 ff. (93 ff.); ders., DÖV 1978, 225 (225 f.); ablehnend W. Leisner, DVBl. 1981, 849 (855), allerdings vorrangig mit der Begründung, daß Gesetze von Dauerhaftigkeit sein sollten; C. Pestalozza, NJW 1981, 2081 (2083 f.). 135 BVerfGE 54, 173 (202); 57, 295 (325); 74, 297 (339). – Aus dem Schrifttum auch Kloepfer, Gesetzgebung (Fn. 129), S. 68 ff.; P. J. Tettinger, Rechtsanwendung und gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungsrecht, 1980, S. 301: „Typus der vorläufigen und experimentellen Gesetzgebung“; R. Stettner, NVwZ 1989, 806 (809), der die Eigenständigkeit des Testgesetzes aus dem Gleichgewicht von Prognose und Gegenprognose folgert („defizitäre Prognoselage“); vgl. auch F. Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: Festgabe BVerfG, Bd. 1, 1976, S. 458 (511).

C. Konstellationen erweiterter Gestaltungsfreiheit

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nicht hinreichend gerecht. 136 Der erstgenannten Ansicht ist allerdings zuzugeben, daß sich auch jedes aufgrund einer Fehlprognose erlassene Gesetz zum Test- bzw. Versuchsgesetz umdeuten ließe, womit nichts gewonnen wäre; die Überlegungen machen deutlich, wie eng Versuchsgesetzgebung und Prognoseentscheidung miteinander verwoben sind 137. Das Bundesverfassungsgericht erkennt gesetzgeberische Versuche im Grundsatz an 138. So steht dem Gesetzgeber bei komplexen, in der Entwicklung begriffenen Sachverhalten „ein zeitlicher Anpassungsspielraum“ zu 139. Später hat es „zeitlich und örtlich begrenzte Versuche“ 140 bei der Gesetzgebung für zulässig erachtet, allerdings ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der „Grundrechtsbezug“ bei dieser Versuchsgesetzgebung der gleiche ist wie bei einer definitiven Regelung, so daß insbesondere der Vorbehalt des Gesetzes zu beachten ist 141. Der Gesetzgeber kann aber eine „erheblich größere Gestaltungsfreiheit“ beanspruchen, da solche Versuchsregelungen dem Sammeln von Erfahrungen dienen 142, und zwar in stärkerem Maße als bei Gesetzen ohne experimentellen Charakter; hinzufügen lassen sich noch zwei weitere Argumente: das größere Maß an Unsicherheit im Vergleich zu anderen Gesetzen und die größere Wahrscheinlichkeit einer späteren Änderung 143. Zudem begreift das Bundesverfassungsgericht die Gesetzgebung auch als einen Prozeß von „trial and error“ 144, bei dem – zeitlich begrenzt – Zurückhaltung im Hinblick auf die verfassungsgerichtliche Überprüfung des Gesetzes geboten sein kann 145. So hat es gesetzgeberische Maßnahmen mit experimentellem Charakter (allerdings ohne sie so zu nennen) hingenommen, die sich „an der Grenze 136 Einen Überblick über bisher ergangene Versuchsgesetze, allesamt aus dem Bereich Rundfunk und Telekommunikation, gibt Horn, Experimentelle Gesetzgebung (Fn. 130), S. 34 ff. 137 So Ossenbühl, Tatsachenfeststellungen (Fn. 135), S. 511; auch R. Stettner, NVwZ 1989, 806 (807), der die Versuchsgesetzgebung als „verselbständigte Kategorie prognostizierender Gesetzgebung“ wertet (S. 809). 138 Siehe Fn. 135. 139 BVerfGE 54, 173 (202). 140 BVerfGE 57, 295 (324); in BVerfGE 74, 297 (339) ist die Rede von einer „zeitlich und örtlich begrenzten Erprobungs- und Versuchsregelung“. 141 BVerfGE 57, 295 (324); so auch Kloepfer, Gesetzgebung (Fn. 129), S. 95 f.: grundsätzlich keine verfassungsfreien Räume für Gesetzgebungsexperimente, aber Relativierung der Ermittlungs- und Prognosepflichten. 142 BVerfGE 57, 295 (324); vgl. auch BVerfGE 37, 104 (118), wonach „gröbere Typisierungen und Generalisierungen“ erst dann unzulässig werden, wenn der Gesetzgeber später eine sachgerechtere Lösung unterläßt. 143 So R. Stettner, NVwZ 1989, 806 (811). 144 So R. Stettner, NVwZ 1989, 806 (806); dazu mit weiteren Belegen Horn, Experimentelle Gesetzgebung (Fn. 130), S. 95 ff. 145 BVerfGE 37, 104 (118).

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

des verfassungsrechtlich Zulässigen“ bewegten 146. Dem stehen allerdings auch Entscheidungen gegenüber, in denen dem Gesetzgeber Experimente versagt wurden 147. Geht man mit dem Bundesverfassungsgericht davon aus, daß es einen Typus des Versuchsgesetzes gibt, so ist eine spezifische Versuchssituation zu fordern, um die besondere Privilegierung des Gesetzgebers in Form eines besonders weiten Gestaltungsspielraums zu rechtfertigen. Prüfbare Kriterien für eine solche Konstellation hat das Gericht bisher nicht aufgestellt; Ansätze dazu finden sich vereinzelt im Schrifftum 148.

III. Insbesondere: Prognoseentscheidung und Prognosespielraum Die Thematik der Prognoseentscheidungen begegnet in allen Rechtsbereichen, ist aber vor allem im Zusammenhang mit der Gesetzgebung im wirtschafts- und sozialpolitischen Bereich und bei der Versuchsgesetzgebung von Gewicht. Die besondere Problematik von Prognoseentscheidungen beruht zum einen auf der Ungewißheit künftiger Entwicklungen 149, ihrem Defizit an Rationalität 150 und zum anderen – speziell für den wirtschaftspolitischen Bereich – auf der Komplexität der Materie mit einer Vielzahl von teils gegenläufigen, nur in begrenztem Umfang steuerbarbaren Einflußfaktoren: der Gesetzgeber muß einerseits an die gegenwärtigen Rahmenbedingungen anknüpfen, andererseits soll er sie zugleich zukunftsgerichtet gestalten. Die deutsche Einheit, die wahrscheinlich noch im Oktober 1989 keiner vorauszusagen gewagt hätte, ist dafür ein schlagendes Beispiel. Das Bundesverfassungsgericht hat stets betont, daß der Auffassung des Gesetzgebers über die zu treffenden Maßnahmen besonderes Gewicht zukommt und ihm die Verfassung insoweit einen Beurteilungs- und Einschätzungsspielraum zubilligt 151. Diese Beurteilung ist grundsätzlich auch für das Gericht maßgeDemnach führen Fehlprognosen aufgrund einer unerwarteten wirtschaftlibend. 151

146

Vgl. BVerfGE 16, 147 (188). Darauf verweist Ossenbühl, Tatsachenfeststellungen (Fn. 135), S. 512 mit dem Hinweis auf das erste Abtreibungsurteil (vgl. BVerfGE 39, 1 [60]): dort hatte das Gericht deutlich ausgesprochen, daß Experimente bei dem in Rede stehenden hohen Wert des zu schützenden Rechtsguts (hier: Leben) nicht zulässig sind. 148 Vgl. Kloepfer, Gesetzgebung (Fn. 129), S. 94 ff., der in Anlehnung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz das Vorliegen eines „Testbedürfnisses“ (legitimes Testziel) sowie die „Testgeeignetheit“ und die „Testerforderlichkeit“ verlangt; weitere Ansätze bei R. Stettner, NVwZ 1989, 806 (809 ff.); Horn, Experimentelle Gesetzgebung (Fn. 130), S. 238 ff., 306 ff. 149 Eine eingehende Beschreibung dieser Prognoseunsicherheiten findet sich im Urteil zum Mitbestimmungsgesetz 1976: BVerfGE 50, 290 (331 f.); 150 Ossenbühl, Tatsachenfeststellungen (Fn. 135), S. 501; R. Stettner, NVwZ 1989, 806 (806). 147

C. Konstellationen erweiterter Gestaltungsfreiheit

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chen Entwicklung im Grundsatz nicht zur Verfassungswidrigkeit der Regelung 152. Die Grenze verläuft allerdings dort, wo seine Einschätzung „offensichtlich fehlsam“ ist 153. Notwendig ist allerdings eine sorgfältige Tatsachenermittlung, um den der Prognose eigenen Mangel an Rationalität durch eine möglichst breite Tatsachengrundlage auszugleichen 154. Der Gesetzgeber muß daher alle zugänglichen Erkenntnisquellen ausschöpfen und das erreichbare Material sachgerecht bewerten 155. Erweist sich die Prognose im Nachhinein als falsch, ist der Gesetzgeber gehalten, das Gesetz den neuen Erkenntnissen entsprechend aufzuheben oder nachzubessern 156. Diese Grundsätze erwecken den Eindruck einer durchgehenden Restriktion bei der gerichtlichen Kontrolle von gesetzgeberischen Prognoseentscheidungen 157. Zu deren Überprüfung hat das Bundesverfassungsgericht aber seit geraumer Zeit ein gestuftes Kontrollsystem entwickelt, das dem Gesetzgeber unterschiedlich weite Prognosespielräume beläßt 158. Die Prognosekontrolle reicht dabei von einer weniger strengen Evidenzkontrolle bei außen- oder wirtschaftspolitischen Sachverhalten, über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensiven Inhalts-

151

BVerfGE 25, 1 (12); desweiteren BVerfGE 30, 250 (263) und dazu die Besprechungen von M. Kloepfer, NJW 1971, 1585 ff. und H. Spanner, DÖV 1972, 217 ff.; BVerfGE 30, 292 (317); 99, 367 (389); vgl. desweiteren BVerfGE 77, 84 (106); 103, 293 (307): (besonders weitgehender) Einschätzungs- und Prognosevorrang. 152 Der Gesetzgeber darf davon ausgehen, daß die von ihm gestellten Prognosen eintreten; ein „worst case“-Szenario muß er nicht erstellen, vgl. BVerfGE 50, 290 (332); ferner H. Maassen, NJW 1979 1473 (1477). 153 BVerfGE 30, 292 (317); 77, 84 (106). Maßgebend ist insoweit die subjektive Sicht des Gesetzgebers, was M. Kloepfer, NJW 1971, 1585 (1585 f.) kritisiert: an die Stelle der (objektiven) Geeignetheit einer Maßnahme trete die Einschätzung des Gesetzgebers hierüber; denn selbst wenn die Prognose über die Zukunftsentwicklung richtig sei, folge daraus noch nicht die Zwecktauglichkeit des Mittels, außer man gehe davon aus, der Gesetzgeber wähle stets das als geeignet erkannte Mittel; dazu wiederum kritisch und auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts H. Spanner, DÖV 1972, 217 (219). 154 Allgemein zur Tatsachenermittlung Ossenbühl, Tatsachenfeststellungen (Fn. 135), S. 460 ff.; R. Stettner, NVwZ 1989, 806 (807 f.). 155 BVerfGE 50, 290 (334). 156 BVerfGE 25, 1 (13); 50, 290 (335); auch R. Stettner, NVwZ 1989, 806 (807): „Die sinnvolle Entsprechung von Lebenssachverhalt und rechtlicher Regelung muß gewahrt sein.“ 157 Vgl. dazu nur Ossenbühl, Tatsachenfeststellungen (Fn. 135), S. 502 ff., der aufgrund einer Bestandsaufnahme der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu dem Ergebnis kommt, daß unterschiedlich strenge Anforderungen an Prognoseentscheidungen gestellt werden, je nachdem ob objektivrechtliche Prinzipien, die Freiheitsgrundrechte oder der Gleichheitssatz als Prüfungsmaßstab herangezogen werden; Prognosen im außenpolitischen Bereich unterliegen danach einer bloßen Evidenzkontrolle, wirtschaftslenkende Gesetze und „grundrechtspolitische Gesetze“ dagegen einer weniger strengen Bindung. 158 Vgl. dazu ausführlich BVerfGE 50, 290 (332 f.) mit umfangreichen Rechtsprechungsnachweisen.

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Kap. 2: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers als Topos

kontrolle, etwa im Grundrechtsbereich 159. Nicht zu übersehen ist jedoch, daß das Bundesverfassungsgericht bei Anwendung dieser Kontrollsystematik die Wege, auf denen es zum einschlägigen Maßstab gelangt, nicht immer offenlegt 160. Die Ähnlichkeiten zwischen dem „Prognosespielraum“ auf der einen und der „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ auf der anderen Seite dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um zwei strikt zu trennende Aspekte handelt. Die Gestaltungsfreiheit verweist auf die Frage, ob verfassungsrechtliche Anforderungen flexibler gehandhabt werden können bzw. modifizierbar sind. Beim Prognosespielraum geht es um die Frage, ob, und wenn ja mit welcher Intensität, vom Gesetzgeber prognostizierte Tatsachenverläufe als Grundlage gesetzgeberischer Entscheidungen vom Bundesverfassungsgericht überprüft werden können. Der Prognosespielraum betrifft daher die Tatsachengrundlage, nicht die rechtliche Bewertung.

D. Zusammenfassung Betrachtet man die in diesem Kapitel referierte Rechtsprechung unter typologischen Aspekten, fallen einige Umstände auf, bei deren Vorliegen das Bundesverfassungsgericht von weiten oder erweiterten Gestaltungsspielräumen des Gesetzgebers ausgeht. Das ist etwa der Fall bei einem signifikanten Wandel im Tatsächlichen (z. B. gewandelte Funktion des Kleingartenwesens), vor allem aber bei Ungewißheit über die künftige Entwicklung sowie bei Erfahrungsmangel bzw. bei einem Mangel an besseren Alternativen (z. B. experimentelle Gesetzgebung). Es sind freilich nur Argumentationsgesichtspunkte, an die keine dogmatischen Unterscheidungen anknüpfen. Sie kennzeichnen jedoch auch die Situation, in der sich der Gesetzgeber nach der Vollendung der deutschen Einheit befand. Die Untersuchung hat ferner gezeigt, daß der Terminus der „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ nicht einheitlich gebraucht wird. Unterscheiden lassen sich aber zwei Bedeutungsebenen: die Verwendung im Sinne des Begriffs „Ausgestaltungsbefugnis“ wie etwa bei der Eigentumsgarantie, und die Verwendung als Argumentationsfigur zur Flexibilisierung verfassungsrechtlicher Anforderungen. Im letzteren Sinne impliziert die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit das Problem, daß die Grenze zwischen Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit

159 Hierbei kommt es auch auf die „Wertigkeit“ und „Stärke“ des betroffenen Grundrechts an, ohne daß damit einer „Wertrangordnung der Grundrechte“ das Wort geredet sei, Ossenbühl, Tatsachenfeststellungen (Fn. 135), S. 506 ff.; vgl. auch U. Seetzen, NJW 1975, 429 (431 f.). 160 Das Urteil zum Mitbestimmungsgesetz 1976 (BVerfGE 50, 290 [333]) ist dafür ein anschauliches Beispiel; hier läßt das Gericht offen, ob die Regelung einer bloßen Evidenzkontrolle hätte unterzogen werden können, da sie jedenfalls der Vertretbarkeitskontrolle standhält.

D. Zusammenfassung

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nicht mehr eindeutig definiert werden kann. Das berührt zwar nicht unmittelbar die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung nach Art. 20 III GG, modifiziert aber ihre inhaltlichen Vorgaben. Hinzu kommt, daß das Bundesverfassungsgericht in einzelnen Konstellationen und Lagen (Ungewißheit, Erfahrungsmangel) dem Gesetzgeber einen „weiten“ oder gar „besonders weiten“ Gestaltungsspielraum zugesteht, ohne daß sich die Abgrenzung von der bloßen „Gestaltungsfreiheit“ sicher nachvollziehen läßt. Daß das eine oder das andere gilt, muß man den Karlsruher Richtern glauben oder nicht. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers erweist sich damit als nur schwer zu erfassende Rechtsfigur. Vor diesem Hintergrund werden im folgenden Kapitel drei Judikate des Bundesverfassungsgerichts zu wiedervereinigungsbedingten Rechtsproblemen aus verfassungsrechtlicher Perspektive näher vorgestellt und erörtert: die Altschuldenregelung, die Überführung der DDR-Zusatzversorgungssysteme in die gesetzliche Rentenversicherung der Bundesrepublik und die Schuldrechtsanpassung. In diesen Fallbeispielen wurde die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers gebraucht und zum Teil unter Hinweis auf die Sondersituation der deutschen Einheit noch erweitert. Insbesondere dieser letzte Punkt wirft die Frage auf, ob die durch die Argumentationsfigur mögliche Flexibilisierung verfassungsrechtlicher Vorgaben durch das Hinzutreten besonderer Umstände in der Transformationssituation noch in Richtung einer Relativierung potenziert wird.

Kapitel 3

Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung und ihre Behandlung durch das Bundesverfassungsgericht A. Auswahl und Vorgehensweise Die Fallkonstellationen, die wiedervereinigungsbedingte Rechtsprobleme aufweisen, sind überaus vielgestaltig. Da der überwiegende Teil des erstreckten Bundesrechts mit Überleitungsvorschriften und Sonderregelungen für das Gebiet der neuen Länder versehen wurde, stellen sich transformationsbedingte Rechtsprobleme im Grunde in allen Bereichen der Rechtsordnung. Rechtsprechungsbeispiele lassen sich dementsprechend in großer Anzahl finden 1. Exemplarisch seien für das Verfassungs- und Staatsrecht angeführt die jeweils separate Anwendung der 5 %-Sperrklausel auf die alten bzw. die neuen Länder 2 und die Zuordnung des SED-Parteivermögens 3, für das Strafrecht die Regelungen über den Schwangerschaftsabbruch 4, die Strafbarkeit der „Mauerschützen“ 5 bzw. der DDR-Spione 6 sowie die Strafbarkeit von DDR-Richtern wegen Rechtsbeugung 7,

1

Eine Übersicht der Fälle, die den Weg vor das BVerfG gefunden haben (bis 1994), gibt E. Klein, Deutsche Einigung und Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: J. Ipsen u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 91 ff.; ders., Die verfassungsrechtliche Bewältigung der Wiedervereinigung, in: K. Eckart / J. Hacker / S. Mampel (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands, Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, 1998, S. 417 ff. (424 ff.). 2 BVerfGE 82, 322 (337 ff.); dazu E. Klein, Einigung (Fn. 1), S. 92 f. 3 BVerfGE 84, 290 (297 ff.); zur Problematik H.-J. Papier, VerwArch. 83 (1992), 299 ff. 4 Der Einigungsvertrag (Anlage II Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt I Nr. 1, 4 und 5) ließ die mildere ostdeutsche Regelung zur Schwangerschaftsunterbrechung bis zu einer gesamtdeutschen Neufassung der §§ 218 ff. StGB fortbestehen; dazu BVerfGE 88, 203 (251 ff.); zum Fortbestand der DDR-Fristenlösung M. Sachs, DtZ 1990, 193 ff.; T. H. Strömer, ROW 1991, 11 ff. 5 BVerfGE 95, 96 (127 ff.); dazu kritisch H. Dreier, JZ 1997, 421 ff. m. w. N.; ebenso U. Ebert, Strafrechtliche Bewältigung des SED-Unrechts zwischen Politik, Strafrecht und Verfassungsrecht, in: Festschrift für Ernst-Walter Hanack, 1999, S. 501 (512 ff., insb. S. 528 ff.); ders., Aus Recht wird Unrecht? Deutsche Wiedervereinigung und Strafrecht, in: E. Koch (Hrsg.), 10 Jahre Deutsche Rechtseinheit, 2001, S. 21 ff. (25, 34 ff.); scharf P.-A. Albrecht, NJ 1997, 1 f.

A. Auswahl und Vorgehensweise

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für das Zivilrecht die Altschuldenfrage, die Sachenrechtsbereinigung und die Schuldrechtsanpassung 8, für das Arbeitsrecht (soweit es den Öffentlichen Dienst betrifft) die sog. „Wartenschleifenregelung“ 9 oder die Anwendung der Sonderkündigungstatbestände bei mangelnder persönlicher Eignung bzw. früherer MfSTätigkeit 10, für das Sozialrecht die Rentenüberleitung und für den Bereich des Verwaltungsrechts etwa die Zulässigkeit der Legalplanung bei den Investitionsmaßnahmegesetzen („Südumfahrung Stendal“) 11, die vielgestaltigen Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Vermögensgesetz 12 oder die Thematik der beruflichen 6 BVerfGE 92, 277 (316 ff.) mit abweichendem Sondervotum Klein, Kirchhof und Winter; zur Entscheidung kritisch T. Hillenkamp, JZ 1996, 179 (180 f.); im Vorfeld der Entscheidung eine Strafbarkeit der DDR-Spione verneinend G. Widmaier, NJW 1990, 3169 (3171 f.); H. Rittstieg, NJW 1994, 912 (913); bejahend (aber verbunden mit der Forderung nach Amnestie) B. Simma / K. Volk, NJW 1991, 871 (874 f.); R. Lippold, NJW 1992, 18 (20 ff.). 7 BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1998, 2585 ff.; BVerfGE 101, 275 (288); vorher schon BGHSt 41, 247 ff.; dazu T. Hillenkamp, JZ 1996, 179 (181 f.); A. Eser, in: A. Schönke / H. Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl. 2001, Vorbem §§ 3–7 Rn. 106 f. 8 Zur Sachenrechtsbereinigung: siehe D. I. 3a. 9 BVerfGE 84, 133 (145 ff.); dazu H.-J. Papier, HStR IX, § 213 Rn. 55; H. Wolter, ZTR 5 (1991), 273 (279 ff.); K. J. Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S. 326 ff., 342 ff.; zur Transformation des öffentlichen Dienstes der DDR K. König, DÖV 1992, 550 ff.; aus der Binnensicht auch W. Bernet, DÖV 1991, 185 ff. m. w. N. – Das BVerfG geht in der genannten Entscheidung im Gegensatz zur Lage nach 1945 (vgl. BVerfGE 3, 58 [76 ff.]) von dem Grundsatz aus, daß die Rechtsverhältnisse im öffentlichen Dienst fortbestehen; dazu H. H. Trute, Die Überleitung des Personals der ehemaligen DDR zwischen Kontinuität und Neubeginn, 1997, S. 8 ff.; H. Dreier, Verfassungsstaatliche Vergangenheitsbewältigung, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. 1, 2001, S. 159 ff. (165 ff., insb. 175 f.); D. Merten, Zur Übernahme des Staatspersonals der DDR nach der Wiedervereinigung, in: FS Steinberger, 2002, S. 525 ff. (529 ff.); gleichgelagert BVerfGE 85, 360 (371 ff.) zur Auflösung der Akademie der Wissenschaften der DDR. 10 Zu Kündigungen wegen mangelnder Eignung: BVerfGE 92, 140 (150 ff.) – ehem. Polizeihauptmeister; 96, 152 (162) – Lehrer; 96, 205 (210 ff.) – Hochschullehrer; bestätigend EGMR NJW 2002, 3087 ff.; zu den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen F. Lansnicker / T. Schwirtzek, VIZ 2000, 132 (135); früher bereits dies., DtZ 1993, 361 f.; Trute, Überleitung (Fn. 9), S. 22 ff. – Zur Sonderkündigung wegen MfS-Tätigkeit: BVerfGE 96, 189 (196 ff.); 96, 171 (180 ff.); bestätigend EGMR NJW 2003, 3041 ff.; zur Rechtsprechung des BVerfG F. Lansnicker / T. Schwirtzek, VIZ 2000, 132 (134); kritisch R. Will, NJ 1997, 513 (514 ff.); zur einschlägigen Rechtsprechung des BAG vgl. F. Lansnicker / T. Schwirtzek, DtZ 1993, 106 ff. 11 BVerfGE 95, 1 (14 ff.); vgl. die insgesamt zustimmende Anmerkung von U. Hufeld, JZ 1997, 302 ff.; C. Schneller, Objektbezogene Legalplanung, 1999, S. 46 f.; zum Instrumentarium des Maßnahmegesetzes zur Verwirklichung der Verkehrprojekte „Deutsche Einheit“ kritisch M. Ronellenfitsch, DÖV 1991, 771 (778 ff.); B. Stüer, DVBl. 1991, 1334 (1339 ff.). 12 Zum Restitutionsausschluß nach dem Vermögensgesetz (VermG) durch redlichen Erwerb vgl. BVerfGE 95, 48 (56 ff.); 101, 239 (256 ff.); zu weiteren Einzelfragen vgl. etwa BVerfGE 99, 129 (139 ff.); zur Entschädigung 104, 74 (183 ff.). – Zum Investitionsvorrang-

80

Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

und verwaltungsrechtlichen Rehabilitation von Opfern des DDR-Systems 13. Die einzelnen wiedervereinigungsbedingten Rechtsfragen sind in der (juristischen) Öffentlichkeit mit unterschiedlicher Intensität wahrgenommen und diskutiert worden. Die angeführten Beispiele zählen neben der gesamten Enteignungsproblematik 14 zu den prominenteren Themen, die auch eine eingehende rechtswissenschaftliche Erörterung erfahren haben. Die weniger intensiv diskutierten Fälle, etwa zur Mietpreisbindung in den neuen Ländern 15, zur Anpassung der Zinssätze bei DDR-Kreditverträgen 16, zum Widerruf von Rechtsanwaltszulassungen bei einem Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit, insbesondere bei früherer Tätigkeit für das MfS/AfNS 17 oder zu fortgeltenden Genehmigungen der DDR-Verwaltungsbehörden 18, sind gleichwohl nicht minder bedeutsam und rechtlich interessant. Neben den genannten Themenkomplexen, denen gemein ist, daß sie mit dem Fortschreiten der Zeit mittlerweile als weitgehend abgeschlossen betrachtet werden können und daher bereits eine rückschauende Bewertung erlauben, befinden sich einige Fallkonstellationen noch in der Entwicklung, wie etwa die noch ausstehende (oder in absehbarer Zeit vielleicht gar nicht zu vollziehende) Angleichung der Beamtenbezüge in den neuen Ländern und im Osten Berlins 19.

Gesetz (InvestVG), das eine Durchbrechung des Restitutionsgrundsatzes in § 3 I VermG für besondere Investitionen in den neuen Ländern vorsah W. Försterling, DVBl. 1992, 497 ff. 13 Vgl. dazu H.-J. Papier, HStR IX, § 213 Rn. 18 ff. und 23 ff.; ders. / J. Möller, NJW 1999, 3290 (3295); Dreier, Vergangenheitsbewältigung (Fn. 9), S. 189 f. 14 Zentrales Gesetz hierzu ist das Vermögensgesetz, das den Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“ normiert, aber zugleich Tatbestände für den Ausschluß des Rückübertragungsanspruchs enthält. Die anknüpfende Frage, nach der Entschädigung im Falle des Restitutionsausschlusses regelt das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG); dazu BVerfGE 102, 254 (297 ff.); zum Ganzen aus der Rückschau F. Ossenbühl, HStR IX, § 212 Rn. 89 ff., 100 ff. – Die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage zwischen 1945 und 1949 sind insofern ein Spezialproblem und bilden im Gegensatz zu ihrer medialen Präsenz nicht den Mittelpunkt der Problematik, dazu BVerfGE 84, 90 (117 ff.); 94, 12 (33 ff.); im Vorfeld H.-J. Papier, NJW 1991, 193 (195 ff.). 15 BVerfGE 91, 294 (307 ff.). 16 BVerfGE 88, 384 (401 ff.); zu Teilaspekten der Entscheidung R. Scholz, BB 1993, 1953 (1957); Überblick zu den Regelungen des Zinsanpassungsgesetzes bei H. U. Lellek, DtZ 1991, 368 ff. 17 BVerfGE 93, 213 (235 ff.); zum Ganzen Trute, Überleitung (Fn. 9), S. 39 ff.; Merten, Staatspersonal (Fn. 9), S. 541; auch M. Schröer, DtZ 1992, 178 ff.; C. Roth, Der Weg zu einem einheitlichen anwaltlichen Berufsrecht im wiedervereinigten Deutschland in den Jahren 1990 bis 1994, S. 46 ff. 18 Vgl. J. Dietlein, „DDR-Verwaltungsakte“ vor bundesdeutschen Gerichten, in: Festschrift für Ernst Kutscheidt, 2003, S. 119 ff.; zu atomrechtlichen Genehmigungen H.W. Rengeling, DVBl. 1992, 222 ff. 19 BVerfGE 107, 218 (232 ff.).

A. Auswahl und Vorgehensweise

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Aus der Fülle dieser Konstellationen werden im folgenden nur die Altschuldenproblematik, die Frage der Überleitung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme sowie die Schuldrechtsanpassung behandelt.

I. Abgrenzungskriterium: transformatorischer Wesenszug Das verbindende Charakteristikum dieser drei Fälle besteht darin, daß sie ein spezielles transformatorisches Element aufweisen. Gegenstand der Arbeit ist folglich die transformatorische Gesetzgebungstätigkeit in einem engeren Sinne. Sie umfaßt die Sachverhalte, bei denen eine echte Umwandlung stattgefunden hat und stattfinden mußte, weil das Rechtsinstitut oder die Rechtsposition des DDRRechts in der bundesdeutschen Rechtsordnung keine Entsprechung fand. Die besondere Schwierigkeit dieser Fallkonstellationen bestand darin, ein unbekanntes rechtliches Phänomen in die bundesdeutsche Rechtsordnung zu integrieren. 1. Ausschluß der Fallgruppen, die die bloße Rechtsanpassung betreffen Nicht erörtert werden daher die Fälle, die sich ausschließlich mit bestimmten wiedervereinigungsbedingten Anpassungsproblemen beschäftigen 20. So wurde etwa die Mietpreisbindung für die neuen Länder im Hinblick auf die besondere Situation modifiziert, indem für Mieterhöhungen bestimmte Mindestfristen galten, die deutlich mieterfreundlicher waren als die Fristen im alten Bundesgebiet 21. Die besonderen Umstände, wie etwa das Einkommensniveau oder die Sanierungsbedürftigkeit der Bausubstanz, führten zwar auch hier zu Übergangsproblemen. Diesen Fallkonstellationen fehlt aber der angesprochene transitorische bzw. transformatorische Wesenszug 22.

20 L. Michael, AöR 124 (1999), 583 (592 ff.) faßt diese Fälle unter dem Gesichtspunkt zusammen, daß hier das Bundesverfassungsgericht das Argument des wirtschaftlichen Aufbaus verwendet. 21 BVerfGE 91, 294 (297 f.). 22 Ein Grenzfall ist die Zinsanpassung der sehr günstigen DDR-Baukredite (1–4 % der Kreditsumme) durch das Zinsanpassungsgesetz (BGBl. 1991 I, S. 1314; dazu BezG Gera DtZ 1992, 88 ff.; H. U. Lellek, DtZ 1991, 368 ff.). Es gestattete eine gestufte Anhebung der Zinssätze auf das marktübliche Niveau und war daher Ausdruck des wirtschaftlichen Anpassungsprozesses. Jedoch bedeutete dies, daß der Inhalt des geschlossenen Kreditvertrages nachträglich einseitig geändert wurde – ein Umstand, der im marktwirtschaftlichen Kreditvertragsrecht unüblich ist. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Zinsanpassung eine zulässige Rückwirkung gesehen und sie für verfassungskonform erachtet, vgl. BVerfGE 88, 384 (401 ff.); kritisch im Detail R. Scholz, BB 1993, 1953 (1957).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

2. Ausschluß der Fallgruppen, die die „Vergangenheitsbewältigung“ betreffen Bewußt ausgegliedert werden zudem die Fälle der „Vergangenheitsbewältigung“ 23. Als Ansatzpunkt für diese Abscheidung dient der Begriff des Systemwechsels, der in zeitlicher Perspektive die „juristische Vergangenheit“ von der „juristischen Zukunft“ trennt, ohne daß dem Vergangenen damit die Relevanz für Gegenwart und Zukunft abgesprochen werden soll 24. Der Begriff der Vergangenheitsbewältigung entzieht sich zwar einer genauen Definition. Gleichwohl haben sich drei markante Fallgruppen herausgebildet, die regelmäßig unter dem Aspekt der Vergangenheitsbewältigung diskutiert und dargestellt werden 25. Dazu zählt in erster Linie die strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung wie sie vor allem durch die Mauerschützenprozesse bzw. die Rechtsbeugungsprozesse gegen ehemalige DDR-Richter verkörpert wird; sie ist zugleich eine Aufarbeitung durch die Rechtsprechung und auch aus diesem Grund nicht Gegenstand dieser Arbeit. Eine zweite Gruppe bilden die mit der strafrechtlichen, beruflichen und verwaltungsrechtlichen Rehabilitation bzw. Wiedergutmachung im Zusammenhang stehenden Rechtsfragen, die dritte Gruppe umfaßt die Fälle der Restitution von entzogenen Vermögenswerten bzw. der Entschädigung. Alle drei Komplexe bezeichnen typische Erscheinungen im Zuge eines Systemwechsels, die in ähnlicher Form bereits nach dem Ende des Nationalsozialismus 1945 zu verzeichnen waren. Sie sind somit kein spezifisches Phänomen des ostdeutschen Transformationsprozesses. Wenngleich diese Fallgruppen nicht Gegenstand der Arbeit sind, bilden sie doch eine Vergleichsfolie für die zu untersuchenden Entscheidungen. Vor allem die beiden Bodenreform-Urteile 26 enthalten wichtige Ausführungen zur gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit im Bereich der Wiedergutmachung und zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Wiedergutmachungsgedankens. Die zahlreichen Eigentumsentziehungen in der sowjetischen Besatzungszone und der späte-

23 Vergangenheitsbewältigung umfaßt nicht nur die juristische Aufarbeitung von staatlichem Unrecht, sondern auch die politische, soziologische oder kulturelle Bewältigung, die manchem im Vergleich zur allein juristischen mit Recht wünschenswerter erscheint. Bei den „deutschen“ Umbrüchen, nach 1945 und nach 1989, stand jeweils die juristische Vergangenheitsbewältigung im Vordergrund; dazu kritisch B. Schlink, NJ 1994, 433 (433 ff.); P.-A. Albrecht, NJ 1997, 1 (2). Ein Beispiel für politische bzw. gesellschaftliche Vergangenheitsbewältigung ist die sog. „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ in Südafrika, die sich mit dem Unrecht des Apartheid-Regimes auseinanderzusetzen hatte; vgl. dazu deren Abschlußbericht bei J. Braun (Hrsg.), Versöhnung braucht Wahrheit: der Bericht der südafrikanischen Wahrheitskommission, 1999. 24 H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 31; H. Schulze-Fielitz, DVBl. 1991, 893 (896). 25 Vgl. Dreier, Vergangenheitsbewältigung (Fn. 9), S. 176 ff.; J. Isensee, HStR IX, § 202 Rn. 133 ff.; H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 31 ff. 26 BVerfGE 84, 90 ff.; 94, 12 ff.; dazu mit zeitlichem Abstand K. J. Grigoleit, Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S. 347 ff., 362 ff.

A. Auswahl und Vorgehensweise

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ren DDR warfen nach der deutschen Einheit und der Wiedererlangung der vollen Souveränität die Frage auf, ob diese Eingriffe rückgängig zu machen oder zu entschädigen sind. Die von beiden Regierungen abgefaßte „Gemeinsame Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen“, die gem. Art. 41 I EinigungsV Bestandteil desselben war, traf eine differenzierte Regelung, die die wichtigsten Eckwerte festlegte, die endgültige Ausgestaltung aber einer gesetzlichen Bestimmung vorbehielt 27. Danach war enteignetes Grundvermögen grundsätzlich zurückzugeben, wenn nicht im einzelnen geregelte Gründe oder Sachzwänge eine Rückübertragung ausschlossen; in diesen Fällen sollten Entschädigungs- oder Ausgleichsleistungen für eine Wiedergutmachung sorgen (Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“). Der umstrittenste Komplex hieraus betraf die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949) 28 in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der späteren DDR, die laut der Gemeinsamen Erklärung der beiden deutschen Regierungen nicht mehr rückgängig gemacht werden durften. Diese Übereinkunft fand ihren Niederschlag in dem neu in das Grundgesetz eingefügten Art. 143 III GG. Mit hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerden machten zahlreiche Alteigentümer von Grundstücken geltend, das durch Art. 143 III GG bewirkte „Revisionsverbot“ 29 verstoße unter anderem gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG. Da Art. 143 III GG diese Eingriffe rechtfertigte, konnte eine Eigentumsverletzung nur dann bejaht werden, wenn diese Verfassungsänderung selbst wegen Unvereinbarkeit mit der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III nichtig war. Das befaßte Bundesverfassungsgericht hat die Enteignungen folglich nicht an der Eigentumsgarantie geprüft 30. Unmittelbar verwertbare Ausführungen zur gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit bei Art. 14 GG oder Art. 3 I GG enthalten die beiden einschlägigen Entscheidungen daher nicht. Allerdings finden sich Hinweise zum Umfang der Gestaltungsfreiheit bei der Prüfung, ob die Enteignungen unter dem Gesichtspunkt des nachträglichen Ausgleichs früheren Unrechts gegen die Ewigkeitsgarantie verstoßen. Dabei kommt der Senat zunächst zu dem Ergebnis, daß eine Rückgabe der entzogenen Objekte

27 Zum folgenden H.-J. Papier, HStR IX, § 213 Rn. 27; ders. / J. Möller, NJW 1999, 3290 (3296). 28 Überblick über die Fallkonstellationen bei H.-J. Papier, NJW 1991, 193 (194 f.). 29 Begriff bei E. Schmidt-Jortzig, Rechtsstaatlich angemessener Ausgleich für die sog. „Alt-Eigentümer 1945/49“, in: J. Ipsen u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 207 ff. (219), mit dem zutreffenden Hinweis, daß der gebräuchliche Terminus „Restitutionsausschluß“ in der Sache nicht richtig sei, da es gerade nicht um Restitution, also um die Wiederherstellung des alten Zustands (rechtliche Unmöglichkeit), sondern allenfalls um die Überprüfung oder Neubewertung der Konfiskationen gehe. Dies sollte durch die Gemeinsame Erklärung unterbunden werden. 30 BVerfGE 84, 90 (118) und noch deutlicher BVerfGE 94, 12 (34): „Insbesondere scheiden Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 GG als unmittelbar anwendbarer Maßstab aus.“

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

ausscheidet. Da die „Gemeinsame Erklärung“ lediglich die Rückgängigmachung der Enteignungen im Sinne einer nachträglichen Inanspruchnahme der Sowjetunion ausschloß, nicht aber einen vermögenswerten Ausgleich für die erlittenen Beeinträchtigungen durch die Bundesrepublik 31, stand sodann die Frage nach einer Pflicht des Gesetzgebers zu einer angemessenen Wiedergutmachung im Raum. Das Bundesverfassungsgericht bemerkt dazu, daß dem Gesetzgeber bei der Regelung der Wiedergutmachung früheren, von einer fremden Staatsgewalt zu verantwortenden, Unrechts „schon allgemein ein besonders weiter Gestaltungsspielraum“ zusteht 32. Grund hierfür ist, daß der Gedanke der Wiedergutmachung gerade nicht in einem einzelnen Grundrecht (Eigentumsgarantie) wurzelt, aus dem sich subjektive Ausgleichsansprüche ableiten ließen, sondern in erster Linie aus dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip sowie den Grundelementen des Gleichheitssatzes 33. Dieser Gestaltungsspielraum bezieht sich sowohl auf die Art der Wiedergutmachung (Rückgabe, Entschädigung, Ausgleich), als auch auf die Höhe von Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen. Eine Pflicht zur Wiedergutmachung ist nur unter dem Aspekt der Gleichbehandlung (nicht des Eigentumsschutzes) möglich, dann aber auch geboten 34. Diese Rechtsprechung hat das Gericht dann in der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetzes (EALG),

31 Zur Unterscheidung von Unrecht und Unrechtsfolgen J. Ipsen, Die rechtliche Bewältigung von Unrechtsfolgen des DDR-Regimes, in: J. Ipsen u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 65 ff. (72 ff., insb. S. 74). 32 BVerfGE 84, 90 (126) mit Verweis auf die eigene Rechtsprechung zu den Kriegsfolgeschäden in BVerfGE 13, 39 (43); 27, 253 (270, 283); 41, 126 (150, 153). 33 BVerfGE 84, 90 (126 f.); 94, 12 (34); ebenso die h. M.: stellvertretend H.-J. Papier, Eigentumsrechtliche Probleme in den neuen Ländern, in: J. Ipsen u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 147 ff. (154); ders., NJW 1991, 193 (195); M. Heintzen, DÖV 1994, 413 (416 f.); O. Depenheuer / B. Grzeszick, NJW 2000, 385 (386); a. A. O. Kimminich, Auswirkungen des Einigungsvertrages auf die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes, in: J. Ipsen u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 75 ff. (81 f.): alle Maßnahmen des Gesetzgebers zur Wiederherstellung einer grundgesetzkonformen Eigentumsordnung sind an Art. 14 GG zu messen; zusammenfassend Dreier, Vergangenheitsbewältigung (Fn. 9), S. 186 m. w. N. 34 BVerfGE 84, 90 (128); ebenso F. Ossenbühl, Verfassungsrechtliche Vorgaben für Entschädigungs- und Ausgleichsleistungen für Enteignungen in der früheren SBZ/DDR, in: J. Ipsen u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 129 ff. (135). – Im konkreten Fall sah es der Senat als mit dem Gleichbehandlungsgebot unvereinbar an, daß die Gemeinsame Erklärung für entschädigungslose Enteignungen nach den Nr. 3 ff., eine Rückgabe der entzogenen Objekte, jedenfalls aber eine Entschädigung vorsah, jedoch für die Enteignungen nach Nr. 1 (Enteignungen auf besatzungsrechtlicher Grundlage 1945 bis 1949) keinerlei Ausgleichsleistung vorgesehen waren. Das führte jedoch nicht zur Verfassungswidrigkeit des Art. 143 III GG, weil eine der Rechtsgleichheit genügende Ausgleichsregelung auch nachträglich getroffen werden konnte. Das ist dann mit dem Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG) geschehen; vgl. zusammenfassend H. Schulze-Fielitz, DVBl. 1991, 893 (903 f.).

A. Auswahl und Vorgehensweise

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das ein umfassendes Entschädigungskonzept für alle Enteignungsformen enthielt, fortgeführt 35. Prüfungsmaßstab für das komplexe Regelungssystem des EALG war Art. 3 I GG, wobei der Senat betont, daß dem Gesetzgeber im Bereich der Wiedergutmachung seit jeher ein besonders weites Beurteilungsermessen zusteht, das dem Gesetzgeber lediglich die willkürlich ungleiche Behandlung von Sachverhalten verbietet 36. Teilweise werden noch andere als die genannten Teilbereiche dem Komplex der Vergangenheitsbewältigung zugeordnet. Das soll etwa auch für die Behandlung der Zusatzversorgungsrenten oder -anwartschaften ehemaliger staatlicher Funktionsträger gelten 37. Zwar ist diesen unter dem Stichwort der „personalen Vergangenheitsbewältigung“ diskutierten Fällen das Element der Unrechtsaufarbeitung nicht fremd, da Unrecht immer auf Personen zurückgeht, die es ausüben. Der wesentliche Unterschied zu den Mauerschützenfällen oder auch zur Problematik der Sonderkündigungstatbestände wegen MfS-Tätigkeit besteht jedoch darin, daß die mögliche Sanktion – die Beschränkung des Rentenanspruchs – keine Begehung von Unrecht voraussetzt, sondern lediglich an die Tätigkeit oder die Stellung der jeweiligen Person im Staatsapparat der DDR anknüpft 38. Das markiert zugleich die besondere Brisanz der Thematik. Die Behandlung der sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche aus Zusatzversorgungssystemen sollte daher nicht der Vergangenheitsbewältigung zugeschlagen werden.

II. Vorgehensweise Die drei zu erörternden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts repräsentieren jeweils ein Sachgebiet der Rechtsanpassung, können aber selbstverständlich nicht alle Problembereiche abdecken. Die Darstellung folgt einem einheitlichen Schema. Zunächst wird die Ausgangslage nachgezeichnet, die der Gesetzgeber nach der Wiedervereinigung vorfand, sodann wird die Überführung der jeweiligen Rechtsposition in die bundesdeutsche Rechtsordnung geschildert. Schwerpunkt der Erörterung ist die Darstellung und Bewertung der einschlägi-

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BVerfGE 102, 254 (298 f.). BVerfGE 102, 254 (299); zustimmend K.-A. Schwarz, JZ 2001, 319 (322 f.). 37 So J. Isensee, HStR IX, § 202, Rn. 147 ff. (insb. 152 ff.); H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 47 m. w. N.; M. Heintzen, VSSR 1995, 1 (3). 38 Daher erscheint die Zuordnung des gesamten Komplexes der Übernahme bzw. Entlassung von staatlichem Personal zur Vergangenheitsbewältigung fraglich: Die „Warteschleifenregelung“ etwa traf angesichts der erheblichen personellen Überbesetzung des DDR-Staatsapparates auch den „kleinen Angestellten“, der in keiner Weise systemstützend tätig geworden ist; für die Warteschleifenregelung in Art. 20 i. V. m. Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 EinigungsV waren vorrangig Kapazitätserwägungen maßgeblich, anders wohl L. Michael, AöR 124 (1999), 583 (589). Für die Sonderkündigungstatbestände wegen Stasi-Mitarbeit ist die Zuordnung hingegen gerechtfertigt. 36

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

gen bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung. Bei der Bewertung liegt das Augenmerk darauf, ob und wie die Probleme des Überleitungsrechts mit dem im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Instrument der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit gelöst wurden.

B. Die Altschuldenfrage Eine der bedeutendsten und daher umstrittensten Fragen, die die Wiedervereinigung aufwarf, war die sog. „Altschuldenfrage“, in der es darum ging, ob Staatsbankkredite, die im Rahmen des planwirtschaftlichen Wirtschaftskreislaufs an Betriebe und Genossenschaften zwangsweise vergeben und ausgezahlt worden waren, nach der Wiedervereinigung und der Einführung der Marktwirtschaft an die Kreditinstitute, die die Verbindlichkeiten übernommen hatten, zurückgezahlt werden mußten. Von dieser Problematik war im Grunde die gesamte noch bestehende DDR-Wirtschaft betroffen. Eine vollständige Entschuldung aller Betriebe stieß vor allem unter dem Gesichtspunkt der Finanzierbarkeit auf Ablehnung. Ein Fortbestand der Altverbindlichkeiten war für die meisten Betriebe – neben den Absatzschwierigkeiten auf dem heimischen Markt und dem Zusammenbruch der Handelsbeziehungen mit der Sowjetunion durch die Einführung der D-Mark – ein zusätzliches Hindernis auf dem Weg in die Marktwirtschaft. Die Entscheidung für die eine oder die andere Alternative hatte aus damaliger Sicht also Grundsatzcharakter für die wirtschaftliche Entwickung in den neuen Ländern. Der Gesetzgeber hat sich schließlich für einen Mittelweg entschieden: Fortbestand der Altschulden mit begrenzter Entschuldungsmöglichkeit. Bevor die dazu ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts besprochen wird (II), ist zu beschreiben, welche Funktion die staatlichen Kredite im Rahmen der DDR-Planwirtschaft einnahmen, und wie sie nach dem wirtschaftlichen Systemwechsel juristisch beurteilt wurden (I).

I. Die Staatskredite vor und nach der deutschen Einheit In dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall ging es um die LPG (T) 39 „Einheit“ Schlanstedt, die zu DDR-Zeiten staatliche Kredite für Grundund Umlaufmittel im Wert von ca. 2,8 Mio. DM von der Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft (BLN) 40 erhalten hatte und sich nun Rückzahlungsansprüchen seitens der Rechtsnachfolgerin der BLN ausgesetzt sah. Wie alle 39

Das Kürzel (T) steht für „Tierproduktion“, (P) entsprechend für „Pflanzenprodukti-

on“. 40

Die BLN fungierte als „Organ des Minsterrates“ und war bei ihrer Aufgabenerfüllung an die Beschlüsse der „Partei der Arbeiterklasse“ (SED) gebunden (§ 1 Statut der BLN, erlassen durch Beschluß des Ministerrates vom 23. 10. 1975 [GBl. I DDR, S. 692]); damit

B. Die Altschuldenfrage

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zwischenzeitlich in Kapitalgesellschaften umgewandelten Betriebe mußte auch die LPG eine Eröffnungsbilanz nach § 16 III DMBilG 41 erstellen, die aufgrund der Verbindlichkeiten aus den Staatskrediten negativ ausfiel. Im anschließenden Gesamtvollstreckungsverfahren bestritt der Gesamtvollstreckungsverwalter das Bestehen von Rückzahlungsansprüchen aus diesen Krediten. Die zentrale Frage war, ob die unter planwirtschaftlichen Bedingungen ausgereichten „Kredite“ rückzahlbare Darlehen im Sinne des § 607 a. F. BGB waren oder ob es sich – in den Kategorien der bundesdeutschen Rechtsordnung – eher um „verlorene Zuwendungen“ 42 handelte. 1. Die Wandlung vom sozialistischen zum marktwirtschaftlichen Kredit In der sozialistischen Planwirtschaft der DDR war der ganz überwiegende Teil wirtschaftlicher Betätigung der staatlichen Planung und Lenkung unterworfen 43. Zentrales Instrument hierfür war der Plan, auf der gesamtstaatlichen Ebene in Gestalt des zentralen Jahresvolkswirtschaftsplans, in den einzelnen Wirtschaftszweigen in Gestalt der jeweiligen Einzelpläne. Maßgebliches Kriterium für die Planerstellung war der Bedarf der Bevölkerung an bestimmten Produkten 44, nicht etwa wie in der marktwirtschaftlichen Ordnung Angebot und Nachfrage. Auf der Grundlage des ermittelten Bedarfs wurden Art und Umfang der Produktion, der Absatz der Erzeugnisse und die Preise festgesetzt. Die Wirtschaftseinheiten (volkseigene Betriebe und Kombinate sowie Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) galten zwar als rechtlich selbständige Wirtschaftsrechtssubjekte 45, sie waren aber streng an die staatlichen Planvorgaben gebunden, so daß außerhalb der planwirtschaftlichen Mechanismen kein „freies“ Wirtschaften mög-

entsprach sie kaum dem in der Bundesrepublik geläufigen Begriff einer „Bank“, so auch A. v. Brünneck, NJ 1996, 181 (181 f.). 41 BGBl. 1990 II S. 1169. 42 Den Begriff verwenden P. Hommelhoff / O. Habighorst, ZIP 1992, 665 (669). 43 Zum Wirtschaftssystem der DDR allgemein: H. Richter u. a. (Hrsg.), Politische Ökonomie des Kapitalismus und des Sozialismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium, 1988; W. Ehlert u. a. (Hrsg.), Wörterbuch der Ökonomie – Sozialismus, Neuausgabe 1989, Stichworte „sozialistische Planwirtschaft“ (S. 845 ff.), „Staatliche Plankommission“ (S. 876 ff.), „Volkswirtschaftplanung“ (S. 991 f.), „politische Ökonomie“ (S. 732 ff.), „ökonomisches Grundgesetz des Sozialismus“ (S. 687 f.), „Produktionsverhältnisse“ (S. 760 ff.); aus ex-post-Perspektive G. Pflicke / E. Süß, Wirtschaftsrecht, in: U.-J. Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR, 1995, S. 427 ff.; Überblick auch bei W. Vogler, DWiR 1991, 303 (303 f.); G. Brunner, HStR 3 I, § 11 Rn. 34. 44 Ehlert, Ökonomie (Fn. 43), Stichworte „Bedarf“ (S. 133 ff.), „Bedarfsermittlung“ (S. 135), „Bedarfslenkung“ (S. 135). 45 H. P. Westermann, Die Altschulden aus dem volkseigenen Wohnungsbau, 1994, S. 46, 48 f.

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

lich war 46. Folglich fand auch kein Wettbewerb um Marktanteile statt; ein Konkurs war faktisch ausgeschlossen. In diesem volkswirtschaftlichen Rahmen war die staatliche Kreditvergabe ausschließlich auf die Erfüllung der staatlichen Pläne ausgerichtet 47. Sie fand ihre rechtliche Grundlage in der Kreditverordnung vom 28. Januar 1982 (KreditVO) 48. Den Betrieben wurden vom Staat über das staatliche Bankensystem 49 Kredite ausgereicht, ohne daß die Betriebe über die Kreditaufnahme frei entscheiden konnten. Die Notwendigkeit zur Aufnahme von Krediten ergab sich zum einen zwingend aus den Planvorgaben (sog. Prinzip der Zwangskreditierung) 50, zum anderen mußten alle erwirtschafteten Gewinne – auch überplanmäßige – an den Staatshaushalt abgeführt werden, so daß die Betriebe über eigene Mittel nicht verfügten und Rücklagen nicht bilden konnten (sog. Prinzip der knappen Dotierung). Die Staatskredite wurden folglich in untrennbarer Einheit mit dem Plan gewährt. Darüber hinaus dienten sie als Stimulierungs- und Kontrollinstrument 51. Mit dem Übergang zur Marktwirtschaft wurde die Altschulden-Frage zu einem der drängendsten Probleme der Wiedervereinigung. Eine ausdrückliche Regelung wurde gleichwohl nicht getroffen 52. Lediglich einzelne Vorschriften nahmen auf „Verbindlichkeiten“ Bezug: Der Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. Mai 1990 (Staatsvertrag) 53 regelte in Art. 7 § 1 I die Umstellung der vor dem 1. Juli 1990 begründeten und auf Mark der

46 Die Betriebe konnten zwar untereinander sog. „Wirtschaftsverträge“ abschließen. Diese dienten aber nicht dem privatautonomen Wirtschaften, sondern waren ein „Instrument zur Durchführung und Erfüllung des Plans“; vgl. Ehlert, Ökonomie (Fn. 43), Stichwort „Wirtschaftsvertrag“ (S. 1038 f.); auch W. Vogler, DWiR 1991, 303 (304); H. Oetker, Wirtschaftsverträge in der DDR, in: E. Koch (Hrsg.), 10 Jahre Deutsche Rrchtseinheit, 2001, S. 131 ff. (132 f.). 47 Vgl. W. Ehlert / D. Hunstock / K. Tannert (Hrsg.), Geld und Kredit in der DDR, 1985, S. 56 ff. (bewußt planmäßige Ausnutzung des sozialistischen Kredits); Richter, Politische Ökonomie (Fn. 43), S. 827 ff.; Ehlert, Ökonomie (Fn. 43), Stichwort „Kredit“ (S. 537 f.). 48 GBl. DDR I, S. 126. 49 Vereinfachtes Schema des Bankensystems bei W. Hankel, DWiR 1992, 32 (34). 50 Dazu und zum folgenden: W. Vogler, DWiR 1991, 303 (303 f.); P. Hommelhoff / O. Habighorst, ZIP 1992, 665 ff.; K. Lorenz / H. Braun, DtZ 1994, 165 (166); für den Bereich der Wohnungswirtschaft W. Harms, Alt-Verpflichtungen aus dem volkseigenen Wohnungsbau, 1992, S. 77 ff.; Westermann, Altschulden (Fn. 45), S. 39. 51 Näher dazu W. Vogler, DWiR 1991, 303 (305); A. v. Brünneck, NJ 1996, 181 (182). 52 Zur Entwicklung H. Matthiessen, Die DDR-Staatsbankkredite als Rechtsproblem der deutschen Einheit, 1994, S. 127 ff.; P. Hommelhoff / O. Habighorst, ZIP 1992, 665 (670 ff.). 53 BGBl. II S. 537; dazu K. Stern / B. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit Vertragsgesetz, Begründung und Materialien, 1990.

B. Die Altschuldenfrage

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DDR lautenden „Verbindlichkeiten“ im Verhältnis 2:1. Der Einigungsvertrag behandelte das Problem nur mittelbar im Zusammenhang mit Regelungen über das Treuhandvermögen: Art. 25 III 3, 4 EinigungsV sahen die Möglichkeit vor, Erlöse der Treuhandanstalt für „Entschuldungsmaßnahmen“ zugunsten landwirtschaftlicher Unternehmen zu verwenden; Art. 25 VII EinigungsV nahm auf vor der Währungsunion aufgenommene Kredite insofern in Bezug, als er bestimmte, daß Zins- und Tilgungsleistungen bis zur Feststellung der DM-Eröffnungsbilanz auszusetzen waren. Der durch den Einigungsvertrag in das EGBGB eingefügte Art. 232 § 1 sah vor, daß alle Schuldverhältnisse, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts entstanden waren, nach DDR-Recht zu behandeln sind, und zwar auch dann, wenn die Weitergeltung des DDR-Rechts nicht im Einigungsvertrag angeordnet wurde 54. So blieb zunächst unklar, ob die Altverbindlichkeiten mit der DDR untergegangen waren oder ob sie fortbestanden. Das Offenlassen der Altschuldenfrage führte dann auch zu einer lebhaften Debatte, vor allem in der zivilrechtlichen Literatur (dazu 3.), und zu einer uneinheitlichen Rechtsprechung der befaßten Zivilgerichte. 2. Behandlung durch die Zivilgerichte Das mit dem hier in Rede stehenden Ausgangsfall befaßte Kreisgericht Magdeburg gab der Klage der Rechtsnachfolgerin, der DG-Bank, in erster Instanz in vollem Umfang statt. Das Bezirksgericht Magdeburg als Berufungsgericht änderte diese Entscheidung ab und sprach der Bank mit einer vielbeachteten Begründung nur einen Teil der eingeklagten Summe zu 55. Die Umstellung des Wirtschaftssystems hat danach zwar nicht zu einer Befreiung der LPG von der Rückzahlungspflicht geführt; die Bank muß sich jedoch die durch die LPG vorgenommenen Gewinnabführungen an den DDR-Staatshaushalt anrechnen lassen. Eine Sichtweise, die das Kreditverhältnis zwischen LPG und Bank rein abstrakt betrachtet und die Einbettung in das System der Staatswirtschaft nicht berücksichtigt, wird der tatsächlichen Situation nicht gerecht. Für diese besondere Situation stehen weder gesetzliche Regelungen noch richterrechtlich erarbeitete Grundsätze zur Verfügung 56, so daß die Lösung im Wege der Rechtsfortbildung zu suchen ist 57. Deren Basis ist die Vermutung, daß alle zum 1. Juli 1990 bestehenden

54 Das gilt z. B. für die KreditVO, die im Zuge der Umsetzung des Staatsvertrages zur Währungsunion aufgehoben und demnach nicht in die Anlage II des Einigungsvertrages aufgenommen wurde, vgl. BezG Magdeburg ZIP 1992, 1800 (1801 f.). 55 BezG Magdeburg ZIP 1992, 1800 ff. mit Anmerkung J. Kohler. 56 BezG Magdeburg ZIP 1992, 1800 (1805). 57 BezG Magdeburg ZIP 1992, 1800 (1804 ff.). Das Gericht läßt aber offen, welches Rechtsinstitut das Erlöschen der Rückzahlungsforderungen bewirken soll. Angenommen wurde, das Gericht habe mit den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach § 242 BGB operiert, so J. Kohler, ZIP 1992, 1806 (1806). – Ob die politische und wirtschaft-

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

Verbindlichkeiten auf dem Prinzip der staatlichen Planwirtschaft beruhten. Mit deren Zusammenbruch und dem nunmehr bestehenden Insolvenzrisiko für die LPG sei auch die Grundlage dafür entfallen, die systembedingten Folgen der Planwirtschaft, sprich die durch Zwangskreditierung eingetretene Verschuldung, hinzunehmen. Der BGH hat das Urteil im Wege der Revision aufgehoben und das erstinstanzliche Urteil in vollem Umfang wiederhergestellt. Der planwirtschaftliche Kredit habe sich zwar grundlegend von einem Darlehen nach § 607 a. F. BGB unterschieden, das führe aber nicht zum Untergang der Verbindlichkeiten 58. Der Einigungsvertragsgesetzgeber sei vom Fortbestand der LPG-Altkredite ausgegangen 59. Der vom BezG Magdeburg vorgenommene Abzug der Gewinnabführungen war danach unzulässig, da ein Rückgriff auf die Grundsätze des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (§ 242 BGB) nur in Betracht kommt, wenn eine einschneidende Änderung der Verhältnisse die Fortsetzung des Vertrages für eine Partei unzumutbar macht. Eine solche gravierende Änderung hat die Umstellung des Wirtschaftssystems nach Ansicht des BGH aber gerade nicht bewirkt 60. Im übrigen stelle sich dieses Problem für alle Betriebe der ehemaligen DDR-Volkswirtschaft, so daß die Frage nur vom Gesetzgeber beantwortet werden könne. Dieser habe das Problem auch nicht übersehen, sondern sich für den Fortbestand der Altschulden mit Entlastungsmöglichkeiten für sanierungsfähige Betriebe entschieden 61. Gegen dieses letztinstanzliche Urteil hat der Gesamtvollstreckungsverwalter der LPG schließlich Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben. 3. Zivilrechtliche Diskussion Während sich Stellungnahmen aus verfassungsrechtlicher Sicht nur vereinzelt finden 62, wurde die Thematik zivilrechtlich eingehend erörtert. Die wohl über-

liche „Wende“ in der DDR einen neuen Anwendungsbereich des Wegfalls der Geschäftsgrundlage eröffnet hat, war umstritten; stellvertretend für die zahlreichen Stellungnahmen J. Prölss / C. Armbrüster, DtZ 1992, 203 ff. (verneinend) und J. Drexl, DtZ 1993, 194 ff. (bejahend). 58 BGHZ 124, 1 ff. (= JZ 1994, 301 ff.); vgl. dazu die Anmerkungen von R. Scholz (JZ 1994, 304 f.) und H. P. Westermann (DZWir 1994, 67 ff.). 59 BGHZ 124, 1 (4 f.); der Bundesgerichtshof folgert dies aus der Zusammenschau von Anlage I Art. 7 § 1 I StaatsV, Art. 25 VII 1 EinigungsV, § 56e DMBilG, § 24 DMBilG, § 1 I ZinsanpassungsG sowie den Vorschriften im AltschuldenhilfeG und in der fortgeltenden EntschuldungsVO der DDR, die allesamt den Fortbestand der Altschulden voraussetzten. Diese Begründungslinie hat der BGH inzwischen fortgeführt: BGHZ 127, 212 (215 ff.); 131, 44 (49). 60 BGHZ 124, 1 (8). 61 BGHZ 124, 1 (9). 62 Ausnahmen sind R. Scholz, BB 1993, 1953 (1957 ff.); P. Hommelhoff / C. Schubel / W. Spoerr, ZIP 1995, 1495 ff.; A. v. Brünneck, NJ 1996, 181 ff. – Nach dem „Altschulden“-

B. Die Altschuldenfrage

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wiegende Ansicht ging vom Fortbestand der Altschulden aus 63. Die einschlägigen Vorschriften der Staatsverträge (Art. 7 § 1 I StaatsV; Art. 25 VII EinigungsV) als auch die später erlassenen Regelungen zur Entschuldung (§ 24 DMBilG) könnten sinnvollerweise nur so verstanden werden, daß sie von einer Haftungskontinuität ausgingen 64. Nur diese Beurteilung werde dem Ziel gerecht, die DDR-Rechtsordnung in das gesamtdeutsche Rechtssystem zu überführen, da ein Erlöschen der Verbindlichkeiten die Verantwortungsstrukturen der Zentralverwaltungswirtschaft gerade wiederhergestellt hätte 65. Die Staatskredite erfüllten des weiteren die Voraussetzungen eines Darlehens im bürgerlich-rechtlichen Sinne, da sie trotz der Verschiedenheit der Wirtschaftssysteme die gleichen rechtlichen Wesensmerkmale aufwiesen wie marktwirtschaftliche Darlehen: Überlassung von Kapital an ein Unternehmen auf bestimmte Zeit, Übergang der Rechtsinhaberschaft und der Verfügungsmacht über den Kredit 66 sowie hinreichende Selbständigkeit des Kreditnehmers, auch wenn die „Wirtschaftsrechtsfähigkeit“ der LPG von der unbeschränkten Rechtsfähigkeit nach bürgerlichem Recht weit entfernt war. Die besonderen Merkmale der Staatskredite, etwa ihre Zweckbindung und ihr Einsatz als Kontroll- und Stimulierungsinstrument, stehen danach dem marktwirtschaftlichen Darlehensbegriff nicht grundsätzlich entgegen 67. Diese Betrachtung beschränkte den Blick freilich auf die rechtliche Konstruktion und ließ die Einbettung in das planwirtschaftliche System unbeachtet. Eine Reihe von Autoren war daher der vorzugswürdigen Ansicht, eine Qualifizierung der Staatskredite als Darlehen sei nicht möglich 68. Zwar weisen beide Institute der äußeren Form nach gewisse Ähnlichkeiten auf, in der Sache entscheidend ist aber die untrennbare Verknüpfung des sozialistischen Kredits mit der Pflicht zur Planerfüllung 69. Der Kredit fungierte als Mittelzuweisung innerhalb der Rechts-

Urteil des BVerfG vor allem H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 28 ff. (zum Aspekt der Gestaltungsfreiheit); kritisch R. Will, Die deutsche Wiedervereinigung und das Grundgesetz – Die Verfassung als Maßstab für die ostdeutsche Systemtransformation, in: J. J. Hesse / G. F. Schuppert / K. Harms (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, 1999, S. 117 ff. (128 ff.). 63 So P. Hommelhoff / O. Habighorst, ZIP 1992, 665 (673); P. Hommelhoff / O. Habighorst / C. Schubel / W. Spoerr, ZIP 1993, 1353 (1357); Matthiessen, DDR-Staatsbankkredite (Fn. 52), S. 149; H. P. Westermann, DZWir 1994, 67 (69). 64 P. Hommelhoff / O. Habighorst, ZIP 1992, 665 (670 ff.); P. Hommelhoff / O. Habighorst / C. Schubel / W. Spoerr, ZIP 1993, 1353 (1357); K. Lorenz / H. Braun, DtZ 1994, 165 (167). 65 So H. P. Westermann, DZWir 1994, 67 (69). 66 P. Hommelhoff / O. Habighorst, ZIP 1992, 665 (674). 67 P. Hommelhoff / O. Habighorst, ZIP 1992, 665 (675 ff.). 68 So vor allem W. Vogler, DWiR 1991, 303 (306 f.) und Harms, Alt-Verpflichtungen (Fn. 50), S. 119 f.; ders., DZWir 1993, 123 (125 f.); des weiteren R. Scholz, BB 1993, 1953 (1957); ders., JZ 1994, 304 (305); der Linie des BezG Magdeburg weitgehend folgend K. Lorenz / H. Braun, DtZ 1994, 165 (167 f.).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

person Staat, vollzog dort lediglich einen Formwechsel und wurde schließlich dem Kreditfonds wieder zugeführt 70. Mit der Abschaffung der planwirtschaftlichen Ordnung entfiel die Möglichkeit und die Pflicht der Planerfüllung; die darauf gründenden Rückzahlungspflichten mußten daher an diesen Schicksal teilnehmen 71. Andere Stimmen führen ergänzend das Argument der Konsolidation bzw. der Konfusion ins Feld 72. Gläubiger der Rückzahlungsforderungen waren die staatlichen Banken, ihre Schuldner waren die volkseigenen Betriebe, hinter denen sich aber im planwirtschaftlichen Modell der Staat „verbarg“. Diese GläubigerSchuldner-Identität 73 schließe Forderungen zwischen Organisationseinheiten ein und derselben Rechtsperson aus.

II. Das Altschuldenurteil des Bundesverfassungsgerichts Im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wurde die Verletzung der Grundrechte des Art. 14 I, Art. 12 I sowie Art. 3 I und Art. 2 I GG gerügt. Das Gericht verneint eingangs mit knapper Begründung eine Verletzung der Eigentumsgarantie, da der Status der Schuldenfreiheit keine eigentumsrechtliche Position ist. Unter dem Aspekt der Auferlegung einer Geldleistungspflicht scheidet eine Eigentumsbeeinträchtigung ebenfalls aus. Zwar wurden die Altverbindlichkeiten durch den Einigungsvertrag und damit durch einen Akt des bundesdeutschen Gesetzgebers (Zustimmungsgesetz) aufrechterhalten. Jedoch schützt Art. 14 GG vor solchen Vermögensbeeinträchtigungen nur dann, wenn sie erdrosselnde Wirkung haben, was indes hier nicht der Fall war 74. Ebenso knapp wird die Rüge einer Verletzung der Berufsfreiheit verworfen, da der Fortbestand der Altschulden keine objektiv berufsregelnde Tendenz in Richtung der landwirtschaftlichen Berufsausübung aufweist 75. Der Schwerpunkt der Entscheidung liegt dann auf der Prüfung am Maßstab des Art. 2 I GG.

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W. Vogler, DWiR 1991, 303 (307); Harms, Alt-Verbindlichkeiten (Fn. 50), S. 90. W. Vogler, DWiR 1991, 303 (306); in diesem Sinne auf die Einheit des Staatshaushalts hinweisend R. Scholz, BB 1993, 1953 (1954). 71 W. Vogler, DWiR 1991, 303 (306). 72 Erlöschen durch Konsolidation: W. Harms, DZWiR 1993, 123 (125); dazu kritisch Matthiessen, DDR-Staatsbankkredite (Fn. 52), S. 146 f. 73 Harms, Alt-Verbindlichkeiten (Fn. 50), S. 104 f.; so auch R. Scholz, BB 1993, 1953 (1955). 74 BVerfGE 95, 267 (300 f.). 75 BVerfGE 95, 267 (302). 70

B. Die Altschuldenfrage

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1. Vertragsfreiheit als Prüfungsmaßstab Zur von Art. 2 I GG erfaßten grundrechtlichen Vertragsfreiheit gehört nicht nur die Freiheit, Verträge zu schließen, sondern auch die Gewähr, daß geschlossene Verträge nicht nachträglich durch staatliche Eingriffe verändert werden 76. In dieses Recht wird durch die Feststellung des Bundesgerichtshofs eingegriffen, daß der klagenden Bank Rückzahlungsansprüche aus dem Kreditverhältnis gegen die LPG zustehen. Diese Feststellung bindet die LPG als Schuldnerin an einen Kreditvertrag, der zwischenzeitlich eine andere rechtliche Bedeutung erlangt hat, ohne daß sie Einfluß auf diese Änderung hat nehmen können 77. Die Verfassungsrichter gehen demnach mit dem BGH und der überwiegenden Meinung im zivilrechtlichen Schrifttum vom Vertragscharakter der sozialistischen Kreditverhältnisse aus, auch wenn sie nicht das Ergebnis freier Aushandlung waren. Mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Beitrittsgebiet erstreckte sich der Schutz durch die grundrechtliche Vertragsfreiheit somit auf alle vertraglichen Rechtspositionen, gleich ob sie selbstbestimmt geschlossen wurden oder in ihrer Form in der Bundesrepublik möglich waren 78. Im Zentrum der Entscheidung steht die vom Senat im Ergebnis bejahte Frage, ob der Eingriff in die Vertragsfreiheit verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Die Aufmerksamkeit gilt hier der durch die Altschuldenregelung getroffenen Grundentscheidung, die DDR-Altverbindlichkeiten mit der Möglichkeit der Entschuldung fortbestehen zu lassen, sowie deren Verhältnismäßigkeit bei der Anwendung auf den Einzelfall (dazu sogleich unter 3 und 4). Zudem war zweifelhaft, ob die rechtliche Ausgestaltung der Altschuldenregelung den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genügte (2). 2. Herabgesetzte Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt Der Gesetzesvorbehalt verlangt für eine grundrechtsbeeinträchtigende staatliche Maßnahme eine Rechtsgrundlage. Die Problematik der Altschulden„regelung“ besteht darin, daß sich ihr Regelungsgehalt (Fortbestand der Altverbindlichkeiten) nicht einer einzigen Norm entnehmen läßt, sondern hierfür eine Reihe von

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BVerfGE 95, 267 (303 f.) mit Verweis auf BVerfGE 89, 48 (61); dort wiederum Verweis auf BVerfGE 8, 274 (328); vgl. zur Vertragsfreiheit als Abwehrrecht M. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 173 ff., allerdings dürfte hier eher die Funktion der Vertragsfreiheit als Schutzgarantie (ebd., S. 176 ff.) einschlägig sein. 77 BVerfGE 95, 267 (304); der Wesenswandel des Kredits begann zwar schon unter der Verantwortung des nicht an das Grundgesetz gebundenen DDR-Gesetzgebers, jedoch knüpften der Einigungsvertrag und die darauf basierende Überleitungsgesetzgebung daran an und schrieben sie fort. Die Entlastungsregelungen des DMBilG sind demgegenüber in der alleinigen Verantwortung des Bundesgesetzgebers entstanden (ebd.). 78 BVerfGE 95, 267 (304).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

Einzelvorschriften der beiden Staatsverträge und des D-Markbilanzgesetzes herangezogen werden müssen. Zudem mußten die Regelungen über die Entschuldungsmöglichkeiten den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genügen. Hinsichtlich des Fortbestands der Altschulden fehlt zwar eine ausdrückliche Regelung; aus den genannten Einzelvorschriften kann aber auf deren Fortbestehen geschlossen werden 79. Das Bundesverfassungsgericht läßt somit einen mittelbar zum Ausdruck gebrachten Willen als Eingriffsgrundlage ausreichen 80. Schon in früheren Judikaten ist es davon ausgegangen, daß sich die Regelungsabsicht des Gesetzgebers nicht ohne weiteres aus dem Wortlaut ergeben muß, sondern daß es genügt, wenn der gesetzgeberische Wille mit Hilfe der allgemeinen Auslegungsmethoden erschlossen werden kann 81. Bei Anwendung dieser Grundsätze zeigt sich zunächst, daß der Gesetzgeber die Altschuldenfrage weder positiv noch negativ, sondern im Grunde gar nicht beantwortet hat. Die staatsvertraglichen und einfachgesetzlichen Einzelvorschriften, die der BGH für seine Gesamtschau heranzieht, nehmen lediglich Bezug auf bestehende „Verbindlichkeiten“. Deren Existenz gilt es aber gerade zu belegen 82. Gleichwohl ist mit dem Bundesverfassungsgericht vom Fortbestand der Altschulden auszugehen, wofür vor allem die Existenz der verschiedenen Entschuldungsmöglichkeiten streitet. Gestützt wird das Ergebnis durch den vom Senat ins Spiel gebrachten allgemeinen kollisionsrechtlichen Grundsatz, daß die nicht unmittelbar verfassungsrechtlich begründeten Rechtsbeziehungen – gleich ob systemgeprägt oder systemneutral – bei einem Verfassungswechsel regelmäßig bestehen bleiben, sofern nicht ihre Aufhebung ausdrücklich angeordnet wurde 83. Eine solche Anordnung liegt im vorliegenden Fall aber unstreitig nicht vor. In anderer Hinsicht problematisch waren die Entschuldungsregelungen. Art. 25 III EinigungsV und § 16 III DMBilG schrieben nur die Entschuldungsmöglichkeit fest. Das Verfahren jedoch, vor allem die Voraussetzungen und der Umfang der Entschuldung, wurde nur in zwei nicht veröffentlichten Arbeitsanweisungen des Bundesministers der Finanzen geregelt. Fraglich war somit, ob dies den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genügte, wonach alle wesentlichen Fragen vom Parlament selbst entschieden werden müssen 84. „Wesentlich“ im Sinne dieser Rechtsprechung sind auch die streitbefangenen Entschuldungsregelungen, 84da von ihnen die Intensität der Grund-

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BVerfGE 95, 267 (306). BVerfGE 95, 267 (306). 81 Vgl. BVerfGE 82, 209 (224) m. w. N. 82 Ausführlich zu den von einem Teil der zivilrechtlichen Literatur geäußerten Zweifeln W. Harms, DZWir 1993, 123 (124). 83 BVerfGE 95, 267 (306 f.) mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des BGH zum intertemporalen Privatrecht; zum Verfassungskollisionsrecht D. Blumenwitz, HStR IX, § 211 Rn. 75. 80

B. Die Altschuldenfrage

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rechtsbeeinträchtigung abhängt 85. Ihre Ausgestaltung durch interne Verwaltungsvorschriften statt durch förmliches Gesetz entspricht daher nicht dem Vorbehalt des Gesetzes und ist im Grunde verfassungswidrig. Allerdings führt dies nach Ansicht des Senats „unter den besonderen Bedingungen der Wiedervereinigung“ nicht zur Verfassungswidrigkeit der Entschuldungsregelungen 86. Die gewählte Form ist verfassungsrechtlich „ausnahmsweise“ hinnehmbar, da zum maßgebenden Zeitpunkt nicht erkennbar war, welcher Entschuldungsbedarf bestand und welche finanziellen Mittel dafür aufgebracht werden konnten 87. Die Quintessenz dieser Argumentation ist, daß hier die Sondersituation der Wiedervereinigung ein Abweichen von den sonst geltenden Anforderungen des Gesetzesvorbehalts rechtfertigt. 3. Grundentscheidung: Fortbestand der Altschulden mit Entschuldungsmöglichkeit Die Grundentscheidung, die DDR-Altverbindlichkeiten mit der Möglichkeit der Entschuldung fortbestehen zu lassen, wird im Ergebnis zutreffend für verfassungsrechtlich zulässig erachtet. Eine von den LPG geforderte umfassende Entschuldung, die aus der Sicht der Betriebe die planwirtschaftlichen Funktionsbedingungen fortgeschrieben hätte, war vom Grundgesetz nicht geboten. Das Schicksal der individuellen Kreditverbindlichkeit kann nicht losgelöst vom makroökonomischen Umgestaltungsprozeß betrachtet werden. Die Altschuldenproblematik fußt auf der Transformation der Planwirtschaft in eine marktwirtschaftliche Ordnung. Mit der Einführung marktwirtschaftlicher Instrumente und der Privatisierung sozialistischen Eigentums allein war diese

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BVerfGE 33, 125 (158); 34, 165 (193); 40, 237 (249); 49, 89 (126 f.); 57, 295 (321); 83, 130 (142); 98, 218 (251), st. Rspr. – Zum Ganzen H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 113. 85 BVerfGE 95, 267 (308); daß vor allem solche Regelungen „wesentlich“ sind, die Grundrechtsrelevanz haben, ist st. Rspr.: BVerfGE 34, 165 (192 f.); 40, 237 (249); 47, 46 (79 f.); 83, 130 (142); 98, 218 (251 f.); aus der einhelligen Literatur K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 509; Schulze-Fielitz (Fn. 84), Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 113; P. Badura, Staatsrecht, 3. Aufl. 2003, Rn. F 13; K.-P. Sommermann, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / C. Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 20 Rn. 268 f.; knapp H. D. Jarass, in: ders. / B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 8. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 46 ff. Problematisch bleibt freilich die Konkretisierung des „Wesentlichen“, dazu F. Ossenbühl, HStR III, § 62 Rn. 42 ff. 86 BVerfGE 95, 267 (308). 87 BVerfGE 95, 267 (308). A. A. hingegen A. v. Brünneck, NJ 1996, 181 (186); die genannten Vorschriften wirkten praktisch nur als „rein formale Ermächtigungsklauseln für die Bundesregierung“, da ihnen keinerlei inhaltliche Konkretisierungen zu entnehmen seien (ebd., S. 185).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

Aufgabe jedoch nicht bewältigt. Die Herausforderung bestand gerade in der Überführung planwirtschaftlicher Verhältnisse in marktwirtschaftliche 88, die zugleich befriedigende und gerechte Ergebnisse hervorbringen sollte. Bei dieser ohnehin schon schwierigen Aufgabe fehlte es außerdem an Zeit und historischen Vorbildern. Die besondere Transformationslage eröffnete dem Gesetzgeber daher einen noch größeren Gestaltungsspielraum als er bei wirtschaftspolitischen Fragen ohnehin besteht 89. Auf die konkrete Situation bezogen heißt dies, der Gesetzgeber durfte sich im Rahmen dieses Spielraums für ein vergangenheitsbezogenes Überleitungskonzept entscheiden, das auf die Beseitigung oder den Ausgleich der Folgen gerichtet war, die auf das planwirtschaftliche System zurückgingen und der Rechtsordnung der Bundesrepublik gänzlich fremd waren; er war jedoch auch nicht gehindert, ein rein zukunftsbezogenes Überleitungskonzept zu wählen 90. Somit kann nicht beanstandet werden, daß der Gesetzgeber sich für ein aus beiden Elementen kombiniertes System entschieden hat, selbst wenn das Konzept später als unzweckmäßig erkannt wird. Die Verfassung verlangt gerade nicht, daß ein bestimmtes Konzept umgesetzt wird 91. 4. Verhältnismäßigkeit im Einzelfall Die Verfassungsmäßigkeit der Grundentscheidung besagt noch nicht, daß deren Auswirkungen für die betroffenen LPG zumutbar waren. Die Grundentscheidung bedrohte im Zusammenspiel mit weiteren Maßnahmen im Zuge des Systemwechsels zahlreiche Landwirtschaftsbetriebe in ihrer wirtschaftlichen Lebensfähigkeit, ohne daß sie die Möglichkeit hatten, diese Schwierigkeiten aus eigener Kraft zu überwinden 92. Der Senat macht deutlich, daß der Gesetzgeber deshalb zu einer „gewissen Kompensation“, d. h. zu einer Entlastung der Betriebe verpflichtet war, bei deren Fehlen sich der Eingriff in die Vertragsfreiheit als unverhältnismäßig erwiesen hätte 93. Bei dieser Kompensation durfte sich der Gesetzgeber auf eine Teilentschuldung beschränken, da die erheblichen Lasten anderenfalls der Allgemeinheit oder Dritten hätten aufgebürdet werden müssen, was verfassungsrechtlich jedenfalls nicht geboten war 94.

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BVerfGE 95, 267 (309). BVerfGE 95, 267 (309) mit Verweis auf BVerfGE 50, 290 (338). – Siehe oben Kapitel 2. C. I. 90 BVerfGE 95, 267 (309). 91 BVerfGE 95, 267 (309 f.). 92 BVerfGE 95, 267 (311 und insb. 313: Gesetzgeber hat die wirtschaftliche Handlungsfreiheit der LPG und ihrer Nachfolger durch die Altschuldenregelung eingeengt). 93 BVerfGE 95, 267 (311). 94 BVerfGE 95, 267 (311). – Das Gericht verwirft zudem zutreffend die von der Bundesregierung im Verfahren vorgetragene Argumentation, die Zumutbarkeit der Grundentscheidung folge schon daraus, daß zwischen den Staatskrediten und Darlehen im bürger89

B. Die Altschuldenfrage

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a) Kompensationspflicht des Gesetzgebers Die Entschuldungsmöglichkeiten beschränkten sich bei nachgewiesener Sanierungsfähigkeit der LPG auf zwei Wege: die sog. „Treuhandentschuldung“ nach Art. 25 III 3 EinigungsV und die bilanzielle Entlastung nach § 16 III DMBilG. Die Treuhandentschuldung bestand in einer Schuldenübernahme durch die Treuhandanstalt, die voraussetzte, daß der Betrieb innerhalb von drei Jahren wettbewerbsfähig sein würde. Die bilanzielle Entlastung konnte erfolgen, wenn das Unternehmen zum Stichtag des 1. Juli 1990 überschuldet, aber sanierungsfähig war. Sie wurde über einen schriftlich erklärten Rangrücktritt des Gläubigers – in der Regel die Bank – realisiert, der dazu führte, daß die betroffene Forderung die Eröffnungsbilanz der LPG nicht belastete. Für diese Stundung der Forderung fielen freilich Zinsen und weitere Kosten an, was wiederum die Bonität der Unternehmen minderte. Beide Varianten mußten jedenfalls zu einer spürbaren Entlastung führen, um dem vom Senat selbst aufgestellten Erfordernis einer „gewissen Kompensation“ gerecht zu werden. aa) Treuhandentschuldung Hinsichtlich der Treuhandentschuldung sind wiederum zwei verschiedene Arten von Altkrediten zu unterschieden. Neben den normalen Umlaufmittelkrediten bestanden Verbindlichkeiten, die aus Maßnahmen der LPG zur Verbesserung der Infrastruktur im ländlichen Raum resultierten und zu deren Durchführung die Betriebe verpflichtet waren 95. Solche Maßnahmen umfaßten unter anderem den Bau von Straßen und Kulturhäusern. Die Betriebe und Genossenschaften wurden hierbei – im Grunde DDR-typisch 96 – für betriebsfremde Zwecke der Daseinsvorsorge in Anspruch genommen. Zumindest diese Schuldenanteile müssen mit der Treuhandentschuldung nach Art. 25 III EinigungsV getilgt werden, da sie ei-

lichrechtlichen Sinne kein wesentlicher Unterschied bestehe und die Aufrechterhaltung dieser Verbindlichkeiten folglich keine Beeinträchtigung der Vertragsfreiheit sei. Das Bundesverfassungsgericht weist diese Argumentation unter Hinweis auf die Einbettung der Staatskredite in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zurück, die einer allzu abstrakten Bewertung des Kredits als einer verzinst rückzahlbaren Geldsumme entgegenstehen, BVerfGE 95, 267 (311); vgl. auch R. Scholz, BB 1993, 1953 (1957 f.). Zu der zivilrechtlichen Frage, ob die Staatskredite als Darlehen im Sinne des § 607 a. F. BGB zu betrachten sind, ist damit jedoch keine Aussage getroffen. 95 Dazu A. v. Brünneck, NJ 1996, 181 (182). 96 Die für das heutige Rechtsverständnis bedeutsame Trennung von staatlichen Aufgaben und wirtschaftlichem Handeln gab es gerade nicht (vgl. G. Brunner, HStR 3 I, § 11 Rn. 33). Diese Umstände können auch nicht mit der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand verglichen werden, denn bei allen Streitigkeiten zu diesem Thema im Detail besteht doch über die Trennung zwischen staatlicher Aufgabenerfüllung und privater Wirtschaftstätigkeit Einigkeit.

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

nem marktwirtschaftlichen Kredit „gänzlich fremd“ sind 97. Zu dieser partiellen Entschuldung war der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet; kommt er dieser Pflicht nicht nach, erweist sich die aus dem Fortbestand der Verbindlichkeiten resultierende Belastung für die LPG als unzumutbar 98. Allerdings schränkt das Gericht diese zunächst so deutlich formulierte Pflicht mit dem Hinweis auf haushaltspolitische Zwänge sofort wieder ein 99, da schon zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zu prognostizieren war, daß der für die Treuhandentschuldung vorgesehene Geldbetrag nicht ausreicht, um alle entschuldungsfähigen Kreditanteile vollständig zu tilgen. Etliche Betriebe blieben daher auf einem Teil der für betriebsfremde Zwecke verwendeten Kredite sitzen 100. Zur Rechtfertigung greift der Senat auf die Sondersituation nach der Wiedervereinigung zurück: die nur partielle Entschuldung der genannten Kredite war hinzunehmen, da eine differenziertere Regelung in dieser unübersichtlichen und durch Zeitmangel geprägten Situation nicht erwartet werden konnte 101. Die Unterschreitung der verfassungsrechtlich gebotenen Entschuldung in einigen Fällen, sei nicht absehbar gewesen und wiege nicht so schwer, daß aus diesem Grund die gesamte Regelung zu beanstanden sei 102. Als Zwischenfazit ist festzuhalten, daß der Gesetzgeber verfassungsrechtlich verpflichtet ist, durch entsprechende Regelungen die genannten Schuldenanteile so weit wie es volkswirtschaftlich finanzierbar ist, zu tilgen. Der Hinweis auf das fiskalisch Mögliche relativierte angesichts der schon damals bestehenden brisanten Haushaltslage die zunächst postulierte verfassungsrechtliche Pflicht zur vollständigen Entschuldung erheblich. Die vom Senat eingeführte Unterscheidung nach Kreditarten zeugt von einer realitätsnahen, letztlich aber doch pragmatischen, am Entschuldungsbedarf orientierten Bewertung, die, gemessen an den zunächst postulierten Maßstäben, alles andere als zwingend erscheint. bb) Die bilanzielle Entlastung Die Ausgestaltung der zweiten Entschuldungsvariante, der bilanziellen Entlastung nach § 16 III DMBilG ist im Ergebnis ebenfalls verfassungsgemäß, allerdings erlegt der Senat dem Gesetzgeber Kontroll- und gegebenenfalls Nachbesserungspflichten auf, wofür er eine Zeitspanne von 20 Jahren ansetzt. Eine gewisse Skepsis der Richter hinsichtlich der Wirksamkeit der Entlastung ist unübersehbar.

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BVerfGE 95, 267 (312). BVerfGE 95, 267 (312). 99 BVerfGE 95, 267 (312). 100 BVerfGE 95, 267 (313). 101 BVerfGE 95, 267 (313). 102 BVerfGE 95, 267 (313). 98

B. Die Altschuldenfrage

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Das ist auch berechtigt, da die Altschulden die Kreditwürdigkeit der Unternehmen mindern und die Stundung der Rückzahlungverpflichtung zinspflichtig ist, was wiederum die vollständige Schuldentilgung zeitlich verschleppt 103. Die Ungewißheit, ob die Entlastung greift, geht aber letztlich nicht zu Lasten des Gesetzgebers, da diesem bei der Beurteilung künftiger wirtschaftlicher Entwicklungen eine Einschätzungsprärogative und ein Prognosespielraum zusteht 104. Da die politisch Verantwortlichen bei Erlaß der Entlastungsregelungen das genaue Ausmaß der Verschuldung ostdeutscher Landwirtschaftsbetriebe nicht kannten 105, waren nach Ansicht des Senats großzügigere Entschuldungsmaßnahmen nicht angezeigt 106. cc) Der Ausschluß nicht sanierungsfähiger Betriebe Verfassungsgemäß ist schließlich der Ausschluß nicht sanierungsfähiger LPG von der Entschuldung. Mit dieser Beschränkung wird die schon erwähnte Pflicht des Gesetzgebers limitiert, von betriebsfremden Investitionen herrührende Schuldenanteile zu tilgen. Das läßt sich wiederum mit den Besonderheiten des Systemwechsels begründen 107: Da der Gesetzgeber ein zukunftsorientiertes Überführungskonzept wählen durfte, das möglichst schnell marktwirtschaftliche Verhältnisse in den neuen Ländern schafft, durfte er die ohnehin begrenzten finanziellen Mittel auf die überlebensfähigen Wirtschaftseinheiten konzentrieren 108. Der Entschuldungsausschluß ist für die betroffenen Landwirtschaftsbetriebe zumutbar, da eine Einbeziehung ihr Überleben unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht sichern konnte, den überlebensfähigen Betrieben jedoch notwendige Entschuldungsmittel entzogen hätte 109. b) Gleichheitssatz als inzidenter Prüfungsmaßstab Der Senat überprüft die Altschuldenregelung zudem am Maßstab des Art. 3 I GG, der hier die Grundrechtsschranke der verfassungsmäßigen Ordnung konkretisiert. Nach der Entfaltung des Prüfungsmaßstabs, die die in Kapitel II dar103

Vgl. BVerfGE 95, 267 (314). BVerfGE 95, 267 (314) mit Verweis auf BVerfGE 50, 290 (331 ff.). 105 Auch wenn man die Unkenntnis des Gesetzgebers über die tatsächliche Verschuldung der DDR-Landwirtschaft für vorwerfbar hält, ändert dies am Ergebnis nichts. Dann liegt zwar eine fehlerhafte gesetzgeberische Prognose aufgrund unzureichender Sachverhaltsermittlung vor, die grundsätzlich zur Verfassungswidrigkeit der Entlastungsregelung führen kann. Gleichwohl hätte der Vorbehalt des finanziell Möglichen eine höhere Entlastungsquote verhindert. 106 BVerfGE 95, 267 (315). 107 BVerfGE 95, 267 (315). 108 BVerfGE 95, 267 (315). 109 BVerfGE 95, 267 (316). 104

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

gestellte neuere Rechtsprechung zum Gleichheitssatz fortführt, geht er näher auf die Unterscheidung von personen- bzw. sachverhaltsbezogener Differenzierung ein, da hier mit der LPG eine juristische Person betroffen war und nach der vom Bundesverfassungsgericht favorisierten „Durchgriffsthese“ 110 nicht ohne weiteres eine personenbezogene Ungleichbehandlung bejaht werden konnte. Da bei der Rechtsform der Genossenschaft die hinter der LPG stehenden Genossenschaftsmitglieder vergleichsweise intensiv betroffen werden, gelten hier letztlich die strengeren Maßstäbe einer personenbezogenen Ungleichbehandlung 111. Der Senat verweist aber zugleich darauf, daß die zur Prüfung stehenden Regelungen (nur) das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit beeinträchtigen und dem Gesetzgeber „bei der Transformation der Wirtschaftsordnung ein besonders weiter Gestaltungsspielraum“ zur Verfügung steht 112. Die Maßstäbe für den Umfang der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit werden somit auch hier aus der überkommenen Dogmatik gewonnen und mit Hilfe der Sondersituation korrigiert bzw. erweitert. Die Anwendung dieser Grundsätze führt zu dem Ergebnis, daß die Altschuldenregelung nicht gegen den Gleichheitssatz verstößt.

III. Weitere Entwicklung Aus der Rückschau hat das Bundesverfassungsgericht mit der AltschuldenEntscheidung der Diskussion um den Fortbestand der Altverbindlichkeiten ein Ende gesetzt. In der Folge richtete sich das Augenmerk auf die Entschuldung bzw. Entlastung der Unternehmen. Die Altschuldenregelung und die Vorgaben des Verfassungsgerichts ermöglichten den landwirtschaftlichen Betrieben letztendlich eine relativ großzügige Übergangsphase bis zur endgültigen Tilgung der Altverbindlichkeiten. Die Bundesregierung hat festgestellt, daß bei Beibehaltung dieser Regelung lediglich 7 % der Altschulden, die sich ursprünglich auf insgesamt 3,9 Mrd. Euro beliefen, zurückgezahlt werden würden, und zwar in einen Zeitraum weit über das Jahr 2020 hinaus. Die Entlastungsregelung des § 16 III DMBilG (Stundung durch Rangrücktrittsregelung) hat das Problem also nicht gelöst, sondern nur auf später verschoben. Zudem wird von landwirtschaftlichen Unternehmen und Interessenverbänden aus den alten Bundesländern zunehmend eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs beklagt. Angesichts dessen hatte die Bundesregierung im Oktober 2003 einen Gesetzentwurf eingebracht, um die Ablösung der Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen durch Anpassung der Rückzahlungsbedingungen an die veränderte Lage zu beschleunigen 113. Mittlerweile hat der Gesetzentwurf den Bundestag und den

110 BVerfGE 21, 362 (369); 68, 193 (205 f.), 75, 192 (196); zur Kritik nur H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 19 III Rn. 31 f. 111 BVerfGE 95, 267 (317). 112 BVerfGE 95, 267 (317).

B. Die Altschuldenfrage

101

Bundesrat mit einigen Änderungen passiert. Das Landwirtschafts-Altschuldengesetz 114 eröffnet nunmehr zum einen die Möglichkeit, die Vertragsmodalitäten der getroffenen Rangrücktrittsvereinbarungen zugunsten einer zügigeren Tilgung zu ändern, zum anderen können die Unternehmen die nachrangige Schuldentilgung gegen Zahlung eines angemessenen Ablösebetrages vorzeitig und endgültig beenden. Wie die Regelungen greifen, bleibt abzuwarten. Festgehalten werden kann jedenfalls, daß das neue Gesetz im Grunde nicht in Beachtung der vom Gericht auferlegten Beobachtungspflicht ergangen ist, denn diese Beobachtungsund gegebenenfalls Nachbesserungspflicht wurde vorrangig im Hinblick auf den Grundrechtsschutz der ehemaligen LPG statuiert: nur wenn die ursprüngliche Entlastungsregelung im DMBilG zu Lasten der LPG fehlschlägt, sollte nachgebessert werden. Im Gegensatz dazu hat der Gesetzgeber angesichts der allgemeinen Entwicklung ostdeutscher Landwirtschaftsbetriebe sogar genug Spielraum für eine beschleunigte Schuldentilgung gesehen.

IV. Verfassungsrechtliche Bewertung Die verfassungsrechtliche Bewertung des Altschuldenurteils hat zunächst den vom Gericht gewählten methodischen Rahmen nachzuziehen. Dabei wird deutlich, daß sich das Altschuldenurteil in den Bahnen der hergebrachten Grundrechtsprüfung bewegt (1). Besonderheiten werden hingegen bei der Bestimmung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit sichtbar. Hier erweist sich die Anknüpfung an die Argumentationslinie der weiten Gestaltungsfreiheit im wirtschaftspolitischen Bereich als nicht tragfähig. Im Ergebnis kann die Ausdehnung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums daher nur auf die Sondersituation gestützt werden (2). Mit dem Hinweis darauf weicht das Bundesverfassungsgericht schließlich zudem von den üblichen Anforderungen des Gesetzesvorbehalts ab (3). Abgesehen davon kommen die verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur Anwendung, die das Gericht auch in normalen Zeiten verwendet. Diese Lösung ist, trotz Problemen bei der normativen Erfassung der Staatsbankkredite, im Ergebnis ohne Alternative (4). 1. Grundrechtsprüfung als methodischer Rahmen Das Bundesverfassungsgericht bewegt sich im Rahmen der anerkannten Grundrechtsprüfung und wendet hierbei die üblichen verfassungsrechtlichen Instrumentarien an 115. Nicht nur die Grundrechtsprüfung selbst folgt dem bewährten Schema

113

BT-Drucks. 15/1662. Vgl. auch den Gesetzentwurf der FDP-Fraktion dazu: BTDrucks. 15/2468. 114 Gesetz zur Änderung der Regelungen über Altschulden landwirtschaftlicher Unternehmen und anderer Gesetze (Lw-AltschG) vom 25. 6. 2004 (BGBl. I S. 1383).

102

Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

(Schutzbereich, Eingriff, verfassungsrechtliche Rechtfertigung), sondern auch die Bestimmung des einschlägigen Prüfungsmaßstabs. Der Senat prüft, welche grundrechtlichen Schutzbereiche von der Altschuldenregelung betroffen sind. Dabei wird zunächst die primäre Frage des Fortbestands der Rechtsverhältnisse 116 und, daran anknüpfend, die Frage der Maßstäblichkeit des Grundgesetzes zutreffend bejaht 117. Die in der Altschuldenproblematik hervortretende Übergangssituation soll also mit den Maßstäben des Grundgesetzes, nicht mit irgendwelchen anderen sonder- oder außerverfassungsrechtlichen Grundsätzen, die zudem erst noch zu schaffen wären, beurteilt und bewältigt werden. Bildet das Grundgesetz die Richtschnur, war weiter zu bestimmen, welches Einzelgrundrecht als Prüfungsmaßstab heranzuziehen ist. Das gefundene Ergebnis, daß die Altschuldenregelung an der Vertragsfreiheit zu messen ist, beruht auf der gedanklichen Zuordnung der Altkreditverträge zu dem Typus des Vertrages. Die Wahl des Schutzbereichs der Vertragsfreiheit war also – abstrakter formuliert – davon abhängig, unter welchen Rechtsbegriff der geltenden Rechtsordnung der sozialistische Kredit zu subsumieren war 118. Das Urteil thematisiert diesen methodischen Aspekt im Rahmen des Schutzbereichs allerdings nicht näher. Bei dieser Einordnung waren zwei Alternativen denkbar. Zum einen konnte man formal auf die Entstehungsart der Altverbindlichkeiten abstellen. Die vertragliche Form der zugrundeliegenden Kreditverhältnisse legte dann eine Prüfung anhand der Vertragsfreiheit nahe. Zum anderen konnte man auf die Verflechtung von sozialistischem Kredit und staatlicher Planvorgabe abheben, die den Altkrediten stärker den Charakter von zweckgebundenen staatlichen Finanzzuweisungen gab. Das hätte gegen die Einordnung als Vertrag gesprochen, so daß die Altschulden-

115 Die Entscheidung haben aus verfassungsrechtlicher Perspektive erörtert: Will, Wiedervereinigung (Fn. 62), S. 128 ff.; H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 28 ff.; auch L. Michael, AöR 124 (1999), 583 (594 ff.); knapp E. Klein, Bewältigung (Fn. 1), S. 427. 116 Der Senat geht hier von der Kontinuitätsthese aus, nach der alle Rechtspositionen trotz Untergangs der DDR fortbestehen; zu der insoweit nicht einheitlichen Rechtsprechung J. Isensee, HStR IX, § 202 Rn. 97 f. 117 Daß die Entscheidung für den Fortbestand der Altschulden am Grundgesetz zu messen war, wird – soweit ersichtlich – nicht in Zweifel gezogen: J. Isensee, HStR IX, § 202 Rn. 113 f.; L. Michael, AöR 124 (1999), 583 (584); H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 29 hält zwar für möglich, daß die wiedervereinigungsbedinge Rechtsprechung Sonderverfassungsrecht hervorgebracht hat, qualifiziert es aber als (unerwünschte, aber unvermeidbare) Abweichung vom Grundgesetz, nicht als verfassungsrechtliches Surrogat für die Ausnahmesituation; im Ergebnis auch Will, Wiedervereinigung (Fn. 62), S. 130 f.: das Grundgesetz biete zwar keine Maßstäbe für die Sondersituation, die Aufgabe des BVerfG sei es aber gerade gewesen, solche auf der Basis des Grundgesetzes zu entwickeln. 118 Dazu nur J. Isensee, HStR IX, § 202 Rn. 132: „Die Rechtsposition ist im Kontext des DDR-Rechts zu bestimmen und darauf zu prüfen, ob sie einem Grundrechtstatbestand kompatibel ist und den formalen Strukturen eines grundrechtlichen Schutzgutes entspricht.“

B. Die Altschuldenfrage

103

regelung auf ihre Vereinbarkeit mit der Berufsfreiheit zu prüfen gewesen wäre 119. Mangels berufsregelnder Tendenz war jedoch schon eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs zu verneinen, wie es das Gericht zutreffend getan hat 120. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß keine neuen dogmatischen Figuren oder Regeln entwickelt werden 121. Das ist nicht nur wegen der Verfassungsbindung gem. Art. 20 III GG folgerichtig, sondern auch im Hinblick auf das Ziel der Rechtseinheit, dessen Kern es gerade ist, die Rechtsanpassung auf die grundgesetzliche Ordnung hin auszurichten. Es wäre nicht sinnvoll, andere als die Maßstäbe des Grundgesetzes dafür heranzuziehen; denkbar war dies z. B. in Form einer teleologischen Reduktion der grundrechtlichen Schutzbereiche auf systemkonforme Sachverhalte. Alle systemfremden Sachverhalte hätte man dann – mit dem Ergebnis einer generellen Absenkung des Schutzniveaus – unter dem Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 I GG zusammenfassen müssen 122. Die Prüfung anhand der Vertragsfreiheit darf jedoch nicht über die Unzulänglichkeiten hinwegtäuschen. So kann zwar das Anormale (Staatsbankkredite) mit dem Vertragsbegriff durchaus erfaßt werden, jedoch nur wenn man über die charakteristischen Eigenheiten hinwegsieht. So sehr das Bundesverfassungsgericht auch bestrebt ist, die Besonderheiten der Staatsbankkredite zu berücksichtigen 123, letztlich muß es sie einem der herkömmlichen Begriffe (Darlehen gem. § 607 a. F. BGB) des geltenden Rechts zuweisen, um sie überhaupt rechtlich würdigen zu können. Ein Darlehen nach dem Vorbild des § 607 a. F. BGB ist der in der DDR ausgereichte Staatsbankkredit jedoch nie gewesen. Die vorgenommene Zuordnung zum Typus „Vertrag“ muß folglich die Rechtswirklichkeit partiell ausblenden. Ein originalgetreues Abbild der Staatsbankkredite in den Kategorien der bundesdeutschen Rechtsordnung erscheint hier jedenfalls unmöglich 124.

119

So A. v. Brünneck, NJ 1996, 181 (184 ff.). In diesem Fall kam schließlich noch die Überprüfung am Maßstab des Art. 2 I GG in seiner Funktion als Auffanggrundrecht (nicht als Innominatfreiheitsrecht!) in Betracht, dazu statt aller H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 2 I Rn. 30. 121 So E. Klein, Bewältigung (Fn. 1), S. 427; mit kritischer Haltung, aber im Ergebnis ebenso Will, Wiedervereinigung (Fn. 62), S. 130. 122 Keine tragfähige Begründung hierfür bietet die Parallele zum Grundrechtsschutz für Ausländer, da es dort zum einen um die Eröffnung des personalen Schutzbereichs geht und zum anderen der eindeutige Wortlaut eine Zuordnung zu den „Deutschengrundrechten“ verbietet. 123 Das wird an der Schilderung des Sachverhalts deutlich, aber auch an den Ausführungen zu der Frage, ob die Staatskredite Vertragscharakter aufweisen, vgl. BVerfGE 95, 267 (269 ff., 304 f.). 124 Will, Wiedervereinigung (Fn. 62), S. 130, plädiert hingegen für die Entwicklung spezieller Maßstäbe für die Sondersituation, allerdings ohne Hinweis darauf, wie diese Maßstäbe ausgestaltet sein sollen; vgl. aber die Bestandsaufnahme zur Verwendung des 120

104

Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

2. Die besonders weite Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Besonderheiten weist die Urteilsbegründung hingegen im Hinblick auf die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit auf. Hier bedient sich der Senat der Argumentationsfigur der „weiten“ oder „besonders weiten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“, knüpft damit jedoch in unzutreffender Weise an die Maximen seiner eigenen Rechtsprechung an. a) Die weite Gestaltungsfreiheit im wirtschaftslenkenden Bereich als Argumentationsbasis Der Senat wählt die Rechtsprechungslinie zum weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum im wirtschaftspolitischen Bereich als Ausgangspunkt, um mit Hinweis darauf einen „besonders weiten Gestaltungsspielraum“ zu begründen. Er argumentiert, die Altschuldenfrage repräsentiere einen Kernbereich der wirtschaftlichen Transformation, so daß sie dem wirtschaftspolitischen Bereich zuzuordnen sei. Damit bewegt er sich auf scheinbar gefestigtem dogmatischen Terrain; bei genauer Betrachtung ergeben sich jedoch Zweifel an dieser Argumentation. Die weite Gestaltungsfreiheit im wirtschaftspolitischen Bereich wurde bisher mit der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes begründet. Der geführte „Streit um die Wirtschaftsverfassung“ konzentrierte sich auf die Zulässigkeit wirtschaftslenkender Gesetze, die seinerzeit einen erheblichen Bedeutungszuwachs erfuhren 125. Die Gegner staatlicher Interventionen im Wirtschaftssektor verstanden wirtschaftslenkende Gesetze als Widerspruch zu einer traditionell marktwirtschaftlichen Ordnung, wie sie – nach deren Ansicht – das Grundgesetz garantiere 126. Dieser Argumentation, die dem Grundgesetz eine strikt marktwirtschaftliche Ordnung implantieren wollte, sollte mit der These von der wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes der Boden entzogen werden 127. Aus diesem Grund trägt die Anknüpfung an die weite wirtschaftspolitische Gestaltungsfreiheit im Altschuldenurteil nicht 128. Die Altschuldenregelung weist keinen wirtschaftslenkenden Charakter auf, da sich der Gesetzgeber mit ihr nicht Arguments „deutsche Einheit“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von L. Michael, AöR 124 (1999), 583 (589 ff.), in der argumentative Ansätze aufzeigt werden. 125 Siehe Kapitel 2. C. I. 126 Vgl. den Klägervortrag in BVerfGE 50, 290 (306 f.). 127 Das klingt an in BVerfGE 4, 7 (18): es ist ohne Belang, ob ein zur Wirtschaftslenkung verwendetes Mittel „marktkonform“ sei; BVerfGE 50, 290 (337 f.). 128 Im Ergebnis ebenso Will, Wiedervereinigung (Fn. 62), S. 131; a. A. hingegen H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 28 f., der die Erweiterung des Gestaltungsspielraums wegen der Sondersituation gutheißt, zugleich aber auch die Anknüpfung an die Grundlage der weiten Gestaltungsfreiheit im wirtschaftspolitischen Bereich für richtig erachtet (vgl. Rn. 28 m. Fn. 142).

B. Die Altschuldenfrage

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von einer marktwirtschaftlichen Ordnung entfernt, sondern auf sie zubewegt. Sie dient allein dem Ziel, das noch planwirtschaftlich geprägte Wirtschaftssystem der DDR an die freie Marktwirtschaft heranzuführen. Die Altschuldenregelung wurde von den Beschwerdeführern nicht deshalb angegriffen, weil sie zu wenig marktwirtschaftlich orientiert war, sondern weil die Mechanismen des freien Marktes für die LPG zu früh in Kraft gesetzt wurden als daß sich die Betriebe effektiv darauf hätten vorbereiten können 129. Im Grunde ganz folgerichtig enthält das Altschuldenurteil auch keine Ausführungen zur wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes. Indem der Senat allein an den wirtschaftspolitischen Charakter der Altschuldenproblematik anknüpft, löst er das Argument des weiten Gestaltungsspielraums von seiner eigentlichen Grundlage, nämlich der in wirtschaftspolitischer Hinsicht bestehenden Offenheit des Grundgesetzes. Aus der unbestreitbaren Notwendigkeit heraus, angemessene verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Sondersituation zu gewinnen, wird versucht, einen Anknüpfungspunkt aus der eigenen Rechtsprechung vor der Wiedervereinigung zu finden, um den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu erweitern. Dies vermittelt den Schein von Kontinuität und zudem von Normalität, verbirgt aber letztlich nur den Umstand, daß der Senat mit Evidenzgesichtspunkten argumentiert 130. b) Besonders weite Gestaltungsfreiheit aufgrund Zeit- und Erfahrungsmangels Der so gewonnene weite Gestaltungsspielraum wird in einem zweiten Schritt unter Hinweis auf den Zeitdruck und den Mangel an historischen Vorbildern erneut erweitert 131. Beide Gründe kennzeichnen die Sondersituation, sind jedoch keine Aspekte, die bisher zur Begründung einer weiten oder besonders weiten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers herangezogen wurden. Regelmäßig ist für die Verwirklichung von Gesetzesvorhaben hinreichend Zeit, anderenfalls zeigen sich Ministerialbürokratie und Legislative meist als leistungsfähig genug, um ein Gesetzgebungsverfahren schnell in Gang zu bringen und abzuschließen. Das Bundesverfassungsgericht nimmt seine Kontrolle jedenfalls nicht deshalb zurück, weil ein Gesetz in Eile erlassen wurde. Die Anerkennung einer besonders weiten Gestaltungsfreiheit läßt sich folglich nur dann auf den vorhandenen Zeitmangel stützen 132, wenn man ihn als typisches Phänomen der Sondersituation wertet.

129

Vgl. den Vortrag der Beschwerdeführer in BVerfGE 95, 267 (291 f.). Im Ergebnis ebenso Will, Wiedervereinigung (Fn. 62), S. 131: der Hinweis auf den weiten gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum diene nur dazu, zu begründen, „daß“ die Kreditverhältnisse an marktwirtschaftliche Regeln anzupassen seien; zum „Wie“ äußere sich das Gericht nur insoweit, als daß eine gewisse Kompensation stattfinden müsse. 131 BVerfGE 95, 267 (309). 130

106

Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

Gleiches gilt für den zweiten ins Spiel gebrachten Aspekt: den Mangel an historischen Vorbildern. Erfahrungsmangel diente schon im Bereich der experimentellen Gesetzgebung als Begründung für eine gewisse Lockerung verfassungsrechtlicher Bindungen und damit für eine größere gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit 133. Auf diese Rechtsprechung nimmt der Senat allerdings zutreffend keinen Bezug, denn die Altschuldenregelung läßt sich kaum als Versuchsgesetzgebung qualifizieren. Mit den Vorschriften in den beiden Staatsverträgen und im DMBilG hat der Gesetzgeber definitive Regelungen geschaffen, wenn sie auch durch ein hohes Maß an Unsicherheit bezüglich der weiteren Entwicklung gekennzeichnet waren. Somit bleibt zusammenfassend festzuhalten, daß zur Rechtfertigung des im Altschuldenurteil verwendeten Begriff von der besonders weiten Gestaltungsfreiheit allein die Sondersituation zur Verfügung steht. 3. Abweichung von den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts Eine „echte“ Abweichung zeigt sich hinsichtlich der Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt. Diese werden von der Altschuldenregelung im Hinblick auf das Verfahren nicht eingehalten. Gleichwohl erklärt der Senat dies wegen der Sondersituation für unbeachtlich 134. Die Schwierigkeit bestand hier darin, daß der Gesetzesvorbehalt ein starrer Maßstab ist, der kaum Möglichkeiten der flexiblen Handhabung bietet, wie das etwa bei der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit der Fall ist. Damit blieb nur die Wahl zwischen Verfassungswidrigkeit der Altschuldenregelung oder offener Abweichung von den hergebrachten verfassungsrechtlichen Anforderungen. Ob mit der Entscheidung für die zweite Variante ein „Berufungsfall“ 135 geschaffen wurde, soll hier noch offenbleiben 136. 4. Alternativlösung: Konzentration auf die „Transformationsleistung“? Die Bewertung des Altschuldenurteil hat aufgezeigt, daß die Überprüfung anhand der üblichen Maßstäbe der Grundrechtsdogmatik erfolgt, die Neubewertung der Staatskredite als Kreditverträge im bürgerlichrechtlichen Sinne jedoch insoweit Probleme bereitet, als bestimmte prägende Wesensmerkmale hierbei unberücksichtigt bleiben. An diesen Umstand anknüpfend, wird vereinzelt dar-

132

So auch H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 28. Siehe Kapitel 2. C. II. 134 BVerfGE 95, 267 (308). 135 Begriff bei J. Isensee, HStR IX, § 202 Rn. 21, der ausschließt, daß die Rechtsprechung zu wiedervereinigungsbedingten Rechtsproblemem zu solchen „Berufungsfällen“ führt, da die Singularität der Wiedervereinigung allzu deutlich sei. 136 Eingehend zu möglichen Gefährdungslagen siehe Kapitel 4. C. V. 133

B. Die Altschuldenfrage

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auf hingewiesen, daß die Anwendung der (normalen) Maßstäbe, die für einen Gesetzgeber gelten, der die Rechtsordnung unter dem Grundgesetz verändert, faktisch dazu führt, daß der Gesetzgeber in der Sondersituation keiner Nachprüfung unterliegt, wenn diese Maßstäbe auch für den Übergang von einer anderen Verfassungsordnung zu der des Grundgesetzes gelten, da das Einmalige der Situation nicht erfaßt werden kann 137. Notwendig sei es daher, besondere Maßstäbe für die Sondersituation zu entwickeln, da dies der Verfassunggeber nicht getan habe 138. Das Augenmerk solle demzufolge auf der vom Grundgesetz erbrachten „Transformationsleistung“ 139 liegen, also darauf, verfassungsrechtliche Maßstäbe zu entwickeln, um systemfremde Rechtsverhältnisse unter Beibehaltung ihrer ursprünglichen Gestalt in die Ordnung des Grundgesetzes zu transformieren. Aus diesem Ansatz resultiert die grundsätzliche Kritik, das Altschuldenurteil enthalte lediglich die Aussage, daß eine Anpassung an marktwirtschaftliche Bedingungen notwendig sei und daß die Staatsbankkredite mit den Rechtsbegriffen und Wertungen des BGB erfaßt werden müßten. Soweit es um das „Wie“ der Transformation gehe, ziehe sich das Gericht auf die Argumentation mit der Sondersituation und einem besonders weiten Gestaltungsspielraum zurück. Gefordert wird daher eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung, die die Erfordernisse der Transformation, das Maß der Grundrechtsbeeinträchtigung der LPG und die rechtlich geschützten Interessen der übrigen am Kreditverhältnis Beteiligten gleichermaßen berücksichtigt und zu einem gerechten Ausgleich bringt 140. Fraglich bleibt, ob eine umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung im angedachten Sinne zu wesentlich anderen Ergebnissen geführt hätte. Im Rahmen der Darstellung des Urteils wurde gezeigt, daß eine Prüfung der Zumutbarkeit im Einzelfall stattgefunden hat; zudem fordern die Verfassungsrichter eine Kom-

137

So R. Will, Die deutsche Wiedervereinigung und das Grundgesetz – Die Verfassung als Maßstab für die ostdeutsche Systemtransformation, in: J. J. Hesse / G. F. Schuppert / K. Harms (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, 1999, S. 117 ff. (S. 129 f.). 138 Will, Wiedervereinigung (Fn. 137), S. 130. 139 Eingängig dargelegt bei Will, Wiedervereinigung (Fn. 137), S. 130 und 119, dort mit dem zutreffenden Hinweis, daß sich die einschlägigen Beiträge zur Thematik „Grundgesetz und Transformation“ auf die Frage konzentrieren, ob das Grundgesetz sich bewährt und den Transformationsprozeß unbeschadet überstanden hat (von Will so bezeichnete „westdeutsche Perspektive“; auf die Bewährung des Grundgesetzes konzentriert etwa P. Kirchhof , Der Auftrag zur Rechtseinheit im vereinten Deutschland, in: Deutsche Sektion der Internationalen Juristenkommission [Hrsg.], Die Wiedervereinigung und damit zusammenhängende Rechtsprobleme, 1991, S. 3 ff. [5. f.]; G. Roellecke, NJW 1991, 657 [659]). Dies war für den DDR-Bürger, der sich nicht 40 Jahre mit dem Grundgesetz identifizieren konnte, in der Tat zweitrangig. Ihn interessierte vor allem, ob die „Rechtssubstanz“ seiner nach DDR-Recht begründeten Rechtsposition bei der Überführung in die bundesdeutsche Rechtsordnung erhalten blieb. 140 Will, Wiedervereinigung (Fn. 137), S. 132.

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

pensation in Form von Entschuldungsmaßnahmen, die freilich unter Finanzierungsvorbehalt steht. Die Kritik kann sich deshalb nur dagegen richten, daß bei der Zumutbarkeitsprüfung der Aspekt der Anpassung an die marktwirtschaftliche Ordnung zu sehr im Vordergrund stand. Dies ließe jedoch das Wesen des Transformationsprozesses in den neuen Ländern außer Betracht, der von einem enormen Anpassungsdruck gekennzeichnet war, der letztlich aus dem vollständigen Transfer der gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnung der Bundesrepublik resultierte. Die Pflicht, diesen Prozeß sozialverträglich und schonend zu gestalten, läßt das eigentliche Ziel der Anpassung aber nicht in den Hintergrund treten. Die geforderte umfassende Verhältnismäßigkeitsprüfung würde unter diesen Umständen ebensowenig zur einer Verpflichtung des Gesetzgebers führen, die bestehenden Staatskredite vollständig zu entschulden.

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in die gesetzliche Rentenversicherung Ähnliche rechtspolitische Brisanz wie die Altschuldenfrage wohnte und wohnt zum Teil noch der Problematik der Rentenüberleitung inne. Hier soll nur ein Ausschnitt daraus erörtert werden: die Eingliederung von Rentenansprüchen und -anwartschaften aus DDR-Zusatzversorgungssystemen (auch als sog. „Intelligenzrenten“ bezeichnet) in die gesetzliche Rentenversicherung der Bundesrepublik. Eingangs sind Entstehung und Funktion der Zusatzversorgungssysteme, ihre Entwicklung nach der deutschen Einheit sowie die gesetzlichen Grundlagen ihrer Überführung vorzustellen (I). Anschließend wird das einschlägige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Überführung – inzwischen ist die Bezeichnung als „Systementscheidung“ gängig – wiedergegeben (II). Bevor abschließend die Entscheidung einer verfassungsrechtlichen Bewertung unterzogen wird (IV), soll die weitere Entwicklung der Rentenüberleitung skizziert werden, die sich auf einen anderen Teilaspekt, nämlich die Kürzungstatbestände des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes, verlagerte und dort bis heute verfassungsrechtliche Kontroversen auslöst (III).

I. Die Intelligenzrenten im Rentenversicherungssystem der DDR Die Bezeichnung „Intelligenzrenten“ geht auf ihre besondere Funktion zurück, der sog. „Intelligenz“, also beruflich höherqualifizierten Personen sowie staatsnahen Berufsgruppen, lukrativere Alterseinkünfte zu ermöglichen. Zu diesem Zweck wurden Zusatz- und Sonderversorgungssysteme geschaffen (1), die aufgrund des Einigungsvertrages noch bis zum Jahre 1992 fortbestanden (2). Die

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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endgültige Überführung in die gesetzliche Rentenversicherung erfolgte erst danach; im gleichen Zuge traten einzelne Begrenzungs- und Kürzungstatbestände in Kraft (3). 1. Die Errichtung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme Das allgemeine Rentenversicherungssystem der DDR 141 kannte drei verschiedene Sicherungsebenen: die erste Ebene bildete die Sozialpflichtversicherung als Grundsicherung, die zweite Ebene die Freiwillige Zusatzrentenversicherung. Auf der dritten Ebene waren die im folgenden näher zu beleuchtenden, nach Berufsgruppen gegliederten Zusatzversorgungssysteme angesiedelt (dazu a). Außerhalb der Sozialpflichtversicherung gab es für bestimmte Staatsbedienstete schließlich noch eigenständige Sonderversorgungssysteme (dazu b). Zusatz- und Sonderversorgungssysteme sind also zu trennen; sie wurden im Zuge der Rentenüberführung größtenteils auch unterschiedlichen Regeln unterworfen. In der Sozialpflichtversicherung konnte das Einkommen bis zur Höhe der Bemessungsgrenze von 600 Mark versichert werden. Die hieraus gezahlten monatlichen Renten waren entsprechend gering und konnten bald mit der Lohnentwicklung nicht mehr schritthalten. Um diesen Mangel zu beheben, wurde für die Beschäftigten mit Hilfe der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR) die Möglichkeit geschaffen, eine einkommensabhängige zusätzliche Altersvorsorge auf individueller Grundlage zu treffen. Die Berechtigung zum Eintritt in die FZR besaßen alle Mitglieder der Sozialpflichtversicherung, deren Einkommen über der Bemessungsgrenze lag. Die FZR sorgte zeitweise für die angestrebte Anhebung des Rentenniveaus, konnte aber die Kluft zwischen Arbeitsverdienst und späterer Rente auf Dauer nicht beseitigen. So lag die durchschnittliche Rente aus Sozialpflichtversicherung und Freiwilliger Zusatzrentenversicherung im Jahr 1990 bei 602 Mark monatlich.

141

Zum DDR-Rentenversicherungssystem BVerfGE 100, 1 (3 ff.) – Rentenüberleitung I; detaillierte Darstellungen auch bei H. Wolter, Zusatzversorgungssysteme der Intelligenz, 1992, S. 19 ff.; N. Bernsdorff , VSSR 1999, 57 (58 ff.); K.-H. Christoph, Das Rentenüberleitungsgesetz und die Herstellung der Einheit Deutschlands, 1999, S. 9 ff.; K. A. Heine, Die Versorgungsüberleitung, 2003, S. 25 ff., 40 ff., 62 ff.; knapper D. Merten, Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, 1993, S. 12 ff.; ferner F. Ruland, DtZ 1990, 159 (160 f.); ders., NZS 1992, 41 (41 f.); M. Rahn, DtZ 1992, 1 (1 f.); M. Mutz / R.-P. Stephan, DAngVers 1992, 281 (281); R. Wilmerstadt, Das neue Rentenrecht (SGB VI), 1992, S. 220 ff.; P. A. Köhler, NJ 1993, 4 (4 f.); H.-J. Papier, Rechtsgutachten zu Verfassungsmäßigkeit der Versorgungsüberleitung, 1994, S. 1 ff.; K.-P. Wagner, NJ 1994, 60 (62 f.).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

a) Zusatzversorgungssysteme Zur Ergänzung dessen wurden nach und nach für bestimmte Berufs- und Personengruppen mehr als zwei Dutzend verschiedene Zusatzversorgungssysteme errichtet. Solche gab es beispielsweise für die „technische Intelligenz“ (z. B. Ingenieure und Techniker), für die „Intelligenz an wissenschaftlichen, künstlerischen, pädagogischen und medizinischen Einrichtungen“, für Ärzte, Künstler und Schriftsteller, aber auch für die Generaldirektoren der DDR-Kombinate und für die hauptamtlichen Mitarbeiter des Staatsapparates und der gesellschaftlichen Organisationen sowie der Gewerkschaften und der DDR-Parteien 142. Für jedes dieser Zusatzversorgungssysteme bestand eine eigene Versorgungsordnung, die die Aufnahme in die Zusatzversorgung, die Beitrags- und Versorgungshöhe etc. jeweils unterschiedlich ausgestaltete 143. Einige dieser Versorgungsordnungen sahen gar keine Beitragsleistungen der Versicherten vor (z. B. die Zusatzversorgungssysteme der Generaldirektoren und der Ballettmitglieder in staatlichen Einrichtungen), andere Systeme erhoben Beiträge in Höhe von 3 bis 5 %. Die erreichbaren Versorgungshöhen zusammen mit Grundsicherung und freiwilliger Zusatzrente lagen zwischen 60 % des letzten Bruttoeinkommens 144 und 90 % des letzten Nettoeinkommens 145. Ähnlich uneinheitlich wie die rechtliche Ausgestaltung stellte sich die Praxis der Einbeziehung in die Zusatzversorgung dar. Bei einigen Systemen ergab sich die Zugehörigkeit eindeutig aus der Bezeichung der erfaßten Berufsgruppe (z. B. Ärzte, Zahnärzte), so daß keine ausdrückliche Einbeziehung notwendig war. Bei anderen Systemen, beispielsweise beim Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz, hing die Zugehörigkeit hingegen von einer Versorgungszusage (Bestätigung) ab, auf die allerdings kein Anspruch bestand 146. Hierzu war eine Anmeldung durch den Werkdirektor erforderlich 147. Die Aufnahme in das Versorgungssystem hing damit von der richtigen Anwendung der Versorgungsordnung 142

Vgl. die Auflistung in Anlage 1 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (AAÜG) vom 25. 7. 1991 (BGBl. I, S. 1677). 143 Vgl. beispielsweise die „Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben“ (VO-AVItech) vom 17. 8. 1950 (GBl. I DDR, S. 844), konkretisiert durch die „Erste Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die zusätzliche Altersversorgung der technischen Intelligenz in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben“ (im folgenden: DBAVItech I) vom 26. 9. 1950 (GBl. I DDR, S. 1043) und die gleichnamige zweite Durchführungsbestimmung (im folgenden: DB-AVItech II) vom 24. 5. 1951 (GBl. I DDR, S. 487). 144 Z. B. Zusatzversorgungssystem der technischen Intelligenz (§ 3 VO-AVItech). 145 Z. B. Zusatzversorgungssystem der Intelligenz an wissenschaftlichen, künstlerischen, pädagogischen und medizinischen Einrichtungen vom 12. 7. 1951 (GBl. I DDR, S. 675). 146 Vgl. § 3 II DB-AVItech I und § 3 II DB-AVItech II. 147 Vgl. § 3 I DB-AVItech II.

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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durch die Verantwortlichen ab. Das Einbeziehungsprozedere führte daher häufig zu willkürlichen oder einfach nur fehlerhaften Ergebnissen. So wurden etwa Personen nicht berücksichtigt, obwohl sie zum potentiellen Kreis der Versorgungsberechtigten gehörten, andererseits wurden aber auch Personen einbezogen, die nicht zur technischen Intelligenz im eigentlichen Sinne zu rechnen waren 148. Die Aufnahme in die Zusatzversorgung konnte neben den beiden gerade geschilderten Möglichkeiten noch auf einzelarbeitsvertraglicher Grundlage oder gar durch Ministererlaß erfolgen. Die Schaffung der Zusatzversorgungssysteme ausschließlich damit zu begründen, sie seien Prämien für systemtreues Verhalten gewesen, griffe zu kurz. Die privilegierten Berufs- und Personengruppen sind für eine derart singuläre Begründung zu heterogen. Tragender Grund war die Erkenntnis, daß die Renten aus der Sozialpflichtversicherung und der FZR keine adäquate Altersversorgung vor allem für Personen mit höherem Einkommen boten. Dazu gehörten jedoch nicht nur Mitarbeiter des Staatsapparates, Generaldirektoren und andere Mitarbeiter in augenscheinlich „staatsnahen“ Bereichen, sondern auch Ingenieure, Ärzte und Künstler. Deren Leistungen schlugen sich im Arbeitseinkommen in Relation zu einem Durchschnittsverdiener kaum hinreichend nieder 149; das gilt erst recht, wenn man die Gehaltsstruktur in den alten Bundesländern zum Vergleich heranzieht. Außerdem war die berufliche Qualifikation oder Tätigkeit von Ingenieuren, Ärzten oder Künstlern weder orts- noch systemgebunden, so daß man mit deren Abwanderung in den Westen rechnen mußte. Das aber konnte man sich weder politisch noch volkswirtschaftlich auf Dauer und in größerem Umfang leisten 150. b) Sonderversorgungssysteme Neben den Zusatzversorgungssystemen gab es Sonderversorgungssysteme für bestimmte Staatsbedienstete, so die Angehörigen der Nationalen Volksarmee, der

148 Zumindest die Nichteinbeziehung von Zugehörigen konnte nach der deutschen Einheit durch nachträgliche Einbeziehung korrigiert werden. Das BSG hat dazu eine umfangreiche Rechtsprechung entwickelt, vgl. BSG, NJ 2001, 612 ff. und NJ 2002, 556 ff.; dazu J. Stoew / I. Schwitzer, DAngVers 2003, 312 ff. Sie wurde unlängst vom Bundesverfassungsgericht gebilligt: BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2005, 81 f.; dazu A. Bräunig, NVwZ 2006, 904 ff. 149 Vgl. die Einleitung zur VO-AVItech: „Darum hat die technische Intelligenz, die vor allem diese großen wissenschaftlichen und technischen Aufgaben (allseitige Entwicklung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit und der Technik, A. B.) durchzuführen hat, einen Anspruch auf einen höheren Lebensstandard.“; der Zusatzrente kam daher auch eine Ausgleichsfunktion zu, vgl. E. Bienert, ZSR 39 (1993), 349 (350); Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 41. 150 Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 41; ebenso M. Mutz, DAngVers 1999, 509 (510), der konstatiert, die Schaffung der Mehrzahl der Zusatzversorgungssysteme sei eine „eigentlich ideologiefremde Entscheidung“ gewesen.

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

Deutschen Volkspolizei, der Feuerwehr und des Strafvollzugs, der Zollverwaltung, und schließlich des Ministeriums für Staatssicherheit / Amt für Nationale Sicherheit (MfS/AfNS) 151. Die Aufzählung zeigt, daß die nicht selten abwertend gemeinte Bezeichnung als „Staatsbedienstete“ mit Vorsicht zu gebrauchen ist; die Angehörigen der Feuerwehr jedenfalls hatten Aufgaben zu erfüllen, die sich einer einseitigen politischen Bewertung entziehen. Diese Sonderversorgungssysteme bildeten eine eigenständige Alterssicherung außerhalb der Rentenversicherung. Dazu wurden 10 % des Bruttoeinkommens als Beitrag erhoben; die spätere Versorgungshöhe lag bei etwa 90 % des Nettoeinkommens 152 und damit entsprechend dem Vorverdienst erheblich über der sonst in der DDR erreichbaren Rentenhöhe. Die Renten der Angehörigen des MfS/AfNS wurden im Zuge der Rentenüberführung zunächst empfindlich beschnitten (zum Teil unter Sozialhilfeniveau), bis das Bundesverfassungsgericht richtigerweise für eine Abmilderung der gesetzgeberischen Maßnahmen sorgte. 2. Die Entwicklung bis zum Einigungsvertrag und dessen Vorgaben für die Rentenüberleitung Nach der politischen Wende in der DDR ging die Entwicklung schnell in Richtung einer größtmöglichen Annäherung der DDR an die Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik 153. Auf dem Gebiet der Rentenversicherung war vorgesehen, das Rentenversicherungssystem an das beitragsfinanzierte und lohnorientierte Modell der Bundesrepublik anzugleichen 154. Das Augenmerk fiel dabei auf die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme, für die es im bundesdeutschen gesetzlichen Rentenversicherungssystem keine Entsprechung gab 155. In Art. 20 II 2, 3 des Staatsvertrages zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion

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So die nicht veröffentlichte Ordnung Nr. 7/87 über die soziale Versorgung der Berufsoffiziere, Fähnriche, Berufsunteroffiziere und Unteroffiziere auf Zeit des Ministeriums für Staatssicherheit vom 30. 9. 1997 (zitiert nach BVerfGE 104, 126 [130]). 152 Vgl. die Nachweise bei Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 52 f. 153 Zum folgenden eingehend N. Bernsdorff , VSSR 1999, 57 (68 ff.). 154 BVerfGE 100, 1 (6 ff.); dazu H. D. Steinmeyer, VSSR 1990, 83 (88 ff.), auch zur Anpassung des übrigen Sozialversicherungsrechts; F. Ruland, DtZ 1990, 159 (161 ff.); Wolter, Zusatzversorgungssysteme (Fn. 141), S. 32 ff.; Wilmerstadt, Rentenrecht (Fn. 141), S. 223 f.; M. Rahn, DtZ 1992, 1 (2 f.); P. A. Köhler, NJ 1993, 4 (5); H. Simon, NJ 1995, 227 (227); detailliert Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 69 ff., 78 ff. 155 Sie sind insbesondere nicht mit Zusatzleistungen der gesetzlichen Rentenversicherung zu verwechseln (etwa Zuschläge für Kindererziehung) oder mit der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst, die eine der Beamtenversorgung angenäherte Gesamtversorgung gewährleisten soll (vgl. Tarifvertrag Altersversorgung [ATV] vom 1. 3. 2002 i. d. F. des 2. Änderungstarifvertrages vom 12. 3. 2003); insoweit fraglich K. A. Heine, VSSR 2003, 317 (318). Allenfalls die Sonderversorgungssysteme waren in gewissem Umfang mit der Beamtenversorgung vergleichbar, vgl. BVerfGE 100, 1 (5).

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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verpflichtete sich die DDR zur Schließung der bestehenden Zusatz- und Sonderversorgungssysteme und zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften in die Rentenversicherung (der DDR). Diese Vorgaben des Staatsvertrages setzte die DDR mit dem Erlaß des Rentenangleichungsgesetzes (RAnglG) vom 28. Juni 1990 156 um. Es sah im Grundsatz vor, die bestehenden Zusatzversorgungsrenten in der bisherigen Höhe weiterzuzahlen. Für die Ansprüche aus bestimmten Zusatzversorgungssystemen (z. B. der Mitarbeiter von Parteien und gesellschaftlichen Organisationen, der Mitarbeiter des Staatsapparates) und aus einigen Sonderversorgungssystemen wurde jedoch ein Höchstzahlbetrag von 1500 DM festgelegt 157; zusammen mit dem höchstmöglichen Rentenbetrag aus der Grundsicherung ergab sich ein Gesamtbetrag von 2010 DM. Außerdem sah § 24 I RAnglG vor, die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme alsbald in die Rentenversicherung (der DDR) zu überführen. Der schnelle Fortgang des Einigungsprozesses ließ es dazu nicht mehr kommen. Die Überleitung der Versorgungssysteme oblag damit nunmehr dem gesamtdeutschen Gesetzgeber. Der Einigungsvertrag behielt die durch den DDR-Gesetzgeber modifizierte Rechtslage im wesentlichen bei. Die im RAnglG vorgesehene Frist für die Überleitung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme (bis Ende 1990) wurde bis zum 31. 12. 1991 verlängert. Grund war die anstehende Reform des westdeutschen Rentenversicherungsrechts zum 1. 1. 1992. Die Verwirklichung zweier umfassender Gesetzesprojekte in kurzer Abfolge erschien nicht opportun. Bis zum Inkrafttreten der Rentenreform 1992 bestanden in den beiden (wiedervereinigten) Teilen Deutschlands also weiterhin unterschiedliche Rentenversicherungssysteme 158. Für die endgültige Überleitung der Rentenansprüche und -anwartschaften enthielt der Einigungsvertrag allerdings Vorgaben. Nach Anlage II Kap. VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 9b waren die Rentenansprüche der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme den Rentenansprüchen der allgemeinen Rentenversicherung anzupassen, „wobei ungerechtfertigte Leistungen abzuschaffen und überhöhte Leistungen abzubauen“ waren; die Anpassung hatte nach den Kriterien der Sozialversicherung zu erfolgen 159. Für Bestandsrentner und rentennahe Jahrgänge durfte allerdings ein bestimmter Rentenbetrag nicht unterschritten werden (sog. Zahlbetragsgarantie) 160. 156 GBl. I S. 495. Das RAnglG blieb mit Modifizierungen nach Anlage II Kap. VIII Sachgebiet F Abschnitt III Nr. 8 EinigungsV als fortgeltendes DDR-Recht in Kraft. 157 Vgl. § 23 II RAnglG; die Renten aus dem Sonderversorgungssystem des MfS/AfNS wurden auf 990 DM begrenzt (§ 2 AufhebG). 158 Näher zu beiden Systemen F. Ruland, DtZ 1990, 159 ff. 159 K. Stern / B. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Einigungsvertrag und Wahlvertrag mit Vertragsgesetzen, Begründungen, Erläuterungen und Materialien, 1990, S. 790; P. A. Köhler, NJ 1993, 4 (5). 160 Zu ihr M. Mutz / R.-P. Stephan, DAngVers 1992, 281 (287 ff.) mit Rechtsprechungsbeispielen; eingehend auch Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 89 ff. Die Zahlbe-

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

3. Rentenüberleitung und Korrektur durch das AAÜG Mit dem Gesetz zur Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Rentenund Unfallversicherung (RÜG) vom 25. Juli 1991 161 wurden die Regelungen des SGB VI auf das Beitrittsgebiet erstreckt. Damit war ein gesamtdeutsches Rentenversicherungssystem auf der Grundlage des SGB VI geschaffen, das freilich für das Gebiet der neuen Bundesländer noch zahlreiche Übergangs- und Sonderbestimmungen enthielt 162. Eine eigenständige Regelung erfuhr die Überleitung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme. Als Art. 3 des RÜG trat das Gesetz zur Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen des Beitrittsgebiets (Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz – AAÜG) vom 25. Juli 1991 163 in Kraft. Das AAÜG überführte die noch bestehenden Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in die gesamtdeutsche gesetzliche Rentenversicherung. Diese politische Entscheidung des Gesetzgebers wird in Judikatur und Schrifttum inzwischen weitgehend einheitlich als die sog. „Grund- bzw. Systementscheidung“ der Rentenüberleitung bezeichnet. Sie hatte weitreichende Konsequenzen, da sie die Rentenanwartschaften, die in den Zusatzversorgungssystemen keiner Beitragsbemessungsgrenze unterlagen, den Maßgaben der gesetzlichen Rentenversicherung unterstellte 164. Die Zeiten der Zugehörigkeit zu einem Versorgungssystem galten nun als Pflichtbeitragszeiten der Rentenversicherung (§ 5 AAÜG), denen der erzielte Arbeitsverdienst zugrundezulegen war, jedoch nur bis zu einem bestimmten Jahreshöchstverdienst (vgl. § 6 I AAÜG i. V. m. Anlage 3). Für Rentenberechtigte mit vormals hohem Arbeitsverdienst ergab sich eine zum Teil erhebliche Minderung des rentenwirksamen Einkommens und infolgedessen der monatlichen Rentenleistung. Die Einbußen waren – sofern man die Geltung der Beitragsbemessungsgrenze als unverrückbare Tatsache betrachtet – die logische Folge aus der Systementscheidung des Gesetzgebers, die Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in die gesetzliche Rentenversicherung zu integrieren. tragsgarantie des Einigungsvertrages ist nicht zu verwechseln mit der vorläufigen Zahlbetragsbegrenzung nach § 10 I 2 AAÜG (dazu sogleich), die jener inhaltlich widerstreitet. 161 BGBl. I, S. 1606. Dazu H. Rische, DAngVers1991, 229 ff.; M. Rahn, DtZ 1992, 1 ff.; Wolter, Zusatzversorgungssysteme (Fn. 141), S. 42 ff.; Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 111 ff. 162 Vgl. etwa §§ 307a, 315a SGB VI; dazu zuletzt BVerfG, Urteil vom 11. 5. 2005, 1 BvR 368/97; eingehend zu den Besonderheiten des Übergangsrecht in den neuen Ländern F. Ruland, NZS 1992, 41 (45 ff.); K.-J. Bieback, NZS 1994, 193 ff.; zu Detailfragen M. Rahn, DtZ 1992, 1 (3 f.). 163 BGBl. I, S. 1677. Vgl hierzu M. Mutz / R.-P. Stephan, DAngVers 1992, 281 ff.; Wilmerstadt, Rentenrecht (Fn. 141); S. 224 ff.; Wolter, Zusatzversorgungssysteme (Fn. 141), S. 45 ff.; K.-P. Wagner, NJ 1994, 60 (62 f.); im Detail Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 124 ff. 164 Näher dazu unter Punkt II. 1c.

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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Das AAÜG sah noch eine Reihe weiterer Maßnahmen vor, die nur genannt werden sollen. § 10 AAÜG enthielt die sog. vorläufige Zahlbetragsbegrenzung 165. Mit ihr wurde der Rentenbetrag für die Angehörigen bestimmter Systeme unabhängig vom Vorverdienst bei 2010 DM gekappt; später wurde der Höchstzahlbetrag in Reaktion auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts 166 durch das Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz 167 auf 2700 DM erhöht, um die Regelung zu entschärfen 168. Damit wurde eine der Zahlbetragsgarantie des Einigungsvertrages genau entgegengesetzte Regelung getroffen. Eine weitaus bedeutendere Rolle nahmen die §§ 6 und 7 AAÜG ein. Sie setzten die Vorgabe des Einigungsvertrages um, „überhöhte“ Leistungen abzubauen. Hierfür sahen § 6 II, III AAÜG für einzelne Versorgungssysteme und Funktionsebenen vor, daß auch erzielte Arbeitseinkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze nicht in vollem Umfang für die Rentenberechnung berücksichtigt werden sollten 169. Das führte bei den betroffenen Personen zu einer weiteren Absenkung des Rentenniveaus, teilweise auf das der Durchschnittsrente. Eine ähnliche Regelung traf § 7 AAÜG für die Rentenanwartschaften der ehemaligen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit / Amt für nationale Sicherheit 170. Hier sollte der Arbeitsverdienst nur bis zum 0,7 fachen des Durchschnittsverdienstes berücksichtigt werden, ohne daß nach Funktionsebenen unterschieden wurde. Damit bewirkte man die Rückführung der Renten auf das Niveau des Existenzminimums oder sogar darunter, so daß die Kürzung durch Sozialhilfeleistungen aufgefangen werden mußte. An der Sinnhaftigkeit der Regelung kann insoweit gezweifelt werden 171.

165 Zu ihr M. Mutz / R.-P. Stephan, DAngVers 1992, 281 (287 ff.); P. A. Köhler, NJ 1993, 4 (6 f.); Papier, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 77 f. – Die Begrenzung des Zahlbetrags war insoweit vorläufig, als sie nur solange galt wie der nach der Überführung sich ergebende dynamische Rentenanspruch unter diesem Zahlbetrag lag. Für die Personengruppen, bei denen der Rentenanspruch den Zahlbetrag niemals erreichen wird, wandelt sich die vorläufige Zahlbetragsbegrenzung folglich in eine endgültige. 166 BSGE 72, 50 (73 ff.). 167 Art. 3 Nr. 6 lit. bb) des Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetzes (RÜ-ErgG) vom 24. Juni 1993 (BGBl. I S. 1038); dazu Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 119 f.; K.-P. Wagner, NJ 1994, 60 (63). 168 Vgl. Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 187 f. und zur weiteren Entwicklung S. 191. 169 Dazu BVerfGE 100, 59 (90 ff.); 111, 115 (136 ff.); zu den Regelungen im einzelnen Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 17 ff.; Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 178 ff.; auch K.-P. Wagner, NJ 1994, 60 (62 f.); M. Mutz, DAngVers 1999, 509 (511). 170 Hierzu BVerfGE 100, 138 (173 ff.); knapp Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 21 f.; eingehender Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 183 ff. 171 Ebenso M. Mutz, DAngVers 1999, 509 (515); anders M. Heintzen, VSSR 1995, 1 (23).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

4. Die Folgen für die Intelligenzrenten Der sogleich darzustellenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lag der Fall eines ordentlichen Professors für Urologie an der Humboldt-Universität zu Berlin zugrunde 172, der bis zu seiner Emeritierung Direktor der Urologischen Klinik und Poliklinik sowie Leiter der wissenschaftlichen Forschungsabteilung der Charite der DDR war. Er hatte seither eine monatliche Altersrente („Intelligenzrente“) von etwa 4000 Mark bezogen. Dieser Betrag setzte sich zusammen aus der Grundrente, einer Zusatzrente aus der Freiwilligen Zusatzrentenversicherung (FZR), der Rente aus der Zusatzversorgung und einer Rente als „Kämpfer gegen den Faschismus“. Durch die Rentenüberführung wurde das vormals hohe Arbeitseinkommen des Beschwerdeführers nur in geringem Umfang rentenwirksam, so daß der Anspruch aus der gesetzlichen Rentenversicherung deutlich absank. Die vorläufige Zahlbetragsbegrenzung limitierte den Rentenbetrag bei einem festen Betrag von zunächst 2010 DM, nach der Überarbeitung des AAÜG auf 2700 DM. Im Gegensatz zu allen anderen Rentenansprüchen der gesetzlichen Rentenversicherung unterlag der Betrag aber nicht der üblichen Dynamisierung. Der Beschwerdeführer büßte so seine ursprüngliche Position innerhalb seiner Rentengeneration im Laufe der Zeit mehr und mehr ein. Insgesamt gab es ca. 200.000 Berechtigte, die Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatzversorgungssystemen erworben hatten 173. Nur bei einem kleinen Teil hiervon (unter 1000) fiel die Minderung so gravierend aus wie bei dem Beschwerdeführer. Daran wird zugleich deutlich, daß in der Überführung der Ansprüche in die gesetzliche Rentenversicherung kein sehr großes finanzielles Einsparpotential lag – ein Argument, das aber bisweilen zur Rechtfertigung der Systementscheidung vorgetragen wurde.

II. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur rentenrechtlichen Systementscheidung Zum gesamten Komplex der Rentenüberleitung sind bisher fünf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ergangen, vier davon im Jahre 1999 174 und eine im Jahre 2004 175. Hier interessiert nur das erste Urteil aus dieser Reihe, das sich

172 Speziell zur Zusatzversorgung der Hochschullehrer O. Faßhauer, Die Überführung der Zusatzversorgung der Hochschullehrer der ehemaligen DDR in die bundesdeutsche Rentenversicherung, 2000. 173 Vgl. die Zahlen bei Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 14 m. Fn. 19. 174 Vgl. dazu die vier Entscheidungen, allesamt aus dem 100. Band der Entscheidungssammlung: BVerfGE 100, 1 (31 ff.); 100, 59 (90 ff.); 100, 104 (125 ff.); 100, 138 (173 ff.) – Rentenüberleitung I–IV. Anmerkungen und Entscheidungsbesprechungen von R. Will, NJ 1997, 337 ff.; M. Mutz, DAngVers 1999, 509 (514 ff.); K.-A. Heine, rv 1999, 201 ff.; ders., Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 310 ff.; M. Ulmer, NZS 2000, 176 (177 ff.); W. Kluth,

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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mit der verfassungsrechtlichen Überprüfung der Grund- bzw. Systementscheidung befaßte. Die maßgeblichen Prüfungsmaßstäbe sind die Eigentumsgarantie (1) und der Gleichheitssatz (2), wobei Art. 14 I 2 GG im Vordergrund steht. Art. 3 I GG tritt als Prüfungsmaßstab „ergänzend hinzu“ 176. 1. Prüfungsmaßstab Art. 14 I 2 GG a) Zusatzversorgungsanwartschaften als Eigentumsposition Hinsichtlich der Frage, ob die Ansprüche aus Zusatzversorgungssystemen überhaupt von der Eigentumsgarantie erfaßt werden, lag der Rückgriff auf die gesicherte Rechtsprechung zum eigentumsrechtlichen Schutz westdeutscher Rentenpositionen 177 nahe. Rentenversicherungsrechtliche Ansprüche werden danach von Art. 14 I 2 GG geschützt, wenn sie dem einzelnen mit Ausschließlichkeitsanspruch zugeordnet sind, dessen Existenzsicherung dienen, der einzelne im Rahmen der gesetzlichen Ausgestaltung frei über sie verfügen kann und sie durch eine nennenswerte Eigenleistung des Berechtigten gekennzeichnet sind 178. Probleme bereitete hier das Merkmal der „nennenswerten Eigenleistung“, da in den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen höchst unterschiedliche Beitragsregelungen galten: von Beitragsfreiheit auf der einen bis zu einem Beitragssatz von 10 % des Bruttoarbeitsverdienstes auf der anderen Seite. Selbst letzteres steht nach bundesdeutschen Maßstäben kaum in Relation zu der von der gesetzlichen Rentenversicherung garantierten Rentenzahlung 179. Es kam daher grundsätzlich in Betracht, die Zusatzversorgungsansprüche dem Bereich der Fürsorgeleistungen zuzuordnen, mit der Folge, daß sie dem Schutz durch die Eigentumsgarantie entzogen blieben. Die Berechtigten sahen die Versorgungsansprüche freilich als ihre „Renten“ an. Die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung ebnete ungeachtet dessen den Weg, nicht allein die gezahlten Beiträge als Eigenleistung des Versicherten

JA 2000, 545 ff.; K. Ritze, Die Sozialversicherung 2001, 197 ff., 225 ff.; K.-H. Christoph/ W. Mäder, ZfSH/SGB 2005, 195 ff. 175 Vgl. BVerfGE 111, 115 (136 ff.) – Rentenüberleitung V (in Fortführung der Entscheidung BVerfGE 100, 59 ff.) mit Anmerkung A. Brandt, NJ 2005, 504 ff.; K.-H. Christoph / W. Mäder, ZfSH/SGB 2005, 195 ff. 176 So BVerfGE 100, 1 (32). 177 Siehe Kapitel 2. B. I. 1. 178 BVerfGE 100, 1 (32 f.) mit Verweis auf BVerfGE 69, 272 (300 f.). 179 Der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung betrug im Jahre 1999 – dem Jahr der Urteilsverkündung – 19,5 % des Bruttoverdienstes und ist seitdem stabil geblieben (abrufbar über das Internetportal der Deutschen Rentenversicherung unter „http://www.deutsche-rentenversicherung.de/nn_31374/de/Inhalt/Servicebereich2/Lexikon/B/beitragssatz.html“.

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

werten zu können, sondern auch die erbrachte Arbeitsleistung. So wurde bereits in der Entscheidung zur Krankenversicherung der Rentner 180 unterstrichen, daß der Schutz durch Art. 14 I 2 GG auch dann nicht entfällt, wenn eine Rentenposition überwiegend auf staatlicher Gewährung beruht, sofern der Versicherte die Rechtsposition als ihm ausschließlich zustehende betrachten darf 181. Diese Grundsätze werden nun auf die DDR-Zusatzversorgungsansprüche übertragen. Da sie den Bezug zur Arbeitsleistung 182 wahren und nicht allein staatlicher Fürsorge entspringen, werden auch sie von der Eigentumsgarantie erfaßt 183. Die Besonderheiten des Alterssicherungssystems in der DDR, insbesondere die fehlende Beitragsbezogenheit der Rente, hindern nicht daran, die Versorgungsansprüche als rentenrechtliche Eigentumspositionen anzuerkennen 184. b) Bestimmung des Gestaltungsspielraums bei der Rentenüberleitung Mit der Anerkennung der Zusatzversorgungsansprüche als Eigentumspositionen ist noch keine Aussage über den konkreten Umfang der gesetzgeberischen Ausgestaltungsbefugnis getroffen. Hinsichtlich deren Bestimmung wird die anerkannte Rechtsprechungslinie fortgesetzt, wonach sich die konkrete Reichweite der Eigentumsgarantie erst aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums durch den Gesetzgeber ergibt. Dieser genießt keine völlige Freiheit, sondern muß die Privatnützigkeit des Eigentums sowie die grundsätzlich freie Verfügungsbefugnis des Eigentümers achten, und darf die Eigentumsgarantie nicht unverhältnismäßig beschränken. Der Gestaltungsspielraum variiert nach Art der betroffenen Rechtsposition: je ausgeprägter ihr sozialer Bezug ist, desto mehr 180

BVerfGE 69, 272 (301 f.). BVerfGE 100, 1 (35) mit Verweis auf BVerfGE 69, 272 (301). 182 Einzelne Versorgungssysteme sahen die Mitgliedschaft in einem Zusatzversorgungssystem als Gratifikation für besondere „Arbeitserfolge“ vor und begründeten so auch die Höhe der (überdurchschnittlichen) Rentenleistung. Der Begriff des „Arbeitserfolges“ ist, im Kontext der sozialistischen Gesellschaftsordnung, durchaus ein politischer bzw. wertender Begriff, der sich mit dem völlig wertfreien zivilrechtlichen Begriff der „Arbeitsleistung“ nicht vollständig deckt. Daher verwundert es ein wenig, daß der Senat den erforderlichen Zusammenhang zwischen Zusatzversorgung und Arbeitsleistung ausgerechnet durch einen Hinweis auf diese „Arbeitserfolge“ zu untermauern sucht (vgl. BVerfGE 100, 1 [35]). 183 Vgl. BVerfGE 100, 1 (36). – Aus dem Schrifttum ebenso Merten, Verfassungsprobleme (Fn. 141), S. 70; K.-J. Bieback, NZS 1994, 193 (199); H. Simon, NJ 1995 227 (228); des weiteren Wolter, Zusatzversorgungssysteme (Fn. 141), S. 138 ff.; mit umfangreicher Darstellung der Diskussion Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 288 ff.; ders., VSSR 2003, 317 (320 f.). – A. A. Papier, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 36 f., da kein Synallagma von Eigenleistung und späterer Renten(gegen)leistung; M. Heintzen, VSSR 1995, 1 (19); in diese Richtung wohl auch P. A. Köhler, NJ 1993, 4 (8). 184 BVerfGE 100, 1 (35). 181

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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kann der Gesetzgeber einschränkende Regelungen zugunsten der Allgemeinheit treffen, je mehr der personale Bezug überwiegt, um so mehr Zurückhaltung ist ihm auferlegt 185. Gleiches gilt für die sich anschließende Frage, welches Maß an Gestaltungsfreiheit der Legislative speziell bei der Ausgestaltung rentenversicherungsrechtlicher Positionen zusteht. Der Senat geht unter Fortführung seiner früheren Entscheidung zum Versorgungsausgleich von einer grundsätzlich weiten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers aus 186, da Rentenpositionen aufgrund der generationenübergreifenden Bedeutung der Rentenversicherung einen ausgeprägten Sozialbezug aufweisen, der den zweifelsohne bestehenden personalen Zusammenhang, indem sie nach Ende des Erwerbslebens einen angemessene Alterssicherung gewährleisten, im Ergebnis überlagert 187. Die Grundsätze, die bis zur Wiedervereinigung allein für die Ausgestaltung westdeutscher Rentenpositionen galten, werden somit auf die DDR-Zusatzversorgungsansprüche übertragen, da auch sie die Merkmale einer rentenversicherungsrechtlichen Eigentumsposition aufweisen. Der Begriff des weiten Gestaltungsspielraums steht hier nicht für eine Abweichung von hergebrachten verfassungsrechtlichen Standards, sondern bekräftigt sie gerade. Im konkreten Fall heißt dies, der Gesetzgeber darf die Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatzversorgungssystemen beschränken bzw. umgestalten, sofern es dem Gemeinwohl dient und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachtet wird 188. Der Gestaltungsspielraum verengt sich jedoch in dem Maße, in dem die Rentenposition durch die eigene Leistung des Versicherten geprägt ist 189. Das Gemeinwohlziel, an dem sich die Ausgestaltungsaufgabe auszurichten hat, ist die in Art. 20 Staatsvertrag und Art. 30 V EinigungsV normierte Schaffung eines gesamtdeutschen Rentenversicherungssystems mit einem einheitlichen Rechtsrahmen 190. c) Anwendung der Maßstäbe auf die Systementscheidung Das Urteil unterscheidet im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zwischen zwei Ebenen. Zunächst wird die Systementscheidung, also die Überführung der Zusatzversorgungsansprüche in die gesetzliche Rentenversicherung, auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft, und anschließend deren Auswirkungen auf

185 186 187 188 189 190

BVerfGE 100, 1 (37) m. w. N. BVerfGE 100, 1 (37) unter Verweis auf BVerfGE 53, 257 (292 f.). BVerfGE 100, 1 (37). BVerfGE 100, 1 (38). BVerfGE 100, 1 (38). BVerfGE 100, 1 (40); zuletzt BVerfG, Urteil vom 11. 5. 2005, 1 BvR 368/97.

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

die individuelle Rechtsposition, die in einem beachtlichen Teil der Fälle zu einer Minderung des Rentenanspruchs führen 191. Die Systementscheidung erweist sich als verfassungsgemäß. Der Gesetzgeber war nicht verpflichtet, das bestehende Rentenversicherungssystem der DDR einschließlich der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme aufrechtzuerhalten. Da schon das Rentensystem der Bundesrepublik keinen umfassenden Bestandsschutz genießt, sondern in den Grenzen des Sozialstaatsprinzips umgestaltet werden kann, muß dies erst recht für das anderen Prinzipien folgende DDR-Rentensystem gelten 192. Insbesondere können die Berechtigten aus DDR-Zusatzversorgungssystemen grundsätzlich nicht beanspruchen, daß sie so gestellt werden, als hätten sie ihre Erwerbsbiographie in der Bundesrepublik zurückgelegt 193. Gegen die mit der Systementscheidung verbundene Ersetzung der Zusatzversorgungsansprüche durch Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung ist also zunächst nichts einzuwenden. Das maßgebende Kriterium ist jedoch, ob die neuen Ansprüche den alten Zusatzversorgungsansprüchen gegenüber gleichwertig sind. Auch bei der Frage, ob die Auswirkungen der Systementscheidung auf die individuelle Rechtsposition verhältnismäßig sind, zieht der Senat die Grenzen der Ausgestaltungsbefugnis weit, wenn er darauf abstellt, daß Art. 14 I 2 (nur) bei einer unzumutbaren Schmälerung der Eigentumsposition verletzt ist 194. Die Systementscheidung, in der Form, wie sie vom Gesetzgeber ausgestaltet wurde, nämlich mit der unterschiedslos geltenden Beitragsbemessungsgrenze auch für Personen mit vormals hohen Einkommen, präjudiziert das Ergebnis: bei durchschnittlichen Rentenanwartschaften sind die Auswirkungen der Systementscheidung verhältnismäßig (aa), bei hohen Anwartschaften jedoch nicht (bb).

191

Vgl. BVerfGE 100, 1 (38 ff. [Grundentscheidung] bzw. S. 41 ff. [Auswirkungen]). BVerfGE 100, 1 (39). – Die Grenze der Umgestaltungsbefugnis markiert Art. 79 III GG, der dem verfassungsändernden Gesetzgeber ein „Berühren“ der Grundsätze des Sozialstaatsprinzips verbietet. Ob das Bestehen einer gesetzlichen Rentenversicherung zu diesen Grundsätzen zählt, scheint ungeklärt, dürfte aber unter Hinweis auf das der gesetzlichen Rentenversicherung immanente Element staatlicher Fürsorge, das einem System privater Rentenversicherer fehlen würde, zu bejahen sein. Darauf deutet die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hin, vgl. BVerfGE 28, 324 (348): Sozialversicherung ist ein „prägnanter Ausdruck des Sozialstaatsprinzips“; vgl. auch R. Gröschner, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 44; a. A. H. Dreier, ebd., Art. 79 III Rn. 47. 193 BVerfGE 100, 1 (40). A. A. (Beibehaltung des status quo) K.-A. Heine, VSSR 2003, 317 (329); vgl. ferner R. Will, Eigentumstransformation unter dem Grundgesetz, 1995, S. 18 f. 194 BVerfGE 100, 1 (40). 192

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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aa) Überführungsschutz bei durchschnittlichen Einkommen Für durchschnittliche Anwartschaften sind die Auswirkungen der Systementscheidung verfassungsrechtlich unbedenklich, da der Gesetzgeber hier die ostdeutschen Rentenanwartschaften durch eine, auch der Höhe nach, adäquate Versorgungsleistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung ersetzt hat 195. Für diese Rentenberechtigten hat sich durch die Überführung ihrer Renten kaum etwas verändert, so daß die Lösung des Senats durchaus überzeugen kann. Das kann im Grundsatz auch für leicht über dem Durchschnitt liegende Einkommen gelten. Soweit bei ihnen eine Minderung von Rentenansprüchen eintrat, war jedenfalls der Bezug zur persönlichen Arbeitsleistung gewahrt. Daß sich die Regelung insgesamt im Rahmen einer zulässigen Inhalts- und Schrankenbestimmung bewegt, begründen die Verfassungsrichter zudem mit der Finanzierbarkeit der Rentenversicherung, die nur durch die Überführung der Zusatz- und Sonderversorgungssysteme in die gesetzliche Rentenversicherung sichergestellt werden könne 196. Keine Bedenken äußern sie zudem im Hinblick auf die Beibehaltung der Beitragsbemessungsgrenze, aufgrund derer alle oberhalb des DDR-Durchschnittslohns liegenden Einkommensanteile für die Rentenberechnung unberücksichtigt blieben. Ihre Geltung für die Zusatzversorgungsanwartschaften sei durch die Systementscheidung „vorgeprägt“ 197 und habe nicht entfallen können, „ohne daß das Rentensystem gesprengt“ worden wäre 198. Nicht zu übersehen ist allerdings, daß die Beitragsbemessungsgrenze auch bei leicht überdurchschnittlichen Verdiensten eine Minderung des Rentenanspruchs bewirkt. Diese fällt indes nur gering aus, so daß sie als zumutbar angesehen werden kann. Für die Berechtigten ist mit der Überführung in aller Regel keine wesentliche Absenkung der Rente verbunden. Insoweit ist die Rentenüberleitung im Ganzen zufriedenstellend verlaufen. Der Gesetzgeber hat den zur Verfügung stehenden weiten Gestaltungsspielraum genutzt, aber nicht überschritten. 195 Vgl. BVerfGE 100, 1 (40): der Wortlaut „ersetzt“ ist insoweit problematisch, als er auf eine gesetzliche Novation (so Christoph, Rentenüberleitungsgesetz [Fn. 141], S. 60 ff.) der Rentenanwartschaften hindeutet, das Gericht aber von einem Fortbestand durch Anerkennung im Einigungsvertrag ausgeht. 196 BVerfGE 100, 1 (40 f.). 197 BVerfGE 100, 1 (40 f.); Papier, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 56. – Gegen diesen behaupteten Automatismus – die Überführung der Zusatzversorgungsansprüche in die gesetzliche Rentenversicherung mit Geltung der Beitragsbemessungsgrenze habe automatisch die Absenkung der Renten bewirkt – wendet sich mit guten Gründen Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 109 f.: schon das Wort „Überführung“ impliziere eine Beibehaltung der Rechtssubstanz, wenn auch in anderer Form; zudem hatte man bereits bei der Eingliederung saarländischer Rentenpositionen nach dem Saarbeitritt die Bemessungsgrenze flexibilisiert, um einen Kappungseffekt zu verhindern; vgl. auch P. A. Köhler, NJ 1993, 4 (10). 198 BVerfGE 100, 1 (41).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

bb) Kappungseffekt bei hohen Einkommen Für Rentenbezieher mit vormals hohem Einkommen ist die Situation allerdings eine ganz andere. Ihre Bezüge lagen zum Teil weit oberhalb der Bemessungsgrenze und werden daher bei der Leistungsberechnung nicht berücksichtigt. Das führt zu einer teils drastischen Absenkung der Rentenbezüge um bis zu 20 %, im Einzelfall sogar darüber. Für diese Rentner erweist sich die Systementscheidung als unverhältnismäßige Belastung 199, die von der weiten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Rentenversicherungsrecht nicht mehr gedeckt ist. Der eigentliche Kern der Problematik und das Problematische an der bundesverfassungsgerichtlichen Argumentation treten hier deutlich zutage: Die Beibehaltung der Beitragsbemessungsgrenze für die überführten Zusatzversorgungsansprüche, die der Senat selbst für von der Systementscheidung „vorgeprägt“ erachtet, führt letztlich zur Unverhältnismäßigkeit eben jener Systementscheidung, soweit hohe Einkommen betroffen sind. Der Senat gelangt schließlich auf dem Wege der verfassungskonformen Auslegung der Zahlbetragsgarantie des Einigungsvertrages 200 gleichwohl zur Verfassungsmäßigkeit der Systementscheidung. Die Zahlbetragsgarantie sollte als Schutz- und Ausgleichsmaßnahme gegen eine zu starke Absenkung der Rentenbezüge fungieren, jedoch nur solange der garantierte Zahlbetrag die Einbußen durch die Überführung wertmäßig ausglich 201. Überstieg der errechnete Versorgungsbetrag später aufgrund von Rentenanpassungen den garantierten Zahlbetrag, so bedurfte es keiner Zahlbetragsgarantie mehr. Bei sehr hohen Rentenansprüchen kann der Rentenbetrag aber längere Zeit oder dauerhaft hinter dem Zahlbetrag zurückbleiben; die Betroffenen „bleiben“ förmlich auf dem Zahlbetrag „sitzen“, wären von künftigen Rentenerhöhungen ausgeschlossen 202. Das ist mit zwei Wesensmerkmalen der gesetzlichen Rentenversicherung in seiner derzeitigen Gestalt unvereinbar. Zum einen kollidiert die Regelung mit dem Grundsatz der dynamisierten, an die allgemeine Einkommensentwicklung gekoppelten Rente. Zum anderen beeinträchtigt sie die relative Position eines Rentners innerhalb seiner Rentengeneration, die grundsätzlich erhalten bleiben muß 203. Auf einen Verstoß gegen dieses letztere Merkmal der relativen Rentenposition allein kann zwar die Verfassungswidrigkeit der Grundentscheidung nicht gestützt werden. Jedoch im Zusammenspiel mit einer nicht dynamisierten Rente in Höhe des garantierten Zahlbetrags ist die Regelung nicht mehr zumutbar und verhältnismäßig 204. Mit anderen Worten: der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im 199 200 201 202 203

BVerfGE 100, 1 (43). Vgl. Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 9b Satz 4 EinigungsV. BVerfGE 100, 1 (41). BVerfGE 100, 1 (41 f.). BVerfGE 100, 1 (42).

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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Rentenversicherungsrecht endet dort, wo elementare Wesensmerkmale des derzeitigen Rentensystems negiert werden. Ein anderes Ergebnis wäre im Hinblick auf das zentrale Ziel der Schaffung von Rechtseinheit auch paradox. Im Ergebnis ist die Zahlbetragsgarantie verfassungskonform dahin auszulegen, daß der Zahlbetrag an die Lohn- und Einkommensentwicklung angepaßt werden muß, damit ihre Ausgleichsfunktion erhalten bleibt 205. Der Beschwerdeführer dürfte mit diesem Ergebnis kaum zufrieden gewesen sein. Er erhält zwar eine dynamisierte Rente, steigt aber trotzdem innerhalb seiner Rentengeneration vom „Spitzenrentner“ zum „besseren Durchschnittsrentner“ ab. 2. Prüfungsmaßstab Art. 3 I GG a) Bestimmung des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums Zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers im Rahmen von Art. 3 I GG enthält das Urteil nur knappe Ausführungen. Eingangs wird die ständige Rechtsprechung zur „neuen Formel“ referiert, wonach alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, der Gesetzgeber aber Differenzierungen vornehmen kann, sofern er nicht eine Gruppe von Normadressaten anders behandelt als eine andere, obwohl zwischen beiden keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können 206. Diese Maßstäbe werden im vorliegenden Fall insofern modifiziert, als der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Herstellung der Rechtseinheit in der gesetzlichen Rentenversicherung und der Überführung der im Beitrittsgebiet erworbenen Ansprüche und Anwartschaften „besonders weit“ ist 207. b) Anwendung der Maßstäbe auf die Systementscheidung Eine Ungleichbehandlung der Berechtigten aus den Zusatzversorgungssystemen kommt im Vergleich zu drei anderen Personengruppen in Betracht: im Verhältnis zu vergleichbaren Versicherten aus den alten Ländern (aa), zu noch Erwerbstätigen (bb) und im Vergleich zu Zusatzversorgungsberechtigten mit Durchschnittseinkommen (cc). Im letzteren Fall fehlt es für die Ungleichbehandlung an einem wichtigen Grund. Im Wege der verfassungskonformen Auslegung ist die Systementscheidung jedoch im Ergebnis mit dem Gleichheitssatz vereinbar 208.

204 205 206 207 208

BVerfGE 100, 1 (42 f.). BVerfGE 100, 1 (44). BVerfGE 100, 1 (38). BVerfGE 100, 1 (38). BVerfGE 100, 1 (44).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

aa) Vergleichbare Versicherte aus den alten Bundesländern Eine Schlechterstellung liegt gegenüber höherverdienenden Angehörigen entsprechender Berufsgruppen in den alten Bundesländern vor, die Ansprüche aus anderen Alterssicherungssystemen (Beamtenversorgung, Rechtsanwaltsversorgung etc.) haben und dadurch finanziell besser abgesichert sind. Hierzu konstatieren die Richter zutreffend, daß die Berufsgruppen in Ost und West nicht derart deckungsgleich waren, als daß eine Einbeziehung in solche Alterssicherungssysteme, für die die ostdeutschen Zusatzversorgungsberechtigten zudem keine Beiträge geleistet hatten, widerspruchsfrei möglich war; sie waren vielmehr nach Arbeitsgebiet, Umfang und teils auch nach Qualifikation verschieden 209. Die westdeutschen Versicherten haben zudem erheblich höhere Beitragszahlungen geleistet, weswegen der Gesetzgeber nicht verpflichtet war, ostdeutsche Versicherte so zu stellen, als hätten sie die Voraussetzungen einer in Westdeutschland üblichen Zusatzversorgung (etwa im öffentlichen Dienst) erfüllt 210. bb) Noch Erwerbstätige Eine Ungleichbehandlung liegt ferner im Verhältnis zu den Rentenberechtigten vor, die noch erwerbstätig sind, also nur einen Teil ihrer Erwerbsbiographie in der DDR zurückgelegt haben, und mit ihrer momentanen Erwerbstätigkeit weitere Leistungsansprüche aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder aus anderen Alterssicherungssystemen erwerben können. Diese Ungleichbehandlung ist aber gerechtfertigt, da es der Gesetzgeber kraft seiner Gestaltungsbefugnis ablehnen kann, bestimmte alters- oder schicksalsbedingte Umstände zum Nachteil der Versichertengemeinschaft voll auszugleichen 211. Es liegt eben in der Natur der Sache, daß Personen im erwerbsfähigen Alter bessere Chancen haben, ihre Erwerbsbiographie positiv zu beeinflussen, als nicht mehr Erwerbstätige. Welche Differenzierungskriterien für eine Ungleichbehandlung maßgeblich sind, entscheidet grundsätzlich der Gesetzgeber 212. 209 BVerfGE 100, 1 (45). Allerdings bestanden bei einigen Berufsgruppen, etwa bei den Hochschullehrern, durchaus erhebliche Ähnlichkeiten (z. B. bei den Berufungsverfahren): vgl. hierzu Wolter, Zusatzversorgungssysteme (Fn. 141), S. 77 ff.; ob die DDR-typischen „Implikationen“ politischer Art eine Vergleichbarkeit von Hochschullehrern West und Hochschullehrern Ost von vornherein ausschließen, erscheint – zumindest für politisch „neutrale“ Wissenschaftszweige – durchaus fraglich; so verwundert es nicht, daß der Beschwerdeführer des hier erörterten Verfahrens langjähriger Hochschullehrer in einer medizinischen Forschungseinrichtung war. 210 BVerfGE 100, 1 (45). – aus der Literatur ebenso Papier, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 92; K.-J. Bieback, NZS 1994, 193 (200); H. Simon, NJ 1995, 227 (229); vgl. wohl auch P. A. Köhler, NJ 1993, 4 (9 f.). 211 BVerfGE 100, 1 (46). 212 BVerfGE 100, 1 (46) mit Verweis auf BVerfGE 81, 108 (117).

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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cc) Versorgungsberechtigte mit Durchschnittseinkommen Die dritte Vergleichsgruppe bilden schließlich die Zusatzversorgungsberechtigten mit Einkünften unterhalb oder nah an der Beitragsbemessungsgrenze 213. Für letztere sank zwar zunächst das Rentenniveau auf das in der gesetzlichen Rentenversicherung geltende Maß von etwa 70 %. Im Zuge der Rentenangleichung stieg jedoch die Rentenhöhe auf das Niveau vergleichbarer westdeutscher Versicherter an, was für Versorgungsberechtigte mit Spitzeneinkommen nicht galt. Der Drehund Angelpunkt ist wiederum der Ausschluß der Dynamisierung: Die Bestandsrentner, deren Einkommen unterhalb oder nah an der Beitragsbemessungsgrenze liegen, kommen in den Genuß der dynamisierten Rentenangleichung, die Bestandsrentner mit Einkommen oberhalb der Bemessungsgrenze nicht. Dafür ist kein wichtiger Grund ersichtlich 214. Die Differenzierung kann insbesondere nicht dadurch gerechtfertigt werden, daß die Betroffenen aufgrund ihrer erzielten Spitzeneinkommen wenigstens den garantierten Zahlbetrag erhalten, auch wenn er höher ist als der Rentenbetrag, der ihnen nach den Vorschriften des SGB VI zusteht 215. Den Vorschriften des Einigungsvertrages läßt sich nämlich gerade nicht entnehmen, daß solche Einkommensunterschiede eingeebnet werden sollten. Die Anknüpfung an die von den Berechtigten gezahlten Beiträge (§ 5 AAÜG) bzw. an die im Juli 1990 gezahlten Renten (Zahlbetragsgarantie) ist vielmehr ein starkes Indiz für die gegenteilige Intention des Gesetzgebers 216. Ein langfristiger oder gar dauerhafter Ausschluß der Zusatzversorgungsrenten von künftigen Rentenanpassungen setzt sich in Widerspruch zum gewählten Überführungskonzept 217. Der Gleichheitssatz verlangt somit (ebenso wie die Eigentumsgarantie) eine Dynamisierung des garantierten Zahlbetrags, um die Einkommensunterschiede zwischen Zusatzversorgungsberechtigten einerseits und den übrigen ostdeutschen Rentenberechtigten andererseits in der Anspruchshöhe fortwirken zu lassen 218.

III. Weitere Entwicklung, insbesondere: die „Systemnähe“-Rechtsprechung Das besprochene Urteil hat die Kontroverse über die Verfassungsmäßigkeit der Systementscheidung im wesentlichen beigelegt. In der Folgezeit verlagerte sich der Streit um die Rentenüberleitung auf die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit 213

BVerfGE 100, 1 (46). BVerfGE 100, 1 (46 f.); ebenso Wolter, Zusatzversorgungssysteme (Fn. 141), S. 91 ff.; Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 125. 215 BVerfGE 100, 1 (46 f.). 216 BVerfGE 100, 1 (47). 217 BVerfGE 100, 1 (47). 218 BVerfGE 100, 1 (47). 214

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

der §§ 6 II, III und 7 AAÜG 219. Diese Regelungen sollten die Vorgabe des Einigungsvertrages umsetzen, überhöhte Leistungen abzuschaffen und ungerechtfertigte Ansprüche abzubauen. Anknüpfungspunkt war entweder die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Versorgungssystem 220 (§ 6 II AAÜG) oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Funktionsebene 221 (§ 6 III AAÜG). Einer Sonderregelung unterfielen die Angehörigen des Sonderversorgungssystems des MfS/AfNS. Tragendes Kriterium für die Anwendung der Begrenzungsregelungen war die tatsächliche oder angenommene „System- und Staatsnähe“ der Betroffenen. Der Abbau der Rentenansprüche erfolgte dadurch, daß Teile des Arbeitseinkommens bei der Rentenberechnung nicht berücksichtigt wurden. Das AAÜG enthielt dazu Anlagen, in denen die berücksichtigungsfähigen Höchstbeträge in Jahresgehaltstabellen der Zeit von 1950 bis 30. Juni 1990 aufgeführt waren 222. Die im Detail komplizierten und kleinteiligen Vorschriften sollen hier nicht dargestellt werden 223. Zum Verständnis reicht es aus, auf die durch das AAÜG bewirkte Staffelung der berücksichtigungsfähigen Jahreseinkommen hinzuweisen: Die Festsetzung der Jahreshöchstbeträge war so gewählt, daß das tatsächlich erzielte Arbeitseinkommen nicht mehr voll berücksichtigt wurde, wenn es das 1,4 fache des durchschnittlichen Verdienstes (1000 Mark) in der DDR überstieg. Bei Personen, die mehr als das 1,8 fache erhalten hatten, wurde aufgrund einer degressiven Staffelung sodann nur noch der Durchschnittsverdienst berücksichtigt. Mit anderen Worten: alle Einkommen oberhalb des 1,4 fachen des Durchschnittsverdienstes galten als „überhöht“ im Sinne der Vorgaben des Einigungsvertrages.

219 Zu § 6 II, III AAÜG: BVerfGE 100, 59 (90 ff.); 111, 115 (136 ff.); zu Art. 7 AAÜG: BVerfGE 100, 138 (173 ff.). 220 Sog. „bereichsspezifische“ Begrenzungsregelung; hiervon waren in der ursprünglichen Fassung des AAÜG betroffen die Mitglieder der Zusatzversorgungssysteme der Anlage 1 Nr. 2 (Generaldirektoren), Nr. 3 (verdienstvolle Vorsitzende der Produktionsgenossenschaften) und Nr. 19 bis 27 (darunter hauptamtliche Mitarbeiter des Staatsapparates, der Gesellschaft für Sport und Technik, des FDGB und der Parteien), sowie die Mitglieder der Sonderversorgungssysteme der Anlage 2 Nr. 1 bis 3 (Angehörige der NVA, der Volkspolizei, der Feuerwehr und des Strafvollzuges und der Zollverwaltung) mit Ausnahme der in § 6 IV AAÜG Genannten. – Für die Mitglieder des Sonderversorgungssystems des MfS/AfNS (Anlage 2 Nr. 4) sah § 7 AAÜG noch einschneidendere Begrenzungen des anrechenbaren Arbeitsentgelts vor (dazu unten). 221 Sog. „funktionsspezifische“ Begrenzungsregelung; Beispiele sind etwa Generaldirektoren der leitenden Kombinate, verdienstvolle Vorsitzende von Produktionsgenossenschaften und Leiter kooperativer Einrichtungen der Landwirtschaft, Betriebsdirektoren, hauptamtliche Parteisekretäre, Richter oder Staatsanwälte. 222 Vgl. Anlage 3 bis 5 sowie Anlage 8 zu § 6 a. F. AAÜG. 223 Vgl. die eingehenden Sachverhaltsdarstellungen bei Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 17 ff., 126 f.; Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 178 ff.; mit Rechenbeispielen Wilmerstadt, Rentenrecht (Fn. 141), S. 240 ff.; ferner M. Mutz, DAngVers 1999, 509 (511 ff.); K. Ritze, Die Sozialversicherung 2001, 225 ff.; K.-H. Christoph / W. Mäder, ZFSH / SGB 2005, 195 (201 ff.).

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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Intendiert war die Beschränkung des Rentenanspruchs in dem Umfang, in dem man glaubte, er beruhe auf politischer Begünstigung. Der Anteil, der auf die persönliche Arbeitsleistung des Versicherten zurückging, sollte hingegen unberührt bleiben. Dahinter verbarg sich die Annahme, eine Tätigkeit im Staatsapparat der DDR beinhalte zwangsläufig eine finanzielle Besserstellung oder Begünstigung. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand stellte sich heraus, daß die Annahme in dieser Pauschalität nicht zutraf 224. Das Bundesverfassungsgericht hatte in einer ersten Entscheidung hierzu die §§ 6 II, III AAÜG vorrangig am Maßstab des Art. 3 I GG geprüft und für verfassungswidrig erachtet. Ausschlaggebend war die Kürzungsmethode, da hinreichende Belege für den Zusammenhang zwischen Einkommenshöhe und staatsnaher Tätigkeit fehlten 225. Der Gesetzgeber durfte also nicht pauschal annehmen, daß Arbeitsentgelte von einem bestimmten Betrag an aufwärts überhöht waren 226, insbesondere war dies nicht aus der Systemnähe der geleisteten Tätigkeit herleitbar. Keiner Beanstandung unterlag hingegen das Regelungsziel, das die Verfassungsrichter im Abbau überhöhter Leistungen erblickten, nicht hingegen in der Ahndung einer besonderen System- und Staatsnähe 227. Der Überleitungsgesetzgeber hatte dies in der Entwurfsbegründung für das Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz nicht ganz so unpolitisch formuliert: Denn danach sollte das AAÜG solche Tätigkeiten erfassen, von denen „bei typisierender Betrachtung ein erheblicher Beitrag zur Stärkung oder Aufrechterhaltung des politischen Systems der ehemaligen DDR“ 228 ausging. Dieser Standpunkt wurde in der verfassungsrechtlichen Literatur nicht durchweg geteilt 229. Der Senat meidet dieses „Minenfeld“, indem

224 Aus der Rückschau kritisch M. Mutz, DAngVers 1999, 509 (509, 512): die Regelung basiere auf Unwissenheit und vorgefaßter Meinung über den Wert der von den DDR-Eliten geleisteten Arbeit. 225 BVerfGE 100, 59 (95 f.). So war es nicht nachweisbar, daß Bedienstete im DDRStaatsapparat mehr verdienten als etwa Personen in der Produktion. Hinzu kommt, daß auch bei Personengruppen, die nicht von § 6 II, III AAÜG erfaßt wurden, politische Privilegierungen möglich waren. 226 BVerfGE 100, 59 (94). 227 BVerfGE 100, 59 (92). 228 Vgl. BT-Drucks. 12/4810, S. 20 – Vgl. auch H. Simon, NJ 1995, 227 (230): es sei vertretbar, nur diejenigen „durch ein Sonderopfer an den Kosten der Vereinigung zu beteiligen“, die „Nutznießer“ des DDR-Systems waren; diese Personen hätten nicht erwarten können, daß sie „zu Lasten der Solidargemeinschaft“ mehr erhalten würden als eine „durchschnittliche, zumeist sogar überdurchschnittliche dynamisierungsfähige Rente“, wobei für den Einzelfall allerdings eine Härteklausel geboten sei. Ebenso Papier, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 99: es sei vertretbar, in Ausnutzung eines weiten legislatorischen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraums „alte Privilegien in Staat, Partei und Gesellschaft, die sich selbstverständlich gerade auch in der Höhe des Einkommens ausdrückten“, einer Perpetuierung für die Zukunft zu entziehen. 229 So lehnt etwa Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 35 ff., 58 jedwede politische Bewertung ab; eine Absenkung von überhöhten Leistungen sei zwar zulässig, die

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

er die politische Problematik nicht weiter aufgreift. Er verweist lediglich darauf, daß auch nach der Rechtsprechung zu westdeutschen Rentenversicherungsanwartschaften eine Rückführung von überhöhten Leistungen in bestimmten Konstellationen möglich und anerkannt sei 230. An der Vergleichbarkeit der hier diskutierten Sachverhalte mit diesen Fällen darf allerdings gezweifelt werden. Die notwendig gewordene Neufassung, vor allem des § 6 II, III AAÜG 231, der die Höhe der berücksichtigungsfähigen Entgelte veränderte (und hierdurch den Kreis der Betroffenen verringerte), es jedoch bei der beanstandeten Methode beließ, wurde schließlich fünf Jahre später vom Gericht erneut wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz und mit gleicher Kritik an der Regelungsmethode verworfen 232. Dem Gesetzgeber wurde erneut aufgegeben, bis zum 30. 6. 2005 eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen. Das schamhaft als „1. AAÜG-ÄnderungsG (2005)“ 233 bezeichnete dritte Änderungsgesetz folgt dem Modus der bisherigen Korrekturen und verringert den Kreis der Betroffenen noch einmal deutlich, so daß jetzt lediglich die Personen erfaßt werden, die in den höchsten Funktionsebenen tätig waren 234. Bei diesen bleibt es allerdings bei der Regelung, daß nur das Durchschnittseinkommen berücksichtigt wird. Durch die enge Begrenzung des Personenkreises wird die Neufassung freilich nicht weniger fragwürdig. Denn die Frage bleibt, ob man die unzweifelhaft hohen Gehälter dieser Personen angesichts ihrer herausgehobenen (und damit zwangsläufig auch verantwortlichen) Stellung im Staat wirklich allein als politische Privilegierung werten kann, die ihnen unverdient zugeflossen ist. Wenn das Bundesverfassungsgericht und ein Teil des Schrifttums die Kürzung dieser

Regelungen des § 6 (und 7) AAÜG stellten aber systemwidrige quasi-pönale Sanktionen dar, die mit dem Grundsatz der Wertneutralität des Sozialversicherungsrechts und dem Grundsatz nulla poena sine culpa nicht in Einklang stünden; ebenso H.-D. Steinmeyer, VSSR 1990, 83 (100); Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 348; scharf Christoph, Rentenüberleitungsgesetz (Fn. 141), S. 203 ff: Rentenstrafrecht. – Gegen die Argumentation mit der Wertneutralität M. Heintzen, VSSR 1995, 1 (14): gilt nicht bei Systemwechsel; so wohl auch P. A. Köhler, NJ 1993, 4 (10). 230 BVerfGE 100, 59 (92) m. w. N. zu den einschlägigen Fallgruppen. 231 Vgl. Zweites Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (2. AAÜG-ÄnderungsG) vom 27. 7. 2001 (BGBl. I, S. 1939); dazu B. Heller, NJ 2001, 350 ff. 232 Sehr deutlich BVerfGE 111, 115 (136 ff.). – Zur Entscheidung eingehend K.-H. Christoph / W. Mäder, ZfSH / SGB 2005, 195 (207 ff.); A. Brandt, NJ 2004, 504 (507). 233 Vgl. Erstes Gesetz zur Änderung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes vom 21. 6. 2005 (BGBl. I, S. 1672). 234 Vgl. § 6 II AAÜG i. d. F. des 1. AAÜG-ÄnderungsG (2005); erfaßt werden beispielsweise nur noch Mitglieder, Kandidaten oder Staatssekretäre des Politbüros; Generalsekretär, Sekretär oder Abteilungsleiter des Zentralkommitees der SED; Erster und Zweiter Sekretär der SED-Bezirks- und Kreisleitung; Staatsanwälte in vom MfS durchgeführten Ermittlungsverfahren u. a.

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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Rentenansprüche mit dem Abbau von Privilegien rechtfertigt, so wird damit ein wertendes Kriterium in das Rentenversicherungssystem eingebracht, das ihm in dieser Form fremd ist. Kein Angehöriger der gesetzlichen Rentenversicherung muß nachweisen, daß er wertvolle Arbeit geleistet hat. Und auch die Argumentation, die Rentenkürzungen seien bei (nicht: nach) der Überführung oder durch sie geschehen, und seien somit den strengen Standards des Eigentumsschutzes ein Stück weit enthoben gewesen, wirkt allzu konstruiert. Der eigentliche Grund für die angesprochenen Kürzungen ist ein politischer: es werden Rentenpositionen von obersten Repräsentanten eines Staates entzogen, dessen Maximen die geltende Rechtsordnung nicht teilt bzw. geteilt hat. Politische Wertungen sind dem Rentenversicherungsrecht zwar nicht gänzlich fremd, sie bedürfen aber einer verfahrensrechtlichen Einkleidung 235. Überdies wäre es ein Gebot der Ehrlichkeit, die tatsächlichen Beweggründe für die getroffene Regelung offenzulegen. Die momentane Handhabung bewirkt nur, daß sich die Betroffenen politischen Gruppierungen zuwenden, die man lieber in der Bedeutungslosigkeit verschwinden sähe; sie ist daher auch politisch unklug. Für die Mehrzahl der anderen ursprünglich Betroffenen sind die Beschränkungen durch die Neufassung gänzlich entfallen.

IV. Verfassungsrechtliche Bewertung Die verfassungsrechtliche Bewertung der Systementscheidung wird zeigen, daß die Zusatzversorgungsanwartschaften zutreffend als eigentumsrechtliche Rechtsposition gewertet werden (1). Sodann ist das zentrale Argument des Urteils, die weite Gestaltungsfreiheit im Bereich des Rentenversicherungsrecht, kritisch zu würdigen (2). Schließlich wird darauf eingegangen, ob die Unterscheidung zwischen der Prüfung der Systementscheidung einerseits und der Prüfung der Zumutbarkeit andererseits nicht schon selbst eine Relativierung der verfassungsrechtlichen Anforderungen impliziert (3). 1. Grundrechtsprüfung als methodischer Rahmen Die Zuordnung der Zusatzversorgungsansprüche zum Gewährleistungsbereich der Eigentumsgarantie wird in zwei Schritten vollzogen: Erstens bejaht das Urteil den Fortbestand der Rechtspositionen trotz des Umstands, daß sie nicht unter dem Rechtsregime des Grundgesetzes (und damit der Eigentumsgarantie) entstanden sind (a); und zweitens werden die Ansprüche einer Neubewertung unterzogen, die sie zutreffend als von Art. 14 GG geschützte Rentenpositionen ausweist (b). 235 Ein zentraler Kritikpunkt im Zusammenhang mit den §§ 6, 7 AAÜG war daher, daß dieses kein Verfahren vorsah, durch das im Vorfeld zunächst die „Systemnähe“ als Anknüpfung für die Rentenkürzung festgestellt werden mußte.

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

a) Fortbestand der Rechtspositionen Ebenso wie die Altschuldenfrage gab auch die Rentenüberleitung Anlaß zur Erörterung der Frage, ob die außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes erworbenen ostdeutschen Rechtspositionen überhaupt fortbestehen. Das wurde im Vorfeld der Entscheidung von beachtlichen Stimmen im Schrifttum verneint 236. Zur Begründung hieß es, die Rentenansprüche genössen keinen Schutz durch die Eigentumsgarantie, da Art. 14 GG mit der Wiedervereinigung nicht rückwirkend in den neuen Ländern in Kraft getreten sei 237. Außerdem wurde vorgetragen, eine Anerkennung der Anwartschaften als Eigentumsposition lasse sich weder dem Staatsvertrag noch dem Einigungsvertrag entnehmen, da beide Verträge lediglich Regelungsaufträge an den einfachen Gesetzgeber formulierten; das sei aber nur unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit geschehen und mit der Möglichkeit, die Ansprüche zu modifizieren 238. Die Regelungsintention des AAÜG bestand nach dieser Ansicht also nicht in einer nachträglichen Beschränkung bestehender Eigentumspositionen, sondern in der Schaffung neuer Rechte 239. Diese Auffassung argumentiert mit dem Wortlaut des Einigungsvertrages, der in Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 9b bestimmte, daß die erworbenen Ansprüche bis Ende 1991 in die Rentenversicherung zu überführen sind. Erst mit Abschluß dieser Überführung – und nicht bereits mit dem Tag der deutschen Einheit und der Geltungserstreckung des Grundgesetzes einschließlich der Eigentumsgarantie auf die neuen Länder – sollen die Rentenanwartschaften als Eigentumspositionen im Sinne des Art. 14 I 2 GG zu werten sein. Das vermag nicht zu überzeugen. Zwar beachtet diese Auffassung, daß Art. 14 GG ein ausgestaltungsbedürftiges Grundrecht ist, dessen Inhalt vom Gesetzgeber durch generell-abstrakte Normen jedweder Art 240 konkretisiert wird. Folglich wertet das BSG, das die referier-

236 So vor allem Papier, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 24 ff.; mit etwas anderer Begründung (Fehlen eines notwendigen Anerkennungsaktes) M. Heintzen, VSSR 1995, 1 (15 f.); ebenso Faßhauer, Hochschullehrer (Fn. 141), S. 83. Einen Überblick über die vertretenen Auffassungen gibt K.-A. Heine, VSSR 2003, 317 (319 f.). 237 Papier, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 24; ders., DtZ 1996, 43 (43); ebenso BSG, Vorlagebeschluß vom 14. 6. 1995, 4 RA 28/94, juris-Nr: KSRE061551515, Rz. 64 f.: „ . . . Denn die Rentenansprüche und -anwartschaften aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen sind keine eigentumsgeschützten Rechtspositionen iS des GG. ( . . . ) Der Schutz der individual-grundrechtlichen Eigentumsgarantie des Art. 14 GG erstreckte sich nicht rückwirkend auf Erwerbstatbestände, die im Gebiet der ehem. DDR zurückgelegt worden sind.“ Das BSG sieht aber im Ergebnis einen Verstoß gegen die Zahlbetragsgarantie des EinigungsV, die von Art. 14 GG geschützt ist (Rz. 102 ff.). 238 M. Heintzen, VSSR 1995, 1 (15 f); vgl. Papier, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 30 f. 239 So Papier, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 25 f.: die Überleitung hat „konstitutiven, rechtsgewährenden Charakter“, der eine Bindung an Art. 14 GG ausschließt; ders., DtZ 1996, 43 (43); M. Heintzen, VSSR 1995, 1 (16 ff.).

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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te Ansicht in seinem Vorlagebeschluß an das Bundesverfassungsgericht vertritt, zunächst nur die im Einigungsvertrag verankerte Zahlbetragsgarantie (Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 9b Satz 4 EinigungsV) als Inhaltsbestimmung im Sinne des Art. 14 I 2 GG, da nur sie einen von der Eigentumsgarantie geschützten Rechtsanspruch vermittelt 241. Die übrigen Rentenansprüche und -anwartschaften bleiben jedoch ausgeklammert; sie werden erst durch die endgültige Überleitung mit dem durch das Rentenüberleitungsgesetz und das AAÜG festgesetzten Inhalt zu Eigentumspositionen im Sinne des Art. 14 I 2 GG. Diese Lösung erscheint aber keinesfalls als zwingend. Dem Einigungsvertrages ist kein Vorbehalt zu entnehmen, daß der Grundrechtsschutz durch Art. 14 GG erst nach der Überführung der Zusatzversorgungsanwartschaften in die gesetzliche Rentenversicherung greift. Die Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 9 EinigungsV bestimmt zunächst einmal nur, daß bis zur Überführung in die gesetzliche Rentenversicherung das alte DDR-Rentenrecht fortgilt. Zugleich enthält Satz 3 Nr. 1 der Regelung eine Reihe von Vorgaben für die künftige Überführung und die anschließende Anpassung der „erworbenen“ Rechtspositionen bzw. normiert gewisse Sicherungen gegen eine allzu drastische Absenkung der Anwartschaften durch die Rentenanpassung (z. B. Zahlbetragsgarantie). Unstreitig vorbehalten bleibt hierdurch nur die Anpassung von „überhöhten“ oder „ungerechtfertigten“ Leistungen; eine Aussage über die Qualität der Zusatzversorgungsanwartschaften als eigentumsrechtliche Position ist damit jedoch nicht getroffen, sondern vielmehr offengelassen worden. Im Ergebnis hat der Einigungsvertrag die Ansprüche und Anwartschaften aus Zusatzversorgungssystemen jedenfalls als rentenrechtliche Ansprüche (als solche wurden sie einhellig angesehen) anerkannt. Ob sie vom Eigentumsschutz erfaßt werden, ist dann nur noch davon abhängig, ob sie dessen Merkmale erfüllen, was das Gericht schließlich bejaht 242. Daher ist hier die Lösung des Bundesverfassungsgerichts vorzuziehen, wonach der Einigungsvertrag die Zusatzversorgungsansprüche und -anwartschaften als bestehend anerkannt hat und diese mit der Erstreckung des Grundgesetzes auf die neuen Länder in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie gelangten 243. 240

H. D. Jarass, in: H. D. Jarass / B. Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Kommentar, 8. Aufl. 2006, Art. 14 Rn. 36. 241 BSG, Vorlagebeschluß (Fn. 237), Rz. 102; a. A. Papier, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 32: Zahlbetragsschutz nur bis zum Zeitpunkt der Überführung in die gesetzliche Rentenversicherung. 242 Für Sacheigentum, das, ebenso wie rentenrechtliche Ansprüche, erst in den Geltungsbereich des Grundgesetzes gelangte, war der Schutz durch Art. 14 GG nicht zweifelhaft (Hinweis bei R. Will, NJ 1999, 337 [340]); auch insofern ist die Lösung des Bundesverfassungsgerichts vorzugswürdig. 243 BVerfGE 100, 1 (33) mit Verweis auf die Entscheidung zur Mietpreisbindung in den neuen Ländern in BVerfGE 91, 294 (307 f.). Aus der Literatur im Ergebnis ebenso, aber mit unterschiedlichen Begründungsansätzen: Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 141),

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

b) Neubewertung als rentenversicherungsrechtliche Positionen Der Fortbestand der Anwartschaften besagt lediglich, daß sie in ihrem alten rechtlichen Gewande fortbestehen. Ihre rechtliche Neubewertung folgt – wie auch schon das Altschuldenurteil gezeigt hat – dem Prinzip der strukturellen Gleichwertigkeit 244. Die Ansprüche werden behandelt wie vergleichbare westdeutsche Ansprüche, hier wie westdeutsche Rentenpositionen, die den Schutz der Eigentumsgarantie genießen. Die Zusatzversorgungsanwartschaften weichen zwar vom westdeutschen „Idealbild“ ab, weisen aber gleichwohl genügend Ähnlichkeiten auf, um sie dem Eigentumsbegriff zuzuordnen. Sie sind daher Renten, keine Fürsorgeleistungen. Daß sie zum Teil nicht auf einer nennenswerten Eigenleistung der Versicherten beruhen, führt zu keiner anderen Beurteilung, da auch in früheren Judikaten zu westdeutschen Rentenversicherungsansprüchen die bloße Arbeitsleistung als ausreichend erachtet wurde. Dies ist also keine Besonderheit der Rentenüberleitung und somit zumindest unter rechtsprechungssystematischem Blickwinkel unproblematisch. Das Kriterium der eigenen Beitragsleistung büßt dadurch freilich einiges von seiner Abgrenzungswirkung zu reinen Fürsorgeleistungen ein. Nicht unproblematisch ist es aber, wenn der Senat das Kriterium der Beitragsleistung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung wieder heranzieht, um zu begründen, daß Einbußen bei der Eigentumsposition umso eher hinzunehmen sind, je geringer die Beitragsleistung des Versicherten war. Zwar benennt der Einigungsvertrag die Beitragsleistung als zulässiges Anknüpfungskriterium 245. Als tragender Gesichtspunkt kann sie allerdings schon deshalb nicht herangezogen werden, weil sie in den einzelnen Versorgungsordnungen höchst unterschiedlich ausgestaltet war und die Berechtigten unter den Bedingungen des DDR-Alterssicherungssystems gar nicht von einer strengen Beitragsbezogenheit ihrer Rente ausgehen mußten. Ungeachtet dessen zeigt das Urteil, daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz rentenversicherungsrechtlicher Positionen ausreichend Flexibilität bot, um die ostdeutschen Anwartschaften adäquat zu beurteilen. Damit wird das zum Altschulden-Urteil gefundene Ergebnis bestätigt: Es kommen hinsichtlich der grundrechtlichen Schutzbereiche keine besonderen verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur Anwendung, vielmehr wird versucht, die ostdeutschen Sachverhalte mit den Rechtsbegriffen der bestehenden Rechtsordnung zu erfassen.

S. 78 ff.; H. Simon, NJ 1995, 227 (228); ders., DtZ 1996, 41 (41 f.); Heine, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 279 ff.; insbesondere zum Verweis auf die Entscheidung zur Mietpreisbindung ders., rv 1999, 201 (204). 244 W. Kluth, JA 2000, 545 (547); R. Will, NJ 1999, 337 (340). 245 Vgl. Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr. 9b Satz 3 EinigungsV.

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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2. Weite Gestaltungsfreiheit im Rentenversicherungsrecht Die zentrale Aussage des Urteils besteht darin, daß sich der Gesetzgeber bei der Überführung der ostdeutschen Zusatzversorgungsansprüche auf eine weite Gestaltungsfreiheit berufen kann 246. Hier interessiert vor allem die dafür angeführte Begründung. Im Unterschied zum Altschulden-Urteil, in dem das tragende Argument die besondere Situation der Wiedervereinigung war, stützt sich der Senat nunmehr auf eine bereichsspezifische, weite Gestaltungsfreiheit für das Rentenversicherungsrecht 247 und führt damit (vordergründig) seine einschlägige Rechtsprechung fort 248. Dieser weite Gestaltungsspielraum endet konkret dort, wo die Wesensmerkmale des derzeit praktizierten Rentenversicherungssystems negiert werden. Damit ist eine nachvollziehbare Trennungslinie zwischen Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit gezogen: mit der Entscheidung für die Überleitung wahrt der Gesetzgeber die Grenzen seines weiten Gestaltungsspielraums noch, mit der unterlassenen Anpassung des garantierten Zahlbetrags an die Lohnentwicklung überschreitet er sie 249. Gleichwohl verlangt dieses Ergebnis eine kritische Betrachtung. Man muß sich dabei vor Augen halten, daß die Systementscheidung eine erhebliche Minderung der Rentenanwartschaft bewirkt, im Falle des Beschwerdeführers von mehr als 20 %, und dies nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts den Anforderungen der Eigentumsgarantie und des Gleichheitssatzes entsprechen soll. Die Höhe dieser Einschnitte läßt Zweifel daran aufkommen, daß sich die Systementscheidung 246 So R. Will, NJ 1997, 337 (341); die weite Gestaltungsfreiheit erweist sich als das durchschlagende Argument, auf das die Verfassungsmäßigkeit der Systementscheidung gestützt wird. 247 Ebenso R. Will, NJ 1999, 337 (341); vgl. auch K. A. Heine, rv 1999, 201 (205), der meint, die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung werte den Eigentumsschutz generell nicht besonders hoch. Das erscheint aber fraglich, denn bisher standen nur Eingriffe zur Rede, die an Intensität und Tragweite nicht mit der vorliegenden Systementscheidung vergleichbar waren (siehe die einschlägigen Rechtsprechungsbeispiele: BVerfGE 53, 257 ff.; 69, 272 ff.). 248 BVerfGE 100, 1 (37). – Kritisch K. A. Heine, rv 1999, 201 (207): die Überleitung der DDR-Positionen werde vom BVerfG unzutreffend als ein „Systemwechsel“ deklariert, der auch in der Bundesrepublik hätte stattfinden können, ohne daß eine andere verfassungsrechtliche Bewertung geboten gewesen wäre. Etwas mißverständlich ist es, wenn R. Will, NJ 1997, 337 (341) meint, das Bundesverfassungsgericht finde „keine fertigen Maßstäbe im geltenden Verfassungsrecht“ vor, sondern müsse sie im Wege der Rechtsfortbildung erst formulieren. Aufbau und Argumention der Entscheidung legen aber das Gegenteil nahe: der verfassungsdogmatische Rahmen bleibt derselbe, nur die in diesem Rahmen angelegten Maßstäbe verschieben sich. 249 Soweit ersichtlich, ist die Lösung des Gerichts, den garantierten Zahlbetrag zu dynamisieren, weitgehend akzeptiert worden: so R. Will, NJ 1997, 337 (341); offengelassen, aber mit eher kritischem Unterton K.-H. Christoph / W. Mäder, ZFSH/SGB 2005, 195 (197). Im Vorfeld kritisch zur Systementscheidung vor allem Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 109.

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

– auch mit einem dynamisierten Zahlbetrag – im Rahmen des weiten Gestaltungsspielraums bei rentenversicherungsrechtlichen Fragen hält 250: Die Eigentumsgarantie vermittelt, insbesondere im Bereich der Rentenversicherung, bisher faktisch Bestandsschutz basierend auf dem Vertrauensschutzgedanken 251. Der Gesetzgeber kann sich zwar bei der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums auf einen weiten Gestaltungsspielraum berufen. Hat er diese Inhaltsbestimmung aber vorgenommen, so daß schutzwürdige Eigentumspositionen existieren, gelten für deren Beschränkungen die normalen Rechtfertigungsvoraussetzungen. Der Gesetzgeber ist zwar berechtigt, Eigentumspositionen zu kürzen, muß dabei aber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten. Bei drastischen Einschnitten in den Eigentumsbestand trägt der Gesetzgeber daher eine hohe Rechtfertigungslast 252, der er etwa bei ernsten Wirtschaftskrisen mit drastischer Geldentwertung oder anderen Notlagen 253, in denen die Berechtigten ohnehin nicht mehr auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage vertrauen können, nachkommen könnte. Auf die singuläre Situation der Wiedervereinigung sind diese Konstellationen aber nicht übertragbar 254. Werden die Zusatzversorgungsanwartschaften von Personen mit vormals hohem Einkommen um 20 % oder mehr beschnitten, geht die bestandsschützende Funktion der Eigentumsgarantie verloren. Der Hinweis auf geringere Beitragsleistungen durch die Zusatzversorgungsberechtigten verfängt hier vor allem deshalb nicht, weil es unverhältnismäßig wäre, dies den Betroffenen anzulasten. Denn die Zusatzversorgungssysteme waren eben nicht mit anderen westdeutschen Systemen freiwilliger beitragsbezogener Zusatzversorgung (etwa im Öffentlichen Dienst) vergleichbar 255. Damit verliert auch das zentrale Argument für das vom Gericht präferierte Ergebnis, die weite Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, an Überzeugungskraft. Der Terminus findet hier allerdings grundsätzlich in anderer Weise Verwendung als im Altschuldenurteil. Während die Gestaltungsfreiheit dort unter Bezugnahme

250

Ebenso K.-A. Heine, rv 1999, 201 (207). Vgl. J. Wieland, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 14 Rn. 10; B.-O. Bryde, in: I. v. Münch / P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 14 Rn. 64: daß eine Ausgestaltung von Eigentumsrechten eine zulässige Inhaltsbestimmung des Eigentums für die Zukunft sei, rechtfertige die mit ihr verbundene Verkürzung wohlerworbener Rechte noch nicht. 252 Wieland (Fn. 251), Art. 14 Rn. 130. 253 Vgl. P. Krause, Eigentum an subjektiven öffentlichen Rechten, 1982, S. 171 f.; K. A. Heine, rv 1999, 201 (207). 254 Daher führen auch die aktuellen Diskussionen um die Einfügung einer Öffnungsklausel in den Art. 33 V GG, die Kürzungen der Besoldung mit sich bringen können oder dies sogar intendieren, nicht zu einer anderen Beurteilung; auch in Zeiten angespannter Haushaltslage ließe sich eine 20 %ige Absenkung wohl nicht mit dem Argument der Funtionsfähigkeit der Sozialversicherung begründen; ein Grenzfall wäre wohl die umfassenden Neugestaltung des Sozialversicherungssystems. 255 So Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 141), S. 106. 251

C. Die Überleitung der DDR-Zusatz- und Sonderversorgungssysteme

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auf die vereinigungsbedingte Sondersituation ausdrücklich erweitert wird, erfolgt dies in der Rentenentscheidung vordergründig nicht. Hier fungiert die Sondersituation (bzw. das Ziel der Rechtseinheit) 256 als wichtiger Gemeinwohlbelang im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dort wirkt sie freilich in gleicher Weise als Mittel, um dem Gesetzgeber eine größere Gestaltungsfreiheit zu verschaffen. Angesichts einer – für verfassungsgemäß erachteten – etwa 20 %igen Minderung von Rentenanwartschaften hat der Senat dem Gesetzgeber in der Tat großzügigere Gestaltungsspielräume zugestanden als er dies normalerweise tun würde, ohne daß er dies ausdrücklich formuliert hat. Problematisch daran ist, daß der Eindruck erweckt wird, die Eigentumsgarantie habe hier das gleiche Schutzniveau vermittelt wie bei westdeutschen Rentenpositionen. Im Unterschied dazu taucht bei der Prüfung an Art. 3 I GG die Wendung von der „besonders weiten Gestaltungfreiheit“ auf, gestützt auf die besondere Situation des Übergangs 257. Sie lockert die strengeren Anforderungen an den Gesetzgeber bei personenbezogenen Differenzierungen. Im Ergebnis ist die Ungleichbehandlung zwischen den Versicherten, die Einkommen knapp oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze bezogen, und denen, deren Einkommen knapp unterhalb dieses Limits lag und daher voll angerechnet wird, gleichwohl nicht gerechtfertigt: Der entscheidende Aspekt ist wiederum die fehlende Dynamisierung des Rentenbetrags. Zutreffend stellt der Senat hierbei jedoch auf einen ausnahmsweise erweiterten Spielraum ab. 3. Stillschweigende Ausweitung der Gestaltungsfreiheit durch die Differenzierung von System- und Einzelfallentscheidung Eine Erweiterung gesetzgeberischer Handlungsspielräume könnte zudem daraus resultieren, daß im Urteil zwischen der Prüfung der Grundentscheidung auf ihre Verhältnismäßigkeit und der Prüfung, ob deren Auswirkungen für die Rentenberechtigten zumutbar sind, unterschieden wird. Diese Trennung findet sich ebenso im Altschulden-Urteil 258, ist aber gleichwohl kein Spezifikum der Überleitungsrechtsprechung 259. Sie ist aber hier von besonderer Bedeutung, weil die Systementscheidung, soweit es um die Rechtsanpassung nach der Wiedervereinigung geht, nicht ergebnisoffen getroffen werden kann. Eine Systementscheidung ist wegen des Ziels, die Rechtseinheit herzustellen (Art. 8 ff. EinigungsV), immer auf die Angleichung der ostdeutschen Verhältnisse an die bundesrepublikanische Rechtsordnung gerichtet. Erweist sie sich als verfassungsgemäß – und etwas ande-

256

BVerfGE 100, 1 (39, 40). BVerfGE 100, 1 (38). 258 Siehe oben B. II. 3 und 4. 259 Von „Grundentscheidung“ ist beispielsweise auch schon im sog. „Spanier-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts die Rede: BVerfGE 31, 58 (79). 257

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

res ist aufgrund der Bedeutung der Rechtseinheit kaum anzunehmen – folgen aus ihr Vorwirkungen für die anschließende Zumutbarkeitsprüfung. Eine Systementscheidung, die Rechtseinheit herstellt, kann schwerlich als unzumutbar gelten, will man nicht auf die Rechtsanpassung verzichten oder sie über längere Zeit hinausschieben. Verfassungsrechtliche Beanstandungen beschränken sich daher vor allem auf den gewählten Weg der Rechtsangleichung oder auf Einzelaspekte. Die beiden bisher besprochenen Urteile sind dafür Beleg. Dem Bundesverfassungsgericht kommt dadurch lediglich eine korrigierende Rolle zu.

D. Die Schuldrechtsanpassung Der wohl umfangreichste Komplex der Rechtsanpassung war die Überführung der DDR-Bodenordnung in die Eigentumsordnung der Bundesrepublik. Zwei Komplexe stechen dabei heraus: die sog. „Sachenrechtsbereinigung“ und die sog. „Schuldrechtsanpassung“. Letztere betrifft die Behandlung von Nutzungsverhältnissen an Erholungsgrundstücken und bildet den Abschluß dieses Kapitels. Nach einer knappen Einführung in die Eigentumsordnung der DDR (I) werden die Überführungsregelungen zur Schuldrechtsanpassung vorgestellt (II). Anschließend soll die einschlägige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, der sog. „Datschen-Beschluß“, aus dem Jahre 1999 beleuchtet (III) und unter Berücksichtigung der nachfolgenden Entwicklung (IV) bewertet werden (V).

I. Die sozialistische Eigentumsordnung 1. Die Eigentumsformen in der DDR Der Gesetzgeber fand nach Vollendung der deutschen Einheit eine Ausgangslage vor, deren eigentumsrechtliche Ausgestaltung von der der Bundesrepublik in erheblichem Maße abwich 260. Während das bundesrepublikanische Sachenrecht auf dem Rechtsinstitut des Privateigentums beruht, kannte das Zivilgesetzbuch der DDR (ZGB-DDR) 261 eine Reihe verschiedener Eigentumsformen, die sich in zwei Gruppen einteilen lassen: das „sozialistische Eigentum“ und das „persönli260 Dazu eingehend K. Heuer, Bodenrecht, in: U.-J. Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung der DDR, Anspruch und Wirklichkeit, 1995, 4. Kapitel (S. 147 ff.); D. Eickmann, Grundstücksrecht in den neuen Bundesländern, 3. Aufl. 1996, Rn. 1 f.; D. Bohrisch, Die sozialistische Grundeigentumsordnung und deren Überleitung in die bundesdeutsche Rechtsordnung, 1996, S. 23 ff.; G. Harder, Das verliehene Nutzungsrecht, 1998, S. 6 ff.; H. Prütting, in: ders. / P. Zimmermann / R. E. Heller (Hrsg.), Grundstücksrecht Ost, Kommentar, 2003, Einführung SachenRBerG, Rn. 10 ff. 261 Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. 6. 1975 (GBl. I, S. 465); dazu G. Lingelbach, „In der DDR war alles ganz einfach . . . “ – Zum Zivilgesetzbuch der DDR und seiner Ablösung, in: E. Koch (Hrsg.), 10 Jahre Deutsche Rechtseinheit, 2001, S. 67 ff.

D. Die Schuldrechtsanpassung

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che Eigentum“ 262. Unter dem Oberbegriff des sozialistischen Eigentums wurden das Volkseigentum 263, das genossenschaftliche Eigentum 264 und das Eigentum gesellschaftlicher Organisationen 265 zusammengefaßt (§ 18 ZGB-DDR). Zum persönlichen Eigentum zählten etwa Arbeitseinkommen und Ersparnisse sowie die Wohnungsausstattung oder andere Gegenstände des persönlichen Bedarfs (§ 23 ZGB-DDR) einschließlich des persönlichen Bodeneigentums 266 und das noch bestehende Privateigentum, für das auch im DDR-Recht der Grundsatz galt, daß das Eigentum am Gebäude dem Eigentum am Grundstück folgt (vgl. § 295 ZGBDDR) 267. Zum anderen gehörte zu dieser Gruppe das Gebäudeeigentum als eine Sonderform des DDR-Bodenrechts 268. Diese unterschiedlichen Eigentumsformen galt es in die gesamtdeutsche Eigentumsordnung zu überführen. 2. Nutzungsrecht statt Grundeigentum Die mit der Bodenreform ab 1945 eingeleitete Konzentration des Bodens in staatlicher Hand erforderte neue rechtliche Instrumentarien, um die Nutzung von Grundstücken für private Zwecke zu ermöglichen 269. Diese vormals durch das Grundeigentum erfüllte Funktion übernahmen nunmehr Nutzungsrechte an Grund und Boden 270. Die Nutzungsberechtigten bebauten das Grundstück regelmäßig mit

262 Vgl. die Überschrift des Zweiten Teils des ZGB-DDR; zur Unterscheidung Eickmann, Grundstücksrecht (Fn. 260), Rn. 2 ff.; Harder, Nutzungsrecht (Fn. 260), S. 7; etwas andere Einteilung bei Bohrisch, Grundeigentumsordnung (Fn. 260), S. 24. 263 Dazu aus der DDR-Literatur G. Rohde (Hrsg.), Bodenrecht, 1989, S. 78 ff.; Bohrisch, Grundeigentumsordnung (Fn. 260), S. 27 ff. – Da es hierfür im engeren Sinne keinen „Eigentümer“ gab, entwickelte man das Institut der „Rechtsträgerschaft“: dazu Rohde, ebd., S. 80 f.; knapp auch Eickmann, Grundstücksrecht (Fn. 260), Rn. 4. 264 Dazu Bohrisch, Grundeigentumsordnung (Fn. 260), S. 33 ff. 265 Zum Eigentum gesellschaftlicher Organisationen gehörte z. B. das Vermögen der DDR-Parteien, das nach 1990 der Verwaltung durch die Treuhandanstalt unterstellt wurde (vgl. Anlage II Kapitel II Sachgebiet A Abschnitt II Nr. 1d EinigungsV); dazu H.-J. Papier, VerwArch. 83 (1992), 299 ff.; S. Volkens, VIZ 1993, 334 ff.; zum SED-Vermögen vgl. BVerwGE 92, 196 (198 ff.) und – diese Rechtsprechung bestätigend – EGMR NJW 2004, 669 ff. 266 Rohde, Bodenrecht (Fn. 263), S. 231 ff.; Bohrisch, Grundeigentumsordnung (Fn. 260), S. 38 ff. 267 Rohde, Bodenrecht (Fn. 263), S. 233; G. A. Lübchen, Erholungsgrundstücke und Kleingärten in den neuen Bundesländern, 1994, Rn. 22. 268 Zum Gebäudeeigentum und seiner Entstehung als Rechtsinstitut Harder, Nutzungsrecht (Fn. 260), S. 19 ff., 50 ff.; Rohde, Bodenrecht (Fn. 263), S. 237; eine Art Gebäudeeigentum wird allerdings auch durch das Erbbaurecht des BGB geschaffen. 269 Eingehend zur ideologischen Fundierung der DDR-Bodenpolitik Harder, Nutzungsrecht (Fn. 260), S. 186 ff. 270 Umfassend dazu Harder, Nutzungsrecht (Fn. 260), S. 164 ff.; ferner Heuer, Bodenrecht (Fn. 260), S. 154 ff.

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

einem zu persönlichen Zwecken dienenden Gebäude, an dem sie persönliches Eigentum erwarben (Gebäudeeigentum). Mit der Schaffung des Rechtsinstituts des verliehenen Nutzungsrechts wurde ein Teilgehalt des Eigentumsrechts, das Recht zur tatsächlichen Nutzung in Form der Bebauung, faktisch abgespalten 271 und als selbständiges Recht dinglicher Art 272 neben das Erbbaurecht 273 und neben Miete und Pacht gestellt. Das war solange unproblematisch, wie das Grundeigentum keine gesellschaftlich bedeutende Rolle spielte. Mit der deutschen Einheit und der (vollständigen) Wiedereinführung des Privateigentums änderte sich dies, so daß die Frage virulent wurde, in welcher rechtlichen Beziehung die verliehenen Nutzungsrechte und das Gebäudeeigentum auf der einen zum wiederhergestellten Grundstückseigentum auf der anderen Seite stehen. Schnell wurde klar, daß eine einfache Lösung, etwa die eilfertige Anwendung miet- oder pachtrechtlicher Grundsätze, nicht sachgerecht sein würde, weil dies den quasi-dinglichen Charakter der Nutzungsrechte ignoriert hätte. 3. Nutzungszweck: Wohnen oder Erholung Die vom Gesetzgeber vorgefundenen privaten 274 Nutzungsverhältnisse unterschieden sich nach der Art der Nutzung. Zum einen gab es Nutzungsverhältnisse zu Zwecken des Wohnens; sie fallen in den Bereich der sog. „Sachenrechtsbereinigung“ (a). Zum anderen bestanden Nutzungsverhältnisse zu Zwecken der Erholung und Freizeitgestaltung. Sie bilden den Gegenstand der sog. „Schuldrechtsanpassung“ (b), der sodann im Mittelpunkt steht. a) Nutzung zu Wohnzwecken: Sachenrechtsbereinigung Das durch die Bebauung verliehener Grundstücke entstandene Gebäudeeigentum kollidierte nun mit dem wiederhergestellten Grundstückseigentum. Damit stand schutzwürdiges Eigentum einer anderen Form von schutzwürdigem Eigentum gegenüber 275. Diese Fälle ordnete der Einigungsvertrag daher dem Sachenrecht des BGB zu 276, nahm aber zunächst keine Änderungen der Rechtslage vor,

271

Vgl. S. Leutheusser-Schnarrenberger, DtZ 1993, 34 (35). Zur Rechtsnatur Harder, Nutzungsrecht (Fn. 260), S. 169 ff. m. w. N. 273 Die nähere Ausgestaltung des Erbbaurechts als Alternative zum Nutzungsrecht mit separatem Gebäudeeigentum war im Gespräch, wurde aber als „zu schwerfällig“ und „kompliziert“ verworfen; dazu Harder, Nutzungsrecht (Fn. 260), S. 166 ff. 274 Darüberhinaus gab es das LPG-Nutzungsrecht; dazu Heuer, Bodenrecht (Fn. 260), S. 156 ff. 275 Damit war auch die Frage aufgeworfen, ob das Gebäudeeigentum als Eigentum im Sinne des Art. 14 GG zu werten war: bejahend A. v. Brünneck, NJ 1994, 150 (150). Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Urteil zur Sachenrechtsbereinigung (BVerfGE 98, 17 ff.) aufgrund der Fallkonstellation dazu nicht geäußert. 272

D. Die Schuldrechtsanpassung

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so daß das Gebäudeeigentum und die Nutzungsverhältnisse mit ihrem bisherigen Inhalt aufrechterhalten blieben 277; die Umgestaltung der Rechtsverhältnisse erfolgte erst mit dem Sachenrechtsbereinigungsgesetz 278. Ein Teilaspekt der Sachenrechtsbereinigung, das sog. „Sachenrechtsmoratorium“ 279, war Gegenstand eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts 280 , das hier allerdings keine eingehende Erörterung erfährt, da es keine bedeutsamen Aussagen zur Thematik enthält. Zum eigentlichen „Herzstück“ der Sachenrechtsbereinigung, der Regelung zur Zusammenführung von Grundstücks- und Gebäudeeigentum, die dem Nutzer (!) ein befristetes Wahlrecht zwischen Ankauf des Grundstücks und Bestellung eines Erbbaurechts am Grundstück mit grundsätzlich hälftiger Teilung des Bodenwertes einräumte, liegt ein Nichtannahmebeschluß des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 2001 vor 281, der allerdings in Bezug auf die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit ebenfalls nicht ergiebig ist. b) Nutzung zu Freizeitzwecken: Schuldrechtsanpassung Die andere Fallgruppe betrifft die Verleihung von Nutzungsrechten an Erholungs- und Freizeitgrundstücken auf vertraglicher Grundlage. Ein Großteil der DDR-Bürger, schätzungsweise 50 %, verfügte über ein solches Erholungsgrundstück mit einem darauf errichteten Bungalow bzw. einer Datsche. Angesichts stark beschränkter Reisefreiheit waren die Datschensiedlungen neben den Klein-

276 Vgl. Anlage I Kapitel III Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 1 EinigungsV, mit der die Vorschriften der Art. 231 bis 236 in das EGBGB eingefügt wurden. 277 H.-J. Czub, in: ders. / J. Schmidt-Räntsch / N. Frenz (Hrsg.), Kommentar zum Sachenrechtsbereinigungsgesetz, Bd. 1, Einführung (1995), Rn. 4: „Notordnung“; zur Entwicklung bis zur endgültigen Angleichung durch das Sachenrechtsbereinigungsgesetz R. Stürner, JZ 1993, 1074 (1077); H.-F. Krauss, Sachenrechtsbereinigung und Schuldrechtsanpassung im Beitrittsgebiet, Kommentar, 1995, S. 36 ff.; O. Vossius, Sachenrechtsbereinigungsgesetz, 2. Aufl. 1996, Einleitung, Rn. 19 ff.; Prütting (Fn. 260), Einführung, Rn. 37 ff. 278 Erlassen als Art. 1 des Sachenrechtsänderungsgesetzes vom 21. September 1994 (BGBl. I, S. 2457); zur Entstehung Prütting (Fn. 260), Einführung, Rn. 58 ff.; Czub (Fn. 277), Einführung, Rn. 4 ff.; zum Gesetzentwurf: R. Stürner, JZ 1993, 1074 ff.; W. Strobel, NJW 1993, 2484 ff.; S. Leutheusser-Schnarrenberger, DtZ 1993, 34 ff.; G. Jahnke, ThürVBl. 1993, 249 ff.; H. Schulz-Schaeffer, MDR 1993, 921 ff.; J. Göhring, NJ 1994, 152 ff. 279 Dazu R. Stürner, JZ 1993, 1074 (1077). 280 BVerfGE 98, 17 (35 ff.) mit Anmerkung L. Schramm, NJ 2001, 422 f.; im Vorfeld zur Sachenrechtsbereinigung aus verfassungsrechtlicher Perspektive C. Degenhart, DVBl. 1994, 553 ff.; A. v. Brünneck, NJ 1994, 150 ff.; Bohrisch, Grundeigentumsordnung (Fn. 260), S. 183 ff. 281 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), VIZ 2001, 330 (331 ff.).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

gärten 282 die wesentlichen Orte individueller Erholung. Es galt daher, für diese Nutzungsrechte eine Form der Überleitung zu finden, die ihren Besonderheiten und ihrer nicht zu unterschätzenden Bedeutung gerecht wurde 283. Wegen der prinzipiellen Ähnlichkeiten der Nutzungsverhältnisse zu Miete und Pacht ordnete der Einigungsvertragsgesetzgeber diese Fälle dem Schuldrecht zu. (dazu II). Rechtsgrundlage für die vertragliche Nutzung bildeten ab 1967 die Spezialvorschriften der §§ 312 ff. des Zivilgesetzbuchs der DDR (ZGB-DDR). Danach durften land- und forstwirtschaftlich nicht genutzte Bodenflächen zu kleingärtnerischen Zwecken oder zur Erholung und Freizeitgestaltung an Bürger überlassen werden. Welcher der in der DDR gängigen Eigentumsform die Grundstücksfläche zugehörte, war dabei unerheblich 284. Der Nutzungsvertrag war schriftlich zu schließen und bedurfte in einigen Fällen der staatlichen Genehmigung. Die Nutzung umfaßte auch die Errichtung eines Wochenendhauses oder einer vergleichbaren „Baulichkeit“ 285 (§ 313 II ZGB-DDR) durch den Nutzer, wenn dies zwischen den Parteien vereinbart worden war und das Objekt Erholungszwecken dienen sollte. An diesen Baulichkeiten entstand Eigentum des Nutzungsberechtigten 286, das er mit staatlicher Genehmigung an Dritte weiterveräußern konnte 287. Eine Kündigung konnte vom Überlassenden nur aus „gesellschaftlich gerechtfertigten Gründen“ ausgesprochen werden 288. Das war insbesondere der Fall, wenn der Nutzer seine Pflichten wiederholt gröblich verletzt oder andere belästigt hatte. Sofern das Grundstück im Rahmen des Nutzungsverhältnisses bebaut worden war, konnte der Überlassende eine Beendigung des Vertrages nur mittels Aufhebungsklage erreichen 289. Machte er Eigenbedarf (z. B. für den Bau eines Eigenheims)

282 Die Nutzungsrechte für Kleingartenparzellen unterstellte der Einigungsvertrag den nutzerfreundlichen Regelungen des Bundeskleingartengesetzes, vgl. Anlage I Kapitel III Abschnitt II Nr. 1 i. V. m. Kapitel XIV Abschnitt II Nr. 4 EinigungsV. 283 Vgl. B. Grundmann, NZM 2002, 894 (894); Lübchen, Erholungsgrundstücke (Fn. 267), Rn. 2. 284 Lübchen, Erholungsgrundstücke (Fn. 267), Rn. 5; Heuer, Bodenrecht (Fn. 260), S. 162. 285 Zum Unterschied von „Baulichkeit“ und Gebäudeeigentum, der zugleich die Anwendungsbereiche von Schuldrechtsanpassung und Sachenrechtsbereinigung abgrenzt: J. Schmidt-Räntsch, ZIP 1996, 728 (728 f.); H. H. v. Kiparski, Das Sachenrechtsbereinigungsgesetz und das Schuldrechtsanpassungsgesetz unter besonderer Berücksichtigung der Abgrenzung ihrer Geltungsbereiche, 2001; C. Degenhart, JZ 1994, 890 (891); H.J. Rodenbach, ZOV 1991, 73 (73). 286 Vgl. § 296 I 1 ZGB-DDR; anders aber, wenn das Wochenendhaus vom Eigentümer errichtet wurde; dann gilt der Grundsatz, daß das Eigentum am Gebäude dem Eigentum am Grundstück folgt (vgl. § 295 I ZGB-DDR, § 94 BGB). 287 Detailliert Lübchen, Erholungsgrundstücke (Fn. 267), Rn. 24 f.; H. Matthiessen, VIZ 1996, 13 ff. 288 Vgl. § 314 III 1 ZGB-DDR. 289 Vgl. § 313 IV 2 ZGB-DDR.

D. Die Schuldrechtsanpassung

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geltend, mußte eine Interessenabwägung stattfinden. Bestand der Eigenbedarf in einer Freizeitnutzung, fiel die Abwägung durch die Gerichte in der Regel zugunsten der Nutzer aus. Die Kündigungsregelungen und ihre Handhabung verschafften den Nutzern folglich eine starke Rechtsposition, was sich auch in deren Bewußtsein festsetzte 290.

II. Die Überführung von Nutzungsverhältnissen an Erholungsgrundstücken in die bundesdeutsche Privatrechtsordnung – Die Schuldrechtsanpassung Die primäre mit der Schuldrechtsanpassung getroffene Entscheidung war die Zuordnung der Nutzungsverhältnisse zu den Vertragstypen Miete und Pacht (1), die damit im Grundsatz in das Rechtsregime des BGB überführt worden waren. Dessen Kündigungsregelungen eigneten sich jedoch (noch) nicht für eine Anwendung auf die eigengearteten DDR-Nutzungsverhältnisse, so daß der Überleitungsgesetzgeber insoweit Spezialregelungen geschaffen hat. Auf diesem eigens erarbeiteten Kündigungsschutzkonzept liegt dann im folgenden das Augenmerk (2). 1. Zuordnung zu Miete und Pacht Der Einigungsvertragsgesetzgeber knüpfte zur Überführung der Nutzungsverhältnisse an deren miet- bzw. pachtähnlichen Charakter an und ordnete die Nutzungsrechte dem Schuldrecht zu. Im übrigen beließ es der Einigungsvertrag bei der bestehenden Rechtslage: nach Art. 232 § 4 EGBGB 291 waren für die Nutzungsverhältnisse bis zu einer endgültigen Regelung weiterhin die §§ 312 ff. ZGB-DDR maßgebend. Die Nutzungsverträge konnten also durch den Grundstückseigentümer weiterhin nur aus „gesellschaftlich gerechtfertigten Gründen“ gekündigt werden. Da in der Folgezeit eine Vielzahl der fortgeltenden Nutzungsverträge von Grundstückseigentümern gerichtlich angefochten wurde und vor allem formale Mängel bei Vertragsabschlüssen mit staatlichen Stellen die Wirksamkeit vieler Verträge in Frage stellten, verlieh Art. 232 § 4a EGBGB (sog. „Vertragsmoratorium“) den Nutzern ein Recht zum Besitz und ließ im übrigen für sämtliche Nutzungsverhältnisse eine Kündigung gegenüber dem Nutzer ausschließlich auf der Grundlage des § 554 BGB wegen Zahlungsverzuges zu 292. Der Gesetzgeber

290 Krauss, Sachenrechtsbereinigung und Schuldrechtsanpassung (Fn. 277), S. 529; B. Grundmann, NZM 2002, 894 (894). 291 In das EGBGB eingefügt durch Anlage I Kapitel II Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 1 EinigungsV.

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

verfolgte erkennbar das Ziel, den Nutzern ungeachtet etwaiger vertraglicher Mängel eine durchsetzbare Rechtsposition zu verschaffen, die in ihrer Wirkung der Rechtsstellung der Nutzer vor der Vereinigung entsprach. Die abschließende Überführung erfolgte dann durch das zum 1. 1. 1995 in Kraft getretene Schuldrechtsanpassungsgesetz (SchuldRAnpG) 293. Es enthielt eine Reihe von „Eckwerten“, die die Charakteristika der Schuldrechtsanpassung verdeutlichen 294: Die zentrale Entscheidung ist der Fortbestand der Nutzungsverhältnisse bei einer gleichzeitigen schrittweisen Herstellung der Eigentumsordnung des BGB. Die aus dem Eigentumsrecht fließenden Nutzungsbefugnisse (und damit die Bodenwerte) verbleiben dem Grundstückseigentümer, werden jedoch für eine Übergangszeit auf schuldrechtlicher Grundlage dem Nutzer überlassen. Letzterer erhält folglich keine dingliche (wie in der Sachenrechtsbereinigung), sondern lediglich eine schuldrechtliche Sicherung. Rechtstechnisch erfolgte die Anpassung dadurch, daß die Nutzungsrechte den bürgerlichrechtlichen Vertragstypen zugeordnet wurden, allerdings mit Übergangsbedingungen versehen. Eine bloße Einordnung in das Vertragssystem hätte zwar das Eigentumsrecht sofort vollständig wiederaufleben lassen, hätte aber die soziale Funktion der Nutzungsverträge ignoriert und keinen gleitenden Anpassungsprozeß ermöglicht. 2. Der Kündigungsschutz bei der Nutzung von Erholungsgrundstücken Aus der Summe der Vorschriften des Schuldrechtsanpassungsgesetzes tritt die Kündigungsregelung des § 23 SchuldRAnpG besonders hervor. Sie sieht über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren ein abgestuftes Kündigungsschutzkonzept vor, das sich über vier Etappen erstreckt. Im Rahmen der ersten Stufe, die am 31. Dezember 1999 endete, war eine ordentliche Kündigung der Nutzungsverträge durch den Eigentümer ausgeschlossen. Bis zum Ende des Jahres 2004 („zweite Stufe“) waren Eigenbedarfskündigungen zur Errichtung selbstgenutzter Ein- und Zweifamilienhäuser zulässig, wenn der Eigentümer sie zu Wohnzwecken 292 Der Art. 232 § 1a EGBGB erklärte zudem die sog. Überlassungsverträge, mit denen Grundstücke von sog. „Republikflüchtigen“ oder Westdeutschen an DDR-Bürger überlassen wurden, pauschal für wirksam; dazu Lübchen, Erholungsgrundstücke (Fn. 267), Rn. 28 ff. 293 Erlassen als Art. 1 des Schuldrechtsänderungsgesetzes vom 21. September 1994 (BGBl. I, S. 2538). Dazu H. Trimbach / H. Matthiessen, VIZ 1994, 446 ff.; A. v. Grießenbeck, WiB 1994, 857 ff.; K. Rövekamp, NJ 1995, 15 ff.; ders., Schuldrechtsanpassung, 2. Aufl. 1997, S. 1 ff. (auch zum Entwurf); ebenso G. Rohde, NJ 1994, 289 ff. – Aus verfassungsrechtlicher Perspektive: C. Degenhart, JZ 1994, 890 ff. (zum Entwurf). 294 Dazu und zum folgenden C. Degenhart, JZ 1994, 890 (892, 895); A. v. Grießenbeck, WiB 1994, 857 (859); G. Rohde, NJ 1994, 289 (290); H. Trimbach / H. Matthiessen, VIZ 1994, 446 (447 f.); K. Rövekamp, NJ 1995, 15 (17 f.); eingehend Krauss, Sachenrechtsbereinigung und Schuldrechtsanpassung (Fn. 277), S. 540 ff.

D. Die Schuldrechtsanpassung

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benötigte und ihm ein Kündigungsausschluß unter vorheriger Abwägung mit den Interessen der Nutzer nicht zugemutet werden konnte. Der Kündigungsausschluß wich also einem beschränkten Kündigungsrecht mit zwingender, am Einzelfall orientierter Interessenabwägung 295. Die „dritte Stufe“, die mit Ablauf des 3. Oktober 2015 endet, erweitert die Kündigungsmöglichkeiten der zweiten Stufe, indem sie deren Interessenabwägung entfallen läßt. Außerdem tritt ein weiterer Kündigungstatbestand für den Fall hinzu, daß der Eigentümer das Grundstück zu Erholungs- und Freizeitzwecken nutzen will, wofür wiederum eine Interessenabwägung notwendig ist. Ab dem 4. Oktober 2015 („vierte Stufe“) wird der Eigentümer wieder nach den allgemeinen Bestimmungen kündigen können. Vom Konzept unberührt bleibt die Möglichkeit der außerordentlichen Kündigung. Eine sehr vorteilhafte Sonderregelung galt für Nutzungsberechtigte, die am 3. Oktober 1990 bereits das 60. Lebensjahr vollendet hatten; zu ihren Lebzeiten ist eine Kündigung ausgeschlossen. Einer besonderen Gestaltung unterlagen ferner nicht bebaute und Garagengrundstücke: für sie entfielen die dritte und die vierte Stufe, die zweite wurde auf den Ablauf des Jahres 2002 verkürzt, so daß für solche Nutzungsverhältnisse die Kündigungsvorschriften für Miet- bzw. Pachtverträge schon seit 1. 1. 2003 Anwendung finden.

III. Der „Datschen-Beschluß“ des Bundesverfassungsgerichts Das Kündigungsschutzkonzept war Gegenstand einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1999, in der das Konzept auf seine Vereinbarkeit mit der Eigentumsgarantie (1) und mit dem Gleichheitssatz (2) überprüft wurde. In beiderlei Hinsicht erwies sich die Regelung nur teilweise als verfassungsrechtlich unbedenklich 296.

295 Desweiteren konnte der Grundstückseigentümer ab dem Jahr 2000 kündigen, wenn er das Grundstück dem in einem Bebauungsplan festgesetzten Zweck zuführen oder hierfür vorbereiten wollte. Dieser Tatbestand entzieht sich der Einordnung in eine der vier Stufen des Gesamtkonzepts. Er sollte verhindern, daß die städtebauliche Entwicklung in den neuen Bundesländern durch Nutzungsrechte gehemmt wird, und war auch insoweit sinnvoll, als ein Großteil der Grundstückseigentümer eine Wohnnutzung ohnehin nicht anstrebte. Die Kündigungsmöglichkeit bewirkt die vollständige Aufwertung des bisher beschränkten Grundstückseigentums, so daß Privatnützigkeit und Verfügungsbefugnis des Eigentums in vollem Umfang wiederhergestellt werden, vgl. BVerfGE 101, 54 (80 f.). 296 BVerfGE 101, 54 ff; zur Entscheidung und zu den sie umsetzenden Änderungen des Schuldrechtsanpassungsgesetzes M. Brenner, VIZ 2002, 326 ff.; B. Grundmann, NZM 2002, 894 ff.

144

Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

1. Prüfungsmaßstab Art. 14 I 2 GG Der Beschluß enthält eingangs die vertrauten Ausführungen zu Inhalt und Reichweite der Eigentumsgarantie. Das verfassungsrechtlich geschützte Eigentum zeichnet sich durch Privatnützigkeit und freie Verfügungsbefugnis aus; der Eigentümer hat sowohl das Recht, sein Eigentum selbst zu nutzen, als auch die Freiheit, es anderen zur vertraglichen Nutzung zu überlassen, um mit dem erworbenen Erlös seinen Lebensunterhalt zumindest teilweise zu bestreiten 297. Betont wird, daß der herzustellende Ausgleich zwischen der Rechtstellung des Eigentümers und dem Gebot einer sozialgerechten Eigentumsordnung (Art. 14 II GG) nicht per se deshalb zugunsten der Eigentümerposition ausfällt, weil die schutzwürdigen Interessen der Nutzer keinen verfassungsrechtlichen Rang haben. Die Sozialbindung verlangt vielmehr die Rücksichtnahme auf die Belange desjenigen, der auf die Nutzung des Eigentumsobjektes angewiesen ist 298. Nach der geläufigen Darstellung des Umfangs der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit bei Art. 14 GG – sie ist umso größer, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug steht 299 – wird die im zweiten Kapitel dieser Arbeit herausgearbeitete Argumentationslinie aufgegriffen, nach der Veränderungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse den Regelungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers erweitern können 300, und auf die Sondersituation nach der Wiedervereinigung bezogen. Daß dieser Argumentionsgesichtspunkt problematisch ist, wurde bereits ausgeführt. Daher überrascht es nicht, daß der Senat zusätzlich auf die mit der Überführung und dem großen Zeitbedarf einhergehenden Schwierigkeiten hinweist, denen der Gesetzgeber Rechnung tragen dürfe 301. Für die Schuldrechtsanpassung heißt dies zum einen, daß die einzelnen Vorschriften nicht getrennt voneinander, sondern nur in ihrem Regelungszusammenhang betrachtet werden dürfen, und zum anderen, daß sie vor dem Hintergrund einer nur schrittweise möglichen Rechtsanpassung zu würdigen sind 302. Das zeit-

297

BVerfGE 101, 54 (74 f.) mit Verweis auf BVerfGE 79, 292 (303 f.); 98, 17 (35). BVerfGE 101, 54 (75) mit Verweis auf BVerfGE 37, 132 (140); 52, 1 (29) u. a. – Die Frage, ob die Rechtspositionen aus den Nutzungsverträgen verfassungsrechtlichen Rang haben (m. a. W. Eigentumspositionen im Sinne von Art. 14 I 2 GG sind), war angesichts der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hier eher fernliegend und nicht zu erörtern. Die Entscheidung BVerfGE 89, 1 ff. – Besitzrecht des Mieters ist auf Grundstücke zur Freizeitnutzung nicht übertragbar; vgl. dazu H.-J. Papier, in: T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Art. 14 (2002), Rn. 200; Wieland (Fn. 251), Art. 14 Rn. 27; kritisch zum Beschluß O. Depenheuer, NJW 1993, 2561 ff. 299 BVerfGE 101, 54 (75 f.) mit Verweis auf BVerfGE 100, 226 (241). 300 BVerfGE 101, 54 (76). 301 BVerfGE 101, 54 (76). 302 BVerfGE 101, 54 (76) mit Verweis auf die Entscheidung zur Mietpreisbindung in den neuen Ländern, BVerfGE 91, 294 (309). 298

D. Die Schuldrechtsanpassung

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lich gestreckte Gesamtkonzept darf also nicht in seine Einzelteile zerlegt werden, um es verfassungsrechtlich zu würdigen. Die Anwendung dieser Maßstäbe führt zu dem Ergebnis, daß sowohl das Kündigungsschutzkonzept (a), als auch die flankierende Nutzungsentgelt- und die Entschädigungsregelung (b) nicht im vollen Umfang verfassungsmäßig sind. a) Das Konzept des gestuften Kündigungsschutzes Das Kündigungsschutzkonzept des § 23 SchuldRAnpG war daran zu messen, ob es den durch Art. 14 I 2 GG geforderten Interessenausgleich herstellt. Es diente dem legitimen Ziel, die DDR-Nutzungsverhältnisse schrittweise in die bundesdeutsche Privatrechtsordnung überzuleiten. Die zeitliche Streckung stellte sicher, daß der Übergang sozial abgefedert erfolgte, zugleich aber die Grundstücksinhaber ihre Eigentümerbefugnisse nach und nach zurückgewannen 303. Für die Frage, ob ein sozialgerechter Interessenausgleich stattgefunden hat, sind die einzelnen Kündigungsstufen zu unterscheiden. aa) Die erste Stufe – Kündigungsausschluß Verfassungsgemäß ist die erste Stufe des Überführungskonzepts, die jedwede Kündigung bis zum Ablauf des Jahres 1999 ausschloß. Der Vorrang der Nutzerinteressen resultiert aus der erheblichen sozialen Bedeutung der „Datschengrundstücke“ im Verhältnis zu der nur noch marginalen Bedeutung der Eigentümerbefugnisse in der Zeit bis zur deutschen Einheit. Auf der einen Seite erwiesen sich die Nutzungsverhältnisse als faktisch unkündbar, da die DDR-Gerichte bei Streitigkeiten regelmäßig den Nutzerinteressen den Vorzug gaben und die Verträge meist unbefristet waren 304; hinzu kam ein Eigentümerbewußtsein, das sich aufgrund der Möglichkeit, Gebäudeeigentum an den eigens errichteten Baulichkeiten zu erwerben, herausgebildet hatte 305. Ganz anders war der Zustand der Eigentümerbefugnisse zu beurteilen. Er war dadurch gekennzeichnet, daß die Eigentümer ihre Rechte weder wahrnehmen noch damit rechnen konnten, sie in absehbarer Zeit wiederzuerlangen 306. Das Grundeigentum war also bereits bei Inkrafttreten des Grundgesetzes mit vertraglichen Nutzungsrechten sozialistischer Prägung belastet. Mit der gesetzlichen Absicherung im SchuldRAnpG sind den Grundstückeigentümern folglich keine Befugnisse genommen worden; vielmehr haben sie nur weniger bekommen als erhofft 307. 303 304 305 306 307

BVerfGE 101, 54 (76). BVerfGE 101, 54 (77). BVerfGE 101, 54 (78). BVerfGE 101, 54 (78). BVerfGE 101, 54 (78).

146

Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

Gewichtiger sind die Passagen zum Regelungsspielraum. Hier heißt es, da die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den neuen Ländern seit der Vereinigung im wesentlichen unverändert geblieben seien, durfte der Gesetzgeber den 1990 vorgefundenen Rechtszustand (faktisch unkündbare Nutzungsrechte) „im Rahmen des ihm bei der wiedervereinigungsbedingten Überleitungsgesetzgebung zustehenden weiten Regelungsspielraums“ für weitere fünf Jahre – also bis zum Ende der ersten Stufe 1999 – beibehalten 308; die Beurteilung der Lebensumstände durch den Gesetzgeber halte sich im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative 309. Deutlich wird die Akzentverschiebung in der Argumentation. Während der Senat an früherer Stelle des Beschlusses noch auf den allgemeinen Gesichtspunkt der grundlegenden Veränderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse abhebt, bezieht er sich hier auf die wiedervereinigungsbedingte Überleitungsgesetzgebung, die dem Gesetzgeber einen weiten Regelungsfreiraum vermittelt. bb) Die zweite und dritte Stufe – Kündigungsbeschränkungen Die Kündigungseinschränkungen der zweiten und dritten Stufe sind gleichfalls verfassungsgemäß 310. Die Begründungen enthalten jedoch eine Vielzahl dehnbarer Begriffe und Formulierungen, die die Annahme nahelegen, daß sich die Beschränkungen an der Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen bewegen 311. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß es hier um die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Eigentumsbeschränkungen geht, die im Rahmen einer Übergangsperiode nach und nach abzubauen sind (Rechtseinheit!). Die Argumentation muß sich somit darauf konzentrieren, ob im Vergleich zur ersten Stufe eine das Eigentum deutlich besser zur Geltung bringende Regelung getroffen wurde. Daher überrascht es nicht, daß sich die einschlägigen Passagen der Entscheidungsbegründung in allgemeinen Verhältnismäßigkeits- und Zumutbarkeitserwägungen erschöpfen. Die Abstufung zwischen zweiter und dritter Stufe vermag hier kaum einen spürbaren Rationalitätsgewinn zu vermitteln. Festgestellt wird letztlich nur, daß die Eigentumsgarantie eine schrittweise Verschärfung der verfassungsrechtlichen Anforderungen im Interesse der Eigentümerrechte verlangt – und daß sie erfüllt sind. So heißt es nur vage, die Kündigungsmöglichkeit auf der zweiten Stufe trage dem Zeitablauf seit der Wiedervereinigung (10 bis 15 Jahre) und einem „be-

308

BVerfGE 101, 54 (78). BVerfGE 101, 54 (79). 310 BVerfGE 101, 54 (79). 311 So heißt es, die Regelungen bringen die gegenläufigen Interessen von Eigentümern und Nutzern im Ergebnis in einen „im wesentlichen“ gerechten, die Belange der Grundstückseigentümer „nicht unangemessen“ beschränkenden Ausgleich. 309

D. Die Schuldrechtsanpassung

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sonders wichtigen Eigentümerbelang“ Rechnung, ohne die Interessen der Nutzer „ganz zu vernachlässigen“ 312. Zudem sei es möglich, den Wohneigenbedarf des Eigentümers angemessen zur Geltung zu bringen 313. Letztlich appelliert der Senat damit an die mit möglichen Kündigungsschutzklagen befaßten Zivilgerichte, im Rahmen der gerichtlich überprüfbaren Interessenabwägung einzelfallgerechte Entscheidungen zu treffen, und die Anforderungen an einen unzumutbaren Ausschluß des Kündigungsrechts wegen des fortschreitenden Zeitablaufs nicht zu überspannen 314. Noch deutlicher wird die getroffene Einschätzung für die Regelung der dritten Stufe. Wegen der langen Zeitspanne bis zum Ende der Übergangsphase im Jahr 2015 sei es geboten, die Kündigungsrechte der Grundstückseigentümer „zu einem angemessenen Zeitpunkt noch mehr zu stärken“ 315. Mit der dritten Stufe sei dies erfüllt, da dem Eigentümer ein weiterer Kündigungsgrund (eigener Erholungsbedarf) an die Hand gegeben werde 316. Die Eigentümerinteressen gewönnen zunehmend an Gewicht; ein Kündigungsausschluß sei immer seltener hinzunehmen 317. Was der Senat hier von den Zivilgerichten verlangt, ist weniger eine gestufte Überleitung als ein gleitender Übergang. cc) Kündigungsausschluß wegen Lebensalters Für die Grundstückseigentümer besonders nachteilig ist der in § 23 VI SchuldRAnpG vorgesehende Kündigungsausschluß für Nutzungsverhältnisse, bei denen der Nutzer das 60. Lebensjahr bereits vollendet hat. Gleichwohl kann er nach Ansicht des Gerichts „verfassungsrechtlich grundsätzlich noch hingenommen werden“ 318. Die Begründung rückt auch hier die besondere soziale Bedeutung der Erholungsgrundstücke in den Vordergrund. Sie sind für viele ältere Nutzer – neben der eigenen Wohnung – der räumliche Mittelpunkt des Lebensabends; ihr Verlust erscheint angesichts der teilweise langen Nutzungsdauer nicht zumutbar. Zudem konnten die zum Teil in den alten Bundesländern lebenden Eigentümer keine vergleichbare soziale Bindung zum Grundstück aufbauen 319. Der von Art. 14 II GG geforderte sozialgerechte Interessenausgleich fällt hier somit deutlich zugunsten der Nutzer aus.

312 313 314 315 316 317 318 319

BVerfGE 101, 54 (80). BVerfGE 101, 54 (80). BVerfGE 101, 54 (80). BVerfGE 101, 54 (82). BVerfGE 101, 54 (82). BVerfGE 101, 54 (82). BVerfGE 101, 54 (84). BVerfGE 101, 54 (84).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

dd) Teilkündigungsrecht bei großen Grundstücken und weitere Beschränkungen des Kündigungsschutzes Alle bisher behandelten Regelungen des Kündigungsschutzkonzepts in § 23 SchuldRAnpG erwiesen sich als verfassungsgemäß. Unberücksichtigt geblieben ist dabei jedoch das Instrument der Teilkündigung bei großen Grundstücken. § 23 SchuldRAnpG sieht kein solches Teilkündigungsrecht vor und ist aus diesem Grund insoweit verfassungswidrig 320. Eine Möglichkeit zur partiellen Kündigung bestand schon gemäß § 78 ZGB-DDR. Wurde ein zu Erholungszwecken genutztes Grundstück vom Eigentümer zur Errichtung eines Eigenheims benötigt, und war dieses Grundstück besonders groß, konnte es geteilt werden, um beiden gegenläufigen Nutzungsinteressen gerecht zu werden. Zwar war die Stoßrichtung der Vorschrift eine andere: der Bau von Eigenheimen sollte trotz des Vorrangs der Nutzungsrechte nicht ganz abgeschnürt werden. Der zugrundeliegende Gedanke ist aber auch unter der Geltung des Art. 14 GG tragfähig 321, da mit einer Teilkündigung die Eigentümerinteressen schrittweise stärker zur Geltung gebracht werden können 322. Dies macht noch einmal die auch im Altschuldenurteil erkennbar gewordene Orientierung an der Einzelfallgerechtigkeit deutlich. Schließlich verlangt der Beschluß einige weitere Beschränkungen des Kündigungsschutzes zugunsten der Eigentümer, die § 23 SchuldRAnpG nicht vorsieht. So haben etwa die Eigentümerbelange Vorrang, wenn der Nutzungsberechtigte das Grundstück tatsächlich nicht mehr nutzt 323 bzw. die Bebauung rechtswidrig erfolgte 324. Ein eingeschränkter Kündigungsschutz besteht außerdem für Garagengrundstücke, da sie die soziale Bedeutung der Erholungsgrundstücke als privates Refugium nicht teilen 325. Die in diesen Fällen notwendig gewordene Nachbesserung des SchuldRAnpG hat die Kündigungsregelungen freilich weiter verkompliziert 326.

320

BVerfGE 101, 54 (85 f.). So ausdrücklich BVerfGE 101, 54 (85). 322 BVerfGE 101, 54 (85). 323 BVerfGE 101, 54 (86 f.). 324 BVerfGE 101, 54 (87). 325 BVerfGE 101, 54 (92). In diesen Fällen soll nur die erste Stufe des Schutzkonzepts gelten, so daß jedwede Kündigungsbeschränkung mit Ablauf des Jahres 1999 entfällt. 326 Vgl. das Gesetz zur Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes vom 17. 5. 2002 (BGBl. I S. 1580); zur Neufassung M. Brenner, VIZ 2002, 326 ff.; B. Grundmann, NZM 2002, 894 (896 f.). 321

D. Die Schuldrechtsanpassung

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b) Die Nutzungsentgelt- und Entschädigungsregelung Die in § 20 SchuldRAnpG i. V. m. NutzEV 327 enthaltene Nutzungsentgeltregelung 328 soll die schonende Anpassung der Nutzungsentgelte an das marktwirtschaftliche Niveau sicherstellen. Sie ist allerdings insoweit verfassungwidrig, als sie keine Beteiligung der Nutzer an den öffentlichen Lasten des Grundstücks vorsieht 329. Da die öffentlichen Lasten, die den Grundstückseigentümer allein treffen, die Vorteile aus den Nutzungsentgelten wieder abschmelzen, werden diese einseitig benachteiligt 330. Die Entschädigungsregelung der §§ 12 und 14 SchuldRAnpG 331 ist insoweit verfassungswidrig, als in § 14 neben einer Entschädigung für das errichtete Bauwerk zusätzlich eine Entschädigung wegen Kündigung vor Ablauf der Kündigungsschutzfrist vorgesehen ist 332. 2. Prüfungsmaßstab Art. 3 I GG Die Kündigungsschutzregelung wirft zudem verfassungsrechtliche Fragen im Hinblick auf den Gleichheitssatz auf. Fraglich war etwa, ob es gegen Art. 3 I GG verstößt, daß das Kündigungsschutzkonzept des § 23 SchuldRAnpG strengere Maßgaben enthält als der Kündigungsschutz für Mietwohnungen auf dem Gebiet der neuen Länder. Nimmt man allein die Wohnung als räumlichen Lebensmittelpunkt, der einen herausgehobenen Schutz beanspruchen kann, in den Blick, so könnte man einen Gleichheitsverstoß mit den Beschwerdeführern durchaus bejahen. Dieser Argumentation liegt ein Vergleich zwischen Wohnnutzung und Erholungsnutzung zugrunde, der in den alten Bundesländern ohne weiteres zu 327 Verordnung über eine angemessene Gestaltung von Nutzungsentgelten (NutzEV) vom 22. 7. 1993 (BGBl. I S. 1339); zu ihr Krauss, Sachenrechtsbereinigung und Schuldrechtsanpassung (Fn. 277), S. 530 ff. 328 Dazu H. Trimbach / H. Matthiessen, VIZ 1994, 446 (449); J. Schmidt-Räntsch, ZIP 1996, 728 (730 f.); kritisch G. Rohde, NJ 1994, 289 (291). 329 BVerfGE 101, 54 (95 f). 330 BVerfGE 101, 54 (99 f.) 331 Ausführlich Krauss, Sachenrechtsbereinigung und Schuldrechtsanpassung (Fn. 277), S. 545 f.; knapp H. Trimbach / H. Matthiessen, VIZ 1994, 446 (449 f.). – Hintergrund ist § 11 SchuldRAnpG, der das Eigentum an den vom Nutzer errichteten Baulichkeiten (selbständiges Gebäudeeigentum) nach Vertragsbeendigung auf den Grundstückseigentümer übergehen ließ und damit die nach dem BGB gängige Zuordnung wiederherstellte, vgl. dazu K. Rövekamp, NJ 1995, 15 (20); eingehend kritisch G. Rohde, NJ 1994, 289 (291), weil sowohl die errichteten Bauwerke als auch die Nutzungsverträge dem Schutzbereich des Art. 14 GG zuzurechnen seien, was dem Entzug des Gebäudeeigentums entgegenstehe. 332 BVerfGE 101, 54 (94 f.); zur Entschädigungsregelung siehe die einschlägigen Kommentierungen bei Krauss, Sachenrechtsbereinigung und Schuldrechtsanpassung (Fn. 277), S. 599 ff., 604 ff.; G. Schnabel, Schuldrechtsänderungsgesetz, Kommentar, 1995, § 12; Rövekamp, Schuldrechtsanpassung (Fn. 293), S. 185 ff.; vgl. auch M. Brenner, VIZ 2002, 326 (326).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

dem Ergebnis führt, daß die Wohnnutzung schutzwürdiger ist. In den neuen Ländern sind aber die gewachsenen (und noch vorhandenen) sozialen Besonderheiten einzubeziehen, die es nicht sachgerecht erscheinen lassen, diese Wertung einfach zu übertragen. Eine Gegenüberstellung der für die neuen Ländern geltenden Kündigungsvorschriften macht vielmehr deutlich, daß für die DDR-Rechtsverhältnisse jeweils ein eigenständiges Überführungskonzept erarbeitet wurde, um den Besonderheiten der Materie gerecht zu werden 333. Für die Überleitungsprogramme legt der Senat freilich insgesamt milde Prüfungsmaßstäbe an, wenn er ausführt, sie seien „angesichts der einzigartigen Situation, in der sich der Gesetzgeber bei der Bewältigung der Wiedervereinigungsfolgen befand, durch das von ihm verfolgte Regelungsziel und die Eigenart der übergangweise jeweils neu zu ordnenden Rechtsverhältnisse ausreichend gerechtfertigt“ 334.

IV. Weitere Entwicklung Die weitere Entwicklung der Nutzungsverhältnisse an „Datschengrundstükken“ 335 war Gegenstand eines vom Bundesministerium der Justiz in Auftrag gegebenen Gutachtens 336, das insbesondere zur Entwicklung der Nutzungsentgelte Stellung nehmen sollte. Es kommt zu dem Ergebnis, daß die Schuldrechtsanpassung in jeder Hinsicht weitgehend konfliktfrei verlaufen ist 337. Sie kann – abgesehen von Problemen im Detail – durchaus als Beispiel für eine gelungene sozialverträgliche Rechtsanpassung gelten 338. Die befürchteten Massenkündigungen von Nutzungsverträgen sind nicht eingetreten, was auch daran liegen mag, daß sich ein nicht unerheblicher Teil der Erholungsgrundstücke zwischenzeitlich in der Hand von Gemeinden befindet, welche durch die Vereinbarung von Nutzungsverhältnissen zumindest faktisch von der Unterhaltungspflicht freigestellt sind. Die Erhöhung der Nutzungsentgelte erfolgte moderat und belastete die Nutzer in vertretbarem Maße 339. Zudem hat sich seit 1990 ein erheblicher Nutzerwechsel vollzogen hat, der deutlich macht, daß sich zwischenzeitlich ein spezifischer Markt herausgebildet hat 340.

333

BVerfGE 101, 54 (104). BVerfGE 101, 54 (104). 335 Vgl. B. Grundmann, NZM 2002, 894 (895 f.); H. Matthiessen, NJ 2005, 1 ff. 336 Rechtstatsächliches Gutachten zur Praxis der Nutzungsentgeltverordnung und des Schuldrechtsanpassungsgesetzes, veröffentlicht als Anlage zur BT-Drucks. 14/3612; zu den Ergebnissen ebd., S. 183 ff. 337 Gutachten (Fn. 336), S. 190. 338 Dazu insbesondere H. Matthiessen, NJ 2005, 1 (6 f.) mit knapper Darstellung der noch verbleibenden Problembereiche. 339 Gutachten (Fn. 336), S. 189 f. 340 Gutachten (Fn. 336), S. 184. 334

D. Die Schuldrechtsanpassung

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V. Verfassungsrechtliche Bewertung Die Schuldrechtsanpassung geht, wie auch die Fälle zur Eigentumsrestitution, insofern von „vertauschten Rollen“ aus, als hier nicht ostdeutsche Rechtspositionen und ihr Grundrechtsschutz zu beurteilen sind, sondern der Schutz der Grundstückseigentümer, deren Grundstücke mit aus der DDR stammenden Rechtspositionen belastet sind. Das Problem der dogmatischen Erfaßbarkeit der ostdeutschen Sachverhalte stellt sich hier folglich nicht. An ihr läßt sich aber aufzeigen, daß sich Einbußen durch die dem Einigungsvertrag nachfolgende Rechtsanpassung nicht auf ostdeutsche Rechtspositionen beschränken. Die verfassungsrechtliche Bewertung bestätigt die schon aus den anderen Fällen gewonnene Erkenntnis, daß die hergebrachten verfassungsrechtlichen Anforderungen der Eigentumsgarantie zur Anwendung kommen (1). Im Gegensatz zur Rentenentscheidung argumentieren die Richter hier aber im Ergebnis mit einem erweiterten Gestaltungsspielraum, der auf die Besonderheiten der Überleitungsgesetzgebung gestützt wird (2). 1. Grundrechtsprüfung als methodischer Rahmen Die Anforderungen der Eigentumsgarantie werden vom Gericht in der gleichen Weise entfaltet und angewendet wie bereits mehrfach dargelegt. Das ist ohne weiteres einsichtig, da sich das Problem, ob das Grundstückseigentum überhaupt den Schutz von Art. 14 GG genießt, hier so nicht stellt. Gleichwohl spricht die Entscheidung die Thematik kurz an. Grundlage dafür war der Umstand, daß die Grundstückseigentümer bis zur Wiedervereinigung weder die faktische noch die rechtliche Möglichkeit hatten, über ihr Eigentum zu verfügen und somit lediglich ein Recht ohne Inhalt besaßen. Dies ändert aber nichts am grundsätzlich bestehenden Schutz durch die Eigentumsgarantie, sondern ist lediglich für die Frage des sozialgerechten und verhältnismäßigen Interessenausgleichs bedeutsam 341. In der Entscheidung zu den Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage (1945 bis 1949) hat das Bundesverfassungsgericht zwar ausgeführt, das die Alteigentümer durch die Enteignungen keine durchsetzbare Rechtsposition mehr innehatten 342. Das ist aber auf die hier diskutierte Belastung des Grundeigentums mit Nutzungsrechten nicht übertragbar. Einer entsprechenden Anwendung dieser Grundsätze steht die Spezialität des „Revisionsverbots“ entgegen, das sich nach Art. 4 Nr. 5 EinigungsV i. V. m. der Gemeinsamen Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen 343 ausdrücklich auf die Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage in den 341 342 343

Vgl. BVerfGE 101, 54 (76 f.). BVerfGE 84, 90 (122 ff.); 94, 12 (47). Vgl. Anlage III EinigungsV.

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

Jahren 1945 bis 1949 beschränkte. Außerhalb dieser speziellen Konstellation lebten daher die Rechtspositionen der Betroffenen nach der Wiedervereinigung und der Erstreckung des Grundgesetzes wieder auf 344. Eine nähere Erörterung hätte allerdings die Frage verdient, ob die Nutzungsrechte die Voraussetzungen eines vermögenswerten privaten Rechts im Sinne von Art. 14 I GG erfüllen. Das Gericht erwähnt nur beiläufig, daß der Gesetzgeber die Interessen aller Beteiligten, „auch soweit sie keinen verfassungsrechtlichen Rang haben“, in einen gerechten Ausgleich bringen muß 345. Falls dies auf die Nutzungsverhältnisse Bezug nimmt, hätten sich die Richter dieses Problems auf recht einfache Weise entledigt. Betrachtet man die tatsächliche Ausgestaltung der Nutzungsverhältnisse (faktisch keine Befristung, stark eingeschränkte Kündigungsmöglichkeiten, soziale Anschauung), erfüllen sie durchaus die wichtigsten Voraussetzungen einer von Art. 14 GG geschützten vermögenswerten Rechtsposition 346. Der einzige Unterschied zum Mietbesitz, den das Gericht als Eigentum im Sinne von Art. 14 GG anerkannt hat, besteht darin, daß es dort um Wohnnutzung, hier lediglich um Freizeitnutzung geht. Bezieht man allerdings die starke soziale Bedeutung der Datschengrundstücke mit ein, können die Nutzungsverhältnisse durchaus als eigentumsrechtliche Position qualifiziert werden 347. Im konkreten Fall hätte die Einstufung als Eigentumsposition wohl jedoch zu keinem anderen Ergebnis geführt. 2. Weite Gestaltungsfreiheit bei veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen Hinsichtlich des Umfangs der Gestaltungsfreiheit knüpft das Gericht an die Argumentationslinie früherer Entscheidungen an, nach der sich der Gesetzgeber in Situationen, die durch wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Wandel geprägt sind, auf einen erweiterten Gestaltungsspielraum berufen kann. Hier fungiert die Gestaltungsfreiheit als Argumentationsfigur zur Flexibilisierung verfassungsrechtlicher Anforderungen, wenngleich die Anknüpfung an die veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht überzeugt. Ein solcher Wandel liegt zwar vor, im engeren Sinne eigentumsrelevant ist aber nur die Veränderung, die in der Wiedereinführung des Privateigentums besteht. Die344

BVerfGE 94, 12 (47): „Daran [das Fehlen einer durchsetzbaren Rechtsposition, A. B.] hätte sich allenfalls durch die Wiedervereinigung etwas ändern können, die jedoch nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Einschätzung der Bundesregierung ohne den Restitutionsausschluß nicht zu erreichen gewesen wäre.“ 345 BVerfGE 101, 54 (75). 346 So C. Degenhart, JZ 1994, 890 (893); Voraussetzungen für Eigentum an privaten Vermögensrechten sind etwa Zuordnung zur privaten Nutzung und eigenverantwortliche Nutzungs- und Verfügungsmöglichkeit; vgl. statt aller Wieland (Fn. 251), Art. 14 Rn. 46 ff. 347 C. Degenhart, JZ 1994, 890 (893).

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ser Umstand streitet allerdings für eine schnellstmögliche Anpassung der DDRNutzungsverhältnisse an die Vertragstypen des BGB und somit für eigentümerfreundliche Kündigungsregelungen, also gerade nicht dafür, die Anforderungen der Eigentumsgarantie übergangsweise zurückzunehmen. Im Ergebnis ist dem Gericht freilich zuzustimmen, wenn es eine Flexibilisierung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe für geboten hält 348. Es stützt sich dabei letztlich relativ offen auf die Ausnahmesituation, wenn es ausführt, daß dem Gesetzgeber im Rahmen der Überleitungsgesetzgebung ein weiter Regelungsspielraum zusteht 349. Bestätigung findet dies darin, daß der Senat schon bei der Entfaltung des Prüfungsmaßstabs ausführt, das Regelungswerk sei als Ganzes und vor dem Hintergrund seiner nur schrittweise möglichen Durchführung zu würdigen 350. Eine Flexibilisierung war deshalb geboten, weil das Kündigungskonzept mit seiner ca. 20jährigen Übergangsphase und nur eng begrenzten Kündigungstatbeständen deutlich zu Lasten der Grundstückseigentümer geht. Trotz der nutzerfreundlichen Rechtsprechung zum Mietbesitz ist die Kündigungsschutzregelung des § 23 SchuldRAnpG in der geltenden Rechtsordnung eine singuläre und „systemfremde“ Erscheinung, wenn man bedenkt, daß sie von der durch Art. 14 GG garantierten freien Verfügungsbefugnis des Eigentümers über einen sehr langen Zeitraum nicht viel mehr übrig läßt als die Aussicht darauf, sie später einmal wiederzuerlangen. Insbesondere der Kündigungsausschluß ging über die Kündigungsvorschriften des sozialen Wohnungsmietrechts weit hinaus. Solche Beschränkungen des Eigentums aufgrund von Nutzungsverhältnissen zu Freizeitzwecken hätten wohl außerhalb einer Sonderkonstellation die Grenzen des Art. 14 GG überschritten. Ihre vorübergehende Rechtfertigung darf daher als Ergebnis der besonderen Transformationssituation gewertet werden.

348 Gegen eine weite Gestaltungsfreiheit C. Degenhart, JZ 1994, 890 (89), der allerdings als Vergleichsmaßstab die weite Gestaltungsfreiheit im Bereich der Wiedergutmachung wählt. 349 BVerfGE 101, 54 (78). 350 BVerfGE 101, 54 (76). Einzelregelungen, die für sich allein verfassungswidrig oder jedenfalls verfassungsrechtlich bedenklich wären, können daher im Rahmen eines Gesamtkonzepts verfassungskonform sein (vgl. BVerfGE 96, 409 [411]: „Für die Tragweite der damals zu treffenden Entscheidung [= Bezugnahme auf BVerfGE 88, 203 ff., A. B.] kam es deshalb wesentlich darauf an, ob das Beratungsmodell schlechthin verfassungswidrig war oder ob gegebenenfalls nur Einzelvorschriften verfassungsrechtliche Mängel aufwiesen, die behoben werden konnten und nicht das Gesamtkonzept unzulässig machten.“).

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Kap. 3: Ausgewählte Fallgruppen der Rechtsanpassung

E. Zwischenergebnis: Die Argumentationsfigur der Gestaltungsfreiheit als Schlüsselbegriff der Vereinigungsrechtsprechung zur Bewältigung transformationsbedingter Probleme Nach der Erörterung der drei ausgewählten Fallgruppen kann folgendes Zwischenfazit gezogen werden: Das Bundesverfassungsgericht versucht, die Fälle weitestgehend mit den gängigen Instrumentarien der verfassungsrechtlichen, insbesondere der Grundrechtsdogmatik zu erfassen. Dazu wird – dem Prinzip der strukturellen Vergleichbarkeit folgend – das Rechtsverhältnis einem Begriff der geltenden Rechtsordnung zugewiesen (so geschehen bei der Altschuldenfrage), oder die Rechtsposition dem Schutzbereich des für vergleichbare westdeutsche Positionen einschlägigen Grundrechts zugeordnet (wie im Beispiel der Rentenüberleitung). Dies gelingt jedoch nur durch die partielle Ausblendung der jeweiligen Eigentümlichkeiten des DDR-Rechtsverhältnisses oder der Rechtsposition. Diese Spannungen bei der Neubewertung resultieren letztlich daraus, daß die geltende Rechtsordnung die untersuchten rechtlichen Phänomene nicht kannte. Im Zentrum der verfassungsrechtlichen Beurteilung steht – nicht anders als sonst – die Verhältnismäßigkeitsprüfung. In deren Rahmen bzw. im Rahmen der Prüfung des sozialgerechten Interessenausgleichs nach Art. 14 II GG, die aber eine Variante des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darstellt, finden sich jeweils die relevanten Ausführungen zur gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit. Auch hier greifen die Verfassungsrichter auf früher schon verwendete Argumentationsmuster wie die „wirtschaftspolitische Gestaltungsfreiheit“, die „weite Gestaltungsfreiheit im sozialversicherungsrechtlichen Bereich“ oder die weite Gestaltungsfreiheit bei „veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen“ zurück. Allerdings hat sich gezeigt, daß die Verwendung dieser topoi nicht immer konsistent und widerspruchsfrei geschieht. Vielmehr dienen sie zum Teil nur als begriffliche Anknüpfung, um erweiterte Gestaltungsspielräume zu postulieren – und weniger, um sie zu begründen. Tragender Begründungsaspekt ist jeweils die besondere Situation des Systemwechsels bzw. die Besonderheit der Verhältnisse in den neuen Ländern. Die Neubewertung verlangte vor dem Hintergrund einer schnellstmöglich zu vollziehenden Rechtsanpassung eine Flexibilisierung von verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Lösung mithilfe des Gestaltungsspielraums war ein geeigneter Weg, um die Sondersituation mit den „normalen“ Mitteln der verfassungsrechtlichen Dogmatik zu bewältigen 351. Die Funktion der (weiten) gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit als Argumentationsfigur trat dabei noch wesentlich deutlicher als sonst hervor. 351 Zur „variablen Respektierung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit“ durch die Verwendung abgestufter Prüfungsmaßstäbe G. F. Schuppert, AöR 120 (1995), 32 (89).

Kapitel 4

Sonderverfassungsrecht Ost? Im dritten Kapitel wurde erläutert, daß die Erweiterung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ein Mittel des den Gesetzgeber kontrollierenden Bundesverfassungsgerichts war, um auf die Sondersituation der Wiedervereinigung und die dadurch hervorgerufenen Grundrechtsfragen zu reagieren. Im letzten Kapitel soll untersucht werden, ob diese Erweiterungen eine Relativierung (nicht nur eine Flexibilisierung) von verfassungsrechtlichen Anforderungen bewirkt haben, die es rechtfertigt, die zurückgenommenen Anforderungen als „Sonderverfassungsrecht Ost“ zu bezeichnen 1. Dazu ist eingangs zu skizzieren, daß das Grundgesetz kein eigenständiges Rechtsregime für Sonderlagen kennt. Insbesondere sind die Vorschriften über den Spannungs- bzw. den Verteidigungsfall etc. kein Ausdruck eines solchen geschlossenen Sondersystems (A). Im Anschluß daran ist der Vergleichsfall eines geschriebenen Sonderverfassungsrechts – Art. 143 I und II GG – darzustellen (B), an dem gemessen werden soll, ob durch die erörterte höchstrichterliche Rechtsprechung und die Absenkung verfassungsrechtlicher Anforderungen eine Art ungeschriebenes Sonderverfassungsrecht geschaffen wurde. Der recht schillernde, aber doch eher unbestimmte Begriff „Sonderverfassungsrecht“ soll dabei nicht überhöht werden. Von Sonderverfassungsrecht wird im folgenden schon dann ausgegangen, wenn sich aufzeigen läßt, daß die Verwendung der Argumentationsfigur der Gestaltungsfreiheit nicht nur zu einer Flexibilisierung, sondern auch zu einer Relativierung verfassungsrechtlicher Anforderungen geführt hat (C).

A. Sonderverfassungsrecht als Fremdkörper in der grundgesetzlichen Ordnung Das Grundgesetz kennt keine mit der Wiedervereinigung vergleichbare Sondersituation, für die es speziell entwickelte sonderverfassungsrechtliche Vorgaben bereithält. Die sich explizit mit Sonderlagen befassenden Artikel des Grundgesetzes 1

Die Frage ist bereits von H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 27, 29 aufgeworfen, aber offengelassen worden; Begriff in etwas anderem thematischen Zusammenhang auch bei L. Michael, AöR 124 (1999), 583 (598).

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Kap. 4: Sonderverfassungsrecht Ost?

über den inneren (Art. 91, 87a GG) und äußeren Notstand (Art. 80a, 115a ff., 87a, 53a GG), den Katastrophennotstand (Art. 35 II, III GG) und das Widerstandsrecht (Art. 20 IV GG) betreffen eng abgesteckte Anwendungsbereiche. Die erfaßten Situationen sind mit dem singulären Ereignis der Wiedervereinigung nicht derart vergleichbar, als daß aus ihnen Maßstäbe für die Sondersituation der deutschen Einheit gewonnen werden könnten. Eine Sonderlage ist im Grundgesetz auch nicht dergestalt „angelegt“ 2, daß man davon ausgehen könnte, es regele die Sondersituation stillschweigend mit. Dies würde zumindest eine sichere textliche Grundlage voraussetzen, aus der hervorgeht, daß sich das Grundgesetz zu einer Sondersituation hin öffnet. Die genannten Grundgesetzartikel oder -abschnitte sind aber tatbestandlich so genau gefaßt, daß aus ihnen nicht im Wege der Rechtsanalogie auf ein überwölbendes verfassungsrechtliches Sondersituationsrecht 3 geschlossen werden kann. Beinhaltet das Grundgesetz demnach kein Rechtsregime für die Sondersituation, sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen in einer besonderen Lage wie der der Wiedervereinigung die gleichen wie in normalen Zeiten. Für Sonderverfassungsrecht ist – vorbehaltlich einer ausdrücklichen Grundgesetzänderung wie mit Art. 143 I, II GG geschehen – kein Raum (dazu B). Das heißt aber auch, daß die Verwendung des Begriffs der besonders weiten gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit nicht zu einer Absenkung oder Relativierung von Verfassungsanforderungen führen darf, anderenfalls wäre er ein Instrument zur Verschleierung von Verfassungsverstößen (dazu C).

B. Geschriebenes Sonderverfassungsrecht Ost – Art. 143 I, II GG Um beurteilen zu können, ob die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts Ansätze von Sonderverfassungsrecht enthält, ist es ratsam, einen Vergleichsfall zu suchen, an dessen Maßstab die Rechtsprechungsbeispiele gemessen werden können. Hier steht Art. 143 I, II GG zur Verfügung, der aus Anlaß der deutschen Einheit in das Grundgesetz eingefügt wurde. Zunächst sollen dieser Tatbestand, seine Intention und seine Wirkungsweise untersucht werden.

2 Insofern dürfte es nicht zutreffend sein, wenn E. Klein, Die verfassungsrechtliche Bewältigung der Wiedervereinigung, in: Festschrift Gesellschaft für Deutschlandforschung, 1998, S. 417 ff. (427) meint, möglicherweise sei die Modifikation von Gestaltungsspielräumen bei einzelnen Grundrechten eine „in der Norm angelegte Berücksichtigung der Sondersituation“, die den Normzweck nicht verfehle (im Anschluß daran auch H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 29). 3 Begriff bei H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 29.

B. Geschriebenes Sonderverfassungsrecht Ost – Art. 143 I, II GG

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I. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 143 I, II GG Spezifisches Verfassungsrecht für die neuen Länder enthielten die Art. 143 I und II GG, die durch Art. 4 Nr. 5 des Einigungsvertrages in das Grundgesetz aufgenommen wurden 4, wegen Zeitablaufs aber mittlerweile obsolet geworden sind 5. Sie erlaubten, daß Recht in den neuen Ländern längstens bis zum Ende des Jahres 1992 von Bestimmungen des Grundgesetzes, namentlich den Grundrechten, abweichen durfte, soweit und solange infolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden konnte 6. Absatz 2 bestimmte, daß Abweichungen von grundgesetzlichen Normen in den Abschnitten II, VIII, VIIIa, IX, X und XI bis zum Ende des Jahres 1995 zulässig waren. Die inhaltlichen Grenzen zog Art. 143 I GG selbst durch Verweis auf die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 II GG und die Ewigkeitsgarantie des Art 79 III GG. Da die in Art. 4 EinigungsV enthaltenen Verfassungsänderungen

4 Die vertragsbasierte Inkorporation des Art. 143 GG ist verfassungsrechtlich problematisch. Einwände können sich aus Art. 79 I 1 GG (Textänderungsgebot), aber in erster Linie aus der beschränkten Steuerungsmöglichkeit des Parlaments beim Abschluß völkerrechtlicher Verträge ergeben. Letzteres hat das Bundesverfassungsgericht für nicht durchgreifend erachtet, allerdings mit der fraglichen Begründung, das Vertragsverfahren finde seine Grundlage in Art. 23 Satz 2 GG a. F. (Wiedervereinigungsgebot), der die Bundesregierung verpflichtete, die einmalige Chance zur Wiedervereinigung zu nutzen, vgl. BVerfGE 82, 316 (320 f.); 84, 90 (118); kritisch dazu H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 79 I Rn. 14 m. w. N. – Ob ein Verstoß gegen das Textänderungsgebot vorlag, wurde offengelassen; vgl. aber auch BVerfGE 84, 90 (119), die Frage betreffend, ob Art. 143 Abs. 3 GG gegen das Textänderungsgebot verstößt: „ ( . . . ) Ob eine Verfassungsänderung darüber hinaus grundsätzlich erkennen lassen muß, in welcher Hinsicht und in bezug auf welche konkrete Regelung das Grundgesetz geändert wird und was in Zukunft als Verfassungsrecht gelten soll ( . . . ), kann dahingestellt bleiben“; hiermit dürfte sich das Gericht auf Art. 143 I und II GG beziehen. 5 J. Wieland, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2000, Art. 143 Rn. 15; M. Kirn, in: I. v. Münch / P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl. 2003, Art. 143 Rn. 11. 6 Aus der Kommentarliteratur zu Art. 143 I, II GG: R. Scholz, in: T. Maunz / G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Art. 143 (1991), Rn. 2 ff.; Wieland (Fn. 5), Art. 143 Rn. 19 ff.; K. A. Schwarz, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / C. Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 3, 5. Aufl. 2005, Art. 143 Rn. 12 ff., 20 ff.; Kirn (Fn. 5), Art. 143 Rn. 4 ff.; des weiteren D. Merten, Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, 1991, S. 76 ff.; C. Feddersen, DVBl. 1995, 502 ff.; M. Sachs, Vom Grundgesetz abweichendes Recht nach der Wiedervereinigung Deutschlands – Art. 143 Abs. 1 und 2 GG, in: J. Ipsen u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 193 ff. (194 ff.); K. Harms, Verfassungsrecht in Umbruchsituationen, 1999, S. 73 ff.; knapp E. Klein, DÖV 1991, 569 (573).

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Kap. 4: Sonderverfassungsrecht Ost?

Art. 19 II GG unverändert ließen und Art. 79 III GG selbst nicht abänderbar ist 7, hätten sich diese Grenzen für den Überleitungsgesetzgeber auch ohne ausdrückliche Bezeichnung ergeben, so daß die Regelung insoweit nur von deklaratorischer Bedeutung war 8. Die Ermächtigung zur Abweichung von grundgesetzlichen Normen fand auf alle Rechtsnormen Anwendung, deren Geltung sich auf das sog. „Beitrittsgebiet“ beschränkte. Von Art. 143 I, II GG erfaßt waren daher sowohl das nach Art. 8 EinigungsV (modifiziert) übergeleitete Bundesrecht als auch die Vorschriften des einfachen Bundesrechts, die im Zuge der Rechtsanpassung geschaffen wurden und deren Regelungsgehalt sich speziell auf Gegenstände im Beitrittsgebiet bezog, sowie das nach Art. 9 II, III EinigungsV fortgeltende DDR-Recht 9. Die Diskussion um die Zulässigkeit dieser Abweichungen konzentrierte sich auf diesen letzten Punkt, da gerade die Fortgeltung von DDR-Recht als verfassungsrechtlich bedenklich eingestuft wurde 10. Prägend für die Diskussion war vor allem die Frage nach der Zulässigkeit der im Vergleich zum westdeutschen Strafgesetzbuch milderen DDR-Regelung für den Schwangerschaftsabbruch 11, die einer Fristenlösung in der Gestalt entsprach, wie sie vom Bundesverfassungsgericht in der ersten Schwangerschaftsabbruch-Entscheidung verworfen wurde 12. Der Einigungsvertrag erhielt die DDR-Regelung bis zu einer gesamtdeutschen Neugestaltung aufrecht 13, wodurch die Frage aufgeworfen war, ob Art. 143 I GG die, bei Übertragung 7

Statt aller H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 79 III Rn. 58 m. w. N. (auch zur Gegenansicht); B. Pieroth, in: H. D. Jarass / ders., Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 2006, Art. 79 Rn. 13. 8 Vgl. C. Feddersen, DVBl. 1995, 502 (508). 9 Zum Vorstehenden vgl. die Denkschrift zum Einigungsvertrag (BT-Drucks. 11/7760, S. 359): „Ob es sich um fortgeltendes Recht der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik oder um übergeleitetes Bundesrecht handelt, ist unerheblich.“ Danach könnte sogar unverändert übergeleitetes Bundesrecht, das bei Anwendung auf Sachverhalte aus den alten Ländern verfassungskonform ist, aufgrund seiner Anwendung auf Sachverhalte in den neuen Ländern verfassungswidrig sein. Für diese Möglichkeit spricht die verfassungsgerichtliche Entscheidung zur ersten gesamtdeutschen Wahl in BVerfGE 82, 322 (337 ff.). Zum Ganzen ferner mit Beispielen C. Feddersen, DVBl. 1995, 502 (504). 10 So (allerdings unzutreffend) K. Stern / B. Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Einigungsvertrag und Wahlvertrag mit Vertragsgesetzen, Begründungen, Erläuterungen und Materialien, 1990, S. 41 ff., die sich allem Anschein nach nur auf DDR-Recht beziehen. 11 Vgl. etwa A. v. Campenhausen, in: H. v. Mangoldt / F. Klein / A. v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, 3. Auflage, Bd. 14 (1991), Art. 143 Rn. 17 ff.; Scholz (Fn. 6), Art. 143 Rn. 11 f.; M. Herdegen, Die Verfassungsänderungen im Einigungsvertrag, 1991, S. 23 f. Zu Recht kritisch zur Engführung der Diskussion auf die Abtreibungsproblematik W. Hoppe / M. Schulte, DVBl. 1991, 1041 (1045); G. Brunner, HStR IX, § 210 Rn. 9. 12 BVerfGE 39, 1 (35 ff.); zur präjudizierenden Wirkung der Entscheidung für die DDRFristenlösung M. Sachs, DtZ 1990, 193 ff.; dazu ferner H. Reis, NJW 1991, 662 (665 ff.). 13 Vgl. Anlage II Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt I Nr. 1, 4, 5 sowie Art. 31 IV EinigungsV.

B. Geschriebenes Sonderverfassungsrecht Ost – Art. 143 I, II GG

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der Maßstäbe des ersten bundesverfassungsgerichtlichen Urteils zum Schwangerschaftsabbruch wohl grundgesetzwidrige, DDR-Fristenlösung rechtfertigte. Spezielle Auslegungsprobleme barg Art. 143 I GG im Hinblick auf zwei Tatbestandsmerkmale. Zum einen war fraglich, was unter „Recht“ in dem in Art. 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet zu verstehen war, denn die DDR-Rechtsordnung kannte bis zuletzt kein dogmatisch schlüssiges Rechtsquellensystem 14. Die Denkschrift zum Einigungsvertrag präzisierte dies immerhin dahingehend, daß „Rechtsnormen jeder Art“ gemeint waren 15. Gelöst war das Problem damit gleichwohl nicht, da der dem Begriff der Rechtsnorm äquivalente DDR-spezifische Begriff der „Rechtsvorschrift“ nicht das gleiche Abgrenzungspotential zu internen Verwaltungsanordnungen oder – evidentermaßen – zu Beschlüssen von Parteiorganen aufwies 16. Damit war jeweils im Einzelfall zu klären, ob die in Rede stehende DDR-Rechtsvorschrift auch Rechtsnormcharakter hatte 17. Schließlich konnte „Recht“ im Sinne des Art. 143 I GG nicht mit dem in Art. 9 II Einigungsvertrag aufgeführten „Recht“ gleichgesetzt werden; dem steht schon die Formulierung in der Denkschrift entgegen 18. Zum anderen war Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Art 143 I, II GG, daß sich eine der partikularen Rechtsvorschriften als verfassungswidrig erwies 19 und die Unmöglichkeit einer verfassungsgemäßen Regelung gerade auf den unterschiedlichen Verhältnissen in Ost und West beruhte. Die Abweichung mußte also beitrittsbedingt 20 und somit eine Folge der sich aus der unterschiedlichen 14 Eingehend M. Sauthoff / R. Bauer, DÖV 1991, 1054 ff.; G. Brunner, HStR IX, § 210 Rn. 4; zu den Ansätzen eines „sozialistischen Rechtsstaats“ zum Ende der DDR in den 1980er Jahren C. H. Ule, DVBl. 1989, 1221 ff. und ders., DVBl. 1990, 793 (794 ff., 799 f.). 15 Denkschrift zum Einigungsvertrag (BT-Drucks. 11/7760), S. 359. 16 Vgl. G. Brunner, HStR IX, § 210 Rn. 4 a. E.; M. Sauthoff / R. Bauer, DÖV 1991, 1054 (1056 ff.) legen dar, daß man zwar zwischen Individualakten und Normativakten unterschied, wobei nur letztere „Rechtsnormen“ im rechtsstaatlichen Sinne bildeten, jedoch unklar blieb, welche Vorschriften als Normativakte anzusehen waren. 17 Lösungsvorschlag bei G. Brunner, HStR IX, § 210 Rn. 5: nur staatlich erlassene, im Gesetzblatt der DDR veröffentlichte Vorschriften ohne Rücksicht auf ihre rechtstheoretische Qualität. 18 Dazu Stern/Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag (Fn. 10), S. 134 f. 19 C. Feddersen, DVBl. 1995, 502 (504 f.). Vorrangig zu prüfen war, ob sich die Verfassungswidrigkeit durch verfassungskonforme Auslegung beseitigen ließ (vgl. R. Wendt, in: M. Sachs [Hrsg.], Grundgesetz-Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 143 Rn. 8) oder ob die Grundgesetznorm selbst (z. B. Art. 3 I GG) Spielräume für abweichende Regelungen in den neuen Ländern enthielt; vgl. dazu BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats) NStZ 1994, 45 f. mit Anmerkung C. Nix (Besetzung der Bezirksgerichte in Strafsachen mit zwei statt der nach § 76 GVG vorgesehenen drei Richter aufgrund des Mangels an qualifizierten Juristen). 20 So BVerfGE 100, 1 (53): temporär unüberwindliche Unterschiedlichkeit der Verhältnisse; Kirn (Fn. 5), Art. 143 Rn. 7; Wendt (Fn. 19), Art. 143 Rn. 8; ausführlicher C. Feddersen, DVBl. 1995, 502 (506 f.).

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Nachkriegsentwicklung der beiden deutschen Staaten ergebenden Anpassungsprobleme sein 21. Andere Gründe wie etwa bloße Schwierigkeiten bei der rechtlichen Ausgestaltung vermochten die Privilegierung durch die Art. 143 I, II GG nicht auszulösen. Die Vorschriften sind, im Gegensatz zu der im Schrifttum engagiert geführten Diskussion über ihre Zulässigkeit, in der Praxis kaum von ausschlaggebender Bedeutung gewesen 22. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungswidrigkeit regelmäßig nicht auf die unterschiedlichen Verhältnisse zurückgeführt und Art. 143 I, II GG daher nicht angewendet 23.

II. Die Wesensmerkmale des Art. 143 I, II GG Mit den geschilderten Tatbestandsmerkmalen ist das Wesen der Dispensregelung in Art. 143 I, II GG noch nicht hinreichend charakterisiert. In den Blick zu nehmen sind weitere Aspekte, die die von der Norm erfaßte Lage kennzeichnen. Das ist zum einen der Umstand, daß mit der Überleitungsgesetzgebung ein voll verfassungsmäßiger Zustand noch nicht erreicht werden kann (1), was wiederum in erster Linie auf den eigengearteten tatsächlichen Verhältnissen in den neuen Ländern beruht (2). Daraus folgt, daß Art. 143 I, II GG vorübergehend eine Legitimierung von Verfassungsverstößen ermöglichte (3). 1. Unerreichbarkeit eines voll verfassungsmäßigen Zustands Art. 143 I GG knüpft mit der Formulierung, „solange ( . . . ) die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden kann“, gedanklich an die „Näher-am-Grundgesetz“-These an, die das Bundesverfassungsgericht in seiner frühen Entscheidung zum sog. „Saarstatut“ entwickelt hat 24. Danach sind völkerrechtliche Verträge im Zusammenhang mit dem Abbau einer Besatzungsordnung, die eigentlich im Widerspruch zum Grundgesetz stehen, dann nicht verfassungswidrig, wenn sie die Tendenz in sich tragen, dem verfassungsmäßi-

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Denkschrift zum Einigungsvertrag (BT-Drucks. 11/7760), S. 359. Vgl. mit Rechtsprechungsüberblick Sachs, Abweichendes Recht (Fn. 6), S. 195 ff.; ferner Kirn (Fn. 5), Art. 143 Rn. 8: Tendenz der Rechtsprechung zur Anwendung anderer „Konstruktionen“. 23 So war die „Warteschleifenregelung“, die den Mutterschutz negierte, zwar mit Art. 6 IV GG unvereinbar; dies beruhte aber nicht auf den unterschiedlichen Verhältnissen in den neuen Ländern, da die Verfassungswidrigkeit ohne weiteres verhindert werden konnte, vgl. BVerfGE 84, 133 (156). Ein weiteres Beispiel ist die Zahlbetragsbegrenzung des § 10 I 2 AAÜG, vgl. BVerfGE 100, 1 (53). 24 BVerfGE 4, 157 (169 f.); im Anschluß daran P. Lerche, DÖV 1971, 721 ff. Zum Vorbildcharakter der Saarstatut-Entscheidung Sachs, Abweichendes Recht (Fn. 6), S. 205 f.; W. Hoppe / M. Schulte, DVBl. 1991, 1041 (1045); zur Saarstatut-Entscheidung eingehend Harms, Verfassungsrecht (Fn. 6), S. 25 ff. 22

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gen Zustand soweit wie möglich nahezukommen und der geschaffene Zustand „näher am Grundgesetz“ liegt als der vorhergehende. Mit der Annäherungsthese wurde also die Möglichkeit eröffnet, wegen besonderer Umstände von Anforderungen des Grundgesetzes abzuweichen, sofern die Gesamtentwicklung auf einen verfassungsmäßigen Zustand hinsteuert. Eine ganz ähnlich gelagerte Situation bildete der Rechtsanpassungsprozeß nach der Wiedervereinigung. Das Grundgesetz gilt seit seiner Erstreckung durch Art. 3 EinigungsV – mit den dargestellten Modifikationen im Detail – auf dem Gebiet der neuen Länder. Die von Art. 143 I, II GG zugelassenen Abweichungen trugen jedoch dem Umstand Rechnung, daß der verfassungsrechtliche Sollzustand, die vollständige „Verwirklichung“ der Verfassung 25, wegen der besonderen Verhältnisse in den neuen Ländern noch nicht erreicht werden kann. Die Gesamtentwicklung ist aber trotz dieser Abweichungen auf einen vollständig verfassungsmäßigen Zustand gerichtet, da das Grundgesetz schon zum ganz überwiegenden Teil in den neuen Ländern gilt und umgesetzt wird, die Abweichungen befristet sind, der Rechtsanpassungsprozeß auf einfachrechtlicher Ebene voranschreitet und schließlich auch die Besonderheiten der Lebensverhältnisse nach und nach verblassen. Die Annäherungsthese kann also als Deutungsmuster für Art. 143 I, II GG herangezogen werden 26. Die Unterschiede zwischen beiden Konstellationen beziehen sich daher vor allem auf die Gründe für den verfassungswidrigen Zustand, der als Tatbestandsmerkmal von beiden Rechtsinstrumenten vorausgesetzt wird. Im Falle des Saarstatuts waren es besatzungsrechtliche Gründe, die einen voll verfassungsmäßigen Zustand einstweilen verhinderten 27. Der von der Bundesrepublik mit der Besatzungsmacht Frankreich geschlossene völkerrechtliche Vertrag, durch den das Saargebiet ein eigenes Statut (also eine Verfassung) erhielt, bewirkte zwar, daß das Grundgesetz auch weiterhin nicht galt 28, gleichwohl befand sich dieser Zustand „näher am Grundgesetz“, da jedenfalls das französische Besatzungsregime entfiel 29. Der verfassungswidrige Zustand liegt in der „Nicht-Geltung“ des Grundgesetzes für das Saargebiet. Bei Art. 143 I, II GG steht im Vordergrund, daß eine im

25 Zur Verfassungs“verwirklichung“, die an die Realisierungsmöglichkeit (Hervorhebg. i. O., A. B.) der Verfassungsinhalte gebunden ist, K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 41, 43. 26 So auch v. Campenhausen (Fn. 11), Art. 143 Rn. 12 und W. Hoppe / M. Schulte, DVBl. 1991, 1041 (1046): der durch den EinigungsV geschaffene Zustand komme der vollen Anerkennung des Grundgesetzes näher als der vorangehende Zustand. 27 Eingehend Harms, Verfassungsrecht (Fn. 6), S. 27 f. 28 Näher Harms, Verfassungsrecht (Fn. 6), S. 28; vgl. auch die Sachverhaltsdarstellung im Urteil selbst: BVerfGE 4, 157 (158 ff., 170 ff.). 29 Zur weiteren Entwicklung bis zur Rückgliederung des Saarlandes, die häufig als Präzendenzfall für die deutsche Einheit angesehen wird, W. Fiedler, JZ 1990, 668 (669 ff.); vgl. ferner R. Wahl, Der Staat 30 (1991), 181 (198 f.); R. Grawert, Der Staat 30 (1991),

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Gebiet der neuen Länder geltende Rechtsnorm vom (dort geltenden) Grundgesetz abweichen darf, weil eine vollständige Anpassung aufgrund der unterschiedlichen Verhältnisse dort noch nicht erreicht werden kann; der verfassungswidrige Zustand resultiert aus der Abweichung vom geltenden Grundgesetz. Rechtfertigender Grund dafür und zentrales Merkmal für das Verständnis des Art. 143 I, II GG ist daher die Unterschiedlichkeit der Lebensverhältnisse. 2. Die „unterschiedlichen Verhältnisse“ Das Tatbestandsmerkmal der „unterschiedlichen Verhältnisse“ in Art. 143 I GG erscheint in den einschlägigen Abhandlungen zur Thematik zu gering bewertet. Der Grund für die Schaffung des Art. 143 I, II GG wurde in erster Linie darin gesehen, daß der Einigungsvertrag die Fortgeltung von DDR-Recht ermöglichte, welches in vielen Fällen nicht dem Grundgesetz entsprach, gleichwohl aber weiterhin angewendet werden sollte, weil bundesdeutsche Regelungen nicht bzw. noch nicht vorhanden waren. Art. 143 I, II GG läßt sich aber nicht auf die Frage nach der Verfassungswidrigkeit fortgeltenden DDR-Rechts beschränken 30. Das ist schon deshalb fragwürdig, weil dies aus einen Widerspruch zum einfachen Bundesrecht zugleich einen Verstoß gegen Verfassungsrecht konstruiert. Der Wortlaut „unterschiedliche Verhältnisse“ legt es vielmehr nahe, stärker auf den wechselseitigen Bezug von Recht und Realität zu achten. Eine zu große Diskrepanz zwischen rechtlicher Regelung einerseits und zu regelnder Realität andererseits kann die Verwirklichung verfassungsrechtlicher Vorgaben unmöglich machen 31. Wie schon angedeutet 32, konnte unverändert übergeleitetes Bundesrecht bei seiner Anwendung auf ostdeutsche Sachverhalte die verfassungsrechtlichen Vorgaben durchaus verfehlen 33 . So wäre ein Verfassungsverstoß (gegen Art. 2 I GG) nicht von vornherein ausgeschlossen gewesen, hätte man beispielsweise das Gesetz zur Regelung der Miethöhe (MHG) unverändert auf die neuen Länder 209 (221 f.); auf die Unterschiede zwischen dem Beitritt des Saarlandes und der deutschen Einheit verweist hingegen K.-D. Schnapauff , DVBl. 1991, 1249 (1251). 30 Dies klingt aber an bei C. Feddersen, DVBl. 1995, 502 (502). 31 Realitätsbewußt allerdings schon früh W. Binne, DtZ 1990, 209 (209); die Verschiedenheiten deutlich herausarbeitend auch G. Roellecke, NJW 1991, 657 (661), allerdings mit der (fragwürdigen) Schlußfolgerung, die einzige Lösung für dieses Problem bestehe dann im „Überstülpen“ des westdeutschen Rechts mit der Folge eines starken, aber legitimen Anpassungsdrucks. 32 Siehe Kapitel 1. B. III. 1. 33 Das wird von Merten, Grundfragen (Fn. 6), S. 79 allerdings bestritten. – Für modifizert übergeleitetes Bundesrecht oder für eigens geschaffene Überleitungsbestimmungen war wegen des Zeitdrucks ohnehin mit der Möglichkeit zu rechnen, daß Vorgaben des Grundgesetzes verfehlt wurden. Dann basierte die Verfassungswidrigkeit allerdings nicht auf den „unterschiedlichen Verhältnissen“ und fiel deshalb nicht in den Anwendungsbereich von Art. 143 I, II GG.

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übertragen, so daß dort sofort Mieterhöhungen wie in den alten Bundesländern möglich gewesen wären 34. In diesem Fall wäre das zunächst seltsam anmutende Ergebnis, daß eine Norm, die in den alten Bundesländern verfassungsgemäß ist, bei Anwendung auf Sachverhalte in den neuen Länder verfassungsrechtlich bedenklich wäre. Art. 143 I, II GG ist hier ein Weg, auch auf diesen Umstand zu reagieren. 3. Legitimation von Verfassungsverstößen Damit bleibt noch zu klären, wie Art. 143 I, II GG auf die Unerreichbarkeit eines voll verfassungsmäßigen Zustands wegen der unterschiedlichen Verhältnisse reagiert und wie diese Reaktion verfassungsdogmatisch einzustufen ist. In den die Art. 143 I, II GG behandelnden Beiträgen begegnen eine Reihe von Funktionsbeschreibungen. Die Denkschrift zum Einigungsvertrag formuliert, die Norm soll durch ein „modifiziertes Anwenden des Grundgesetzes“ den notwendigen gesetzgeberischen Spielraum eröffnen, um das Recht in den neuen Ländern schrittweise überzuleiten 35. Andernorts heißt es ganz allgemein, sie solle „begrenzte Erleichterungen“ schaffen 36 oder das DDR-Recht, für das ausdrücklich die Fortgeltung angeordnet wurde, für eine begrenzte Übergangszeit der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung entziehen 37. Andere Stimmen formulieren deutlicher. Danach soll Art. 143 I, II GG eine „vorübergehende Zurücknahme verfassungsrechtlicher Anforderungen“ verfassungsrechtlich absichern 38, den Inhalt der verfassungsrechtlichen Vorgaben und damit die Wirkungen des Grundgesetzes in verschiedener Beziehung abwandeln bzw. von ihnen freistellen 39 oder eine zeitlich befristete Suspension grundgesetzlicher Normen zulassen 40. Hiernach zeichnen sich zwei mögliche Deutungen des Art. 143 I, II GG ab. So kann er

34 Stattdessen wurde durch den EinigungsV die Sondervorschrift des § 11 MHG a. F. eingefügt; vgl. W. Heintzmann, in: H. T. Soergel u. a. (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Bd. 4/1, 12. Auflage 1998, § 11 MHG, Rn. 16. 35 So die Denkschrift zum Einigungsvertrag (BT-Drucks. 11/7760, S. 359). Im Anschluß an den Wortlaut von Art. 143 I GG Wieland (Fn. 5), Art. 143 Rn. 7; v. Campenhausen (Fn. 11), Art. 143 Rn. 9, 16; ähnlich H. H. Klein, HStR VIII, § 198 Rn. 39. 36 P. Lerche, Fortgeltung von DDR-Recht und Gesetzesvorbehalt, in: Festschrift für Herbert Helmrich, 1994, S. 57 ff. (58). 37 V. Busse, DÖV 1991, 345 (350), wobei die Fixierung auf fortgeltendes DDR-Recht schon dem Wortlaut des Art. 143 I GG nicht gerecht wird. 38 Harms, Verfassungsrecht (Fn. 6), S. 73; an anderer Stelle (S. 143) heißt es, Art. 143 I, II GG beinhalte eine situationsangepaßte Relativierung und Modifizierung des grundrechtlichen Regelungsgehaltes, aber keine Aufhebung der Grundrechtsbindung und daher keine auch nur punktuelle Suspendierung. 39 Sachs, Abweichendes Recht (Fn. 6), S. 194 bzw. S. 203. 40 H.-J. Papier, HStR IX, § 213 Rn. 29.

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als eine Norm qualifiziert werden, die (zeitlich begrenzt) eine auf das Teilgebiet der neuen Länder beschränkte Modifikation der Verfassungsrechtslage schafft. Vorzugswürdiger erscheint es aber, den Art. 143 I, II GG als ein Mittel zur Legitimation von bestimmten Verfassungsverstößen zu begreifen, nämlich von solchen, die auf der Verschiedenheit der Verhältnisse in den neuen Bundesländern beruhen. Gegen die erstgenannte Deutungsvariante sprechen vor allem die Regelungen des Einigungsvertrages, nach denen das Grundgesetz vollständig (und grundsätzlich auch in der gleichen Weise wie es bisher in der Bundesrepublik) galt, auf das Teilgebiet der ehemaligen DDR erstreckt wurde. Übergangsregelungen und Ausnahmen normierte das Vertragswerk daher auch nur punktuell. Dies spricht gegen den Gedanken, daß mit Art. 143 I, II GG eine modifizierte (Teil-)Verfassungsrechtsordnung für das Gebiet der neuen Länder intendiert war. Zudem stützt der Wortlaut des Art. 143 I, II GG die andere mögliche Deutung. Danach „kann“ Recht in den neuen Ländern vom Grundgesetz „abweichen“, mit andern Worten: es darf abweichen. Diese Abweichung von Bestimmungen des Grundgesetzes bezeichnet das Resultat einer Überprüfung des in Rede stehenden Rechts am Maßstab der Verfassung. Der Begriff der Abweichung ist also letztlich nur eine andere Bezeichnung für einen Verfassungsverstoß. Im Hinblick auf die Rechtsfolge eines Verfassungsverstoßes unterscheidet die Verfassungsdogmatik nur zwischen der Verfassungsmäßigkeit und der Verfassungswidrigkeit. Zwischen diesen möglichen Rechtsfolgen gibt es nichts, selbst wenn man die vom Bundesverfassungsgericht kreierte Unvereinbarerklärung 41 berücksichtigt. Letztere betrifft lediglich die Folgen der Verfassungswidrigkeit, setzt diese also voraus. Und auch im Falle der sog. „Appellentscheidungen“ 42, mit denen das Gericht ein Gesetz für unvereinbar mit dem Grundgesetz, aber gleichwohl noch verfassungsgemäß (nämlich bis zu einer dem Gesetzgeber aufgegebenen Neuregelung) erklären kann, erweist sich das Gesetz im Ergebnis als verfassungsgemäß. Vor diesem Hintergrund kann man den Wortlaut des Art. 143 I, II auch leicht abwandeln und formulieren: Recht in den neuen Ländern darf gegen das Grundgesetz verstoßen, soweit und solange ein verfassungsmäßiger Zustand wegen der unterschiedlichen Verhältnisse nicht möglich ist und die äußersten verfassungsrechtlichen Schranken (Art. 79 III GG und Art. 19 II GG) beachtet werden. Im Ergebnis legitimiert bzw. beseitigt Art. 143 I, II GG also Verfassungsverstöße 43

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Dazu statt aller K. Schlaich / S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 6. Aufl. 2004, Rn. 396. 42 Schlaich / Korioth, Bundesverfassungsgericht (Fn. 41), Rn. 431 ff. 43 So Sachs, Abweichendes Recht (Fn. 6), S. 201; gleiches wird ausgedrückt, wenn es heißt, Art. 143 I, II GG bewirke die „Freistellung“ (so Sachs, ebd., S. 203) oder die „Suspension“ verfassungsrechtlicher Normen (H.-J. Papier, HStR IX, § 213 Rn. 29). Nicht zutreffend dürfte allerdings die Ansicht sein, die Norm wolle Recht in den neuen Län-

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und bildet daher eine verfassungsrechtliche Ausnahmevorschrift 44. Die notwendigen Sicherungsvorkehrungen für diese systemwidrige Ausnahme bestehen zum einen in der Bindung an die Ewigkeitsklausel und die Wesensgehaltsgarantie und zum anderen darin, daß die Verfassungswidrigkeit der zu überprüfenden Rechtsnorm – die ja Tatbestandsmerkmal des Art. 143 I, II GG ist 45 – offengelegt werden muß. Indem Art. 143 I, II GG bestimmte Verfassungsverstöße zuließ, bewirkte er eine Lockerung verfassungsrechtlicher Anforderungen mit entsprechend umfassenderen Ausgestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers, da dieser ausnahmsweise nicht an der Grenze der Verfassungswidrigkeit Halt machen mußte. Das heißt jedoch nicht, daß Art. 143 I, II GG zugleich zu einer Lockerung der durch Art. 79 III GG geschützten Bindung an die Verfassung führte. Die Verfassungsbindung des Gesetzgebers konnte Art. 143 I, II GG nicht schmälern; der Gesetzgeber blieb auch während der Übergangsfristen ohne Wenn und Aber an das Grundgesetz gebunden.

III. Zwischenergebnis: Art. 143 I, II GG als transformationsbedingter Dispens Der Art. 143 I, II GG als verfassungsrechtliche Ausnahmevorschrift trägt der realistischen Einsicht der Vertragsparteien des Einigungsvertrages Rechnung, daß die tiefgreifenden Unterschiede in den tatsächlichen Verhältnissen eine bruchlose und völlig widerspruchsfreie Rechtsanpassung vereitelten. Wollte der Gesetzgeber das Ziel der Rechtseinheit nicht auf längere Zeit verschieben oder unbillige Härten für die Betroffenen in Kauf nehmen, so mußte die Möglichkeit bestehen, von Anforderungen des Grundgesetzes zeitweise abzuweichen.

C. Ungeschriebenes Sonderverfassungsrecht Ost? Auf die sonderverfassungsrechtliche Norm des Art. 143 I, II GG konnte der Gesetzgeber mit Ablauf der Übergangsfristen zum Ende 1992 bzw. 1995 nicht mehr zurückgreifen. Es galten nunmehr die normalen verfassungsrechtlichen An-

dern übergangsweise der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung entziehen (V. Busse, DÖV 1991, 345 [350]), denn die Tatsache, daß die Verfassungswidrigkeit dieser Rechtsvorschriften Tatbestandsvoraussetzung ist, verlangt gerade eine richterliche Nachprüfung. – Für den speziellen Bereich der Grundrechte ist Art. 143 I, II GG zu den Grundrechtsbegrenzungen zu rechnen, vgl. nochmals Sachs, ebd., S. 201; B. Pieroth / B. Schlink, Grundrechte, 21. Aufl. 2005, Rn. 208. 44 So explizit C. Feddersen, DVBl. 1995, 502 (503); ähnlich Sachs, Abweichendes Recht (Fn. 6), S. 206: Begrenzung der regelmäßigen Verfassungsanforderungen. 45 C. Feddersen, DVBl. 1995, 502 (504 f.).

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forderungen. In den Fallkonstellationen, die Art. 143 I, II GG zu keinem Zeitpunkt erfaßte, war der Gesetzgeber ohnehin nicht davon befreit, das normale Anforderungsprofil des Grundgesetzes zu erfüllen. Zu untersuchen ist daher anhand der im dritten Kapitel aufgezeigten Abweichungen, ob aus der Sondersituation der Wiedervereinigung ein (richterrechtliches) ungeschriebenes Sonderverfassungsrecht hervorgegangen ist. Voranzustellen ist die Konstellation, in der das Bundesverfassungsgericht explizit ausgesprochen hat, daß das Unterschreiten verfassungsrechtlicher Anforderungen wegen der Sondersituation ausnahmsweise zulässig ist. Diese Konstellation ist der des Art. 143 GG strukturell gleichgelagert, da hier ebenso wie dort eine Unterschreitung verfassungsrechtlicher Anforderungen geduldet wird (I). Darüberhinaus führt jedoch auch die Argumentation mit der bekannten Formel von der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit zu einer Relativierung verfassungsrechtlicher Anforderungen (II). Damit erweist sich die Argumentationsfigur als ein Mittel zur Fortführung des von Art. 143 I, II GG verfolgten Zwecks (III). Gleichwohl war die Absenkung verfassungsrechtlicher Anforderungen vor dem Hintergrund der Sondersituation alternativlos (IV). Dies verliert zudem dadurch an Brisanz, daß Gefährdungen für den verfassungsrechtlichen Normalfall im Ergebnis nicht zu befürchten sind; als Präzendenzfall ist die deutsche Wiedervereinigung aufgrund ihrer Einmaligkeit wenig geeignet (V).

I. Singuläre Ausnahme beim Gesetzesvorbehalt In einem wesentlichen Punkt des Altschulden-Urteils gehen die Verfassungsrichter ausdrücklich von den normalen verfassungsrechtlichen Anforderungen ab, nämlich beim Gesetzesvorbehalt. Ein eigentlich vorliegender Verstoß hiergegen soll ausnahmsweise hingenommen werden 46. Zur Begründung stellen die Richter zwar nicht auf die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit ab, da der Vorbehalt des Gesetzes dafür keinen Raum beläßt 47. Sie argumentieren aber mit der besonderen Situation nach der Wiedervereinigung, die ausnahmsweise eine im Normalfall nur ungenügende Regelung durch eine unveröffentlichte Arbeitsanweisung als zulässig erscheinen läßt 48. Das steht in Kontrast zu einem früheren, aber gleichfalls

46 Ähnlich argumentiert das Gericht noch einmal an anderer Stelle des Urteils: so soll auch die Nicht-Entschuldung von (Zwangs-)Krediten für betriebsfremde Zwecke „ausnahmsweise“ hinzunehmen sein, obwohl die Richter vorher postuliert hatten, diese Verbindlichkeiten seien zu entschulden, vgl. BVerfGE 95, 267 (313). 47 Insbesondere dürfte der Gesetzgeber auch nicht über einen Einschätzungsspielraum hinsichtlich der „Wesentlichkeit“ einer Materie verfügen; es entscheidet letztlich das Bundesverfassungsgericht, was „wesentlich“ im Sinne des Vorbehalts des Gesetzes ist, dazu F. Ossenbühl, HStR III, § 62 Rn. 44. 48 BVerfGE 95, 267 (308). – Kritisch R. Will, Die deutsche Wiedervereinigung und das Grundgesetz – Die Verfassung als Maßstab für die ostdeutsche Systemtransformation, in:

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im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung stehenden Judikat, nach dem eine gesetzliche Regelung nicht allein deshalb von übergeordnetem Recht abweichen darf, weil sie eine einigungsbedingte Besonderheit zum Gegenstand hat 49. Für diesen konkreten Einzelfall kann daher von spezifischem Verfassungsrecht bzw. von Sonderverfassungsrecht gesprochen werden.

II. Die Relativierung verfassungsrechtlicher Anforderungen Von einer Relativierung ist auszugehen, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Maßnahme des Überleitungsgesetzgebers, die nach den üblicherweise geltenden Maßstäben nicht mehr von der Verfassung gedeckt wäre, unter Hinweis auf die Sondersituation und einen erweiterten Gestaltungsspielraum als verfassungsgemäß rechtfertigt. Kann gezeigt werden, daß in den untersuchten Rechtsprechungsbeispielen herabgesetzte Anforderungen galten, wäre ein Äquivalent zu der von Art. 143 I, II GG geregelten Konstellation eines geschriebenen Sonderverfassungsrechts geschaffen. Hierbei sind zwei Konstellationen zu unterscheiden, in denen die Argumentationsfigur der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit eine Relativierung grundrechtlicher Standards bewirkt: zum einen die Fälle einer explizit erweiterten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (1) und zum anderen die Fälle, in denen der Umfang des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums nicht ausdrücklich modifiziert wird (2). 1. Erweiterte Gestaltungsspielräume Die Wendung vom weiten oder besonders weiten Gestaltungsspielraum erweist sich in den einschlägigen Rechtsprechungsbeispielen als Chiffre für relativierte grundrechtliche Anforderungen. Das belegt zum einen ihre spezifische Funktion als Argumentationsfigur, die sich als Mittel zur Bewältigung der Transformationssituation grundsätzlich anbot, weil sie per se ermöglicht, verfassungsrechtliche Vorgaben durch Verweis auf den Gestaltungsspielraum zu flexibilisieren oder gar herabzusetzen. Dem Gesetzgeber verbleibt ein freier Bereich der Entscheidung, der keiner gerichtlichen Nachprüfung unterliegt. Damit wird zugleich die Begründung für die Verfassungsmäßigkeit der gesetzgeberischen Regelung entbehrlich.

J. J. Hesse / G. F. Schuppert / K. Harms (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen, 1999, S. 117 ff. (S. 131); ebenso, allerdings schon im Vorfeld des Altschulden-Urteils und im Rahmen der Prüfung am Maßstab der Berufsfreiheit, A. v. Brünneck, NJ 1996, 181 (185). 49 So BVerfGE 87, 68 (81), betreffend die Richterwahlausschüsse, die über den Fortbestand der Richterverhältnisse von DDR-Richtern entschieden; Hinweise auf diesen Gegensatz auch bei Klein, Bewältigung (Fn. 1), S. 426; H. Bauer, HStR 3 I, § 14 Rn. 27.

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Mit einer erweiterten Gestaltungsfreiheit wurde im Altschulden-Urteil und in der Entscheidung zur Schuldrechtsanpassung argumentiert 50, um die Anforderungen der grundgesetzlichen Vertragsfreiheit nach Art. 2 I GG bzw. der Eigentumsgarantie zurückzunehmen. Im Falle der Entscheidung zur Schuldrechtsanpassung beruht die Schlußfolgerung, daß hier grundrechtliche Standards abgesenkt wurden, darauf, daß eine erhebliche Einschränkung der Eigentümerbefugnisse zwar im Normalfall durchaus zulässig sein kann (etwa im Wohnungsmietrecht), einfache Freizeitnutzungen jedoch dies außerhalb einvernehmlicher Regelung durch Vertrag regelmäßig nicht bewirken können. Schwieriger zu belegen ist dies für die Altschuldenregelung, da hier ein gleichgelagerter Vergleichsfall aus der Verfassungsrechtsprechung völlig fehlt. Anknüpfungspunkt kann aber sein, daß die Altschuldenregelung eine dem Gesetzgeber zurechenbare Belastung aufrechterhält, deren Entstehung nicht im Einflußbereich der Schuldner lag. Das kann nicht mit dem Fortbestand einer Belastung gleichgesetzt werden, die auf einer freien privatautonomen Entscheidung beruht (z. B. bewußte „Verschuldung“ durch Abschluß eines Kreditvertrags nach BGB). Die Altschuldenregelung mußte demnach im Ergebnis nur die äußersten Grenzen der Verhältnismäßigkeit einhalten – und an diese ist sie auch gelangt, berücksichtigt man die einzelnen Korrekturen durch das Bundesverfassungsgericht. Die erweiterte Gestaltungsfreiheit ist in den untersuchten Beispielen somit Ausdruck für eine Relativierung grundgesetzlicher Anforderungen. Von einer Suspendierung von Maßgaben des Grundgesetzes wie in dem unter I. behandelten Fall (Beachtung des Gesetzesvorbehalts nach Art. 20 III GG 51) ist dies jedoch abzugrenzen. 2. Modifizierte Ausgestaltungsbefugnis bei Art. 14 I 2 GG In anderen Konstellationen, hier durch das Urteil zur rentenüberleitungsrechtlichen Systementscheidung repräsentiert, operierte das Bundesverfassungsgericht nicht mit erweiterten Gestaltungsspielräumen, sondern beließ es vordergründig bei den sonst üblichen Maßstäben. Im Beispiel des Rentenurteils findet die ohnehin weite Gestaltungsfreiheit im Rentenversicherungsrecht Anwendung, scheinbar ohne die Sondersituation zu berücksichtigen. Relativierungstendenzen sind hier also nicht am konkreten Umfang der Gestaltungsfreiheit ablesbar; sie können aber aus einer wesentlich großzügigeren Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes resultieren. Diesen muß der Gesetzgeber beachten, wenn er in einmal

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BVerfGE 95, 267 (309) bzw. E 101, 54 (76). Ob der Gesetzesvorbehalt in Art. 20 III GG stillschweigend vorausgesetzt oder ob er dort verortet ist, kann hier dahinstehen; vgl. dazu nur H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 105 m. w. N. 51

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geschaffene Eigentumspositionen eingreifen will. Mit der Anerkennung im Einigungsvertrag und der Einbeziehung in den Schutzbereich des Art. 14 GG sind die Zusatzversorgungsanwartschaften Eigentumspositionen im Sinne von Art. 14 GG geworden. Eingriffe in sie müssen ebenso am Maßstab der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes gemessen werden wie Eingriffe in Eigentumspositionen, die unter der Geltung des Grundgesetzes entstanden sind. Die Rentenversicherung der Bundesrepublik gewährt für den westdeutschen Standardrentner eine Lebensstandardsicherung, für den vormals höherverdienenden Rentner (wegen der Beitragsbemessungsgrenze) eine Mindestsicherung, die er durch eigene Leistungen im Rahmen privater Vorsorge aufstocken kann. Tut er dies nicht, beruht es auf seiner freien Entscheidung 52. Die Behandlung der Zusatzversorgungssysteme folgt nur scheinbar den gleichen Prämissen. Zwar erweist sich die Alterssicherung des durchschnittlich verdienenden Zusatzversorgungsberechtigten nach der Überleitung (mindestens) ebenso als Lebensstandardsicherung, die Altersversorgung des vormals höherverdienenden Rentners ebenso als eine Art Mindestsicherung. Jedoch hatte letzterer nicht die Möglichkeit, durch Konsumverzicht während des Erwerbslebens eine angemessene Zusatzleistung aufzubauen 53. Mit der Überführung in die gesetzliche Rentenversicherung (Systementscheidung), die diese Personen den Durchschnittsrentnern gleichstellt, gelten für sie andere Maßstäbe. Der Sinn und Zweck der Beitragsbemessungsgrenze, nämlich Höherverdienenden die Wahlfreiheit dafür einzuräumen, wie sie mit einem Teil ihres Einkommens verfahren, wird dadurch negiert. Für die ostdeutschen Zusatzversorgungsberechtigten fungiert sie als Rentenbegrenzungsinstrument. Die Funktion des aus Art. 14 I GG fließenden Abwehrrechts, den Bestand einmal erworbener Eigentumspositionen zu gewährleisten 54, kommt hier für die genannte Personengruppe nicht zum Tragen 55. Gleichwohl erachten die Verfassungsrichter dies für verfassungsmäßig, weil damit die Finanzierbarkeit der Rentenversicherung als wichtiger Gemeinwohlbelang erhalten bleibt. Darüber hinaus ist ein weiterer Kritikpunkt zu nennen. Selbst wenn den Verfassungsrichtern darin zu folgen wäre, daß die Systementscheidung ohne eine

52 Merten, Verfassungsprobleme der Versorgungsüberleitung, 1993, S. 105 f.; ders., Rentenversicherung und deutsche Wiedervereinigung, in: S. Fisch / U. Haerendel (Hrsg.), Geschichte und Gegenwart der Rentenversicherung in Deutschland, 2000, S. 317 (327 f.). 53 Vgl. Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 52), S. 106. 54 Etwas anderes folgt auch nicht aus der aktuellen – und somit 1999, dem Jahr, in dem das Rentenurteil erging, noch nicht absehbaren – Entwicklung, in deren Zuge es aller Voraussicht nach zu Absenkungen der Beamtenbesoldung kommen wird, denn auch hier stehen keine Minderungen von bis zu einem Fünftel des ursprünglichen Besoldungsanspruchs zur Rede, vgl. dazu jüngst BVerfG, Urteil vom 27. 9. 2005, 2 BvR 1387/02. 55 So sinngemäß Merten, Versorgungsüberleitung (Fn. 52), S. 108 f., der Überführung im Sinne von „Entsprechung“ auslegt, also daß der Ausgangszustand der Rechtsposition dem Zustand nach der Überführung entspricht.

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Flexibilisierung der Beitragsbemessungsgrenze verfassungsgemäß sei, so stößt die Begründung auf Bedenken. Sie vermittelt den Eindruck, dieses Ergebnis ergäbe sich aus einer Anwendung der verfassungsrechtlichen Anforderungen der Eigentumsgarantie in der Normalsituation. Das Bundesverfassungsgericht selbst formuliert den Maßstab: Art. 14 I 2 GG läßt nicht zu, daß die Überführung der Zusatzversorgungsanwartschaften mit Einbußen einhergeht, die dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widersprechen und Eigentumspositionen in unzumutbarer Weise schmälern 56. Eine Minderung des Rentenanspruchs im zweistelligen Bereich läßt sich folglich am Maßstab der Eigentumsgarantie eigentlich nicht rechtfertigen; hierfür müßte man ihre Anforderungen unter Hinweis auf die Sondersituation deutlich absenken. Gleichwohl wird die Systementscheidung vom Senat für verfassungsgemäß erachtet.

III. Fazit: die Argumentationsfigur der Gestaltungsfreiheit als Prolongation des Art. 143 I, II GG Der Terminus der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers steht in den untersuchten Fallgruppen für eine Relativierung verfassungsrechtlicher Anforderungen. Über den Rahmen dieser Arbeit hinaus kann aber auch allgemein angenommen werden, daß die im Zuge der Rechtsanpassung aufgeworfenen Grundrechtsprobleme bei der Beurteilung von DDR-Rechtsverhältnissen und -positionen nicht ohne sonderverfassungsrechtliche Maßstäbe zu bewältigen waren. Diese Rechtsverhältnisse entziehen sich aufgrund ihrer eigengearteten Ausgestaltung regelmäßig einer spannungsfreien Neubewertung am Maßstab des geltenden Rechts. Gemessen am gewählten Vergleichsmaßstab des Art. 143 I, II GG erweist sich die Argumentationsfigur der Gestaltungsfreiheit daher als Fortführung der von Art. 143 I, II GG explizit vorgesehenen Möglichkeit, von Bestimmungen des Grundgesetzes aus vereinigungsspezifischen Gründen abzuweichen. Die notwendige Flexibilität, die Art. 143 I, II GG ermöglichte, von der aber kaum Gebrauch gemacht wurde, wird im Falle der Gestaltungsfreiheit durch deren besondere Eigenarten erreicht. Was jener ausdrücklich ermöglichte, kann mit der Gestaltungsfreiheit auf argumentativem Wege erreicht werden.

IV. Alternativlosigkeit der gewählten Überleitungskonzeption Die argumentative Absenkung verfassungsrechtlicher Anforderungen durch die Verwendung der Argumentationsfigur der Gestaltungsfreiheit erweist sich trotz mancher Kritikpunkte im Detail als hinnehmbare Lösung. Das Gesamturteil basiert darauf, daß die Anbindung an „normale“ verfassungsrechtliche Kautelen eine auf die Sondersituation zugeschnittene Dogmatik entbehrlich macht (1); zu56

BVerfGE 100, 1 (40).

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dem wird mit der Verwendung der Argumentationsfigur des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums die zentrale Rolle des Gesetzgebers als unmittelbar demokratisch legitimiertem Verfassungsorgan bestätigt (2). In tatsächlicher Hinsicht stand schließlich der Vorbehalt des Möglichen und das Gebot sozialverträglicher Rechtsanpassung einem Ausgleich von Einbußen entgegen (3). 1. Entbehrlichkeit einer Sonderdogmatik Die Rechtfertigung der Überleitungsrechtsprechung an den Vorgaben des Grundgesetzes ist wegen der in Art. 20 III GG niedergelegten Bindung aller staatlichen Gewalt an die Verfassung der einzig gangbare Weg. Dafür streitet außerdem die Überlegung, daß eine Lösung, die auf dem rechtlichen Boden des Grundgesetzes verbleibt 57, sich der hergebrachten verfassungsrechtlichen Dogmatik bedienen kann. Andere, etwa auf eine spezifische „Ausnahmelage“ gestützte, Entwürfe 58 sehen sich dem Problem gegenüber, verfassungsrechtliche Maßstäbe für diese spezielle Situation erst herausarbeiten zu müssen, will man der Ausnahmesituation nicht rein machtstaatlich begegnen. Auch wenn das Grundgesetz keine Bestimmungen für eine Sondersituation wie die der Wiedervereinigung enthält, verliert es doch für eine entsprechende Situation seine Geltung nicht. Zudem ist vorzugswürdig, sich der bekannten Maßstäbe des Grundgesetzes zu bedienen, sich also von sicherem Terrain auf weniger sicheres voranzutasten. Eine Lösung, bei der die überkommene Verfassungsrechtsdogmatik lediglich einiger Korrekturen oder Erweiterungen bedarf, um die Sondersituation hinreichend wirklichkeitsnah zu erfassen, ist einer Radikallösung vorzuziehen. Dies ist sachgerecht, da auch in einer Sondersituation das Besondere nicht jedem einzelnen Sachverhalt oder Geschehensverlauf anhaftet, sondern sich dies letztlich erst aus der Gesamtschau aller dieser Einzelheiten ergibt. Selbst die gesellschaftliche, wirtschaftliche und rechtliche Ausnahmesituation kennt rechtliche und soziolo-

57 Vgl. Klein, Bewältigung (Fn. 1), S. 423: die Aufgabe der Reorganisation einer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung sei mit den „normalen“ Instrumentarium der deutschen Rechtsordnung, das den „normalen“ grundgesetzlichen Maßstäben zu entsprechen habe, zu bewältigen. – Nur im Ansatz ebenso Will, Wiedervereinigung (Fn. 48), S. 132: Sie will die Überleitungsproblematik ebenso auf dem Boden des Grundgesetzes lösen, bezweifelt aber mit guten Gründen, daß die Instrumente der Normallage tauglich sind und verlangt die Erarbeitung konkreter verfassungsrechtlicher Maßstäbe, da anderenfalls der Gesetzgeber „faktisch unüberprüfbar“ werde. Ihr Ansatz ist folglich von den Ansätzen zu trennen, die mit Hinweis auf eine Ausnahmesituation mit außerverfassungsrechtlichen Maßstäben arbeiten. 58 Vgl. C. Schmitt, Politische Theologie, 7. Aufl. 1996, S. 19; ders., Legalität und Legitimität, 6. Aufl. 1998, S. 66; dazu H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität, Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, 2. Aufl. 1992, S. 63 ff.; Harms, Verfassungsrecht (Fn. 6), S. 126 ff., 133 ff.

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gische Kontinuitäten: es werden Gesetze und Verwaltungsanordnungen erlassen, Gerichtsurteile gefällt oder Verträge geschlossen bzw. befolgt und eingehalten, Ehen geschieden, Kinder geboren. Jede Sondersituation weist daher Normales und Bekanntes und somit an den bisherigen Maßstäben Meßbares auf 59. Das gilt schließlich umso mehr, wenn das Ziel des Anpassungsprozesses so klar vor Augen liegt wie im Falle der deutschen Einheit, der Anpassungsprozeß sich also im wesentlichen auf die Angleichung der Lebensverhältnisse konzentrierte. 2. Wahrung der Prärogative des Gesetzgebers Die vom Bundesverfassungsgericht gewählte Lösung hat einen weiteren Vorteil. Sie fügt sich in die gewaltenteilige und demokratische Struktur des Grundgesetzes. Danach obliegt es dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen, insbesondere solche mit Grundrechtsrelevanz, zu treffen 60. Der Rechtsprechung und damit auch dem Bundesverfassungsgericht kommt demgegenüber in erster Linie eine Kontrollfunktion zu 61. Die Verwendung der Argumentationsfigur des weiten Gestaltungsspielraums zur Lösung vereinigungsbedingter Rechtsüberleitungsprobleme weist die Zuständigkeit hierfür also der richtigen Gewalt zu: dem Gesetzgeber 62. Gleichwohl erweist sich die Kompetenzabgrenzung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsrechtsprechung – wie auch sonst – als Problem. So ist zu bezweifeln, daß die Unterscheidung zwischen Umlaufmittelkrediten und Investitionskrediten für betriebsfremde Zwecke (Altschuldenurteil) aus der Verfassung ableitbar ist. Gleiches gilt für die Unterscheidung von normalen und großen Grundstücken (Schuldrechtsanpassung). Hier hat das Bundesverfassungsgericht in beiden Fällen auf pragmatische Weise der Einzelfallgerechtigkeit Tribut gezollt, dürfte aber den Bereich seiner Kontrollzuständigkeit verlassen haben 63.

59 Insofern ähnlich Harms, Verfassungsrecht (Fn. 6), S. 154 f., wenn sie meint, die hier in Rede stehende Umbruchsituation sei nicht mit der „Ausnahmelage“ Schmitts vergleichbar. 60 Siehe Kapitel 3. B. II. 2. 61 Siehe Kapitel 2. A. II. 3. 62 Ebenso K. Meßerschmidt, Gesetzgebungsermessen, 2000, S. 772 f. 63 Ungleich problematischer ist insoweit die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit der DDR-Spione: BVerfGE 92, 277 (316 ff.). Hier haben die Richter aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein verfassungsunmittelbares Strafverfolgungshindernis abgeleitet. Zwar ist dies kein Novum der vereinigungsspezifischen Verfassungsrechtsprechung, da entsprechende Rechtsinstitute auf verfassungsrechtlicher Basis im Rahmen des Strafprozeßrechts schon früher konstruiert wurden, jedoch obliegt auch die Regelung dieser Materie zunächst dem parlamentarischen Gesetzgeber.

D. Gefährdungslagen?

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3. Sozialverträglichkeit und Vorbehalt des Möglichen Schließlich ist auch das Gebot der Sozialverträglichkeit des Rechtsanpassungsprozesses selbst ein Hinderungsgrund. So war die rechtspolitisch durchaus gelungene Schuldrechtanpassung dadurch gekennzeichnet, daß die Eigentümerrechte zugunsten der Berückschtigung von sozial gewachsenen Strukturen über längere Zeit erheblich beschränkt wurden. Fiskalische Zwänge verhinderten zudem einen vollständigen finanziellen Ausgleich von grundrechtsbeeinträchtigenden Einbußen.

D. Gefährdungslagen? Die bisherige Betrachtung richtete den Blick in erster Linie auf die konkrete, durch die Transformationssituation betroffene Rechtsposition des einzelnen. Die Relativierung verfassungsrechtlicher Anforderungen traf also vorwiegend den Grundrechtsbereich. Die genannten Beispiele zeigen, daß die Wiedervereinigung das Grundgesetz, insbesondere einzelne Grundrechte, erheblich unter Spannung gesetzt hat 64, was allerdings nicht überraschen konnte. Die strenge Orientierung am Ziel der Rechtseinheit allein konnte dies nicht verhindern, sie hat es vielleicht sogar erst hervorgerufen. Die Zwangsläufigkeit dieser Probleme und ihre dargestellten verfassungsrechtlichen Folgen verlieren bei genereller Betrachtung an Gewicht, wenn sich feststellen läßt, daß sie auf die Transformationssituation bzw. den Ausnahmesachverhalt beschränkt waren. Ernsthafte Bedenken ergeben sich aber, wenn die Relativierung einzelner grundrechtlicher Anforderungen auch allgemein zu einer Relativierung des Verfassungsrechts oder zumindest zu einer „Veränderung der Verfassungwirklichkeit“ 65 geführt hat. Die besprochenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erweisen sich insgesamt nicht als rechtliches Einfallstor für die Relativierung grundgesetzlicher Standards. Allenfalls geringe Gefährdungen dürften von den Fällen ausgehen, in denen die Unterschreitung grundgesetzlicher Vorgaben ausdrücklich als transformationsbedingte Ausnahme gekennzeichnet wurde, wie etwa bei der Herabsetzung der Anforderungen an den Gesetzesvorbehalt im Rahmen der Altschuldenentscheidung. Nachahmungseffekte sind hier kaum zu erwarten, da die Ausnahmesituation der deutschen Einheit einen derart singulären Charakter aufweist, daß begründbare Analogieschlüsse für andere Sondersituationen kaum gezogen werden können.

64 Vgl. O. Depenheuer, HStR IX, § 204 Rn. 42: die Wiedervereinigung sprengt das Normprogramm des sozial- und bundesstaatlichen Staatsziels; im Anschluß daran, aber ohne Beschränkung auf Sozial- und Bundesstaatlichkeit L. Michael, AöR 124 (1999), 583 (626). 65 Vgl. L. Michael, AöR 124 (1999), 583 (584).

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Für die europäische Integration, die man auch als eine Transformation bezeichnen kann, sind inzwischen dogmatische Erklärungsmuster für die anzutreffende europarechtliche Überlagerung bzw. Modifikation des deutschen Verfassungsrechts vorhanden 66, so daß es eines Rückgriffs auf das Ausnahmeargument nicht bedarf. Und auch die Übertragung des Ausnahmearguments auf umfassende, möglicherweise in Spannung mit grundrechtlichen Vorgaben tretende Reformprojekte, etwa den tiefgreifenden Umbau der Sozialversicherungssysteme – eine solche Reform hier als „Minus“ zu einer Transformation gedacht – steht nicht zu befürchten. Die notwendige Vergleichbarkeit beider Problemlagen scheitert daran, daß ein wesentlicher Grund für die Herabsetzung verfassungsrechtlicher Standards aus Anlaß der Wiedervereinigung, der erhebliche Zeitmangel und die unsichere Tatsachengrundlage, bei solchen Reformprojekten nicht vorliegt. Im Hinblick auf den Umbau von Sozialversicherungssystemen hat das Bundesverfassungsgericht allerdings einem künftigen Reformgesetzgeber insoweit das Feld bereitet, als es angemerkt hat, daß das westdeutsche (nunmehr gesamtdeutsche) gesetzliche Rentenversicherungssystem von der Möglichkeit einer Umgestaltung nicht ausgenommen ist 67. Diese Tatsache ist nicht neu; die bisher vorhandene Finanzkraft der Sozialversicherung hat die Frage nur nicht aktuell werden lassen. Selbst wenn also ein tiefgreifender Umbau verbunden mit Einbußen in der Rechtssubstanz von Ansprüchen stattfinden würde, könnte man sich nur schwer auf eine Präzedenzwirkung des Urteils zur rentenrechtlichen Systementscheidung berufen 68; die Akzeptanz einer entsprechenden Reform mag dadurch vielleicht steigen, da die politischen Akteure argumentieren können, so etwas ähnliches habe es schon einmal gegeben. Gefährdungen können eher von dem Umstand ausgehen, daß Relativierungen über die Argumentationsfigur des (besonders weiten) gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums stattgefunden haben, die sich nur schwer offenlegen lassen. Sie basieren in der letzten Konsequenz auf den faktischen Gegebenheiten in den neuen Ländern, die das Verfassungsrecht beachten mußte, wenn es seine Befriedungsfunktion erfüllen wollte, die sich aber der widerspruchsfreien Einordnung in die bestehende Verfassungsdogmatik entzogen. Ähnliche Problemlagen zeigen sich auch in anderen Bereichen. Angesichts mehrerer momentan zu bewältigender Transformations- und Umbruchprozesse (ausklingender Transformationsprozeß seit 1989/90, europäische Integration, Internationalisierung bzw. Globalisierung, demographischer Wandel) besteht die Tendenz, faktische Erfordernisse (etwa

66 Vgl. etwa H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rn. 55; K.-E. Hain, DVBl. 2002, 148 (150 ff.); I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 16 f., 87. 67 BVerfGE 100, 1 (40). 68 Anders aber M. Mutz, DAngVers 1999, 509 (515), der prophezeit, das Urteil könne später einmal als „Beginn einer sozialrechtlichen Zeitenwende“ angesehen werden.

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wirtschaftlicher Natur) stärker zu gewichten, wodurch nicht selten rechtliche Anforderungen als die Rechtswirklichkeit nicht hinreichend erfassend oder als hinderlich empfunden werden. Jedoch können auch diese Entwicklungen nicht kausal auf die besondere Situation des deutschen Transformationsprozesses zurückgeführt werden. Insgesamt ist daher keine Gefährdung verfassungsrechtlicher Standards in der Normalsituation zu erwarten, die man als Fortführung der aufgrund der Sondersituation vorgenommenen Relativierung grundgesetzlicher Vorgaben bezeichnen könnte. Im Unterschied dazu zeigen einzelne Entwicklungen auf einfachgesetzlicher Ebene, in erster Linie die Beschleunigungsgesetzgebung im Fachplanungsrecht, daß ursprünglich nur als vereinigungsbedingte Sonderregelungen gedachte Bestimmungen in fortentwickelter Gestalt nunmehr gesamtdeutsches geltendes Recht sind. Vergleichbare Impulse sind von der Wiedervereinigung für das Verfassungsrecht demgegenüber nicht ausgegangen. Rückblickende Beiträge auf die verfassungsrechtliche Entwicklung seit der deutschen Einheit beschreiben die Wiedervereinigung folglich nur als zeitliche, nicht als inhaltliche Zäsur 69.

69 Vgl. etwa M. Brenner, Das Grundgesetz im Jahre 10 nach der Wiedervereinigung, in: E. Koch (Hrsg.), 10 Jahre Deutsche Rechtseinheit, 2001, S. 209 ff. (224 ff.).

Schluß: Zusammenfassung in Thesen Kapitel 1 1. Die im Jahre 1989/90 begonnenen (und noch nicht abgeschlossenen) Transformationsprozesse in den Staaten des ehemaligen Ostblocks zeichnen sich durch einen die gesamte Gesellschafts-, Wirtschafts- und Rechtsordnung erfassenden Systemwechsel aus. Dieser Systemwechsel nahm in Ostdeutschland durch den Einigungsprozeß eine besondere Gestalt an. Er unterscheidet sich von den anderen osteuropäischen Transformationsprozessen, die wesentlich entwicklungsoffener verliefen, dadurch, daß das Ziel der gesellschaftlichen Umbildung in Gestalt der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Rechtsordnung der Bundesrepublik vorgegeben war. 2. Die mit dem Einigungsvertrag vollzogene Übernahme der bestehenden bundesdeutschen Rechtsordnung „qua staatlicher Vereinigung“ bestimmte zugleich die Maximen für den sich anschließenden Rechtsangleichungsprozeß. Soweit in den einzelnen Rechtsmaterien nicht schon durch den Einigungsvertrag Rechtseinheit geschaffen wurde, waren entsprechende Übergangs- und Sonderregelungen jedenfalls auf das „Fernziel“ der bundesdeutschen Rechtsordnung auszurichten. 3. Die Ausrichtung des Rechtsanpassungsprozesses auf die Verwirklichung der bundesdeutschen Rechtsordnung auch in den neuen Ländern machte es notwendig, die in der DDR begründeten Rechtsverhältnisse, soweit sie fortbestanden, anzupassen. Sie waren daher im Wege der Neubewertung in die bestehende Rechtsordnung einzugliedern und, wenn sie mit deren Wertungen nicht in Einklang standen, gegebenenfalls zu korrigieren. Hierbei war zudem den Prinzipien der Sozialverträglichkeit und der Einzelfallgerechtigkeit Rechnung zu tragen. Kapitel 2 4. Der Begriff der „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“, der im Grundgesetz nicht auftaucht, jedoch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen prominenten Platz einnimmt, ist im Verhältnis zur Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung (Art. 20 III, 1 III GG) zu bestimmen. Die konkrete Reichweite gesetzgeberischer Freiräume bestimmt sich daher unmittelbar aus dem materiellen Verfassungsrecht. Wo dieses keine inhaltlichen Aussagen oder Vorgaben macht, bleiben dem parlamentarischen Gesetzgeber Freiräume zur Ausgestaltung überlassen. Insoweit bezeichnet der Begriff der Gestaltungsfreiheit des

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Gesetzgebers das von der Verfassung nicht Normierte, das Offengelassene. Dieser Bedeutungsgehalt soll hier Ausgestaltungsbefugnis genannt werden. 5. In dieser Funktion erschöpft sich der Bedeutungsgehalt des Begriffs der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit jedoch nicht. Hinzu tritt die Funktion als Argumentationsfigur, um verfassungsrechtliche Anforderungen flexibler handhaben zu können. Diese Bedeutung steht in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eindeutig im Vordergrund. Mit dem Hinweis auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers reduziert das Gericht den Umfang seiner Kontrolle regelmäßig mit der Folge, daß ein Ausspruch der Verfassungswidrigkeit der überprüften Norm unterbleibt. In der Sache werden dadurch inhaltliche Vorgaben des Grundgesetzes modifiziert bzw. zurückgenommen. 6. Dieser zweidimensionale Bedeutungsgehalt des Begriffs ist anhand der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nachweisbar. So taucht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers insbesondere in der Rechtsprechung zur Eigentumsgarantie auf. Da Art. 14 I 2 GG ein ausgestaltungsbedürftiges Grundrecht ist und die konkrete Eigentumsposition erst durch den Gesetzgeber geformt wird, kann der Begriff der Gestaltungsfreiheit auch im Sinne der Ausgestaltungsbefugnis verstanden werden. Daher ist genau darauf zu achten, ob die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit in dieser Bedeutung oder in ihrer Funktion als Argumentationsfigur zur Anwendung kommt. Im letzteren Sinne wird der Begriff der Gestaltungsfreiheit in einer Reihe von Rechtsprechungslinien verwendet. So kann sich der Gesetzgeber im Rahmen der Eigentumsgarantie dann auf eine „weite Gestaltungsfreiheit“ berufen, wenn, wie etwa im Sozialversicherungsrecht, die Eigentumsposition nicht oder in geringem Maße auf eigener Leistung beruht oder wenn Dritte auf die Nutzung des Eigentums angewiesen sind; gleiches gilt bei einem Wandel ökonomischer Verhältnisse oder bei der Neuordnung eines Rechtsgebietes. 7. Im Rahmen des Gleichheitssatzes resultiert ein weiter gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum zum einen aus der speziellen Normstruktur des Gleichheitssatzes, die Typisierungen und Pauschalierungen verlangt. Darüber hinaus wird dem Gesetzgeber durch die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum anderen bei sachverhaltsbezogenen Differenzierungen regelmäßig eine weite Gestaltungsfreiheit zugestanden. 8. Ein Bereich erweiterter Gestaltungsfreiheit steht dem Gesetzgeber, unabhängig von der Anknüpfung an ein bestimmtes Grundrecht, überdies im wirtschaftspolitischen Bereich zu. Dies ist allerdings eine Folge der (zutreffenden) These von der „wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes“. Da das Grundgesetz in wirtschaftspolitischer Hinsicht offen ist, sich also nicht positiv für eine bestimmte Wirtschaftsordnung entschieden hat, kann der Gesetzgeber die vorhandenen Freiräume nach seinen Vorstellungen ausfüllen. Die Funktion der Gestaltungsfreiheit als Argumentationsfigur kommt hier demnach nicht zum Tragen. Anders ist dies wiederum in den Konstellationen experimenteller Gesetzgebung.

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Kapitel 3 9. Die Schlüsselfigur der „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ und insbesondere die referierten Rechtsprechungslinien kamen in der Judikatur des Bundesverfassungsgericht zu Rechtsfragen der deutschen Wiedervereinigung erneut zum Einsatz. Dies zeugt von dem sichtbaren Bestreben des Gerichts, trotz der besonderen Situation ein hohes Maß an Kontinuität der Rechtsprechung zu bewahren, d. h. die bisherigen Rechtsprechungslinien jeweils weitestgehend unverändert fortzuführen. Bei genauer Betrachtung wird jedoch deutlich, daß in allen drei vorgestellten Fallbeispielen erhebliche inhaltliche Modifikationen der verfassungsrechtlichen Maßstäbe erfolgten, zum Teil ohne daß die Entscheidungsgründe dies offenlegen. 10. So knüpfen die Verfassungsrichter im Altschuldenurteil an die Rechtsprechungslinie zur weiten Gestaltungsfreiheit im wirtschaftspolitischen Bereich an, lösen diese Argumentation aber von ihrer eigentlichen Grundlage, der Neutralitätsthese, ab. Im Ergebnis resultiert der im Urteil postulierte „besonders weite Gestaltungsspielraum“ nicht aus dem wirtschaftspolitischen (besser: wirtschaftslenkenden) Charakter der Altschuldenregelung, sondern aus dem Vorliegen der Sondersituation. Nur sie bzw. der in den Transformationsprozeß eingebettete Aufbau einer marktwirtschaftlichen Ordnung rechtfertigt die mit dem Fortbestand der Altschulden verbundenen Belastungen für die LPG, denen diese in keiner Weise vorbeugen oder entgehen konnten. 11. Im Falle der Überleitung der Zusatzversorgungssysteme in die gesetzliche Rentenversicherung der Bundesrepublik steht dem Gesetzgeber – in gleicher Weise wie bei der Beurteilung westdeutscher sozialversicherungsrechtlicher Positionen – eine „weite Gestaltungsfreiheit“ zu; insofern fügt sich die Entscheidung in die bisherige Rechtsprechung. Jedoch kamen in der Sache gleichwohl modifizierte Maßstäbe zur Anwendung. Die deutliche Kappung von Rentenansprüchen bei Personen mit vormals hohen Einkommen ist nur mit einer Absenkung verfassungsrechtlicher Anforderungen aufgrund der besonderen Transformationssituation zu rechtfertigen. Dies macht das Urteil nicht hinreichend deutlich; vielmehr suggeriert es, die Minderung der Ansprüche beruhe zwingend, geradezu schicksalhaft auf der Überführung der Ansprüche in die gesetzliche Rentenversicherung. 12. Schließlich ist das sich über ca. 25 Jahre erstreckende Kündigungsschutzkonzept im Rahmen der Schuldrechtsanpassung ein Phänomen der Sondersituation. Die langfristige Beschränkung der Eigentümerbefugnisse zugunsten der Nutzerinteressen, die nicht der Wohnnutzung, sondern der Freizeitgestaltung diente, wäre mit den normalerweise geltenden Wertungen kaum zu vereinbaren gewesen. Das rechtspolitisch durchaus gelungene Kündigungsschutzkonzept läßt sich somit nur aus der Sondersituation heraus rechtfertigen, in der zu berücksichtigen war, daß die Datschengrundstücke in der ehemaligen DDR von herausgehobener sozialer Bedeutung waren und in den neuen Ländern zum Teil immer noch sind.

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Folgerichtig klingt im einschlägigen Beschluß an, daß dem Gesetzgeber wegen der besonderen Situation ein adäquater Regelungsfreiraum zugestanden werden muß. Kapitel 4 13. Bei der Beurteilung der drei Fallbeispiele, die Rechtsverhältnisse oder Ansprüche betrafen, für die es in der geltenden Rechtsordnung keine Entsprechung gab, bedurfte es modifizierter verfassungsrechtlicher Maßstäbe. Sofern dies ein Indiz für ein „Sonderverfassungsrecht Ost“ ist, hätte man freilich das Ziel, den Rechtsanpassungsprozeß möglichst ohne Deformation oder auch nur Modifikation des Grundgesetzes zu bewältigen, verfehlt. 14. Das Grundgesetz kennt kein Sonderverfassungsrecht und hält daher für eine Sondersituation keine speziell darauf zugeschnittenen verfassungsrechtlichen Maßstäbe bereit. 15. Die vom Bundesverfassungsgericht angewendeten modifizierten verfassungsrechtlichen Maßstäbe können als „Sonderverfassungsrecht Ost“ bezeichnet werden, wenn sie sich als Prolongation des – nur bis um Ende des Jahres 1992 bzw. 1995 befristeten – Art. 143 I, II GG darstellen, welcher aufgrund seiner räumlichen, zeitlichen und sachlichen Anwendbarkeit als geschriebenes Sonderverfassungsrecht gelten kann. 16. Die Funktion des Art. 143 I, II GG, der gedanklich an die „Näher-am Grundgesetz“-These aus der Saarstatut-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anknüpft, bestand darin, Verfassungsverstöße ausnahmsweise zu legitimieren, weil der verfassungsmäßige Zustand wegen der unterschiedlichen tatsächlichen Verhältnisse in den neuen Ländern noch nicht erreichbar war. 17. Als ungeschriebenes Sonderverfassungsrecht bezeichnet werden kann zunächst die Suspendierung der Anforderungen des Gesetzesvorbehalts, wie im Altschuldenurteil geschehen, sowie die ausdrückliche Erweiterung der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit, die in ihrer Funktion als Argumentationsfigur zum Tragen kommt (etwa in der Entscheidung zur Schuldrechtsanpassung). In beiden Fällen bildet die Sondersituation der Wiedervereinigung den maßgebenden Aspekt, der auch Grundrechtseingriffe rechtfertigt, die sich sonst nicht mehr im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen bewegten. 18. Darüber hinaus ist auch dort von einem Sonderverfassungsrecht auszugehen, wo das Bundesverfassungsgericht nicht mit erweiterten Gestaltungsspielräumen operiert, sondern mit den sonst üblichen, etwa im Urteil zur Rentenüberleitung. Die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit entfaltet daher ihre Wirkung als Argumentationsfigur hier nicht. Gleichwohl wird die Sondersituation, wenn nicht durch die Erweiterung gesetzgeberischer Gestaltungsspielräume, so doch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Art. 14 I 2 GG als wichtiger

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Gemeinwohlbelang berücksichtigt, wo sie (bzw. das Gebot der Rechtsanpassung) erhebliche Dominanz entfaltet. 19. Über die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Fälle hinaus kann allgemein angenommen werden, daß die im Zuge der Rechtsanpassung aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Probleme bei der Beurteilung von Rechtsverhältnissen, Rechtspositionen oder Handlungen nicht ohne sonderverfassungsrechtliche Maßstäbe zu bewältigen waren. Daher waren auch nach Obsoletwerden des Art. 143 I, II GG für eine Übergangszeit abgesenkte verfassungsrechtliche Anforderungen notwendig. Jene Ausnahmebestimmung erwies sich somit als weitsichtig und realitätsgerecht. 20. Die Herabsetzung verfassungsrechtlicher Anforderungen (bzw. die Modifikation des Grundgesetzes) war im Ergebnis ohne Alternative. Einer strengen Handhabung der Vorgaben des Grundgesetzes standen unterschiedliche Gründe entgegen. Neben begrenzten finanziellen Mitteln, mit denen die Einbußen aufgrund von Überleitungsregelungen hätten ausgeglichen werden können (LPGAltschulden, Überführung der Zusatzversorgungsrenten), war ein weiterer Grund das Gebot der sozialverträglichen Rechtsanpassung. Die Berücksichtigung gewachsener sozialer Strukturen und Besonderheiten („Datschengrundstücke“) gelang daher nur um den Preis von erheblichen Grundrechtseingriffen. Die Vorteile der gewählten Lösung liegen darin, daß zum einen – trotz der Herabsetzung verfassungsrechtlicher Anforderungen mit Hilfe der Argumentationsfigur der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit – der Vorrang der Verfassung nach Art. 20 III GG gewahrt ist, und zum anderen, daß die Prärogative des Gesetzgebers berücksichtigt wird. 21. Die Herabsetzung der verfassungsrechtlichen Anforderungen mit Hinweis auf die besondere Situation der Wiedervereinigung birgt im Ergebnis keine Gefährdung für die Verfassungsrechtsordnung. Zwar könnten einzelne Passagen der untersuchten Entscheidungen durchaus als Einfallstor für eine Absenkung verfassungsrechtlicher, insbesondere grundrechtlicher Standards dienen. Derartige Entwicklungen dürften ihren Grund dann aber eher in den zahlreichen derzeit parallel stattfindenden Umbruchprozessen (demographischer Wandel, Neudefinition staatlicher Aufgaben, etc.) finden.

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Sachverzeichnis Abweichungsbefugnis Siehe auch Sonderverfassungsrecht – als transformationsbedingter Dispens 165 – Art. 143 I, II GG 156 – Legitimation von Verfassungsverstößen 163 – tatbestandliche Voraussetzungen 157 – Wesensmerkmale 160 Altschulden – Altschuldenregelung 79, 86, 93, 99, 100, 102 – bilanzielle Entlastung 98 – Entschuldungsmöglichkeiten 97 – Grundentscheidung (Fortbestand mit Entschuldungsmöglichkeit) 95 – Kompensationspflicht 97 – Kontroll- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers 98 – Sanierungsfähigkeit der LPG 99 – Teilentschuldung 96 – Treuhandentschuldung 97 – Überleitungskonzept 96 Altschuldenurteil (des Bundesverfassungsgerichts) – Berufsfreiheit 92 – Eigentumsgarantie 92 – Gesetzesvorbehalt 93 – Gleichheitssatz 99 – Grundentscheidung 95 – Kritik 101 – Vertragsfreiheit 93 Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) 114 – Beitragsbemessungsgrenze 114 – Systementscheidung 114 – vorläufige Zahlbetragsbegrenzung 115

Arbeitsanweisungen des Bundesministers der Finanzen 94 Ausgestaltungsbefugnis Siehe Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Ausgleichsansprüche (wegen Enteignung) Siehe Restitution Auslegung Siehe Verfassungsinterpretation Ausnahmelage Siehe Sonderverfassungsrecht Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft (BLN) 86 Beamtenrechtlicher Funktionsvorbehalt 32 Beitragsbemessungsgrenze Siehe Rentenüberleitung Beitrittsbedingte Grundgesetzänderungen 27 Bilanzielle Entlastung – gemäß DMBilG 98 – Kontroll- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers 98 Bindung an die Verfassung Siehe Verfassungsbindung Bodeneigentum Siehe Eigentum, persönliches Bodenreform 82, 137 Datsche 139, 150 Datschen-Beschluß (des Bundesverfassungsgerichts) Siehe Schuldrechtsanpassung DDR-Recht – Fortgeltung von 35 – Rechtsnormqualität 35, 159 DDR-Rechtsanwälte 80 DDR-Spione 78

Sachverzeichnis Demographischer Wandel 174 Demokratie 23 – als Ziel des Transformationsprozesses 24 Deutsche Einheit Siehe auch Einigungsvertrag – als Sonderform einer Transformation 24 – Beitritt der DDR nach Art. 23 a. F. GG 28 – Fusion 29 – Konföderation 29 – Staatenverbund 29 – Systemwechsel und staatsrechtliche Vereinigung 24 – und Rechtseinheit 25 – und Verfassunggebung (Art. 146 a. F. GG) 29 – völkerrechtlicher Vertrag 29 Dynamisierung des Rentenanspruchs Siehe Rentenversicherung Eigentum gesellschaftlicher Organisationen Siehe Eigentum, sozialistisches Eigentum, persönliches 137 – Bodeneigentum 137 – Gebäudeeigentum 137, 138, 145 – Privateigentum 137 Eigentum, sozialistisches 136 – genossenschaftliches Eigentum 137 – Volkseigentum 137 Eigentumsgarantie – bestandsschützende Funktion der ~ 134, 169 – Bestimmung von Inhalt und Schranken durch den Gesetzgeber 55 – Eigenleistung 57 – Eigentumsschutz von öffentlichrechtlich begründeten Positionen 56 – Enteignungen im Zuge der Bodenreform 83 – Institutsgarantie 54 – Kündigungsschutz im Kleingartenwesen 60

203

– Kündigungsschutz zugunsten des Mieters 59 – Neuordnung eines Rechtsgebietes 62 – Schuldrechtsanpassung 144 – und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 55 – Vertrauensschutz 63, 134 – Wandel gesellschaftlicher oder ökonomischer Verhältnisse 60 Einigungsvertrag 27, 138 – als staatsrechtlicher Vertrag 29 – als völkerrechtlicher Vertrag 29 – Ausnahmeregelungen 33 – dauerhafte Grundgesetzänderungen 34 – Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage zwischen 1945 und 1949 34 – Finanzverfassung 33 – Fortgeltung von DDR-Gerichtsentscheidungen 36 – Fortgeltung von DDR-Recht 35 – Fortgeltung von DDR-Verwaltungsentscheidungen 36 – G 131 33 – Geltungserstreckung des einfachen Bundesrechts 34 – gestaltender Charakter des ~ 28 – Modifikation grundgesetzlicher Normen 31 – Übergangsregelungen 32 Enteignungen auf besatzungsrechtlicher und besatzungshoheitlicher Grundlage zwischen 1945 und 1949 34, 151 Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG) Siehe Restitution Entschuldung Siehe Altschulden Erholungsgrundstück Siehe Nutzungsrecht Ermessensspielraum Siehe Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Eröffnungsbilanz 89, 97 Europäische Integration 174 Evolution Siehe Transformation

204

Sachverzeichnis

Experimentelle Gesetzgebung 71 – trial and error 73 – und Prognoseentscheidungen 73 Fortgeltung von DDR-Recht

35

Gebäudeeigentum Siehe Eigentum, persönliches Gemeinsame Erklärung zur Regelung offener Vermögensfragen 34, 83 Gemeinsame Verfassungskommission (GVK) 27 Genossenschaftliches Eigentum Siehe Eigentum, sozialistisches Gesamtdeutsche Wahl – Anwendung der 5%-Sperrklausel 38, 78 Gesetzesvorbehalt 93, 106 – Arbeitsanweisungen durch Bundesminister 94 – Sondersituation 95 Gestaltungsfreiheit Siehe auch Verfassungsbindung Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers 43, 45 – allgemeiner Gleichheitssatz 63 – als Argumentationsfigur 48, 53 – als Schlüsselbegriff der vereinigungsbedingten Verfassungsrechtsprechung 154 – Ausgestaltungsbefugnis 48 – bei Versuchsgesetzen 73 – gerichtliche Kontrollkompetenz 52 – grundrechtliche Schutzpflichten 49 – im Rentenversicherungsrecht 119, 122, 133 – im wirtschaftspolitischen Bereich 104 – Neuordnung eines Rechtsgebietes 62 – Sonderverfassungsrecht 155 – stillschweigende Ausweitung durch Differenzierung von Systementscheidung und Einzelfallanwendung 135 – und materielles Verfassungsrecht 47 – und Schuldrechtsanpassung 144

– und Verfassungsbindung 44 – und Verfassungsinterpretation 50 – Wandel gesellschaftlicher oder ökonomischer Verhältnisse 60 Gestaltungsspielraum Siehe Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Gleichheitssatz 63 – Durchgriffsthese 100 – „neue Formel“ 65, 123 – personenbezogene Ungleichbehandlung 65 – sachverhaltsbezogene Ungleichbehandlung 65 – Typisierung und Pauschalierung 66 – und Schuldrechtsanpassung 149 – Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 64 – weite Gestaltungsfreiheit aufgrund besonderer Normstruktur 68 – Willkürverbot 63 Globalisierung 174 Grundentscheidung Siehe Systementscheidung Grundgesetz Siehe auch Einigungsvertrag – Geltungserstreckung auf die neuen Bundesländer 31 – Transformationsleistung des ~ 106 Grundlagenvertrag 29 Grundrechtsschutz juristischer Personen – Durchgriffsthese 100 – Genossenschaft 100 Haftungskontinuität 91 Höchstzahlbetrag Siehe Rentenüberleitung Intelligenzrenten Siehe Zusatzversorgungsanwartschaften Jahresvolkswirtschaftsplan Konfusion 92 Konsolidation 92

Siehe Plan

Sachverzeichnis Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften – Altschulden 86 – Eröffnungsbilanz 87 Legalplanung Siehe Südumfahrung Stendal Marktwirtschaft – als Ziel des Transformationsprozesses 24 Mauerschützen Siehe Vergangenheitsbewältigung Mietpreisbindung 80, 81 Nachbesserung 148 Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers 98 Näher-am-Grundgesetz-These 160 Nutzungsrecht Siehe auch Schuldrechtsanpassung – als Recht dinglicher Art 138 – als vermögenswertes Recht i. S. d. Art. 14 I GG 152 – an Erholungsgrundstücken 139 – Entwicklung der Nutzungsentgelte 150 – Kündigung 140 – Kündigungsausschluß 145, 147 – Kündigungseinschränkungen 146 – Kündigungsschutzkonzept 142 – Nutzungsentgelt- und Entschädigungsregelung 149 – Nutzungsvertrag 140 – rechtliche Zuordnung zu Miete und Pacht 141 – Rechtsinstitut des verliehenen ~ 138 – staatliche Genehmigung 140 – Teilkündigungsrecht bei großen Grundstücken 148 – Überleitung in die bundesdeutsche Privatrechtsordnung 145 – „Vertragsmoratorium“ 141 – Wirksamkeit 141 – zu Freizeitzwecken 139

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– zu Wohnzwecken 138 Nutzungsvertrag Siehe Nutzungsrecht Osteuropa – Transformationsprozeß in ~

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Plan – als Stimulierungs- und Kontrollinstrument 88 – Einheit von ~ und Kredit 88 – Jahresvolkswirtschaftsplan 87 – Planerfüllung 91 Planwirtschaft 23, 87 – Bedeutung des Kredits in der ~ 86 Politische Gestaltungsfreiheit Siehe Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Privateigentum Siehe Eigentum, persönliches Prognoseentscheidungen – Fehlprognose 74 – gerichtliche Kontrolle von 75 – Prognosespielraum 76 – Tatsachenermittlung 75 – und experimentelle Gesetzgebung 73 Prognosespielraum – Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Siehe auch Prognoseentscheidungen Rechtsangleichung Siehe Rechtsanpassung Rechtsanpassung 27 – Charakteristika 41 – Einzelfallgerechtigkeit 42 – sozialverträgliche Überleitung 41 – Technik der ~ 38 – und Rechtswirklichkeit 37 Rechtsbeugung durch DDR-Richter 78 Rechtseinheit 27, 28, 136, 173, Siehe auch Einigungsvertrag Rechtsinhaberschaft 91 Rechtsvorschrift Siehe DDR-Recht Reform Siehe Transformation Regelungsspielraum Siehe Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers

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Sachverzeichnis

Rehabilitierung – berufliche und verwaltungsrechtliche 37, 80, 82 – strafrechtliche 37, 82 Rentenangleichungsgesetz (RAnglG) Siehe Rentenüberleitung Rentenreform 113 Rentenüberleitung 79, 108, Siehe auch Systementscheidung – Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) 114 – Beitragsbemessungsgrenze 114, 121, 122, 125 – Höchstzahlbetrag 113, 115, 122 – Rentenangleichungsgesetz (RAnglG) 113 – Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) 114 – Rentenversicherungssystem der DDR 109 – Schaffung eines gesamtdeutschen Rentenversicherungssystems 114 – System- und Staatsnähe 125 – und Vergangenheitsbewältigung 85 – Verfassungsmäßigkeit der §§ 6 II, III und 7 AAÜG 126 – vorläufige Zahlbetragsbegrenzung 115 – Zahlbetragsgarantie 115, 122, 123, 125, 131 – Zusatz- und Sonderversorgungssysteme 109 Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) Siehe Rentenüberleitung Rentenversicherung – Dynamisierung des Rentenanspruchs 122 – Finanzierbarkeit der ~ 121 – generationenübergreifender Charakter der ~ 119 – und relative Rentenposition 122 – Wesensmerkmale 122 – Zukunft der ~ 174

Rentenversicherungssystem der DDR – Freiwillige Zusatzrentenversicherung 109 – Sozialpflichtversicherung 109 – Versorgungsordnungen 110 – Zusatzversorgungssysteme 109, 110 Restitution – Ausgleichsansprüche (wegen Enteignung) aufgrund Rechts- und Sozialstaatsprinzip/Gleichheitssatz 84 – Enteignungen im Zuge der Bodenreform 82 – Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG) 84 – nach dem Vermögensgesetz 79 – Restitutionsausschluß Siehe Restitution 80, 83 – „Rückgabe vor Entschädigung“ 80, 83 – und Eigentumsgarantie 84 Revolution Siehe Transformation Rückgabe vor Entschädigung 80, 83 Saarstatut 160 Sachenrechtsbereinigung 79, 136, 138 – Sachenrechtsbereinigungsgesetz 139 – Sachenrechtsmoratorium 139 Schuldrechtsanpassung 79, 136, 138, 141 – Datschen-Beschluß (des Bundesverfassungsgerichts) 143 – Eckwerte der ~ 142 – Eigentumsgarantie 144 – Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers 145, 152 – Gleichheitssatz 149 – Kündigungsschutzkonzept 142, 143, 145, 149 – Nutzungsentgelt- und Entschädigungsregelung 149 – Nutzungsrecht 137 – Schuldrechtsanpassungsgesetz 142 – sozialverträgliche Rechtsanpassung 150 Schwangerschaftsabbruch 78, 158

Sachverzeichnis SED-Parteivermögen 78 SED-Unrecht Siehe Rehabilitierung Sonderkündigung – wegen mangelnder persönlicher Eignung 79 – wegen MfS-Tätigkeit 79, 85 Sondersituation 105, 106, 144 Sonderverfassungsrecht 155 – Ausnahmelage 171 – befristete Abweichungsbefugnis (Art. 143 I, II GG) 156 – Gefährdungslagen 173 – in der grundgesetzlichen Ordnung 155 – „Näher-am-Grundgesetz“-These 160 – Relativierung von Verfassungsrecht 167 – und Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers 170 – unterschiedliche Lebensverhältnisse 162 – vereinigungsbedingte Verfassungsrechtsprechung als ungeschriebenes 166 Sonderversorgungssystem 109, 111 – Beschränkung des Rentenanspruchs 126 – der Feuerwehr 112 – des MfS/AfNS 112, 126 Sperrklausel – Anwendung der 5%-Sperrklausel bei der ersten gesamtdeutschen Wahl Siehe Gesamtdeutsche Wahl Staatskredit – als Stimulierungs- und Kontrollinstrument 88 – Bedeutungswandel durch Systemwechsel 87 – besondere Merkmale 91 – Einheit von Plan und ~ 88 – Fortbestand 89 – Prinzip der knappen Dotierung 88 – Prinzip der Zwangskreditierung 88 – Vergleichbarkeit mit Darlehen nach BGB 89, 90, 93 Staatsvertrag

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– Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 30 Südumfahrung Stendal 79 Systementscheidung 114, 119, Siehe auch Rentenüberleitung – Beibehaltung der Beitragsbemessungsgrenze 122 – Dynamisierung des Rentenanspruchs 122, 125 – Kappungseffekt bei hohen Einkommen 122 – Vergleichbarkeit der Erwerbsbiographien 124 Systemidentität Siehe Systemwechsel Systemwandel – und Evolution 22 – und Transformation 22 – Verhältnis zum Systemwechsel 22 Systemwechsel 21, 24 – Systemidentität 23 – Transformation als Inbegriff des ~ 21 – Verhältnis zu Systemwandel und Systemzusammenbruch 22 Systemzusammenbruch – als revolutionäre Erscheinung 22 Testgesetzgebung Siehe Experimentelle Gesetzgebung Transformation 174 – als Inbegriff für Systemwechsel 21 – Evolution 22 – Fehlentwicklungen 25 – in Osteuropa 25 – Reform 22 – Revolution 22 – Transformationsforschung 22 Transformationsleistung – des Grundgesetzes 106 Treuhandanstalt 89 Treuhandentschuldung Siehe Altschulden

208

Sachverzeichnis

– Kredite zur Verbesserung der Infrastruktur 97 – Umlaufmittelkredite 97 Trial and error Siehe Experimentelle Gesetzgebung Unvereinbarerklärung (durch das Bundesverfassungsgericht) 164 Verbindlichkeiten Siehe Altschulden Verfassung – als Sinnbild für Systemwechsel 26 – Grundgesetz 26 Verfassungsänderung 25 – beitrittsbedingte Grundgesetzänderungen 27 – Gemeinsame Verfassungskommission (GVK) 27 – im Zuge der Transformation in den Staaten Osteuropas 25 Verfassungsbindung 44 – und Vorrang der Verfassung 44 – Verhältnis zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers 45 Verfassungsinterpretation 50 – Auslegung, Aktualisierung, Verwirklichung, Vervollständigung 50 – Grundgesetz als Wertordnung 51 – Methodenpluralität 51 – Verfassungskonkretisierung 50 Verfassungskonforme Auslegung 122 Vergangenheitsbewältigung 82 – Beschränkung von Rentenansprüchen 85 – Mauerschützenprozesse 82 – personale ~ 85 – Rechtsbeugung durch DDR-Richter 78 – strafrechtliche, berufliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitierung 82 Vermögensgesetz Siehe Restitution Versorgungsordnungen – der Zusatzversorgungssysteme 110 – Versorgungszusage 110

Versuchsgesetzgebung Siehe Experimentelle Gesetzgebung Vertrauensschutz 134 Volkseigentum Siehe Eigentum, sozialistisches – Eigentum gesellschaftlicher Organisationen 137 Volkskammerabgeordnete – Entsendung in den Bundestag 33 Vorrang der Verfassung Siehe auch Verfassungsbindung – als Kollisionsregel 44 – Höchstrangigkeit der Verfassung 44 Währungsunion 89 Warteschleifenregelung 79, 85 Wegfall der Geschäftsgrundlage – aufgrund Systemwechsel 90 Wesentlichkeitslehre Siehe Gesetzesvorbehalt Wiedergutmachung Siehe Rehabilitierung Wiedervereinigung Siehe Deutsche Einheit Wirtschaftsverfassung des Grundgesetzes – Grundrechte 70 – Offenheit des Grundgesetzes 70 – Streit um die ~ 69 – wirtschaftslenkende Gesetze 70 – wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes 69, 105 Zahlbetragsbegrenzung, vorläufige Siehe Rentenüberleitung Zahlbetragsgarantie Siehe Rentenüberleitung Zentralverwaltungswirtschaft Siehe Planwirtschaft Zinssätze – Anpassung bei DDR-Kreditverträgen 80 Zivilgesetzbuch (der DDR) 140 Zusatz- und Sonderversorgungssysteme Siehe Rentenüberleitung

Sachverzeichnis Zusatzversorgungsanwartschaften Siehe auch Rentenüberleitung – als Eigentumspositionen 117 – Anerkennung durch Einigungsvertrag 130

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– Erwerb durch nennenswerte Eigenleistung 118 – Minderung durch Rentenüberleitung 135

Lebenslauf Geboren 1977 in Burgstädt/Sachsen. Von 1995 bis 2000 Studium der Rechtswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, anschließend Referendariat im Bezirk des Oberlandesgerichts Naumburg. Von 2002 bis 2006 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Staatsund Verwaltungsrecht der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg (Lehrstuhl Prof. Dr. Horst Dreier). Im Sommersemester 2006 Promotion aufgrund der vorliegenden Arbeit durch die Juristische Fakultät der Universität Würzburg.