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German Pages 418 Year 2010
Die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral ILFS
Institute for Law and Finance Series
Edited by
Theodor Baums Andreas Cahn
De Gruyter
Die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral
Herausgegeben von
Eberhard Kempf Klaus Lüderssen Klaus Volk
De Gruyter
ISBN 978-3-89949-843-1 e-ISBN 978-3-89949-844-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandabbildung: Medioimages/Photodisc Datenkonvertierung/Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Vorwort Vorwort Mit der systematischen und interdisziplinären Behandlung der wirtschaftsstrafrechtlichen Probleme, die durch die Finanzkrise ausgelöst worden sind, ist – im Rahmen des Projekts „Economy, Criminal Law, Ethics“ – in einem ersten Band (Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009) bereits begonnen worden. In dem jetzt vorliegenden zweiten Band wird diese Arbeit fortgesetzt und vertieft. Dabei haben wir zunächst ganz ausdrücklich nach den ökonomischen Grundlagen, vor allem mit Blick auf die neuen Probleme der sozialen Marktwirtschaft, die durch die Finanzmarktkrise aufgeworfen worden sind, gesucht, dann uns auf „Staat und Markt“ konzentriert und das Verhältnis von Unternehmensethik und Gemeinwohlorientierung, auch über das hinaus, was sich im Gesellschaftsrecht insoweit schon mit Stakeholderinteressen verbindet. Den Auftakt für die spezielleren Erörterungen liefert die Frage nach der „Untreue im Finanzmarkt“. Wer liest, mit welchen Argumenten hier gegenwärtig die Strafbarkeit – zum Teil vehement – gefordert wird, muss die mit dem geltenden Recht nicht vereinbare Vorstellung gewinnen, dass auch fahrlässige Untreue und schon der Versuch strafbar sind. Wirtschaftsstrafrecht soll – abweichend von einer bewährten rechtsstaatlichen Tradition – prima ratio sein, und wer verdächtig ist, der mag sich gefälligst entlasten – keine Unschuldsvernutung also. Es sind im Übrigen neue betriebswirtschaftliche Phänomene, die das Wirtschaftsstrafrecht herausfordern. Ihnen ist das Symposion vor allem in Bezug auf Verbriefungen, Leerverkäufe und Insiderwissen im Finanzmarkt nachgegangen. Es ist schwierig, im Namen des Gemeinwohls angedrohte und verhängte Sanktionen zu rechtfertigen, so lange die ökonomischen Zusammenhänge, in denen sich die virtuellen Täter und Taten im Risikomanagement des Wirtschaftslebens bewegen, ignoriert werden, und das Strafrecht deshalb experimentelle Züge annimmt – verfassungsrechtlich äußerst problematisch. Der Band erscheint hoffentlich rechtzeitig für die Teilnehmer am 68. Deutschen Juristentag (21.–24.September 2010 in Berlin), der sich in der Abteilung Wirtschaftsrecht ausführlich mit der Finanzkrise beschäftigen wird. Die bereits vorliegenden Gutachten aus ökonomischer, wirtschaftsrechtlicher und öffentlichrechtlicher Perspektive sind äußerst gründlich, sparen aber die strafrechtliche Seite aus. Insofern bietet der vorliegende Band vielleicht auch eine wichtige zusätzliche Orientierung. Weitere Symposien sind in Vorbereitung.
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Vorwort
Wiederum danken wir dem Institute for Law and Finance der GoetheUniversität Frankfurt am Main und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die tatkräftige Hilfe bei der Durchführung des Symposions, und Theodor Baums und Andreas Cahn dafür, dass sie auch diesen Band in ihre Schriftenreihe aufgenommen haben. Die Herausgeber
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zur Einführung Recht und Krise Manfred Wandt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Europäische Aspekte Nicola Beer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ökonomische Grundlagen des Wirtschaftsstrafrechts im Wandel Komplexität und Ambivalenzen Klaus Lüderssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Finanzkrise und die Soziale Marktwirtschaft Roland Vaubel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Staat und Markt Georg Hermes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Unternehmensethik und Eigeninteresse Andreas Suchanek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Gemeinwohlorientierte Unternehmensinteressen und Kapitalgesellschaften Gerald Spindler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Verallgemeinerbare Modelle für die Gemeinwohlorientierung von Unternehmen Peter Forstmoser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Untreue – Altes und Neues Finanzmarktkrise, Sorglosigkeit von Verwaltungsorganen und Untreuetatbestand Franz Jürgen Säcker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Untreue und Finanzmarktkrise Mark Deiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Untreuestatbestand oder seine Surrogate im ausländischen Strafrecht Luigi Foffani . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Untreue im Rechtsvergleich: Überlegenheit des Missbrauchskonzepts? Ingeborg Zerbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Risikomanagement und objektive Zurechnung Gunther Arzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Risikomanagement und objektive Zurechnung Thomas Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Die Vermögensbetreuungspflicht – ihre Expansion über neue außerstrafrechtliche (auch internationale) Pflichtenkataloge Alfred Dierlamm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Zwischenbilanz Finanzmarktkrise, Risikomanagement und Strafrecht Klaus Lüderssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Neue betriebswirtschaftliche Phänomene und Wirtschaftsstrafrecht Mehrdeutigkeit der Rechnungslegung und Herdenverhalten als Ursachen der Finanzkrise Olaf Clemens und Reinhard H. Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Geschäfte außerhalb der Bilanzen Ulrich Sorgenfrei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Verbriefungen Ferdinand Gillmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Finanzkrise, Wirtschaftsstrafrecht und Moral – am Beispiel der Leerverkäufe Gerson Trüg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Insiderwissen im Finanzmarkt Klaus Leipold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Finanzmarktstabilisierung und Insolvenz Daniel Krause . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Compliance Systeme und Vorfeldermittlungen Ralf Neuhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
Inhaltsverzeichnis
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Ausblick Banker an die Laterne? Die Grenzen von Strafrecht und Moral Rainer Hank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
363
Die Finanzkrise und das Strafrecht – Positionen und Perspektiven Lorenz Schulz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Liste der Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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Die Autoren und Herausgeber
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ECLE Symposion Referenten und Moderatoren 20./21. November 2009, Frankfurt am Main Prof. Dr. Gunther Arzt Heckenweg 7; CH 3066 Stettlen/Schweiz 1955 Abitur nach Schulbesuch erst in Reutlingen, dann in Schopfheim, Baden 1955–1959 Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen 1959 Referendarexamen (4/132), Tübingen 1962 Dr. iur., mit preisgekrönter Arbeit (bei Erich Fechner)„Die Ansicht aller billig und gerecht Denkenden“ 1963 Assessorexamen (4/240), Stuttgart 1965 LL. M., University of California, Berkeley 1966 Heirat, Marian Janet Wright 1969 Habilitation, Tübingen (bei Jürgen Baumann); Habilitationsschrift „Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre“; Habilitationsvortrag „Der befangene Strafrichter“; Antrittsvorlesung „Willensmängel bei der Einwilligung“ 1970 o. Prof., Göttingen (Nachfolge Prof. Schaffstein) 1974/1975 U. of Cal., Berkeley, Visiting Scholar 1975 o. Prof., Erlangen-Nürnberg (Nachfolge Prof. Schwalm) 1978 Visiting Prof., Cornell University, Ithaka. N. Y. 1979 Ruf an die Universität München (Nachfolge Paul Bockelmann) abgelehnt; Ruf an die Universität Freiburg Brsg. und als Direktor des Max Planck Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht (Nachfolge Prof. Jescheck) abgelehnt 1981 o. Prof., Bern (Nachfolge Prof. Hans Schultz) 1986 Vis. Research Scholar, University of Florida Law School, Gainesville,Fl. 1991 Visiting Professor at UNAFEI (United Nations Asia and Far East Institute), Tokyo, 2001 Emeritierung, Bern Publikationen (Auswahl für ECLE): Zur Untreue durch befugtes Handeln, Bruns-FS 1978, 365; Fremdnützige Hehlerei, JA 1979,575; Viktimologie und Strafrecht, MKrim 1984, 104; Das schweizerische Geldwäschereiverbot im Lichte amerikanischer Erfahrungen, ZStrR 1989, 160, Geständnisbereitschaft und Strafrechtssystem, SKG-FS 1992,
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233; Amerikanisierung der Gerechtigkeit, Triffterer-FS 1996, 527; Filz statt Kriminalität, Kaiser-FS 1998, 495; Bemerkungen zum Überzeugungsopfer, insbes. zum Betrug durch Verkauf von Illusionen, Hirsch-FS 1999, 431; Beweisnot als Motor materiellrechtlicher Innovation, BGH-FG Bd. IV 2000, 755; Hans im Glück und Neuer Markt, Lüderssen-FS 2002, 851; Über die subjektive Seite der objektiven Zurechnung, Schlüchter-GS 2002, 163; Strafbarkeit juristischer Personen: Andersen – Vom Märchen zum Alptraum, SZW 2002, 226; Strafverfahren ohne Menschenrechte gegen juristische Personen, Burgstaller-FS 2004, 221; Interessenkonflikte bei der Vertretung eines angeschuldigten Unternehmens, SZW 2004, 357; Neue Wirtschaftsethik, neues Wirtschaftsstrafrecht, neue Korruption, Wiegand-FS 2005,739; Betrug durch massenhafte plumpe Täuschung, Tiedemann-FS 2008, 595; Salomonische Wahrheit – heute, Volk-FS 2009,19
Nicola Beer Die Staatssekretärin für Europaangelegenheiten im Hessischen Ministerium der Justiz, für Integration und Europa wurde am 23. Januar 1970 in Wiesbaden geboren. Mit ihren beiden Söhnen lebt sie in Frankfurt am Main, im Stadtteil Eschersheim. Auf ihr Abitur und ihre Ausbildung zur Bankkauffrau folgten das JuraStudium und 1999 ihre Zulassung als Rechtsanwältin. Bereits seit 1992 ist Nicola Beer Mitglied des Kreisvorstandes der FDP Frankfurt und seit 1995 Mitglied des Landesvorstandes der FDP Hessen, seit 2003 als Mitglied des Präsidiums, sowie des Landesvorstandes der Liberalen Frau Hessen. Seit 2007 ist sie Mitglied im Bundesvorstand der FDP. 1997 bis 1999 war sie Stadtverordnete und 1999 stellv. Stadtverordnetenvorsteherin in Frankfurt am Main. Von 1999 bis 2009 gehörte sie als Abgeordnete dem Hessischen Landtag an. Von 2003 bis 2008 war sie Parlamentarische Geschäftsführerin und im Anschluss stellv. Fraktionsvorsitzende der FDP-Fraktion im Hessischen Landtag. Seit 5. Februar 2009 ist sie Staatssekretärin für Europaangelegenheiten im Hessischen Ministerium der Justiz, für Integration und Europa. Daneben engagiert sie sich für Wissenschaft und Kultur, vor allem im Rhein-MainGebiet. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten mit ihren Söhnen. Die Frankreich-, Theater- und Literaturliebhaberin nutzt das vielfältige kulturelle Angebot Hessens, kocht oft mit Freunden und fährt leidenschaftlich gerne Ski.
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Dr. rer. pol. Olaf Clemens, House of Finance, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Grüneburgplatz 1, 60323 Frankfurt am Main Diplom-Kaufmann, Jahrgang 1976. Olaf Clemens studierte Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Finanzen und Rechnungswesen an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er promovierte am Lehrstuhl für Internationales Bank- und Finanzwesen von Prof. Dr. Dr. h. c. Reinhard H. Schmidt mit der Dissertation „Opaqueness of Accounting Information as Cause of Banking and Financial Crises“. Olaf Clemens konzentriert sich in seiner Forschung auf die Ursachen von Finanz- und Wirtschaftskrisen, die Bedeutung von Rechnungslegungsstandards für die Vermittlung von Informationen in den Kapitalmarkt sowie damit verbundene Fragen der Corporate Governance. Prof. Dr. Mark Deiters geb. 1970 in Kiel, nahm 1990 das Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie und Germanistik in Bonn auf. Nach dem ersten juristischen Staatsexamen im Jahr 1994 war er zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Helmut Frister tätig. 1997 begann er den juristischen Vorbereitungsdienst im Bezirk des Oberlandesgerichts Düsseldorf, den er für die Ableistung des Grundwehrdienstes unterbrach und 1999 nach Abschluss seiner Promotion über die strafrechtliche Konkurrenzlehre (Strafzumessung bei mehrfach begründeter Strafbarkeit) mit einer einjährigen Ausbildung beim Kölner Strafverteidiger Joachim Schmitz-Justen fortsetzte. Im Jahr 2000 legte Deiters das zweite juristische Staatsexamen ab und kehrte anschließend als wissenschaftlicher Assistent an den Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf zurück. Neben Arbeiten zum Allgemeinen und Besonderen Teil des Strafrechts entstanden in dieser Zeit Beiträge zu ausgewählten Problemen des Korruptionsstrafrechts, des europäischen Strafrechts und (gemeinsam mit Helmut Frister) eine umfassende Kommentierung der Vorschriften über die Regeln der Wiederaufnahme im Strafverfahren. Anfang 2006 habilitierte sich Mark Deiters mit einer Arbeit über Grundfragen des Strafprozessrechts (Legalitätsprinzip und Normgeltung). Im selben Jahr wurde er zum Universitätsprofessor für Strafrecht und Strafprozessrecht, insbes. Wirtschaftsstrafrecht, an der Westfälischen Wilhelms-Universität
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Münster ernannt. Seit 2008 ist er Studiendekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Nebenberuflich wirkt Mark Deiters u. a. als Dozent an den Masterstudiengängen Wirtschaftsrecht und Unternehmensstrukturierung sowie Mergers & Acquisitions der Jurgrad gGmbH mit. Dr. Alfred Dierlamm 1986 bis 1991 Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Bonn und Trier; 1991 bis 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Trier, Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht, Prof. Dr. Volker Krey; 1993 Promotion im Bereich des Strafprozessrechts; 1995 bis 1997 Rechtsanwalt in der Sozietät Re-deker Dahs Seilner in Bonn; 1997 bis 1999 Rechtsanwalt in der Sozietät Hoffmann und Knierim in Mainz; ab 1999 Gründung und Aufbau der Anwaltssozietät DIERLAMM Rechtsanwälte in Wiesbaden; 2003 und 2008 Auszeichnung der Sozietät als „Kanzlei des Jahres“ in der Kategorie Wirtschaftsstrafrecht im JUVE-Handbuch, Verlag für juristische Information, Wirtschaftskanzleien und Rechtsanwälte für Unternehmen; 2006 Auszeichnung der Sozietät mit dem Soldan Kanzlei-Gründerpreis; seit 2001 Lehrbeauftragter an der Universität Trier; seit 1994 Mitglied der Redaktion der Neuen Zeitschrift für Strafrecht (NStZ); seit 2007 Mitglied des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer; 2010 Ernennung zum Honorarprofessor für Straf- und Strafprozessrecht, insbesondere Wirtschaftsstrafrecht und Steuerstrafrecht der Universität Trier. Prof. Dr. Thomas Fischer Richter am Bundesgerichtshof Lebenslauf: – Geboren 1953; – Studium Germanistik und Philosophie an der Universität Frankfurt/M. 1976 bis 1978; – Arbeit als Musiker 1971 bis 1973, als Paketzusteller 1977 bis 1980; – Studium Rechtswissenschaft an der Universität Würzburg ab WS 1980/ 1981; Erste Juristische Staatsprüfung 1984; – Promotion zum Dr. iur. utr., Universität Würzburg 1986 (Ulrich Weber; Dissertation: „Öffentlicher Friede und Gedankenäußerung“); – Zweite Juristische Staatsprüfung 1987; – 1988 bis 1990 Strafrichter Amtsgerichte Ansbach und Weißenburg i. B.;
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– Studium Soziologie an der Universität Würzburg 1989 bis 1992; – 1991 bis 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesgerichtshof; – 1993 Richter am Landgericht, 1994 Vorsitzenden Richter am Landgericht Leipzig; – 1996 Ministerialrat im Sächsischen Staatsministerium der Justiz; Referatsleiter „Strafprozessrecht, SED-Unrecht, strafrechtlicher Datenschutz“ – Lehrauftrag Rechtsoziologie, Strafrecht, Strafprozessrecht Universität Würzburg ab 1991; Lehrauftrag Strafrecht, Strafprozessrecht Universität Leipzig 1994 bis 2000; – 1998 Honorarprofessor an der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg (Strafrecht, Strafprozessrecht); – Seit 2000 Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe; Mitglied des 2. Strafsenats; seit 2008 stellvertretender Vorsitzender des 2. Strafsenats; 2003 bis 2005 auch Ermittlungsrichter; seit 2007 auch ständiger Beisitzer im Richterdienstgericht des Bundes; seit Oktober 2009 Mitglied des Großen Senats für Strafsachen. Veröffentlichungen u. a.: – Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 57 Aufl. 2010 (seit 49. Aufl. 1999) – Pfeiffer/Fischer, Strafprozessrecht, Kommentar, 1. Aufl. 1995 – Karlsruher Kommentar zur StPO (Hrsg. Pfeiffer / Hannich), 3. Aufl. 1993 bis 6. Aufl. 2009 – Mitherausgeber „Neue Zeitschrift für Strafrecht“ (NStZ) Peter Forstmoser Schweizer Bürger, Jahrgang 1943. Studium der Rechte in Zürich und in den USA (Dr. iur. Zürich 1970, LL.M. Harvard 1972). Zulassung als Rechtsanwalt 1971. 1971 Privatdozent, 1974 außerordentlicher und 1978–2008 (Emeritierung) ordentlicher Professor für Privat-, Handels- und Kapitalmarktrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Seit 1975 Partner in einer wirtschaftsrechtlich orientierten Anwaltskanzlei in Zürich. Tätigkeit als Berater (vereinzelt forensisch) in wirtschaftsrechtlichen Fragen sowie als Gutachter und Schiedsrichter. Seit den frühen 70er Jahren zahlreiche Verwaltungsratsmandate in privaten und börsenkotierten Aktiengesellschaften. 2000–2009 Präsident des Verwaltungsrates der Schweiz. Rückversicherungs-Gesellschaft, Swiss Re.
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Mitwirkung in verschiedenen Stiftungen, u.a. Vizepräsident der Gebert Ruf Stiftung (seit Gründung 1997) sowie Präsident (seit Gründung 1979) bzw. Mitglied (2000–2007) des Stiftungsrates des Think-Tanks Liberales Institut . Mitglied des Stiftungsrates von Avenir Suisse (2000–2010) und Mitglied des Board of Trustees des International Institute for Strategic Studies (ab 2010). Mitwirkung in zahlreichen Gremien mit kulturellen, philanthropischen oder liberalen politischen Zielen und in Organisationen, die sich mit Themen der Nachhaltigkeit befassen. Experte bei Gesetzgebungsprojekten (Persönlichkeitsschutz, Datenschutz, Börsenrecht, Recht der kollektiven Kapitalanlagen, GmbH-Recht). Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze, vor allem zum Gesellschaftsrecht und insbesondere zum Aktienrecht sowie zu Fragen der Corporate Governance und zum Kapitalmarktrecht, ferner zum Datenschutzrecht und zu rechtlichen Grundsatzfragen. Herausgeber oder Mitherausgeber verschiedener Schriftenreihen. 1973–2000 Redaktor der Schweizerischen Juristen-Zeitung.
Dr. Rainer Hank (geboren 1953 in Stuttgart) leitet seit September 2001 die Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. In Tübingen und Fribourg (Schweiz) hat er Literaturwissenschaft, Philosophie und Katholische Theologie studiert. Promotion 1983 über die Literatur der Wiener Moderne. Es folgen fünf Jahre beim Cusanuswerk in Bonn, einem katholischen Begabtenförderungswerk. Parallel dazu freie Mitarbeit und Hospitanzen in unterschiedlichen Ressorts unter anderem bei der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Im November 1988 Eintritt in die Wirtschaftsredaktion der FAZ. Dort hat er über Gewerkschaften, Verbände und Lohnpolitik berichtet und allgemeine wirtschafts- und ordnungspolitische Themen kommentiert. Außerdem war er für die wöchentlich erscheinende Seite Beruf und Chance zuständig. Von März bis August 1997 Visiting Scholar an der Sloan School, der Business School des MIT, und am Center for European Studies der Harvard University in Cambridge, Mass., im Rahmen eines Sabbbaticals. Während dieser Zeit entstand die Idee zu einem Buch über den globalen Kapitalismus: „Das Ende der Gleichheit“ (Frankfurt, S. Fischer Verlag 2000). Von November 1999 bis August 2001 leitete er die Wirtschaftsredaktion des Tagesspiegel (Berlin). Seither verantwortlich für „Wirtschaft“ und „Geld & Mehr“ bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Zugleich seit 2003 Kolumnist der Monatszeitschrift „Merkur“. 2004 erschien:
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„Bubenstücke. Vom Unsinn in der Wirtschaftspolitik“ (zusammen mit Hans D. Barbier) und 2007 „Der Sonntagsökonom. Geschichten aus dem prallen Leben.“ Im März 2009 erschien: „Der amerikanische Virus. Wie verhindern wir den nächsten Crash?“ (Blessing-Verlag München). Hank wurde 2009 mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. Er ist u. a. Mitglied im Kuratorium des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Prof. Dr. Georg Hermes geb. 1958; Studium der Rechtswissenschaft und der Politikwissenschaft in Bonn, Genf/CH und Freiburg; Promotion 1986 über Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit (bei Prof. K. Hesse); 1988/89 Rechtsanwalt mit Tätigkeitsschwerpunkt im Öffentlichen Recht; 1989–1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht (Vizepräsident Prof. Dr. E. G. Mahrenholz) mit Tätigkeitsschwerpunkt im Parlamentsrecht; anschließend wiss. Assistent an der Universität Freiburg (Prof. R. Wahl); Habilitation 1997 über Staatliche Infrastrukturverantwortung – Rechtliche Grundstrukturen netzgebundener Transport- und Übertragungssysteme zwischen Daseinsvorsorge und Wettbewerbsregulierung am Beispiel der leitungsgebundenen Energieversorgung in Europa ; seit 1998 Professor für Öffentliches Recht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main mit Arbeitsschwerpunkten im Verfasssungsrecht, im deutschen und europäischen öffentlichen Wirtschaftsrecht – insbesondere Energie- und Verkehrsrecht. Rechtsanwalt Eberhard Kempf, Siesmayerstr.58, 60323 Frankfurt am Main Rechtsanwalt, Jahrgang 1943, geb. in Lahr/Schwarzwald, Studium in Heidelberg, Berlin, Freiburg und Paris. Rechtsanwalt seit 1971, seit 1977 in Frankfurt am Main. Eberhard Kempf ist seit 1990 Mitglied und war von 1996 bis 2005 Vorsitzender des Strafrechtsausschusses des Deutschen AnwaltVereins und ständiger Gast des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer. Er hat eine umfangreiche Veröffentlichungs- und Vortragspraxis und ist mehrfach als Sachverständiger durch den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages gehört worden. Eberhard Kempf war aktiv an der Gründung des Barreau Pénal International/International Criminal Bar beteiligt, einer Vereinigung der Rechtsanwälte
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am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Er war von 2003 bis 2005 Vizepräsident und von 2005 bis 2007 Präsident des ICB. Dr. Klaus Leipold Von 1975 bis 1980 studierte Dr. Klaus Leipold Rechtswissenschaften an der Justus Liebig-Universität Gießen. 1980 folgte das Erste und 1983 das Zweite Juristische Staatsexamen. Von 1981 bis 1983 war er wiss. Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozeßrecht und Internationales Strafrecht an der Universität Gießen, 1980 bis 1983 zugleich Doktorand im Rahmen eines Doktorandenstipendiats am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. 1983 bis 1984 war Dr. Klaus Leipold zugleich Mitarbeiter an der Universität Freiburg. 1986 schloss Dr. Leipold seine Promotion über „Verkehrsunfallflucht – Eine rechtsvergleichende Untersuchung der Länder Österreich, Schweiz und Bundesrepublik Deutschland“ ab. Die Zulassung als Rechtsanwalt erfolgte 1985. Dr. Leipold ist seither auf dem Gebiet des Strafrechts tätig. Seit 1987 ist Dr. Leipold Sozius der Kanzlei. 1995 erfolgte die Ernennung zum Fachanwalt für Strafrecht. Dr. Leipold ist tätig in der Rechtsanwaltsausbildung für die Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des Deutschen Anwalt Vereins, die Deutsche Anwaltsakademie, die Münchner Anwaltsseminare, den Münchner Anwaltverein und in der Referendarausbildung am OLG München. Er ist Lehrbeauftragter an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Dr. Leipold ist 1955 in Schlüchtern geboren. Er ist verheiratet und hat 2 Kinder. Prof. Dr. jur. Klaus L üderssen Universität Frankfurt am Main, Ulrichstr.22, 60433 Frankfurt am Main Jg. 1932, ist seit 1971 ordentlicher Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main. Mit dem Wirtschaftsstrafrecht beschäftigt sich schon eine frühere Arbeit über kartellrechtliche Probleme. Später folgten Arbeiten über Irrtumsprobleme im Steuerstrafrecht, ferner über Subventions- und Submissionsbetrug, Konkursprobleme im GmbH-Strafrecht, missbräuchliche aktienrechtliche Anfechtungsklagen und Strafrecht, Anti-Korruptionsgesetze und Drittmittelforschung, ökonomische Analyse des Strafrechts, Korruption und strafrechtliche
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Untreue, gesellschaftsrechtliche Grenzen der strafrechtlichen Haftung des Aufsichtsrats, Aktienrecht und strafrechtliche Untreue und Glücksspielstrafrecht. Einige dieser Abhandlungen sind publiziert in den Bänden „Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts“ I 1998 und II 2007. Die neuesten einschlägigen Veröffentlichungen sind das zusammen mit Eberhard Kempf und Klaus Volk herausgegebene Buch „Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken“ und der im Strafverteidiger 2009, S. 486, veröffentlichte Aufsatz „Finanzmarktkrise, Risikomanagement und Strafrecht“, sowie die Beiträge in den Festschriften für Knut Amelung, „Systemtheorie“ und Wirtschaftsstrafrecht“, 2009, S. 67–80, und für Klaus Volk, „Risikomanagement und „Risikoerhöhungstheorie“ – auf der Suche nach Alternativen zu § 266 StGB, 2009, S. 345– 363. Mit der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Wolf-Dietrich Schiller und Kollegen in Frankfurt am Main gibt es seit 2002 eine ständige Kooperation.
Dr. Andreas Pohlmann Jahrgang 1958, ist seit September 2007 Chief Compliance Officer der Siemens AG. Der Jurist begann seine Karriere 1989 als Syndikusanwalt in der zentralen Rechtsabteilung der Hoechst AG und betreute in den darauffolgenden Jahren verschiedene strategische M&A und Konsolidierungsprojekte. 1994 arbeitete er in der Rechtsabteilung Hoechst Celanese Corporation in New Jersey (USA), bevor er von 1996 bis 1999 als Corporate Secretary der Hoechst AG aktiv war. In diesem Zeitraum war er außerdem Mitglied des Vorstands der Hoechst Foundation, der international tätigen Kulturstiftung der Hoechst AG. 1999 wurde er Vice President Corporate Secretary der Celanese AG und leitete die Corporate Services, zugleich übernahm er ab 2002 die Stelle des Geschäftführers Celanese Ventures. Im Oktober 2002 wurde er Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektor der Celanese AG. Die Position des Executive Vice President und Chief Administrative Officer der Celanese Corporation in Dallas (USA) und des Vorsitzenden des Vorstands der Celanese AG bekleidete er ab 2004.
Prof. Dr. iur. Dr. rer. pol. Dr. h. c. Franz Jürgen Säcker ist Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Regulierungsrecht an der Freien Universität Berlin sowie des Instituts für Regulierungsrecht Berlin e. V. und Mitglied des European Energy Institute in Leuven. Er ist u. a. Autor und Herausgeber des Münchener
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Kommentars zum BGB (derzeit 5. Auflage), der Berliner Kommentare zum Energie- und Telekommunikationsrecht sowie des dreibändigen Kommentars zum europäischen und deutschen Wettbewerbsrecht („European Competition Law - Practice & Procedure“).
Prof. Dr. rer. pol. Reinhard Schmidt Universität Frankfurt am Main Mertonstr.17, 60325 Frankfurt am Main Reinhard H. Schmidt ist seit 1991 Inhaber der Wilhelm Merton-Professur für Internationales Bank- und Finanzwesen an der Johann Wolfgang GoetheUniversität in Frankfurt. Vorher war er Professor in Göttingen, Trier und Washington (DC) sowie Gastprofessor in Stanford, Philadelphia (Wharton), Paris und Mailand (Bocconi). Seit einigen Jahren widmet sich Reinhard H. Schmidt in seinen Forschungsarbeiten vor allem dem Thema der Entwicklung und des Vergleichs von Finanzsystemen in Industrie- und Entwicklungsländern. Publikationen: 20 Bücher als Autor und Herausgeber und über 100 Aufsätze in deutschen und internationalen Fachzeitschriften und Sammelbänden. Reinhard Schmidt ist derzeit Mitglied des Senats der Goethe-Universität und Sprecher des Finanzschwerpunkts. Kürzlich wurde Herrn Schmidt von der Wissenschaftlichen Hochschule für Unternehmensführung (WHU) in Koblenz/Vallendar für seine Arbeiten im Grenzgebiet zwischen Ökonomie und Recht der Grad eines Ehrendoktors verliehen.
Prof. Dr. Lorenz Schulz, M.A. geb. 1956 in München, nahm 1977 das Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie und Amerikanistik in München. Nach dem ersten juristischen Staatsexamen im Jahr 1982 folgte ein akademisches Auslandsjahr an der Harvard Universität, 1984 der Magister Artium in Philosophie und 1988 wiederum in München das zweite juristische Staatsexamen und die juristische Promotion mit einer Arbeit zum Zusammenhang von philosophischen Pragmatismus und dem Recht. Dem folgte bis zur Habilitation 1997 an der Goethe-Universität Frankfurt ein Jahrzehnt als wissenschaftlicher Assistent bei Arthur Kaufmann (München),
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Jürgen Wolter (Regensburg) und seit 1992 bei Klaus Lüderssen (Frankfurt/ Main). Neben Arbeiten zum Allgemeinen und Besonderen Teil des Strafrechts entstanden in dieser Zeit Beiträge im Bereich der juristischen Grundlagen, insbesondere der Rechtsphilosophie. Die venia legendi für die Fächer „Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtsphilosophie“ erlangte Lorenz Schulz mit einer Arbeit zum strafprozessualen Begriff des Verdachts (Normiertes Misstrauen, Frankfurt/Main 2001). Daran schlossen sich zahlreiche Vertretungsprofessuren an den Universitäten Frankfurt/Main, Frankfurt/Oder, München, Gießen und Dresden an. 2002 folgte die Ernennung zum außerplanmäßigen Professor der Goethe Universität Frankfurt/ Main und der Beginn der Tätigkeit als Rechtsanwälte (Kanzlei Roxin Rechtsanwälte, LLP, München). Herr Schulz lehrt an der GoetheUniversität und ist zugleich Lehrbeauftragter an der Bucerius Law School und der Ludwig-Maximilians-Universität München. Prof. Dr. Gerald Spindler Dipl.-Ökonom, geboren 1960, hat Rechtswissenschaften und Wirtschaftswissenschaften in Frankfurt aM, Hagen, Genf und Lausanne studiert und beide Staatsexamina absolviert. Nach einer Assistentenzeit bei Prof. Dr. Mertens, Frankfurt, sowie am Institut für Internationales und Ausländisches Wirtschaftsrecht, Frankfurt, promovierte er 1993 mit einer rechtsvergleichenden Arbeit über das Thema Recht und Konzern. Die Habilitation erfolgte 1996 mit einer Arbeit über. Unternehmensorganisationspflichten, wobei ihm die Lehrbefugnis für Bürgerliches Recht, Handelsund Wirtschaftsrecht, Internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung und Arbeitsrecht verliehen wurde. Herr Spindler ist seit 1997 nach Ablehnung von Rufen an die Universitäten zu Zürich, Frankfurt, Köln und Bielefeld Ordinarius für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Rechtsvergleichung, Multimedia- und Telekommunikationsrecht an der Universität Göttingen und beschäftigt sich schwerpunktmäßig einerseits mit Problemen des Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts, andererseits mit Rechtsfragen des E-Commerce bzw. Internetrechts. Er war stellvertretender Vorstandsvorsitzender, jetzt stellvertretender Vorsitzender des Beirats der Deutschen Gesellschaft für Recht und Informatik, ist Mitglied in zahlreichen Beiräten und hat sowohl den deutschen als auch den
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europäischen Gesetzgeber in verschiedenen Fragen der Informationsgesellschaft und des Aktien- und Kapitalmarktrechts beraten. An der Fakultät war Herr Spindler 2000/2001 Dekan und 2002 bis 2004 Finanzdekan. Herr Spindler ist zudem Mitglied der Akademie der Wissenschaften sowie stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Publikationsfragen der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften. Seit dem 23. Juni 2010 besteht eine Zweitmitglied im GCGH. Ulrich Sorgenfrei Goethestraße 34, 60313 Frankfurt am Main seit 2001
Einzelkanzlei; Tätigkeitsschwerpunkte: nationale und internationale Steuerabwehrberatung inkl. Steuerstrafrecht, Kapitalmarktstrafrecht, Bilanzstrafrecht (Erwähnung im JUVE Handbuch Wirtschaftskanzleien „Steuerabwehr/Steuerstrafrecht“ seit 1999)
1998–2001
Kanzlei Dr. Langkeit & Sorgenfrei (grenzüberschreitende Steuerplanung im Bereich Kapitalmarkt und Investmentfonds, Steuer-strafrecht)
1994–1998
Commerzbank AG, Zentraler Stab Bilanzen und Steuern/ Fachbereich Steuern, Schwerpunkt „Internatiaonales Steuerrecht“
1993–1994
Deutsche Bank AG, Zentrale/Steuerabteilung
1989–1993
Rechtsanwalt bei Pünder Volhard Weber & Axster (heute: Clifford Chance)
Ausbildung: 1993
Steuerberater
1993
Fachanwalt für Steuerrecht
1981–1989
Studium der Rechtswissenschaften an der Ludwig MaimiliansUniversiät München, erstes und zweites Staatsexamen
1978–1981
Ausbildung zum Steuerinspektor einschl. Studium an der Bayerischen Beamtenfachhochschule (Dipl.-Finanzwirt/FH)
aktuelle Veröffentlichungen: 2009/2010
Kommentierung zum Bilanzstrafrecht (§§ 331 ff. HGB) in: Münchener Kommentar Strafgesetzbuch, Band 6/II (erscheint voraussichtlich Ende 2009/Anfang 2010)
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2008
Aufsatz: Zweifelsfragen zum „Bilanzeid“, wistra (Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht) 2008, S. 329 f.
2007
Kommentierung zur Kurs- bzw. Marktmanipulation (§ 20a WpHG) sowie zu bilanzbezogenen Insolvenzdelikten (§§ 283, 283b StGB) in: Park (Hrsg.), Kapitalmarktstrafrecht, 2. Aufl. 2007 (1. Aufl. 2004)
2006
Aufsatz: Bilanz-Strafrecht und IFRS, Praxis internationale Rechnungslegung (PiR), 2006, S. 38 ff.
2006
Aufsatz: Steuerhinterziehung in mittelbarer Täterschaft bei Publikumsgesellschaften, wistra, 2006, S. 370 ff.
Prof. Dr. rer. pol. Andreas Suchanek Jg. 1961 – Studium der Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Kiel und Göttingen – Promotion Dr. rer. pol. 1993 an der Priv. Universität Witten/Herdecke – Habilitation 1999 an der Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt (Normative Umweltökonomik) – 1999–2004 Vertreter des Lehrstuhls für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Kath. Universität Eichstätt-Ingolstadt, – seit 2004 Inhaber der Dow-Forschungsprofessur Sustainability and Global Ethics an der HHL – Leipzig Graduate School of Management; die Professur wurde zum 1. Sept. 2009 überführt in den „Dr. Werner Jackstädt-Lehrstuhl für Wirtschaftsund Unternehmensethik“ – Vorstandsvorsitzender des Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik. Arbeitsschwerpunkte: Wirtschafts- und Unternehmensethik Wichtigste Publikation: Ökonomische Ethik, 2. Aufl., Tübingen 2007 Dr. Gerson Trüg x verheiratet, zwei Kinder x seit 2007 Sozius im Büro Gillmeister Rode Trüg, Freiburg i. Br. x seit 2003 Rechtsanwalt in der strafrechtlichen Sozietät Gillmeister Rode Trüg, Freiburg i. Br. x September 2003: Dozent an der Deutsch-Ukrainischen Schule Europäischen Rechts in Charkov/Ukraine vom 15.–24. 9. 2003 über das Thema: Strafprozeßrecht
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x 23. Juli 2003: Verleihung des Reinhold-und-Maria-Teufel Preises für die Promotion im WS 2001/02 (summa cum laude); Titel der Dissertation: Lösungskonvergenzen trotz Systemdivergenzen im deutschen und US-amerikanischen Strafverfahren. Ein strukturanalytischer Vergleich am Beispiel der Wahrheitserforschung x 2003–2003: Wissenschaftlicher Assistent (C 1) am Lehrstuhl Professor Dr. H.-J. Kerner x 2003: Zweites Juristisches Staatsexamen x 2001–2003: Rechtsreferendar am Landgericht Tübingen x 1999–2003: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Professor Dr. H.-J. Kerner x 1995–1999: Wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Kriminologie der Universität Tübingen x 1994–1999: Studium der Rechtswissenschaften an der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen. Erstes Juristisches Staatsexamen 1999 x 1992–1994: Anglistik und Germanistik Studium an der Universität Mannheim x 1991–1992: Zivildienst an der Schwarzbachschule für geistig behinderte Kinder x 1991: Abitur am Pestalozzi-Gymnasium in Biberach/Riß x 1988–1989: Aufenthalt in Ridgewood, New Jersey, U. S. A. Prof. Dr. Roland V aubel Geboren 1948. Bachelor of Arts in Philosophy, Politics and Economics an der Universität Oxford (1970). Master of Arts in Economics an der Columbia University, New York (1972). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Weltwirtschaft, Kiel (1973–84), zuletzt als Forschungsgruppenleiter. Promotion zum Dr. rer. pol. (1977, Doktorvater: Herbert Giersch) und Habilitation (1980) an der Universität Kiel. Associate Professor (1979) und ord. Professor (1980) für Monetary Economics an der Erasmus Universität Rotterdam. Gastprofessor für International Economics an der Graduate School of Business Administration der University of Chicago (1981). Seit 1984 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. Spezialisierungsgebiete: Währungspolitik, Geldpolitik, Internationale Organisationen, Politische Ökonomie, Sozialpolitik, Wissenschaftstheorie.
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Prof. Dr. jur. Dr. h. c. Klaus Volk,
Universität München Hedwigstr.2, 80636 München
Geboren 1944 in Coburg. Er hat von 1963 bis 1968 in München Rechtswissenschaften studiert. Nach dem Ersten Staatsexamen war er wissenschaftlicher Assistent bei Prof. Dr. Paul Bockelmann an der Juristischen Fakultät der Universität München. Nach der Promotion (1970) und dem Zweiten Juristischen Staatsexamen habilitierte er sich dort (1977) für die Fächer Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtstheorie. Nach einer Professur in Erlangen wurde er im gleichen Jahr (1977) Ordinarius in Konstanz. 1980 nahm er den Ruf an die Ludwig-Maximilian-Universität auf den Lehrstuhl für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht an. Am 29.03.03 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Urbino verliehen. Er ist auch als Strafverteidiger tätig. Prof. Dr. Manfred W andt Goethe-Universität Frankfurt am Main Institut für Versicherungsrecht 1976–1981 1981/1984 1988 1993
1993 seit 1995
seit 2002 seit 2003 2003
Studium der Rechtswissenschaft, Universitäten Mannheim, Paris und Straßburg Erstes und Zweites juristisches Staatsexamen (BadenWürttemberg) Promotion (Die Geschäftsführung ohne Auftrag im Internationalen Privatrecht, Stiftungspreis) Habilitation (Internationale Produkthaftung, Stiftungspreis) Lehrbefugnis für Bürgerliches Recht, Privatversicherungsrecht, Internationales Privatrecht, Europäisches Recht und Rechtsvergleichung Professur, Universität Hannover Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Versicherungsrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Goethe-Universität Frankfurt/Main Mitdirektor des Instituts für Rechtsvergleichung Vorstandsmitglied des Institute for Law and Finance Geschäftsführender Direktor des Instituts für Versicherungsrecht Angebote zum Wechsel an die Universitäten Hamburg und Mannheim
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2007 seit 2008 seit 2009
Angebot zum Wechsel an die Universität Mannheim Gründungsdirektor des International Center for Insurance Regulation der Goethe-Universität Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaft
Wandt ist Mitglied der Schriftleitung der Zeitschrift Versicherungsrecht und Mitherausgeber der Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft und Mitglied der EU-Restatement Group of European Insurance Contract Law, die sich mit der Harmonisierung des europäischen Versicherungsvertragsrechts beschäftigt. Er ist Autor eines Lehrbuchs zum Versicherungsrecht und Mitherausgeber des neuen Münchener Kommentars zum Versicherungsrecht. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen das nationale wie internationale Vertrags-, Haftungs- und Regressrecht sowie das gesamte Versicherungsrecht. Dr. Ingeborg Zerbes Jurastudium in Wien, Promotion 1998 zum „Schuldausschluss bei Affekttaten“ und zurzeit Assistenzprofessorin am Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht der Uni Wien, mitten im Habilitationsverfahren: Die Habilitationsschrift „Spitzeln, Spähen, Spionieren – Sprengung strafprozessualer Grenzen durch geheime Zugriffe auf Kommunikation“ wurde im September 2009 eingereicht. Seit Ende 1995 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht der Uni Wien tätig, 2000–2002 an der Universität Basel am Lehrstuhl Prof. Pieth; 1997–2005 Referentin für österreichisches Recht am Max Planck Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br.; 2005–2008 Empfängerin eines APART-Stipendiums der Österreichischen Akademie für Wissenschaften zur Verwirklichung des Habilitationsprojekts; während dieser Zeit Forschungsaufenthalte am Max Planck Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br., an der Universität Basel und an der Hofstra-Universität in New York. Forschungsschwerpunkte: strafprozessuale Eingriffsbefugnisse, Wirtschaftsstrafrecht, insbesondere Korruptionsstrafrecht und Europastrafrecht.
Recht und Krise
Zur Einführung Manfred Wandt Recht und Krise
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Manfred Wandt
Recht und Krise
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Recht und Krise Manfred Wandt Es ist mir eine große Ehre, das Symposion mit einer kurzen Begrüßung eröffnen zu dürfen. Ich tue dies nicht vorrangig als Dekan des Fachbereichs Rechtswissenschaft, sondern als derzeitiger Geschäftsführender Direktor des ILF. In Bezug auf das thematisch im Vordergrund stehende Strafrecht kann ich persönlich allerdings leider nur mit Parallelwertungen in der Laiensphäre aufwarten. Da ich in Forschung und Lehre schwerpunktmäßig das Versicherungsrecht vertrete, ist es aber immerhin eine juristische Laiensphäre mit Sachbezügen zum Symposium, das in diesem Jahr ganz unter dem Eindruck der Finanzkrise steht. Auch wenn manche Akteure der Finanzmärkte es glauben machen wollen, ist die Finanzkrise kein „Werk Gottes“, sondern von Menschenhand gemacht. Dies wirft ein Schlaglicht auf das Verhältnis von Recht und Krise. Das (Wirtschafts-)Recht sollte idealerweise so gestaltet sein, dass es Krisen vermeidet. Meist ist diese Funktion aber zu gering ausgeprägt, als dass sich der Gesetzgeber in Nichtkrisenzeiten die Zeit und Kraft nehmen könnte, effiziente Regelungen zu schaffen, die geeignet sind, eine Krise gar nicht erst aufkommen zu lassen. Die Erfahrung lehrt uns, dass sich die Gesetzgebung in Nichtkrisenzeiten sehr schwer tut, im Konzert rechtspolitisch aktueller Interessen der bloß theoretischen Möglichkeit einer Krise die gebührende Beachtung zu verschaffen. Selbst in dem mir vertrauten Bereich des Versicherungswesens hat sich der Gesetzgeber lange Zeit von 100- oder 200-JahresEreignissen wenig beeindrucken lassen. Es wurde hintangestellt, dass wir es mit Wahrscheinlichkeit zu tun haben und ein solches Ereignis deshalb auch schon morgen eintreten kann. Mit der Verkürzung der Abstände zwischen den Finanzkrisen ist das Streben nach Krisenvermeidung beim Gesetzgeber deutlich verstärkt worden. Ein Beispiel gibt die europäische Solvency II-Richtlinie für den Versicherungssektor, der wie die anderen Finanzsektoren wesenseigen mit Risiken zu tun hat.1 Mit dieser Richtlinie hat der europäische Gesetzgeber – unabhängig von der jetzigen Finanzkrise, aber durchaus beeinflusst von der krisenhaften Ent1
Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. 11. 2009 (ABl. L 335 vom 17. 12. 2009, S. 1).
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wicklung der Aktienmärkte im Jahre 2001 – in den nachfolgenden „ruhigen“ Jahren ein unter dem Gesichtspunkt der Risikobeherrschung völlig neu konzipiertes europäisches Regelwerk geschaffen, das im Januar 2010 in Kraft treten und ab Oktober 2012 anwendbar sein wird. Wenn eine Krise bereits eingetreten ist und noch andauert, tut sich die Gesetzgebung regelmäßig sehr schwer. Es geht dann nicht mehr um Krisenvermeidungsrecht, sondern um Krisenbewältigungsrecht (oder Krisenverarbeitungsrecht). Rechtsetzung während einer Krise ist aus vielerlei Gründen auch nur bedingt möglich (und grundsätzlich auch nicht wünschenswert). Insbesondere ist der Prozess der Rechtsetzung bei allen Beschleunigungen – erinnert sei etwa an das Lamfalussy-Verfahren auf europäischer Ebene2 – dazu zu schwerfällig. Im Bezug auf das Strafrecht kommt erschwerend, aber verfassungsrechtlich notwendigerweise hinzu, dass neu geschaffenes Recht anders als etwa im Zivilrecht nicht an in der Vergangenheit liegende Sachverhalte anknüpfen darf. Auf diesem Symposium soll deshalb, wenn ich es richtig sehe, auch weniger über Strafrecht als Recht der Krisenbewältigung, sondern – in dem Bewusstsein möglicher zukünftiger Krisen – vornehmlich als Recht der Krisenvermeidung nachgedacht werden. Dafür muss das Strafrecht hinreichende Abschreckungswirkung entfalten. Europäische Verordnungen und Richtlinien, die das Wirtschafts(straf)recht zunehmend determinieren, enthalten in der Regel die Vorgaben, dass als Verstoßsanktionen vorzusehende Strafen „effective, proportionate and disuasive“, also wirkungsvoll, verhältnismäßig und abschreckend sein sollen. Abschreckend wirkt aber, worauf Volk im letzten Jahr auf diesem Symposion hingewiesen hat, nicht die Strafdrohung an sich, sondern in erster Linie die Entdeckungswahrscheinlichkeit, die aber meist nicht statistischen oder anderen einigermaßen nachvollziehbaren Daten entnommen wird, sondern individuell gefühlt wird. Wenn zu dem subjektiven Eindruck, man werde – weil man klüger sei als andere – bereits nicht entdeckt werden, noch der Eindruck hinzukommt, auch im Falle einer Entdeckung werde einem „nicht viel passieren“, wird die Abschreckung weiter abgeschwächt. Ein solches Vollzugdefizit im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts wird allenthalben beklagt. Zu komplex erscheinen mancher Staatsanwaltschaft die vielen neuen betriebswirtschaftlichen Phänomene. Als Reaktion auf dieses Vollzugsdefizit wird teilweise propagiert, Verstöße nicht als Straftaten, sondern als Ordnungswidrigkeiten auszugestalten, um eine Ahndung durch 2
Wandt/Sehrbrock, Solvency II – Rechtsrahmen und Rechtssetzung, in: Dreher/Wandt (Hrsg.), Solvency II in der Rechtsanwendung, Frankfurter Reihe Bd. 17, Verlag Versicherungswirtschaft, Karlsruhe 2009, S. 1, 6 ff..
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die sachkundigere Verwaltungsbehörde zu ermöglichen. Ob dies rechtspolitisch sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt. Bei diesen wenigen Anmerkungen möchte ich es bewenden lassen. Ich wünsche dem Symposium erhellende Referate und Diskussionen und uns allen nachhaltigen Erkenntnisgewinn, der helfen mag, zukünftige Krisen möglichst zu vermeiden, jedenfalls aber hinauszuzögern und abzuschwächen.
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Nicola Beer
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Nicola Beer Sehr geehrter Herr Professor Wandt, sehr geehrter Herr Professor Lüderssen, sehr geehrte Damen und Herren, es ist mir eine große Ehre, heute anlässlich des Zweiten Symposions „Economy, Criminal Law and Ethics“ des Institute for Law and Finance zu Ihnen zu sprechen. In den jetzigen Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise kommen wir an einer intensiven Analyse für daraus folgende politische Handlungen nicht vorbei. Einen intensiven und permanenten Austausch zwischen Wissenschaft und Politik erachte ich hierfür als notwendig und unabdingbar. Nur so können wir zu fruchtbringenden Lösungen kommen. Bitte betrachten Sie meinen Beitrag als einen europapolitischen Kommentar. Ich möchte die Diskussion auf europäischer Ebene beleuchten. Erlauben Sie mir bitte hierzu jeweils ein paar Anmerkungen zu den drei Themenblöcken Finanzmarktkrise, Strafrecht und Moral.
Finanzmarktkrise Das globale Finanzsystem wurde durch die Krise einer ernsthaften Belastungsprobe ausgesetzt, die nur durch massive Eingriffe öffentlicher Institutionen behoben werden konnte: Durch gigantische Bankenrettungspakete und Konjunkturprogramme zur Unterstützung der Realwirtschaft. Dennoch sind öffentliche Institutionen nicht nur „Retter“, sondern auch Mitverursacher der Krise, man denke an die staatlichen und Landesbanken. Der Staat hat sich nicht als besserer Banker erwiesen. Die Ursachen der Krise sind zwischenzeitlich hinlänglich bekannt. Das Vertrauen in Markt und Aufsicht und andere Marktteilnehmer – die wichtigste Währung der Finanzmärkte – ist verloren gegangen. Im Risikomanagement der Institute traten Schwächen zutage. Die Kreditvergabepraxis wurde immer laxer und die strukturierten Produkte waren so komplex, dass ihre Käufer,
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zum Teil Bankvorstände selber, gar nicht ermessen konnten, welche Risiken damit verbunden waren. Die Krise ist die Folge regulatorischer und menschlicher Fehlleistungen, aus denen Lehren gezogen werden müssen. Generell erforderlich ist eine stabilitätsorientierte Reform der Finanzmärkte, die Ausrichtung der Aufsicht auf Systemstabilität sowie Regulierung und Beaufsichtigung aller systemrelevanter Finanzmärkte, Finanzprodukte und Marktteilnehmer. Deutlich geworden ist die zentrale Bedeutung höherer Transparenz, verbesserten Kapital-, Liquiditäts-, und Risikomanagements sowie der Bewertung der Risiken durch Ratingagenturen. Auch die Anreizstrukturen zu bestimmten Marktverhalten stehen im Fokus. Diese müssen sich – anders als bisher – am langfristigen Unternehmenserfolg ausrichten. Durch diese Maßnahmen ist der so wichtige Faktor „Vertrauen“ zurückzugewinnen. Klassische Werte wie Sicherheit, Stabilität, Nachhaltigkeit, Glaubwürdigkeit und Kundennähe gewinnen wieder an Gewicht. Die Bemühungen auf internationaler und europäischer Ebene für eine stabilitätsorientierte Reform der Finanzmärkte werden von der Hessischen Landesregierung unterstützt. Damit wird auch das internationale Profil des Finanzstandortes Frankfurt deutlich gestärkt. Bereits jetzt hat hier die Stabilität der Märkte einen höheren Stellenwert als an anderen Plätzen. Wenn die Standards überall gleich sind, wird wettbewerbsverzerrende Arbitrage in der Regulierung nicht mehr möglich sein. Wir begleiten diese Aufsichts- und Regulierungsdiskussion offensiv und bauen die intellektuelle Infrastruktur am Finanzplatz Frankfurt zielgerichtet aus (z. B. House of Finance, Institut für Risikomanagement etc.). Die Finanzmarktkrise hat die zentrale Bedeutung der Finanzmarktaufsicht unterstrichen. Die Finanzmarktaufsicht war immer ein heikles Thema, das jetzt aber als Konsequenz aus der Krise angegangen werden muss. Das derzeit verhandelte Legislativpaket basiert auf Plänen der Kommission aus ihrer Mitteilung vom Mai 2009, die vom Ecofin-Rat und vom Europäischen Rat im Juni 2009 in den zentralen Punkten bestätigt worden sind. Die geplante europäische Struktur der Finanzmarktaufsicht ist ein wesentlicher Schritt zu einer im europäischen Binnenmarkt harmonisierten und organisatorisch verzahnten Finanzaufsicht. Die zentralen Punkte sind: x Die Einrichtung eines Europäischen Ausschusses für Systemrisiken mit der Funktion eines Frühwarnsystems für systemische Risiken als ein zentrales Element künftiger Aufsichtsstrukturen. Die enge sachliche und räumliche Anbindung des Ausschusses an die EZB in Frankfurt am Main mit ihrer ausgeprägten volkswirtschaftlichen Kompetenz und Erfahrung in internatio-
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naler makroökonomischer Analyse ist wesentliche Voraussetzung für die Wirkungstiefe der neuen Struktur. x Die Errichtung eines Europäischen Finanzaufsichtssystems als Netzwerk bestehend aus drei neuen europäischen Aufsichtsbehörden durch Umwandlung der bestehenden Stufe-3-Ausschüsse und den nationalen Behörden (Aufsicht auf Mikro-Ebene). Nach wie vor soll die operative Aufsicht durch die nationalen Aufsichtsbehörden im Rahmen eines Europäischen Systems der Aufsichtsbehörden durchgeführt werden. Die zu entwickelnden Behörden übernehmen sämtliche beratenden und koordinierenden Funktionen der bisherigen Stufe-3-Ausschüsse, erhalten weitere spezifische Befugnisse zur Sicherstellung der einheitlichen Rechtsanwendung durch die nationalen Behörden und – im Zweifel – für bindende Vorgaben. Zentrale Zuständigkeiten sollen sie für Finanzinstitutionen mit naturgemäß grenzüberschreitendem Charakter bekommen, z. B. Ratingagenturen. In den auf europäischer Ebene geplanten Reformen der Aufsicht über grenzüberschreitend tätige Institute sehe ich einen ersten richtigen Schritt. Langfristig sind weitere „Europäisierungen“ der Finanzmarktaufsicht unumgänglich. Es dürfte unstreitig sein, dass die in den letzten Monaten koordiniert getroffenen Maßnahmen zur akuten Krisenbewältigung die Handlungsfähigkeit Europas deutlich gemacht haben. Innerhalb weniger Tage haben die Staats- und Regierungschefs gemeinsame Prinzipien für Maßnahmen zur Stützung systemrelevanter Finanzinstitute festgelegt. Es ist gelungen, sehr kurzfristig koordiniert nationale Stützungspakete aufzustellen und die Bilanzierungsregeln zu ändern, um zu verhindern, dass wertlose Aktiva zum Marktpreis bilanziert werden müssen. Wichtige Regelungsvorhaben, die in Übereinstimmung mit den Vereinbarungen auf G20-Ebene stehen, sind bereits abgeschlossen, befinden sich im Legislativprozess oder werden konsultiert. Die zweite und dritte Änderung der Eigenkapitalrichtlinie ist fast abgeschlossen, die vierte Änderung wird konsultiert, die fünfte vom Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht vorbereitet. Die Verordnung über Ratingagenturen sowie die Änderung der Richtlinie über Einlagensicherungssysteme sind von Rat und EU-Parlament angenommen. Die Kommission hat die Reduzierung von Risiken auf den außerbörslichen Terminmärkten aufgegriffen und will für das Krisenmanagement im Bankensektor einen europäischen Rahmen für grenzüberschreitendes Krisenmanagement schaffen. Es ist vor allen Dingen auch gelungen, die internationalen Partner mit ins Boot zu holen. Auf europäische Initiative hin haben sich die wichtigsten In-
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dustrie- und Schwellenländer auf einen wegweisenden Prozess der regulatorischen und institutionellen Reform der Finanzsysteme verständigt.
Strafrecht auf EU-Ebene Spätestens seitdem die Finanzkrise Deutschland erreicht hat und sich viele Menschen um ihr Erspartes betrogen fühlen, bekommt man aus Presse und Medien schnell den Eindruck, dass das Strafrecht als Ersatzethik herhalten soll. Man könnte meinen, gelegentlich bahne sich ein neues Strafverfolgungsklima bzw. „Bestrafungsbedürfnis“ der Gesellschaft an. Aber hat das Strafrecht eine solche Steuerungsaufgabe? Besteht nicht die Gefahr der Instrumentalisierung des Strafrechts? Wo fangen Stammtischparolen an? Ich hoffe, dass das Strafrecht nicht so leicht und beliebig als Ordnungspolitik missbraucht wird, da ich davon überzeugt bin, dass die systemimmanenten Probleme aus der Finanzkrise durch politische Anstrengungen auf die Herstellung stabiler Finanzmärkte und effizienterer Finanzaufsicht zu lösen sind. Das Wirtschaftsleben ist meiner Erfahrung nach für das Strafrecht ohnehin ein schwieriger Regelungsbereich. In Einzelfällen hat es im Zusammenhang mit der Krise sicherlich auch kriminelles Handeln gegeben, aber meiner Ansicht nach haben wir es in erster Linie mit einem Marktversagen bzw. Aufsichtsversagen zu tun. Dass Unternehmen Risiken eingehen und – bei einer Realisierung des eingegangenen Risikos – auch Vermögenswerte vernichten, ist für sich gesehen noch kein strafbares und aus meiner Sicht auch kein strafwürdiges Verhalten. Anderenfalls wäre marktwirtschaftliches Handeln nicht mehr denkbar. Aus den außergewöhnlich hohen finanziellen Schäden folgt ebenfalls nicht per se, dass hier Straftaten vorliegen. Auf EU-Ebene wird die Strafrechtsdebatte im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise noch nicht so laut geführt, was daran liegen mag, dass das Strafrecht noch zu den kaum harmonisierten Bereichen gehört und sich viele kein einheitliches EU-Strafrecht wünschen. Die Hessische Landesregierung steht den auf EU-Ebene zu beobachtenden Harmonisierungstendenzen im Strafrecht aus Kompetenz- und Subsidiaritätsgesichtspunkten eher skeptisch gegenüber. In der Vergangenheit hat es immer wieder Fälle gegeben, in denen der Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz missachtet wurde und sich die Kommission auf eine strafrechtliche Annexkompetenz berufen hat.
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Moral Als Ursache der Krise ist immer wieder der Begriff „moral hazard“ gebraucht worden. Ich will zwei Beispiele nennen: Beispiel Nr. 1: Im marktwirtschaftlichen System ist diese Möglichkeit auf Erfolg immer verknüpft mit der Möglichkeit des Scheiterns. Wer aber scheitert, darf im Fallen nicht andere mit sich reißen. Es gab lange die Meinung auf internationaler und europäischer Ebene, eine Bank muss groß sein, um wettbewerbsfähig zu sein. In der Krise hat sich auch gezeigt, dass Institute, die zu groß – zu systemrelevant – sind, schlicht zu groß sind, ihre Schieflage das Wirtschaftssystem als Ganzes gefährdet und letztlich den Steuerzahler erheblich belastet. Es ist ein Bestreben auf internationaler und europäischer Ebene, diese sogenannte Systemrelevanz zu regulieren und Balancen zu finden. In dem Zusammenhang möchte ich sagen: Als stabilisierender Faktor in der Krise hat sich übrigens gerade unser Drei-Säulen-System mit den Volksbanken und Sparkassen erwiesen. Dies hat zwischenzeitlich auch die Kommission festgestellt, die dieses zuvor äußerst kritisch betrachtet hatte. Beispiel Nr. 2: Es besteht international Einvernehmen darüber, dass die Anreizstrukturen der Institute zu wenig am langfristigen Geschäftserfolg ausgerichtet waren und eine wesentliche Ursache der Krise waren. An verschiedenen Finanzplätzen ist derzeit zu beobachten, dass die Boni wieder steigen und Umgehungsstrategien gesucht werden, z. B. durch eine drastische Erhöhung der Fixgehälter oder Zahlung von Antrittsprämien ohne jeglichen Bezug zum Erfolg. Die Mentalität der Fixierung auf den schnellen Gewinn und die Vernachlässigung der langfristigen Solidität ist nach wie vor vorhanden. Die G20 sehen in der Reform der Vergütungspraktiken einen wesentlichen Teil der Bemühungen, die Finanzmarktstabilität zu stärken und wollen die Thematik prioritär behandeln. Die EU-Kommission hat eine Empfehlung zur Vergütungspolitik im gesamten Finanzsektor verabschiedet sowie einen weiteren Vorschlag zur Änderung der Bankenrichtlinie und der Kapitaladäquanzrichtlinie vorgelegt. Die Bezahlung der Mitarbeiter ist natürlich Sache der Banken. Entscheidend ist, dass sie transparenter wird und sich an Leistungsbezogenheit orientiert. Es ist auch nötig, dass in den Instituten der Nachhaltigkeitsgedanke wieder in den Vordergrund rückt. Die Hessische Landesregierung fordert am Finanzplatz Frankfurt bereits intensiv zu einer Wertediskussion heraus. Der ,ehrliche Kaufmann‘ muss wieder Grundlage des betriebswirtschaftlichen
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Handelns werden. Betont werden muss die eigene Verantwortung der Finanzindustrie, sich der moralischen Debatte zu stellen. Aus dem Geschehenen müssen eigene Konsequenzen gezogen werden. Selbstregulierung muss aber funktionieren, andernfalls ist zur Behebung gravierender Defizite als letzte Alternative der Staat gefragt. Große Bedeutung bei den Anreizstrukturen im Vergütungsbereich haben international anerkannte Regeln. Ohne ein level-playing-field werden einzelne Institute immer wieder mit dem Verhalten von Wettbewerbern konfrontiert werden, die wieder zu einem „business as usual“ zurückkehren wollen. Variable Leistungsanreize neben dem fixen Gehalt sind demnach sinnvoll, müssen aber am langfristigen Unternehmenserfolg ausgerichtet sein, dürfen nicht asymmetrisches Risikoverhalten begünstigen und müssen die mit den Ertragschancen verbundenen Kapitalkosten berücksichtigen. Sehr geehrte Damen und Herren, ich betrachte den Diskussionsprozess um Finanzkrise, Wirtschaftsstrafrecht und Moral als im vollen Gange bzw. möchte ihn weiter ankurbeln. Ich hoffe, dass die von mir angebrachten Anmerkungen Einfluss in die weitere Debatte finden und vor allem auch die kritischen Aspekte nicht außer Acht gelassen werden. Ich bin überzeugt, dass eine interdisziplinär geführte Diskussion die besten Aussichten für weiterführende Antworten bietet. Haben Sie herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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Komplexität und Ambivalenzen Komplexität und Ambivalenzen Klaus Lüderssen
Klaus Lüderssen Keine Autonomie des Strafrechts – es ist vielmehr subsidiär und akzessorisch, nicht nur wegen der Eingriffsintensität im Sinne der normativen ultima ratio, sondern auch wegen anderer primär zuständiger Steuerungsmechanismen. Die erste Tagung hat diese Weichen schon mit Blick auf die Finanzkrise gestellt, und auch auf die Konkretisierungen rechtlicher Alternativen zum Strafrecht hingewiesen. Aber die eigentliche Spezialisierung auf die Finanzkrise kommt erst mit dieser zweiten Tagung. Ursprünglich sollte sie einzelnen Delikten, vor allem der Untreue gewidmet sein. Dieses Thema ist auch im Prinzip jetzt nicht verlassen, es geht nur um eine Anpassung an die neue Lage. Die Fragen, die uns vor einem Jahr zusammen geführt haben und auch jetzt und womöglich auch im nächsten Jahr zusammen führen werden, sind damit nicht beiseite geschoben – im Gegenteil: Sie sind dringlicher geworden. Das gilt sowohl für die ethisch-rechtstaatliche Frage der ultima ratio wie für die ethisch-utilitaristische der Steuerungsfunktion des Strafrechts. Was die ultima ratio angeht, so sind die speziellen Anforderungen, die auf der Basis dieses Prinzips zu stellen sind, besonders offenbar bei den Fragen, ob Urheber und Akteure der Finanzkrise sich strafbar gemacht haben könnten. Die Unbestimmtheit der Strafbarkeitsvoraussetzungen ist hier das größte Problem, pars pro toto vielleicht am deutlichsten zu demonstrieren beim gleichsam schon in die engere Wahl gekommenen Insider-Strafrecht. Da sind die Ermessensspielräume und Verweisungstechniken unübersehbar. Dann natürlich: Ist die Bestrafung überhaupt geeignet und erforderlich für die Bewältigung der Finanzkrise? Das zu klären, ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sich zunehmend die Tendenz bemerkbar macht, die Reihenfolge umzukehren. Die strafrechtliche Relevanz dient dem Einstieg in die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen. Das ist äußerst problematisch und muss intensiv diskutiert werden. Zur Steuerungsfunktion: Die Uhren der Ökonomie gehen anders, ob zu Recht, muss natürlich geprüft werden dürfen. Das heißt, eine gleichsam positivistische Abrufung des anderen Systems, wozu die „Systemtheorie“ en bloc einlädt, ist nicht die Lösung.
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Vielmehr sind die konkurrierenden Bewertungen der nichtstrafrechtlichen Regelungen und Mechanismen, die im Zusammenhang mit der Finanzkrise diskutiert werden, zu begründen: Makroökonomisch – der Nachholbedarf der Theorie der sozialen Marktwirtschaft oder ihre Ersetzung durch etwas Moderneres und Besseres – und betriebswirtschaftlich. Beide Aspekte implizieren die Frage nach den endogenen und exogenen Faktoren der Unternehmensethik – sie haben uns schon während des ersten Symposions beschäftigt, und in dem Sammelband darüber ist das gründlich ausgeführt. Aber das könnte – im ersten Teil unseres Symposions mit Blick auf die durch die Krise veränderte Situation – vertieft werden. Lassen Sie mich das generelle Problem wie folgt zuspitzen: Bei einem weiten, das Gemeinwohl einbeziehenden Unternehmensbegriff ist die entsprechende Ethik ein Teil der Nutzenmaximierung – endogen also. Beschränkt sich das Unternehmensinteresse auf die unmittelbaren Ziele des Anteilseigners, werden diese ethisch durch die Gemeinwohlorientierung ergänzt – exogen. Die Vermutung liegt nahe, dass diese verschiedenen Ausgangspunkte auch zu verschiedenen Ergebnissen führen. Die endogene Orientierung wird ethisch schneller an substantielle und regionale Grenzen geraten als die exogene. In beiden Modellen sind die Übergänge jedenfalls fließend. Sie zu fixieren wird in dem Maße schwieriger, wie – vielleicht nicht im Augenblick, aber à la longue – der regulierende Staat durch globalisierte nicht-staatliche Institutionen verdrängt wird. Vielleicht darf – hier in Frankfurt – hervorgehoben werden, dass insoweit Berührungspunkte bestehen mit der Fragestellung des Excellence Cluster an unserer Universität: „Recht ohne Staat?“ – im Rahmen des allgemeinen Diskurses über „normierte Ordnungen“. Je nach dem, wie man sich hier entscheidet, entwickelt sich ein spezieller externer Regelungsbedarf – Regulierungstheorien aus ökonomischer, öffentlich-rechtlicher, oder zivilrechtlich-gesellschaftsrechtlicher Perspektive treten zueinander in Konkurrenz oder ergänzen sich. Unter diesem Gesichtspunkt sind die internationalen Anregungen der Pittsburgh Konferenz und der gerade abgelaufenen Euro Finance Week, die unter der Devise stand „Restructuring the Global Financial Architecture – The Road ahead“, zu prüfen. Dabei ist besonders bemerkenswert die abgewogene Stellungnahme von Minister Schäuble, der beklagt, dass bei komplexen Finanzmarktprodukten der Zusammenhang von Risiko und Haftung oft völlig aufgelöst sei und dass die Verbindung zwischen Risiko und Haftung, zwischen Vergütung und Verantwortung wieder hergestellt werden müsse. Aufmerksam machen möchte ich auch auf die „Elemente eines effizienten Krisenmanagements“, die der Vorsitzende des Vorstandes der Deutschen Bank, Josef Ackermann, in seinem
Komplexität und Ambivalenzen
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Eröffnungsvortrag unter dem Thema „Zwischen neuen Marktstrukturen und veränderter Regulierung“ nennt, es sind deren fünf: x „Erstens: Finanzinstitute, die ein größeres Risiko darstellen, sollten höhere Eigenkapitalanforderungen erfüllen. Ich betone: „Firmen, die ein höheres Risiko darstellen” – es ist die Größe des Risikos, nicht die Größe an sich, die höhere Eigenkapitalanforderungen rechtfertigt. x Zweitens: wir müssen Marktinfrastrukturen entwickeln, die Märkte von einzelnen gescheiterten Institutionen isolieren. Zentrale Gegenparteien und real-time settlement Systeme wie CLS sind beispielgebend hierfür. x Drittens: Die Aufsichtsbehörden müssen – international abgestimmt – das Recht haben, Restrukturierungen durchzuführen. x Viertens: brauchen wir eine internationale Angleichung des für Banken gültigen Insolvenzrechts – auch wenn dies alles andere als einfach ist. x Fünftens: sollten Banken ihre Organisationsstruktur verschlanken und transparent machen. Sie sollten außerdem Notfallpläne ausarbeiten, beispielsweise für den Fall dass die Refinanzierungsquellen versiegen.“ Ferner zu prüfen sind natürlich die nationalen Initiativen im Koalitionsvertrag der Deutschen Bundesregierung, wo sich unter anderem der Vorschlag findet, eine unabhängige Stiftung für Finanzprodukte nach dem Muster der Stiftung Warentest einzurichten. Schließlich dürfen auch die schon von der alten Bundesregierung in Gang gesetzten Gesetzesentwürfe nicht aus den Augen verloren werden. Die strafrechtlichen Konsequenzen sind ambivalent. Die reine Anteilseignerorientierung zieht klare, enge Grenzen. Man könnte das aber auch kritisch sehen, weil dem gemeinwohlorientierten Rechtsgut im Unternehmen dieser spezielle Schutz versagt bleibt. Andererseits könnte die Zurückhaltung des Strafrechts in diesem Punkt auch indizieren, dass es ausnahmsweise einmal seine Grenzen erkennt. Das gilt freilich nur, wenn man die Interessen der Anteilseigner – gegenüber der Gemeinwohlorientierung des Unternehmens – als ein Minimum sieht. Konkurrieren diese Orientierungen aber gleichwertig, ist es nicht so einfach, die Aufgaben des Strafrechts zu begrenzen, zumal in dem Maße, wie Gemeinwohlorientierung zulässig ist, auch den beim Anteilseigner eintretenden Verlust kompensierende Leistungen anerkannt werden können. Bei dieser wirklich komplexen Sachlage wird man nicht umhin können, möchte ich vermuten, auch die wissenschafts- und demokratietheoretischen
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Klaus Lüderssen
Voraussetzungen für die Bestimmung des Verhältnisses von Ökonomie, Zivilrecht und Strafrecht bei Bewältigung der Finanzkrise genauer zu entwickeln. Im zweiten und dritten Teil unseres Symposions wird sozusagen die Probe auf das Exempel gemacht mit den Delikten, die im Zusammenhang mit der Finanzkrise eine besondere Rolle spielen. Dabei wird zunächst an einen vertrauten Deliktstatbestand angeknüpft – wieder: Untreue (2. Teil) – dann aber an spezielle Sachverhaltsgestaltungen, für die die deliktische Zuordnung noch zu suchen ist (3.Teil). Für beide Bereiche liefern bereits in Gang befindliche Strafverfahren schon eine gewisse Anschauung. Vielleicht wird sich, hoffen wir, die Phantasie in den Referaten und Diskussionen jeweils auch den rechtlichen Alternativen zum Strafrecht zuwenden. Für sie möchten wir in absehbarer Zeit ein gesondertes Symposion veranstalten. Dass diese rechtlichen Alternativen – etwa im Sinne vorsichtiger vorbeugender Compliance Organisationen – paradoxer Weise expandierend auf das Strafrecht zurückwirken können, erweist sich allerdings immer mehr als eine, wie sich zeigt, schwierige Vorfrage, die zunächst beantwortet werden muss. Aber auch dafür werden, wie Sie der Tagesordnung entnehmen können, im diesjährigen Symposion ja schon die Anknüpfungen gesucht.
Die Finanzkrise und die Soziale Marktwirtschaft
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Die Finanzkrise und die Soziale Marktwirtschaft Die Finanzkrise und die Soziale Marktwirtschaft Roland Vaubel
Roland Vaubel 1.
Einleitung
Die Finanzkrise hat Zweifel an der Funktionsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft geweckt. Unter den Ökonomen kann man diesbezüglich drei Schulen unterscheiden: I. Die Krise hat wieder einmal gezeigt, dass die Marktwirtschaft kein brauchbares Wirtschaftssystem ist. II. Die Marktwirtschaft ist zwar auf die Dauer das leistungsfähigste Wirtschaftssystem, der Markt kann aber kurzfristig – wie jetzt – eklatant versagen. III. Die Finanzkrise beruht gar nicht auf Marktversagen, sondern auf individuellem menschlichem Versagen. Alles deutet darauf hin, dass die dritte Gruppe recht hat.
2.
Begründungen
Die erste Begründung setzt bei der Definition der Marktwirtschaft an. Die Marktwirtschaft ist ein Koordinationsmechanismus. Sie koordiniert die Wünsche der Menschen auf höchst effiziente und herrschaftsfreie Weise – nämlich über Verträge. Dabei ist es Aufgabe des Staates zu verhindern, dass Verträge zu Lasten Dritter – z. B. kartellarische oder kriminelle Vereinbarungen – geschlossen und ausgeführt werden. Der Koordinationsmechanismus Markt kann aber nichts daran ändern, dass die Zukunft ungewiss ist. Der Markt geht wie die Wissenschaft nach dem Prinzip des „Trial and Error“ (Karl Popper) vor. Zum „Kasinokapitalismus“ wird er dadurch nicht. Wer von der Marktwirtschaft vollkommene Voraussicht verlangt, verlangt Unmögliches. Unvollkommene Voraussicht – wie in dieser Finanzkrise – ist daher kein Systemfehler, sondern ein unvermeidliches Problem jedes einzelnen Menschen. Von Marktversagen
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Roland Vaubel
sollte man nur dann sprechen, wenn der Markt – zum Beispiel aufgrund externer Effekte – in seiner Koordinationsfunktion gestört ist. Da die Zukunft ungewiss ist, müssen sich die Menschen Erwartungen bilden und danach handeln. An den Finanzmärkten tun dies vor allem die vielgescholtenen Spekulanten. Spekulation ist jedoch eine äußerst nützliche Tätigkeit. Der Spekulant macht sich nicht nur Gedanken über die Zukunft, er legt seine Einschätzungen auch offen. Seine Preissignale sind wichtige Informationen für die Anderen, die sich kein eigenes Urteil zutrauen. Spekulanten stellen – ohne es zu wollen, Wissen – ein öffentliches Gut – bereit. Man darf die Krankheit (den Irrtum) oder das Fieber (die Krise) nicht dadurch zu bekämpfen versuchen, dass man das Thermometer (die Spekulation) verbietet. Gegen spekulative Blasen ist kein Kraut gewachsen. Dass es Blasen waren, ist immer erst im Nachhinein zweifelsfrei zu erkennen. Das gilt auch und erst recht für die staatliche Finanzaufsicht. Weder die nationalen noch die internationalen Aufsichtsbehörden haben die Krise vorhergesehen. Diejenigen, die die besten Voraussagen machen, zieht es eher in den gut bezahlten Bankvorstand als in den engen Rock des Beamten.1 Die These vom Marktversagen wäre richtig, wenn die Finanzkrise in erster Linie durch falsche Marktanreize ausgelöst worden wäre. Angeblich haben die Bonuszahlungen für Bankmanager und die Haftungsbeschränkungen der Bankeigentümer zu einer übersteigerten Risikobereitschaft geführt. Gegen diese Anreiz-Hypothese sprechen jedoch mehrere Indizien. Erstens sind die Risikoprämien im amerikanischen Subprime-Hypothekenmarkt relativ zu den Risikoprämien im Rest des Finanzmarkts von 2001 bis 2004 stark gefallen.2 Das deutet auf eine Unterschätzung der Risiken im Subprime-Markt hin. Wenn die Risikobereitschaft aufgrund falscher Marktanreize gestiegen wäre, hätten die Risikoprämien in allen Teilen des Finanzmarktes gleichermaßen fallen müssen. Zweitens waren die Risikoprämien im amerikanischen Subprime-Hypothekenmarkt 2007 – sowohl absolut als auch relativ zu den anderen Finanzmärkten – wesentlich niedriger als 2001.3 Auch das deutet darauf hin, dass die Risiken selbst kurz vor dem Ausbruch der Krise massiv unterschätzt wurden. 1
2 3
So zeigen zum Beispiel die Analysen von Artis (1988) und Vaubel (2009 a, b), dass die besten Wirtschaftsprognosen von privaten Institutionen gemacht werden. Unter den staatlichen Institutionen sind die nationalen weniger schlecht als die internationalen. Demyanyk, van Hemert 2008, Abb. 6. Demyanyk, van Hemert aaO.
Die Finanzkrise und die Soziale Marktwirtschaft
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Drittens wurde der Anteil der notleidenden Kredite nur schwach von den Vergabebedingungen (die den Banken ja bekannt waren) beeinflusst, sehr stark jedoch von der Entwicklung der Immobilienpreise (die höchst unsicher war).4 Viertens hingen die Aktienrenditen der einzelnen amerikanischen Banken im Verlauf der Krise nicht vom Umfang der Aktienoptionen ab, die sich im Besitz ihrer Bankvorstände (Chief Executive Officers) befanden.5 Das widerspricht der These, dass die Bankmanager durch die Aktienoptionen ihrer Unternehmen zu überhöhter Risikobereitschaft verleitet worden seien. Fünftens zeigt eine Studie der Management-Beratung Kienbaum, dass die öffentlich-rechtlichen Banken in Deutschland, die ja die größten Verluste erlitten, ihren Führungskräften nur 14 Prozent der Gesamtbezüge in Form von Boni auszahlten, während der betreffende Anteil bei den privaten Geschäftsbanken in Deutschland 29 Prozent ausmacht.6 Sechstens haben die Bankvorstände weder vor noch während der Krise in größerem Umfang Aktien ihres Unternehmens aus ihrem Portefeuille verkauft oder abgesichert.7 Sie haben daher als Folge der Krise schwere Vermögensverluste erlitten.8 Eine Untersuchung für die insolventen Banken Bear Stearns und Lehman Brothers zeigt zwar, dass die Erlöse aus Aktienverkäufen und die Boni der Vorstandsmitglieder seit dem Jahr 2000 größer waren als ihre Vermögensverluste in der Krise.9 Das ändert aber nichts daran, dass sie die Risiken spätestens ab 2007 falsch eingeschätzt haben. Es war ja nicht so, dass sie sich im Jahr 2000 auf eine Strategie eingelassen haben, die sie dann nicht mehr ändern konnten. Sie wollten ihre Strategie nicht ändern, weil sie die Krise nicht vorhergesehen haben. Fahlenbrach und Stulz fassen die Ergebnisse ihrer ökonometrischen Untersuchung mit dem Satz zusammen: „Bank CEO incentives cannot be blamed for the credit crisis or for the performance of banks during that crisis“.10 Neben diesen empirischen Indizien scheint mir die folgende Plausibilitätsüberlegung überzeugend. Zwar ist richtig, dass die Haftung der Banker – der Manager wie der Eigentümer – beschränkt war und ist, so dass die Folgen ih4 5 6 7 8 9 10
Gorton 2008, S. 74 Fahlenbrach/Stulz 2009. Kienbaum 2009. Fahlenbrach/Stulz, aaO. Fahlenbrach/Stulz, aaO. Bebchuk/Cohen/Spamann 2009. Fahlenbrach/Stulz aaO, S. 18.
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res Handelns auch Andere trafen. Trotzdem war die Finanzkrise für die betroffenen Banker eine alptraumartige Erfahrung, die sie liebend gerne vermieden hätten. Ihre Anreize stimmten. Vielleicht hilft ein Bild weiter. Auch der Pilot eines vollbesetzten Passagierflugzeugs haftet nur für einen Bruchteil des Schadens, der entsteht, wenn er einen schweren Fehler begeht, das Flugzeug abstürzt und alle Insassen den Tod finden. Trotzdem tut er alles, um den Absturz zu verhindern, denn dieser würde ihn sein Leben kosten. Ein Konkurs ist ein Absturz. Die bisherigen Überlegungen und Indizien legen den folgenden Schluss nahe: x Die Banken haben nicht wider besseres Wissen die Krise riskiert, sondern sie haben die Risiken unterschätzt. Das gilt nicht nur für das Preisrisiko im Subprime-Markt, sondern auch für das systemische Risiko, das ja in den Risiko-Management-Systemen der Banken gar nicht vorkam und auch kaum zu berücksichtigen ist. x Ausschlaggebend für die Krise waren nicht falsche Anreize, sondern falsche Erwartungen. x Die Krise beruht im Kern nicht auf Marktversagen, sondern auf menschlichem Versagen. Diese Sichtweise teilt zum Beispiel auch Edmund Phelps, der Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 2006: „Speculation drove the crisis. Misaligned incentives were not sufficient to do it – and not necessary either. Bubbles long predate bonuses. The crisis could have happened with a 1950s financial sector“ . . . „Uncertainty bedevils the best system . . . (The actors) had no sense of the existing Knightian uncertainty. So they had no sense of the possibility of a huge break in housing prices and no sense of the fundamental inapplicability of the risk management models used in the banks . . . Some had the instinct to buy insurance but did not see the uncertainty of the insurer’s solvency“.11
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Phelps Financial Times v. 3. 11. 09 und 15. 4. 09.
Die Finanzkrise und die Soziale Marktwirtschaft
3.
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Weiterführende Überlegungen
Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Aber war der Irrtum wirklich irrational und, wenn schon nicht vorsätzlich, so doch (grob?) fahrlässig? Rationalität ist in der Volkswirtschaftslehre eine Frage der Informationsverwertung. Erwartungen sind rational, wenn alle öffentlichen und ohne große Kosten zugänglichen Informationen verwertet worden sind. Im vorliegenden Fall deuteten die öffentlich zugänglichen Informationen kaum auf eine Krise hin. Zwar wurden die möglichen Gefahren in den Veröffentlichungen der zuständigen Institutionen meist pflichtschuldigst erwähnt, aber kaum jemand hielt sie für bedrohlich. Ein gutes Beispiel sind die Berichte und Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Im Jahr 2004 zum Beispiel erwähnt der IWF Befürchtungen einer Immobilienpreisblase: „The dramatic rise in residential property prices in recent years . . . has heightened concerns of an asset price bubble and thus the likelihood of a share price correction“;12 er erklärt diese Befürchtungen aber für übertrieben: „House prices in general were recovering from relatively sluggish increases during the 1990s and were broadly in line with disposable income“.13 Noch im Juli 2005 heißt es: . . . „The most likely scenario was a flattening of prices rather than outright declines“.14 In seinem „Global Financial Stability Report“ vom April 2007 vertritt der IWF die Meinung, dass der inzwischen eingetretene Rückgang der Immobilienpreise „is not likely to pose a serious systemic threat. Stress tests conducted by investment banks show that, even under scenarios of nation wide house price declines that are historically unprecedented, most investors with exposure to subprime mortgages through securitized structures will not face losses. . . The amount of potential credit loss in subprime mortgages may be fairly limited“.15 Im April 2008 gibt der IWF die folgende Prognose ab: „The US economy will tip into a mild recession in 2008 as a result of mutually reinforcing housing and financial market cycles, with only a gradual recovery in 2009“.16
12 13 14 15 16
IWF, World Economic Outlook, April 2004, S. 18. IWF, Country Report USA, Juli 2004, S. 16. IWF, Country Report USA, Juli 2005, S. 10. IMF, Global Financial Stability Report, April 2007, S. 7. IMF, World Economic Outlook, April 2008a, S. 1.
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Auch der Jahresbericht der Bank for International Settlements (BIS) in Basel, der im Juni 2007 veröffentlicht wurde, erwähnt zwar die Probleme im Subprime-Markt, sieht aber keinen besonderen Handlungsbedarf. Martin Hellwig berichtet: „In late June (2007), at the 6th Annual BIS Conference on Financial System and Macroeconomic Resilience , nobody, myself included, seems to have had an inkling of the crisis that was about to unfold“.17 Zwei relativ bekannte Wirtschaftsprofessoren – Robert Shiller, Yale University, und Nouriel Roubini, New York University – haben zwar frühzeitig eine krisenhafte Zuspitzung prognostiziert, aber Roubini ist ein notorischer Schwarzseher, der sich schon oft geirrt hat, und Shillers Prognose bezog sich nur auf den Subprime-Markt.18 Vor allem hat niemand vorhergesehen, dass die Entscheidung des amerikanischen Finanzministers Poulson, eine mittelgroße Investment-Bank wie Lehman Brothers Konkurs gehen zu lassen, bei den Menschen eine solche Panik auslösen würde. Alles dies schließt nicht aus, dass einzelne Banker gegen konkrete Verhaltensmaßregeln verstoßen haben, aber der Umfang des systemischen Risikos kann nicht als bekannt vorausgesetzt werden. Ich neige dazu, die Finanzkrise eher als ein kaum vorhersehbares und daher unabwendbares Naturereignis – eine Art Überschwemmungskatastrophe – zu betrachten. Als im Sommer 2002 die Elbe über ihre Ufer trat, gab es ebenfalls Versuche, einzelne Bürgermeister dafür verantwortlich zu machen, dass sich die Dämme als zu niedrig erwiesen hatten. Die Gefahr war ja bekannt gewesen; nur hatte kaum jemand die Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich eintreten würde, für erheblich gehalten. Darin bestanden der Irrtum und das menschliche Versagen. Naturkatastrophen sind zwar meist schicksalhaft, aber sie rechtfertigen keinen Fatalismus. Man kann aus Katastrophen lernen, die Risiken realistischer einzuschätzen und sich besser davor zu schützen. Genau wie nach der Elbüberschwemmung höhere Deiche gebaut wurden, müssen jetzt die Risikopuffer bei den Banken erhöht und funktionsfähiger gemacht werden. Sicherheit darf man sich aber auch davon nicht erwarten. Die Deutsche Bank ist mit einer Eigenkapitalquote von mehr als 30 Prozent in die Weltwirtschaftskrise gegangen. Trotzdem musste sie ab 1931 vom Staat gestützt werden.
17 18
Hellwig 2009, S. 168. Über Shillers Warnung berichtete im Juni 2005 das Magazin „Barrons“.
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Wo Irrtum das Problem ist, können auch Maßnahmen helfen, die die Transparenz verbessern. Auf den Finanzmärkten geht es dabei um Folgendes: 1. Kreditverbriefende und –tranchierende Banken müssen ihre Selbstbeteiligungsquoten bekannt geben. 2. Die Geschäftsbanken müssen ihre außerbilanziellen Positionen berichten – insbesondere ihre Fristentransformation in den Structured Investment Vehicles. 3. Die Rating-Agenturen müssen ihre Beratungsaufträge offen legen. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, den Marktteilnehmern bessere Regeln an die Hand zu geben, um die Ursachen und Wirkungen des Irrtums zu bekämpfen. Kontraproduktiv wäre es dagegen, den staatlichen Regulierungsbehörden mehr Macht zu geben, damit sie nach eigenem Ermessen in die Dispositionsfreiheit der Banken eingreifen können. Denn dafür fehlt ihnen das notwendige Wissen.
Literatur Artis How accurate is the World Economic Outlook? (1988) Staff Studies for the World Economic Outlook, International Monetary Fund. Bebchuk/ Cohen/Spamann The Wages of Failure: Executive Pay at Bear Stearns and Lehman 2000–2008, Harvard Law School, 24. 12. 09, erscheint in Yale Journal on Regulation. Demyanyk/ van Hemert, Understanding the Subprime Mortgage Crisis (2008), Working Paper, Stern School of Business, New York University. Fahlenbrach/Stulz R. M., Bank CEO Incentives and the Credit Crisis (2009), European Corporate Governance Institute, Brussels, Working Paper No. 256. Gorton, The Panic of 2007 (2008), National Bureau of Economic Research, Cambridge, Mass., Working Paper 14358. Hellwig Systemic Risk in the Financial Sector: An Analysis of the Subprime-Mortgage Financial Crisis, De Economist 157 (2009), 129. Kienbaum Management Beratung Vergütungsstudie Leitende Angestellte in Banken 2009, 16. 12. 09. Vaubel Finanzmarktkrise: Die staatliche Verantwortung, Grundmann/ Hofmann/ Möslein (Hrsg.) Finanzkrise und Wirtschaftsordnung (2009 a), S. 119. Vaubel Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension, ORDO 60 (2009 b), 247.
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Georg Hermes
Staat und Markt Staat und Markt Georg Hermes
Georg Hermes Das Wirtschaftsstrafrecht sieht sich durch die Finanzkrise vor Probleme gestellt, die es nach Unterstützung auch durch einen Vertreter des öffentlichen Rechts, vor allem des Verfassungsrechts und des öffentlichen Wirtschaftsrechts, rufen lassen. Von der Perspektive dieser Disziplinen auf das Verhältnis von Staat und Markt erhofft man sich offenbar Hilfestellung bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie das Wirtschaftsstrafrecht auf die Herausforderungen der Finanzkrise reagieren soll oder darf. Vor allzu großen Hoffnungen ist allerdings schon an dieser Stelle zu warnen. Zurückhaltung ist nicht in erster Linie wegen des durchaus schwierigen Verhältnisses zwischen Straf- und Verfassungsrecht1 angezeigt, sondern vor allem deshalb, weil die jüngeren Entwicklungen des öffentlichen Wirtschaftsrechts durch eine Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen Staat und Markt geprägt sind, die den rechtsstaatlichen Erwartungen des Strafrechts nur schwer genügen können. Mit der gebotenen Vorsicht beschränke ich mich deshalb darauf, das Modell von Staat und Markt kurz zu skizzieren (I.), einige Phänomene zu skizzieren, die seine Leistungsfähigkeit insbesondere aus der Perspektive des öffentlichen Wirtschaftsrechts in Frage stellen (II.). Auf der Grundlage von verwaltungs- und verfassungsrechtlichen Konzepten, die auf diese Entwicklungen eine Antwort suchen (III.), schließen einige Bemerkungen zu möglichen Konsequenzen für das Wirtschaftsstrafrecht den Beitrag ab (IV.).
Gliederung I. Das Modell von Staat und Markt 1. Wesentliche Elemente des Modells 2. Die bleibende Bedeutung der funktionalen Differenzierung 3. Aktualität insbesondere für das Strafrecht II. Die Fragwürdigkeit des Modells aus der Perspektive des öffentlichen Wirtschaftsrechts 1. Öffentliche und gemischtwirtschaftliche Unternehmen
1
Anhaltspunkte dafür unten bei Fn. 17 ff.
Staat und Markt
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2. Public-Private-Partnership 3. Dritter Sektor 4. Regulierung der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch Private 5. Finanzmarktaufsicht III. Theoretische und dogmatische Neuansätze 1. Gewährleistungsverwaltungsrecht 2. Verfassungsrecht IV. Folgerungen für das Wirtschaftsstrafrecht
I.
Das Modell von Staat und Markt
Mit dem Titel „Staat und Markt“ wird ein Modell aufgerufen, ein Modell von großer Einfachheit und ein Modell, das sich trotz oder wegen dieser Einfachheit durch eine nach wie vor große Wirkungsmacht auszeichnet.
1.
Wesentliche Elemente des Modells
Die wesentlichen Elemente des Modells sind hier nur kurz in Erinnerung zu rufen. Die staatliche Seite ist danach die verfasste Selbstorganisation des politischen Gemeinwesens, die materiell durch ihre Gemeinwohlorientierung legitimiert und in allen ihren Entscheidungen demokratisch radiziert sein muss. Sie ist in allen ihren Handlungs- und Organisationsformen grundrechtlich gebunden und darf deshalb jedenfalls dann nur aufgrund klarer und parlamentarisch entschiedener Befugnisse tätig werden, wenn sie grundrechtlich gewährleistete Freiheitsbereiche beschränkt. Demgegenüber ist der „Markt“ das Feld der Interaktion freier Akteure, die Leistungen austauschen, dabei unter dem Schutz der Grundrechte – insbesondere der Berufsfreiheit und der Eigentumsgarantie – agieren und deren legitimer Eigennutz nicht als „Gier“ diffamiert werden darf, sondern als modellkonformer Geschäftssinn zu qualifizieren2 ist. Obwohl das Bundesverfassungsgericht bereits früh die „wirtschaftspolitische Neutralität“ des Grundgesetzes betont hat,3 kommt dem Modell durchaus 2
3
Hassemer in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S 36. BVerfGE 4, 7; 50, 290.
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auch in der verfassungsgerichtlichen Praxis erhebliche Bedeutung zu. Staatliche Eingriffe in den Bereich der Wirtschaft etwa in Gestalt von Marktordnungen werden als rechtfertigungsbedürftige Ausnahmen angesehen,4 die nach ihrer Zweckerfüllung wieder aufzuheben sind. „Dann muß grundsätzlich wieder Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung herrschen.“5 Der „grundsätzlich freie Wettbewerb der als Anbieter und Nachfrager auf dem Markt auftretenden Unternehmer als eines ihrer Grundprinzipien“6 wird etwa als Grundlage der – eigentlich negierten – Wirtschaftsverfassung genannt.
2.
Die bleibende Bedeutung der funktionalen Differenzierung
Diese theoretische Distinktion von Staat und Markt, allgemeiner von Staat und Wirtschaft und noch allgemeiner von Staat und Gesellschaft, ist aus verfassungsrechtlicher Perspektive ohne erkennbare Alternative. Die Regelungskonzeption des Grundgesetzes ist und bleibt in vielfältiger Weise auf die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft bezogen. Das gilt nicht nur für die Gewährleistungen grundrechtlicher Freiheit, sondern auch für wesentliche Elemente des Demokratie- und des Rechtsstaatsprinzips. Dieser Verweis auf die verfassungsrechtliche Unverzichtbarkeit der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft gilt allerdings nur im Sinne einer funktionalen Differenzierung im Rahmen konkret verfasster politischer Gemeinwesen, in denen „Staatlichkeit“ für das Handeln und Wirken der im Wege politischer Einheitsbildung konstituierten Gewalten im Sinne von „government“ steht.7 Wer in diesem Sinne an der Differenzierung zwischen Staat und Gesellschaft festhält, muss sich deshalb von der Erkenntnis des „schwindenden Gebrauchswertes des Staatsbegriffs“8 nicht irritieren zu lassen. Dass „der Staat“ 9 den Herausforderungen der Demokratisierung, Europäisierung, 4 5 6
7
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BVerfGE 18, 315, 327. BVerfGE 25, 1, 23. BVerfGE 32, 305, 317; weitere Hinweise auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei Schmidt Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 92 Rn. 24 ff. I. S. v. Hesse Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 11. Frankenberg Staatstechnik, 2010, S. 66 ff. Frankenberg Staatstechnik, 2010, S. 66 f., spricht in diesem Zusammenhang prägnant von „dem einsilbigen, einsamen und einheitlichen Staat“, der – im Gegensatz zum Rechts- oder Verfassungsstaat – „vor jeder normativen Verfassung“ liegt und „einst
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Transnationalisierung, Pluralisierung und Konstitutionalisierung nicht gerecht wird, dürfte inzwischen auch unter den Vertretern des öffentlichen Rechts zu den Allgemeinplätzen gehören.10 Auch eine sich den modernen Herausforderungen stellende Verfassungsrechtslehre hat sich allerdings Rechenschaft darüber abzulegen, ob die schlichte Differenzierung zwischen staatlichem und gesellschaftlichem Funktionszusammenhang noch in der Lage ist, die Wirklichkeit moderner Gesellschaften angemessen und für rechtliche Problemlösungen brauchbar zu rekonstruieren. Die Vielfalt der insbesondere systemtheoretisch inspirierten Positionen, die diese Frage verneinen, bedarf hier keiner Darstellung.11 Ihnen ist im Kern mit dem Hinweis zu begegnen, dass auch sie letztlich nicht umhin kommen, eine Sonderrolle des mit der Kurzbezeichnung „Staat“ versehenen politisch-administrativen Systems anzuerkennen, die in der Herstellung und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen besteht und damit letztlich im staatlichen Gewaltmonopol ihre Grundlage hat.
3.
Aktualität insbesondere für das Strafrecht
Der rechtsstaatlich und demokratisch fundierten Differenz von Staat und Gesellschaft kommt auch und gerade für das Strafrecht im Allgemeinen und für das Wirtschaftsstrafrecht im Besonderen bleibende Bedeutung zu. Bereits ein kurzer Blick auf die (Zwischen-)Ergebnisse der vorangegangenen Tagung zu den wirtschaftlichen Perspektiven, den strafrechtlichen und ethischen Grenzen der Handlungsfreiheit des Unternehmers bestätigt dies. So betont etwa Hassemer die eigene normative Ordnung und funktionale Struktur des Subsystems Wirtschaft, die vom staatlich gesetzten Recht der Wirtschaft zu respektieren und deren Systemvernunft mit Umsicht zu begegnen ist. Unter diesen Voraussetzungen müsse allerdings das Wirtschaftsstrafrecht durch „Festigkeit“ geprägt sein, deren rechtsstaatliche Basis vor allem in der Orientie-
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als juristische Person, Willenszentrum oder Staatspersönlichkeit in die vom Monarchen hinterlassene Leerstelle eingedacht“ wurde. Umfassend dazu Möllers Staat als Argument, 2000; s. auch Rupp Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 31. Vgl. jüngst den – kursorischen – Rundgang durch die zeitgenössische Theorie- und Begriffswelt des Staates von Frankenberg Staatstechnik, 2010, S. 61 ff.; s. auch Hermes Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, S. 139 ff.
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rung am Schutz konkreter Rechtsgüter gesucht wird.12 Nur sie sei in der Lage, handfeste, klar konturierte und gut kontrollierbare Kriterien für das Wirtschaftsstrafrecht zu liefern.13 Auch Prittwitz hat das rechtsstaatliche Arsenal der Begrenzungsprinzipien – Rechtsgüterschutz, ultima ratio, Akzessorietät und Subsidiarität, vor allem aber Bestimmtheitsgrundsatz und Schuldgrundsatz – deutlich in Erinnerung gerufen und auf markante Diskrepanzen zwischen rechtsstaatlicher Idee und Wirklichkeit speziell im Wirtschaftsstrafrecht hingewiesen.14 Aus diesem Arsenal kommt dem Grundsatz der Akzessorietät für das Wirtschaftsstrafrecht – auch und insbesondere im Angesicht der Finanzkrise – besondere Bedeutung zu, weil offensichtlich niemand es dem Strafrecht zutraut oder zumutet, eigenständig und ohne Bezugnahme auf wirtschafts- und finanzmarktrechtliche Regulierung strafbewehrte Pflichten zu definieren.15 Wo Richter ohne Bezugnahme auf solche Regulierung strafrechtliche Sanktionen aussprechen, wird ihnen Dezision anstelle der gebotenen Interpretation vorgehalten, deren Ergebnisse – rechtsstaatswidrig – unberechenbar und mangels parlamentarischer Entscheidung zugleich undemokratisch seien.16 Aus der Perspektive des Verfassungsrechts sei an dieser Stelle allerdings eine kritische Nachfrage an die Adresse der Strafrechtswissenschaft gerichtet. Wie es scheint, ist nämlich das Verhältnis von materiellem Strafrecht und Verfassungsrecht erst vor etwas mehr als einem Jahrzehnt in einem umfassenden Sinne in das Blickfeld der Wissenschaft17 und der Rechtsprechung18 gerückt. Die Grenzen des Strafgesetzgebers wurden vielmehr über lange Zeit straf12
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Hassemer in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 34 f., 37 ff. Hassemer in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 38. Prittwitz in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 53 ff. Nestler in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 92 m. w. N. So – ohne expliziten rechtsstaatlichen Bezug – Salditt in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 109. Vgl. insb. Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996; Stächelin Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1997; I. Appel, Verfassung und Strafe, 1998; zuvor bereits Paulduro Die Verfassungsmäßigkeit von Strafrechtsnormen, 1992. Besondere Bedeutung kommt hier der „Cannabis-Entscheidung“ des BVerfG v. 9. 3. 1994 zu: BVerfGE 90, 128 ff.
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rechtsimmanent entwickelt und auch heute scheint dies noch der Fall zu sein. Grenzen für den Gesetzgeber bei der Schaffung neuer Straftatbestände können sich aus verfassungsrechtlicher Sicht aber nur dann ergeben, wenn die strafrechtsimmanenten Begrenzungslehren Ausdruck oder spezifisch strafrechtliche Konkretisierung verfassungsrechtlicher Normen sind. 19 Umgekehrt scheint sich das Strafrecht den selbstverständlichen Anforderungen insbesondere des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprinzips beharrlich zu entziehen, indem es sich mit dem Hinweis auf eine nicht überprüfbare generalpräventive Wirkung strukturell einer gehaltvollen Prüfung seiner Geeignetheit und Erforderlichkeit entzieht. Hier dürfte ein wesentlicher Grund dafür liegen, dass sich der Ruf nach einer Verschärfung des Strafrechts der Politik stets als wohlfeiles Mittel zur Vermeidung substantieller rechtlicher Problembewältigung anbietet.
II.
Die Fragwürdigkeit des Modells aus der Perspektive des öffentlichen Wirtschaftsrechts
Obwohl die funktionale Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, die sich für den hier interessierenden Lebensbereich als die Differenz von staatlicher Steuerung und Selbstregulierung des Marktes abbilden lässt, aus verfassungsrechtlicher Perspektive ohne Alternative ist, sind die konkreten Phänomene, mit denen sich das öffentliche Wirtschaftsrecht konfrontiert sieht, mit Hilfe dieser Differenz kaum noch einzufangen. Wenn man zunächst die staatliche Verantwortung für die Wirtschaft in dem Sinne, dass der Staat die Wirtschaft durch zivil- und wirtschaftsrechtliche Regeln zu ordnen, für ihre gerichtliche Durchsetzung Sorge zu tragen, Wettbewerb zu sichern und ein funktionierendes Währungswesen zu gewährleisten hat, als selbstverständlich voraussetzt,20 so bleiben darüber hinaus eine Reihe von Phänomenen, die einer offensichtlichen Grauzone zwischen Staat und Markt zuzuordnen sind. Dazu mögen hier einige Hinweise genügen, die allein das Ziel verfolgen, einen Eindruck von der Vielfalt zu vermitteln, die das Bild von einer klaren Trennungslinie zwischen staatlicher Organisation und hoheitlicher Aufgabenwahrneh-
19 20
Vgl. zu diesem Zusammenhang zutreffend Appel Verfassung und Strafe, 1998, S. 47 f. Zusammenfassend dazu jüngst etwa Heun Der Staat und die Finanzkrise, JZ 2010, S. 53, 58 f.; aus ökonomischer Perspektive Weede Die Finanzmarktkrise als Legitimitätskrise des Kapitalismus: Überlegungen zu (allzu) menschlichem Handeln in Wirtschaft und Politik, ORDO 60 (2009), S. 267, 268 ff.
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mung einerseits und privater unternehmerischer Initiative auf dem Markt andererseits bis zur Unkenntlichkeit modifiziert hat.
1.
Öffentliche und gemischtwirtschaftliche Unternehmen
Bei einem ersten Blick auf die Akteure als organisatorisch verfestigten Handlungseinheiten rücken alsbald die öffentlichen und die gemischtwirtschaftlichen Unternehmen in den Mittelpunkt.21 Auf der Basis der nahezu allgemein anerkannten organisationsrechtlichen Gestaltungsfreiheit des Bundes, der Länder und der Kommunen, sich bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auch der Organisationsformen des privaten Gesellschaftsrechts zu bedienen, hat sich bekanntlich ein breites Spektrum öffentlicher, gemischtöffentlicher 22 und gemischtwirtschaftlicher Unternehmen herausgebildet, deren Status zwischen Staat und Markt selbst dort nicht mehr frei von Zweifeln ist, wo die traditionelle Grundrechtsdogmatik strikt daran festhält, dass sich die grundrechtsgebundene hoheitliche Gewalt nicht durch eine Flucht in das Privatrecht ihrer Grundrechtsbindung entziehen könne. Als Beispiel sei insoweit nur verwiesen auf die verfassungsrechtliche Vorgabe in Art. 87 e Abs. 3 GG, wonach Eisenbahnen des Bundes auch dann als „Wirtschaftsunternehmen“ geführt werden, wenn die Anteile dieser Unternehmen vollständig vom Bund gehalten werden. Gleiches galt für Dienstleistungen im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation, weil diese unabhängig von dem Anteil des Bundes an den Unternehmen gem. Art. 87 f Abs. 2 GG als „privatwirtschaftliche Tätigkeiten“ erbracht wurden.23 Auch jenseits dieser beiden verfassungsrechtlich explizit geregelten Sonderfälle stellt sich die Frage, warum zulässigerweise wirtschaftlich agierende öffentliche Unternehmen nicht derselbe (Grundrechts-)Status zukommen soll wie konkurrierenden Privatunternehmen.24 21
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Mit Blick auf die Finanzkrise sind hier als öffentliche Institute die SachsenLB, die WestLB AG, die LBBW oder die Bayrische LB zu nennen. Gemischtwirtschaftlich strukturiert sind etwa die IKB oder die HSH Nordbank; s. die Übersicht bei Siekmann Die Verwaltung 43 (2010), S. 95, 101. Unternehmen, an denen verschiedene Träger öffentlicher Verwaltung (z. B. Bund, Land und Gemeinde) beteiligt sind. S. dazu – allerdings nur auf die einfachgesetzliche Umsetzung dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe abstellend – BVerfGE 115, 205, 227 f. S. etwa Klein Die Teilnahme des Staates am wirtschaftlichen Wettbewerb, 1968, S. 235; jüngst etwa Kühne Anmerkung, JZ 2009, S. 1071 ff. (betr. die Kammerent-
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Noch wesentlich schwieriger und umstrittener stellt sich das weite Feld der gemischtwirtschaftlichen Unternehmen dar. Konzentriert man die Frage nach deren Status im Spannungsfeld zwischen verfasster Staatlichkeit und wirtschaftlicher Freiheitsbetätigung am Markt auf die Frage der Grundrechtsberechtigung, so ist vor allem auf eine überraschende25 Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1989 zu verweisen,26 die der Hamburgischen Electrizitäts-Werke AG den Grundrechtsschutz verweigerte, weil an ihr die Freie und Hansestadt Hamburg mit 72% der Aktien beteiligt war und deshalb über einen bestimmenden Einfluss auf das Unternehmen verfügte. Daneben verweist die Kammer auf die strengen gesetzlichen Bindungen des Unternehmens durch das Energiewirtschaftsgesetz, die von „einer privatrechtlichen Selbständigkeit nahezu nichts übrig“ lasse. Das gleiche Schicksal ereilte erst kürzlich die Mainova AG,27 weil sie aufgrund einer Aktienmehrheit von mehr als 75% durch die Stadt Frankfurt beherrscht werde und außerdem die von ihr wahrgenommene Energieversorgung als öffentliche Aufgabe zu qualifizieren sei. Die „dilemmatische Grundstruktur“28 des Problems der Grundrechtsberechtigung gemischtwirtschaftlicher Unternehmen, die letztlich nur durch einen Verzicht der öffentlichen Hände auf eine Beteiligung an privatrechtlich organisierten Unternehmen aufzulösen wäre, kann als symptomatisch für die Schwierigkeiten gelten, denen sich insbesondere das öffentliche Recht im Umgang mit den zunehmenden Grauzonen zwischen Staat und Markt gegenübersieht. Probleme vergleichbarer Dimension werden deutlich, wenn etwa bei öffentlichen oder gemischtwirtschaftlichen Unternehmen auf kommunaler Ebene die spezifisch öffentlich-rechtlichen – demokratisch fundierten – Transparenzgebote und die Mitwirkungsrechte der parlamentarischen Vertretungsorgane in offenen Konflikt mit den gesellschafts- und insbesondere aktienrechtlichen Regelungen geraten.29
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scheidung des BVerfG zur fehlenden Grundrechtsberechtigung der Mainova AG, s. u. Fn. 27). So die Einschätzung von Dreier in: Ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 19 III Rn. 73. BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 1990, S. 1783; Einzelheiten dazu und zu den Reaktionen des Schrifttums bei Hermes Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, S. 84 ff. BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), JZ 2009, S. 1069. Dreier in: Ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 19 III Rn. 76. Zu Weisungsrechten der öffentlichen Hand gegenüber ihren Vertretern in gemischtwirtschaftlichen Unternehmen s. Leisner GewArch 2009, S. 337 ff.; zur Weisungsgebundenheit von Vertretern der Gemeinde im fakultativen Aufsichtsrat einer GmbH s. OVG Münster, ZIP 2009, S. 1718 ff.; zur Verschwiegenheitspflicht der Auf-
34
2.
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Public-Private-Partnership
Den vielfältigen Formen einer Zusammenarbeit zwischen Verwaltungsträgern und privaten Wirtschaftssubjekten bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben auch jenseits einer Institutionalisierung in Form gemischtwirtschaftlicher Unternehmen nähert sich das öffentliche (Wirtschafts-)Recht durch den empirischen Sammelbegriff „Public-Private-Partnership“. Trotz seiner ersichtlichen Konturenschwäche eröffnet er doch immerhin eine Perspektive auf die Vielfalt der Kooperationsphänomene insbesondere auf vertraglicher Basis, die entsprechend einer jüngeren Untersuchung30 nach dem betroffenen Aufgabenbereich, nach der formalen und institutionellen Ausgestaltung und schließlich nach der (strategischen oder operativen) Ausrichtung der Kooperation typisiert werden können. Was zunächst die betroffenen Aufgabenbereiche angeht, so deckt bereits eine beispielhafte Auflistung wesentliche Bereiche der gesamten staatlichen Tätigkeit ab. Die Liste reicht von der Verkehrsinfrastruktur, insbesondere Straßen und Flughäfen, über den öffentlichen Hochbau (Schul- und Verwaltungsgebäude, Bibliotheken, Krankenhäuser, Justizvollzugsanstalten, Sport- und Freizeiteinrichtungen), die Ver- und Entsorgung, den öffentlichen Personennahverkehr, Bildung und Wissenschaft bis hin zur Stadt- und Regionalentwicklung, Wirtschaftsförderung, Tourismus, Kultur, Umweltschutz, Sozialpolitik, Entwicklungszusammenarbeit sowie innere Sicherheit (sog. Police Private Partnership). Unter der Perspektive der formalen und institutionellen Ausgestaltung werden neben der Kooperation in gemischtwirtschaftlichen Gesellschaften (siehe oben) informelle und austauschvertragliche Kooperationen unterschieden. Bei den Letztgenannten haben sich standardisierte Vertragsmodelle herauskristallisiert, die nach Betriebsführungsmodellen mit der Übertragung des Betriebs einer Anlage auf einen privaten Partner für eine kürzere Laufzeit und nach Betreibermodellen unterschieden werden. Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass der private Kooperationspartner für eine längere Laufzeit ein umfangreiches Leistungspaket übernimmt, etwa die Planung, die Finanzierung, den Bau, den Betrieb und ggfs. die Verwertung einer Anlage,31 was schließlich die strategische oder ope-
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sichtsratsmitglieder einer kommunalen Eigengesellschaft in der Rechtsform einer mitbestimmten GmbH s. Ganzer/Tremmel GewArch 2010, S. 141 ff. Ziekow/Windoffer Public Private Partnership, 2008, S. 17 ff. mit ausführlichen Nachweisen. Siehe dazu die Einzelheiten bei Ziekow/Windoffer Public Private Partnership, 2008, Seite 21 ff.
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rative Ausrichtung angeht, so wird unterschieden nach der Kooperation für die Durchführung konkreter Projekte (Operative PPP) und nach strategischen Kooperationen unterschieden, die der Planung und Ausarbeitung von Programmen, Strategien und Konzepten sowie ggf. der Initiierung und Begleitung von operativen Partnerschaften auf Basis der erarbeiteten Strategien dienen. Jenseits einer kaum Erfolg versprechenden Suche nach einer gemeinsamen Definition dieser Phänomene dürfte jedenfalls ein gemeinsames Merkmal darin liegen, dass sie dazu dienen, der öffentlichen Hand „Finanzierungsquellen zu erschließen oder auch um privates Know how der Wirtschaft einzubinden“.32
3.
Dritter Sektor
Richtet man kritische Fragen an die Unterscheidung zwischen Staat und Markt aus der Perspektive der Staatsaufgaben oder der öffentlichen Aufgaben, so zeigen sich Auflösungserscheinungen einer vermeintlichen Grenzlinie vor allem dort, wo Private jenseits der erwähnten organisatorischen oder vertraglichen Kooperationsformen an der Wahrnehmung staatlicher oder öffentlicher Aufgaben beteiligt werden. Das Thema „Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung“33 hat in jüngerer Zeit vor allem vor dem Hintergrund eines gestiegenen Bewusstseins der Grenzen staatlicher Ressourcen, umfangreicher Privatisierungen und der Forderung nach einem Privatisierungsfolgenrecht und einem (Re-)Regulierungsrecht gesteigerte Aufmerksamkeit erfahren.34 Allerdings stellt die Beteiligung Privater an der Erfüllung öffentlicher Aufgaben in freiheitlichen Ordnungen eine Alltäglichkeit dar. Insbesondere das steuerliche Gemeinnützigkeitsrecht als eine Form staatlicher Förderung freiwilligen gemeinwohldienlichen privaten Engagements kann auf eine lange Geschichte zurückblicken.35 Als ein Sektor öffentlicher Einrichtungen, der weitgehend mit dem international etablierten Nonprofit- oder Dritten-Sektor deckungsgleich ist, 32
33
34 35
Janning in: Walcha/Hermanns (Hrsg.), Partnerschaftliche Stadtentwicklung, 1995, Seite 40, 47. So ein Thema der Jahrestagung 2002 der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Berichterstatter Heintzen und Voßkuhle) dokumentiert in VVDStRL 62 (2003), S. 220 ff., 266 ff. Nachweise dazu bei Voßkuhle VVDStRL 62 (2003), S. 266, 268 f. Zur Neuinterpretation des steuerlichen Gemeinnützigkeitsrechts im Lichte der modernen Diskurse das Verhältnis von Staat und Gesellschaft betreffend s. die Frankfurter Habilitationsschrift von Droege Gemeinnützigkeit im offenen Steuerstaat, 2008 (Manuskript).
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gehören Solidarität, Gemeinwohlorientierung und Verantwortung zu den zentralen Elementen seiner prägenden Handlungslogik.36 In Deutschland lässt sich dieser Sektor unterteilen in das staatsnah organisierte, korporatistische Wohlfahrtswesen einerseits und die durchaus um Distanz zum Staat bemühten Einrichtungen der Zivilgesellschaft, die sich insbesondere in den Bereichen Kunst und Kultur, Umwelt und Naturschutz oder auch Sport und Erholung finden.
4.
Regulierung der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch Private
Die jüngste und wohl prominenteste Perspektive auf das sich wandelnde und nicht (mehr) mit Hilfe klarer Trennungslinien rekonstruierbare Verhältnis von Staat und Markt wird durch den Begriff der (Re-)Regulierung benannt.37 Obwohl über die genauen Konturen des „neuen“ Regulierungsrechts noch keine Klarheit herrscht, besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Entwicklung des öffentlichen Wirtschaftsrechts geprägt ist durch eine Ergänzung traditioneller ordnungsrechtlicher Instrumente um neue Formen staatlicher Steuerung, die zielgerichtet „auf einen Wirtschaftssektor oder auf den wirtschaftlich geprägten Teil eines Lebensbereichs einwirkt, um sowohl Bedingungen für Wettbewerb zu schaffen und aufrechtzuerhalten als auch anstelle einer staatlichen Eigenvornahme die Gemeinwohlsicherung im betreffenden Sektor oder Lebensbereich zu garantieren“.38 Die „Entdeckung“ des Regulierungsrechts in Deutschland und Europa geht zurück auf den Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt setzte vor dem Hintergrund gewandelter ordnungspolitischer Grundpositionen eine vor allem auf europäischer Ebene vorangetriebene Entwicklung ein, in deren Verlauf vor allem die Sektoren des Postwesens, der Telekommunikation, des Eisenbahnwesens und der Energieversorgung, die zuvor durch – staatliche oder private – Monopole geprägt waren, in eine wettbewerbliche Ordnung überführt wurden. Diese auf einer ersten Stufe durch Privatisierung und Liberalisierung zu charakterisierenden Prozesse wurden auf einer zweiten Stufe ergänzt oder kompensiert durch ein dicht ge36
37 38
Zimmer/Priller Gemeinnützige Organisationen im gesellschaftlichen Wandel, 2. Aufl. 2007, S. 19. S. dazu nur Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010. So der Definitionsversuch von Ruffert in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 7 Rn. 58.
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37
knüpftes Netz rechtlicher Vorgaben für die auf den neuen Märkten agierenden Akteure. Diese Vorgaben lassen sich grob unterteilen in solche, die der Herstellung und Förderung von Wettbewerb insbesondere dort dienen, wo aufgrund natürlicher (Netz-)Monopole eine Liberalisierung allein nicht zu funktionierenden Märkten führen konnte, und solche, die im Interesse bestimmter Gemeinwohlziele, zu denen insbesondere eine flächendeckende Versorgung zu angemessenen Bedingungen zählt, Marktversagen kompensieren sollen. In die erste Gruppe gehören vor allem die umfangreichen Regelungen zu den Pflichten der Netzbetreiber, die als Monopol- oder marktbeherrschende Unternehmen Dritten zu angemessenen Bedingungen Zugang zu ihren Netzen gewähren müssen. Der zweiten Gruppe zuzurechnen sind insbesondere Regelungen, die in der Kontinuität des traditionellen Konzepts der Daseinsvorsorge eine flächendeckende Grundversorgung (Universaldienst) sicherstellen oder Belange des Umweltschutzes in die wettbewerbliche Ordnung des Sektors integrieren sollen.39 Bei der Entwicklung des Regulierungsrechts auf europäischer und nationaler Ebene standen offensichtlich US-amerikanische Vorbilder Pate.40 Dabei verlief die Entwicklung allerdings in Europa in umgekehrter Richtung: Während die ca. hundert Jahre früher einsetzende amerikanische Regulierung insbesondere des Eisenbahnwesens als Reaktion auf konkret vorgefundene Symptome eines Marktversagens interpretiert werden können, handelt es sich bei der europäischen Variante der Regulierung um ein Instrument zur Etablierung von Wettbewerb zur Erreichung von Gemeinwohlzielen. Markt und Wettbewerb haben danach instrumentelle Funktion und ihre Reichweite hängt somit davon ab, ob und inwieweit der Markt die Ergebnisse erzielt, die die Politik als Ziel definiert. Zur Erläuterung mag ein Blick auf die aktuelle Rechtsentwicklung auf dem Gebiet der Elektrizitätsversorgung dienen. Hier ist die aktuelle Situation vor dem Hintergrund des politischen Ziels einer Förderung erneuerbarer Energien und wegen des zunehmenden europaweiten Stromaustauschs geprägt durch einen Mangel an Übertragungskapazitäten. Den vertikal integrierten Energieversorgungsunternehmen, die sowohl im Bereich der Produktion und der Vermarktung von Elektrizität als auch im Bereich der Übertragung tätig sind, begegnet insbesondere das neue Richtlinienrecht der Union mit dem Verdacht, kein ausreichendes Eigeninteresse an dem Ausbau neuer Netzkapa39
40
Hierher gehört aus dem Bereich der Energieversorgung etwa das Konzept der Einspeisevergütungen nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz. Dazu ausführlich Lepsius in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 1.
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zitäten zur Durchleitung „fremden“ Stroms zu haben. Mangels politischer Durchsetzbarkeit eines „harten“ Entflechtungsregimes, mit dessen Hilfe das Eigeninteresse des wirklich unabhängigen Netzbetreibers an einem bedarfsgerechten Netzausbau nachhaltig hätte gestärkt werden können, wurden Regulierungsinstrumente entwickelt, mit deren Hilfe auch ein „widerwilliger“ Netzbetreiber dazu veranlasst werden kann, die notwendigen Investitionen zu tätigen. Das sog. dritte Energiebinnenmarktpaket41 sieht dazu einen – verbindlichen – zehnjährigen Netzentwicklungsplan vor,42 der von den Übertragungsnetzbetreibern jährlich vorzulegen ist. Entscheidend dabei ist, dass die nationale Regulierungsbehörde nach „offenen und transparenten Konsultationen“ mit „allen tatsächlichen und potenziellen Netzbenutzern“ das Letztentscheidungsrecht über die konkrete Gestalt des Netzentwicklungsplans hat43 und auch über ein Plan-Durchsetzungsinstrumentarium verfügen muss, das bis hin zur Finanzierung, Errichtung und Betrieb eines Leitungsvorhabens durch Dritte reicht.44 Regulierung in dem hier vorgestellten Sinne kann also im Einzelfall den vollständigen Verlust der Investitions(planungs)freiheit der regulierten Unternehmen bedeuten.
5.
Finanzmarktaufsicht
Die Finanzmarktaufsicht über Banken, Börse, Versicherungen und Kapitalmarkt45 lässt sich dem zuvor knapp umrissenen Regulierungskonzept schon deshalb nicht ohne weiteres zuordnen, weil es der Finanzmarktaufsicht nicht um die Herstellung von Wettbewerb geht.46 Sie findet ihre historischen und systematischen Wurzeln vielmehr in einem traditionellen Konzept der staatlichen Aufsicht über „vorgefundene“ Wirtschaftsaktivitäten,47 hat sich aber 41
42 43 44 45
46
47
Als deren Teil wurde die hier allein interessierende Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13. 7. 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG, ABl.EG Nr. L 211 v. 14. 8. 2009, S. 55 ff., erlassen. Art. 22 EltRL 2009. Art. 22 Abs. 5 letzter Satz der EltRL 2009. Art. 22 Abs. 7 der EltRL 2009. S. dazu die Übersicht aus öffentlich-rechtlicher Perspektive von Röhl in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 18. Anders der übliche Wortgebrauch z. B. des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der das Bankensystem weltweit zu den besonders stark regulierten Sektoren zählt (Jahresgutachten 2008/09, Tz. 257). Nachdrücklich für die Beibehaltung dieses Konzeptes Siekmann Die Verwaltung 43 (2010), S. 95, 109.
Staat und Markt
39
wegen der Besonderheiten des Aufsichtsgegenstandes und den daraus sich ergebenden Zielen des Systemschutzes und des Marktfunktionsschutzes zu einer Art „symbiotischer Verwaltung“ entwickelt, die das tägliche Handeln der beaufsichtigten Unternehmen begleitet und teilweise mitformt. 48 Im Recht der Versicherungs- und Bankenaufsicht wird diese Entwicklung offenbar als „materielle Staatsaufsicht“ beschrieben.49 Ein zentrales Element dieser Osmose von Staat und Finanzwirtschaft betrifft offensichtlich die Normsetzung unter wesentlicher Beteiligung der Normadressaten, die durch „Empfehlungen, Richtlinien, Codices, Übereinkünfte, ,good practice‘ und vieles mehr“50 geprägt und darüber hinaus durch ihre Einbindung in ein komplexes Mehrebenensystem wenig durchschaubar ist.51 Hinzu kommt eine starke Beteiligung der zu kontrollierenden Finanzwirtschaft an der Aufsichtsbehörde (§ 7 Abs. 3 FinDAG). Diese Beobachtungen gelten ungeachtet der neuen Instrumente zur Bewältigung der Finanzkrise, die insbesondere durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Finanzmarktstabilisierung vom 17. 7. 2009 geschaffen wurden (Stichwort „Bad Bank“).52
III.
Theoretische und dogmatische Neuansätze
Betrachtet man diese Entwicklungen in einer Gesamtschau aus der Perspektive einer Suche nach einem leistungsfähigen Konzept zur (Neu-)Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft, so vermag es nicht zu überraschen, dass die Verwaltungs- und Verfassungsrechtslehre hier nicht mit neuen Großformeln einfache Konzepte anbieten kann.
1.
Gewährleistungsverwaltungsrecht
Immerhin scheint sich mit dem Leitbild des „Gewährleistungsstaates“, das mit den Schlüsselbegriffen der „regulierten Selbstregulierung“ und der „Verantwortungsteilung“ verbunden ist, unter den Vertretern des öffentlichen 48 49
50 51
52
So Röhl in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 18 Rn. 90. Nachweise dazu bei Röhl in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 18 Rn. 90. Siekmann Die Verwaltung 43 (2010), S. 95, 102. Übersicht bei Röhl in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, 2010, § 18 Rn. 106 ff. S. nur die Zusammenfassung der wesentlichen Elemente bei Siekmann Die Verwaltung 43 (2010), S. 95, 100.
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Rechts ein Konzept zu etablieren, auf das mit Ertrag für die weitere Ordnungsbildung zurückgegriffen werden kann.53 Aus verwaltungsrechtlicher Perspektive hat das Konzept den Blick für eine Entwicklung geschärft, die die traditionellen Erscheinungsformen der ordnenden Verwaltung und der Leistungsverwaltung hinter sich gelassen hat und auf die Organisation, Förderung und Optimierung von Märkten und Wettbewerbsstrukturen zielt, denen Gesetzgeber und Verwaltung eine sozialgerechte Selbstorganisationsfähigkeit zumindest partiell absprechen.54 Die sich erst in Umrissen abzeichnenden Systemlinien eines Gewährleistungsverwaltungsrechts55 orientieren sich an der Funktion, die in Wirtschaft und Gesellschaft vorhandenen Potentiale für die Verfolgung öffentlicher Zwecke dadurch nutzbar zu machen, dass in Gestalt verfahrensrechtlicher Anforderungen, organisatorischer Elemente und inhaltlicher Vorgaben eine Gewährleistungsstruktur aufgebaut wird, die staatliche und private Aufgabenbeiträge miteinander vernetzt. Dabei besteht offensichtlich die größte Problematik darin, das in Wirtschaft und Gesellschaft vorhandene Wissen ohne Kontroll- oder Steuerungsverlust verfügbar zu machen.56 Kontextsteuerung und Prozeduralisierung sind prägende Elemente des Regulierungskonzeptes. So lässt sich etwa die Rezeption privater Normbestände wohl nur über prozedurale Normen rechtlich steuern. Zentrale Themenfelder einer erst im Entstehen begriffenen Dogmatik des Gewährleistungsverwaltungsrechts sind die Ergebnissicherung, die Qualifikation und Auswahl privater Akteure, der Schutz von Rechten Dritter und vor allem die Modi der Lenkung und Kontrolle, weil die Beteiligung privater Akteure unweigerlich zu staatlichen Lenkungs- und Kontrollverlusten führen muss. Hier geht es insbesondere um die Fortentwicklung traditioneller Wirtschaftsaufsicht mit Hilfe begleitender Aufsichtselemente (z. B. Beiräte), moderner Formen der Eigenüberwachung (z. B. Auditierungsverfahren) sowie der Ausweitung von Publizitätsgeboten sowie Dokumentations-, Informations- und Berichtspflichten. Auch die Etablierung privater Kontrollstruktu53
54
55 56
Vgl. dazu nur die ausführlichen Nachweise bei Voßkuhle VVDStRL 62 (2003), S. 266, 284 f.; Schuppert (Hrsg.), Der Gewährleistungsstaat – Ein Leitbild auf dem Prüfstand, 2005; Schulze-Fielitz in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2006, § 12 Rn 18, 91 ff. Schulze-Fielitz in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2006, § 12 Rn 18. Voßkuhle VVDStRL 62 (2003), S. 266, 307 ff. Wenn in diesem Zusammenhang von der produktiven Verkopplung privaten und öffentlichen Wissens die Rede ist (so Voßkuhle aaO, S. 308), bleiben etwa im Hinblick auf die Finanzmarktregulierung Zweifel, ob mit derartigen harmonisierenden Konzepten das Wissensproblem angemessen bewältigt werden kann.
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ren (Haftpflichtversicherung) oder die obligatorische Einbeziehung Dritter in die Überwachung gehören in diesen Zusammenhang.
2.
Verfassungsrecht
Sehr viel schwieriger gestaltet sich die Reaktion des Verfassungsrechts auf die neuen Phänomene wie das Leitbild des Gewährleistungsstaates. Das erwähnte Beispiel der Grundrechtsberechtigung gemischtwirtschaftlicher Unternehmen hat dies bereits gezeigt. Vergleichbare Schwierigkeiten lassen sich bereits seit langem an der Problematik der Enteignung zugunsten Privater beobachten, die das Bundesverfassungsgericht dadurch zu entschärfen versucht, dass es zulässigerweise enteignungsbegünstigte private Unternehmen mehr oder weniger überzeugend der staatlichen Seite zuordnet, weil bei ihnen die Gewinnerzielungsabsicht durch öffentliche Zwecke insbesondere der Daseinsvorsorge „überlagert“ sei.57 Die Verfassung ist bereits von ihrem Ansatz her offensichtlich nicht auf ein Mixtum von Staat und Gesellschaft eingerichtet.58 Die Direktionskraft der Verfassung im Allgemeinen und der Grundrechte im Besonderen schwindet daher in dem Maße, in dem der Gewährleistungsstaat sich von der einfachen Konfrontation staatlicher Gewalt und gesellschaftlicher Freiheit verabschiedet und seinen Regelungsmodus auf den Interessenausgleich in komplexen multipolaren Beziehungsgefügen umstellt.59 Insbesondere dort, wo Märkte im Interesse besserer Gemeinwohlsicherung staatlich konstituiert werden, kann grundrechtliche Freiheit nur noch nach Maßgabe des konstituierenden Ordnungsrahmens wirksam werden. Das gilt nicht nur für solche Bereiche, in denen der Staat – wie z. B. beim Emissionshandel – offensichtlich Märkte erst durch die (Neu-)Schaffung handelsfähiger Rechte konstituiert und zweckgerichtet einsetzt, sondern allgemein. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang wiederholt betont: „Erfolgt die unternehmerische Berufstätigkeit nach den Grundsätzen des Wettbewerbs, wird die Reichweite des Freiheitsschutzes auch durch die rechtlichen Regeln mitbestimmt, die den Wettbewerb ermöglichen und begrenzen.
57
58
59
BVerfGE 66, 248, 257; ähnlich jüngst BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), B. v. 10. 9. 2008 – 1 BvR 19124/02 -, WM 2009, 422 ff. Grimm Regulierte Selbstregulierung in der Tradition des Verfassungsstaats, Die Verwaltung, Beiheft 4 (2001), S. 9, 19. So auch Voßkuhle VVDStRL 62 (2003), S. 266, 292.
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Art. 12 Abs. 1 GG sichert in diesem Rahmen die Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen“.60 Man mag dies aus der Perspektive eines liberalen Grundrechtsverständnisses kritisieren. 61 Dennoch handelt es sich bei dieser Entwicklung (nicht nur der Berufsfreiheit) zu einem normgeprägten Grundrecht um eine wohl unausweichliche Konsequenz der Entwicklung zum Gewährleistungsstaat. In ihr kann der „Markt“ nicht mehr als eine Form vorgefundener „natürlicher“ Freiheit verstanden werden, sondern nur als eine durch staatliches Recht konstituierte Veranstaltung, mit deren Hilfe das politische Gemeinwesen seiner Gewährleistungsverantwortung nachkommt, indem es marktwirtschaftliche Prozesse mit vielfältigen Modifikationen, Grenzen und Rahmenbedingungen in Gang setzt, ermöglicht, fördert und zugleich begrenzt. Mit Blick auf die Gemeinwohlfunktion unternehmerischer Betätigung, die in der Konsequenz eines funktionalen Verständnisses „des Marktes“ im Konzept des Gewährleistungsstaates liegt, könnten die gemeinwohlbezogenen Erwartungen an Unternehmen und Unternehmer auch auf das Grundrechtsverständnis allgemein durchschlagen. Es stellt sich nämlich die Frage, ob Gemeinwohlbindungen oder Gemeinwohlerwartungen an unternehmerisches Handeln allein als Ergebnis und nach Maßgabe gesetzlicher Freiheitsbeschränkungen verfassungsrechtliche Relevanz zukommt oder ob die Grundrechte selbst bereits implizit einen „vernünftigen“ – gemeinwohlverträglichen – Freiheitsgebrauch voraussetzen. Die Frage, welches Subjekt die Grundrechte in ihrem Zentrum haben, den „rational actor”, der nur seine eigenen Interessen im Auge hat und jederzeit die Ellenbogen ausfährt, wenn es ihm nützlich erscheint, oder nicht vielleicht doch den moralisch Handelnden, den „reasonable man”, der von diesen Rechten keinen beliebigen, sondern einen verantwortlichen Gebrauch macht, ist nicht neu.62 Obwohl sich die klare Mehrheit der Verfassungsrechtslehre für die erste Alternative entschieden hat,63 sieht sich diese Position mit der zunehmenden Angewiesenheit des Staates auf Gemeinwohlbeiträge Privater nicht erst im Zuge der Finanzkrise auf den Prüfstand gestellt. Es erscheint als eine durchaus offene Frage, ob es dem (re-)regulierenden Gewährleistungsstaat gelingen kann, die erforderlichen Gemeinwohlbeiträge 60 61
62
63
BVerfGE 105, 252, 265; 115, 205, 229; 116, 135, 152. S. nur Schmidt Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 3. Aufl. 2006, § 92 Rn. 28 f. So etwa – mit deutlicher Priorität für die zweite Alternative – Volkmann Die Rückeroberung der Allmende, NVwZ 2000, S. 361, 367 m. w. N. in Fn. 53. Dezidiert jüngst Dreier Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, RW 2010, S. 11, 21 ff. auch mit Nachweisen der Gegenposition.
Staat und Markt
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Privater zu initiieren, wenn er seinen Regulierungsstrategien allein die Funktionslogik eines reinen Gewinnstrebens zugrunde legt.
IV.
Folgerungen für das Wirtschaftsstrafrecht
Um diese sehr kursorischen Anmerkungen zum Verhältnis von Staat und Markt aus der Sicht des öffentlichen Rechts in den wohlkomponierten Zusammenhang der Tagung zu stellen, bleibt am Ende die Frage unausweichlich, was aus alledem für das Wirtschaftsstrafrecht gefolgert werden kann. Mit aller Vorsicht, die jede Bewegung auf fremdem Terrain begleiten sollte, seien folgende Aspekte zur Diskussion gestellt. Zunächst könnten das Strafrecht im Allgemeinen und das Wirtschaftsstrafrecht im Besonderen auf die Vielfalt an Auflösungserscheinungen der Grenze zwischen Staat und Wirtschaft unbeeindruckt reagieren. Sie könnten nämlich darauf verweisen, dass sich jedenfalls in der Gegenüberstellung von staatlichen Strafverfolgungsorganen und Gerichten einerseits und beschuldigten Wirtschaftsakteuren andererseits strukturell die Differenz klar widerspiegelt, die anderenorts abhanden gekommen sein mag. Das könnte für die Ermittlungsbefugnisse der Strafverfolgungsorgane und das gerichtliche Verfahren plausibel erscheinen, obwohl auch hier in Gestalt von Verhandlungen und Absprachen offensichtlich kooperative Lösungen im Vormarsch sind.64 Für das materielle Wirtschaftsstrafrecht aber kann ein solcher Rückzug auf eine vermeintliche Insel rechtsstaatlicher Glückseligkeit nicht überzeugen, weil es dem Wirtschaftsstrafrecht offensichtlich an der erforderlichen Eigenständigkeit fehlt. Auch insoweit genügt ein Verweis auf den Vorläufer dieser Tagung, in dessen Rahmen die Akzessorietät als zentrales Element zur Begrenzung des Wirtschaftsstrafrechts mehrfach hervorgehoben wurde.65 An dieser Stelle sieht sich nun das öffentliche Wirtschaftsrecht erheblichem Erwartungsdruck von Seiten des Wirtschaftsstrafrechts ausgesetzt. Die Forderung nach strikter Akzessorietät nicht nur im Verhältnis von Wirtschafts64
65
S. nur Schünemann Die Zukunft des Strafverfahrens – Abschied vom Rechtsstaat? ZStW 119 (2007), S. 945 ff.; Leipold Die gesetzliche Regelung der Verständigung im Strafverfahren, NJW-Spezial 2009, S. 520 f.; Fischer Absprache-Regelung: Problemlösung oder Problem? StraFo 2009, S. 177 ff.; der Zusammenhang mit den Diskursen des öffentlichen Rechts ist hergestellt bei Lüderssen „Regulierte Selbstregulierung“ in der Strafjustiz? in: FS Fezer, 2008, S. 531 ff. S. oben bei Fn. 13 ff.
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strafrecht und Aktienrecht66 mündet nämlich unausweichlich in die Forderung, das Wirtschaftsverwaltungsrecht auszubauen,67 zu präzisieren und auf diese Weise als Grundlage einer akzessorischen Strafbarkeit zu qualifizieren. Aus Anlass der Finanzkrise sollen die Akteure auf den Finanzmärkten wieder engeren gesetzlichen Regelungen unterworfen werden mit der Folge, dass business wieder das business des business werden kann – wenn auch „innerhalb strenger und sorgfältig festgesetzter gesetzlicher Grenzen“.68 Wenn die hier nur in Umrissen nachgezeichneten Entwicklungslinien im Verhältnis zwischen Staat und Markt und seiner verwaltungsrechtlichen Ausformung nicht täuschen, so müssen diese Erwartungen zurückgewiesen werden. Als eine Ursache der neuen Entwicklungen lässt sich nämlich festhalten, dass wesentliche Voraussetzungen für eine materielle Steuerung in Gestalt verbindlicher Verhaltensregeln entfallen sind. Ein Gemeinsames der neuen Steuerungsmodi liegt ja gerade darin, dass im Zusammenwirken zwischen Staat und privaten Akteuren insbesondere die – nur oder überwiegend in den regulierten Unternehmen vorhandene – Ressource Wissen im Rahmen organisatorisch und verfahrensrechtlich ausgestalteter Gewährleistungsstrukturen nutzbar gemacht werden soll. Im Zusammenhang mit der Ressource Wissen geht es dabei auch um die Schwierigkeit oder die Unmöglichkeit, mögliche Folgen privaten Handelns abzuschätzen, oder – allgemeiner – um die Koppelungen mit der Systemvernunft des regulierten Sektors. Das gilt auch und insbesondere im Hinblick auf die Etablierung von Verhaltensstandards, die deshalb kaum den herkömmlichen rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen an staatliche Gesetzgebung mit strafrechtlich erheblichen Folgen genügen können. Auch die Finanzmarktstabilisierungsgesetzgebung seit 200869 ist nicht dazu geeignet, die Hoffnung auf einen Ausbau des materiellen Wirtschaftsverwal-
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Prittwitz in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 57, mit krit. Verweis auf die Mannesmann-Entscheidung des BGH. So auch Lüderssen in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 241, 308. So – unter Rückgriff auf eine Definition des Unternehmensinteresses durch Friedman The social responsibility of business is to increase its profit, New York Times Magazine 13. 9. 1970 (S. 33) – Salditt in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 116. S. dazu nur Ohler Bankensanierung als staatliche Aufgabe, WiVerw 2010, S. 47 ff.
Staat und Markt
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tungsrechts für den Finanzsektor zu nähren.70 Sie lässt sich im Gegenteil verstehen als primär organisations- und verfahrensrechtlich ausgestaltetes Instrumentarium des Gewährleistungsverwaltungsrechts, mit dessen Hilfe der Staat seiner Auffangverantwortung für funktionsfähige Finanzmärkte nachkommt, nachdem zuvor keine ausreichenden Vorkehrungen zu deren Gewährleistung getroffen worden waren. Materielle Verhaltensge- oder – verbote, die sich als Anknüpfungspunkte für eine akzessorische strafrechtliche Sanktionierung eignen würden, sind nicht ersichtlich. Wenn also der Forderung nach strikter Akzessorietät im Wirtschaftsstrafrecht mangels ausreichend präziser normativer Vorgaben jedenfalls des öffentlichen Wirtschaftsrechts die Grundlage dauerhaft entzogen ist, so muss die Alternative allerdings nicht unbedingt der Rekurs auf das „volkstümliche Rechtsdenken“ oder seine aktuellere Variante – „heute populäres populistisches Rechtsdenken“ 71 – sein. Vielmehr ist dann an das Straf- und an das Verfassungsrecht die Frage zu richten, was genau Akzessorietät bedeutet, ob und unter welchen Voraussetzungen auch die Missachtung zuvor anerkannter nicht-staatlicher Regelwerke strafrechtlich sanktioniert werden dürfen und welche Chancen bestehen, Prozeduralisierungskonzepte strafrechtlich zu unterstützen. Die Alternative zu einer Suche in dieser Richtung liegt auf der Hand: Wenn sich angesichts der Komplexität des Handelns wirtschaftlicher Akteure – nicht nur, aber vor allem – auf den Finanzmärkten die Grenzen nicht mit der dem Strafrecht aufgegebenen Bestimmtheit ziehen lassen, hat sich das Wirtschaftsstrafrecht zurückzuziehen72 – bestenfalls zugunsten eines regulierten privatrechtlichen Vergütungsrechts für Manager, das empfindliche persönliche Gehaltseinbußen allein nach Maßgabe der ökonomischen Ergebnisse vorsieht.73 Ob dies angesichts der Schäden für Einzelne und für die Allgemein70
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So aber offenbar Lüderssen in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 241, 308. So aber offenbar – unter Berufung auf Lüderssen – Prittwitz in: Kempf/Lüderssen/ Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 57. So etwa Prittwitz in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – Wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 60. Bedenkenswerte Vorschläge, die über jeden Verdacht staatlicher Überregulierung erhaben sind, sondern vielmehr auf der grundlegenden Einsicht beruhen, dass persönliche Haftung zu den Funktionsbedingungen funktionierender Märkte gehört, finden sich etwa bei Michler/Thieme Finanzmarktkrise: Marktversagen oder Staatsversagen? ORDO 60 (2009), S. 185, 216 ff.
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heit, die ein verantwortungsloses Agieren auf den Finanzmärkten nach sich ziehen kann und nach sich gezogen hat, hinnehmbar ist, sei als Frage an die Kriminalpolitik zurückgegeben.
Unternehmensethik und Eigeninteresse
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Unternehmensethik und Eigeninteresse Andreas Suchanek
Andreas Suchanek Gliederung 1. Einleitung 2. Zum Verhältnis von Moral und Eigeninteresse 3. Die moralische Qualität der Marktwirtschaft 4. Der Grund der Unternehmensverantwortung 5. Die Rolle der Rahmenordnung und des Strafrechts 6. Schlussbemerkung Literatur
1.
Einleitung
Die Unternehmensethik einer freien Gesellschaft (und nur in freien Gesellschaften kann sinnvollerweise von Unternehmensethik gesprochen werden) befasst sich mit der Frage, welche Verantwortung Unternehmen in der Gesellschaft tragen und was erforderlich ist, damit Unternehmen dieser Verantwortung gerecht werden. In diesem Zusammenhang ist vor allem zu beachten, dass die Unternehmensethik einer freien Gesellschaft sich auf ein Wirtschaftssystem bezieht, zu dessen wesentlichen Strukturmerkmalen der Wettbewerb zählt. Die Unternehmensethik wird sich daher bei der Beantwortung der Frage, was unter Unternehmensverantwortung zu verstehen ist, damit befassen müssen, wie „Moral“ (Wahrnehmung von Verantwortung) und Wettbewerbsvorteile bzw. unternehmerische Gewinnerzielung („Eigeninteresse“ der Unternehmen) in einer Marktgesellschaft miteinander vereinbar bzw. aufeinander bezogen werden können. Als Referenzpunkt zur Klärung dieser für die Unternehmensethik zentralen Fragestellungen soll die universellste Form aller moralischen Normen gewählt werden, die Goldene Regel. In einer ihrer bekanntesten Varianten lautet sie etwa: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem an-
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Ich danke Christian Lehner für inhaltliche und redaktionelle Unterstützung.
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dern zu.“ Die Goldene Regel adressiert dementsprechend die klassische Frage der Ethik: „Was soll ich tun?“ Diese Frage ist bekanntlich situativ oft nicht einfach zu beantworten. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich die Frage in der modernen, der Freiheit verpflichteten Gesellschaft stellt. Die moderne, freie (Welt-)Gesellschaft bringt eine immense Komplexität mit sich, die eine Erfassung aller Handlungsoptionen gar nicht zulässt und die vielfach dem Handelnden nur fragmentarisch vor Augen führt, welche Handlungsfolgen mit seinem Handeln verbunden sind. All dies erschwert es, darüber zu urteilen, worin sich verantwortliches Handeln manifestiert. Ethik kann an dieser Stelle keine Patentrezepte liefern, sondern nur allgemeine Orientierungen. Eine solche wird nachfolgend mit einer spezifischen Formulierung der Goldenen Regel für die Unternehmensethik angeboten werden. Die Regel muss unter den täglichen Restriktionen wie Wettbewerbsdruck, Budgetbeschränkungen etc. bestehen können. Die Goldene Regel, von der hier angenommen wird, dass sie diesen Anforderungen genügt, lautet als Imperativ formuliert: Investiere in die Bedingungen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil! Um den Gehalt dieser Goldenen Regel zu entfalten, wird die Regel anhand von zwei grundlegenden Fragen, mit denen die Unternehmensethik befasst ist, mit Leben gefüllt. Als Anforderung formuliert, hat die Unternehmensethik (1) Position zur Marktwirtschaft zu beziehen, da der Anwendungsbereich der Unternehmensethik auf die Marktwirtschaft beschränkt bleibt und mit dieser wesentliche Vorentscheidungen und Restriktionen für die Wahrnehmung von Unternehmensverantwortung verbunden sind; (2) ein Konzept der Unternehmensverantwortung zu entwickeln, anhand dessen bestimmt werden kann, welches Verständnis der Unternehmensverantwortung der Marktwirtschaft angemessen ist. Die beiden oben genannten Herausforderungen, der sich die Unternehmensethik zu stellen hat, können den folgenden Themenfeldern zugeordnet werden: (1) die moralische Qualität der Marktwirtschaft und (2) die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen. Beide Themenfelder stehen in einem engen systematischen Bezug, da ein positiv gefasster unternehmensethischer Verantwortungsbegriff notwendigerweise von der moralischen Qualität der Marktwirtschaft ausgehen muss. Darüber hinaus steht das Maß an Akzeptanz und Vertrauen, das Unternehmen entgegengebracht wird, in einem deutlichen Bedingungs- und Abhängigkeitsverhältnis zu dem Vertrauen, das einer marktwirtschaftlichen Rahmenordnung entgegengebracht wird. Von dieser
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Akzeptanz hängt in gewisser Weise auch der langfristige Bestand einer marktwirtschaftlich ausgestalteten Rahmenordnung ab. Der Beitrag schließt mit einigen allgemeinen Anmerkungen zur Rolle des Strafrechts in einer freien Gesellschaft und betont, dass die Unternehmensethik das Strafrecht nicht ersetzen kann, wohl aber als komplementär zu ihm zu sehen ist.
2.
Zum Verhältnis von Moral und Eigeninteresse
Für die Bestimmung einer allgemeinen ethischen Orientierung, die auch für die Klärung der soeben aufgeworfenen Herausforderungen der Unternehmensethik relevant ist, wird es zunächst unverzichtbar sein, auf das Verhältnis von Moral und Eigeninteresse – beziehungsweise für Unternehmen zwischen Moral und Gewinnerzielung – einzugehen. Eigeninteresse spielt in der Unternehmensethik in vielfacher Weise eine bedeutende Rolle: Unternehmen können beispielsweise selbst als korporative Akteure begriffen werden, denen ein spezifisches „Eigeninteresse“ zugeschrieben werden kann: das Erreichen von Wettbewerbsvorteilen bzw. die Steigerung des langfristigen Unternehmenswerts. Eigeninteressen kommen aber auch in anderer Weise ins Spiel: So werden Entscheidungsträger in Unternehmen ihre Entscheidungen immer (auch) unter Berücksichtigung ihrer je eigenen Interessen treffen, selbst wenn dies aus Sicht des Unternehmens nicht immer sachadäquat erscheinen mag. Zudem ist die Annahme plausibel, dass auch die jeweiligen Interaktionspartner der Unternehmen, Kunden, Zulieferer, Investoren, und Wettbewerber, ihrerseits ihre Handlungen an ihren je eigenen Interessen ausrichten. Nun ist insbesondere im deutschsprachigen Raum die Vorstellung weit verbreitet, dass Moral in einem Gegensatz zum Eigeninteresse steht. Es wäre demnach ein Zeichen echter Moral, wenn im Rahmen der sozialen Kooperation ein Verzicht auf die Wahrnehmung eigener Interessen geübt wird und allein die „Sache der Moral“, das Gemeinwohl, die Gerechtigkeit, die Nachhaltigkeit usw. um ihrer selbst willen, Grund für die Handlung ist. Diese Sichtweise dürfte eine wesentliche Nachwirkung der Kantischen Ethik sein, der gemäß die moralisch „gute“ Gesinnung das Kriterium für Normativität bildet und etwaige Vorteile, die jemandem aus seinem Handeln erwachsen, den Verdacht begründen, dass sie – und eben nicht die „richtige“ Gesinnung – Grundlage des Handelns sind. Dieses Denken gründet auf der
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Annahme, dass ein (nur) an den eigenen Vorteilen orientiertes Handeln ggf. auch Nachteile Dritter in Kauf nimmt. Angesichts dieser Betrachtung ist es wenig verwunderlich, dass in der Öffentlichkeit ein grundsätzliches Misstrauen gegen das Eigeninteresse – und im Kontext von Unternehmen: gegen das Gewinnstreben – besteht. Nun trifft es tatsächlich zu, dass es im Alltag immer wieder zu Konflikten zwischen dem, was die Moral an Handlungen erfordert, und dem Eigeninteresse kommen kann. Im Falle solcher Konflikte liegt es nahe, aus ethischer Sicht der „Moralität“ den unbedingten Vorrang zuzusprechen. Damit ist allerdings ein zentrales Problem verbunden: Keine Ethik wird langfristig und systematisch Handlungsrelevanz entfalten können, wenn sie vom Einzelnen fordert, dauerhaft gegen die eigenen wohlverstandenen Interessen handeln zu sollen. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Menschen eben nicht nur moralische Subjekte sind, sondern immer auch empirische Wesen, die biologischen, psychologischen und anderen Bedingungen unterliegen, die sich nicht nach Belieben negieren oder transzendieren lassen und die sich zusammenfassen lassen in dem Begriff des Eigeninteresses. Worum es hierbei geht, lässt sich am einfachsten verdeutlichen anhand des folgenden Schemas: (1) moralische Ideale / Grundnormen (2) empirische Bedingungen (3) (unternehmens-)ethische Forderungen bzw. Urteile Relevante (unternehmens-)ethische Forderungen bzw. Urteile (3) ergeben sich generell aus Prämissen über moralische Ideale (1) und empirische Bedingungen (2). Werden nun, wie es nicht selten vorkommt, die empirischen Bedingungen vernachlässigt bzw. ungenügend berücksichtigt, treten als Folge oft, wie man sie nennen kann, „normativistische Fehlschlüsse“ auf.2 Diese Fehlschlüsse werden umso eher zu beobachten sein, je komplexer der Sachverhalt ist, um den es geht. Aus diesem Grund ist es gerade im Kontext einer normativen Theorie wichtig, gewissermaßen Sensibilität für die Widerständigkeit der Realität einzubauen und die Theorie durch geeignete methodische positive und negative Heuristiken lernfähig zu halten.3 2 3
Ausführlicher dazu Suchanek Ökonomische Ethik (2007). Vgl. Lakatos Methodologie (1982).
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Menschen sind erfahrungsgemäß nicht bereit, dauerhaft gegen ihre eigenen Interessen zu handeln. Moralische Verantwortung muss dementsprechend anreizkompatibel ausgestaltet sein. Dieser Gedanke ist auch auf Unternehmen zu übertragen. Da Unternehmen (auch) gewinnorientiert agieren müssen, wenn sie am Markt bestehen wollen, können Gewinnorientierung und Gewinnerzielungsabsicht per se keine moralisch verwerflichen Motive sein. Nicht die Gewinnerzielungsabsicht als solche, sondern die gewählten Mittel zur Realisierung von Gewinnen sind in moralischer Hinsicht relevant. Anders formuliert: Unternehmensethisch unterliegt das „Dass“ der Verfolgung von Eigen- bzw. Gewinninteressen keinen Bedenken. Vielmehr geht es unternehmensethisch betrachtet um das „Wie“ der Verfolgung von Gewinnerzielungsabsichten. Insofern geht es um aufgeklärtes Eigeninteresse bzw. Gewinnstreben. Das Kennzeichnen eines aufgeklärten Eigeninteresses liegt darin, dass bestimmte (Selbst-)Beschränkungen freiwillig eingegangen werden, die ein gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben zum gegenseitigen Vorteil ermöglichen. Die hierzu notwendigen Handlungen bzw. Beschränkungen sind nun allerdings nicht als Verzicht oder Opfer, sondern im Sinne der Goldenen Regel – Investiere in die Bedingungen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil! – zu verstehen und entsprechend auszugestalten; auf diese Weise ist es – insbesondere in Kontexten der Wirtschaft oder Politik – sehr viel eher möglich, die Adressaten zu überzeugen und Kooperationspotenziale zu realisieren. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass – wie auch bei den verschiedenen ursprünglichen Formulierungen der Goldenen Regel – die (generalisierte) Reziprozität im Vordergrund steht. In einen ökonomischen Kontext übersetzt: Unternehmen sind beständig auf Kooperationspartner angewiesen. Hieraus lässt sich eine zentrale unternehmensethische Einsicht ableiten: Die Verfolgung eigener Interessen zu Lasten Dritter4 ist zwar stets möglich, aber nicht verantwortlich – und auch nicht nachhaltig, weil damit die Bedingungen künftigen Freiheitsgebrauchs bzw. künftiger Kooperation unterminiert wird. Konzeptionell bietet diese Überlegung eine Antwort auf die immer wieder vorfindbare Spannung zwischen verantwortlichem Handeln und dem Problem „verführerischer“ Anreize in Form von Kurzfrist-Vorteilen, die zu Lasten Dritter gehen. Diese Spannung ist letztlich nicht gänzlich aufhebbar, doch 4
Bei dieser Formulierung ist hier und im Weiteren unterstellt, dass es um unangemessene (illegitime) Benachteiligungen Dritter geht, nicht um solche, die im Rahmen des Gesetzes bzw. des Marktwettbewerbs als zumutbar vorausgesetzt werden können.
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hängt es wesentlich von der Perspektive ab, wie mit dieser Spannung umgegangen wird. Die in diesem Zusammenhang zentrale Heuristik lässt sich durch folgendes Schema wiedergeben:
gegebene Handlungsbedingungen Ø Handlungen Ø Handlungsfolgen Ø künftige Handlungsbedingungen
Zu jedem Zeitpunkt sind handelnden Akteuren Handlungsbedingungen vorgegeben, die ihre Handlungsspielräume, ihre Freiheit, bestimmen. Neben rechtlichen Bedingungen kann es sich dabei um klimatische, technische, kulturelle, psychologische, ökonomische oder sonstige Bedingungen handeln; beispielsweise sieht sich ein Manager in eine bestimmte Marktsituation gestellt, mit einem bestimmten Mitarbeiterstab, mit – wie immer begrenzten – Ressourcen (Geld, Zeit u. a.) usw. Die Entscheidungen, die dann getroffen werden, orientieren sich in der Regel an bestimmten Zielsetzungen und das sind meist spezifische Handlungsfolgen, die man erreichen will (und in Bezug auf die nicht selten auch solche „konkreten“ Verantwortlichkeiten bestehen, von denen zuvor die Rede war). Doch reichen die Folgen heutiger Handlungen immer auch weiter: Man legt mit ihnen unweigerlich auch künftige Handlungsbedingungen fest – die dann, zum späteren Zeitpunkt, als gegeben zu akzeptieren sind; nur in seltenen Fällen kann man Handlungen gewissermaßen ungeschehen machen, und auch dies geht nur in Grenzen. Dieser Zusammenhang zwischen Handlungsbedingungen, Handlungen und Handlungsfolgen lässt sich nutzen, um die wechselseitige Bedingung von Freiheit und Verantwortung präziser zu fassen in einer Weise, die dem Erfordernis der Anreizkompatibilität systematisch Rechnung trägt: Allgemein liegt die Verantwortung von individuellen und korporativen Akteuren darin, ihre Freiheit so zu nutzen, dass sie sich damit die Bedingungen ihrer künftigen Freiheit erhalten und diese nicht zerstören. Daraus folgt, dass nachhaltiges, unternehmerisches Handeln sich durch Erfolg und Verantwortungsübernahme auszeichnet. Verantwortungsübernahme bedeutet in
Unternehmensethik und Eigeninteresse
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diesem Zusammenhang, dass das eigene Handeln, „Investitionen“, nicht zu Lasten Dritter gehen – besser: nicht die legitimen Interessen anderer verletzen dürfen, weil nur so die Bedingungen künftigen Freiheitsgebrauchs bzw. künftiger Kooperation in gleichem Maße gewährleistet und erhalten bleiben. Erfolg und Verantwortung fallen jedoch – entgegen mancher schönen Sonntagsreden – nicht immer schon automatisch zusammen. Zu betonen ist jedoch auch, dass Erfolg und Verantwortung nicht – wie manche Wirtschaftskritiker postulieren – in einem grundsätzlichen Gegensatz stehen. Die Herausforderung der Unternehmensethik besteht darin, die Bedingungen herauszuarbeiten, unter denen wirtschaftlicher Erfolg und Verantwortung in Übereinstimmung stehen bzw. gebracht werden können. Die Voraussetzung für diese Symbiose liegt in einer Veränderung der Perspektive, demgemäß es nicht um Verzicht geht, sondern um (wertschaffende) Investitionen. Investitionen sind zwar dadurch gekennzeichnet, dass sie heutigen (Konsum-)Verzicht bedeuten, allerdings liegt ihr Sinn in der Generierung von zukünftigen Ertragspotenzialen. Diese zukünftigen Erträge sind es, die bei moralisch guten Handlungen im Mittelpunkt stehen. Hierdurch wird es möglich, vom aufgeklärten, d. h. vom wohlverstandenen Eigeninteresse zu sprechen, ohne dieses dem Anspruch der Moral über- oder unterordnen zu müssen. Die moralische Dimension kommt dadurch zur Geltung, dass sich diese Investition nicht nur auf die eigene, sondern auf die wechselseitige und allgemeine künftige Besserstellung beziehen: es geht um eine Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil. Hier zeigt sich, dass nicht jede Form der Verfolgung von Eigeninteresse moralisch akzeptabel ist und die moralische Qualität über die eigene und zugleich allgemeine Besserstellung definiert wird. Auf Basis dieser Vorklärungen des Verhältnisses von Moral und Eigeninteresse können nun im Folgenden die am Ende des vorangehenden Abschnitts benannten Themenfelder entfaltet werden.
3.
Die moralische Qualität der Marktwirtschaft
Unternehmensethik hat das wirtschaftliche oder sonstige Handeln von Unternehmen in Marktgesellschaften zum Gegenstand. Eine freie Gesellschaft lässt sich ohne die Freiheit der Assoziation nicht vorstellen. Aus ihr folgen auch wirtschaftliche Vereinigungen. Es wird kein überzeugendes Konzept der Unternehmensethik oder der Unternehmensverantwortung geben, das auf
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der Vorstellung basiert, der marktwirtschaftlichen Ordnung sei die moralische Qualität abzusprechen. Das Nachdenken über Unternehmensethik und Unternehmensverantwortung erschiene gewissermaßen systematisch verfehlt. Die Unternehmensethik selbst wird daher von der moralischen Qualität der Marktordnung im Ansatz auszugehen haben, da innerhalb dieser Ordnung unternehmerisches Handeln erst vorstellbar ist und tatsächlich erfolgt. Das marktwirtschaftliche System ist – und das ist nichts Neues – einer steten und zunehmenden Kritik ausgesetzt, die bis hin zur grundsätzlichen Infragestellung seiner gesellschaftlichen Erwünschtheit geht. Die Kritik an der Marktwirtschaft speist sich dabei aus mehreren Quellen, insbesondere wird postuliert, dass sie: – zu ungerecht empfundenen Verteilungsergebnissen, d. h. einer Spreizung von Arm und Reich tendiert, die sich etwa in hohen Gewinnrenditen und Managergehältern bei gleichzeitigen Entlassungen oder schlechten Arbeitsbedingungen äußern kann, – notwendigerweise immer wieder ,Verlierer‘ (Konkurse, Arbeitsplatzverlust) hervorbringt, – einen hohen Druck zur Kostensenkung erzeugt, der sich auch zu Praktiken wie Korruption, Bilanzmanipulation, geringen Sozialstandards, Externalisierung von Kosten, etc. führen kann, – soziale Beziehungen und tradierte, kulturelle Ordnungen zu unterminieren droht, – und – nicht zuletzt – kurzfristige Orientierungen und Entscheidungen ebenso wie Egoismus, Profitgier und ähnliche moralisch problematische Haltungen zu fördern scheint. Die Kritik an der Marktwirtschaft scheint auf den ersten Blick nachvollziehbar. Auch sind einige Punkte nicht von der Hand zu weisen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass moralische Qualität nicht aus einem Idealzustand abgeleitet werden kann. Wir können immer nur von der Welt und der Wirklichkeit ausgehen, die wir vorfinden. Moral ist unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft und den damit verbundenen Restriktionen zur Geltung zu bringen; dementsprechend muss Ethik alltagstauglich sein. Der Kritik am marktwirtschaftlichen System kann daher zunächst einmal entgegengehalten werden, dass kein alternatives Wirtschaftssystem bekannt ist, welches prinzipiell in der Lage wäre, die wirtschaftlichen Bedürfnisse von Millionen in der Weise zu koordinieren, dass die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen gewährleistet werden kann. Allein die Marktwirtschaft ist imstande, den Menschen diejenigen Informationen und Anreize zu vermit-
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teln, die für eine effiziente Produktion von Gütern und Dienstleistungen nötig sind. Insofern lässt sich sagen, dass der Marktwirtschaft bereits aus diesem Grund eine moralische Qualität zukommt, da sie als die Voraussetzung für die nachhaltige Ermöglichung eines guten gesellschaftlichen Zusammenlebens anzusehen ist. Unter den gegebenen Bedingungen ist sie trotz der mit ihr einhergehenden Härten das beste bisher bekannte System, die Solidarität aller Menschen zu verwirklichen. Da andere Wirtschaftssysteme dieser (Welt-) Gesellschaft langfristig unterlegen sind, können diese nicht als moralisch vorzugswürdig gelten. Im Kern ist die moralische Qualität der Marktwirtschaft darin begründet, dass sie genau das unterstützt, wovon zuvor als Funktion der Moral die Rede war: Es geht darum, das Eigeninteresse in einer Art und Weise zu lenken und zu fördern, so dass dieses im Dienste eines gelingenden Zusammenlebens steht. Eben dies leistet das marktwirtschaftliche System, da es die Menschen dazu anhält, in die (Bedingungen) der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zu investieren und sich damit gemäß der Goldenen Regel zu verhalten. Allerdings erschließt sich der Funktionsmechanismus der Marktwirtschaft nicht intuitiv, da das ihr inhärente Wettbewerbssystem auf Konflikten (zwischen den Konkurrenten) – und eben nicht auf unmittelbarer Kooperation5 – beruht. Indes steht genau dieser Konflikt programmatisch im Dienste der gesellschaftlichen Kooperation, was verdeutlicht, dass es um das differenzierte Zusammenspiel von Kooperation und Konflikt auf verschiedenen Ebenen geht. Die Etablierung von Wettbewerb und die damit verbundene Forcierung von Interessenkonflikten ist notwendig, da praktisch alle Menschen – als empirische Wesen – nicht immer schon und auf Dauer geneigt sind, Leistungen für andere zu erbringen bzw. in die gesellschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil zu investieren. Der Wettbewerb ist ein höchst wirksames Instrument zur Disziplinierung der Gesellschaftsmitglieder. Er offeriert ihnen Anreize, um Ressourcen und Fähigkeiten in die gesellschaftliche Zusammenarbeit einzubringen. Hinzu kommt der Vorzug, dass die Marktwirtschaft immer wieder Neuerungen hervorbringt und – nicht zuletzt – als Entmachtungsinstrument dient und damit wirksam dem mit Monopolen einhergehenden möglichen Machtmissbrauch klare Grenzen setzt.6
5 6
Das wäre ein Kartell. Zu Neuerungen siehe Hayek Wettbewerb als Entdeckungsverfahren (1968); die Beschreibung des Wettbewerbs als Entmachtungsinstrument stammt aus Böhm Demokratie und ökonomische Macht (1961).
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Allerdings ist die moralische Qualität der Marktwirtschaft nicht per se gegeben, sondern setzt dreierlei voraus: (1) Geeignete Spielregeln, welche ganz allgemein dafür sorgen, dass denjenigen, die investieren, auch die ihnen zustehenden Erträge zufallen. Zwar gehen Investitionen stets mit Risiken einher, jedoch bedarf es institutioneller Strukturen für eine Sicherstellung von hinreichender Planungssicherheit, etwa in Form von Eigentumsordnung, Vertragsrecht oder Haftungsregeln. (2) Die Akzeptanz der Gesellschaftsmitglieder, da die Marktwirtschaft wie jedes Sozialsystem auf die gesellschaftliche Legitimation angewiesen ist. Wird die moralische Qualität der Marktwirtschaft nicht (mehr) wahrgenommen, so unterminiert dies gleichsam ihre Funktionsfähigkeit. (3) Einen Sinn für Verantwortung, da ein auf individueller Freiheit basierendes Wirtschaftssystem nicht nachhaltig sein kann, wenn die Freiheiten missbraucht würden, wo immer es im Einzelfall möglich wäre; dies kann auch das beste Rechtssystem nicht kompensieren. Verantwortung ist dabei zu verstehen als ein derartiger Gebrauch der eigenen Freiheit, dass hierdurch keine berechtigten Interessen von Dritten verletzt werden. Insbesondere der dritte Punkt ist in besonderem Maße für Unternehmen – als den Hauptakteuren der Marktwirtschaft – relevant, was sich nicht zuletzt in der zunehmend intensiver geführten Diskussion um die Verantwortung von Unternehmen zeigt. Entgegen der insbesondere in der Öffentlichkeit verbreiteten Ansicht geht es hierbei allerdings nicht um „gute Taten“ – etwa Spenden, Sponsoring oder die Freistellung von Mitarbeitern für gesellschaftliche Zwecke –, sondern vielmehr um den Beitrag der Unternehmen zum Erhalt und zur Förderung der Grundlagen der Wirtschaftsordnung.
4.
Der Grund der Unternehmensverantwortung7
Die Diskussion zur Verantwortung von Unternehmen weist – wie oben bereits ausgeführt wurde – deutliche Bezugspunkte zur Diskussion von Moral und Eigeninteresse auf. Ganz allgemein lässt sich folgern, dass sich Unternehmensverantwortung nicht durch eine einseitige Auflösung zugunsten von Moral oder Gewinn konkretisieren lässt. Eine einseitige Auflösung zugunsten der Moral, d. h. auf Kosten der Unternehmensgewinne, würde eine Untermi7
Allgemein zu diesem Abschnitt vgl. a. Lin-Hi (2009).
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nierung des Leistungswettbewerbs implizieren und damit nicht nur dessen faktische Relevanz, sondern auch dessen moralische Qualität bzw. gesellschaftliche Funktion negieren. Demgegenüber würde eine einseitige Gewinnorientierung, die möglicherweise auch auf Kosten Dritter erfolgt, sowohl die faktisch an Unternehmen herangetragenen Forderungen nach der Übernahme von Verantwortung vernachlässigen als auch aus ethischer Sicht als problematisch gelten müssen. Es ist daher originärer Bestandteil der Unternehmensverantwortung selbst, Gewinn und Moral miteinander vereinbar – besser noch: füreinander fruchtbar zu machen.8 Damit ist zunächst noch nicht die Frage beantwortet, worin die Verantwortung selbst besteht. Zur Klärung dieser Frage wird auf den Grundkonflikt der Unternehmensethik, den Konflikt von Gewinn und Moral, Bezug genommen. Gewinnerzielung ist ambivalent. Offensichtlich gibt es Formen der Gewinnerzielung, die gesellschaftlich erwünscht sind, so etwa, wenn Kunden zufrieden gestellt, Arbeitsplätze bereitgestellt und die entsprechenden Mitarbeiter angemessen entlohnt, Steuern gezahlt werden usw. Daneben gibt es jedoch ebenso offensichtlich Formen der Gewinnerzielung, die gesellschaftlich unerwünscht sind, etwa wenn diese Gewinne bedingt werden durch Umweltverschmutzung, (schlimme Formen der) Kinderarbeit, Korruption, Bilanzverschleierung, Betrug oder andere gesellschaftlich unerwünschte Tätigkeiten. Entsprechend gilt, dass es nicht um eine einseitige Auflösung zugunsten der Moral auf Kosten des Eigeninteresses bzw. von Unternehmensgewinnen oder umgekehrt geht. Es ist vielmehr ihr gemeinsamer Fortschritt anzustreben ist. Dies gilt vor allem mit Blick auf eine zunehmend globalisierte Welt. Mit der Globalisierung haben die Möglichkeiten zugenommen, Gewinne auf eine Weise zu maximieren, die nicht der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil dienen – und damit auch als nicht verantwortlich entsprechend der hier angestellten Überlegungen anzusehen sind. Ein Grund hierfür liegt in der „Unvollständigkeit“ der globalen „Spielregeln“ des Wettbewerbs. 9 Damit geht die Gefahr einher, dass der Wettbewerb verfehlte Strategien der Gewinnerzielung belohnt. Verantwortungsvoll agierende Unternehmen könnten aus dem Markt gedrängt werden, bevor eine unverantwortliche unternehmeri8
9
Zur Notwendigkeit dieser Kompatibilität siehe auch Homann/Blome-Drees Wirtschafts- und Unternehmensethik (1992) oder Suchanek Ökonomische Ethik (2007) sowie Suchanek Gewinnmaximierung in Ingo Pies/Martin Leschke (Hrsg.), Milton Friedmans ökonomischer Liberalismus (2004). Unter anderem resultiert dies auch aus den reduzierten Steuerungsmöglichkeiten von Nationalstaaten (siehe hierzu z. B. Ohmae The End of the Nation State (1995) oder Strange The Retreat of the State (1996).
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sche Gewinnerzielung von Wettbewerbern aufgedeckt und sanktioniert wird. Dies zeigt, dass durchaus verfehlte Strategien der Gewinnerzielung existieren. Weniger offensichtlich ist andererseits, dass auch die Moral ambivalent sein kann. Einmal können sich die Anforderungen der Moral darauf beziehen, dass die berechtigten Interessen aller Stakeholder in unternehmerischen Entscheidungen angemessene Berücksichtigung finden sollen. Daneben können aber auch moralische Forderungen aufgestellt werden, die Unternehmen nicht erfüllen können und deren angestrebte Realisierung dazu führen könnte, dass Unternehmen sich der Gefahr aussetzen aus dem Markt auszuscheiden. In dieser Form ist „Moral“ selbst keineswegs moralisch, und es ist in diesen Fällen durchaus angemessen, mit N. Luhmann die Aufgabe der Ethik dahingehend zu bestimmen, dass sie vor der „Moral“ zu warnen habe.10 Von keinem Unternehmen ist daher zu verlangen, aus Gründen eines wenig durchdachten Verantwortungs- oder Moralbegriffes die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden. Verhaltensweisen, die dazu angelegt sind, den Erfordernissen des Wettbewerb und der langfristigen Erhaltung – und wenn möglich: Steigerung – des Unternehmenswerts zuwiderzulaufen, sind in gewissem Sinne geradezu unverantwortlich. Daraus ergibt sich als Aufgabe für die Unternehmensethik eine Klärung der unterschiedlichen Formen der Konflikte zwischen Gewinn und Moral ebenso wie der Versuch, ihre Ursachen zu bestimmen. Legt man die Goldene Regel zur Problemorientierung entlang des Konfliktes Moral und Gewinn als Heuristik zugrunde, so kann ausgehend von diesem Grundkonflikt die systematische Bestimmung der Verantwortung von Unternehmen erfolgen. Unternehmen sollen dann nicht ,irgendwelche‘ sozialen und ökologischen Belange über die gesetzliche Vorgaben hinaus berücksichtigen: Die Verantwortung von Unternehmen als korporativen Akteuren liegt dann genauer darin, dass sie dazu beitragen, (potenzielle) Konflikte von Gewinn und Moral zu erkennen und einen Beitrag zu ihrer Lösung zu leisten. Diese Beiträge lassen sich als Investitionen in die eigene und zugleich allgemeine Besserstellung verstehen im Sinne der hier vorgestellten Goldenen Regel.11 Grundlage dieser Bestimmung von Verantwortung ist die Überlegung, dass Unternehmen von der Gesellschaft gewissermaßen Ressourcen erhalten unter der Bedingung, dass diese Ressourcen für die Realisierung gesellschaftlicher Kooperationsgewinne genutzt werden. Als Ausgangspunkt einer solchen un10 11
Vgl. Luhmann Ökologische Kommunikation (1990), S. 259 ff. Beispiele für derartige Investitionen werden in Suchanek Ökonomische Ethik (2007) gegeben.
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ternehmensethischen Rekonstruktion von Unternehmen12 ist die Tatsache zu nennen, dass Unternehmen auf gesellschaftlichen Voraussetzungen basieren, die ihre Konstitution ermöglichen bzw. ihre Handlungsspielräume definieren. Dazu gehören zum einen die rechtlichen Voraussetzungen wie z. B. die Eigentumsrechtsordnung, das Unternehmensrecht, das Vertragsrecht, das Wettbewerbsrecht usw., aus denen sich mitunter bereits bestimmte Verantwortlichkeiten ergeben. Auch – und dies sollte nicht übersehen werden – handeln Unternehmen unter dem Schutz der Rechtsordnung, auf die sie sich berufen können. Neben den rechtlichen Voraussetzungen ist die gesellschaftliche Akzeptanz, die Unternehmen erfahren, bzw. das öffentliches Vertrauen,13 als eine weitere gesellschaftliche Voraussetzung zu nennen. In diesem Zusammenhang ist oft von der „license to operate“ die Rede, die Unternehmen eingeräumt wird, die sie sich allerdings auch immer wieder erarbeiten müssen. Dementsprechend liegt genau in den Investitionen in die eigene und zugleich allgemeine Besserstellung auch die Verantwortung von Unternehmen. Im Normalfall stellen sich für Unternehmen in einer funktionierenden rechtstaatlichen Rahmenordnung diesbezüglich kein Probleme, weshalb z. B. Friedman in seinem berühmten Aufsatz „The Social Responsibility of Business is to Increase its Profits“14 auch mit einem gewissen Recht darauf beharren konnte, dass in der Gewinnmaximierung – als handliche Kurzformel für das durchaus hochkomplexe Problem des nachhaltigen ,guten‘ Überlebens von Unternehmen am Markt – das relevante Kriterium für Unternehmensverantwortung zu sehen sei. Denn unter normalen Umständen, d. h. unter den Voraussetzungen einer rechtsstaatlichen Rahmenordnung und funktionsfähiger Märkte, bedeutet Gewinnmaximierung eine effiziente Wertschöpfung, also eine verantwortliche Verwendung der gesellschaftlich zugewiesenen Ressourcen. Gleichwohl wird es in einer dynamischen – und erst recht in einer globalisierten – Gesellschaft immer wieder zu Konflikten zwischen der Gewinnerzielung und den Interessen diverser Stakeholder kommen, die es zu lösen gilt – und das meint nach der hier vorgeschlagenen Semantik: Es bedarf geeigneter Investitionen zur Lösung dieser Konflikte. Gerade weil Verantwortung und Gewinn ebenso wie Moral und Eigeninteresse typischerweise in ein Konfliktverhältnis kommen können, sind sie stets aufs Neue aufeinander zu beziehen. Als Orientierung kann auf die Goldene
12 13
14
Ausführlich zum Folgenden siehe Waldkirch Unternehmen und Gesellschaft (2002). Zum Zusammenhang von Unternehmensethik und öffentlichem Vertrauen s. Hartley Business Ethics (1993). Friedman Social Responsibility of Business (1970).
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Regel zurückgegriffen werden: Investiere in die (Bedingungen der) gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil! Mit „Bedingungen“ sind hier all jene Vermögenswerte gemeint, die die Produktivität der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil erhöhen. Dazu gehören insbesondere Humankapital, Sozialkapital und auch das institutionelle Kapital. Mit diesem Imperativ wird einerseits dem Umstand Rechnung getragen, dass moralisches bzw. verantwortungsvolles Verhalten dem Einzelnen manche Zumutung auferlegen kann, doch – und darin liegt die Differenz zu einer bloßen Verzichtsrhetorik – wird diese Zumutung rekonstruiert als Investition mit der Folge, dass die künftigen Erträge systematisch mit in das Blickfeld rücken; dabei ist zu beachten, dass es sich hierbei keineswegs nur um monetäre bzw. materielle Erträge handeln muss. Zu beachten ist weiterhin, dass von Investitionen in Vermögenswerte gesprochen wird. Hierin kommt das heuristische Potenzial der reformulierten Goldenen Regel zum Ausdruck. Es geht darum, jene Vermögenswerte zu erforschen, die für ein gesellschaftliches Zusammenleben zum gegenseitigen Vorteil von Bedeutung sind, aber nicht selten aufgrund ihres ,weichen‘ Charakters vernachlässigt werden; Beispiele sind Integrität, Vertrauen, Glaubwürdigkeit bzw. funktionsfähige institutionelle Arrangements, deren Relevanz oft erst bemerkt wird, wenn sie nicht (mehr) vorhanden sind. Es geht damit um Investitionen in jene Bedingungen, die für eine langfristige gesellschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil notwendig sind bzw. diese fördern. Generell erfolgen Investitionen in materielle oder personenbezogene Vermögenswerte, seien dies nun Sach-, Finanz-, Human- oder andere Formen von Kapital. Daneben existieren immaterielle Vermögenswerte wie Vertrauenswürdigkeit, Integrität oder Reputation, welche notwendig sind, um Kooperationen eingehen und unterhalten zu können. Kooperationsverhältnisse sind Bedingungen für die Erzielung von Gewinnen, aus ihnen gehen die gegenseitigen Vorteile hervor. In diesem Zusammenhang soll nicht unerwähnt bleiben, dass Investitionen – auch solche entsprechend der Goldenen Regel – naturgemäß stets mit Unsicherheiten verbunden sind. Ein entsprechender Ertrag der Investitionen ist nicht immer garantiert. Vor allem aber gilt umgekehrt, dass ohne entsprechende Investitionen die Erträge jedenfalls ausbleiben. Aufgabe der Unternehmensethik ist es dementsprechend, den Einfluss unternehmerischer Entscheidungen und Strategien auf diese Vermögenswerte zu klären, um deren besseres Management zu ermöglichen. Nun ist die eigentliche Aufgabe einer Theorie der Unternehmensethik weniger darin zu se-
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hen, die einzelnen Möglichkeiten derartiger Investitionen konkret auszuarbeiten. Dies wird, so ist zu vermuten, die Praxis sehr viel besser können als der Theoretiker. Wie auch sonst ist es Aufgabe der Theorie, sich nicht auf die evidenten Oberflächenerscheinungen zu konzentrieren, sondern vielmehr tiefer liegende und dem Alltagsverstand nicht sofort sichtbare Zusammenhänge aufzudecken.15 Unternehmensethik hat demnach insbesondere die Analyse der spezifischen, unternehmensethisch relevanten Vermögenswerte zum Gegenstand, in die es zu investieren gilt, genauer: solche Vermögenswerte, die dazu helfen, den Konflikt von Gewinn und Moral möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen oder ihn – wenn er denn doch entsteht – möglichst rasch bewältigen helfen. Es handelt sich dabei um Vermögenswerte, die stets durch unternehmerische Entscheidungen beeinflusst werden, deren Beeinflussung jedoch oft nicht angemessen reflektiert wird, weil ihre Existenz im wirtschaftlichen Alltag in der Regel nicht sichtbar ist. Dazu zählen insbesondere die folgenden Vermögenswerte: 1. Der erste Vermögenswert betrifft jene individuellen Einstellungen und Eigenschaften der Mitglieder des Unternehmens, die die Voraussetzung sind für jene Art der Gewinnerzielung, die zugleich im Interesse der Gesellschaft ist. Man kann hier auch vom „Humankapital“ i. w. S. sprechen. Zu nennen sind hier etwa Leistungsbereitschaft, Loyalität, Vertrauenswürdigkeit usw. 2. Als zweiter Vermögenswert ist die Unternehmenskultur zu nennen, die hier verstanden wird als gemeinsame (Hintergrund-)Vorstellungen der Mitglieder hinsichtlich der Voraussetzungen gelingender Kooperation in dem und durch das Unternehmen. Dieses Verständnis von Unternehmenskultur folgt den Überlegungen von D. Kreps (1990), der sie rekonstruiert als Prinzipien (focal points), an denen man sein Verhalten in „unvorhergesehenen Kontingenzen“ orientiert und auf diese Weise das nötige Vertrauen für Kooperationen unter Bedingungen unvollständiger (offener) Verträge schafft. 3. Ein weiterer Vermögenswert ist die oben genannte Integrität eines Unternehmens als korporativer Akteur. Dieser Vermögenswert ist für das Unternehmen von Bedeutung, da es seine Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft signalisiert und auf diese Weise bestimmte Interaktionen allererst ermöglicht und bei anderen Interaktionen Transaktions- bzw. Interaktionskosten spart. 15
Allerdings ist anzumerken, dass die semantische Rekonstruktion bestimmter unternehmerischer Aktivitäten als Investition im beschriebenen Sinne sowie die Ausarbeitung der assoziierten Begriffskontexte eine wichtige Aufgabe der Unternehmensethik darstellt.
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4. Schließlich ist als ein Vermögenswert, der von Unternehmen eher selten als solcher wahrgenommen wird, noch das institutionelle Kapital zu nennen. Eine funktionsfähige rechtsstaatliche Rahmenordnung ist ebenfalls Voraussetzung für die Ermöglichung zahlreicher erwünschter Interaktionen bzw. für die Senkung entsprechender Interaktionskosten. Hierbei ergibt sich das Problem, dass es sich um ein öffentliches Kapitalgut handelt, was die bekannten Anreizprobleme mit sich bringt. Gleichwohl ergeben sich durch den Zusammenhang mit dem erstgenannten Vermögenswert Integrität durchaus Anreize für das Unternehmen, die Auswirkungen seiner Entscheidungen auf das institutionelle Kapital zu berücksichtigen. Die Bedeutung dieses Punktes zeigt sich mit zunehmender Globalisierung, da Unternehmen in zunehmendem Maße eingebunden werden in die Gestaltung der Rahmenbedingungen ihres Tuns; die Beispiele reichen von freiwilligen Selbstverpflichtungen16 bis zum „Global Compact“.17 Die hier aufgeführten Vermögenswerte fördern die unternehmensindividuelle Kooperationsfähigkeit. Ein verantwortungsvolles Unternehmen kann leichter Kooperationspartner (Kunden, Lieferanten, Mitarbeiter, Investoren etc.) finden und zudem einfacher Kooperationsverhältnisse unterhalten, da Vereinbarungen unkomplizierter und damit kostengünstiger getroffen werden können. Kooperationspartner können davon ausgehen, dass das Unternehmen nicht auf die alleinige Durchsetzung seiner Interessen bedacht ist, sondern vielmehr wechselseitige Vorteile im Blick hat. Entsprechend hat das Unternehmen nachzuweisen, dass Stakeholder eines Unternehmens auf die angemessene Berücksichtigung ihrer berechtigten Interessen vertrauen können. Einem integren (korporativen) Akteur wird die Eigenschaft zugerechnet, nicht in opportunistischer Weise zu handeln, sondern gemäß der Goldenen Regel, d. h. im Sinne einer nachhaltigen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil. Die aufgeführten immateriellen Vermögenswerte sind nicht kostenfrei zu haben, d. h. es sind Investitionen erforderlich, um diesen Vermögenswert aufzubauen bzw. zu erhalten. Dazu gehört die Gestaltung der erwähnten unternehmensinternen Strukturen ebenso wie möglicherweise der Verzicht auf ein gewinnträchtiges Geschäft, das jedoch zu Lasten Dritter geht. Verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass ein derartiger Verzicht in eine Investition in die Bedingungen des langfristigen 16 17
Vgl. Suchanek Normative Umweltökonomik (2000), S. 146 ff. Vgl. dazu http://www.unglobalcompact.org sowie Nelson Building Partnerships (2002).
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unternehmerischen Erfolges überführt werden kann. Verantwortungswahrnehmung ist letztlich eine Investition in Vertrauen als Bedingung für gelingende gesellschaftliche Kooperation. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass gelebte Werte und glaubwürdige Regeln ein Kapital sind, das Investitionen erfordert und verdient.
5.
Die Rolle der Rahmenordnung und des Strafrechtes
Es wurde bereits gesagt, dass eine funktionsfähige rechtsstaatliche Rahmenordnung Voraussetzung für die Ermöglichung zahlreicher erwünschter Interaktionen bzw. für die Senkung entsprechender Interaktionskosten ist. Dies gilt insbesondere für Marktbeziehungen, die auf zahlreichen rechtlichen Voraussetzungen beruhen (Eigentumsordnung, Vertragsrecht, Haftungsrecht, Wettbewerbsrecht, etc.). Die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft ist darüber hinaus bedingt durch eine weitgehende Akzeptanz der „Regeln des Spiels“ und impliziert damit auch die Akzeptanz derjenigen (strafrechtlichen) Verbotsnormen, die die Funktion von Märkte schützen und flankieren sollen. Diese Verbotsnormen haben insbesondere den Ausschluss von bestimmten Mitteln bei der eigeninteressierten Zweckverfolgung zum Ziel. Die Verfolgung von Zwecken darf beispielsweise nicht unter Begehung von Eigentumsverletzungen, Gewalt, Betrug oder Nötigung erfolgen. Auch wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass es sich bei einem funktionierenden Regelsystem um einen Vermögenswert handelt,18 der von Unternehmen eher selten als solcher wahrgenommen wird. Funktionierende Regelsysteme sind in ihrem dauerhaften Bestand davon abhängig, dass sie von korrespondierenden und sie legitimierenden Wertesystemen unterstützt werden und dass die weit überwiegende Mehrzahl der tatsächlich vorgenommenen Handlungen in Übereinstimmung mit diesem Regelsystem erfolgt. Anders gesagt wird ein Regelsystem erst dann die gewünschte Wirksamkeit entfalten können, wenn es mit den fundamentalen Überzeugungen seiner Adressaten hinreichend verträglich ist und dies in ihrem Handeln zum Ausdruck kommt. Kein Regelsystem kann dauerhaft effektiv sein, wenn es nicht von den Menschen, für die es gelten soll, akzeptiert und, wenigstens rudimentär, als in ihrem Sinne und Interesse verstanden wird.
18
Siehe dazu auch Buchanan Grenzen der Freiheit (1984), S. 22.
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Das Strafrecht dient abstrakt betrachtet dem Schutz der Rechtsordnung. Eine funktionierende Rechtsordnung wird in ihrem Bestand indes nicht allein durch die Regeln des Strafrechts geschützt werden können.19 Es bedarf insbesondere der Internalisierung der grundlegenden Werte der Rechtsordnung. Das Strafrecht spielt beim Schutz der Rechtsordnung gleichwohl eine nicht unbedeutende Rolle, da es neben seiner auf Prävention abzielenden Wirkung auch zur Internalisierung der zentralen Wertvorstellungen der Rechtsordnung beiträgt20 Dies geschieht nicht zuletzt dadurch, dass es die wechselseitige Verlässlichkeit der Beachtung von Kooperationsnormen befördert und insofern den „Ertrag“ eigener Investitionen in Form von Kooperationsbeiträgen sehr viel wahrscheinlicher werden lässt. Sofern Hassemer dem Wirtschaftsstrafrecht die Funktion der „Umhegung“ zukommen lassen will,21 sei darauf hingewiesen, dass dieser Begriff die Assoziation nahe legt, die Wirtschaft müsse gleichsam wie der Krieg eingehegt werden.22 Dieses Bild hat, wenn man an die Hobbessche Theorietradition denkt, eine erhebliche Plausibilität. Gleichwohl sei hier eher der positive Gesichtspunkt betont, nach dem das (Wirtschafts-)Strafrecht jedenfalls zunächst dem Schutz des Wirtschaftens im Sinne eine Kooperation zum gegenseitigen Vorteil zu dienen hat. Nun zielt auch die Unternehmensethik darauf ab, solche Handlungen zu identifizieren, die eine funktionierende Rahmenordnung gefährden könnten. Auch die Unternehmensethik dient so gesehen maßgeblich dem Zweck, institutionelles Kapital zu erhalten und zu schützen. In welchem Verhältnis stehen also Unternehmensethik und Strafrecht? Kann die Unternehmensethik das Wirtschaftsstrafrecht etwa ersetzen?23 Führt man sich vor Augen, dass das Anliegen der Unternehmensethik darin besteht, den Einfluss unternehmerischer Entscheidungen und Strategien auf die oben unter 4. genannten Vermögenswerte zu klären, um deren besseres Management zu ermöglichen, so
19 20 21
22
23
Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts (1996), S. 8. Ebd. Hassemer Die Basis des Wirtschaftsstrafrecht, in Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Handlungsfreiheit des Unternehmers (2009), S. 39 ff. Das gesamte Kriegsvölkerrecht ist an der Vorstellung der Einhegung des Krieges orientiert. Diese Frage wird aufgeworfen im Diskussionsbericht von Trendelenburg Kriminalpolitische Optionen, in Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Handlungsfreiheit (2009), S. 237.
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wird man in der Unternehmensethik jedenfalls keine bloße Subsidiaritätswissenschaft zum Strafrecht erkennen können.24 Indes wäre die Vorstellung, dass die Unternehmensethik das Strafrecht ersetzen könnte, verfehlt. Wie bereits ausgeführt, haben unternehmensethische Fragen insbesondere das marktbezogene Handeln von Unternehmen zum Gegenstand. Die Funktionsfähigkeit von Märkten hängt aber eben auch von einem adäquaten strafrechtlichen Schutz marktwirtschaftlicher Institutionen ab; und dieser Schutz hat aufgrund der Mittel, mithilfe deren das Strafrecht zur Geltung gebracht werden kann, einen anderen Charakter als die Unternehmensethik. Es bietet eine Form der Verlässlichkeit, die die Unternehmensethik bzw. deren Mittel nicht zur Verfügung haben. Was das Strafrecht anbelangt, so mag man der hier formulierten Goldenen Regel einen gewissen heuristischen Wert nicht absprechen. Sie kann eine Orientierung leisten, welche Handlungsweisen von Straftatbeständen erfasst werden sollten. Dabei sei vorausgeschickt, dass das Strafrecht und der Strafprozess wohl nicht als diejenigen Orte angesehen werden können, an denen die Gesellschaft ihren Zusammenhalt üben oder ihre moralische Empörung zum Ausdruck bringen sollte. Dies hängt auch mit der Vermutung zusammen, dass das Strafrecht die Dinge nur begrenzt (wieder) richten kann. Daraus folgt, dass das Strafrecht einer freien Gesellschaft weniger die privatrechtliche Zweckverfolgung einschränken soll, als vielmehr die Mittel, derer sich der Einzelne dazu gegebenenfalls bedienen möchte. Auch wird das Strafrecht stets nur als das letzte Mittel anzusehen sein. Die Ausgangsfrage, die sich im Hinblick auf das Strafrecht stellt, ist sehr einfach: Aus welchem Grund werden bestimmte Handlungen vom Gesetzgeber untersagt und als Straftaten behandelt? Für gewöhnlich besteht die Erklärung schlicht darin, dass diese Handlungen gesellschaftlich nicht gewünscht und aus diesem Grunde auch nicht erlaubt sind. Die Strafsanktion erfolgt, damit diese Handlungen nach Möglichkeit nur sehr vereinzelt und am besten gar nicht vorgenommen werden.25 Das Strafrecht stellt zu diesem Zweck Verhaltensregelungen auf, die mit einer Strafandrohung verbunden sind. Die Strafe erfolgt erst, wenn der Straftatbestand realisiert worden ist, der Schaden gewissermaßen eingetreten ist. Die wesentliche Funktion der Strafe ist darin zu sehen, den Anreiz, der mit bestimmten Verhaltensweisen für manche ver24
25
Zum Strafrecht als „Subsidiaritätswissenschaft“ siehe zum Beispiel Lüderssen Regulierung, Selbstregulierung und Wirtschaftsstrafrecht, in ebd., S. 317 sowie auch Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil (2006), S. 24. Hart Prolegomena (1971), S. 63.
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bunden sein mag, durch Strafandrohung entscheidend zu verringern und die Entscheidung darüber, ob die Handlung ungeachtet der Strafandrohung dennoch vorgenommen wird, im Übrigen dem Einzelnen zu überlassen.26 Ob Strafandrohungen Anreize de facto entscheidend verringern können, hängt freilich von einer Vielzahl von Faktoren ab, wobei neben der Strafhöhe eine hinreichend hohe Entdeckungs- und Verfolgungswahrscheinlichkeit der Straftat eine maßgebliche Rolle spielt. Das moderne Strafrecht beschreibt eine „Methode der sozialen Kontrolle, die im Rahmen der Zwangsordnung des Rechts [. . .] ein Maximum an Freiheit gewährt“.27 Es liegt daher auf der Hand, dass es eine ganze Reihe an Handlungen geben mag, die zwar gesellschaftlich nicht erwünscht seien mögen, denen aber vernünftigerweise nicht mit den Mitteln des Strafrechts begegnet werden sollte. Auch sollte das Strafrecht in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung nicht zur Durchsetzung „moralischer“ Anschauungen oder Zwecke herangezogen werden können. Sofern Handlungsspielräume mit strafrechtlichen Mitteln eingeschränkt werden sollen, bedarf es dazu stets sehr guter Gründe.28 Im Ausgangspunkt sollte Klarheit darüber herrschen, dass mit Strafe nur solchen Handlungsweisen zu begegnen ist, von denen angenommen werden darf, dass sie für die Gesellschaft, also für die gesellschaftliche Kooperation zum gegenseitigen Vorteil, in hohem Maße abträglich sind, d. h. das die Bestrafung solcher Handlungen im Rahmen der sozialen Kooperation unvermeidlich sein muss.29 Was kann nun die Goldene Regel im Hinblick auf das Strafrecht besagen? Die Antwort lautet ganz allgemein, dass mit dem Strafrecht solchen Handlungsweisen erfasst werden sollten, die diejenigen materiellen oder immateriellen Vermögenswerte in qualifizierter Weise verletzen oder unterminieren, die als die Bedingungen der gesellschaftlichen Kooperation zum gegenseitigen Vorteil anzusehen sind. Dabei kann sich das Strafrecht einmal auf solche Handlungsweisen beziehen, die die gesellschaftlichen und persönlichen Vermögenswerte und Rechtsgüter direkt schädigen. Daneben könnten auch solche Handlungsweisen in Betracht kommen, die in zurechenbarer Weise ursäch26
27 28
29
Ebd., S. 81. Deshalb ist die Frage der Internalisierung, zu der die Unternehmensethik einen erheblichen Beitrag leisten kann, nicht unerheblich. Hart Prolegomena (1971), S. 81. Eingehender dazu Prittwitz Begrenzung des Wirtschaftsstrafrechts durch die Rechtsgutlehre, sowie die Grundsätze der ultima ratio, der Bestimmtheit der Tatbestände, des Schuldgrundsatzes, der Akzessorietät und der Subsidiarität, in Kempf/ Lüderssen/Volk (Hrsg.), Handlungsfreiheit (2009), S. 53 f. Im Ergebnis so auch Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts (1996), S. 3.
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lich dafür werden, dass Investitionen in die zentralen Vermögenswerte der gesellschaftlichen Kooperation nicht mehr in gleichem Umfang getätigt werden. Typischerweise handelt es sich bei Straftaten also um Handlungen, die nicht im Sinne der gesellschaftlichen Kooperation zum gegenseitigen Vorteil erfolgen können. Sie weisen zumindest eine besondere Schadensträchtigkeit für andere Kooperationsteilnehmer auf (wobei der tatsächliche Schadenseintritt dann meist nur dem Zufall überlassen ist). Schließlich sind Straftaten geeignet, die Bedingungen der gesellschaftlichen Kooperation zum gegenseitigen Vorteil nachhaltig zu beschädigen, indem sie das jeder Kooperation zu Grunde liegende generalisierte Vertrauen wechselseitiger Verlässlichkeit qualifiziert unterminieren. Die Straftat zeichnet sich dementsprechend dadurch aus, dass sie sich nie zur allgemeinen Besserstellung der Kooperationsteilnehmer eignet und stets einhergeht mit erheblichen Folgekosten für Gesellschaft und Opfer. Es handelt es sich im Falle von Straftaten daher um Negativsummenspiele.30 Diebstahl, Sachbeschädigung, Gewaltausübung gegenüber Personen, Freiheitsentziehung und andere Formen der Rechtsgutbeeinträchtigungen lassen sich mit den normativen, konsensuellen Prinzipien freiwilliger Kooperationsverhältnisse (wie sie für freie Marktgesellschaften typisch sind und welche für gewöhnlich als Positivsummenspiele zu begreifen sind) nicht in Übereinstimmung bringen. Ähnliches gilt auch für Betrug und Nötigung. Diese Straftatbestände beschreiben Delikte, die sich maßgeblich auf die Willensbildung beziehen und somit den Status von Kooperationsverhältnissen (durch Täuschung und Zwang) berühren. In aller Regel fügen strafbare Handlungen dem Opfer nicht nur weit mehr Schaden zu, als sie dem Täter Nutzen stiften. Auch erzeugen sie Kosten bei Dritten. Diese werden sich gegebenenfalls angehalten fühlen, entsprechende, meist kostspielige Vorkehrungen zu ihrem Schutze zu treffen. Die Goldene Regel bietet einer Gesellschaft, die auf freiwillig eingegangenen Kooperationsverhältnissen beruht und deren Strafrecht nicht unmittelbar darauf angelegt ist, die besonderen moralischen Anschauungen (selbst der Vielzahl) ihrer Mitglieder zu befördern, folglich einige Anhaltspunkte dafür, welcher Handlungsweisen sich das Strafrecht, insbesondere auch das Wirtschaftsstrafrecht, anzunehmen hat. Es lässt sich daher festhalten, dass es Auf-
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Siehe dazu beispielsweise Epstein Simple Rules (1995), S. 73 ff., der dies anhand des Beispiels Diebstahl verdeutlicht.
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gabe des Strafrechtes ist, diejenigen Rechtsgüter und Vermögenswerte gegenüber Übergriffen oder Beeinträchtigung zu schützen, die als die Bedingungen der gesellschaftlichen Kooperation zum gegenseitigen Vorteil anzusehen sind. Mit anderen Worten: das Strafrecht einer freien Gesellschaft schützt die Funktionsfähigkeit der rechtsstaatlich und marktwirtschaftlich ausgestalteten Rahmenordnung samt ihrer Rechtgüter, wobei die (entsprechend ausgestaltete) Rahmenordnung als Inbegriff der Regeln über die Kooperation zum gegenseitigen Vorteil anzusehen ist. Insofern bleibt die Funktionsfähigkeit von Märkten auf das Strafrecht angewiesen. Zugleich lässt das Strafrecht große Bereiche individueller Handlungsmöglichkeiten ungeregelt, für die die Unternehmensethik relevant werden kann. Strafrecht und Unternehmensethik können sich auf zweifache Weise ergänzen: Einerseits kann Unternehmensethik die Ausbildung von Dispositionen – im Unternehmen: von Governance-Strukturen – unterstützen, die einen Einsatz des Strafrechts weniger wahrscheinlich werden lassen; andererseits kann Strafrecht grundlegende Aussagen der Unternehmensethik – zu der auf das Nichtschädigungsgebot im o. g. Sinne gehört – wirkungsvoll unterstützen in einer Weise, wie es der Unternehmensethik mit eigenen Mitteln nicht möglich ist.
6.
Schlussbemerkung
Der Beitrag sollte eine grundsätzliche Antwort darauf geben, wie das Verhältnis von Moral und Eigeninteresse in modernen, freiheitlichen Gesellschaften zu bestimmen ist und welcher unternehmensethische Begriff der Unternehmensverantwortung daraus folgt. Dazu wurde zunächst dargelegt, dass die Unternehmensethik eingebettet ist in die Praxis marktwirtschaftlichen Handelns und ein angemessener Verantwortungsbegriff unter den Restriktionen des unternehmerischen Alltags in marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften zu entwickeln ist. Dazu wurde festgestellt, dass die Unternehmensethik die „moralische Qualität“ der Marktwirtschaft anerkennt und auch voraussetzen muss. Es wurde eine Goldene Regel der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil formuliert, die eingängige Orientierungspunkte für verantwortungsvolles Unternehmenshandeln bietet. Die Regel ermöglicht es, problemspezifisch nach den Bedingungen zu suchen, welche für die Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil und zur allgemeinen Besserstellung, zu gestalten sind. Hierfür wiederum bedarf es der Bereit-
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schaft der Marktteilnehmer, entsprechende Investitionen in diese Bedingungen vorzunehmen. Der Unterhalt und Ausbau der Vermögenswerte, die als die Bedingungen der gesellschaftlichen Kooperation zum gegenseitigen Vorteil anzusehen sind, ist Anliegen der Unternehmensethik. In diesem Zusammenhang bietet das Strafrecht einen Schutz dieser Vermögenswerte, sofern diese für die soziale Kooperation zum gegenseitigen Vorteil unabdingbar sind. Unternehmensethik und Strafrecht sind insofern zwei komplementäre Mittel, Eigeninteresse bzw. Gewinnstreben und Moral miteinander vereinbar zu machen.
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Gemeinwohlorientierte Unternehmensinteressen u. Kapitalgesellschaften
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Gemeinwohlorientierte Unternehmensinteressen und Kapitalgesellschaften Gemeinwohlorientierte Unternehmensinteressen u. Kapitalgesellschaften Gerald Spindler Gerald Spindler
Gliederung I. Einleitung II. Die Entwicklung der Leitlinien für das Vorstandshandeln 1. Gemeinwohl- und Arbeitnehmerinteressen in der Weimarer Republik a) Erste Ansätze für eine unternehmensbezogene Mitbestimmung und zur Gemeinwirtschaft b) Die Diskussion um das „Unternehmen an sich“ 2. Die Bindung an das Allgemeinwohl im AktG 1937 3. Leitlinien des Vorstands im Rahmen der Diskussion des AktG 1965 4. Das Unternehmensinteresse als zentrale Leitlinie in der Rechtsprechung und in der rechtswissenschaftlichen Diskussion 5. Der Shareholder Value als Maxime für die Führungsorgane der AG III. Die Zieldiskussion: Pluralismus oder Monismus? Unternehmensinteresse oder Shareholder Value? 1. Shareholder Value als monistische Interessenleitlinie a) Shareholder Value und Verbandsinteresse b) Shareholder Value und Interessen anderer Stakeholder c) Shareholder Value und Unternehmerisches Ermessen 2. Unternehmensinteresse, Shareholder Value und prozedurale Regeln 3. Interessenpluralismus in der mitbestimmten AG 4. Berücksichtigung von Gemeinwohlinteressen 5. Neuausrichtung der Vorstandsvergütung durch das VorstAG IV. Interessenausrichtung bei anderen Rechtsformen, insbesondere der GmbH V. Rückwirkungen auf die strafrechtliche Bewertung VI. Gesetzliche Verankerung einer pluralistischen Unternehmensleitlinie?
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I.
Gerald Spindler
Einleitung
Die Frage, welchen Leitbildern und Handlungsmaximen der Vorstand einer Aktiengesellschaft zu folgen hat, ist fast so alt wie die AG selbst. So lassen sich entsprechende Diskussionen bis zu den Ursprüngen der AG zurück verfolgen, etwa der staatlichen Genehmigung für Aktiengesellschaften („Octroi“-, später Konzessionssystem).1 Aber auch in den Hochzeiten des Liberalismus galt etwa die Einrichtung des obligatorischen Aufsichtsrats durch die 1. Aktienrechtsnovelle vom 11. Juni 1870 als Institution, die die, durch den Wegfall des Konzessionssystems, entstandene Lücke im Schutzsystem der Aktionäre und der Gesellschaftsgläubiger beseitigen sollte.2 Die Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen war zu dieser Zeit allerdings noch nebenrangig; das Bild sollte sich jedoch mit dem Ersten Weltkrieg und dem Erstarken der Arbeiterbewegung sowie den ersten Anfängen einer betrieblichen und unternehmerischen Mitbestimmung in den zwanziger Jahren ändern (II.1.a)). Im folgenden werden kurz die Entwicklungslinien nachgezeichnet, die für die Leitmaximen des Vorstandshandelns prägend sind, und die bis heute die aktuelle rechtswissenschaftliche Diskussion beeinflussen, insbesondere die Verlagerung des Schwerpunkts vom allgemeinen pluralistisch geformten Unternehmensinteresse hin zum Shareholder Value als der maßgeblichen Richtschnur des Vorstandshandelns (II.5.). Ferner ist die bislang nur stiefmütterlich behandelte Situation in anderen Rechtsformen zu beleuchten (IV.). Stets ist dabei die strafrechtliche Perspektive, insbesondere der Querbeziehungen zum Untreuetatbestand, im Blick zu behalten. Abschließend ist rechtspolitisch nach einer gesetzlichen Verankerung der Leitlinien für das Handeln der Geschäftsleitung zu fragen (VI.).
1
2
Vgl. zur Diskussion um die Berücksichtigung von Schutzinteressen von Aktionären, Gläubigern und dem Schutz des Gemeinwohls im Rahmen der Einführung eines Konzessionssystems: Bayer/Habersack/Pahlow Aktienrecht im Wandel Bd. I 8. Kap. Rn. 72 ff. Aus dem fakultativen Aufsichtsrat des ADHGB von 1861 wurde ein obligatorischer, dessen Einrichtung nachweispflichtig und dessen Beschlussunfähigkeit strafbewehrt war: vgl. Bayer/Habersack/Lieder Aktienrecht im Wandel Bd. I 10. Kap. Rn. 69.
Gemeinwohlorientierte Unternehmensinteressen u. Kapitalgesellschaften
II.
Die Entwicklung der Leitlinien für das Vorstandshandeln
1.
Gemeinwohl- und Arbeitnehmerinteressen in der Weimarer Republik
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Nachdem lange Zeit nach Überführung der AG aus dem Octroi-System in das bürgerlich liberale System der Gründungsfreiheit die Interessen der Anteilseigner die einzige Leitlinie für das Handeln der Verwaltungsorgane darstellten, änderte sich das Bild mit dem ersten Weltkrieg und der gesellschaftspolitischen Anerkennung der Arbeiterbewegung:3
a)
Erste Ansätze für eine unternehmensbezogene Mitbestimmung und zur Gemeinwirtschaft
Mit der Einführung der Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat aufgrund des BetriebsräteG 1920 in Verbindung mit dem Gesetz über die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern (1922)4 wurde der Grundstein für die unternehmerische Mitbestimmung in Deutschland gelegt, nachdem schon zuvor während des Ersten Weltkriegs Arbeiter- bzw. Angestelltenausschüsse eingerichtet worden waren.5 Im Gegensatz zur späteren Einführung der fast-paritätischen Mitbestimmung in den siebziger Jahren beschäftigte das BetriebsräteG die Gerichte hinsichtlich der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat offenbar kaum,6 was dafür spricht, dass sich die Praxis mit den Arbeitneh-
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4
5
6
Ausführlicher zum Folgenden Bayer/Habersack/Spindler Aktienrecht im Wandel Bd. I 13. Kap. Rn. 8. § 70 Betriebsrätegesetz vom 4. 2. 1920, RGBl. I, S. 147; Gesetz über die Entsendung von Betriebsratsmitgliedern in den Aufsichtsrat vom 15. 2. 1922, RGBl. I, S. 209; s. dazu Flatow/Kahn-Freund13 Betriebsrätegesetz S. 355 ff., 673 ff.: beide Gesetze aufgehoben durch § 65 Nr. 1 Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit v. 20. 1. 1934, RGBl. I, S. 45. Eingeführt durch §§ 11, 12 Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst v. 5. 12. 1916, RGBl. I, S. 1333. So finden sich in dem maßgeblichen Kommentar von Flatow/Kahn-Freund13 Betriebsrätegesetz § 70, nur vereinzelte Rechtsprechungsnachweise zur Verschwiegenheitspflicht; die gelungene Eingliederung der nach dem BetriebsräteG entsandten Aufsichtsratsmitglieder hob auch der Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungsund Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft, Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für allgemeine Wirtschaftsstruktur, 3. Arbeitsgruppe: Wandlungen in den wirtschaftlichen Organisationsformen, 3. Teil: Wandlungen in der akti-
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mervertretern arrangieren konnte. Diskutiert wurden allerdings mögliche Interessenkollisionen von Aufsichtsratsmitgliedern, für die bereits zu jener Zeit das Unternehmensinteresse als entscheidendes Kriterium der Sorgfaltspflichtkonkretisierung entwickelt wurde,7 ohne dass jedoch genaue Konturen ersichtlich wurden. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs setzte in Deutschland eine umfassende Debatte über die Einführung einer Gemeinwirtschaft8 ein, die eng mit der Stärkung der Gemeinwohlinteressen bei der Ausrichtung der AG zusammenhängt, ohne dass allerdings dieser Begriff einheitlich verstanden wurde. Für den als „Vater der Gemeinwirtschaft“9 bezeichneten Walter Rathenau (1867– 1922) war Wirtschaft „nicht Privatsache, sondern Gemeinschaftssache, nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Absoluten, nicht Anspruch, sondern Verantwortung“.10 Dementsprechend sei der Volkswirtschaft ein einheitlicher, zentraler Wille, ein so genannter „Gemeinschaftswille“,11 zugrunde zu legen. Nach Ansicht Rathenaus war das Großunternehmen nicht mehr lediglich ein Gebilde privatrechtlicher Interessen, sondern vielmehr ein nationalwirtschaftlicher, der Gesamtheit angehöriger Faktor. Im Schlusssatz seiner Schrift „Vom Aktienwesen“ forderte Rathenau die bewusste Einordnung des Unternehmens in die Wirtschaft der Gesamtheit, die Durchdringung mit dem Geiste der Gemeinverantwortlichkeit und des Staatswohls.12 Unter Lösung vom überkommenen Begriff des Privateigentums trat Rathenau daher ein für eine Autonomie des Unternehmens, die er als zwischen Staatsverwaltung und Privatwirtschaft einzuordnende „Objektivierung“ bezeichnete. 13 Die bisherigen Aktionäre sollten nach den Reformvorstellungen Rathenaus die Stellung von Gläubigern einnehmen und eine feste Rente sowie eine Tilgungsquote erhalten, während die Arbeiter und Angestellten unter staatlicher Aufsicht in die Rechte und Pflichten der vormaligen Aktionäre einrücken sollten, ohne ihrerseits zu Aktionären zu werden; der Jahresüberschuss des Unternehmens sollte
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enrechtlichen Gestaltung der Einzelunternehmen und Konzerne, Generalbericht (1930) S. 42 ff., einstimmig hervor. Vgl. Staub/Pinner HGB § 243 Anm. 2e zur Interessenkollision m. w. N.; Friedländer Konzernrecht (1927) S. 282 f. S. allgemein zur Entwicklung der Gemeinwirtschaft Hesselbach Die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen (1971) S. 13 f.; v. Loesch Die gemeinwirtschaftliche Unternehmung (1977) S. 56 ff. So v. Loesch Die gemeinwirtschaftliche Unternehmung (1977) S. 56 ff. Rathenau Von kommenden Dingen (1917) S. 95. Rathenau Die neue Wirtschaft (1918) S. 27. Rathenau Vom Aktienwesen (1922) S. 62. Rathenau Von kommenden Dingen (1917) S. 142–145.
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ausschließlich an die Arbeiter und Angestellten verteilt werden.14 Hierzu schlug Rathenau die Selbstverwaltung der Wirtschaft durch staatlich beaufsichtigte Berufs- und Gewerbeverbände vor.15 Deutlich sprach sich Rathenau indes gegen Staatseigentum und Planwirtschaft aus.16 Auf diesen ideengeschichtlichen Fundamenten wurde intensiv die Beteiligung der Arbeitnehmer am Kapital und am Gewinn der AG diskutiert, ohne dass hierzu ein konkretes Ergebnis erzielt worden wäre. Gemeinwirtschaftliche Ansätze zeigte etwa die vom 32. Deutschen Juristentag 1921 angestoßene Debatte um die Beteiligung der Arbeitnehmer am Kapital und Gewinn des Unternehmens bzw. der Wirtschaft.17 Doch scheiterten diese Anläufe, wie z. B. die von Kaskel und Ehrenzweig auf dem Deutschen Juristentag 1921 vorgeschlagene Arbeiteraktie,18 ebenso wie zuvor der 1920 vom Reichstag vorgeschlagene Gesetzentwurf über den Aktienerwerb durch Arbeitnehmer.19 Eine Beteiligung der Arbeiter und Angestellten wurde nicht nur am Einzelunternehmen, sondern auch an sämtlichen Unternehmen eines Erwerbszweigs oder an der Gesamtwirtschaft erwogen.20 Gegenstand der Diskussion waren sowohl die Beteiligung des einzelnen Arbeitnehmers als auch der Gesamtarbeitnehmerschaft des Unternehmens in der Form einer Werksgenossenschaft.21 Der radikalsten Form der Arbeitnehmerbeteiligung, der so genannten Arbeitsaktie, lag unverkennbar eine gemeinwirtschaftliche Konzeption zugrunde. Die kapitallose Arbeitsaktie ging von dem Grundgedanken aus, dass Kapital und Arbeitskraft wirtschaftlich gleich zu bewerten seien und demnach als gleichwertige Einlagen eingebracht werden könnten.22 Diese unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entbrannte Debatte um eine Gemeinwirtschaft wirkte sich erheblich auf die in der zweiten Hälfte 14 15 16 17 18
19
20 21
22
Rathenau Autonome Wirtschaft (1919) S. 23. Rathenau Die neue Wirtschaft (1918) S. 56–67. Rathenau Autonome Wirtschaft (1919) S. 5, 7, 20. Verhandlungen des 32. DJT (1921) S. 263 ff. Kaskel Verhandlungen des 32. DJT (1921) S. 263 ff.; Ehrenzweig ebd. S. 282 ff.; s. dazu auch Klausing AktG nebst Einführungsgesetz und „Amtlicher Begründung“ (1937) Einl. Rn. 16. Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 322 S. 4423 B auf Antrag des Ausschusses für soziale Angelegenheiten, Bd. 340, Drucksache Nr. 1838. Übersicht bei Kaskel Verhandlungen des 32. DJT (1921) S. 263, 268 f. Kaskel Verhandlungen des 32. DJT (1921) S. 270, der im Ergebnis für die Beteiligung des einzelnen Arbeitnehmers plädiert. Kaskel Verhandlungen des 32. DJT (1921) S. 274; Ehrenzweig ebd. S. 282, 287, die sich indes gegen die Arbeitsaktie aussprechen.
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der zwanziger Jahre aufkommende Lehre vom „Unternehmen an sich“ aus23 – und strahlt damit fast bis in die heutige Zeit aus, wenn das Unternehmensinteresse als Leitlinie für Pflichten der Organe herangezogen wird.
b)
Die Diskussion um das „Unternehmen an sich“
In die Zeit der Stabilisierung fällt ferner die wiederaufgeflammte Diskussion über die Stellung und Regulierung der AG im Wirtschaftsrechtssystem. Der moderne Begriff des Unternehmensinteresses als Sammelbecken für alle Interessen, die Anteilseigner, Arbeitnehmer, Verbraucher und Staat gegenüber der AG haben, und die durch den Vorstand zum Ausgleich gebracht werden sollen,24 taucht hier bereits in Gestalt der Wirtschaftsrechtstheorie auf, die Karl Geiler 1927 in der Abhandlung „Die wirtschaftsrechtliche Methode im Gesellschaftsrecht“ begründete.25 Der Wirtschaftsbetrieb, insbesondere der industrielle, werde immer mehr zu einer eigenen sozialen Ordnung, in der sich der Organschaftsgedanke, der in der Unternehmungsleitung nur einen Treuhänder der Allgemeinheit erblicke, zunehmend durchsetze.26 An die Stelle der früheren, von den Eigentümern und Gesellschaften selbst geleiteten und einzig auf hohe Kapitalgewinne gerichteten Einzelwirtschaften, träten verstärkt große Wirtschaftsgebilde, bei denen sich das Kapital auf breite Volkskreise verteile; die in fremden Händen liegende Unternehmensleitung werde immer stärker zu Treuhändern nicht nur des anvertrauten Kapitals, sondern auch der anderen am Produktionsprozess beteiligten Personenkreise, insbesondere der Arbeiter und Verbraucher.27 Geiler griff damit in Deutschland eine aktuelle, auch in den USA in Gestalt des berühmten Werks von Berle/Means28 geführte Debatte auf. Eng damit verwandt ist die Diskussion um das sog. „Unternehmen an sich“. Dieser Begriff geht zwar auf die Überlegungen von Walter Rathenau noch während des Ersten Weltkriegs zurück,29 wurde aber erst Ende der zwanziger Jahre von 23 24
25 26 27 28 29
S. dazu unten II.1.b). Der Begriff „Unternehmensinteresse“ wird von BGHZ 64, 325, 331 explizit gebraucht; ausführlich dazu m. w. N.: MünchKommAktG-Spindler § 76 Rn. 69 ff. Geiler Gruchots Beiträge 68 (1927) 593, 612. Geiler Gruchots Beiträge 68 (1927) 593, 611. Geiler Gruchots Beiträge 68 (1927) 593, 612. Berle/Means The Modern Corporation and Private Property (1932). Rathenau Vom Aktienwesen (1922) S. 38 f.; zu den Überlegungen Rathenaus siehe auch den Überblick über die Entstehung der Gemeinwirtschaft Bayer/Habersack/ Spindler Aktienrecht im Wandel Bd. I 13. Kap. Rn. 9 ff.; ebenso spricht Lehmann Gutachten zum 34. DJT (1926) S. 258, 314 von „Interessen des Unternehmens als eines
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Fritz Haußmann geprägt.30 Letztlich wurde die Lehre vom „Unternehmen an sich“ durch die Beiträge von Nußbaum und Netter richtig bekannt, wenngleich sich beide äußerst kritisch mit der Theorie auseinandersetzten, soweit sie auf die Anerkennung einer Bestandsgarantie des Unternehmens hinauslief.31 Allerdings wandte sich Haußmann gegen die von Rathenau vorgenommene Beschreibung des Großunternehmens als autonomes Gebilde zwischen Staat und Privatwirtschaft.32 Die AG, so Haußmann, existiere nicht um ihrer selbst willen, sondern diene der Erwirtschaftung von Erträgen.33 Die Autonomie des Unternehmens verstand Haußmann in dem Sinne, dass die divergierenden Interessen von Aktionärsgruppen, Gläubigern, Arbeitnehmern etc. am Unternehmen im Einzelfall, nicht durch generelle Normen, auszugleichen seien.34 Das „Unternehmen an sich“ sei der Rahmen der im Unternehmen miteinander verbundenen verschiedenen Interessen, den man als G esamtinteresse bezeichnen könne.35 Es gebe keinen Grundsatz, wonach gesellschaftsfremde Interessen nicht vertreten werden dürften; allerdings müssten die Partikularinteressen im Kollisionsfall hinter dem Gesamtinteresse zurückstehen.36 In der Diskussion der Weimarer Republik diente dieser schillernde Begriff überwiegend zum einen der Stärkung der gemeinwirtschaftlich orientierten Überlegungen,37 indem die Bedeutung der AG und des (Groß-) Unterneh-
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36 37
eigenen wirtschaftlichen Organismus“; s. auch zur historischen Herausbildung der Lehre vom „Unternehmen an sich“ Riechers Das „Unternehmen an sich“ (1996) S. 7 ff. Darauf, dass Rathenau den Begriff des „Unternehmens an sich“ nicht verwendete, dieser vielmehr von Haußmann geprägt wurde, verweisen Netter FS Pinner (1932) S. 507, 546 und Nußbaum FS Heymann (1931) Bd. II S. 492, 500; auch Haußmann selbst Bankarchiv 30 (1930/31) 57, 58. Netter FS Pinner (1932) S. 507, 545 ff.; Nußbaum FS Heymann (1931) Bd. II S. 492, 499 ff.; kritisch auch Schmölder JW 1929, 2090. Haußmann Vom Aktienwesen und vom Aktienrecht (1928) S. 43; ders. Bankarchiv 30 (1930/31) 57, 58, 62 f. Haußmann Vom Aktienwesen und vom Aktienrecht (1928) S. 54; ders. Bankarchiv 30 (1930/31) 57, 58, 60 f. Haußmann Vom Aktienwesen und vom Aktienrecht (1928) S. 52; ders., Bankarchiv 30 (1930/31), 57, 63 f. Haußmann Bankarchiv 30 (1930/31) 57, 64; zust. Passow Strukturwandel der Aktiengesellschaft (1930) S. 5; Netter FS Pinner (1932) S. 507, 568, der sich allerdings gegen die Verwendung der Begriffe „Autonomie“ und „Gesamtinteresse“ aussprach (S. 574 ff.) und stattdessen den Begriff des „Gemeinschaftsinteresses“ verwandte (S. 579 f.). Haußmann Bankarchiv 30 (1930/31) 57, 63 f. Darauf wies bereits Haußmann Vom Aktienwesen und vom Aktienrecht (1928) S. 14 hin; s. dagegen aber Netter FS Pinner (1932) S. 507, 545 ff., der den Begriff des „Unternehmens an sich“ von der Gemeinwirtschaftsentwicklung trennte.
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mens in einer Volkswirtschaft der Herrschaft der Anteilseigner gegenüber gestellt wurde, zum anderen aber auch der Bewältigung von Mehrheits- und Minderheitskonflikten und dem Schutz der Kleinaktionäre. 38 Wiederum schlug sich die in der Weimarer Republik immer deutlicher zu Tage tretende Entkoppelung von Leitung und Eigentum nieder, des ohne erkennbaren Familien- oder Unternehmereinfluss stetig wachsenden Unternehmens, wie etwa der I. G. Farben AG als eine der spektakulären Großfusionen der zwanziger Jahre. Einher damit ging eine sich emanzipierende Betriebswirtschaftslehre als Wissenschaft der Unternehmensführung und -leitung. Die Kritik an einer derartigen schwammigen Formel lag allerdings auch schon damals auf der Hand: So betonten schon Nußbaum und Passow, dass das Unternehmensinteresse ein bloßer Vorwand für die Festigung einer unbotmäßigen Verwaltungsherrschaft sein könne.39 Teilweise fasste man das Unternehmens- und das Aktionärsinteresse immerhin – entgegen der Auffassung Haußmanns – deutlich als Gegensatzpaar auf. So hatte das Reichsgericht in einer – allerdings vor dem Aufkommen der Lehre vom „Unternehmen an sich“ ergangenen und vereinzelt gebliebenen – Entscheidung festgehalten, dass sich der Gesellschafter grundsätzlich von den Interessen der Gesellschaft und nicht von seinen eigenen Interessen leiten zu lassen habe.40 In ähnlicher Weise hatte das Reichgericht den bereits beschriebenen Grundsatz entwickelt, dass eine Ausbeutung der Mehrheitsrechte gegenüber der Minderheit und die Verfolgung eigensüchtiger Interessen unter bewusster Hintansetzung des Wohls der Gesellschaft einen Verstoß gegen die guten Sitten enthalten können.41 Die im Sinne Haußmanns verstandene Theorie des „Unternehmens an sich“ griff hingegen der Deutsche Anwaltsverein anlässlich der Antworten zur Umfrage des Reichsjustizministeriums auf, indem er feststellte, dass das Unternehmen als solches in seiner Objektivierung und Versachlichung zu einem den Aktio38
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Deutlich die erläuternden Bemerkungen zum Entwurf eines Gesetzes über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien sowie Entwurf eines Einführungsgesetzes nebst erläuternden Bemerkungen (AktG-E 1930), abgedruckt bei Schubert Quellen zur Aktienrechtsreform der Weimarer Republik 1926–1931 (1991) S. 936; darauf macht zu Recht Nörr ZHR 150 (1986) 155, 159 aufmerksam. Nußbaum FS Heymann (1931) Bd. II S. 492, 501 ff.; Passow Strukturwandel der Aktiengesellschaft (1930) S. 5. RGZ 107, 202, 204 für die Übertragung des Vermögens einer Gewerkschaft im Ganzen; dagegen Schreiber/A. Hueck Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben (1929) Bd. IV S. 167, 174, wonach es eine Überspannung bedeute, wenn der Aktionär sich bei der Abstimmung lediglich von den Gesellschaftsinteressen leiten und alle sonstigen persönlichen Interessen ganz zurücktreten lassen müsse. RGZ 107, 72, 75; RGZ 107, 202, 204; RGZ 113, 188, 193; s. auch bereits RGZ 68, 314, 317: Vorsätzliches Handeln zum Nachteil der AG und der Minderheit.
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närsindividualismus einschränkenden Moment geworden sei.42 Die Individualinteressen würden lediglich zurückgedrängt, wohingegen eine Ablösung durch das Unternehmensinteresse nicht in Frage komme; beide Interessen seien miteinander in Einklang zu bringen.43 Die Reformkommission des 34. Deutschen Juristentags schlug schließlich die Schaffung einer Generalklausel vor, wonach die Ausübung des Stimmrechts unzulässig sein sollte, wenn der Aktionär unter Verletzung der offenbaren Interessen der Gesellschaft gesellschaftsfremde Sondervorteile für sich oder einen Dritten verfolgte.44 Eine entsprechende Generalklausel sahen auch die Reformentwürfe der Jahre 1930 und 1931 vor (s. § 137 Abs. 1 S. 2 AktG-E 1931). Die Verfasser des AktG-E 1930 erkannten damit an, dass die Interessen des „Unternehmens an sich“ ebenso schutzbedürftig seien, wie die Interessen der Einzelaktionäre.45
2.
Die Bindung an das Allgemeinwohl im AktG 1937
Die erste gesetzliche Festlegung von Leitlinien für das Vorstandshandeln enthält das AktG 1937. Der maßgebliche § 70 Abs. 1 AktG 1937 bestimmte wie folgt: „Der Vorstand hat unter eigener Verantwortung die Gesellschaft so zu leiten, wie das Wohl des Betriebes und seiner Gefolgschaft und der gemeine Nutzen von Volk und Reich es fordern.“ Das neue Aktiengesetz sollte eine grundsätzliche Neuordnung des Unternehmensrechts unter Berücksichtigung nationalsozialistischer Vorstellungen einläuten.46 Dem entsprach die Vorstellung, dass die Aktiengesellschaft nicht „das privatwirtschaftliche Erwerbsziel lediglich um seiner selbst willen“47 verfolgen sollte, sondern auch und insbesondere gesamtwirtschaftliche und soziale Aufgaben zu erfüllen hat. Aus Gründen der Gesetzestechnik wurden diese, als allgemeingültig angesehenen Aspekte, nicht in einem „Allgemeinen Teil“ zum Aktiengesetz, sondern in den Bestimmungen zum Vorstand, als dem für die Leitung des
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46
47
DAV Druckschriften Nr. 22 (1929) S. 14. DAV Druckschriften Nr. 22 (1929) S. 14. DJT-Kommission, Generalbericht, 1928, S. 27. Erläuternde Bemerkungen zum Entwurf eines Gesetzes über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien sowie Entwurf eines Einführungsgesetzes nebst erläuternden Bemerkungen (AktG-E 1930), abgedruckt bei Schubert Quellen zur Aktienrechtsreform der Weimarer Republik 1926–1931 (1991) S. 936. S. Einleitung zur Amtlichen Begründung, abgedruckt bei Klausing Aktien-Gesetz (1937) S. 2; Kißkalt ZAkDR 1934, 20, 34. Klausing Aktien-Gesetz (1937) S. 59, 73.
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Unternehmens allein Verantwortlichen, verankert. 48 Entkleidet man die Norm der NS-Ideologie offenbaren sich die Wurzeln bereits im Aktienrechtsentwurf des Reichsjustizministeriums 1930, der seinerseits auf die Lehre des Unternehmens an sich zurückgeht.49
3.
Leitlinien des Vorstands im Rahmen der Diskussion des AktG 1965
Der Gesetzgeber des AktG 1965 hingegen änderte § 70 Abs. 1 AktG 1937 im Zuge der Diskussionen dahingehend, dass er die im AktG 1937 verankerten Leitlinien für das Vorstandshandeln aus dem Gesetz strich. Ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien sah er deren Geltung als selbstverständlich an. So heißt es in der Begründung des Regierungsentwurfs zu § 76 Abs. 1 AktG 1965 (§ 70 Abs. 1 AktG 1937): „Daß der Vorstand bei seinen Maßnahmen die Belange der Aktionäre und der Arbeitnehmer zu berücksichtigen hat, versteht sich von selbst und braucht nicht ausdrücklich im Gesetz bestimmt zu werden. Gleiches gilt für die Belange der Allgemeinheit.“50 Weitergehend heißt es im Bericht des Rechtsausschusses zu einem Antrag auf Ergänzung51 des Regierungsentwurfs um Leitlinien für das Vorstandshandeln: „Die Mehrheit im Rechtsausschuß und Wirtschaftsausschuß des Bundestages sprach sich jedoch gegen die beantragte Ergänzung aus. Sie teilt zwar die Auffassung, daß jede Aktiengesellschaft, auch wenn ihre Tätigkeit auf Gewinn gerichtet sei, sich in die Gesamtwirtschaft und in die Interessen der Allgemeinheit einfügen müsse. Das ergebe sich aus § 396. Daß die Gesellschaften auch das Wohl ihrer Arbeitnehmer zu beachten hätten, sei in einem sozialen Rechtsstaat selbstverständlich und ergebe sich im Übrigen aus einer Vielzahl von Rechtsvorschriften, die die Ausgestaltung dieses 48 49
50
51
S. dazu Klausing Aktien-Gesetz (1937) S. 73. S. dazu Haussmann JW 1927, 2953 ff., der diesen Begriff prägte; näher dazu Bayer/Habersack/Spindler Aktienrecht im Wandel Bd. I 13. Kap. Rn. 83 ff.; eingehend Riechers Das „Unternehmen an sich“ (1996) passim m. w. N. Kropff Textausgabe des Aktiengesetzes vom 6. 9. 1965, Begründung RegE zu § 76 S. 97. Der Antrag richtete sich auf die Einfügung eines § 75a AktG 1965. Nach dieser Vorschrift sollte die Gesellschaft das Unternehmen unter Berücksichtigung des Wohl seiner Arbeitnehmer, der Aktionäre und der Allgemeinheit betreiben (s. Kropff Textausgabe des Aktiengesetzes vom 6. 9. 1965, Ausschußbericht zu § 76 S. 98).
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Grundsatzes im einzelnen näher regelten (Kündigungsschutzgesetz, Schwerbehindertengesetz, Betriebsverfassungsgesetz. Unfallverhütungsvorschriften). Schließlich verstehe es sich von selbst, dass die Gesellschaft sich auch nicht über die Interessen ihrer Arbeitnehmer hinwegsetzen dürfe. Bei dieser Sachlage sei es überflüssig, das Gesetz wie beantragt zu ergänzen. Die beantragte Vorschrift habe keine rechtliche Substanz und keine selbständige Bedeutung. Bei ihrer Aufnahme in das Gesetz bestehe die Gefahr, dass ihr gleichwohl eine weitergehende Bedeutung beigemessen werde. Diese Gefahr bestehe um so mehr, wenn aus der Reihenfolge der Aufzählung der Schluss gezogen werden würde, das zuerst genannte Wohl der Arbeitnehmer habe im Zweifel Vorrang vor dem Wohl der Aktionäre und diese beiden wiederum vor dem Wohl der Allgemeinheit. Auch dies spreche gegen die beantragte Ergänzung.“52 Der Gesetzgeber brachte damit deutlich zum Ausdruck, dass die Leitlinien des § 70 AktG 1937 auch im neuen AktG 1965 fortgelten sollten, allerdings kein Primat des einen oder anderen Interesses bestehen sollte. Gerade die Berücksichtigung des Wohls der Arbeitnehmer wurde als selbstverständlich unterstellt, wenngleich der Vorstand ihnen nicht den Vorrang einzuräumen hat.53
4.
Das Unternehmensinteresse als zentrale Leitlinie in der Rechtsprechung und in der rechtswissenschaftlichen Diskussion
Die Figur des Unternehmensinteresses findet sich nach langer Zeit, in der die Rechtsprechung diesen Terminus nicht mehr verwandte, zum ersten Mal wieder in den siebziger Jahren in einem Urteil des BGHs zur Verschwiegenheit der Aufsichtsratsmitglieder.54 Der BGH führte dabei aus, dass sowohl für die Aufsichtsratsmitglieder der Aktionäre als auch für die der Arbeitnehmer das Interesse des Unternehmens maßgebend sei, welches „sich vielfach, aber nicht immer, mit den Interessen der im Aufsichtsrat repräsentierten Gruppen decken wird.“55 Hinsichtlich einer möglichen Interessenpluralität im Aufsichtsrat (und damit einer möglichen Interessenpluralität von Aktionären 52 53
54 55
Kropff Textausgabe des Aktiengesetzes von 6. 9. 1965, Ausschußbericht zu § 76 S. 98. Unverständlich daher (und unter erheblich verkürzter Darstellung der Gesetzgebungsmaterialien) die insinuierte Behauptung Mülberts AG 2009, 766, 770, dass § 70 AktG 1937 nicht fortgelte. Niemand behauptet die unmittelbare Fortgeltung; doch es geht um den Fortbestand der entsprechend dahinter stehenden Rechtsgedanken. BGHZ 64, 325, 329 = NJW 1975, 1412 – Bayer. BGHZ 64, 325, 331 = NJW 1975, 1412 – Bayer.
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und Arbeitnehmen) nahm der BGH jedoch ausdrücklich nicht Stellung. Auch das BVerfG nahm den Begriff des Unternehmensinteresses später in der Entscheidung56 zur verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit des MitbestG auf und führte eher beiläufig und ohne weitere Begründung aus, dass dem Vorstand die Wahrung von Interessen aufgegeben sei, „die nicht notwendig diejenigen der Anteilseigener sein müssen.“ Darüber, wie diese Figur des Unternehmensinteresses rechtlich einzuordnen und inhaltlich zu konkretisieren ist, herrschte (und herrscht) allerdings lange Zeit Streit. Da das „Unternehmensinteresse“ nicht an den Verband der Anteilseigner anknüpft, sondern an dem „Unternehmen“ als Zentrum zahlreicher Interessen, konnte (und kann) es nicht eindimensional im Sinne der Interessen der Anteilseigner verstanden werden. Im Wesentlichen herrscht daher darüber Einigkeit, dass der Vorstand die konfligierenden Interessen von Arbeitnehmern, Gläubigern, Aktionären und anderen an dem „Unternehmen“ interessierten Gruppen zu einem Ausgleich führen soll, ohne dass eine Gruppe das Präjudiz hätte. Dabei steht dem Vorstand ein breiter Spielraum zur praktischen Konkordanz dieser Interessen zu.57 Über diese dem Vorstand praktisch zugewiesene Kompetenz zur Konkretisierung eines unbestimmten Rechtsbegriffs hinaus werden zahlreiche Konstruktionen vertreten, die von der Verabsolutierung des Unternehmens als (fast) eigenständiger juristischer Person58 über ein Konglomerat verschiedenster Interessen59 bis hin zu einer auf systemtheoretischen Überlegungen fußenden Konzeption zur prozeduralen Findung des Unternehmensinteresses zwischen Vorstand und beteiligten Interessengruppen60 reichen61 und die hier nicht im einzelnen nachzuzeich-
56 57
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61
BVerfGE 50, 290 = NJW 1979, 833. Hopt ZGR 1993, 534, 536 f.; Hüffer9 § 76 Rn. 12; krit. GroßkommAktG-Kort § 76 Rn. 46; Schön ZGR 1996, 429, 439 f. So Raiser Das Unternehmen als Organisation (1969) S. 166 ff.; ders. FS R. Schmidt (1976) S. 101 ff.; s. aber auch Kölner KommAktG-Mertens/Cahn § 76 Rn 6 ff., der ähnlich wie Schilling FS R. Fischer (1979) S. 679, 680 ff. sowie ders. ZHR 144 (1980) 136 ff. eine Integration von Gesellschaft und Unternehmen vertritt. So etwa Jürgenmeyer Das Unternehmensinteresse (1984) S. 236 f.; Junge FS v. Caemmerer (1978) S. 547, 549 ff; Raisch FS Hefermehl (1976) S. 347 ff.; Semler Leitung und Überwachung (1996) Rn. 51 ff. m. w. N. So etwa Brinkmann Das Unternehmensinteresse (1983) S. 230 ff.; ders. AG 1982, 122, 127 ff.; Teubner ZHR 148 (1984) 470, 479 ff.; ders. ZGR 1983, 34; ähnlich Reuter AcP 179 (1979) 509, 519. Überblick über die Theorienbildung auch bei Schmidt-Leithoff Die Verantwortung der Unternehmensleitung (1989) S. 62 ff.; Zöllner AG 2003, 2, 3 ff.; Kuhner ZGR 2004, 244, 247 ff.
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nen sind, da sie zum einen bislang kaum Resonanz gefunden haben, zum anderen keine praktischen Auswirkungen zeitigen. Dementsprechend hat sich nach den intensiven, teilweise auch ideologisch geführten Debatten eine gewisse Ernüchterung eingestellt.62 Nach mehr als dreißig Jahren Diskussion hat sich bis heute kein Maßstab herausgebildet, der auch nur annähernd eine Leitlinie für die Beurteilung des Handelns des Vorstands bilden könnte.63 Eine zu pluralistische Interessenberücksichtigung und eine größtmögliche Konkretisierungsbefugnis durch den Vorstand kann die Verantwortung des Vorstands auflösen64 – wie dies schon Ende der zwanziger Jahre erkannt wurde. Aussagen über die materiellen Ziele „des Unternehmens“ lassen sich daher aus dem Unternehmensinteresse kaum ableiten,65 das Unternehmensinteresse wird zum „juristischen Ei des Kolumbus“.66
5.
Der Shareholder Value als Maxime für die Führungsorgane der AG
Die vor allem durch die Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen gekennzeichnete Diskussion in den siebziger Jahren wurde im Zuge der Globalisierung der Kapitalmärkte und der Rezeption der Ansätze der Chicago School (Ökonomische Analyse des Rechts) durch eine Konzentration auf verschiedene marktmäßige Kontrollmechanismen des Vorstands, allen voran eine kapitalmarktorientierte Sichtweise abgelöst, während rechtliche Kontrollen sich auf grobe Verstöße und Konflikte beschränken sollten,67 um die 62
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Ausführlich zur Kritik Kuhner ZGR 2004, 244, 252 ff.; Spindler/Stilz/Fleischer § 76 AktG Rn. 27. S. auch die Kritik von Mülbert ZGR 1997, 129, 156 ff. (wiederholt in ders. AG 2009, 766, 771 f.); Zöllner AG 2003, 2, 7 f.; GroßkommAktG-Kort § 76 Rn. 39 f.; Birke Das Formalziel der Aktiengesellschaft (2005) S. 198. Hüffer9 § 76 AktG Rn. 15; s. auch Wiedemann FS R. Fischer (1979) S. 883 ff.; krit. auch GroßkommAktG-Kort § 76 Rn. 46; Zöllner AG 2003, 2, 7 f. Im Ergebnis ähnlich Laske ZGR 1979, 173, 196 ff.; auf systemtheoretischer Grundlage Brinkmann Das Unternehmensinteresse (1983) S. 268 ff.; Teubner ZHR 148 (1984) 470, 479 ff.; ders. ZGR 1983, 34; Dalchow Zur Bedeutung des Shareholder Value bei der Konkretisierung von Organpflichten in börsennotierten AGs (2005) S. 83 f. So Mertens AG 1990, 49, 54; vorsichtiger Kölner KommAktG-Mertens/Cahn § 76 Rn. 10, 22. S. aber Schwarz/Holland ZIP 2002, 1661, 1672 die aufgrund einer Auflistung US-amerikanischer Unternehmenskrisen offenbar für eine Rückkehr zu einer verbandsrechtlichen Sichtweise (interne Corporate Governance) und Abkehr von der Marktkontrolle plädieren.
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Flexibilität unternehmerischen Handelns nicht zu gefährden. Ausdruck dieses Verständnisses ist der Shareholder Value als Leitlinie für die Führungsorgane,68 verstanden als Maximierung des Marktwerts der AG.69 Das Shareholder Value-Konzept basiert auf der finanzökonomischen Vorstellung, dass jeder Kapitalgeber bzw. Aktionär als rationaler Anleger im Sinne der Portfoliotheorie daran interessiert ist, möglichst die Rendite und den Marktwert seines Anteils, verstanden als abdiskontierter Ertragswert aller zukünftigen Einnahmen im Sinne der Investitionstheorie, zu maximieren.70 Im Vordergrund stehen damit die Interessen des Kapitalmarktes bzw. der Aktionäre an der AG, die einen absoluten Vorrang vor den Interessen anderer sog. Stakeholder (Arbeitnehmer, Management, Gläubiger, Kunden, die Öffentlichkeit etc.) beanspruchen;71 denn diese werden durch ihre jeweiligen Märkte oder durch entsprechende (exogene) rechtliche Rahmenbedingungen (z. B. Umweltrecht) sichergestellt. Vor allem mit der Verabschiedung des KonTraG72 1998 scheint sich dieses Konzept im AktG niedergeschlagen zu haben.73 Das KonTraG sollte die Ausrichtung der Publikumsgesellschaften auf die Bedürfnisse und Erwartungen der internationalen Finanzmärkte im Sinne einer stärkeren Orientierung an einer langfristigen Wertsteigerung für die Anteilseigner aktiv begleiten,74 insbesondere durch die erleichterte Gewährung von Aktienoptionen.75 Dies bedingt aber, dass sich der Vorstand bei seiner Tätigkeit auch an der Marktwertmaximierung orientieren darf, da ansonsten etwa bei Aktienoptionen als 68
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75
Einen geschichtlichen Überblick über den Einzug des Shareholder Value -Konzepts in das Aktienrecht gibt Groh DB 2000, 2152; zur Herkunft des Shareholder Value – Konzepts s. Mülbert ZGR 1997, 129, 134 f. Optimistischer aber Ulmer AcP 202 (2002) 143, 158 f.; Schilling BB 1997, 373, 375 f.; ausführlich Mülbert ZGR 1997, 129, 158 ff.; ders. FS Röhricht (2005) S. 421, 440 f.; wohl auch Zöllner AG 2003, 2, 11 f. Unzeitig/Köthner Shareholder Value Analyse (1995) S. 55 ff.; Mülbert ZGR 1997, 129, 156. Ulmer AcP 202 (2002) 143, 155; Kuhner ZGR 2004, 244, 259 ff. Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich vom 27. 4. 1998, BGBl. I, S. 786. Ulmer AcP 202 (2002) 143, 158; Mülbert FS Röhricht (2005) S. 421, 434 f.; v. Bonin Die Leitung der Aktiengesellschaft zwischen Shareholder Value und StakeholderInteressen (2004) S. 131, 149 f.; Groh DB 2000, 2153, 2158. Begr. RegE eines Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) BT-Drucks. 13/9712 S. 11; Mülbert FS Röhricht (2005) S. 421, 434; Wollburg ZIP 2004, 646, 647 f. Spindler/Stilz/Fleischer § 76 AktG Rn. 32; Ulmer AcP 202 (2002) 143, 158 f.; Birke Das Formalziel der Aktiengesellschaft (2005) S. 209.
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Vergütungsbestandteil eine Verfolgung von Aktionärsinteressen gar nicht möglich wäre.76 Eine deutliche Aussage indes, wie zu Zeiten des AktG 1965, sucht man vergeblich. Ebenso wenig wird der Leser bei den darauf folgenden Gesetzgebungsakten zur Reform des Aktienrechts fündig, sei es des NaStraG,77 des UMAG,78 des ARUG79 oder erst recht jüngst des VorstAG.80 Trotz der Betonung der zunehmenden Kapitalmarktorientierung hat der Gesetzgeber des KonTraG selbst festgehalten, dass das bisherige System ausgewogen sei und sich bewährt habe;81 eine völlige Neuorientierung der Ziele kann daher daraus nicht abgeleitet werden. Vereinzelt wird auch versucht der Rechtsprechung eine Orientierung auf den Shareholder Value zu entlocken:82 Dies soll sich vor allem aus den einschlägigen Entscheidungen des BVerfG zur prinzipiell erforderlichen Abfindung orientiert am Verkehrswert ergeben, der sich seinerseits am Börsenkurs orientiert.83 Indes resultiert aus der Maßgeblichkeit des Verkehrswerts für die Berechnung der Abfindung noch lange nicht, dass auch die Führungsorgane den Verkehrs- bzw. Marktwert des Unternehmens zu maximieren hätten; das BVerfG statuiert in der Entscheidung lediglich, wie der Wert im Lichte von Art. 14 GG zu berechnen ist, wodurch also auch das Eigentum in seinem Wert und seinem Inhalt geprägt ist. Fragen der inhaltlichen Ausgestaltung des Anteilseigentums und erst recht seiner Sozialbindung (Art. 14 II GG) werden durch die Entscheidung nicht berührt, was im Hinblick auf den Streitgegenstand auch nicht verwunderlich ist. Dies gilt auch hinsichtlich der in diesem Zusammenhang herangezogenen Macrotron- bzw. Delisting-Entscheidung des BGH:84 Zwar hat sich der BGH 76 77
78
79 80
81
82 83
84
Mülbert FS Röhricht (2005) S. 421, 434. Gesetz zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung (Namensaktiengesetz) vom 18. 1. 2001, BGBl. I, S. 123. Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts vom 22. 9. 2005, BGBl. I, S. 2802. Gesetz zur Umsetzung der Aktionärsrechterichtlinie vom 30. 7. 2009, BGBl. I, S. 2479. Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung vom 31. 7. 2009, BGBl. I, S. 2509. Begr RegE eines Gesetzes zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KontraG) BT-Drs. 13/9712 S. 11. So – allerdings im Ergebnis moderat – Mülbert FS Röhricht (2005) S. 421, 435 ff. Leitentscheidung BVerfGE 100, 289 – DAT/Altana; BVerfG Nichtannahmebeschluss v. 23. 8. 2000 NJW 2001, 279 – Moto Meter; BVerfG Nichtannahmebeschluss v. 25. 7. 2003 ZIP 2003, 2114; s. noch jüngst BVerfG NJW 2007, 3266; zum Ganzen Padberg Die Bedeutung des Börsenkurses für die Höhe von Barabfindungen (2007). BGHZ 153, 47, 55 – Macrotron.
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maßgeblich auf die Beeinträchtigung des Anteilseigentums und dessen Verkehrsfähigkeit gestützt, um die Zuständigkeit des Organs Hauptversammlung für die Entscheidung über ein Delisting zu begründen. Doch kann aus der Kompetenz der Hauptversammlung nicht der Rückschluss gezogen werden, dass der Vorstand stets die Aktionärsinteressen verfolgen müsste. Der Schlüssel zur Kompetenzzuweisung bei Delisting liegt nicht im Shareholder Value, sondern in der Frage, wer grundlegende Strukturentscheidungen in der AG zu treffen hat – dies muss aber nicht dazu führen, dass der Vorstand stets und immer den Shareholder Value zu berücksichtigen oder gar zu maximieren hätte.85
III.
Die Zieldiskussion: Pluralismus oder Monismus? Unternehmensinteresse oder Shareholder Value?
Diese alleinige Ausrichtung des Vorstandshandelns am Shareholder Value begegnet abgesehen von der dogmatischen Herleitung weiteren Bedenken in größerem Zusammenhang: zunächst kann der Shareholder Value nicht mit dem Gesellschaftsinteresse als Verbandsinteresse gleichgesetzt werden (III.1.), sodann impliziert der Shareholder Value nicht die Ausblendung anderer Interessen (III.1.b)), schließlich enthält auch die Orientierung am Shareholder Value ein nicht unerhebliches Maß an unternehmerischen Ermessen (III.1.c)). Diese Bedenken werden schließlich bekräftigt durch das jüngst verabschiedete VorstAG zur Neuausrichtung der Vorstandsvergütung (III.5.).
1.
Shareholder Value als monistische Interessenleitlinie
a)
Shareholder Value und Verbandsinteresse
Das Shareholder Value Konzept orientiert sich grundsätzlich an der Maximierung des Marktwerts des einzelnen Anteils eines Aktionärs, getreu den Grundsätzen der Investitions- und Finanzierungstheorie,86 was hinsichtlich sozialer Aktivitäten schließlich in einer (scheinbare mathematische Exaktheit 85
86
So aber Mülbert FS Röhricht (2005) S. 421, 436 ff, der jedenfalls die Marktwertmaximierung der Aktien als gleichrangiges Formalziel neben dem verbandsrechtlichen Ziel der Mehrung des Gesellschaftsvermögens anerkennt. So Mülbert ZGR 1997, 129 ff.
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87
gewährende) Art Investitionsrechnung münden soll.87 Dem steht jedoch die Bindung des Vorstands an den Verband „AG“ gegenüber; denn er ist Organ der juristischen Person „Aktiengesellschaft“ und dieser verpflichtet, nicht den Anteilseignern selbst, was sich in seiner Rückbindung an das Gesellschaftsinteresse niederschlägt, wenn man dieses als ein von den einzelnen Aktionärsinteressen losgelöstes Rentabilitätsziel versteht. 88 Der Vorrang des Verbandsinteresses und die unzulässige Gleichsetzung mit „dem“ Shareholder Value zeigt sich schließlich bei Gesellschaften mit Aktionären unterschiedlich hoher Beteiligungspakete und gegebenenfalls unternehmerischen Interessen, bei denen eine gleichmäßige Shareholder Value Orientierung schon aufgrund ihrer andersartigen Diversifikation ausscheidet, sofern das Unternehmen nicht einen späteren Börsengang plant.89
b)
Shareholder Value und Interessen anderer Stakeholder
Auch aus ökonomischer Sicht ist das Konzept des Shareholder Value keineswegs einseitig als Rückbindung an kurzfristige Anteilseignerinteressen zu verstehen; vielmehr ergeben sich auch hier durchaus Übereinstimmungen mit den Interessen anderer Gruppen, wie etwa Arbeitnehmern oder Gläubigern (sog. moderates Shareholder-Value-Konzept).90 So kann es sehr wohl einer Shareholder Value Maximierung entsprechen, langfristige, unvollständig spezifizierte Verträge91 – wie z. B. Arbeitsverträge92 – nicht zu Lasten der anderen Vertragspartei auszunützen. Denn dadurch wird anderen Vertragsparteien glaubhaft versichert, dass sie nicht „ausgebeutet“ werden im Rahmen ihrer (unvollständigen) Verträge, sonst anfallende Risikozuschläge und -prämien werden nicht erhoben, was letztlich wieder den Anteilseignern als Kapitalgeber zugute kommt. Nichts anderes ist auch im Rahmen anderer Konzepte gemeint, wenn betont wird, dass in langer Sicht weder der Gewinn noch der Marktwert einseitig auf Kosten anderer Stakeholder bzw. gegen deren Widerstand gemehrt werden könnte.93 87 88
89 90 91
92 93
So Mülbert AG 2009, 766, 773. Deutlich Mülbert FS Röhricht (2005) S. 421, 431 f.; zu den Bedenken dagegen und zur potentiellen Identität zwischen langfristiger Gewinnmaximierung und Shareholder Value s. Schmidt/Spindler FG Kübler (1997) S. 537 ff., 540. Hu UCLA L. Rev. 38 (1990) 277, 361 ff. Dazu Mülbert ZGR 1997, 129, 139 f. Zur juristischen Bedeutung der ökonomischen Theorie der langfristigen Verträge Jickeli Der langfristige Vertrag (1996); grundlegend dazu die Arbeiten von Oliver E. Williamson, etwa Markets and Hierarchies (1975). Dazu ausführlich Schmidt/Spindler FG Kübler (1997) S. 528 ff. Zutr. Mülbert ZGR 1997, 129, 139 f.; v. Colbe ZGR 1997, 217, 289.
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In einer idealen Welt werden daher Anteilseigner, die die Verträge mit dem Management abschließen, sich mit einem Ermessensspielraum für das Management einverstanden erklären, um nicht etwaiger Vorteile aus der Ausnützung gemeinsamer Kooperation bei langfristigen Verträgen und damit Steigerungen des Marktwerts verlustig zu gehen. Daraus kann für den Handlungsspielraum des Managements und des Ausmaßes der Berücksichtigung von Interessen anderer Gruppen als derjenigen der Aktionäre Rückschlüsse gezogen werden: Je langfristiger und komplexer Verträge gestaltet sind, vor allem etwa bei Arbeitnehmern, umso eher kann der Vorstand hier deren Interessen berücksichtigen. Je spezifizierter und kurzfristiger die Verträge dagegen ausfallen, umso geringerer Anlass besteht, dem Vorstand einen Spielraum zur Benachteiligung von Aktionärsinteressen einzuräumen. Hier besteht keine Notwendigkeit, dem Vorstand einen Freiraum zu geben, um sich für die Zukunft einen good will des Verhandlungspartners zu sichern. Vielmehr rückt hier bei entsprechenden Freiräumen die Gefahr des opportunistischen Verhaltens des Managements bzw. Vorstands in den Vordergrund.94 Der Vorstand ist daher berechtigt, in diesem Rahmen auch die Interessen anderer am Unternehmen beteiligter Gruppen zu berücksichtigen, gerade auch auf dem Boden eines Shareholder Value-Konzepts. Er kann hierzu sogar verpflichtet sein, wenn der Marktwert des Unternehmens mittel- und langfristig sinkt, wenn etwa Gegenmaßnahmen von Arbeitnehmern zu erwarten sind, z. B. Streiks, oder erhöhte Gehaltsforderungen durch Risikoprämien aufgrund zuvor gezeigten opportunistischen Verhaltens. Umgekehrt darf der Vorstand sich im Rahmen seines Ermessens vorrangig am Shareholder ValueKonzept orientieren,95 er muss es jedoch nur, wenn es sich um spezifizierte Verträge der dargestellten Art handelt. Auch bei einer vorrangigen Orientierung am Shareholder Value darf der Vorstand aber nicht die Interessen anderer Gruppen außer Acht lassen, wenn gerade bei langfristigen Vertragsbeziehungen die Glaubwürdigkeit des Unternehmens leidet und daher selbst bei Zugrundelegung des Shareholder Value Konzepts Beeinträchtigungen in mittelfristiger Hinsicht drohen. 94 95
Zum Ganzen eingehend Schmidt/Spindler FG Kübler (1997) S. 547 f. Dafür Hüffer ZHR 161 (1997) 214, 217 f.; ders. § 76 AktG Rn. 12; Spindler/Stilz/ Fleischer § 76 AktG Rn. 32; Birke Das Formalziel der Aktiengesellschaft (2005) S. 199 ff.; v. Bonin Die Leitung der Aktiengesellschaft (2004) S. 118 ff., 133 ff.; Groh DB 2000, 2153, 2158; Ulmer AcP 202 (2002) 143, 159; krit. aus betriebswirtschaftlicher Sicht v. Werder ZGR 1998, 69, 77 ff.; Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder4 Deutscher Corporate Governance Kodex Rn. 355.
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c)
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Shareholder Value und Unternehmerisches Ermessen
Auch das Shareholder Value-Konzept muss demnach „weiche“ Faktoren, wie Reputation des Unternehmens, Stabilität in den Vertragsbeziehungen und die Motivation von Arbeitnehmern, berücksichtigen, die sich im Rahmen von Investitionsrechnungen nur bedingt operationalisieren lassen, dennoch unstreitig Einfluss auf den Marktwert haben.96 Damit verlagert sich die Frage nach der materiellen Richtigkeit der Entscheidung aber zunehmend in eine solche nach ihrer Vertretbarkeit.97 Auch lässt sich – abgesehen von Extremfällen – die Shareholder Value Maximierung in Gestalt der „richtigen“ Kooperation mit den Stakeholdern nicht messen oder gar einklagen, so dass ein unmittelbar rechtlich verbindliches Pflichtenprogramm ausscheidet.
2.
Unternehmensinteresse, Shareholder Value und prozedurale Regeln
Damit wird deutlich, dass sowohl unter dem Regime der langfristigen Gewinnmaximierung als auch unter demjenigen des Shareholder Value letztlich dieselben prozeduralen Regeln dominieren, wie auch bei den verschiedenen Konzepten des Unternehmensinteresses, indem im Wesentlichen das richtige Maß an eingeholter Information und Abwägung im Zentrum der rechtlichen Überlegungen steht.98 Das Unternehmensinteresse als Berücksichtigung von Belangen anderer Gruppen, als derjenige der Anteilseigner, findet daher seine Rechtfertigung auch in der notwendigen Ausgestaltung von langfristigen Vertragsbeziehungen.99 Das „moderate“ Shareholder Value-Konzept widerspricht daher nicht einem – wie auch immer zu begründenden – Unternehmensinteresse. Umgekehrt sind die Organe der AG zur Verantwortung zu ziehen, wenn es sich um spezifizierte Verträge handelt und der Vorstand
96
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99
Vgl. Ballwieser FS Moxter (1994) S. 1377, 1389 f.; Mülbert ZGR 1997, 129, 156 ff.; Janisch Das strategische Anspruchsgruppenmanagement (1993) S. 102, 109 f. Zust. Spindler/Stilz/Fleischer § 76 AktG Rn. 38; v. Colbe ZGR 1997, 271, 290 sieht in dem Shareholder Value-Konzept auch eher einer Unternehmensphilosophie. Vgl. Kölner KommAktG-Mertens/Cahn § 93 Rn. 83, 91; deutlich auch Semler Leitung und Überwachung Rn. 76 ff. m. w. N.; s. auch die Erwägungen des OLG Düsseldorf im ARAG/Garmbeck-Fall, diesmal auf der Aufsichtsratsebene, OLG Düsseldorf AG 1995, 416, 418 f.; dazu Dreher ZHR 158 (1994) 614; ders. ZIP 1995, 628; Raiser NJW 1996, 552; Lutter ZIP 1995, 441; Boujong AG 1995, 203, 206; Jaeger/Trölitzsch ZIP 1995, 1157; Fischer BB 1996, 225. Im Ergebnis ähnlich Kölner KommAktG-Mertens/Cahn § 76 Rn. 19.
90
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nicht im Interesse der Marktwertmaximierung handelt, z. B. im Bereich von Finanzierungstransaktionen. Denn in diesen Fällen besteht auch nach der Konzeption des Unternehmensinteresses kein Bedarf, die Anteilseignerziele hintanzustellen, da die übrigen Interessengruppen bereits ausreichend geschützt sind.
3.
Interessenpluralismus in der mitbestimmten AG
Abgesehen davon, dass der Shareholder Value und auch das Ziel der Rentabilitätssicherung bereits die Berücksichtigung anderer Interessengruppen am Unternehmen umfasst, ist auf jeden Fall bei mitbestimmten Unternehmen die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers zu berücksichtigen, dass Arbeitnehmerinteressen im Aufsichtsorgan der AG fast paritätisch oder mit einem Drittel vertreten sind. Gerade in mitbestimmten Unternehmen kann daher ein Primat der Anteilseignerinteressen nicht angenommen werden:100 Zwar lassen das MitbestG und das DrittelbG – abgesehen von den ausdrücklichen Abweichungen – die aktienrechtlichen Bestimmungen unberührt; doch kann andererseits nicht verkannt werden, dass die Arbeitnehmervertreter kaum als Interessenvertreter der Anteilseigner und rückgekoppelt an deren Interessen verstanden werden können. Der Vorstand kann daher für gute Arbeitsbedingungen sorgen, das Betriebsklima fördern und bei seinen Geschäftsführungsmaßnahmen darauf achten, dass die Lage der Arbeitnehmer nicht ohne zwingenden Grund beeinträchtigt wird. Auch freiwillige soziale Leistungen, wie z. B. Gratifikationen, Altersversorgung, Überlassung von Wohnungen, Anbieten von Belegschaftsaktien gem. § 71 Abs. 1 Nr. 2 AktG, oder durch betriebliche Einrichtungen, welche die Möglichkeit für eine Fort- und Weiterbildung bieten, können ergriffen werden. Solche Sozialleistungen mögen dem Grundsatz einer kurzfristigen Gewinnmaximierung widersprechen, kommen aber dem Unternehmensganzen und damit auch der nachhaltigen Unternehmensentwicklung sowie einer langfristigen Marktwertsteigerung wieder zugute.101
100 101
So aber nach wie vor Mülbert AG 2009, 766, 772. Im Ergebnis ebenso GroßkommAktG-Kort § 76 Rn. 58 f.; Hüffer9 § 76 AktG Rn. 14; Fleischer Handbuch des Vorstandsrecht § 1 Rn. 35; GroßkommAktG-Hopt § 93 Rn. 120.
Gemeinwohlorientierte Unternehmensinteressen u. Kapitalgesellschaften
4.
91
Berücksichtigung von Gemeinwohlinteressen
Aber auch das Gemeinwohl darf vom Vorstand berücksichtigt werden, ohne deshalb der Gesellschaft, wenn dadurch ihre Vermögensinteressen beeinträchtigt werden, zum Schadenersatz verpflichtet zu sein.102 Dies folgt zum einen aus der Gesetzgebungsgeschichte zum AktG 1965,103 insbesondere zur Aufhebung der Vorgängervorschrift des § 70 AktG 1937, zum anderen schon aus der Sozialbindung des Eigentums nach Art. 14 Abs. 2 GG, die das BVerfG gerade für große Aktiengesellschaften in der Mitbestimmungsentscheidung hervorgehoben hat.104 Dies kann auch nicht unter Hinweis auf einen vermeintlich bloßen Regelungsauftrag für den Gesetzgeber geleugnet werden,105 da gerade die Ausstrahlungswirkung von Art. 14 Abs. 2 GG auf die Auslegung von Generalklauseln Wirkung zeitigt. Auch hat die Diskussion über die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen (Corporate Social Responsibility) weltweit immer mehr an Bedeutung gewonnen.106 Unternehmen werden zunehmend daran gemessen und messen sich selbst daran, wie sie ihrer sozialen und ökologischen Verantwortung gerecht werden. Bezeichnend für diese Bestrebungen war die Gründung des Forums „Nachhaltige Entwicklung der Deutschen Wirtschaft (econsense)“ auf Initiative des BDI, dem mittlerweile 25 global agierende deutsche Unternehmen angehören.107 Unzulässig wäre es aber, wenn ein Vorstand die Leitung des Unternehmens einseitig auf die Verfolgung öffentlicher Interessen ausrichtet, ohne dabei zugleich die Interessen der am Unternehmen Beteiligten ausreichend zu wahren. Ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter, der fremde Vermö102 103 104 105
106
107
Rittner FS Geßler (1970) S. 139, 149 ff. S. oben II.1. BVerfGE 50, 290 ff. So aber Mülbert AG 2009, 766, 770, der allerdings selbst (und insoweit zirkulär) später unter Hinweis auf Art. 14 GG meint, dass keine Gemeinwohlklausel erforderlich sei. S. dazu die besondere Seite der OECD zur Corporate Responsibility unter www. oecd.ovg/department/0,3355,en_2649_33765_1_1_1_1,00.html; Habisch/Jonker/ Wegner/Schmidpeter Corporate Social Responsibility Across Europe S. 116 f. m. w. N.; Mullerat Corporate Governance Responsibility (2005); Scherer/Picot Unternehmensethik und Corporate Social Responsibility zfbf Sonderheft 58/08; Schwalbach Corporate Social Responsibility ZfB Sonderheft 3/2008; krit. aber auch Schreyögg AG 2009, 758 ff. Internetseite www.econsense.de; siehe dort insbesondere „Corporate Social Responsibility – A Memorandum for Creativity and Innovations“ (abrufbar unter: http://www.econsense.de/PUBLIKATIONEN/ECONSENSE_PUBLIK/images/CSRMemorandum_dt.PDF).
92
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genswerte verwaltet, muss darauf achten, dass die Zuwendungen im Einklang mit der Lage der Gesellschaft stehen und das verkehrsübliche Maß nicht willkürlich überschreiten.108 Auch darf nicht verkannt werden, dass das Unternehmen bereits in einem dicht regulierten Umfeld steht, das die öffentlichen Interessen kodifiziert und zwingende rechtliche Rahmenbedingungen für das Unternehmen setzt. Nur soweit diese als Mindestbedingungen begriffen werden können, z. B. im Umweltschutz, über die das Unternehmen mit einem Imagegewinn hinausgehen kann, kann der Vorstand die Gemeinwohlinteressen über das bereits zwingend gesetzte Maß hinaus überschreiten.109 Konfliktfelder betreffen etwa das Ausmaß des Sponsoring für gemeinnützige Zwecke, insbesondere von Sportveranstaltungen oder von Spenden für Parteien.110
5.
Neuausrichtung der Vorstandsvergütung durch das VorstAG
Dass jedenfalls keine kurzfristige Marktwertmaximierung zu den Pflichten des Vorstands gehört, hat sich erst jüngst im neuen Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung niedergeschlagen. Schon zuvor hatte der Corporate Governance Kodex in Ziff. 4.1.1 die Steigerung eines „nachhaltigen“ Unternehmenswerts betont und dürfte so als Absage an zumindest einen sich in kurzfristigen Kursausschlägen manifestierenden Shareholder-Value-Ansatz zu verstehen sein.111 Für börsennotierte Gesellschaften legt der Gesetzgeber jetzt in § 87 Abs. 2 AktG zwingend die Orientierung auf eine „nachhaltige Unternehmensentwicklung“ fest – was auch schon zuvor h. M. war.112 Allerdings ist es keineswegs eine triviale Aufgabe, den Begriff der nachhaltigen Unternehmensentwicklung zu konkretisieren; denn die Zeithorizonte und die Prognosen, die hier zu Grunde zu legen sind,113 werden stets subjektiv 108
109
110 111 112
113
BGHSt 47, 187 – SSV Reutlingen; GroßkommAktG-Kort § 76 Rn. 67, 69; Mertens FS Goerdeler (1987) S. 349, 360; Fleischer AG 2001, 171, 177 f. Weitergehender Schreyögg AG 2009, 758, 763 ff.: überall dort, wo Marktversagen hinsichtlich externer Effekte besteht, ist unternehmensethisches Handeln vertretbar und auch zu fordern, um die nötigen Lücken zu schließen. NäherMünchKommAktG-Spindler § 76 Rn. 87 f. m. w. N. Ringleb/Kremer/Lutter/v. Werder4 Deutscher Corporate Governance Kodex Rn. 608. Spindler/Stilz/Fleischer § 87 Rn. 5; LG Düsseldorf NJW 2004, 3275, 3278; Ringleb/ Kremer/Lutter/v. Werder4 Corporate Governance Kodex Rn. 709 f.; MünchKommAktG-Spindler § 87 Rn. 27, 31; Hohaus/Weber DB 2009, 1515, 1517; Thüsing AG 2009, 517, 519 hält dies allerdings für eine Verstärkung. Allgemein zum Problem der Prognosen im Gesellschaftsrecht Spindler AG 2006, 677 m. w. N.
Gemeinwohlorientierte Unternehmensinteressen u. Kapitalgesellschaften
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sein und können nur bedingt überprüft werden. Ebenso wenig besteht eine Fixierung auf eine bestimmte Kennziffer, wie etwa die Maximierung des Unternehmenswerts, wie auch immer dieser definiert sein mag; vielmehr ist der Aufsichtsrat frei, im Rahmen des – allerdings ebenfalls diffusen Unternehmensinteresses – Prioritäten zu setzen.114 Ob dem Aufsichtsrat hier ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich des unbestimmten Rechtsbegriffs eingeräumt werden kann (in Analogie zu § 93 Abs. 1 S. 2 AktG), ist bislang wenig diskutiert, aber anzunehmen.115 Als „systemwidrig“ wird man eine derartige Fokussierung aber kaum bezeichnen können, da die Aktionäre zwar jederzeit die AG liquidieren können, die Interessenausrichtung des Vorstands aber die AG insgesamt und damit deren Erhaltung betrifft, wie auch § 91 Abs. 2 AktG zeigt.116 Das Gesetz schränkt das Ermessen des Aufsichtsrats bei börsennotierten Gesellschaften aber auch hinsichtlich der variablen Vergütungsbestandteile ein, indem die nachhaltige Unternehmensentwicklung Leitbild des Systems und der Anreize sein soll; reine Fixvergütungen werden damit nicht untersagt.117 Dabei werden alle Vergütungsformen erfasst, die nicht von vornherein in einer festen Geldsumme fixiert sind, etwa Stock Options, Gewinnbeteiligungen oder sonstige von Indikatoren abhängige Vergütungen. Aber auch Bonizahlungen, die der Aufsichtsrat nach seinem Ermessen zusätzlich zur Vergütung beschließt, zählen dazu, so dass bei der Bemessung des Bonus eine mehrjährige Bemessungsgrundlage zugrunde zu legen ist. Ein völlig freies Ermessen wird es hier nicht geben können – und gab es auch zuvor nicht.118 Die Vergütung kann aber aus einer Mischung kurz- und langfristiger Anreize bestehen, solange die langfristige Komponente überwiegt.119 Das Bemühen, die Anreize 114
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116 117
118 119
Zutr. Thüsing AG 2009, 517,520. Allerdings entsteht hier ein bislang kaum wahrgenommener Konflikt zwischen der gemeinhin dem Vorstand eingeräumten Priorität bei der Definition des Unternehmensinteresses und dem Aufsichtsrat. MünchKommAktG-Spindler § 87 Rn. 20; Spindler/Stilz/Fleischer § 87 Rn. 15; allgemein dazu Spindler FS Canaris (2007) S. 403; im Ergebnis ähnlich Hohenstat, ZIP 2009, 1349, 1354 f.; van Kann/Keiluweit DStR 2009, 1587, 1588; Nikolay NJW 2009, 2640, 2642. Anders Wagner/Wittgens BB 2009, 906, 908; wie hier Thüsing AG 2009, 517, 520. Hohenstatt ZIP 2009, 1349, 1350; Fleischer NZG 2009, 801, 803; Thüsing AG 2009, 517, 519; s. schon die Kritik in der Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses DAV NZG 2009, 612, 613 Tz. 7 zum FrakE. MünchKommAktG-Spindler § 87 Rn. 37 f; GroßkommAktG-Kort § 87 Rn. 48. Bericht des Rechtsausschusses BT-Drucks. 16/13433 S. 16, der damit der Kritik der Praxis Rechnung trägt; Stellungnahme des Handelsrechtsausschusses DAV NZG 2009, 612, 613 Tz. 5, 8; im Ergebnis auch Hohenstatt ZIP 2009, 1349, 1351; Fleischer NZG 2009, 801, 803; Hohaus/Weber DB 2009, 1515, 1517; van Kann/Keiluweit DStR
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auf den tatsächlichen langfristigen Beitrag der Vorstandstätigkeit für das Unternehmen auszurichten, zeigt sich schließlich darin, dass der Aufsichtsrat bei außerordentlichen Entwicklungen eine Begrenzung vornehmen soll, so dass der Vorstand durch bedeutsame, aber seltenere Maßnahmen, wie Unternehmensübernahmen oder Verkauf von Unternehmensteilen, sein eigenes Gehalt nicht kurzfristig erheblich steigern kann.120
IV.
Interessenausrichtung bei anderen Rechtsformen, insbesondere der GmbH
Für kleinere Gesellschaften, etwa GmbHs, sowie erst recht für Personengesellschaften, wie KGs oder OHGs, trifft man dagegen eher selten die Diskussion an, ob die Geschäftsführung noch andere Interessen als diejenigen der Gesellschafter zu verfolgen hat, was angesichts der Abhängigkeit der Geschäftsführer vom Willen der Gesellschafter auch nicht weiter verwundert.121 Allerdings können auch GmbHs einer Mitbestimmung unterfallen, sei es des DrittelbG oder des MitbestG. Auch wenn daher ohne Zweifel die Gesellschaftsinteressen eine wesentlich größere Rolle als bei der AG spielen, bei der die Organe nicht in einem Über-/Unterordnungsverhältnis stehen, kann zumindest für das Organ Aufsichtsrat nicht geleugnet werden, dass die Arbeitnehmervertreter kaum auf die einseitige Berücksichtigung der Interessen der Gesellschafter verpflichtet wären. Jenseits der Mitbestimmung und des Aufsichtsrats jedoch schlägt die strikte Ausrichtung an den Weisungen bzw. Interessen der Gesellschafter durch, so dass nur bei Missachtung des Eigeninteresses der GmbH, der Sicherung ihrer Existenz, eine Grenze zu ziehen ist. Gemeinwohlbelange spielen hier naturgemäß eine wesentlich geringere Rolle, da die Gesellschafter stets entsprechende Weisungen erteilen können und die
120
121
2009, 1587, 1588; Lingemann BB 2009, 1918, 1919 nennt ein Verhältnis von 40% fix, 20% variabel langfristig und 20% variabel kurzfristig für nicht zu beanstanden. Bericht des Rechtsausschusses BT-Drucks. 16/13433 S. 16 in Übernahme der Empfehlung Ziff. 4.2.3 des Corporate Governance Kodex. Im Gegensatz zur AG unterliegt der Geschäftsführer der GmbH bei der Berücksichtigung anderer Interessen als solcher der Gesellschafter aufgrund des starken Einflusses der Gesellschafter auf die Unternehmensführung engen Grenzen, s. dazu Scholz/U. H. Schneider10 GmbHG § 43 Rn. 65 ff.; Lutter/Hommelhoff/Kleindiek17 GmbHG § 43 Rn. 15; Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack19 § 43 Rn. 21; dies gilt grundsätzlich auch für die GmbH im Anwendungsbereich des MitbestG: dazu Scholz/ U. H. Schneider10 GmbHG § 37 Rn. 42.
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Frage der Rechtfertigung des Geschäftsführerhandelns, etwa im Bereich der Corporate Social Responsibility, keine Rolle spielt. Allenfalls im Hinblick auf Mehrheitsentscheidungen im Verhältnis zur Minderheit könnte dieser Aspekt daher größere Bedeutung erlangen.
V.
Rückwirkungen auf die strafrechtliche Bewertung
Der hier dargelegte Streit um die Ausrichtung des Vorstands- (und auch Aufsichtsrats-) handelns schlägt sich schließlich – und insoweit mit erheblichen persönlichen Konsequenzen für die Organmitglieder – in deren strafrechtlicher Würdigung nieder, allen voran der Untreue gem. § 266 StGB, die quasi als strafrechtliche Kehrseite der gesellschaftsrechtlichen Pflichten inzwischen gelten kann. Das größte Problem dürfte sowohl in Theorie als auch in Praxis – wie beim Missbrauchsverbot – die Konkretisierung der Treuepflichten darstellen. Denn dem Untreuetatbestand liegt das Modell eines Vermögensverwalters zugrunde, der im Wesentlichen nur die Interessen des zu betreuenden Vermögens wahrzunehmen hat und nicht den typischen Interessenkonflikten des Gesellschaftsrechts unterliegt122 – von daher ist bereits das gern benutzte Bild des treuen Gutsverwalters, der das Vermögen für seinen Gutsherrn verwaltet,123 schief. Grundsätzlich wird der Untreuetatbestand als zivilrechtsbzw. gesellschaftsrechtsakzessorisch betrachtet.124 Entscheidend ist daher für das Vorstandsmitglied die nähere Ausformung der in §§ 76 ff., insbesondere § 93 AktG, statuierten Pflichten zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung. Doch muss dabei die Funktion des Strafrechts als ultima ratio Berücksichtigung finden. So darf nicht jeder Verstoß gegen diese Pflichten unbesehen mit der Pflichtwidrigkeit des § 266 StGB gleichgesetzt werden.125 Vielmehr ist der Beurteilung der Pflichtwidrigkeit ein Verständnis des Strafrechts als ultima 122 123
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Hopt ZGR 2004, 1, 50; Tiedemann FS Tröndle (1989) S. 319, 320. So der damalige Vorsitzende des 3. Strafsenats in der mündlichen Urteilsbegründung zu der Mannesmann-Entscheidung (s. BGHSt 50, 331 ff. = NJW 2006, 522 = ZIP 2006, 72), vgl. FAZ. Bericht „Manager im Raumschiff“ vom 23. 12. 2005 S. 3. Dazu Rönnau ZStW 119 (2007) 888, 906; Rönnau/Hohn NStZ 2004, 113, 114; ausführlich Busch Konzernuntreue (2004) S. 31 ff.; Günther FS Weber (2004) S. 311, 314; Tiedemann FS Weber (2004) S. 319, 322. So auch Günther FS Weber (2004) S. 311, 314; Tiedemann FS Weber (2004) S. 319, 322 f.; ausführlich Kubiciel NStZ 2005, 353 ff.; Tiedemann JZ 2005, 45; Brüning/ Samson ZIP 2009, 1089, 1091 f.; Ransiek/Hüls ZGR 2009, 157, 170.
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ratio und somit als sekundäres, das Gesellschaftsrecht flankierendes Sanktionsmittel zugrunde zu legen. Als äußerstes Mittel126 findet es nach Vorgabe des BVerfG dann Anwendung, „wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist.“127 Im Umkehrschluss ist eine strafrechtliche Haftung unverhältnismäßig, wenn andere geeignete und ausreichende Ahndungsinstrumentarien, etwa im Gesellschaftsrecht, zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund gilt es, den unbestimmten Tatbestand der Untreue zu straffen und unter Berücksichtigung der dargestellten Aspekte in den Sanktionskanon einzufügen. Während nach der früheren Auffassung des BGH nicht jede gesellschaftsrechtliche Pflichtverletzung für die Annahme einer Pflichtwidrigkeit im Sinne des § 266 StGB genügen sollte, diese vielmehr „gravierend“ sein müsse,128 hat die Rechtsprechung offenbar jetzt eine Wende in der „Mannesmann“Entscheidung vollzogen.129 Demnach differenziert der 3. Strafsenat jetzt nur noch danach, ob eine risikobehaftete unternehmerische Entscheidung vorliegt. Entsprechend den gesellschaftsrechtlichen Vorgaben nach § 93 Abs. 1 S. 2 AktG sind daher vertretbare, auf hinreichender Informationsgrundlage
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BVerfGE 6, 389, 433: „schärfste Sanktion, über die die Gesellschaft verfügt“; BVerfGE 98, 109; BVerfGE 39, 1, 45: „schärfste der Gesellschaft zur Verfügung stehende Waffe“; vgl. auch Jahn ZRP 2004, 179, 182 f.; Günther FS Weber (2004) S. 311, 314; Kubiciel NStZ 2005, 353, 360. BVerfGE 88, 203, 258; so auch BVerfGE 96, 10, 25; BVerfGE 96, 245, 249; zur ultima ratio bereits auch BVerfGE 39, 1, 47; ausführlicher dazu Ransiek Unternehmensstrafrecht (1996) S. 237 ff.; Höffner Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortung des GmbH-Geschäftsführers bei Insolvenzverschleppung (2003) S. 77 ff. BGHSt 47, 187 (SSV Reutlingen) = NJW 2002, 1585 = NZG 2002, 471; soweit ersichtlich erstmals auf „gravierende“ Pflichtverletzungen abstellend BGHSt 46, 30 = NJW 2000, 2364; sowie BGHSt 47, 148 = NJW 2002, 1211. Zuletzt LG Düsseldorf NZG 2004, 1057, 1062; zust. statt vieler: Günther FS Weber (2004) S. 311, 314; Brüning/Samson ZIP 2009, 1089, 1091; s. auch Achenbach/Ransiek/Seier Handbuch Wirtschaftsstrafrecht Kapitel V Abschnitt 2 Rn. 219; krit. bereits Schünemann NStZ 2005, 473, der in dem Merkmal der gravierenden Pflichtverletzung ein Problem der objektiven Zurechnung zwischen Pflichtwidrigkeit und Schaden erblickt. BGHSt 50, 331, 343. = NJW 2006, 522, 526 = ZIP 2006, 72, 76 f., wonach das Verständnis, „nur gravierende Verletzungen“ kämen als tatbestandsmäßige Untreuehandlungen in Betracht, auch nicht der vorherigen Rechtspr. entnommen werden könne; zust. Ransiek/Hüls ZGR 2009, 157, 170; Rönnau ZStW 119 (2007) 887, 911; kritisch aber Volk FS Hamm (2008) S. 803, 804.
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getroffene, unternehmerische Entscheidungen auch i. S. d. § 266 Abs. 1 StGB als pflichtgemäß anzusehen; unvertretbare Entscheidungen dagegen als tatbestandsmäßiges Verhalten.130 Zwar hat der BGH das Kriterium der gravierenden Pflichtverletzung nicht ausdrücklich verworfen,131 doch dürfte die strafrechtliche Rechtsprechung an der in der Mannesmann-Entscheidung eingeschlagenen Linie festhalten, zumal auch in der „Kinowelt“-Entscheidung des 1. Strafrechtssenats noch von der gravierenden Verletzung einer gesellschaftsrechtlichen Pflicht die Rede ist, beim Ausfüllen dieses ungreifbaren Begriffs aber allein auf das Überschreiten der Grenzen des Ermessensspielraums abgestellt wird.132 Letztlich ist es unerheblich, ob die Entscheidung eines Vorstandsmitglieds im Lichte seines Ermessens- und Beurteilungsspielraums auf dem strafrechtlichen Prüfstand des § 266 Abs. 1 StGB steht oder dies unter dem Anstrich der Voraussetzung einer gravierenden Pflichtverletzung geschieht, wenn nur das Ziel nicht aus den Augen gelassen wird, die strafrechtliche Sanktion als ultima ratio hinter den gesellschaftsrechtlich abgesteckten Rahmen treten zu lassen. Festzuhalten bleibt, dass zuvörderst das Gesellschaftsrecht berufen ist, Probleme in seinem Anwendungsbereich zu steuern und zu lösen. Dabei muss stets die Rolle des Strafrechts als ultima ratio bedacht werden: Selbst wenn eine Pflichtverletzung wegen Unter- oder Überschreitung von § 93 Abs. 1 S. 2 AktG in Betracht kommen sollte, kann doch daraus – entgegen der neueren Rechtsprechung – kein strafrechtlicher Automatismus erwachsen, der stets den Anwendungsbereich des § 266 StGB eröffnete. Die Anwendung des Strafrechts wird man als ultima ratio nur dort legitimieren können, wo es über die zivilrechtliche Haftung hinaus zur Ahndung erforderlich ist oder das Gesellschaftsrecht keine ausreichende Lösung zu bieten vermag.. Nur herausgehoben vorwerfbares Verhalten qualifiziert mithin eine Pflichtverletzung zur untreuerelevanten Pflichtwidrigkeit.133 Somit bedarf es im Einzelfall stets der 130
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BGHSt 50, 331, 344 = NJW 2006, 522, 526 = ZIP 2006, 72, 76; Ransiek/Hüls ZGR 2009, 15, 171. BGHSt 50, 331, 345 = NJW 2006, 522, 526 f. = ZIP 2006, 72, 76 f. BGH NJW 2006, 453, 454 f. = ZIP 2005, 2317, 2319; so auch Rönnau ZStW 116 (2007) 887, 911. Eindringlich Lüderssen FS Volk (2009) S. 345 ff., 354 ff., der die Lösung allerdings in einer spezifischen Risikoerhöhung sieht; wie hier im Grundsatz auch Brammsen wistra 2009, 85, 87 f., der aber (S. 88) wohl jede Handlung außerhalb von § 93 Abs. 1 S. 2 AktG als strafrechtlich sanktionierte Pflichtverletzung ansieht; Dahs NJW 2002, 272 f.; Achenbach NStZ 2002,523, 525; Gehrlein NZG 2002, 463; Dierlamm/Links NStZ 2000, 656; Otto JR 2000, 517 ff.; Rönnau/Hohn NStZ 2004, 113, 118; Matt NJW 2005, 389, 390; Jahn ZRP 2004, 179, 183; Tiedemann FS Weber (2004)
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genauen Analyse, ob die Schwelle des § 266 StGB durch einen Verstoß gegen eine gesellschaftrechtliche Pflicht in gravierender Weise überschritten wurde. In der Tendenz kann dabei davon ausgegangen werden, dass die derart qualifizierte Verletzung einer gesellschaftsrechtlichen Pflicht durch § 266 Abs. 1, 2. Alt. BGB – bei Vorsatz – strafrechtlich bewehrt ist, so dass der Bestimmung des Ermessenspielraums durch die Anwendung der Business Judgement Rule besondere Bedeutung zukommt,134 ebenso wie der Eingrenzung und Rechtfertigung durch das Unternehmensinteresse, wie etwa in den Spendenfällen. So liegt eine Verletzung der Treuepflicht vor, wenn das Vorstandsmitglied gesetzliche Bestimmungen verletzt oder nicht befolgt,135 etwa bei unordentlicher Buchführung,136 aber auch bei nicht mehr vom Gesellschaftsinteresse gedeckten Spenden.137 Ob allerdings angesichts der ungenauen Konkretisierung des Unternehmensinteresses tatsächlich stets das scharfe Schwert des Strafrechts geschwungen werden sollte, zumal bislang traditionell die Business Judgement Rule nicht als Einschätzungsprärogative des Unternehmens- oder Gesellschaftsinteresses verstanden wird, bleibt zweifelhaft. Gerade die fließenden Grenzen des Unternehmensinteresses, selbst eines Shareholder Value, lassen es ratsam erscheinen, das Strafrecht hier nur auf evidente Missbrauchsfälle anzuwenden, ganz im Sinne der früheren Rechtsprechung hinsichtlich gravierender Pflichtverletzungen.
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S. 319, 326; Kubiciel NStZ 2005, 353, 358 ff.: Differenzierung zwischen konkreten Vorgaben und lediglich in Generalklauseln niedergelegten Pflichten; nach formellen und materiellen Pflichten differenzierend Rönnau/Hohn NStZ 2004, 113, 114 ff.; ähnlich Knauer NStZ 2002, 399, 400; siehe auch Höffner Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortung des GmbH-Geschäftsführers bei Insolvenzverschleppung (2003) S. 149; aA Bosch/Lange JZ 2009, 225, 235. BGH ZIP 2009, 1854, 1857 – WestLB; ausführlich jüngst in Zusammenfassung der bisherigen Grundsätze Bosch/Lange JZ 2009, 225, 232 ff.; zuvor Semler FS Ulmer (2003) S. 627 ff.; MünchKommAktG-Spindler § 93 Rn. 36 f.; Großkomm AktG-Hopt § 93 Rn. 81 ff.; Rönnau/Hohn NStZ 2004, 113, 118; Achenbach/Ransiek/Seier Handbuch Wirtschaftsstrafrecht Kapitel V Abschnitt 2 Rn. 218. Vgl. (allg.) BGH NStZ 1984, 549, 550; BGH wistra 1992, 266 (Bildung schwarzer Kassen); RGSt 71, 155, 157; 75, 227; aus der Lit. s. Kubiciel NStZ 2005, 353, 359. BGHSt 20, 304 f.; BGH NJW 2001, 3638; BGHSt 52, 323, 334 = ZIP 2008, 2315, 2318 – Siemens: „Unterlassen der Offenbarung durch ordnungsgemäße Verbuchung“ („schwarze Kassen“). Dazu näher BGHSt 47, 187 ff. = NJW 2002, 1585 ff.; Fleischer AG 2001, 171 ff.; Kubiciel NStZ 2005, 353, 361; Schünemann Organuntreue (2004) S. 21 ff.; Otto FS Kohlmann (2003) S. 187 ff.; Achenbach/Ransiek/Seier Handbuch Wirtschaftsstrafrecht Kapital V Abschnitt 2 Rn. 219.
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Gesetzliche Verankerung einer pluralistischen Unternehmensleitlinie?
De lege lata ergibt sich insgesamt ein komplexes und schillerndes Bild, von einer völlig einseitigen Shareholder Value-Orientierung als oberste Prämisse bis hin zur weitgehend freien Einschätzung der zu verfolgenden Unternehmensziele durch den Vorstand. Angesichts dieser widerstreitenden Strömungen und vor allem im Hinblick auf die zunehmende Kapitalmarktorientierung der Unternehmensleitung, die sie sich im KonTraG niedergeschlagen hat, kann daher heute nicht mehr mit Sicherheit davon gesprochen werden, dass der Vorstand (und auch der Aufsichtsrat) Arbeitnehmerbelange oder Interessen der Öffentlichkeit vor diejenigen einer Marktwertmaximierung der Anteile der Aktionäre stellen darf. Vielmehr herrscht selbst bei mitbestimmten Aktiengesellschaften Unsicherheit darüber, ob und wie weit Arbeitnehmerbelange in die Interessenabwägung und in die unternehmerische Entscheidung eingestellt werden dürfen oder gar müssen. Mittelbar sind hiervon auch andere Entscheidungen betroffen, etwa das Ausmaß an variabler Vergütung des Vorstands, insbesondere des Anteils von Aktienoptionen, die den Vorstand mittelbar an das Interesse der Anteilseigner rückkoppeln sollen. Aber auch die Rechtsstellung der Arbeitnehmervertreter ist hiervon betroffen, etwa wenn es um das Abstimmungsverhalten im Aufsichtsrat geht, das durch die Haftungsmaßstäbe des § 116 AktG berührt und damit ebenfalls von der Frage mitbestimmt wird, welche Leitlinien für das Organhandeln bestehen. Hält man sich diesen Befund vor Augen, stellt sich die Frage, ob die Leitlinien für das Vorstandshandeln – und damit auch für die Tätigkeit des Aufsichtsrats – nicht gesetzlich verankert werden sollten, vergleichbar dem Zustand, wie er vor dem AktG 1965 in Gestalt des § 70 AktG 1937 herrschte. Will man eine klare Rechtfertigungsgrundlage für die Berücksichtigung von Arbeitnehmerbelangen – und ohne Rücksicht auf den oben dargestellten Streit um die Deutung des Shareholder Value –, so wird man nicht umhin können, angesichts der jüngsten Novellierungen im AktG, eine solche gesetzliche Grundlage (wieder) neu aufzunehmen. Denn allein die Tatsache, dass eine AG den Mitbestimmungsgesetzen unterliegt, verändert nach dieser Lesart nicht die Zielsetzungen, die der Vorstand (und mittelbar auch der Aufsichtsrat) zu verfolgen hat, da die Mitbestimmungsgesetze das AktG (und auch das GmbHG) im Prinzip unberührt belassen. Will man daher explizit, dass der Vorstand berechtigt ist, Arbeitnehmerbelange in die Abwägung einzubeziehen, käme sowohl eine Kodifikation im Rahmen
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des AktG als auch des MitbestG in Betracht. Für eine Verankerung im MitbestG spräche, dass damit der integrierte Ansatz der Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen in Gestalt der unternehmensbezogenen Mitbestimmung klarer zum Ausdruck käme. Andererseits würden die schon bestehenden Probleme der Abstimmung zwischen Gesellschafts- und Mitbestimmungsrecht nicht behoben; insbesondere wären – wie schon zuvor – erhebliche Diskussionen zu erwarten, ob und inwieweit mitbestimmungsrechtlich festgelegte Ziele die gesellschaftsrechtlichen überlagern und modifizieren können. Schließlich und entscheidend gegen eine mitbestimmungsrechtliche Verankerung spräche schließlich, dass Vorstände von Gesellschaften, die nicht den Mitbestimmungsgesetzen unterliegen, von vornherein in einer solchen Festlegung einen Freibrief erblicken könnten, Arbeitnehmerbelange von vornherein unberücksichtigt zu lassen, auch entgegen den obigen Darlegungen hinsichtlich langfristiger Verträge und der Wahrung der Reputation der Gesellschaft. Zu guter Letzt wäre das Gemeinwohl nicht in derartigen Festlegungen berücksichtigt – was aber kaum auf nur mitbestimmte Gesellschaften beschränkt wäre. Eine gesetzliche Verankerung sollte daher gesellschaftsrechtlich erfolgen, wenn man das Ziel der Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen im Rahmen der Vorstandsentscheidungen verfolgt – hier ist dann allerdings zu überlegen, ob die Festlegung sich auf börsennotierte Gesellschaften beschränken sollte, um gerade der sonst drohenden kapitalmarktbezogenen Orientierung eine Klarstellung entgegenzusetzen, oder sich auf alle Gesellschaften beziehen sollte. Für die Erstreckung auf alle Gesellschaften spricht, dass die Gemeinwohlorientierung und die Berücksichtigung der Arbeitnehmerbelange keineswegs davon abhängig ist, ob die Gesellschaft an der Börse notiert ist – vielmehr ergibt sich die Notwendigkeit der Berücksichtigung dieser Belange zum einen aus Art. 14 Abs. 2 GG, zum anderen aus der allgemeinen Gemeinwohlkomponente, wie sie in den Diskussionen zum AktG 1965 zum Ausdruck gekommen sind. Eine unterschiedliche Behandlung von kapitalmarktorientierten Gesellschaften und nicht-börsennotierten Gesellschaften erscheint daher nicht angebracht.138 Demgemäß scheidet auch eine Verankerung allein in einem Corporate Governance Kodex aus, da dieser entsprechend § 161 AktG nur auf börsennotierte Gesellschaften zugeschnitten ist. Allerdings ist damit auch die grundlegende
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Das Gutachten von Bayer DJT 2008 zur Differenzierung zwischen börsennotierten und nicht-börsennotierten Gesellschaften äußerst sich zu dieser Frage etwa überhaupt nicht; s. dazu auch allgemein Spindler AG 2008, 598 ff.; Windbichler JZ 2008, 840 ff.
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Frage aufgeworfen, ob und inwieweit die Organe der Gesellschaft sich in einer Comply-or-Explain-Erklärung gegen eine entsprechende Berücksichtigung von Arbeitnehmerbelangen wenden könnten; anders gewendet stellt sich die Frage, ob eine solche mögliche Berücksichtigung zwingend sein sollte oder gegebenenfalls durch Satzungsbestimmung oder Comply-or-Explain-Erklärung quasi abbedungen werden können sollte. Hinter dieser Frage steht eine der grundlegenden rechtspolitischen Entscheidungen, die sich letztlich der wissenschaftlichen Analyse entziehen, nämlich ob ein integrativer unternehmensbezogener Mitbestimmungsansatz verfolgt werden sollte, wie er zur Zeit in Deutschland praktiziert wird und der sich in der Interessenrepräsentanz der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat niederschlägt, oder ein eher „externer“ Interessenvertretungsansatz, der an den Dualismus von Arbeitgeber/Anteilseigner- und Arbeitnehmerinteressen anknüpft und die nähere Ausgestaltung einer unternehmenspolitischen Mitbestimmung der Verhandlung und Vereinbarung zwischen beiden Interessengruppen überlässt. Letzteres würde allerdings implizieren, dass beide Vertragsparteien tatsächlich über entsprechende Begrenzungen des Vorstandshandelns Vereinbarungen treffen könnten, was bislang kaum ausgelotet ist und hier daher auch nicht näher vertieft werden kann.139 Ob der bislang tradierte deutsche Ansatz einer gesetzlich fundierten unternehmensbezogenen Mitbestimmung nicht zugunsten einer wesentlich offeneren Verhandlungslösung, die allerdings auch entsprechende Arbeitskampfmaßnahmen implizieren würde, vorzuziehen wäre, kann hier nicht näher beleuchtet werden. Behält man jedenfalls den tradierten unternehmensbezogenen Ansatz bei, sind Konflikte mit entsprechenden gesellschaftsvertraglichen bzw. satzungsautonomen Regelungen, in denen das Unternehmensziel festgelegt werden könnte, nicht auszuschließen.
Literatur Achenbach/Ransiek: Handbuch Wirtschaftsstrafrecht (2004). Achenbach: Aus der 2001/2002 veröffentlichten Rechtsprechung zum Wirtschaftsstrafrecht, NStZ 2002, 523. 139
Näher dazu Arbeitskreis „Unternehmerische Mitbestimmung“ ZIP 2009, 885 ff., der einen konkreten Reformvorschlag für das MitbestG ausgearbeitet hat; dazu Habersack ZIP 2009 Beil. Heft 48, 1 ff.; Hanau ZIP 2009 Beil. Heft 48, 6 ff.; Teichmann ZIP 2009 Beil. Heft 48, 10 ff.; Jacobs ZIP 2009 Beil. Heft 48, 18 ff.; Veil ZIP 2009 Beil. Heft 48, 26 ff.; s. zur Diskussion auch Henssler FS Westermann (2008) S. 1019, 1035 ff; Raiser FS Westermann (2008) S. 1295, 1304.
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Arbeitskreis „Unternehmerische Mitbestimmung“: Entwurf einer Regelung zur Mitbestimmungsvereinbarung sowie zur Größe des mitbestimmten Aufsichtsrats, ZIP 2009, 885. Ballwieser: Adolf Moxter und der Shareholder Value-Ansatz, Ballwieser u. a. (Hrsg.), Festschrift Moxter (1994) S. 1377. Baumbach/Hueck: GmbH-Gesetz Kommentar, 19. Aufl. (2010). Bayer/Habersack: Aktienrecht im Wandel Band I (2007). Berle/Means: The Modern Corporation and Private Property (1932). Birke: Das Formalziel der Aktiengesellschaft, Diss. Berlin (2005). v. Bonin: Die Leitung der Aktiengesellschaft zwischen Shareholder value und und Stakeholder-Interessen, Diss. Konstanz (2004). Bosch/Lange: Unternehmerischer Handlungsspielraum des Vorstandes zwischen zivilrechtlicher Verantwortung und strafrechtlicher Sanktion, JZ 2009, 225. Boujong: Rechtliche Mindestanforderung an eine ordnungsgemäße Vorstandskontrolle und –beratung, AG 1995, 203. Brammsen: Vorstandsuntreue, wistra 2009, 85. Brinkmann: Das Unternehmensinteresse (1984). ders.: Unternehmensziele im Aktienrecht, AG 1982, 122. Brüning/Samson: Bankenkrise und strafrechtliche Haftung wegen Untreue gem. § 266 StGB, ZIP 2009, 1089. Busch: Konzernuntreue, Diss. Marburg (2004). v. Colbe: Was ist und was bedeutet Shareholder Value aus betriebswirtschaftlicher Sicht?, ZGR 1997, 271. Dahs: § 266 StGB – allzu oft missverstanden, NJW 2002, 272. Dalchow: Zur Bedeutung des Shareholder Value bei der Konkretisierung von Organpflichten in börsennotierten Aktiengesellschaften (2005). Dreher: Das Ermessen des Aufsichtsrats, ZHR 158 (1994), 614. ders.: Nochmals- das unternehmerische Ermessen des Aufsichtsrats, ZIP 1995, 628. Ehrenzweig: Verhandlungen des 32. Deutschen Juristentages (1921) S. 282. Fischer: Der Entscheidungsspielraum des Aufsichtsrats bei der Geltendmachung von Regressansprüchen gegen Vorstandsmitglieder, BB 1996, 225. Flatow: Betriebsrätegesetz, 13. Aufl. (1931). Fleischer: Handbuch des Vorstandsrechts (2006). ders.: Das Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung, NZG 2009, 801. ders.: Unternehmensspenden und Leitungsermessen des Vorstands im Aktienrecht, AG 2001, 171. Friedländer: Konzernrecht (1927). Gehrlein: Strafbarkeit von Vorständen wegen leichtfertiger Vergabe von Unternehmensspenden, NZG 2002, 463. Geiler: Die wirtschaftsrechtliche Methode im Gesellschaftsrecht, Gruchots Beiträge 68 (1927) 593. Goette (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Aktiengesetz Band 3, 3. Aufl. (2008). Groh: Shareholder Value und Aktienrecht, DB 2000, 2153. Günther: Die Untreue im Wirtschaftsrecht, Jescheck/Vogler (Hrsg.), Festschrift Weber (2004) S. 311. Habersack: Reformbedarf im deutschen Mitbestimmungsrecht, ZIP 2009, Beil. Heft 48, 1.
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Gemeinwohlorientierte Unternehmensinteressen u. Kapitalgesellschaften
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Verallgemeinerbare Modelle für die Gemeinwohlorientierung
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Verallgemeinerbare Modelle für die Gemeinwohlorientierung von Unternehmen 1
Verallgemeinerbare Modelle für die Gemeinwohlorientierung Peter Forstmoser Peter Forstmoser
Gliederung Einführung Shareholder- contra Stakeholder-value-Denken Mehr Gemeinsamkeiten als erwartet Konvergenz der Konzepte Die Hard Cases Mildernde Einflüsse Verbesserungsmöglichkeiten
Einführung Am 29. September dieses Jahres ließ die Deutsche Bank verlauten, sie wolle Arbeitsplätze einsparen, 1300 allein in Deutschland. Wenige Tage später – am 3. Oktober – erklärte ihr Vorstandsvorsitzender, der Schweizer Josef Ackermann, es gebe keinen Grund, vom Ziel einer Eigenkapitalrendite von 25% abzuweichen. Für das Streichen von Stellen hat man Verständnis, wenn ein Unternehmen in den roten Zahlen steckt. Aber: Geht es an, dass eine Gesellschaft profitabel wirtschaftet, dass den Aktionären satte Dividenden winken und dass gleichzeitig Arbeitsplätze abgebaut werden? Es stellt sich hier die Grundsatzfrage, was denn eigentlich das Ziel eines großen, privatwirtschaftlich betriebenen Unternehmens sein soll. Dass solche Unternehmen Gewinn erzielen sollen und – als Überlebensnotwendigkeit – erzielen müssen, ist unbestritten. Aber: Ist dies alles? Oder ist es angebracht, im Sinne eines sozial verantwortungsvollen Handelns Kompromisse einzugehen und im Interesse der Mitarbeiter, weiterer direkt oder indirekt Betroffener, ja der gesamten 1
Leicht erweiterte Fassung des am 20. 11. 2009 gehaltenen Referats. Der Sprechstil wurde beibehalten.
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Volkswirtschaft darauf zu verzichten, alle Möglichkeiten der Gewinnmaximierung auszureizen? Allgemeiner gefragt: Ist es die einzige Pflicht von Aufsichtsrat und Vorstand einer Publikumsgesellschaft, Mehrwert für die Aktionäre zu schaffen? Oder sind – zumindest bei großen Unternehmen – (auch) soziale Ziele zu verfolgen, über das von Gesetzes wegen zwingend Verlangte hinaus?2 Die Frage nach den „richtigen“ Unternehmenszielen ist in den letzten zwei Jahrzehnten in den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, in der Politik, aber auch in den Medien, in Talkshows und an den Stammtischen intensiv diskutiert worden – in Deutschland genauso wie in der Schweiz, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten. Bekanntermaßen gibt es zwei Lager:
Shareholder- contra Stakeholder-value-Denken Die Vertreter des Shareholder-value-Denkens postulieren eine kompromisslose Ausrichtung aller unternehmerischen Tätigkeiten auf den Aktionärsnutzen. Begründet wird diese Position – erstens mit dem Hinweis auf die wirtschaftliche Eigentümerstellung der Aktionäre (sie sind es, welche die Eigenkapitalbasis zur Verfügung gestellt haben), – zweitens damit, dass sie das finanzielle Risiko tragen (Löhne sind auch in Zeiten von Verlusten zu zahlen, Zinsen auf Kredite und Anleihen ebenso), – vor allem aber drittens mit dem Glauben an einen wundersamen Einklang der Aktionärsinteressen mit denen aller übrigen Betroffenen: Geht es den Aktionären gut, dann profitieren – so das Credo der Apologeten des Shareholdervalue – auch die Arbeitnehmenden, Kunden und schließlich die Allgemeinheit. In den Augen des Stakeholder-value-Ansatzes ist diese Fokussierung auf die Aktionärsinteressen dagegen eine egoistische und völlig einseitige Ausrichtung
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Der Autor hat sich mit dieser Problematik schon mehrmals befasst, insbesondere in zwei Aufsätzen: Gewinnmaximierung oder soziale Verwantwortung? Zum Auftrag börsennotierter Unternehmen, in: Kiesow/Ogorek/Simitis (Hrsg), summa, FS Simon 2005, S. 207 ff. und: Profit – das Mass aller Dinge? Zur Aufgabe börsenkotierter Unternehmen, in: Zäch u. a. (Hrsg), Individuum und Verband, Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 2006, S. 55 ff. In jenen Veröffentlichungen, an die sich der vorliegende Text zum Teil anlehnt, finden sich auch Literaturhinweise und – aus schweizerischer Sicht – spezifisch juristische Ausführungen.
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auf die Interessen nur einer der Gruppen, die an einem Unternehmen Anteil haben. Nach dieser Auffassung verlangt ein verantwortungsbewusstes unternehmerisches Verhalten die Berücksichtigung und den Ausgleich der Interessen aller sog. Stakeholder, also aller, die am Unternehmen irgendwie beteiligt sind, insbesondere aber der Mitarbeiter und – bei Grossunternehmen – der Allgemeinheit. Betont wird von dieser Seite dreierlei: – Die Arbeitnehmer riskieren in der Realität weit mehr als die Aktionäre: Während Investoren ihre Anlagen breit streuen können, gehen Mitarbeiter – ohne dass sie eine Alternative hätten – mit der Wahl ihres Arbeitgebers ein extremes Klumpenrisiko ein.3 – Investoren können – bei börsennotierten Gesellschaften – jederzeit aussteigen, ihre Anlagen umschichten. Die Arbeitsstelle kann dagegen nicht so leicht gewechselt werden. – Und schließlich treffen die Konsequenzen eines Unternehmenszusammenbruchs die Mitarbeitenden oft weit härter als die Geldgeber. Ein Vergleich der Diskussionen in Deutschland und in der Schweiz zeigt übrigens ein durchaus unterschiedliches Bild: Der Shareholder-value wird bzw. wurde wohl in keinem Land (mit Ausnahme der USA) in gleicher Weise zelebriert wie in der Schweiz. Die deutsche Wirtschaftsordnung war dagegen seit jeher stärker darauf ausgerichtet, auf alle Beteiligten Rücksicht zu nehmen. Stichworte hierzu sind: Sozialpflichtigkeit des Eigentums (§ 14 GG), die Mitbestimmung in größeren Unternehmen und schließlich der berühmte § 70 Abs. 1 des Aktiengesetzes von 1937, welcher den Vorstand auf die umfassende Berücksichtigung einer breiten Palette von Interessen verpflichtete und dessen inhaltliche Weitergeltung auch unter dem geltenden Aktienrecht bekanntlich intensiv diskutiert worden ist. Vor allem aber ließ sich in den letzten zwei Jahrzehnten – und hier spreche ich vor allem von der Schweiz, wo ich diese Entwicklung hautnah mitverfolgen konnte – ein erstaunlicher Meinungsumschwung feststellen: In den neunzi-
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Am Rande sei vermerkt, dass unter dem Aspekt der Risikostreuung die als Instrument der sozialen Marktwirtschaft gepriesene Mitarbeiterbeteiligung nicht unproblematisch ist: Werden Mitarbeiter veranlasst, ihre Ersparnisse bei der Arbeitgeberin anzulegen, dann setzen sie alles auf eine Karte, was man einem Investor, der sich „nur“ finanziell engagiert, nie raten würde. Beteiligungsprogramme sollten daher maßvoll sein, und eine enge Verbindung des persönlichen (finanziellen) Schicksals mit dem eines Unternehmens sollte man nur dessen leitenden Personen zumuten, die finanzielle Rückschläge verkraften können.
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ger Jahren des letzten Jahrhunderts war kaum bestritten, dass das einzige Ziel eines Unternehmens die Vermehrung des Shareholder-value zu sein habe. Seit dem Jahrtausendwechsel haben sich die Statements gewandelt: Zwar wird noch immer betont, dass Unternehmen Gewinne erzielen sollen. Vermehrt wird aber eine Ausrichtung auf alle Stakeholder gefordert. Die eine Bottom Line der Gewinnmaximierung ist dem Triple-Bottom-Line-Ansatz gewichen: Ziel soll es sein, in einem ausgewogenen Maß drei Herren zugleich zu dienen, den Investoren durch Gewinnoptimierung, der Allgemeinheit und den Mitarbeitenden durch ein sozial verantwortungsvolles Verhalten (Social Responsibility) und schliesslich auch der Umwelt durch eine schonende Nutzung der Resourcen (Environmental Responsibility).4 Beide Positionen haben ihre Stärken und Schwächen: – Die Stärke des Shareholder-value-Ansatzes ist zweifellos seine klare Fokussierung auf ein Ziel und damit die Messbarkeit des Erfolgs: Die Kursentwicklung an der Börse lässt sich exakt feststellen, und damit auch der Nutzen, den eine Kapitalanlage dem Aktionär bringt.5 Aber der Ansatz hat auch seine Schwächen – weniger in seiner theoretischen Ausgestaltung als in seiner Umsetzung in der Praxis: Die Lehre betont zwar die Langfristigkeit des Konzepts. Doch obschon der Geist willig ist, wird das Fleisch oft schwach, denn es ist schwer, langfristige Ziele im Auge zu behalten, wenn man täglich zweimal auf den Aktienkurs schielt. – Eine Stärke des Gegenmodells des Stakeholder-value-Ansatzes ist zweifellos, dass es die Realität nicht verkürzt. Ein Unternehmen lebt nicht vom Geld allein, sondern – und sicher schwergewichtig – vom Einsatz seiner Mitarbeiter, weiter auch von seinen Kunden und schließlich vom sozialen und rechtlichen Umfeld, in welchem es seine Tätigkeit entfaltet. Aber auch hier gibt es Schwächen: Das Kriterium ist „fuzzy“, es stellt keine klaren Maßstäbe für die Beurteilung der Leistungen von Vorstand und Auf4
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Nachdenklich stimmt, dass diese Besinnung auf die „inneren Werte“ von Unternehmen just in einem Zeitpunkt erfolgt ist, in welchem der Charme von alljährlich um zweistellige Prozentzahlen steigenden Gewinnen und Börsenkursen verblichen war. Könnte es sein, dass die Berufung auf „höhere“ Werte und Zielsetzungen helfen sollte, unternehmerisches Ungenügen und eine schlechte Performance zu vertuschen? Berufung auf Sozial- und Umweltziele als Feigenblatt zur Kaschierung unternehmerischen Versagens? Damit wird auch eine zuverlässige Basis für unternehmensinterne Incentive-Pläne geschaffen, welche das Topmanagement stimulieren sollen, (im Interesse der Aktionäre) ihr Bestes zu geben.
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sichtsrat zur Verfügung. Nur zu leicht kann das Argument des Gemeinwohls dazu missbraucht werden, schwache Resultate zu beschönigen. Auch ist es letztlich weltfremd zu erwarten, Wirtschaftsführer an der Spitze von Publikumsgesellschaften seien frei, ihre Entscheide mittels einer ganzheitlichen Würdigung der legitimen Interessen aller Betroffenen zu fällen: Ohne den Zufluss von neuem Eigenkapital – und damit ohne die Zustimmung der heutigen und potentieller künftiger Aktionäre – kann ein Unternehmen in der Regel längerfristig nicht überleben.6 Die konsequente Fokussierung auf Profitabilität ist daher nicht bloß eine Option, sie ist Notwendigkeit.
Mehr Gemeinsamkeiten als erwartet Tröstlich ist aber, dass sich bei näherer Betrachtung die beiden geschilderten Positionen gar nicht als so unvereinbar entpuppen wie dies zunächst den Anschein hat: – Der Shareholder-value-Ansatz verkennt nicht, dass Mehrwert für die Aktionäre letztlich nur dann geschaffen werden kann, wenn das Unternehmen gute Mitarbeiter gewinnen kann, wenn es bei seinen Kunden und Lieferanten anerkannt ist und es ihm gelingt, ein unternehmensfreundliches politisches und gesellschaftliches Umfeld zu sichern. – Umgekehrt ignoriert der Stakeholder-value-Ansatz nicht, dass Gewinne der Nährboden einer jeden unternehmerischen Tätigkeit und die Basis für eine Förderung aller am Unternehmen Interessierten sind.
Konvergenz der Konzepte Aber das ist nicht alles: Eine weitgehende Konvergenz der beiden Positionen ergibt sich nämlich, wenn bei unternehmerischen Entscheiden nicht primär auf die Interessen der momentan Betroffenen abgestellt wird, sondern auf die Gruppe oder Kategorie der betreffenden Stakeholder als solcher, also auf die – langfristigen – Interessen des Aktionariats, der Arbeitnehmerschaft und des gesell6
Und auch bei den Fremdkapitalgebern – allen voran den Banken – sind die Zeiten vorbei, in denen sie sich als „Förderer des Gemeinwohls“ darzustellen suchten, freigiebig Kredit erteilten und gelegentlich auch verfehlte Kreditentscheide mit der Rücksichtnahme auf das öffentliche Wohl rechtfertigten.
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schaftlichen und wirtschaftlichen Umfelds. Das heißt dann, dass die Einzelinteressen der zurzeit an einem Unternehmen beteiligten Aktionäre und Mitarbeiter, aber auch akute volkswirtschaftliche Probleme zurückstehen müssen hinter den grundsätzlichen und längerfristigen Anliegen der jeweiligen Interessengruppe, dies mit durchaus einschneidenden Konsequenzen: – Aktionäre müssen auf einen in greifbarer Nähe liegenden kurzfristigen Gewinn verzichten, wenn dadurch der nachhaltige Ertrag verbessert wird. – Arbeitnehmer müssen in Kauf nehmen, dass Stellen abgebaut werden, wenn die langfristige Entwicklung des Unternehmens dies verlangt, und zwar selbst dann, wenn es sich eine Gesellschaft aufgrund ihrer aktuellen Ertragslage leisten könnte, diese Arbeitsplätze zu erhalten.7 – Das Umfeld muss es sich gefallen lassen, dass alle legalen Möglichkeiten der Kostensenkung – einschließlich einer ausgeklügelten Steuerplanung – ausgenutzt werden, um die Unternehmung langfristig konkurrenzfähig zu erhalten. Damit bin ich nun – wie im Titel versprochen – in der Tat bei einem Modell der Gemeinwohlorientierung, das meines Erachtens verallgemeinert werden kann: Strategie und Taktik von Publikumsgesellschaften müssen darauf ausgerichtet sein, den Unternehmenswert nachhaltig zu steigern. Diese Erkenntnis ist freilich nicht besonders originell, sie gehört heute zum Mainstream.8 Illustrativ hiefür ist der Deutsche Corporate Governance Kodex, auf den die börsennotierten deutschen Gesellschaften bekanntlich durch § 161 AktG eingeschworen sind: In den in diesem Frühjahr eingefügten Passagen9 kommt das Wort Nachhaltigkeit fast bis zum Überdruss vor: – Schon die Präambel betont, der Kodex wolle die Verpflichtung von Vorstand und Aufsichtsrat verdeutlichen, „im Einklang mit den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft10 für den Bestand des Unternehmens und seine nachhaltige Wertschöpfung zu sorgen (Unternehmensinteresse)“.
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Ob dies die Situation der eingangs angesprochenen Deutschen Bank ist, kann ich nicht beurteilen. In der ökonomischen und der juristischen wissenschaftlichen Diskussion lassen sich ihre Wurzeln weit zurück verfolgen. Fassung v. 18. 6. 2009. Die soziale Marktwirtschaft kann wohl mit Fug als das volkswirtschaftliche Pendant zur Ausrichtung auf den nachhaltigen Unternehmenswert auf betrieblicher Ebene betrachtet werden.
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– Nach Ziff. 4.1.1 leitet der Vorstand „das Unternehmen mit dem Ziel nachhaltiger Wertschöpfung . . .“. – Nach Ziff. 4.2.3 ist die Vergütungsstruktur „auf eine nachhaltige Unternehmensentwicklung auszurichten“. – Und nach Ziff. 5.1.3 muss auch „für eine langfristige Nachfolgeplanung“ gesorgt werden.
Die Hard Cases Die Ausrichtung auf das nachhaltige Unternehmensinteresse dient zumeist allen, aber leider ist sie doch nicht immer die Zauberformel, mit der die vielfältigen Interessen der Stakeholder auf eine Reihe gebracht werden können. Es gibt „hard cases“, für die sich damit keine allseits befriedigende Lösung finden lässt. Dazu drei Beispiele aus der Schweizer Praxis (in Deutschland lassen sich zweifellos entsprechende Fälle finden): – Ein Investor (in den Augen vieler: ein Raider oder – in der Terminologie eines deutschen Politikers – eine Heuschrecke) offerierte für die Aktien einer Versicherungsgesellschaft CHF 14 000 pro Stück. Das Gegenangebot eines etablierten Versicherungsunternehmens belief sich auf CHF 12 000. Der Verwaltungsrat11 präferierte die zweite Offerte und konnte diese auch durchsetzen. Er berief sich auf die besseren Chancen für den Weiterbestand des Unternehmens unter den Fittichen eines altehrwürdigen Versicherers, also letztlich auf den Schutz der Mitarbeiter. Dabei nahm er in Kauf, dass die Aktionäre, die ja ihre Aktien veräußern sollten, einen Nachteil erlitten, der sich auch langfristig nicht ausgleichen ließ, denn am künftigen Unternehmenserfolg partizipierten sie ja nicht mehr. War dies legitim?12
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Das Pendant des deutschen Aufsichtsrats, dem aber unübertragbar und unentziehbar gewichtige Aufgaben zukommen, die in Deutschland der Vorstand zu besorgen hat. Der Fall – es ging um die Übernahme der La Suisse Versicherungsgesellschaft durch die Rentenanstalt (heute Swiss Life) – hat sich im August 1988 ereignet, vor dem Inkrafttreten des Schweizer Börsengesetzes am 1. 2. 1997. Unter dem heute geltenden Recht wäre der Verwaltungsrat wohl nicht umhin gekommen, den Aktionären die höchste Offerte zur Annahme zu empfehlen.
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– Beim Verkauf einer deutschen Tochtergesellschaft entschied sich der Verwaltungsrat der Swisscom13 nicht zugunsten der höchsten Offerte, weil er einen tieferen Bieter für den best owner hielt, einen neuen Eigner, der für die Entwicklung des Unternehmens und den Erhalt der Arbeitsplätze die zuverlässigste Gewähr biete. Durften – oder mussten – die Interessen der Mitarbeiter, von denen man sich im Zuge der Veräusserung trennen würde, den Interessen der eigenen Aktionäre an der Erzielung des Höchstpreises vorgezogen werden? – Und schließlich ein häufiger Fall – in Deutschland sicher genauso wie in der Schweiz: Eine Gesellschaft verlegt aus Kostengründen die Produktion ins Ausland. Sie schafft damit zwar neue Arbeitsplätze, baut aber im Gegenzug Stellen im Inland ab. Ist dies gerechtfertigt – oder sogar zwingend geboten –, obwohl die Entscheidung verdienten Arbeitnehmern die Stelle kostet und vielleicht einer ganzen Region Probleme schafft? In solchen Fällen führen der Shareholder- und der Stakeholder-value-Ansatz tatsächlich zu unterschiedlichen Resultaten, so dass eine Entscheidung zwischen den beiden Ausrichtungen unumgänglich wird und legitime Anliegen einer Gruppe von Beteiligten – auch in einer langfristigen Perspektive – zu kurz kommen müssen.
Mildernde Einflüsse Immerhin dürften solche Loyalitätskonflikte nicht so häufig sein, wie man vermuten möchte: Ein zentraler Faktor eines langfristigen Unternehmenserfolges, welcher – freilich ohne in der Bilanz zu erscheinen – allen Beteiligten zugute kommt, ist die Reputation. Diese lässt sich nur in einem langfristigen Bemühen erwerben und aufrechterhalten, in das die Interessen aller Betroffenen einbezogen werden. In den Worten von Warren Buffet (dem Guru der langfristig ausgerichteten Investoren): „It takes 20 years to build a reputation – and 5 minutes to ruin it.“ Zum Schutze der Reputation kann der Verzicht auf den Höchstpreis beim Unternehmensverkauf (die beiden ersten Bespiele) gerechtfertigt sein, und aus Rücksicht auf die Reputation wird ein Unternehmen gut daran tun, bei der Verschiebung von Arbeitsplätzen auf die Interessen von Arbeitnehmerschaft
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Der größten Schweizer Telecomgesellschaft.
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und Öffentlichkeit zu achten. Dies umso mehr, als in den letzten Jahren das öffentliche Interesse an Wirtschaftsfragen, aber auch der Einfluss von Organisationen der Zivilgesellschaft (NGOs) massiv zugenommen haben.
Verbesserungsmöglichkeiten Bejaht man eine Ausrichtung auf das langfristige Unternehmensinteresse als allgemein tragfähiges Modell, dann ist zu fragen, ob das regulatorische Umfeld dafür optimale Voraussetzungen bietet. Einiges wäre aus dieser Optik zu überdenken. Ich nenne drei Beispiele: – Finanzielle Anreize für das Management in der Form von variablen Salärkomponenten sind so auszugestalten, dass der langfristige Erfolg belohnt, das kurzfristige Strohfeuer dagegen bestraft wird. Dies ist heute unbestritten, und die Anstrengungen vieler Unternehmen sind in dieser Hinsicht beeindruckend. Es fragt sich aber, ob das Arbeits- und das Steuerrecht dafür die optimalen Voraussetzungen schaffen. Für Deutschland kann ich dies nicht beurteilen, in der Schweiz ist es jedenfalls so, dass die arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen – gut gemeint und angebracht für Arbeitnehmer mit Durchschnittsalären– erhebliche Probleme schaffen, wenn für Topverdiener neben dem Bonus auch ein Malus eingeführt oder ein „clawback“ bei Misserfolg vorgesehen werden soll. Und bei der Zuweisung von für mehrere Jahre gesperrten Aktien oder Optionen, wie sie als Anreiz für eine langfristige Orientierung eingesetzt wird, kann die Besteuerung upfront – bei Zuteilung – und nicht erst im Zeitpunkt der freien Verfügbarkeit zu einer in diesem Ausmaß ungewollten Verstärkung der Belohnung oder „Bestrafung“ führen.14 – Ein Problem liegt sodann darin, dass die Aktionäre – und ich spreche hier von den Aktionären einer Publikumsgesellschaft und nicht von Unternehmeraktionären in Familiengesellschaften – vielfach nicht bereit sein werden, die Taube langfristiger Gewinnmaximierung dem Spatz in Form von kurzfristigen Profiten vorzuziehen. Wieso sollten sie auch? Anders als die Mitarbeiter können sie tagtäglich ihr Engagement in einem Unternehmen begründen, erweitern, reduzieren oder beenden. Daher sind für viele Ak14
Steigt der Aktienkurs massiv, dann musste nur ein Teil des im Zeitpunkt der Verfügbarkeit erlangten Wertes versteuert werden, bricht er ein, dann kann die Steuerbelastung weit über 100% betragen.
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tionäre die low hanging fruits eines kurzfristigen Kursanstiegs attraktiver als die Erwartung einer nachhaltigen Wertsteigerung über die Jahre. Und selbst wenn man an eine rosige Zukunft glaubt, kann es die nüchterne Abwägung gebieten, nicht schon heute dabei zu sein und die Durststrecke mitzumachen, wenn es später immer noch Gelegenheit gibt, auf den in Richtung Gewinnsteigerung fahrenden Zug aufzuspringen.15 Sollte man hier radikale Neuerungen ins Auge fassen, etwa Vorzugsdividenden oder qualifizierte Stimmrechte zugunsten von Aktionären, die bereit sind, sich länger zu binden? (Persönlich bin ich als Aktienrechtler in dieser Hinsicht vorderhand skeptisch). – Und noch ein weiterer Punkt verdient Beachtung: Die in den letzten Jahren weit vorangetriebenen Transparenzvorschriften sind nicht nur segensreich: Zuweilen zwingen sie die für das Unternehmen Verantwortlichen zu kurzfristigen Maßnahmen, die keineswegs im langfristigen Unternehmensinteresse sind. Dass konsequente Marktwertberechnungen zu größerer Volatilität und Prozyklität führen – also zum Gegenteil einer nachhaltigen Ausrichtung – ist in den Analysen zur Wirtschaftskrise vielfach beschrieben und beklagt worden. Ein anderes Beispiel sind die von den Börsen im Hauptsegment mittlerweile allgemein verlangten Quartalsabschlüsse. Ein quarterly reporting mag bei einem Bierlieferanten, einem Eisverkäufer oder einem Marronihändler Sinn machen, vielleicht auch in der Mode und im Tourismus. In der Lebensversicherung (um nur ein Gegenbeispiel zu nennen), wo der Erfolg von Schätzungen der Lebenserwartung auf 20 oder 30 Jahre hinaus abhängt, ist diese Scheingenauigkeit nicht nur nutzlos, sondern schädlich: Sie setzt die Unternehmensleitungen unter enormen Druck, alle drei Monate Erfolge auszuweisen, und sie erschwert Investitionen in die Zukunft. * * * Was folgt aus alledem? Sicher zunächst nur die Ernüchterung, dass es einen Königsweg ohne Stolpersteine nicht gibt. Aber dennoch: Trotz aller Schwachstellen bleibt die Ausrichtung auf das langfristige Gedeihen des Unternehmens mitsamt der aufgezeichneten Konsequenzen für dessen Stakeholder nach meiner Überzeugung das Handlungsmodell, das die besten Chancen auch für das Gemeinwohl beinhaltet und das sich am ehesten für eine Verallgemeinerung anbietet. 15
Value investors, die über lange Zeitstrecken hoch erfolgreich sind, denken freilich anders.
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Untreue – Altes und Neues
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Sorglosigkeit von Verwaltungsorganen und Untreuetatbestand
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„Finanzmarktkrise, Sorglosigkeit von Verwaltungsorganen und Untreuetatbestand“ Sorglosigkeit von Verwaltungsorganen und Untreuetatbestand Franz Jürgen Säcker Franz Jürgen Säcker
Gliederung I. Einführung II. Spekulative Finanztermingeschäfte und kaufmännische Sorgfalt III. Rechtliche Maßstäbe für die Vermögensverwaltungs- und Vermögensbetreuungspflicht IV. Verzicht auf Schadensersatzansprüche und Erstattung von Bußgeldern bei Pflichtverletzungen V. Zusammenfassung
I.
Einführung
Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Missbrauch gesellschaftsrechtlich begründeter Vermögensverwaltungs- und Vermögensbetreuungspflichten des Vorstandes und Aufsichtsrats in den Kapitalgesellschaften (AG, GmbH) und daraus resultierenden Schadensersatzansprüchen. Die bestehenden gesellschaftsrechtlichen Pflichten sind zugleich die Grundlage für die Beurteilung des Treubruchtatbestandes in § 266 StGB und vermitteln dadurch dem Tatbestand eine Annäherung an das strafrechtliche Bestimmtheitserfordernis.1 Das Strafrecht kann ja weder neue, zusätzliche gesellschaftsrechtliche Pflichtbindungen erfinden noch bestehende gesellschaftsrechtliche Pflichten ignorieren. Es kann allenfalls leichtere Pflichtverletzungen als strafrechtlich nicht relevant definieren und auf die Sanktionierung von weniger erheblichen Pflichtverstößen verzichten, weil die Keule des Strafrechts dafür zu grob ist. Im Übrigen muss es beim Akzessorietätsgrundsatz bleiben. Als Nicht-Strafrechtler nehme ich zur subjektiven Seite des Untreuetatbestandes keine Stellung. Aber das Gesellschaftsrecht kann zumindest Anhaltspunkte dafür liefern, wann im Zeitablauf bei fortgesetzten riskanten Finanztermingeschäften aus negligentia luxuria und aus luxuria dolus eventualis wird. 1
Radtke/Hoffmann GA 2008, 535 ff.
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Für das Zivilrecht selber ist die Frage nach der Feststellung eines dolus eventualis allerdings von untergeordneter Bedeutung, da auch eine fahrlässige Schadenszufügung zur Haftung führt, wobei, sofern die Schuldfähigkeit zu bejahen ist, kein subjektiver Vorwurf erforderlich ist.2 Es genügt das Nichtbeachten der von einem sachkundigen Experten und Fachmann objektiv geschuldeten Sorgfalt. Vorsatz spielt im Zivilrecht erst wieder eine Rolle bei der D&O-Versicherung als Ausschlussgrund für Versicherungsleistungen. Nicht selten unterstützen D&O-Versicherungen Vorstände im Kampf um die Feststellung, dass bei Zinssatzspekulationen kein Verschulden vorliege. Ist dann ein Verschulden festgestellt, sind dieselben Personen schnell der Ansicht, es liege Vorsatz vor.3
II.
Spekulative Finanztermingeschäfte und kaufmännische Sorgfalt
Hinter Schlagworten wie „Optimierung der Refinanzierungsstrategie durch außerbörsliche Derivatgeschäfte“ und „Optimierung erwarteter Fremdwährungseingänge“ verbergen sich, wie sich nicht erst in der gegenwärtigen Finanzmarktkrise herausgestellt hat, riskante Zinssatz- und Devisenspekulationsgeschäfte. Die Verlockung, vor den Aktionären mit überdurchschnittlich hohen Gewinnen zu glänzen und zugleich das eigene Einkommen durch am Gewinn orientierte Bonuszahlungen zu mehren, ist groß. Wie immer ist die Sünde süß und die Tugend schwer. Namentlich die Vorstände öffentlicher Banken sind mit dem Ziel, die Gewinne privater Banken zu übertrumpfen und dadurch unternehmerische Reputation zu gewinnen, vielfach unvertretbare Risiken in aller Welt eingegangen, von denen ihre Aufsichtsräte nichts oder wenig ahnten und noch weniger verstanden. So hat z. B. die HSH Nordbank bei einer Bilanzsumme von 200 Mrd. Euro 112 Mrd. Euro in riskanten Spekulationsgeschäften rund um den Globus eingesetzt und noch in den ersten drei Quartalen 2009 821 Mio. Euro an diesen Geschäften verloren. Nicht einmal 10% der Aufsichtsräte öffentlicher Kreditinstitute verfügten vor Berufung in den Aufsichtsrat über Erfahrungen im Finanzmarkt.4 Ebenso un-
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Grundmann in: MünchKomm zum BGB, 5. Aufl. 2007, § 276 Rn. 150. Vgl. dazu Säcker VersR 2005, 10 ff. Vgl. dazu Hau/Thum Wie (in)kompetent sind die Aufsichtsräte deutscher Banken? FAZ Nr. 233 v. 6. 10. 2008, S. 14.; Vgl. dazu meinen Beitrag, Derivative Finanzie-
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vertretbar war es, Subprime- Hypotheken, die 100% und mehr des aktuellen Marktwertes US-amerikanischer Immobilien mit begrenzter Lebensdauer absicherten, über ausländische Tochtergesellschaften5 in großem Maß aufzukaufen6 und dadurch inländische Prinzipien zu unterlaufen, die eine Absicherung von höchstens 70% des Marktwertes zugelassen hätten.7 Es gibt keine auch nur annähernde Sicherheit, dass der Marktwert dieser Häuser im Gegensatz zu deutschen Häusern immer nur steigt und nicht fallen kann. Der Abschluss spekulativer Zinssatz- und Währungsgeschäfte, die in keinem vertretbaren Umfang mehr zum Eigenkapital der Gesellschaft stehen, war zu allen Zeiten ein Verstoß gegen die Pflicht des Vorstandes, die Geschäfte der Gesellschaft mit der gebotenen kaufmännischen Sorgfalt und Vorsicht zu führen. Die Vorstandsmitglieder einer auf Grundpfandrechte spezialisierten Bank handelten daher objektiv pflichtwidrig, wenn sie Swapgeschäfte ohne Rücksicht auf das Volumen und die Struktur des vorhandenen und erwarteten bilanziellen Geschäfts als eigenständigen, auf Gewinnerzielung gerichteten Geschäftszweig etablierten. Der Vorstand kann nicht das Volumen riskanter Derivatgeschäfte beliebig steigern und Derivatgeschäfte als „zweites Standbein“ des Unternehmens etablieren und darin eine Kompensation für ein konjunkturell schwächelndes Realkreditgeschäft suchen, um höhere Gewinne auszuweisen. Aber auch soweit der Vorstand in zulässigem Umfang Derivatgeschäfte abschließt, hat er deren langfristige Risiken durch laufende Risikomessung und durch Limitbegrenzung zu beobachten; er muss systematisch Maßnahmen zur Identifikation, Quantifizierung und Begrenzung des maximalen Verlustes treffen, der innerhalb einer bestimmten Periode aus den abgeschlossenen Geschäften eintreten kann.8 Ein Handel mit Derivatprodukten ohne gleichzeitige Installierung effektiver Risikokontrollinstrumente ist mit dem Verhalten eines ordentlichen, gewis-
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rungsinstrumente zwischen Aufsichtsrecht und Gesellschaftsrecht, in: FS für V. Röhricht, 2005, S. 497 ff. Die Tochtergesellschaft kann keine Geschäfte betreiben, die der Muttergesellschaft bei Anlegung des Maßstabs des § 93 AktG und der Grenzen, die ihr die Satzung vorgibt, verboten sind; vgl. grundlegend Lutter in: FS für Westermann, 1974, S. 343 ff.; Timm Die Aktiengesellschaft, 1980, S. 131ff. So hat vor allem die IKB durch völlige Unterschätzung des Risikos Subprime Hypotheken erworben und damit einen Verlust von 10 Mrd. Euro „produziert“ (vgl. DIE ZEIT Nr. 29 v. 9. 7. 2009, S. 29). Vgl. dazu die Verordnung über die Ermittlung der Beleihungswerte von Grundstücken nach § 16 Abs. 1 und 2 des PfandBG v. 12. 5. 2006 (BelWertV). Vgl. näher Säcker NJW 2008, 3313 ff.
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senhaften Kaufmanns (§ 93 Abs. 1 S. 1 AktG) unvereinbar. Der BGH hat bereits vor Inkrafttreten des § 91 Abs. 2 AktG im Herstatt-Urteil9 auf die Organisations- und Überwachungspflichten des Vorstandes bei riskanten Devisenhandelsgeschäften – ein Gleiches gilt sinngemäß für Zinsderivatgeschäfte – hingewiesen, um Schaden vom Unternehmen abzuwehren.10 Aber auch den Aufsichtsrat treffen Überwachungspflichten, deren Verletzung ihn in eine gesamtschuldnerische Mitverantwortung mit dem Vorstand hineinträgt.11 Muss der Aufsichtsrat – ggfs. nach Erörterung mit dem Abschlussprüfer – ein Übermaß an riskanten Derivatgeschäften bzw. die Insuffizienz der vom Vorstand genutzten Kontrollinstrumente erkennen, so setzt er sich selber dem Vorwurf mangelhafter Überwachungstätigkeit aus, wenn er nicht rechtzeitig auf Abhilfemaßnahmen dringt und bei Nichtbeachtung personelle Konsequenzen zieht.12 Wird der Aufsichtsrat rechtzeitig und umfassend unterrichtet, so hat er die Möglichkeit, gegebenenfalls in Anwesenheit eines Vertreters des Bundesaufsichtsamtes Risiken ausufernder Zinsderivatgeschäfte aufgrund eines besseren Informationsstandes zu analysieren und rechtzeitig Konsequenzen aus einer Unvertretbarkeit des Umfangs der zu hohen offenen Positionen ohne terminliche Deckung zu ziehen.13 Der Aufsichtsrat darf ein „zu großes Rad“ bei riskanten Refinanzierungsgeschäften im Unternehmensinteresse nicht hinnehmen14 in der Hoffnung es werde schon gutgehen. Er darf nicht zulassen, dass der Vorstand das ihm anvertraute Vermögen der Aktionäre spekulativ einsetzt und bestandsgefährdende Risiken eingeht.15 Er muss den Vorstand bremsen, wenn dieser langfristige Kredite ohne eine adäquate langfristige Refinanzierung bzw. ohne 9 10
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BGHZ 75, 120, 132 ff. Ein Vorstand, der die bankaufsichtsrechtlich festgelegten Standards ordnungsgemäßer Geschäftsführung beim Zinsrisikomanagement missachtet, verstößt zugleich in grober Weise gegen seine Pflichten aus dem Dienstvertrag; vgl. zur dienstvertragsrechtlichen Relevanz der Verletzung der aufsichtsrechtlichen Pflichten zutreffend Preußner/Zimmermann AG 2002, 657 ff. Vgl. RG 77, 323; 95, 347; Mertens in: Kölner Komm zum AktG, 2. Aufl. 1996, § 93 Rn. 21; Schilling in: GroßKomm zum Aktiengesetz, 1979, § 93 Rn. 23. Vgl. zu dieser Verantwortung des Aufsichtsrates von Westphalen Derivatgeschäfte, Risikomanagement und Aufsichtsratshaftung, S. 188 ff.; Salzberger, DBW 2000, 756 ff. Vgl. RG JW 1924, 1145, 1147; BGHZ 75, 120, 126, 132 f. („Herstatt“); BGHZ 114, 127, 131 ff.; BGHZ 135, 244, 251 ff. Vgl. BGHZ 135, 244, 251 ff. Vgl. dazu Hefermehl/Spindler in: MünchKomm zum AktG, 2. Aufl. 2004, § 93 Rn. 22; Mertens in: Kölner Komm, 2. Aufl. 1996, § 93 Rn. 6.
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risikomindernde Gegengeschäfte zur Schließung der offenen Positionen gewährt. Gegengeschäfte müssen ihre Begrenzung aber immer in dem Gesamtvolumen und in der Struktur der neu abgeschlossenen bzw. der mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden neuen Kreditverträge finden.16 Zinsderivatgeschäfte, die keinen Bezug mehr zur Schließung offener Positionen aus Realgeschäften haben, tragen Glücksspielcharakter. An die Stelle risikomindernder Wertsicherung darf nicht aleatorischer Gewinntrieb mit fremdem Geld treten.17 Ein Gleiches gilt für die Optimierung erwarteter Fremdwährungseingänge. Auch hier ist eine wertwahrende Kurssicherung, nicht aber eine spekulative Vergrößerung des Währungsrisikos durch Schaffung weiterer offener Positionen geboten; denn die künftige Marktentwicklung, das Floaten der Devisenkurse und die Entscheidungen der Notenbanken sind keine sicher prognostizierbaren Größen. Banken sollten keine Spielbanken sein. Dem Vorstand eines Unternehmens steht beim Überschreiten der von § 93 AktG gezogenen Grenzen kaufmännischer Sorgfalt kein Ermessensspielraum zu. § 93 AktG statuiert Handlungsgrenzen, die sich nicht relativieren lassen. Der Schutz der Business Judgement Rule (vgl. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG18) besteht nicht bei Gesetzesverstößen.19 Ist ein bestimmtes Verhalten illegal, besteht kein unternehmerisches Ermessen, die Norm dennoch zu übertreten.20 Das gilt für alle zwingenden Normen des Privatrechts und des Öffentlichen Rechts, namentlich für Vorschriften des Kartell- und Regulierungsrechts, des Bankenaufsichtsrechts und des Umwelt- und Gesundheitsschutzrechts. Ver16 17
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Vgl. näher Säcker aaO. (Fn. 8). Manche vertraglich vereinbarten Abfindungs- und Überbrückungsgeldzahlungen, die bei Ausscheiden aus dem Vorstand nach relativ kurzer Tätigkeit fällig werden, lassen angesichts ihrer Höhe an die Rspr. des BGH (BGH NJW 1953, 740; NJW 1957, 1278; WM 1968, 1041; NJW 1989, 2683f.; vgl. auch Martens Die außerordentliche Beendigung von Organ- und Anstellungsverhältnis, in: FS für W. Werner, 1984, S. 508, 510) denken, der einen gegen § 84 Abs. 3 AktG verstoßenden Eingriff in die Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrates angenommen hat, wenn die Höhe der Zahlung den Aufsichtsrat an der rechtzeitigen Abberufung des Vorstandsmitgliedes hindert. Die Rechtsfolge ist dann gemäß § 134 BGB die Unwirksamkeit der entsprechenden Abfindungs- oder Überbrückungsgeldregelung; § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG sucht durch Anordnung eines Selbstbehalts gegenzusteuern. Vgl. dazu zu Recht krit. Lohse Unternehmerisches Ermessen – Zu den Aufgaben und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat, 2005. Vgl. dazu näher Säcker WuW 2009, 11 ff. Vgl. Abeltshauser Leitungshaftung im Kapitalgesellschaftsrecht, 1998, S. 54 ff.; Roth Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstandes, 2001, S. 54 ff., 58, 66; Hüffer aaO., § 76 Rn. 7.
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stöße gegen diese Vorschriften sind niemals im Unternehmensinteresse gerechtfertigt;21 ihre Verletzung stellt kein Kavaliersdelikt dar. Einen Prognoseund Beurteilungsspielraum haben Vorstandsmitglieder nur bei der Frage, wie sie innerhalb des gesetzlich bestehenden Gestaltungsspielraums agieren, um ihr Unternehmen so erfolgreich wie möglich zu führen.22
III.
Rechtliche Maßstäbe für die Vermögensverwaltungs- und Vermögensbetreuungspflicht
Die Verwaltungsorgane einer Kapitalgesellschaft handeln, wenn sie unternehmerische Entscheidungen treffen, als treuhänderische Vermögensverwalter für die Aktionäre als den Eigentümern des Unternehmens.23 Der Vorstand ist, wie der BGH feststellt, nicht Gutsherr, sondern treuhänderischer Gutsverwalter, der nicht selbstherrlich über fremdes Vermögen verfügen darf und sich nicht auf eine eigene privatautonome Entscheidungsfreiheit über das Gesellschaftsvermögen berufen kann.24 Betriebswirtschaftlich ist der daraus resultierende principal-agent-Konflikt in der Unternehmensorganisationstheorie intensiv ausgeleuchtet worden.25 Die Juristen haben dagegen lange normgerechtes Verhalten des Treuhänders als selbstverständlich unterstellt und Vorstände häufig mit einem Heiligenschein umgeben. Im Lichte heutiger Erfahrung sind normative Vorgaben zur Sicherung der Treubindung der Organe unverzichtbar, weil ohne solche Vorgaben die mit der Übernahme einer Fremdgeschäftsführung verbundenen rollenspezifischen Pflichten nicht immer ausreichend beachtet worden sind. 21 22
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Vgl. Säcker aaO. (Fn. 19). Vgl. dazu BGHZ 135, 244 – ARAG/Garmenbeck; näher dazu Hopt in: GroßKomm zum AktG, 4. Aufl. 1999, § 93 Rn. 81 ff.; Hefermehl/Spindler in: MünchKomm zum AktG, 2. Aufl. 2004, § 93 Rn. 24 ff.; Fleischer in: FS für Wiedemann, 2002, S. 827 ff.; Roth BB 2004, 1066 ff.; Lohse Unternehmerisches Ermessen – Zu den Aufgaben und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat, 2005. Vgl. dazu näher Raiser NJW 1996, 552, 554; Kübler Aktienrechtsreform und Unternehmensverfassung, AG 1994, 141 ff. So zutreffend die Feststellung des BGH ZIP 2006, 72, 78. Zur principal-agent-Beziehung z. B. Kuhner ZGR 2004, 244, 253 f.; Fleischer Zur organschaftlichen Treuepflicht der Geschäftsleiter im Aktien- und GmbH-Recht, 2003, S. 1049 ff. m. w. N. in Fn. 190; Zöllner AG 2003, 1, 10; grundlegend Jensen/ Meckling Journal of Financial Economics 3 (1976), 305 ff.; Anderson 25 U.C.L.A. L. Rev. 738, 761 (1975); Easterbrok/Fischel The Economic Structure of Corporate Law, 1991, S. 93 f.
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Der 3. Strafsenat des BGH26 hat zutreffend diese rechtliche Gebundenheit der Verwaltungsorgane betont und deshalb z. B. Zahlungen ohne Rechtsgrundlage als Verletzung der ihnen obliegenden Pflicht zur treuhänderischen Vermögensverwaltung27 bezeichnet. Aus dem gleichen Grunde hat der Gesellschaftsrechtssenat des BGH ein Aufsichtsratsmitglied eines Bauunternehmens, das im Hauptberuf Vorstandsmitglied einer Bank war, gemäß §§ 116, 93 AktG zum Schadensersatz verurteilt, weil es das Gewicht seines Aufsichtsratsamtes auf die Wagschale geworfen hatte, um in einer finanziellen Krisensituation vom Vorstand des Bergwerksunternehmens die nachträgliche Besicherung einer ungesicherten Forderung zu erreichen. 28 Damit habe es gegen seine Treuepflicht als Organmitglied der juristischen Person verstoßen.29 Die Sorgfaltspflicht des Organmitglieds bezieht sich nach der Rechtsprechung auf alles, „was den Bestand, die Funktionsfähigkeit und die Aufgabenerfüllung des Verbandes im Hinblick auf den Zweck des Verbandes begünstigt und gewährleistet“.30 Dieser Maßstab ist nicht notwendig identisch mit dem individuellen Interesse von Gesellschaftern.31 Vorstand und Aufsichtsrat sind nicht „ungefiltert“ an den Willen der Gesellschafter, sondern an das objektive Eigeninteresse des Unternehmers gebunden. Insoweit gilt im Prinzip nichts Anderes als im Verhältnis der Eltern zum Kind; auch diese sind bei der ihnen obliegenden Vermögensfürsorge nicht an den Willen des Kindes, sondern an dessen objektives Interesse gebunden.32 Das Aktiengesetz ordnet der Hauptversammlung nur Grundlagenentscheidungen zu (vgl. 26 27
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BGH ZIP 2006, 72 ff. (Mannesmann // Vodafone). Dazu, dass der Aufsichtsrat – vergleichbar einem Treuhänder – in Wahrung fremder Vermögensinteressen handelt, z. B. M. Strasser Treuepflicht der Aufsichtsratsmitglieder, 1998, S. 42 ff., 58 ff.; Möllers NZG 2003, 697, 698; Wiedemann in: FS für Heinsius, 1991, S. 949, 951; Raiser NJW 1996, 552, 554; Spindler ZIP 2006, 349, 350. BGH WM 1980, 162 ff. Dazu, dass auch ein Aufsichtsratsmitglied Treupflichten zu beachten hat, vgl. z. B. Semler in: MünchKomm zum AktG, 2. Aufl. 2004, § 116 Rn. 5; Hopt/Roth in: GroßKomm zum AktG, 4. Aufl. 2005, § 116 Rn. 173 ff.; Spindler ZIP 2006, 349, 350; BGHZ 65, 15 ff.; BGHZ 103, 184 ff. Zöllner Kölner Komm zum AktG, 2. Aufl. 1986 ff., Einl. Rn. 107; Krämer Das Unternehmensinteresse als Verhaltensmaxime der Leitungsorgane einer Aktiengesellschaft im Rahmen der Organhaftung, 2002, S. 27, 47; Kuhner ZGR 2004, 244, 246; Fleischer aaO. (Fn. 25), S. 8. BVerfGE 50, 290, 323 f., 350. In Anlehnung daran heißt es bei Mülbert ZGR 1997, 129, 141: Das Gesellschaftsinteresse bilde eine „überindividuelle, von den konkreten Interessen der einzelnen Verbandsmitglieder abgelöste und für alle Gesellschaftsorgane gleichermaßen verbindliche Leitmaxime“; ähnlich Wiedemann Gesellschaftsrecht, Bd. I, 1980, S. 628. Dazu Müller- Freienfels Die Vertretung beim Rechtsgeschäft, 1955, S. 340 ff., 364, 381.
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§ 119 Abs. 1 AktG). In Fragen der Geschäftspolitik steht den Aktionären kein originäres Entscheidungsrecht zu (§ 119 Abs. 2 AktG).33 Beschlüsse außerhalb des durch § 119 Abs. 1 AktG gezogenen Rahmens sind wegen fehlender Organzuständigkeit unwirksam.34 Sie haben für das Management keine haftungsentlastende Wirkung, da es sich nicht um gesetzmäßige Beschlüsse der Hauptversammlung i. S. von § 93 Abs. 4 AktG handelt. Auch bei der GmbH ist die Geschäftsführung von Haftung nicht frei, wenn sie Beschlüssen der Gesellschafterversammlung folgt, die außenstehende Gläubiger schädigen (§ 43 Abs. 3 S. 3 GmbH).35 Beschlüsse des Anteilseignerorgans, die gegen die gesellschaftsbezogene Treuepflicht verstoßen, sind ungültig.36 Dies zeigt, dass der Wunsch eines Gesellschafters, und sei er noch so dringlich und drängend vorgetragen, den Vorstand nicht davon abhalten darf, zum Wohl des Unternehmens zu handeln. Anerkennung oder Billigung des Organhandelns durch Großaktionäre kann daher eine Pflichtwidrigkeit des Handelns nicht beseitigen.37
IV.
Verzicht auf Schadensersatzansprüche und Erstattung von Bußgeldern bei Pflichtverletzungen
Vorstandsmitglieder, die ihre Dienstpflichten verletzen, verstoßen gegen § 93 AktG. Ein zur Haftung des Unternehmens im Außenverhältnis führender Verstoß gegen Gesetze wie er z. B. beim Verstoß gegen Anlegerschutzvorschriften oder beim Abschluss von Kartellen vorliegt, stellt auch im Innenverhältnis nicht nur im Regelfall,38 sondern immer eine Pflichtverletzung dar. Ein Vorstandsmitglied kann sich bei Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen nicht darauf berufen, dass es durch den Gesetzesverstoß der Gesellschaft finanzielle Vorteile gebracht habe. Eine solche Compensatio lucri cum damno kommt im Rahmen des normativierten Differenz-Schadenskonzepts
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Kubis in MünchKomm zum AktG, 2. Aufl. 2004, § 119 Rn. 18. Kubis in Münch Komm zum AktG, 2. Aufl. 2004, § 119 Rn. 9, vgl. dann (und zu richterlichen Einschränkungen dieses Grundsatzes) BGHZ 83, 122 „Holzmüller“ und BGH NJW 2004, 1860 „Gelatine“. Vgl. dazu Ulmer ZIP 2001, 2021 ff. Hüffer Komm zum AktG, 8. Aufl. 2008, § 53 a Rn. 22; § 243 Rn. 24. Vgl. BGH ZIP 2006, 72, 75. So unzutreffend Dreher in: FS für Konzen, 2006, S. 85, 95.
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nicht in Betracht.39 Auch im Rahmen der §§ 263, 266 StGB darf keine Kompensation des angerichteten Schadens mit den durch rechtswidrige Handlungen erzielten Vorteilen stattfinden.40 In jedem Fall bleibt der Vorstand verpflichtet, den Gesetzesverstoß zu beenden.41 Weigert sich die Mehrheit der Organmitglieder, z. B. ein Kartell zu beenden, so tritt an die Stelle der Loyalitätspflicht die Legalitätspflicht. In diesem Fall hat das überstimmte Vorstandsmitglied dem Aufsichtsratsvorsitzenden den umstrittenen Vorstandsbeschluss mitzuteilen, der dann in aller Regel die Sache dem Gesamtaufsichtsrat zur Entscheidung vorlegen muss. Die Offenlegung eines Wettbewerbsverstoßes gegenüber der Behörde bedeutet gesellschaftsintern, dass der Gesetzesverstoß auch dem Aufsichtsrat mitzuteilen ist. Dieser muss dann entscheiden, welche Konsequenzen er aus dem Kartellverstoß zieht. Hat der Vorstand seine Pflicht zur gesetzestreuen Führung des Unternehmens durch eigene Beteiligung an dem Kartell verletzt, so muss der Aufsichtsrat Konsequenzen ziehen. Ihm steht bei dieser Frage kein Beurteilungsermessen i. S. der Business Judgement Rule (§§ 93 Abs. 1 Satz 2, 116 AktG) zur Seite.42 Im ARAG-Garmenbek-Urteil hat der BGH43 zutreffend festgestellt, dass der Aufsichtsrat in aller Regel pflichtwidrig handelt, wenn er ein pflichtwidriges
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Vgl. dazu näher Säcker in: FS für Immenga, 2004, S. 679 ff.; ferner zu § 33 GWB Emmerich in: Immenga/Mestmäcker Wettbewerbsrecht: GWB, 4. Aufl. 2007, § 33 Rn. 52 f. Bei der Feststellung eines Vermögensnachteils i. S. v. § 266 StGB oder eines Vermögensschadens i. S. v. § 263 StGB kann grundsätzlich neben dem von dem Täterverhalten verursachten Vermögensabfluss auch ein Vermögenszufluss berücksichtigt werden („Schadenskompensation“). Es werden aber nur Posten berücksichtigt, die zu dem Vermögen im juristisch-ökonomischen Sinn gehören. Posten, die nicht im Einklang mit der Gesamtrechtsordnung stehen, sind zu vernachlässigen. Dies gilt nach herrschender Auffassung bei der Feststellung eines Vermögensabflusses (vgl. hierzu Dierlamm in: MünchKomm zum StGB, Bd. 4, 2006, § 266 Rn. 180, 181). Nichts anderes kann bei der Feststellung eines Zuflusses gelten. Das Problem gesetzeswidrig für das Unternehmen erlangter Vorteile (z. B. durch Verstoß gegen Umwelt-, Wettbewerbs- und Wirtschaftsrecht) wird allerdings nicht explizit angesprochen (nicht eindeutig z. B. Lackner/Kühl StGB, § 266 Rn. 17 b). Es kann aber m. E. kein Zweifel daran bestehen, dass auch im Strafrecht die Berufung auf gesetzeswidrig beschaffte Vermögensvorteile nicht zum Wegfall des Vermögensschadens führt, und zwar auch dann nicht, wenn der Gewinn nicht (voll) abgeschöpft worden ist. Wiesner in: Münchener Handbuch AG, 3. Aufl. 2007, § 22 Rn. 7; Mertens in: Kölner Komm zum AktG, § 77 Rn. 27. Näher dazu Säcker WuW 2009, 362 ff. BGHZ 135, 244, 252.
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Handeln des Vorstands nicht sanktioniert.44 Nur ausnahmsweise, wenn dies gerechtfertigt ist, um höheren Schaden vom Unternehmen abzuwenden, dürfe der Aufsichtsrat von der Geltendmachung dienstvertraglicher Konsequenzen absehen.45 Soweit geschädigte Personen Schadensersatz vom Unternehmen verlangen, muss der Aufsichtsrat daher den Schaden vom Vorstand ersetzt verlangen. Das gilt auch, wenn gegen das Unternehmen ein Bußgeld wegen Verletzung von Gesetzesvorschriften verhängt worden ist. In der ARAG-Garmenbeck-Entscheidung des BGH heißt es dazu unmissverständlich: „Die Entscheidung über die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen pflichtwidrig handelnde Vorstandsmitglieder ist Teil seiner nachträglichen Überwachungstätigkeit, deren Ziel darauf gerichtet ist, den Vorstand zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und Schäden von der Gesellschaft abzuwenden. Bei dieser Kontrolltätigkeit hat der Aufsichtsrat zwar die dem Vorstand zustehende unternehmerische Handlungsfreiheit [. . .] im Rahmen seiner Prüfung des Vorliegens eines pflichtwidrigen Vorstandshandelns zu berücksichtigen. Für seine eigene Entscheidung kann der Aufsichtsrat ein unternehmerisches Ermessen [. . .] nicht in Anspruch nehmen.“46 Die Verfolgung von Schadenersatzansprüchen ist somit die Regel. Entscheidet der Aufsichtsrat, den Anspruch nicht geltend zu machen, ohne überwiegende Gründe des Unternehmensinteresses auf seiner Seite zu haben, so ist der Aufsichtsratsbeschluss nichtig.47 Erst recht kann der Aufsichtsrat keine Erstattungsleistungen zusagen, um eine gegen das Vorstandsmitglied verhängte Geldbuße wegen Gesetzesverstoß auszugleichen.48 Täte er dies gleichwohl, so teilte er treuhänderisch gebundenes Vermögen ohne rechtliche Verpflichtung aus. Dies wäre eine gravierende Verletzung seiner Vermögensbetreuungspflicht. Es bestünde zudem die Gefahr, dass das Unternehmen das von ihm erstattete Bußgeld in Form höherer Preise auf die Verbraucher weiterwälzt. Mit funktionierender Kartell-Compliance hat das nichts zu tun.49
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Zust. Dreher ZHR 158 (1994), 614, 637; Lutter ZIP 1995, 441 f.; Fischer BB 1996, 225 ff.; Nirk in: FS für Boujong, 1996, S. 393 ff.; Henze NJW 1998, 3309 ff. Vgl. BGHZ 153, 47, 50 ff.; BGH NZG 2005, 77 f.; OLG Frankfurt AG 2007, 401 f. BGHZ 135, 244, 251 ff. = BGH NJW 1997, 1926, 1928. BGHZ 135, 244, 251 ff. = NJW 1997, 1927; Spindler in: Spindler/Stilz, AktG, 2007, § 116 Rn. 46 f., § 108 Rn. 71; Horn ZIP 1997, 1129, 1138. Unzutreffend Krieger in: FS für Bezzenberger, 2000, S. 211, 218 f.; dagegen zu Recht Dreher in: FS für Konzen, 2006, S. 85, 101. Stancke BB 2009, 912 ff.; Schmidt/Koyuncu BB 2009, 2551 ff.
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Strafrechtlich ist in einem solchen Fall in aller Regel der Untreuetatbestand erfüllt. Die Hauptversammlung kann ebenfalls nur unter Beachtung von § 93 Abs. 4 AktG einen Haftungsverzicht aussprechen. Ein den Vorstand entlastender Beschluss hat keine Verzichtswirkung in Bezug auf Ersatzansprüche der Gesellschaft gegenüber ihren Vorstandmitgliedern (§ 120 Abs. 2 S. 2 AktG).50 Bei der GmbH ohne obligatorische Aufsichtsratsverfassung (§§ 112 AktG, 25 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG, 2 DrittelbeteiligungsG kommt hier nicht zur Anwendung) steht die Entscheidung über Schadensersatzansprüche zwar den Gesellschaftern zu (§ 46 GmbHG); diese sind aber bei ihrer Entscheidung gleichfalls an das Unternehmensinteresse gebunden.. Ob bei 100%igen Tochtergesellschaften eine Lockerung dieses Maßstabs angemessen ist, mag hier dahinstehen.51 Nicht jede Entscheidung des Verwaltungsorgans, die eine Schädigung der Aktiengesellschaft zur Folge hat, beinhaltet allerdings nach Ansicht des BGH eine strafbare Pflichtverletzung;52 es müssen zunächst die Kriterien erfüllt sein. An dieser Stelle bleibt das Mannesmann- Vodafone Urteil allerdings blass. Auf eine besonders intensive Form der Schädigung soll es offenbar nicht ankommen, weil der BGH die Auffassung des Landgerichts zurückweist, dass nur eine gravierende Vermögensschädigung als Untreue beurteilt werden könne.53 Der 1. Strafsenat des BGH hat die Voraussetzungen, unter denen der Vorstand einer Kapitalgesellschaft den objektiven Tatbestand der Untreue erfüllt, dahin präzisiert, dass bei einer Würdigung des Pflichtverstoßes unter dem Gesichtspunkt des § 266 StGB die „fehlende Nähe zum Unternehmensgegenstand, die Unangemessenheit im Hinblick auf die Ertrags- und Vermögenslage, die fehlende innerbetriebliche Transparenz sowie das Vorliegen sachwidriger Motive, namentlich der Verfolgung persönlicher Präferenzen“ Bedeutung hätten.54 Freigebigkeit und Risikobereitschaft müssten sich im Rahmen dessen halten, was nach „Größenordnung und finanzieller Situation des Unternehmens“ vertretbar sei.55 Bei den Fällen, bei denen der Staat in der Finanzmarktkrise die Existenz von Unternehmen mit Milliardenbeträgen sichern musste, war das
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Kubis MünchKomm zum AktG, 2. Aufl. 2004, § 120 Rn. 28; Hüffer AktG, 8. Aufl. 2008, § 120 Rn. 13. BGHZ 65, 15, 19; vgl. dazu K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, 10. Aufl. 2008, § 47 Rn. 29 f. m. w. N. BGH ZIP 2006, 72, 73. BGH ZIP 2006, 72, 73, 75. Näher dazu Säcker/Boesche BB 2006, 897 ff. BGHSt 47, 187 ff. = NJW 2002, 1585 ff.; vgl. auch Mertens AG 2000, 157, 162 Fn. 28.
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jahrelange riskante Spiel des Vorstandes nach Größenordnung und finanzieller Situation unvereinbar mit seinen Sorgfaltspflichten. Die Zinssatz- und Währungskursspekulationen vieler Unternehmen – Andrea Lohse56 hat sie in ihrer Habilitationsschrift aufgeführt – ich erinnere beispielshalber an die VW-Devisenkursspekulationen, die Swapgeschäfte der Metallgesellschaft, die Zinssatzspekulationen der ABR und der Hypo Real Estate, der HSH- Landesbank und der SachsenLP waren m.E. nicht mehr von der Business Judgement Rule gedeckt. Es kann nicht Aufgabe der Wissenschaft sein, alles im Unklaren zu lassen, nach dem Motto „Nichts weiß man genau!“. Große Teile der Aktienrechtswissenschaft haben in der Vergangenheit das Angemessenheitskriterium des § 87 AktG als Grenze des Ermessens praktisch ignoriert, das engere Grenzen zieht als § 138 BGB.57 Ebenso sind die Sorgfaltspflichten der §§ 93 ff. AktG erst von der Rechtsprechung des BGH und zwar gegen den Widerstand der herrschenden Aktienrechtslehre ernst genommen worden. Die Aufgabe der Wissenschaft kann nur sein, die Erfahrungen der Finanzmarktkrise aufzuarbeiten und festzustellen, welche Prognosen und Spekulationsirrtümer, mit fremden Geld begangen, unvermeidbar oder zumindest vertretbar waren und welche Irrtümer auf schuldhafter Sorgfaltspflichtverletzung beruhten.
V.
Zusammenfassung
1.) Außerbörsliche Finanzierungsgeschäfte und Geschäfte zur Optimierung erwarteter Fremdwährungseingänge dürfen von den Vorständen von Industrieunternehmen nur zur Absicherung vor Zins- und Währungskursänderungsrisiken abgeschlossen werden, aber nicht, um einen eigenständigen Handel mit derivativen Produkten mit dem Ziel zusätzlicher Erträge zu betreiben. Mit einer treuhänderischen Vermögensbetreuung ist nur die Neutralisation der realen Geschäfte durch derivative Gegengeschäfte vereinbar, die den Überhang offener Positionen vermindern. Derivative Geschäfte müssen den Charakter risikomindernder Hilfsgeschäfte wahren und dürfen nicht zum eigenständigen zweiten Geschäftsfeld ausgebaut werden. 56
57
Lohse Unternehmerisches Ermessen- Zu den Aufgaben und Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat, 2005. Vgl. Säcker JZ 2006, 1151 ff.
Sorglosigkeit von Verwaltungsorganen und Untreuetatbestand
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2.) Auch Finanzdienstleistungsunternehmen sind rein spekulative Derivatgeschäfte, die ein ordentlicher, gewissenhafter Kaufmann mit eigenem Geld nicht tätigen würde, verboten. Wenn Gesetz und Satzung dem Vorstand z. B. nur das Betreiben einer Pfandbriefbank gemäß den Vorschriften des PfandBG gestattet, kann der Vorstand aus der Bank keine hochriskante Spekulationsgeschäfte betreibende „Spielbank“ machen. 3.) Der Vorstand einer Kapitalgesellschaft hat die Pflicht, das ihm treuhänderisch anvertraute Vermögen der Anteilseigner wie ein sorgfältiger und gewissenhafter Kaufmann (§ 93 Abs. 1 S. 1 AktG) zu betreuen. Der Abschluss spekulativer Finanztermingeschäfte, die Risiken aus dem satzungsgemäßen Geschäft vergrößern statt minimieren, ist ein Verstoß gegen die Vermögensbetreuungspflicht. Der Vorstand kann die ihm zum Schutz des ihm anvertrauten Vermögens gesetzten Grenzen, z. B. Grundstücke nur bis zur Höhe von 70% ihres Wertes zu beleihen, auch nicht dadurch umgehen, dass er über ausländische Tochtergesellschaften höherverzinste zweit- und drittklassige ausländische Grundpfandrechte erwirbt, die 90% und mehr des aktuellen Grundstückswertes besichern 4.) Soweit OTC-Finanztermingeschäfte zulässig sind, hat der Vorstand einer Aktiengesellschaft gemäß § 91 Abs. 2 AktG die Pflicht, ein funktionierendes Risikoüberwachungssystem zu installieren; er hat insbesondere ein Limitkontrollsystem zur Begrenzung des Zinsänderungsrisikos und des Barwertverlustes einzurichten, um langfristige Gefährdungen des Bestands des Unternehmens rechtzeitig zu überblicken. Ebenso ist eine separate Spartenrechnung für bilanzielle und derivative Geschäfte zu führen, die Umfang und Verlustrisiken des derivativen Geschäfts ersichtlich machen und nicht verschleiern. 5.) Nach der ARAG-Garmenbeck-Entscheidung des BGH ist der Aufsichtsrat zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen Vorstandsmitglieder verpflichtet, die ihre Pflichten gemäß § 93 Abs. 1 AktG verletzt haben. Unterlässt der Aufsichtsrat dies, weil er mangels eigener Sachkunde und Prüfung die Verletzung der Sorgfaltspflichten bei ausufernden Derivatgeschäften durch den Vorstand nicht durchschaut, so ist er selber haftungsrechtlich dafür zur Verantwortung zu ziehen. Ebenso darf er das Unternehmen nicht dadurch schädigen, dass er Vorstandsmitgliedern Bußgeldzahlungen wegen Gesetzesverstoßes erstattet. Die Zustimmung von Aktionären schließt die Haftung nicht aus. Der Aufsichtsrat ist Verwalter, nicht Herr des Vermögens.
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Untreue und Finanzmarktkrise* Untreue und Finanzmarktkrise Mark Deiters
Mark Deiters I. Wie bei jedem schadensträchtigen Ereignis folgt auch auf die Finanzmarktkrise die Suche nach den Verantwortlichen. Wo zivilrechtliche Kompensation schon im Ansatz nichts auszurichten vermag und öffentlich-rechtliche Gefahrenabwehr allenfalls in der Zukunft Abhilfe verspricht, ist der Ruf nach dem Strafrecht dabei ein zwangsläufiger gesellschaftlicher Reflex. Hinzu kommt: An den Folgen der Krise leiden vor allem Menschen, die nicht zu den Profiteuren des Systems zählten. Das lässt es gerecht erscheinen, die Jongleure des Finanzsystems für das von ihnen angerichtete Unheil strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.1 Dass eben diese Personen schon nach kurzer Zeit wieder zu den Profiteuren gehören, macht eine nüchterne Betrachtung nicht leichter. Es kann deshalb niemanden wundern, wenn nunmehr in zahlreichen Fällen im Zusammenhang mit Ereignissen der Finanzkrise wegen des Verdachts der Untreue (§ 266 StGB) ermittelt wird. Ob das zu begrüßen oder zu bedauern ist, wird unterschiedlich beurteilt. Auf der einen Seite wird befürchtet, der in seinen Konturen unklare Tatbestand der Untreue werde als Mittel der Krisenbewältigung missbraucht – zum Schaden derjenigen, die sich dem Vorwurf eines strafbaren Verhaltens ausgesetzt sehen.2 Für Andere sind die zahlreichen Ermittlungsverfahren die notwendige – und wohl auch wünschenswerte – Konsequenz der Finanzmarktkrise, die zwangsläufig die Frage nach sich ziehen müsse, ob die verantwortlichen Manager die Grenze zur Strafbarkeit überschritten haben.3 Ich möchte im Folgenden für eine nüchterne Bewertung werben. Das Strafrecht ist für die Aufarbeitung historischer Ereignisse ungeeignet. Ihm kann stets nur die individuelle Ahndung schwerster Normverletzungen obliegen. Gesellschaftlichen Vergeltungsbedürfnissen kann es nur in diesem Rahmen * 1
2 3
Der Beitrag dokumentiert den vom Verf. am 20. 11. 2009 gehaltenen Vortrag. Der Vortragsstil wurde beibehalten. Vgl. Der Spiegel Ausgabe 43/2009, S. 72; Süddeutsche Zeitung vom 2. 12. 2008 (abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/258/449981/text/). Lüderssen StV 2009, 486, 487. Bernsmann GA 2009, 296, 298; Strate HRRS 2009, 441 f.
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Rechnung tragen. Sich von dieser Einsicht auch praktisch leiten zu lassen, fällt freilich immer dann schwer, wenn das öffentliche Bedürfnis nach Gerechtigkeit übermächtig wird. Insoweit gibt es durchaus Parallelen zwischen der strafrechtlichen Aufarbeitung staatlichen Unrechts und der inzwischen in den Medien häufig so genannten „strafrechtlichen Aufarbeitung der Finanzmarktkrise“.4
II. Das vermag zunächst einmal nichts daran zu ändern, dass dort, wo ein Anfangsverdacht ungetreuen Managerverhaltens besteht, die Staatsanwaltschaften dazu verpflichtet sind, den Nebel zu durchleuchten. Das folgt aus dem Legalitätsprinzip, und keine – scheinbar noch so wohl begründeten – kriminalpolitischen Erwägungen rechtfertigen einen Verzicht auf strafrechtliche Intervention. Das dürfte de lege lata von niemandem bestritten werden. Aber auch de lege ferenda scheint mir ein Rückzug des Strafrechts aus diesem Bereich nicht nur illusorisch, sondern auch wenig vernünftig. Für ein Wirtschaftssystem, das eine treuhänderische Verwaltung fremden Vermögens im Interesse seiner eigenen Funktionsfähigkeit zulässt, ist es sinnvoll und nach meiner Einschätzung auch notwendig, einen Missbrauch der dem Treuhänder anvertrauten Macht in schwerwiegenden und folgenreichen Fällen als Straftat zu bewerten.5 Ein Rückzug des Strafrechts griffe weit über das kriminalpolitisch Wünschenswerte hinaus. Umgekehrt wäre es allerdings ebenso wenig sachgerecht, wollte man aus der Existenz eines durch Managementversagen verursachten Schadens stets den Anfangsverdacht einer Untreue ableiten. Gewiss ist die Neigung groß, von einem Schaden auf die untreuespezifische Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht und damit – soweit die subjektive Seite dieser Pflichtverletzung mitgedacht wird – auf das Handlungs- bzw. Motivationsunrecht6 der Untreue zu schließen. Der im Vermögensnachteil liegende Erfolgsunwert ist aber nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung dieses Vorwurfs. Er besteht im Kern – ungeachtet der Straflosigkeit des Versuchs – darin, eine von § 266 StGB in Bezug genommene Vermögensbetreuungspflicht verletzt 4 5 6
Der Spiegel Ausgabe 43/2009, S. 72. Vgl. LK-Schünemann § 266 Rn. 2. Zu den Begriffen Handlungs- und Motivationsunrecht siehe Frister Strafrecht Allgemeiner Teil, 8. Kapitel Rn. 13 f.
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zu haben.7 Auch insoweit ist es immer noch richtig, dass man nicht Schäden, sondern nur riskantes (und deshalb normwidriges) Verhalten verbieten kann.
III. Die Frage, wann objektiv ein Vermögensnachteil vorliegt, ist allerdings schon für die Feststellung des Motivationsunrechts nicht bedeutungslos. Aus ihr folgt die für den Vorsatz erforderliche Vorstellung des Täters. Zumindest auf den ersten Blick macht es – ganz ungeachtet der vom 2. Strafsenat in seiner Entscheidung zum Fall Kanther/Weyrauch8 für richtig gehaltenen Anreicherung des subjektiven Tatbestandes – einen erheblichen Unterschied, ob der Täter lediglich die Gefahr eines Vermögensverlustes oder diesen selbst für möglich gehalten haben muss. Nun wird, zumindest in der Rechtsprechung, nicht ernsthaft erwogen, für einen Nachteil i. S. d. § 266 Abs. 1 StGB tatsächlich eine endgültige Vermögensminderung zu fordern. Eine solche Sichtweise wäre denn auch kaum mit der Systematik des heutigen Gesetzes vereinbar, das ausdrücklich zwischen dem Vermögensverlust auf der einen und einem Vermögensschaden bzw. -nachteil auf der anderen Seite differenziert, wie sich aus der Formulierung des Tatbestandes der Untreue in § 266 Abs. 1 StGB einerseits und des besonders schweren Falles bei einem Vermögensverlust großen Ausmaßes nach § 266 Abs. 2 in Verbindung mit § 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB anderseits ergibt.9 In Streit steht bei Lichte betrachtet nur, ob die Gefahr eines endgültigen Vermögensnachteils richtigerweise als schadensgleiche Vermögensgefährdung, als Gefährdungsschaden oder schlicht als Vermögensschaden begrifflich zu erfassen ist. Dass der Terminus der schadensgleichen Vermögensgefährdung mit Blick auf das im Strafrecht herrschende Analogieverbot bedenklich ist (und auch zu Fehlentscheidungen verleitet), scheint mir dabei ebenso selbstverständlich wie der Umstand, dass der Erfolgsunwert der Untreue nach allen Auffassungen eine aktuelle und nicht erst zukünftige Minderung des Vermögens voraussetzt – die bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise allerdings schon in einem Risiko des endgültigen Verlustes bestehen kann. Insofern stimme ich dem 7 8
9
Vgl. nur Ignor/Sättele FS Hamm, S. 22; Brüning/Samson ZIP 2009, 1089, 1091. BGHSt 51, 100 ff.; zust.: Fischer StraFo 2008, 269, 277; Schünemann NStZ 2008, 430, 433; Kempf FS Hamm, S. 255, 264; Ignor/Sättele FS Hamm, S. 24; ablehnend: BGHSt 53, 199, 202; Nack StraFo 2008, 277, 278; Ransiek NJW 2007, 1727, 1729; Beulke/Witzigmann JR 2008, 426, 435. BGHSt 48, 354, 357 f.; Rotsch ZStW 117 (2005), 577, 596.
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1. Strafsenat, dem sich inzwischen der 3. Strafsenat10 angeschlossen hat, ausdrücklich zu: Bestimmte Risiken stellen bereits einen Vermögensschaden dar, zumindest der Begriff der „schadensgleichen Vermögensgefahr“ ist entbehrlich.11 Das ist freilich weder neu – man kann es schon in einer Abhandlung Goldschmidts zum Kreditbetrug aus dem Jahr 1928 nachlesen (übrigens auch mit Hinweis auf das Bilanzrecht)12 –, noch besteht hinsichtlich der (wohlgemerkt) objektiven Voraussetzungen eines Vermögensnachteils im Grundsätzlichen eine Differenz zu der Rechtsprechung des 2.13 und des 5. Strafsenats14, die am Begriff des Gefährdungsschadens festhalten. Das schließt unterschiedliche Maßstäbe bei der wirtschaftlichen Bewertung im Einzelfall nicht aus. Nur wird über diese in der Rechtsprechung kaum gestritten. Dessen ungeachtet dürfte sich aus der (durch den Streit um Begriffe fast schon verdeckten) Einmütigkeit im Grundsätzlichen für den notwendigen Vorsatzinhalt ergeben, dass der Täter im Fall der Vermögensgefährdung ernsthaft damit gerechnet haben muss, sein Verhalten bewirke eine nicht kompensierte Minderung des Vermögens. Nimmt man das ernst, dann wird es in vielen Fällen, in denen der Verdacht eines eigennützigen Handelns nicht begründet ist, auch bei unternehmerischen Fehlentscheidungen im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise kaum einen plausiblen Grund geben, vorsätzliches Verhalten zu vermuten. Die Entscheidung wird bei lebensnaher Sichtweise regelmäßig durch die Aussicht auf eine die Gefährdung kompensierende Gewinnaussicht motiviert sein. Etwas anderes liegt nur nahe, wenn aus der Eingehung des Risikos wirtschaftliche Vorteile für den Täter resultieren und deshalb ein eigennütziges Verhalten in Rede steht. Solche Fälle wird es auch im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise geben. Mit einer strafrechtlichen Aufarbeitung dieser Krise haben sie allerdings so wenig gemein wie die Ahndung des besonders bösen Fouls auf dem Fußballplatz mit dem Überdenken von Spielregeln, die sich wegen möglicher Verletzungsgefahren als verfehlt erwiesen haben. Es ist auch nicht möglich, eine untreuespezifische Pflichtwidrigkeit allein deshalb zu vermuten, weil die Akteure bei der Eingehung riskanter Geschäfte möglicherweise auch ihre eigenen Bonuszahlungen im Blick hatten. Wo Unternehmen Anreizsysteme schaffen, denen überzogene Gewinnerwartungen zugrunde liegen und die deshalb zu kurzfristigem Renditestreben statt nach10 11
12 13 14
BGH ZIP 2009, 1854 ff. BGHSt 53, 199, 202; BGH NStZ 2008, 457; LK-Tiedemann § 263 Rn. 168; Satzger Jura 2009, 518, 524. Goldschmidt ZStW 48 (1928), 149, 160. BGHSt 51, 100, 121. BGHSt 52, 182, 190.
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haltiger Kapitalerhaltung motivieren, müssen sie es akzeptieren, wenn die so gesteuerten Manager diesen Anreizen, die im Ergebnis das Unternehmensinteresse konturieren, folgen. Gewiss sollten diese Regeln, die sich volkswirtschaftlich als verheerend erwiesen haben, geändert werden.15 Das Systemversagen darf aber nicht denen strafrechtlich vorgeworfen werden, die sich systemkonform verhalten haben. Schon in objektiver Hinsicht kommt die Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht nur in solchen Fällen in Betracht, in denen nicht lediglich systemkonform eigennützig agiert wurde, sondern in klarem Widerspruch zu den auch durch die Vergütungssysteme konturierten Interessen des Unternehmens. Auf die Frage, ob zum Vorsatz – wie der 2. Strafsenat in seiner Entscheidung zum Fall Kanther/Weyrauch gemeint hat – im Fall einer möglichen Untreue durch die Eingehung von Risiken auch die Inkaufnahme der Realisierung dieser Gefahren gehört, kommt es dabei gar nicht an. Selbst wenn die Akteure mit der Realisierung von Gefahren ernsthaft gerechnet haben, durften sie entsprechend handeln. Überspitzt: Wer vom Vermögensinhaber dazu angehalten wird, riskant zu spielen, darf (ja er muss!) riskant spielen. Nur bei denjenigen, die die damals geltenden Regeln verletzt haben, kann sich die Frage stellen, ob der Vorwurf der Untreue zusätzlich die Inkaufnahme des endgültigen Vermögensnachteils voraussetzt. Das ist, wie ich meine, nicht der Fall. Soweit der 2. Strafsenat geltend macht, dieses zusätzliche Vorsatzerfordernis rechtfertige sich aus dem Versuchscharakter der Untreue im Fall der Eingehung einer Vermögensgefahr,16 ist dem zu widersprechen. Zwar mag man mit einigem Recht behaupten, dass die Untreue, soweit man als Bezugspunkt die – endgültige – Minderung des Vermögens in Blick nimmt, teilweise die Struktur eines Versuchs aufweist. Die sich bei dieser (von mir nicht geteilten) Betrachtungsweise ergebende Versuchsstruktur wäre dann aber im Gesetz angelegt, das insoweit – wie bei anderen konkreten Gefährdungsdelikten auch – teilweise den Versuch der Rechtsgutsverletzung, niemals aber den der Tatbestandsverwirklichung pönalisierte.
IV. Dass nach den Regeln des Finanzmarktes systemkonformes Verhalten, auch soweit es aus unserer heutigen Sicht unerträglich riskant gewesen sein mag, 15 16
Vgl. Lüderssen StV 2009, 486, 491. BGHSt 51, 100, 123.
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den Tatbestand der Untreue nicht verwirklichen kann, bedeutet nicht, dass die Eingehung jedweden Risikos erlaubt gewesen wäre. Wiederum überspitzt: Auch im Casino gibt es Regeln, und wer sie zum Nachteil des von ihm betreuten Vermögens verletzt, kann sich dadurch der Untreue schuldig machen. Soweit es um unternehmerische Fehlentscheidungen geht, wird dabei in aller Regel zunächst einmal der Vorwurf im Raum stehen, durch die Eingehung des Risikos die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters bzw. Geschäftsführers außer Acht gelassen zu haben. Dieser Maßstab ist bekanntlich nicht sonderlich präzise. Dessen ungeachtet wird man ab einer bestimmten Risikohöhe davon ausgehen müssen, dass die gebotene Sorgfalt außer Acht gelassen wurde. Ob es sinnvoll ist, hier das Kriterium der gravierenden Pflichtverletzung17 zu revitalisieren, scheint mir zweifelhaft.18 An diesen in seiner Bedeutung von Anfang an unklaren Begriff knüpfen sich inzwischen so viele Deutungsoptionen und, wie ich meine, auch Missverständnisse, dass er für eine weiterführende Konkretisierung diskreditiert sein dürfte. In jedem Fall müssen sich Gerichte und Staatsanwaltschaften aber davor hüten, bei ihrer Bewertung der Risiken Wissen zu berücksichtigen, dass erst durch die Finanzmarktkrise entstanden ist. Geschäfte, die heute als überaus riskant gelten, sind vor der Krise bekanntlich anders bewertet worden. Dass Staatsanwaltschaften und Gerichte notgedrungen ex post urteilen, ist wegen dieses Umstandes eine strukturelle Gefahr für die sachgerechte strafrechtliche Bewertung, die aus der Sicht des Täters, also ex ante, zu erfolgen hat.19 Auch wenn man eine besondere Sensibilität der Justiz für dieses Fehlentscheidungsrisiko unterstellt, bleibt der Maßstab der Pflichtwidrigkeit im Objektiven unpräzise. Hinreichende Bestimmtheit lässt sich allenfalls auf der subjektiven Tatseite herstellen. So selbstverständlich sich dabei aus dem Gesetz ergibt, dass Vorsatz die Kenntnis des tatbestandsmäßigen Sachverhaltes voraussetzt, so wenig geklärt ist die Frage, was dies im Kontext des Tatbestandes der Untreue in Bezug auf die Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht bedeutet. Bekanntlich steht im Streit, ob der Täter lediglich die Umstände zu kennen braucht, aus denen sich nach Einschätzung der Gerichte 17
18 19
BGHSt 47, 148, 150; 47, 187, 197; ferner nur MünchKommStGB-Dierlamm § 266 Rn. 154 ff. Zum berechtigten Kern dieser Voraussetzung siehe Deiters ZIS 2006, 152, 158 f. Das gilt nach vorherrschender Sichtweise schon für die Prüfung der objektiven Pflichtwidrigkeit: Jakobs Strafrecht Allgemeiner Teil, 7. Abschn. Rn. 47; Roxin Strafrecht Allgemeiner Teil Band I (4. Aufl.), § 11 Rn. 40; anders Frister Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. (2009), 10. Kapitel Rn. 34.
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der Pflichtverstoß ergibt, oder ob er diesen erkannt haben muss.20 Die Rechtsprechung weicht dem Problem bislang aus. Zuletzt hat der 3. Strafsenat im Fall Mannesmann eine differenzierende Lösung erwogen, ohne die sich dann aufdrängende Frage nach dem Differenzierungskriterium auch nur zu thematisieren.21 In der Literatur scheint sich, zumindest für unternehmerische Risikoentscheidungen, die Auffassung durchzusetzen, dass der Täter mit dem Bewusstsein gehandelt haben muss, seine Vermögensfürsorgepflicht zu verletzen.22 Prozessual gewendet folgte daraus: Schon für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens würde es nicht reichen, wenn der Verdacht der nicht mehr systemkonformen Eingehung eines als außergewöhnlich einzustufenden Risikos bestünde; es müssten ferner Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sich der Handelnde der damit verbundenen Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens bewusst war. Auch hier sind belastbare Anhaltspunkte für vorsätzliches Handeln regelmäßig nur dann zu bejahen, wenn der Verdacht eigennützigen Verhaltens gegeben ist oder ausnahmsweise andere Umstände vorliegen, die erklären können, warum der Täter – auch ohne eigenen Vorteil – sehenden Auges gegen seine Pflichten verstoßen haben soll.
V. Der kursorische Überblick zeigt, dass der Verdacht der Untreue im Zusammenhang mit der Finanzmarktkrise seltener begründet sein dürfte, als die gegenwärtige öffentliche Debatte vermuten lässt. Dabei erweist sich insbesondere das Erfordernis vorsätzlichen Handelns als Nadelöhr schon bei der Prüfung des Anfangsverdachts – ein Nadelöhr, dem in der Praxis freilich häufig die ihm zukommende Bedeutung versagt bleiben wird. Staatsanwaltschaften und Gerichte neigen, menschlich verständlich, dazu, ihre eigene Einschätzung der Sach- und Rechtslage zugleich für die des Angeklagten zu halten. Die Gefahr ist umso größer, je dringlicher der Ruf nach Vergeltung ist. Angesichts der Folgen, die die Finanzmarktkrise ausgelöst hat, und der of20 21
22
LK-Schünemann § 266 Rn. 153; Fischer § 266 Rn. 77a; SSW-StGB-Saliger § 266 Rn. 105. BGH 3 StR 470/04 Rn. 83; insoweit nicht in der amtlichen Sammlung abgedruckt (BGHSt 50, 331 ff.). Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf § 22 Rn. 69; Lüderssen FS Richter II, 373, 378; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Allgemeiner Teil, Rn. 227; nun auch: Rönnau ZStW 119 (2007), 887, 905 m. w. N.; a. A. etwa NK-Kindhäuser § 266 Rn. 122.
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fenkundig ungerechten Verteilung der damit verbundenen gesellschaftlichen Lasten, wäre es nicht wenig, wenn sich die Justiz davon unbeeindruckt zeigte und in jedem Einzelfall nüchtern prüfte, ob tatsächlich der Verdacht einer Untreue vorliegt. Das gilt – ich kann dies nur andeuten – auch im Hinblick auf das Erfordernis des Zurechnungszusammenhanges zwischen Pflichtwidrigkeit und Vermögensnachteil.23 In der Rechtsprechung lässt sich hier ein um das andere Mal – jüngst wieder in der Entscheidung des 3. Strafsenats zum Fall Sengera24 – beobachten, dass die Pflichtwidrigkeit in der Sache nicht mit der Unvertretbarkeit der Eingehung des Risikos, sondern mit dem Versäumnis der sorgfältigen Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen begründet wird. Bezogen auf ein entsprechendes Fehlverhalten bereitet die Feststellung des Vorsatzes dann keine besonderen Schwierigkeiten – sofern in dieser Hinsicht eine Pflichtverletzung gegeben ist, liegt sie in der Regel auf der Hand. Eine strafbare Untreue wird daraus vor dem Hintergrund der Tatbestandsstruktur des § 266 StGB aber erst dann, wenn feststeht, dass der Vermögensnachteil im Ergebnis auf diesem Pflichtverstoß beruht. Dafür genügt es nicht, wenn nur der Entscheidungsprozess, es muss auch die Entscheidung selbst (zumindest objektiv) pflichtwidrig gewesen sein. Anderenfalls lässt sich kaum ausschließen, dass die Verantwortlichen das Risiko auch nach sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen eingegangen wären. Der schwierigen wirtschaftlichen Bewertung des jeweiligen Risikos dürfen Staatsanwaltschaften und Gerichte infolgedessen nicht ausweichen – auch wenn Juristen aus verständlichen Gründen stets eine große Neigung dazu verspüren werden.
Literatur Arzt/Weber/Heinrich/Hilgendorf (Hrsg.): Strafrecht Besonderer Teil, 2. Aufl. (2009). Bernsmann: Untreue und Korruption – der BGH auf Abwegen, GA 2009, 296. Beulke/Witzigmann: Anmerkung zu BGH 1 StR 488/07, JR 2008, 430. Brüning/Samson: Bankenkrise und strafrechtliche Haftung wegen Untreue gem. § 266 StGB, ZIP 2009, 1089. Deiters: Organuntreue durch Spenden und prospektiv kompensationslose Anerkennung, ZIS 2006, 152. Dierlamm: Münchener Kommentar zum StGB, Band 4 (2006). Fischer (Hrsg.): Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 56. Aufl. (2009). 23 24
Vgl. nur SSW-StGB-Saliger § 266 Rn. 81 m. w. N. BGH ZIP 2009, 1854 ff.
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Frister: Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. (2009). Goldschmidt: Beiträge zur Lehre vom Kreditbetrug, ZStW 48 (1928), 149. Ignor/Sättele: Pflichtwidrigkeit und Vorsatz bei der Untreue (§ 266) am Beispiel der sog. Kredituntreue – Zugleich ein Beitrag zum Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, Festschrift Hamm (2008), S. 211 ff. Jakobs: Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (1991). Kempf: Bestechende Untreue? Festschrift Hamm (2008), S. 255 ff. Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.): Nomos Kommentar Strafgesetzbuch, Band 2, 2. Aufl. (2005). Lüderssen: Bemerkungen zum Irrtum über die Pflicht zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen im Sinne des § 266 StGB, Festschrift Richter II (2006), S. 373 ff. ders.: Finanzmarktkrise, Risikomanagement und Strafrecht, StV 2009, 486. Nack: Bedingter Vorsatz beim Gefährdungsschaden – ein „doppelter Konjunktiv“? StraFo 2008, 277. Ransiek: „Verstecktes“ Parteivermögen und Untreue, NJW 2007, 1727. Rönnau: Untreue als Wirtschaftsdelikt, ZStW 119 (2007), 887. Rotsch: Der Vermögensverlust großen Ausmaßes bei Betrug und Untreue, ZStW 117 (2005), 577. Roxin: Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, 4. Aufl. (2006). Saliger: Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.) Strafgesetzbuch Kommentar (2009). Satzger: Probleme des Schadens beim Betrug, Jura 2009, 518. Schünemann: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 7. Band, 11. Aufl. (Stand:1998). ders.: Zur Quadratur des Kreises in der Dogmatik des Gefährdungsschadens, NStZ 2008, 430. Strate: Der Preis der Freiheit – Kommentar zur strafrechtlichen (Nicht-) Aufarbeitung der Finanzmarktkrise im Vergleich zum sog. Sengera-Urteil des BGH, HRRS 2009, 441. Tiedemann: Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch, 6. Band, 11. Aufl. (Stand: 1999). ders.: Wirtschaftsstrafrecht, Einführung und Allgemeiner Teil, 2. Aufl. (2007).
Untreuetatbestand oder Surrogate im ausländischen Strafrecht
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Der Untreuetatbestand oder seine Surrogate im ausländischen Strafrecht Untreuetatbestand oder Surrogate im ausländischen Strafrecht Luigi Foffani Luigi Foffani
1. Die Finanzkrise ist auch im Ausland von einer ganzen Reihe von Wirtschaftsskandalen begleitet worden. Insbesondere in Italien läuft zur Zeit das größte Wirtschaftsstrafverfahren unserer Geschichte gegen die ehemalige Führung des Lebensmittelkonzerns Parmalat, mit mehreren Tausenden von betroffenen Nebenklägern.1 Das Problem der strafrechtlichen Behandlung von ungetreuen und unseriösen Wirtschaftsverhalten ist deswegen auch bei uns von brisanter Aktualität, auch wenn die Initiativen des italienischen Gesetzgebers in den letzten Jahren in diesem Bereich nicht besonders glücklich
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Im Fall Parmalat laufen gleichzeitig zwei Verzweigungen eines sehr medienattraktiven Strafverfahrens, die insgesamt über 40.000 private Nebenklagen – die meisten von ihnen sind Inhaber von Schuldverschreibungen – zählen. Man hat kalkuliert, dass die Benachteiligten über 100.000 oder sogar 150.000 – wenn man auch die Aktionäre der verschiedenen Gesellschaften des Konzerns Parmalat dazu nimmt – seien, und dass der Gesamtschaden des Cracks Parmalat rund 14 Milliarden Euro betrage. Vor dem Landesgericht Parma geht es um klassische Konkursdelikte (Bankrott), in Mailand ist eine Verurteilung in der ersten Instanz gegen Calisto Tanzi – den ehemaligen Vorsitzenden und Hauptaktionär des Konzerns Parmalat – zu 10 Jahren Freiheitsstrafe wegen der italienischen früheren Fassung der Marktmanipulation („Aggiotaggio finanziario“: Art. 2637 it. BGB) sowie wegen Verhinderung der Marktaufsicht (Art. 2638 it. BGB) und Teilnahme an Fälschungen der Wirtschaftsprüfer (Art. 2624 it. BGB) schon vorgenommen. Verschont von der Verurteilung sind bis jetzt die zahlreichen wichtigen Banken geblieben, die wegen der Teilnahme an illegalen Machenschaften des Managements Parmalat angeklagt wurden. Obwohl der Sachverhalt des Falls Parmalat nicht nur eine langjährige Reihe von Bilanzfälschungen und Marktmanipulationen, sondern auch gravierende ungetreue Verhalten der Führung des Konzerns zeigt (vor allem zugunsten der Tochtergesellschaft Parmatour und mit Benachteiligung anderer Konzernmitglieder), wurde in keinem Fall wegen Untreue eine Anklage erhoben, weil die gesamten Taten vor dem Inkrafttreten des neuen Untreuetatbestandes (2002) begangen wurden. Über den Fall Parmalat vgl. Capolino/ Massaro/Panerai Parmalat. La grande truffa, 2004; Cingolo Lo schema Tanzi, 2004; Dalcò/Galdabini Parmalat. Il teatro dell’assurdo, 2004; Franzini Il crac Parmalat, 2004; Di Stasio Il caso Parmalat, 2004; Vella (Hrsg.), Parmalat: tre anni dopo, www.lavoce. info, 19. 10. 2006 (mit Beiträgen von Onado, Vella, Foffani, Mucciarelli, Stanghellini, Barucci/Messori).
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und konsequent waren (man denke nur an die skandalöse Bagatellisierung der Bilanzfälschung vor wenigen Jahren2). Dieser Beitrag wird sich aber spezifisch in einem rechtsvergleichenden Überblick auf die Untreueproblematik konzentrieren, und zwar mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsordnungen des romanischen Rechtskreises (Frankreich, Spanien, Italien). Es geht um einen Rechtskreis, in dem der Untreuetatbestand „nach deutscher Art“ – nach einer allgemein verbreiteten Auffassung – traditionell keine Akzeptanz gefunden haben soll.3 Deutlich wichtiger und stärker ist in diesem Bereich die kriminalpolitisch und gesetzgebungstechnisch alternative Tendenz, Untreuehandlungen als Sonderdelikte für beschränkte und hoch qualifizierte Täterkreise zu typisieren, vor allem innerhalb des Gesellschaftsrechts (gesellschaftsrechtliche Untreue, oder Organuntreue). Dadurch verzichtet der Gesetzgeber auf die volle Breite (und gleichzeitig auf die immer wieder kritisierte Konturlosigkeit) des klassischen deutschen Untreuetatbestandes – manchmal auf Kosten der Ausdehnung von Nachbartatbeständen (wie vor allem die Unterschlagung: „abus de confiance“, „apropiación indebida“, „appropriazione indebita“) durch die Rechtsprechung4 – und konzentriert sich auf besonders empfindliche, kriminalpolitisch bedeu2
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Es ging um die Neufassung der Art. 2621 und 2622 it. BGB (Codice civile) durch die gesamte Reform des Handelsgesellschaftsstrafrechts (Gesetzgeberisches Dekret v. 11. 4. 2002, Nr. 61), die die jahrelang wichtige Rolle (vor allem in der Zeit der sog. „Tangentopoli“ und der „sauberen Hände“-Strafprozesse) des Straftatbestandes der Bilanzfälschung („wahrheitswidrige Mitteilungen über die Gesellschaft“) praktisch auf null gestellt hat. Für weitere Hinweise über diese Reform – mit besonderer Berücksichtigung der Frage der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der italienischen Neuregelung der Bilanzfälschung vor dem EuGH – vgl. Foffani FS Maiwald, 2010, S. 153 ff. Vgl. für alle Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität BT, 1976, S. 134 f. Fn. 3; ders. FS Würtenberger, 1977, S. 252. Die Ausnahmen sind aber heute weder wenig noch unbedeutend, wie z. B. Argentinien (Art. 173 Nr. 7 StGB), San Marino (Art. 198 StGB) und vor allem Portugal, das im neuen Art. 224 StGB 1982 (neu gefasst im Jahre 1994) einen echten allgemeinen Untreuetatbestand eingeführt hat. Nach Art. 224 port. StGB wird derjenige bestraft, der „kraft Gesetzes, Rechtsgeschäfts oder behördlichen Auftrags damit betraut ist, über fremde Vermögensinteressen zu verfügen, sie wahrzunehmen oder zu beaufsichtigen, und diesen Interessen absichtlich durch eine schwerwiegende Pflichtverletzung einen erheblichen Vermögensnachteil zufügt“. Außerdem ist auch ein Sondertatbestand für öffentliche Unternehmen und Genossenschaften vorgesehen: „Schädliche Geschäftsführung im Bereich der öffentlichen Wirtschaft oder Genossenschaften“ (Art. 235 port. StGB). Die breite und expansive Auslegung des Tatbestandes der Unterschlagung ist insbes. in der Judikatur Spaniens und Italiens ganz klar zu berücksichtigen, d. h. gerade in den Rechtsordnungen, die erst seit kurzem einen Untreuetatbestand im Bereich des Gesellschaftsrechts eingeführt haben.
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tende und strafschutzbedürftige Rechtsgebiete. Da es um das Hauptgebiet jenes modernen Untreuetatbestandes geht, wird es auch in der deutschen Strafrechtslehre allgemein anerkannt: „So wie der Untreuetatbestand überhaupt zum typischen Wirtschaftsverbrechen unserer Zeit geworden ist, ist die Organuntreue seine heute exemplarische Ausprägung“.5 2. Der älteste und immer noch wichtigste normative Ausdruck dieses Alternativwegs zur Bekämpfung der Untreuehandlungen im Wirtschaftsleben ist der (inzwischen klassisch gewordene) französische Tatbestand des „abus des biens, du crédit, des pouvoirs et des voix“, der schon im Jahre 19356 – infolge einer Reihe von gravierenden Wirtschaftsskandalen7 – im Rahmen der zahlreichen Strafvorschriften des Aktien- und GmbH-Gesetzes (und seit dem Jahre 2000 innerhalb des neuen Code de commerce8) eingeführt worden ist. Durch diese Art gesellschaftsrechtlicher Untreue werden GmbH-Geschäftsführer bzw. Vorsitzende, Vorstandsmitglieder oder Generaldirektoren einer Aktiengesellschaft bestraft,9 wenn sie „im bösen Glauben“ („de mauvaise foi“) das Vermögen oder den Kredit der Gesellschaft, bzw. die Befugnisse oder die Stimmen, über die dank ihrer Rolle innerhalb der Gesellschaft verfügen, „in dem Wissen, dass dies dem Interesse der Gesellschaft entgegensteht, zu persönlichen Zwecken oder zur Bevorzugung einer anderen Gesellschaft oder eines anderen Unternehmens, an denen sie direkt oder indirekt interessiert sind, verwenden“.10 Dieser gesellschaftsrechtliche Missbrauchstatbestand hat in der französischen Geschichte des „droit pénal des affaires“ (Wirtschaftsstrafrecht) eine ganz überwiegende Rolle gespielt und ist schon seit langem als echter „Schlußstein des französischen Handelsgesellschaftsstrafrechts“ anerkannt.11 Objekt der 5 6
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So z. B. Schünemann Organuntreue. Das Mannesmann-Verfahren als Exempel? 2004, S. 7. Durch das Gesetzesdekret v. 8. 8. 1935, das den ursprünglichen Kern des französischen Handelsgesellschaftsstrafrechts von 1867 novelliert hat; diese Regulierung ist später vom Gesetz Nr. 66–537 v. 24. 7. 1966 (betreffend GmbH und AktG) übernommen und schließlich im neugefassten Handelsgesetzbuch (Code de commerce) eingegliedert worden. Insbes. der affaire Stavisky, der das Ende der III. Republik gekennzeichnet hat: Joly/Joly-Baumgartner L’abus de biens sociaux, 2002, S. 1; über die Entstehungsgeschichte des Tatbestandes ausführlich Médina Abus de biens sociaux, 2001, S. 3 f. C. com. Art. L. 241–3, 4 e 5 (für die GmbH) und Art. L. 242–6, 3 e 4 (für die AktG). Die Strafe ist 5 Jahre Freiheitsstrafe und 375.000 Euro Geldstrafe. Die Übersetzung in Anführungszeichen ist von Anders ZStW 114 (2002), S. 470. Delmas-Marty in: Pedrazzi (Hrsg.), Comportamenti economici e legislazione penale, 1978, S. 50; Véron Droit pénal des affaires, 4. Aufl., 2001, S. 165: innerhalb des Handelsgesellschaftsstrafrechts ist es das Delikt, das die intensivste richterliche Anwendung gefunden hat. Nach Anders (Fn. 10) S. 471, „die praktische Bedeutung des abus de biens soci-
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rechtswidrigen Handlungen der Gesellschaftsorgane können nicht nur die „Güter“ und der „Kredit“ der Gesellschaft sein, sondern auch die „Befugnisse“ und die „Stimmen“: damit sollte der französische Gesetzgeber neben einem echten Vermögensmissbrauch auch einen Funktionsmissbrauch typisiert haben. Wesen des Missbrauchs ist die Verwendung des Vermögens bzw. der Funktionen „gegen das Interesse der Gesellschaft“, und in dieser genauen Begriffsbestimmung liegt ein besonders problematischer Schwerpunkt der Praxis: nach der Cour de Cassation soll eine Interessenwidrigkeit gegenüber der Gesellschaft bestehen, wenn die Grenze des „normalen Risikos“ überholt worden sind.12 Auf der subjektiven Seite des Tatbestandes („élément moral“) wird nicht nur ein allgemeiner Vorsatz verlangt („mauvaise foi“), sondern auch das Wissen der gesellschaftsinteressenwidrigen Verwendung („un usage qu’ils savaient contraire à l’intérêt de la société“) und die Absicht des Täters, sich selbst oder andere Gesellschaften bzw. Unternehmen (an denen der Täter interessiert ist) zu bevorzugen („à des fins personelles ou pour favoriser une autre société ou entreprise dans la quelle ils étaient intéressés directement ou indirectement“). Im Vergleich zum deutschen Missbrauchstatbestand des § 266 StGB scheint der französische abus des biens sociaux einerseits auf einem objektiven Schadenseintritt zu verzichten und andererseits eine Bereicherung der subjektiven Tatseite zu verfolgen. Wenn man aber einerseits die praktischen Ergebnisse der (in der deutschen Rechtsprechung herrschenden) Lehre der „schadensgleichen Vermögensgefährdung“13 in Betracht zieht, sowie ande-
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aux darf nicht überschätzt werden“; aber die Anwendungszahlen des Annuaire statistique de la Justice (in: Jeandidier Droit pénal des affaires, 4. Aufl., 2000, S. 332 Fn. 3) sind alles anders als unbedeutend: 1990 erfolgten in Frankreich 198 Verurteilungen, 275 im Jahre 1991, 268 im Jahre 1992, 351 im Jahre 1993, 310 im Jahre 1994, 355 im Jahre 1995 und 388 im Jahre 1996. Nach der Ausdehnung des Unterschlagungstatbestandes (abus de confiance) mit dem Code pénal 1994 hat sich aber die Frage gestellt, ob der abus des biens sociaux überflüssig geworden sei: vgl. dazu Médina (Fn. 7) 10. Cass. crim. 16. 1. 1989; Cass. crim. 10. 5. 1955 („L’acte a exposé l’actif social à un risque de perte auquel il n’aurait pas dû être exposé“): vgl. dazu Delmas-Marty/Giudicelli-Delage (Hrsg.), Droit pénal des affaires, 4. Aufl., 2000, S. 349 f. m. w. N. auf die Rspr. Vgl. nur Achenbach/Ransiek/Seier HWSt, V/2 Rn 177 ff.; Kühl StGB § 266 Rn. 17 a; LK/Schünemann § 266 Rn. 146; MünchKommStGB/Dierlamm § 266 Rn. 186 ff.; NKStGB/Kindhäuser § 266 Rn. 110; S/S-Lenckner/Perron, § 266 Rn. 45; Müller-Gugenberger/Bieneck/Schmid Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl., 2006, § 31 Rn. 178; Tröndle/ Fischer StGB § 266 Rn. 61 ff., jeweils m. w. N. Für die Kritik gegen diese verfassungsrechtlich bedenkliche Umgestaltung des Verletzungsdelikts des § 266 StGB in ein konkretes (und manchmal sogar abstraktes) Gefährdungsdelikt vgl. insb. Günther FS Weber, 2004, S. 313, 317; Saliger ZStW 112 (2000), S. 565 ff.; ders. HRRS 2006, 10, 12; Perron, GA 2009, S. 225.
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rerseits die Tendenz der französischen Rechtsprechung zu einer wesentlichen Beweiserleichterung des élément moral des Tatbestandes des abus des biens sociaux,14 kann man wahrscheinlich die Unterscheidung der entsprechenden gesetzlichen Formulierungen relativieren. Auch die konkreten Fallkonstellationen, die die französischen Rechtsprechung und Lehre der letzten Jahre besonders beschäftigt haben, zeigen einen interessanten Parallelismus mit der Entwicklung der deutschen Rechtsprechung in Bezug auf den § 266 StGB: die Schwerpunkte dieser gerichtlichen Anwendung betreffen vor allem den abus des biens sociaux zum Zweck der Bestechung (Bestechungsuntreue) und die Grenze der rechtswidrigen Handlung bei den groupement des sociétés (Konzernuntreue). Die Anwendung des abus des biens sociaux als strafrechtliches Instrument zur Bekämpfung der Korruption ist in den letzten Jahren sehr häufig geworden,15 sowohl um die Beweisschwierigkeiten der Unrechtsvereinbarung zu vermeiden, als auch um die Grenze der Verjährung zu überwinden.16 Abus des biens sociaux (gegenüber dem Bestecher) und Hehlerei (gegenüber dem Bestochenen) sind damit in der Praxis das rechtliche Instrument geworden, um Korruptionsfälle zu bestrafen, die sonst (d. h. nach der strafrechtlichen Regelung der Bestechungsdelikte) straflos bleiben würden. Am Anfang der 90er Jahre verfolgte die Rechtsprechung in diesem Bereich eine sehr strenge Linie und vertrat die Auffassung, dass „die Verwendung des Gesellschaftsvermögens zu einem rechtswidrigen Zweck in jedem Fall missbräuchlich ist“,17 damit ist die Verfolgung eines rechtswidrigen Ziels (wie in 14
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Vgl. dazu Jeandidier Droit pénal des affaires, 4. Aufl., 2001, S. 339 f.; Larguier/Conte Droit pénal des affaires, 10. Aufl., 2001, S. 339; Véron Droit pénal des affaires, 4. Aufl., 2001, S. 181 („Cette jurisprudence [. . .] tend à faire du délit d’abus de biens sociaux un véritable délit matériel“). Deswegen ist diese Anwendung besonders „médiatisée et même, aujourd’hui, politisée“: Delmas-Marty/Giudicelli-Delage (Fn. 12) S. 341. Während die dreijährige Verfolgungsverjährung im Normalfall (und die Korruption gehört dazu) bei der Beendigung der Tat beginnt, gilt für den abus des biens sociaux sowie für den abus de confiance und andere Delikte mit einer verdeckten bzw. verheimlichten Tathandlung – gem. Art. 8 fr. StPO und nach einer konstanten Rspr. – eine Ausnahmeregelung: die Verjährung beginnt erst mit der Aufdeckung der Tat: so z. B. Cass. crim. 13. 2. 1989, Rev. soc. 1989, S. 692 Anm. Bouloc. „L’usage des biens d’une société est nécessairement abusive lorsq’il est fait dans une but illicite“: Cass. crim. 22. 4. 1992 (Fall „Carpaye”), Rev. soc. 1993, S. 124 Anm. Bouloc; Cass. crim. 11. 1. 1996 (Fall „Rosemain”), Petites Affiches 3. 4. 1996, S. 23 Anm. DucoulouxFavard; Revue de sociétés 1996, S. 590 Anm. Bouloc; Cass. crim. 20. 6. 1996, Petites Affiches 24. 7. 1996, S. 31 Anm. Ducouloux-Favard; Dalloz 1996, S. 589 Anm. Bouloc.
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dem konkreten Fall eine Bestechung) in sich selbst interessenwidrig für die betroffene Gesellschaft und als abus des biens sociaux strafbar. In einer späteren Entscheidung hat aber die Cour de cassation eine solche Gesellschaftsinteressenwidrigkeit ausgeschlossen, wenn der rechtswidrige Zweck nach einer (ex ante) rein wirtschaftlichen Betrachtung vorteilhaft für das Gesellschaftsvermögen sei.18 Nach wenigen Monaten hat aber dieselbe Cassation wieder eine strengere Linie durchgesetzt, insoweit bei dieser Kosten-Nutzen-Abwägung nicht der unmittelbare und schwankende Vorteil der Bestechung, sondern das daraus folgende Sanktionsrisiko für die Gesellschaft (die nach französischem Recht selber strafbar ist) entscheidend sein soll.19 Die Ähnlichkeiten mit der Entwicklung der deutschen Rechtsprechung bezüglich des § 266 StGB in den letzten 30 Jahren – seit der älteren Rechtsprechung über den Fußballbundesligaskandal der 70er Jahre, wonach die Bestechung unter dem Gesichtspunkt des Untreuetatbestandes als ein „normales“ Risikogeschäft einzuschätzen war,20 bis zur neueren und strengeren Rechtsprechung über die Parteispendenaffäre, wonach sogar ein (rechtswidriges) Handeln zugunsten des Betreuten und ohne persönliches Interesse des Treuepflichtigen (verdeckte Annahme von Spenden) wegen des daraus folgenden Sanktionsrisikos für den Betreuten als Untreue zu bestrafen sein soll21 – sind ziemlich deutlich. 18
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Cass. crim. 6. 2. 1997 (Fall „Noir-Botton“), Rev. soc. 1997, S. 146 Anm. Bouloc; Petites Affiches 14. 2. 1997, S. 12 Anm. Ducouloux-Favard. „Quel que soit l’avantage à court terme qu’elle peut procurer, l’utilisation des fonds sociaux ayant pour seul objet de commette un délit tel que la corruption est contraire à l’intérêt social en ce qu’elle expose la personne morale au risqué anormal de sanctions pénales ou fiscals contre ellemême et ses dirigeants et porte atteinte à son credit et à sa réputation“: Cass. crim. 27. 10. 1997 (Fall „Carignon“), Revue de sociétés 1997, S. 869 Anm. Bouloc; Petites Affiches 7. 11. 1997, S. 6 Anm. Ducouloux-Favard; JCP 1998, II, 10017 Anm. Pralus; Bull. Joly 1998, II, Anm. Barbiéri. BGH 27. 2. 1975, NJW 1975, S. 1234; LG Bielefeld 9. 2. 1977, JZ 1977, S. 692; zust. Schreiber/Beulke JuS 1977, 656; Trifftterer NJW 1975, S. 612; Weise Finanzielle Beeinflussungen von sportlichen Wettkämpfen durch Vereinsfunktionäre, Diss. Gießen 1982; krit. Bringewat JZ 1977, S. 667; LK/Hübner, 10. Aufl., § 266 Rn. 86. So LG Bonn 28. 2. 2001 im Fall Kohl und insb. LG Wiesbaden 18. 4. 2005 und BGH 18. 10. 2006 im Fall der Hessen-CDU; für das Schrifttum s. Beulke/Fahl NStZ 2001, S. 426; Dahs NJW 2002, S. 272; Faust Zur möglichen Untreuestrafbarkeit im Zusammenhang mit Parteispenden, 2006; Foffani/Nieto Martín Revista penal 17 (2006), S. 110 (139 f.); Hamm NJW 2001, S. 1694; ders. NJW 2005, S. 1993; Hetzer RuP 2000, S. 100; Jäger FS Otto, 2007, S. 593; Krüger NJW 2002, 1178; Lesch ZRP 2002, S. 159; W Maier NJW 2000, S. 1006; Matt NJW 2005, S. 389; Otto RuP 2000, S. 109; Saliger Parteiengesetz und Strafrecht, 2005; Saliger/Sinner NJW 2005, S. 1073 (1077); Schwind
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Noch wichtiger und interessanter in rechtsvergleichender Perspektive ist die Erfahrung der französischen Rechtsprechung im Bereich der Konzernuntreue, d. h. in Bezug auf Anwendbarkeit und Grenze des abus des biens sociaux im Rahmen einer Konzerngesellschaft. Diese (in der Praxis häufige) Strafrechtslage hat in Frankreich eine schon lange und gut entwickelte Tradition, trotz der mangelnden Konzernregelung im Gesellschaftsrecht (oder vielleicht gerade deswegen). Im Laufe der 70er und 80er Jahre hat die Rechtsprechung durch die Fälle Agache-Willot22 und Rozenblum23 die Grundkriterien für die Ausschließung des abus des biens sociaux innerhalb eines Konzerns folgendermaßen aufgestellt: a) zuerst wird die „Existenz eines Konzerns mit gemeinsamer Konzernstrategie, d. h. das Vorliegen einer strukturellen Verfestigung der Gruppe“ vorausgesetzt; b) ferner „ein gemeinsames wirtschaftliches, soziales oder finanzielles Interesse der Gesellschaften im Konzern, was an einer für den gesamten Konzern entwickelten Politik zu prüfen ist, d. h. das Bestehen einer kohärenten Gruppenpolitik“; c) schließlich darf die Vermögensverwendung „weder ohne Ausgleich bleiben noch die finanziellen Möglichkeiten derjenigen Gesellschaft übersteigen, welche die Kosten trägt, d. h. das Bestehen eines gruppeninternen Gleichgewichts zwischen Vorteilen und Lasten“ wird verlangt, um die Strafbarkeit wegen abus des biens sociaux endgültig auszuschließen. Damit die Strafbarkeit nach diesen Voraussetzungen entfällt, muss jede finanzielle Unterstützung zwischen Gesellschaften derselben Gruppe „durch ein gemeinsames wirtschaftliches, soziales oder finanzielles Interesse, beurteilt mit Blick auf eine abgestimmte Politik für die Gesamtheit der Gruppe, begründet“ werden, und diese finanzielle Belastung darf „weder ohne Gegenleistung bleiben oder das Gleichgewicht zwischen den gegenseitigen Verpflichtungen der verschiedenen verbundenen Gesellschaften stören,
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NStZ 2001, S. 349; Velten NJW 2000, S. 2852; Volhard FS Lüderssen, 2002, S. 673; Wolf KritJ 2000, S. 531, sowie die weiteren (kritischen) Stellungnahmen von Achenbach/Ransiek/Seier HWStrR, V/2 Rn. 190; Günther FS Weber, 2004, 311, 316 f.; MünchKommStGB/Dierlamm § 266 Rn. 218. TC Paris 16. 5. 1974, Gaz. Pal. 1974, S. 2, Jur., 886; Dalloz 1975, 2, Jur., S. 37; Rev. soc. 1975, S. 657; ähnlich auch TGI Mulhouse 25. 3. 1983, Dalloz 1984, S. 2, Jur., S. 285 Anm. Ducouloux-Favard. Cass. crim. 4. 2. 1985, Gaz. Pal. 1985, S. 2, Jur., 377 Anm. Marchi; Dalloz 1985, S. 2, Jur., S. 478 Anm. Ohl; Rev. soc. 1985, S. 648 Anm. Bouloc; JCP 1986, II, 20585 Anm. Jeandidier; s. dazu auch Bouzat Rev. trim. dr. comm. 1985, S. 827; ausführlich Le Gunehec Rev. int. dr. pén. 1987, S. 117; Bouloc Rev. soc. 1988, S. 188; in derselben Linie s. ferner Cass. crim. 13. 2. 1989, Rev. soc. 1989, S. 692 Anm. Bouloc; 23. 4. 1991, Rev. soc. 1991, S. 785 Anm. Bouloc; 9. 12. 1991, Rev. soc. 1992, S. 358 Anm. Bouloc; 4. 9. 1996, Rev. soc. 1997, S. 365 Anm. Bouloc; 13. 12. 2000, Bull. Joly 2001, S. 386 Anm. Barbiéri.
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noch die finanziellen Möglichkeiten der betroffenen Gesellschaft übersteigen“.24 3. Demselben Modell der Untreue als Sonderdelikt für den spezifischen Bereich der Handelsgesellschaften ist auch der spanische Gesetzgeber mit dem StGB 1995 gefolgt: innerhalb des neuen Código penal ist ein echtes Wirtschaftsstrafrecht („delitos contra el orden socioeconómico“) zum ersten Mal in Spanien eingeführt worden,25 innerhalb dessen die neue gesellschaftsrechtliche Untreue (Art. 295 CP: „administración desleal“ oder „fraudulenta“26) als eine der wichtigsten und am längsten erwarteten Neuigkeiten gilt.27 24
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„Pour échapper aux prévisions des Art. 425 (4 ) et 437 (3 ) de la loi du 24 juill. 1966, le concours financier apporté par les dirigeants de fait ou de droit d’une société, à une autre entreprise d’un même groupe, dans la quelle ils sont intéressés directement ou indirectement, doit être dicté par un intérêt économique, social ou financier commun, apprecié au regard d’une politique élaborée pour l’ensemble de ce groupe, et ne doit ni être démuni de contrepartie ou romper l’équilibre entre les engagements respectifs des diverses sociétés concernées, ni excéder les possibilités financiers de celle qui en supporte la charge“: Cass. crim. 4. 2. 1985 (Fn. 23). Für die deutsche Übersetzung des Leitsatzes der Entscheidung und eine ausführliche rechtsvergleichende Betrachtung vgl. Anders (Fn. 10) S. 493 f. Über diese historische Wende in der spanischen Strafgesetzgebungsgeschichte vgl. für alle Bajo Fernández in: Hacia un Derecho penal económico europeo, 1995, S. 63 ff. Die Kodifizierung des neuen Wirtschaftsstrafrechts entspricht der spanischen konstanten Tendenz, das ganze Strafrechtssystem innerhalb der Grenze des StGB zu behalten, und die Schaffung von strafrechtlichen Nebengesetze zu vermeiden: ausführlich dazu Foffani/Pifarré de Moner in: Donini (Hrsg.), La riforma della legislazione penale complementare. Studi di diritto comparato, 2000, S. 189 ff.; Terradillos Basoco in: Donini (Hrsg.), Modelli ed esperienze di riforma del diritto penale complementare, 2003, S. 113 ff. „Die tatsächlichen oder rechtlichen Verwalter oder die Gesellschafter einer bestehenden oder in der Gründung befindlichen Gesellschaft, die zum eigenen Vorteil oder dem eines Dritten unter Missbrauch ihrer Funktionen in betrügerischer Weise über die Sachen der Gesellschaft verfügen oder zu ihren Lasten unter unmittelbarer Verursachung eines wirtschaftlich messbaren Nachteils für die Gesellschafter, Verwahrer, stillen Gesellschafter oder Inhaber der von ihnen verwalteten Sachen, Wertpapiere oder des Kapitals Verpflichtungen eingehen, werden mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu vier Jahren oder Geldstrafe in Höhe des erlangten Vorteils bis zu dessen dreifacher Höhe bestraft“ (Übersetzung von Hoffmann, Das spanische Strafgesetzbuch, 2002, S. 173). Vgl. Martínez-Buján Pérez El delito societario de administración desleal, 2001, S. 11; Quintero Olivares/Morales Prats Comentarios a la Parte Especial del Derecho Penal, 5. Aufl., 2005, S. 917; ausführlich über den neuen Tatbestand und seine lange Entstehungsgeschichte seit dem ersten StGB-Entwurf 1980, Castro Moreno El delito societario de administración desleal, 1998; Faraldo Cabana Los delitos societarios, 2000, S. 311; Martínez-Buján Pérez Derecho penal económico y de la empresa. Parte especial, 2. Aufl., 2005, S. 454 ff.; Nieto Martín El delito de administración fraudulenta, 1996.
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Der Täterkreis enthält die (rechtlichen oder faktischen) Geschäftsführer bzw. Vorstandsmitglieder jeder Art von Handelsgesellschaft28 und die Gesellschafter, aber keine andere leitende Figur der Gesellschaft (Direktoren usw.), im Gegensatz zum französischen abus des biens sociaux. Die spanische Version der Untreue ist als reiner Missbrauchstatbestand gestaltet worden: die Tathandlung ist als Funktionsmissbrauch im Rahmen der Verfügung bzw. Verpflichtung des Gesellschaftsvermögens beschrieben und sieht dazu ein (eigentlich überflüssiges?) Täuschungselement („fraudulentamente“) neben einer Bereicherungsabsicht zugunsten des Täters oder eines Dritten („en beneficio proprio o de un tercero“) vor. Taterfolg ist die „wirtschaftlich messbare Benachteiligung“ („perjuicio económicamente evaluable“) einer einem ziemlich heterogenen Opferkreis angehörenden Person: zu diesem Opferkreis gehören aber nicht nach dem Gesetzeswortlaut die Gesellschaft selbst, sondern vor allem die einzelnen Gesellschafter.29 Das Hauptproblem in der (bis jetzt extrem begrenzten) Praxis30 liegt in der Grenzenziehung zwischen der neuen gesellschaftsrechtlichen Untreue und dem traditionell bei den allgemeinen Vermögensdelikten angesiedelt Unterschlagungstatbestand („apropiación indebida“: Art. 252 CP). Dieser enthält nach spanischem Recht auch Fälle von Veruntreuung durch Zweckentfremdung („distracción“) der anvertrauten Sache bzw. Vermögens ohne Zueignung, und die spanische Rechtsprechung hat ihn traditionell weiter ausgedehnt, um die Lücke des fehlenden Untreuetatbestandes zu füllen.31 Andererseits hat der Gesetzgeber für die neue administración desleal eine mildere (im Vergleich mit der in Art. 250 und Art. 252 für die Unterschlagung eines Geschäftsführers bzw. Vorstandsmitglieds32) Strafe vorgesehen, so dass die Rechtsprechung
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Der Begriff von „Gesellschaft“ ist im Art. 297 CP für das ganze Gebiet der Handelsgesellschaftsdelikte sehr breit definiert. Über die daraus folgenden Schwierigkeiten für Theorie und Praxis vgl. MartínezBuján Pérez El delito (Fn. 27) S. 33 ff.; ders. Derecho (Fn. 27) S. 458 ff.; Quintero Olivares/Morales Prats (Fn. 27) S. 919 f. STS 1177/2004 v. 25. 10. 2004; ATS 157/2005 v. 21. 12. 2005. Der bis heute spektakulärste Prozess betreffend außerordentlich hohe Vergütungen zugunsten sehr prominenter Vorstandsmitglieder (Fall „Banco Santander”) – etwa wie der deutsche Mannesmann-Fall – ist mit einem Freispruch sowohl unter dem Gesichtspunkt der administración desleal als auch der apropiación indebida abgeschlossen worden: Audiencia Nacional 15/2005 v. 13. 4. 2005, ARP 2005/172; ausführlich dazu Foffani/Nieto Martín (Fn. 21) S. 120 ff. m. w. N. Vgl. insb. STS 7. 3. 1994; STS 14. 3. 1994; STS 9. 12. 1997. Sie wird im Normalfall wegen der im Art. 250 Nr. 6 und 7 vorgesehenen erschwerenden Umständen mit Freiheitsstrafe von 1 bis 6 Jahren und Geldstrafe von 6 bis 12 Monaten bestraft.
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immer noch die Anwendung des in der Praxis sehr weit ausgedehnten Unterschlagungstatbestandes statt der neuen gesellschaftsrechtlichen Untreue deutlich bevorzugt.33 Wichtige Neuigkeiten sind in dem neuen Reformentwurf des Código penal34 vorgesehen: es wird die Einführung eines allgemeinen Untreuetatbestandes als Vermögensdelikt in einem neuen Art. 254bis CP vorgesehen, während die aktuelle gesellschaftsrechtliche Untreue des Art. 295 CP nunmehr auf die Gesellschafter als einzige Normadressaten beschränkt werden soll. Die Strafe sollte aber in beiden Fälle deutlich niedriger als die der Unterschlagung nach Art. 250 und 252 CP bleiben. 4. Zu den Ländern des romanischen Rechtskreises, die traditionell weder einen allgemeinen Untreuetatbestand nach deutscher Art noch einen weit gefassten gesellschaftsrechtlichen Missbrauchstatbestand nach dem französischen Muster des abus des biens sociaux kannten, gehört auch Italien: das Fehlen eines echten Untreuetatbestandes wurde durch das XX. Jahrhundert immer wieder als eine gravierende Lücke des italienischen Systems des Vermögensund Wirtschaftsstrafrechts angezeigt.35 In Italien gab es in der Vergangenheit ausschließlich einige (sehr begrenzte, fragmentarische und in der Praxis unbedeutende) Inkriminierungen im Bereich des Gesellschaftsrechts, wie insb. die Strafvorschriften betreffend den Interessenkonflikt des Vorstandsmitglieds einer AktG oder die illegale Gewährung von Darlehen oder Bürgschaften zugunsten der Gesellschaftsorgane oder die illegalen Vorstandsvergütungen (Art. 2631, 2624 und 2630 Abs. 2 Nr. 1 it. BGB a. F.). Vom kriminologischen Gesichtspunkt aus war aber die Untreueproblematik – vor allem im Bereich des Kreditwesens – sehr heftig, und die Rechtsprechung hat jahrelang die Tatbestände der Amtsunterschlagung („peculato“: Art. 314 it. StGB a. F.) – bis Mitte der 80er Jahre – und später 33
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Vgl. STS 26. 2. 1998, RJ 1998, S. 1196 (Fall „Argentia Trust”); STS 3. 4. 1998; AP Madrid 9. 10. 1999; Audiencia Nacional 31. 3. 2000; STS 15. 12. 2000; STS 29. 7. 2002, RJ 2002, 6357 (Fall „Banesto”); STS 1499/2003 v. 14. 11. 2003; STS 603/ 2004 v. 14. 5. 2004; STS 1383/2005 v. 21. 10. 2005; Bacigalupo CPCr 1999, Nr. 69, 521 ff.; Martínez-Buján Pérez El delito (Fn. 27) S. 96 ff.; ders. Derecho (Fn. 27) S. 477 ff.; Morales Prats RdDPP 1999, Nr. 2, S. 54 ff.; Quintero Olivares/Morales Prats (Fn. 27), S. 922 ff. Proyecto de Ley Orgánica 121/000052 v. 27. 11. 2009. Vgl. i. d. S. nur Delitala Riv. dir. comm. 1931, I, S. 183; Nuvolone, L’infedeltà patrimoniale nel diritto penale, 1942; Pedrazzi Riv. it. dir. pen. 1953, S. 529 ff. In den letzten Jahren: Foffani, Infedeltà patrimoniale e conflitto d’interessi nella gestione d’impresa. Profili penalistici, 1997.
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der allgemeinen Unterschlagung („appropriazione indebita“: Art. 646 it. StGB) durch extrem extensive Auslegungen an Fälle von Kredituntreue und Bildung schwarzer Kassen sehr häufig angewandt.36 Erst am Ende des XX. Jahrhunderts kam der erste bedeutende gesetzgeberische Eingriff: zunächst durch die Einführung eines Untreuetatbestandes im Bereich der Wertpapierdienstleistungsunternehmen (Art. 167 D.lgs. 24. 2. 1998, Nr. 58), der die Ausbeutung eines Interessenkonflikts zum Nachteil des Anlegers unter Strafe stellt; und erst kürzlich hat die Gesamtreform des Gesellschaftsrechts eine umfassende Revision der strafrechtlichen Regelung der Handelsgesellschaften mit sich gebracht. Der strafrechtliche Teil dieser Reform (D.lgs. 11. 4. 2002, Nr. 61) ist auf die härteste Kritik der Lehre (und z. T. auch der Politik und der öffentlichen Meinung) gestoßen, weil dadurch eine „Bagatellisierung“ der Bilanzdelikte erfolgte.37 Andererseits hat aber dieselbe Reform einen umfangreichen Tatbestand der gesellschaftsrechtlichen Untreue eingeführt: es geht um den neuen Art. 2634 it. BGB (Codice civile), der die „infedeltà patrimoniale“ bestraft.38 36
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Cass. SU 10. 10. 1981, Foro it. 1981, II, 553; Cass. SU 23. 5. 1987, Riv. it. dir. proc. pen. 1987, S. 703; Cass. SU 28. 2. 1989, Foro it. 1989, II, 506; App. Roma 23. 6. 1988, Foro it. 1989, II, 421; Cass. 23. 6. 1989, Riv. it. dir. proc. pen. 1991, S. 266; Cass. 9. 7. 1992, Cass. pen. 1993, S. 2108; Trib. Milano 31. 5. 1994, Foro it. 1995, II, 24; weitere Hinweise bei Foffani in: Loos/Jehle (Hrsg.), Bedeutung der Strafrechtsdogmatik in Geschichte und Gegenwart. Manfred Maiwald zu Ehren, 2007, S. 86 f. Vgl. insb. Alessandri Corr. giur. 2001, S. 1545 ff.; ders. Quest. Giust. 2002, S. 1 ff.; ders. Mercato, concorrenza, regole 2002, S. 146 ff.; ders. Società 2002, S. 797 ff.; ders. Riv. it. dir. proc. pen. 2002, S. 993 ff.; Crespi Riv. soc. 2001, S. 1345 ff.; Donini Cass. pen. 2002, S. 1240 ff.; Foffani Dir. pen. proc. 2001, 1193 ff.; ders. Cass. pen. 2001, 3246 ff.; ders. in: Ass. D. Preite (Hrsg.), Verso un nuovo diritto societario, Bologna 2002, S. 329 ff.; ders. in: Giarda/Seminara (Hrsg.), I nuovi reati societari: diritto e processo, 2002, S. 231 ff.; ders. in: Palazzo/Paliero (Hrsg.) Commentario breve alle leggi penali complementari, 2. Aufl, 2007, S. 2449 ff.; ders. Rev. pen. 15 (2005), S. 57 ff.; ders./Vella Mercato, concorrenza, regole 2002, S. 125 ff.; ders. FS Maiwald, 2010, S. 160 ff.; Manna Foro it. 2002, V, 111 ff.; Marinucci Guida Dir. 2001, Nr. 45, S. 10; f.; ders. Dir. pen. proc. 2002, S. 137 ff.; Paliero Guida Dir. 2002, S. 37 ff.; Pedrazzi Riv. soc. 2001, S. 1369 ff.; Pulitanò Guida Dir. 2001, S. 9; Seminara Dir. pen. proc. 2002, S. 676 ff. Für die Reform vgl. im Gegenteil Caraccioli Guida Dir. 2001, Heft 36, S. 10 f.; ders. Legisl. pen. 2002, S. 531 ff.; Lanzi Guida Dir. 2002, S. 9 f.; ders. Società 2002, S. 269 ff.; Nordio Guida Dir. 2001, S. 12 f. Über die neue Strafvorschrift vgl. insb. Aldrovandi, in: Lanzi/Cadoppi (Hrsg.), I reati societari, 2. Aufl., 2007, S. 180 ff.; Amati in: Rossi (Hrsg.), I reati societari, 2004, S. 400 ff.; Ambrosetti/Mezzetti/Ronco Diritto penale dell’impresa, 2008, S. 172 ff.; Antolisei Manuale di diritto penale. Leggi complementari I, 2007, S. 411 ff.; Bellacosa Obblighi di fedeltà dell’amministratore di società e sanzioni penali, 2006; Benussi Infe-
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Der Name des neuen Deliktes zeigt auf den ersten Blick eine enge Verwandtschaft mit dem deutschen Muster der Untreue, aber seine Typisierung im Rahmen des Handelsgesellschaft(straf)rechts und die Beschreibung der Normadressaten (Geschäftsführer bzw. Vorstandsmitglieder, Generaldirektoren und Liquidatoren einer Personen- oder Kapitalgesellschaft) zeigen, dass der italienische Gesetzgeber vielmehr dem französischen Grundmodell gefolgt ist. Die Tathandlung besteht in der Verfügung des Gesellschaftsvermögens im Rahmen eines Interessenkonfliktes mit der Absicht, sich selbst oder einen Dritten rechtswidrig zu bereichern. Es handelt sich um ein Erfolgsdelikt, das einen Vermögensschaden der Gesellschaft (und in manchen Fällen auch Dritter, wenn der Gesellschaft fremdes Vermögen anvertraut wird) voraussetzt. In Bezug auf diesen Erfolg reicht bedingter Vorsatz (dolus eventualis) nicht aus: Voraussetzung ist der direkte Vorsatz des Täters, was die Praktikabilität des neuen Tatbestandes voraussichtlich negativ beeinflussen wird;39 die Leistungsfähigkeit der Strafvorschrift wird aber wahrscheinlich noch mehr dadurch beeinträchtigt, dass es sich um ein Antragsdelikt handelt, das nach h. M. einen Strafantrag der Gesellschaftsversammlung voraussetzt.40 Besonders bemerkenswert ist die Sonderregelung für die Konzerne, die höchstwahrscheinlich als gesetzliche Formulierung eine absolute Neuheit in der Rechtsvergleichung darstellt: gem. dem Art. 2634 Abs. 3 CC handelt der Geschäftsführer bzw. das Vorstandsmitglied usw. nicht rechtswidrig,
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deltà patrimoniale e gruppi di società, 2009; Cerquetti in: Napoleoni (Hrsg.) I reati e gli illeciti amministrativi societari, 2010, S. 345 ff.; Conti Disposizioni penali in materia di società e di consorzi, 4. Aufl., 2004, S. 190 ff.; D’Avirro/Mazzotta I reati di infedeltà nelle società commerciali, 2004; Foffani in: Alessandri (Hrsg.), Il nuovo diritto penale delle società, 2002, S. 345 ff.; ders., in: Palazzo/Paliero (Fn. 37), S. 2518 ff.; Giunta Lineamenti di diritto penale dell’economia, 2. Aufl., 2004, S. 285 ff.; Lunghini in: Dolcini/Marinucci (Hrsg.), Codice penale commentato, 2007; Maruotti in: Manna (Hrsg.), Corso di diritto penale dell’impresa, 2010, S. 189 ff.; Masullo in: Padovani (Hrsg.) Leggi penali complementari, 2007, S. 2457 ff.; Mezzetti Riv. it. dir. proc. pen. 2004, S. 193 ff.; Militello in: Giarda/Seminara (Fn. 37), S. 471 ff.; Musco I nuovi reati societari, 3. Aufl., 2007, S. 197 ff.; Zannotti Il nuovo diritto penale dell’economia, 2006, S. 253 ff. Über die außerordentlichen praktischen Schwierigkeiten, die der dolus directus im Bereich der Handelsgesellschaftsdelikte mit sich bringt, vgl. nur Tiedemann in: Hacia un Derecho penal económico europeo, 1995, S. 41, in Bezug auf den spanischen StGB-Entwurf 1992. Vgl. dazu Foffani in: Palazzo/Paliero (Fn. 37); über eine mögliche Ausdehnung der Strafantragslegitimation zugunsten des einzelnen Gesellschafters s. aber Cass. 9. 11. 2006, Giur. comm. 2007, II, m. krit. Anm. La Rosa; Cass. 25. 2. 2009, CED Cass. pen. 2009, 244336.
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wenn seine Absicht auf die Bereicherung des zugehörigen Konzerns oder einer verbundenen Gesellschaft zielt, und durch einen ernsthaft zu erwartenden Vorteil für die betroffene Gesellschaft eine Art Kompensation stattfinden kann.41 Der Einfluss der französischen Rechtsprechung ist ziemlich deutlich, aber in Vergleich zu dieser Erfahrung scheint die synthetische Lösung des italienischen Gesetzgebers zu weit und unbestimmt.42 Unklarheiten bestehen über den Anhaltspunkt der Kompensation, der nach dem Gesetzeswortlaut die Bereicherungsabsicht des Täters zugunsten des Konzerns bzw. der verbundenen Gesellschaft und nicht der Nachteil der betroffenen Gesellschaft sein sollte, und der zentrale Begriff der „ernst zu erwartenden Kompensationsvorteile“ („vantaggi compensativi fondatamente prevedibili“) braucht noch eine grundsätzliche Konkretisierung in der Praxis.43 Die Rechtsprechung ist aber bis jetzt einer eher restriktiven Auslegung gefolgt, indem die Erwartung künftiger Kompensationsvorteile eine besonders solide und objektive Basis haben muss, um die Strafbarkeit wegen Untreue im Konzern auszuschließen.44 Die Theorie der Kompensationsvorteile war schon vor einigen Jahren von der außerstrafrechtlichen Literatur verarbeitet: es sollte nicht um eine bloße quantitative und proportionale Kompensation gehen, sondern um eine „wirtschaftlich-funktionelle“ Bewertung in Bezug auf das Interesse der Konzerne und der einzelnen Gesellschaft.45 Die strafrechtliche Lehre diskutiert jetzt über die dogmatische Natur dieser Sonderregelung für die Konzernuntreue: ob es um einen echten Rechtfertigungsgrund46 oder besser um eine innere 41
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„In ogni caso non è ingiusto il profitto della società collegata o del gruppo, se compensato da vantaggi, conseguiti o fondatamente prevedibili, derivanti dal collegamento o dall’appartenenza al gruppo“. Eine ähnliche Formulierung war schon im Art. 112 Nr. 2 des Vorentwurfes eines neuen StGB 1992 (Progetto Pagliaro) vorgesehen: s. Ind. pen. 1992, S. 579 ff. Über die Vagheit der strafrechtlichen Bestimmung betreffend die Untreue im Konzern vgl. Benussi Studi in onore di Giorgio Marinucci, 2006, III, S. 2175 und Fn. 41 (der die fehlenden zeitlichen Grenzen der Bewertung der Kompensationsvorteile besonders betont); ders. (Fn. 38), S. 264 und Fn. 20; Cariello Riv. soc. 2003, S. 1248; Ciampoli Società 2005, S. 177 Rordorf Società 2004, S. 538 ff. Vgl. dazu Benussi (Fn. 42), S. 2157 ff.; ders. (Fn. 38); Foffani in: Palazzo/Paliero (Fn. 37); Masucci Infedeltà patrimoniale e offesa al patrimonio nella disciplina penale dei gruppi di società, 2006; Militello (Fn. 38), S. 490 f.; Musco (Fn. 38), S. 221 ff. Für diese restriktive Auslegung vgl. Cass. 23. 6. 2003, Dir. Giust. 2003, S. 40 ff., Anm. Marinello; Cass. pen. 2004, S. 457 ff.; Giur. comm. 2004, II, S. 599 ff., Anm. Codazzi; Cass. pen. 2005, S. 457 ff., Anm. Rocchi. Die Ursprung dieses Kriteriums der Kompensationsvorteile ist in der zivilrechtlichen Lehre zu finden: vgl. Montalenti Giur. Comm., 1995, I, S. 731 ff. So Mucciarelli Giur. comm., 2002, I, S. 631; Bersani Fisco, 2004, S. 6630.
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Grenze der tatbestandsmäßigen Absicht des Täters47 oder der Rechtsgutsverletzung48 geht. Bis jetzt gab es nur eine sehr geringe und nicht besonders bedeutende Anwendung der Konzernuntreue,49 aber die Rechtsprechung hat sich schon mit der Frage konfrontiert, ob diese Sonderregelung ausschließlich für den neuen Tatbestand der gesellschaftsrechtlichen Untreue gelten oder eine breitere Anwendung für das ganze Feld des Konzernstrafrechts (und vor allem im Bereich der Bankrottdelikte) finden soll: in seinen ersten Stellungnahmen schwankt das Kassationsgericht zwischen einer eher restriktiven Auffassung50 und einer möglichen Ausdehnung der Konzernregelung des Art. 2634 Abs. 3 CC auch im Bereich des Insolvenzstrafrechts,51 was eine wesentliche Milderung der traditionell strengen Linie der Rechtsprechung bezüglich der Bankrottdelikte mit sich bringen würde. Somit könnten die Grundstrukturen der infedeltà patrimoniale – ähnlich wie § 266 dStGB in Bezug auf das GmbH-Recht52 – die allgemein geltenden „Mindestanforderungen an das Verhalten im Konzern“ darstellen, und die neue Strafvorschrift könnte „teilweise die Funktion eines Ersatzes“ für das (in Italien nach der jüngsten Reform des Gesellschaftsrechts nicht mehr fehlende, aber immer noch sehr unbestimmte) Konzernrecht. Neben dem Tatbestand der handelsgesellschaftsrechtlichen Untreue (Art. 2634 it. BGB) hat der italienische Gesetzgeber auch eine weitere Strafvorschrift über die „Untreue wegen Übergabe oder Versprechens eines Vorteils“ (Art. 2635 it. BGB) im Rahmen des neuen Handelsgesellschaftsstrafrechts eingeführt. Es geht um eine Art gesellschaftsrechtliche Korruption – die ursprünglich ausdrücklich darauf zielte, der europäischen gemeinsamen Aktion (sowie dem späteren Rahmenbeschluss) über die Bestechung und Be-
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So die h. M.: Aldrovandi (Fn. 37), S. 144 u. 200 Fn. 63; Bellacosa (Fn. 37) S. 139; Bricchetti/Targetti Bancarotta e reati societari, 3. Aufl., 2003, S. 140; Cerquetti (Fn. 38), 333; Giunta Studium juris 2002, 837; Masullo (Fn. 37), S. 2458 ff.; Mezzetti (Fn. 37), S. 234; Musco (Fn. 37), S. 226; Santoriello Il nuovo diritto penale delle società, 2003, 265; Zannotti (Fn. 38), S. 274. In diese letzte Richtung vgl. Benussi (Fn. 42), S. 277–278. Cass. 23. 6. 2003, Cass. pen. 2004, 457; Cass. 24. 6. 2004, Foro it. 2006, II, 56; dazu Napoleoni Cass. pen. 2005, S. 3804. Cass. 24. 4. 2003, Dir. pen. proc. 2005, S. 750, Anm. Lemme; Cass. pen. 2004, S. 2142 ff.; Riv. pen. 2003, S. 992; Cass. 5. 6. 2003, Riv. pen. 2004, S. 1264; Cass. pen. 2005, S. 1539 ff., Anm. Giovanardi; Cass. 18. 11. 2004, Dir. pen. proc. 2005, S. 747; Cass. 8. 11. 2007, Cass. pen. 2009, S. 1291 Anm. Napoleoni. Cass. 24. 5. 2006, Riv. it. dir. proc. pen. 2007, S. 421 Anm. Benussi. Tiedemann GmbH-Strafrecht, 4. Aufl. 2002, vor §§ 82 ff. Rn. 22.
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stechlichkeit in dem privaten Sektor53 Rechnung zu tragen.54 In der endgültigen Fassung des gesetzgeberischen Dekrets ist aber der Tatbestand als Sonderfall der gesellschaftsrechtlichen Untreue umformuliert worden.55 es geht nun um den Schutz des Gesellschaftsvermögens gegen die Bestechlichkeit der Gesellschaftsorgane, der Nachteil der Gesellschaft ist der Taterfolg und der Schutz des Wettbewerbs – der den Hauptzweck der oben genannten europäischen Initiativen darstellt – innerhalb des neuen Tatbestandes überhaupt keine Rolle spielt.56 Auch die praktische Bedeutung der Strafvorschrift war von Anfang an sehr gering, da der Tatbestand praktisch keine Elemente für eine Ausdehnung bzw. Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes gegenüber dem Tatbestand der gesellschaftsrechtlichen Untreue enthält.57 5. Am Ende dieser kursorischen rechtsvergleichenden Darstellung des Untreuestrafrechts in Frankreich, Spanien und Italien muss man schließlich betonen, dass die kriminalpolitische Linie der Typisierung von Sondertatbeständen der Untreue für spezifische Rechtsbereiche und Täterkreise auch in Deutschland – trotz der deutlichen Gegenrichtung des Gesetzgebers ab den 60er Jahren58 und der entsprechenden h. M. der Lehre59 – gut vertreten ist. Schon vor 30 Jahren hatte sich Tiedemann mit klaren Worten geäußert: unter dem Gesichtspunkt „der Berechenbarkeit der Strafbarkeit und der Ausschaltung von Zufallsergebnissen [. . .] scheint uns das französisch-romanische System spezieller Untreuetatbestände gegenüber der vom deutschen Gesetzgeber verfolgten Linie eines einzigen globalen und pauschalen Untreuetatbestandes [. . .] vorzugswürdig zu sein: Nicht die Schädigung der Gesellschaft sollte verboten sein, sondern 53
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Es geht um die Gemeinsame Aktion v. 22. 12. 1998 (98/742/JI) und den Rahmenbeschluss v. 22. 7. 2003 (2003/568/JI) betreffend die Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor, sowie in derselben Linie die UNO-Konvention gegen die Korruption von 2003. In der ursprünglichen Fassung des Entwurfs des Delegationsgesetzes (Gesetzesentwurf v. 20. 6. 2000, Nr. 7123) hieß der Tatbestand konsequent „Korruption“: vgl. den Text des Entwurfs und die Begründung in Riv. soc. 2000, S. 80 ff. Für eine eher detaillierte Beschreibung der Genesis des Gesetzes vgl. Foffani in Palazzo/Paliero (Fn. 37), S. 2532 ff. Über diesen Mangel der Strafvorschrift vgl. Foffani in: Palazzo/Paliero (Fn. 37), S. 2535; ders. in: Acquaroli/Foffani (Hrsg.), La corruzione fra privati. Esperienze comparatistiche e prospettive di riforma, 2003, S. 388 ff. Einzige Ausnahme ist die Kriminalisierung der Unterlassung, die in Art. 2635 (aber nicht in Art. 2634) it. BGB ausdrücklich vorgesehen ist. Durch die Abschaffung der gesellschaftsrechtlichen Untreue im AktG, GmbHG usw: für eine ausführliche Beschreibung des früheren nebenstrafrechtlichen Kranzes von Sondervorschriften der Untreue s. Weber FS Dreher, 1977, S. 555 f. Vgl. für alle Otto Aktienstrafrecht, 1997, vor § 399 Rn. 18 f.
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einzelne gefährliche Akte sollten unter Strafe gestellt werden“.60 Dieselbe Richtung ist in einer Perspektive de lege ferenda vom Alternativ-Entwurf Wirtschaftsstrafrecht 1977 verfolgt 61 und kürzlich auch im Rahmen eines umfassenden Vorschlags zur europäischen Harmonisierung des Wirtschaftsstrafrechts (sog. „Europa-Delikte“) wieder auf den Tisch gebracht worden.62 Die Aktualität dieser Anregungen in Deutschland wird durch die Betrachtung der neueren Entwicklung der Praxis (vor allem in Bereichen wie die Organuntreue oder die Parteispendenuntreue) deutlich verstärkt. Es reicht hier, die Kritik der Lehre zu zitieren: die deutsche Untreue „stellt einen legislatorischen Schwachpunkt dar, denn § 266 ist ein „schwammiger“ Tatbestand von besonderer Unbestimmtheit“.63 „§ 266 StGB passt immer. Insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht ist das die Norm, die ganz unabhängig davon greift, um welche Spezialmaterie es sich auch immer handelt. Es braucht nur ein Risiko für fremdes Vermögen mit dem Handeln oder Unterlassen einer Person verbunden zu sein“.64 „Arm an objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen, [. . .] nahe an der Grenze zur Verfassungswidrigkeit, gilt die Untreue als Paradebeispiel eines Delikts, bei dem eine restriktive Auslegung verfassungsrechtlich geboten ist“.65 Durch diese exemplarisch kritischen (und gut argumentierten) Stellungnahmen sollte es klar werden, wie das Anwendungsfeld der Untreue schon seit 60
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Tiedemann FS (Fn. 3) S. 252; ders. (Fn. 3) S. 134 Fn. 3, mit Hinweisen auch auf die ähnliche Meinung – zugunsten der Beibehaltung wirtschaftsstrafrechtlicher Sondertatbestände der Untreue – von Mayer in: Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. I, 1954, S. 335; in dieselbe Richtung s. auch Weber (Fn. 58) S. 555 ff. und neulich Perron GA 2009, S. 232 ff. („Bevor man resignierend mit der deutschen Gesetzeslage abfindet, sollte daher zumindest ein ernsthafter Versuch gemacht werden, alternative Regelungsmodelle ins Auge zu fassen und näher auszuloten. So könnten beispielsweise Sondertatbestände nach dem spanischen Vorbild eingeführt und zugleich die Generalklausel des § 266 StGB für eine Erprobungszeit subsidiär beibehalten werden, um festzustellen, ob die befürchteten Strafbarkeitslücken tatsächlich nicht mit den Spezialtatbeständen zu schließen sind“). § 183 AE-StGB („Mißbrauch gesellschaftsrechtlicher Befugnisse“); ausführlich dazu Weber (Fn. 58) 555 ff. (569). Art. 45 („Ungetreue Geschäftsführung“), Art. 50 („Untreue bei Kreditgewährung“), Art. 54 („Untreue bei Wertpapierdienstleistungen“). Für die Begründung der vorgeschlagenen Tatbestandsmodelle s. Foffani in: Tiedemann (Hrsg.), Harmonisierung des Wirtschaftsstrafrechts in der Europäischen Union, 2002, S. 311 ff. (329 ff.) und S. 335 ff. (S. 339 ff., S. 348 f.), sowie die kritische Stellungnahme von Otto S. 353 ff. (S. 361 ff.). Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht BT, 2006, Rn. 3. Ransiek ZStW 116 (2004), S. 364. Saliger ZStW 112 (2000), S. 563.
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lange zu breit und heterogen geworden ist, und dass die Vielfältigkeit der Praxis nicht mehr unter allgemeinen und nunmehr absolut unbestimmt gewordenen Oberbegriffen wie die „Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht“ dominierbar ist. Einerseits könnte die Schaffung spezieller Untreuetatbestände mit beschränkten und gut definierten Täterkreisen die besondere Rechtslage bestimmter Normadressaten – wie insb. Geschäftsführer, Vorstandsmitglieder und andere leitende Figuren von Handelsgesellschaften, Banken, Wertpapierdienstleistungsunternehmen usw. – besser in Betracht ziehen. Die Beispiele der Rechtsvergleichung sind inhaltlich nicht immer glücklich und unbedingt imitationswürdig, aber die Grundidee, dass durch eine dazu bestimmte Sonderregelung besonders schwierige Fallkonstellationen (wie z. B. die Konzernuntreue) eine spezifische und möglichst ausgeglichene (und vor allem mit der außerstrafrechtlichen Regelung koordinierte) Lösung finden können, so scheint es, nicht zu vernachlässigen. Andererseits sollte der allgemeine Untreuetatbestand von dem Druck immer neuer Strafbedürfnisse entlastet werden, die mit dem reinen Vermögensschutz gar nicht (oder nur pro forma) zu tun haben, wie die Fälle der sog. Parteispendenuntreue, wobei es offensichtlich um den Schutz der Transparenz und Glaubwürdigkeit der politischen Umwelt geht, vielmehr als um den Schutz des Parteivermögens:66 hier könnte eine darauf gerichtete Sonderregelung (auch strafrechtlicher Natur) viel mehr leisten, als die Instrumentalisierung des Untreuetatbestandes als „Auffangstatbestand“67 oder „Allzweckwaffe“,68 die am Ende nur zu einer Verwässerung der Schutzfunktion und zum endgültigen Identitätsverlust des Tatbestandes führen könnte. Falls der deutsche Gesetzgeber in eine solche Richtung gehen sollte, ginge es nicht – trotz des oberflächigen Anscheins des quantitativen Wachstums der Strafvorschriften – um eine pervasive und rechtsstaatsbedenkliche „Expansion“ des Strafrechts,69 sondern im Gegenteil um die Suche nach mehr Sicherheit zugunsten der potentiellen Normadressaten. Es würde ja keine „Entkriminalisierung des Wirtschaftslebens“70 bedeuten, aber wohl mehr Berechenbarkeit des Strafbarkeitsrisikos.
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So z. B. Günther FS Weber, 2004, S. 316 f. Dierlamm NStZ 1997, S. 534. Seier in: Kohlmann u. a. (Hrsg.), Entwicklungen und Probleme des Strafrechts an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 2004, S. 105. Nach dem Wortgebrauch von Silva Sánchez La expansión del Derecho penal. Aspectos de la política criminal en las sociedades postindustriales, 2. Aufl., 2001. Wie von Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts, II, 2007, neulich wieder ausdrücklich bevorzugt.
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Ingeborg Zerbes
Untreue im Rechtsvergleich: Überlegenheit des Missbrauchskonzepts? Untreue im Rechtsvergleich: Überlegenheit des Missbrauchskonzepts? Ingeborg Zerbes Ingeborg Zerbes
Gliederung A. Wirtschaftsstrafrecht der postmodernen Zeit B. Das Kernproblem des Untreuetatbestandes – Zuspitzung der Fragestellung C. Missbrauchs- und Treuebruchstheorie 1. Ausgangspunkt 2. Einordnung der untersuchten Rechtsordnungen D. Zwischenergebnis und Ausgangspunkt für die Anwendung E. Fallbeurteilungen: Vorteile der Missbrauchstheorie? 1. Siemens – Verwaltung schwarzer Kassen 2. Mannesmann – nicht geschuldete nachträgliche Sonderzahlungen für geschuldete Leistungen F. Schlussbemerkung
A.
Wirtschaftsstrafrecht der postmodernen Zeit
Die Abhängigkeit des Einzelnen von Wirtschaft steigt; man denke allein an die Tendenz zur privaten als Ersatz für die staatliche Zukunftssicherung. Gleichzeitig war die heutige Wirtschaft schon vor ihrer jüngsten Krise mit fundamentaler Verunsicherung verbunden: Ihre Akteure sind in riesigen, grenzüberschreitenden und zunehmend verschachtelten Konzernstrukturen verborgen, ihre Abläufe sind immer komplizierter, die Schäden großflächiger und deren Ursachen entsprechend undurchsichtig geworden. Das Vertrauen der Gesellschaft, eine Basis der Ökonomie, geht verloren.1 Die faktische und normative Aufarbeitung wirtschaftlicher (Fehl-)Entwicklungen ist daher umso
1
Hassemer Die Basis des Wirtschaftsstrafrechts, in Kempf/Lüderssen/Volk, Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, Berlin 2009, 30 f.
Untreue im Rechtsvergleich: Überlegenheit des Missbrauchskonzepts?
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dringender – sie ist auch unentbehrlich für eine verhältnismäßige und vermittelbare Kriminalpolitik auf dem Gebiet der Wirtschaft. Beim Versuch der strafrechtlichen Aufarbeitung müssen wir allerdings eingestehen, dass die Wirtschaft in ihrer Komplexität droht, unserem „guten alten . . . Kernstrafrecht“2 über den Kopf zu wachsen. Wenn in einem oder durch einen Konzern Schaden verursacht wird, sind schon die einzelnen Fakten in ihren Zusammenhängen kaum mehr nachvollziehbar.3 Die andere große Hürde besteht darin, den mühsam rekonstruierten Sachverhalt rechtlich zu bewerten: zu entscheiden, ob der dahinterstehende Einsatz von wirtschaftlicher Macht tatsächlich ein strafbarer Missbrauch ist, dabei genau zu benennen, welches strafrechtlich geschützte Rechtsgut verletzt worden ist, anhand der spezifisch strafrechtlichen Zurechnungskriterien zu prüfen, welche konkreten Person verantwortlich sind und zu hinterfragen, ob das involvierte Unternehmen tatsächlich Opfer und nicht in einer Art Täterrolle ist. Dabei bestehen folgende Schwierigkeiten: 1. Klassische Tatbestände wie die Untreue – sie stammt in manchen Rechtsordnungen aus den 1930er-Jahren – verlieren ihre Konturen. Entweder sie platzen geradezu aus den Nähten, weil sie überdehnt ausgelegt werden (müssen); ansonsten wären sie auf neuartige, als Missstände beurteilte Fehlentwicklungen nicht anwendbar – auf Fehlentwicklungen, die bei ihrer Entstehung mitunter noch gar nicht bekannt waren und auf die sie daher nicht zugeschnitten sind. Oder aber die Grenzen des strafbaren Verhaltens waren zwar zur Entstehungszeit eines Deliktstatbestandes klar, weil es noch gar nicht so viele verschiedene komplexe Sachverhalte zu beurteilen gab wie heute. Aus heutiger Sicht sind diese Grenzen aber aufgrund ihrer Unbestimmtheit zu weitgehend; insbesondere scheint der strafrechtliche Vermögens- und Schadensbegriff mehr Fragen offen zu lassen denn je. Das zur Kontrolle der Wirtschaft einschlägige Vermögensstrafrecht birgt daher die Gefahr, auch solche Abläufe zu kriminalisieren, die vielleicht gar nicht strafwürdig sind. „Heute steht jeder, der ein Unternehmen führt, mit einem Fuß im Gefängnis“4 – eine solche Einschätzung von Konzernchefs der eigenen Lage, sie wundert nicht. 2
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Die Charakterisierung ist einer Stellungnahme Lüderssens entnommen: Zurück zum guten alten, liberalen, anständigen Kernstrafrecht? in Böllinger/Lautmann, Vom Guten, das noch stets das Böse schafft (1993) 268 ff. Ackermann Unternehmenszusammenbruch und Strafrecht – anspruchsvolle Schnittstellen, in Ackermann/Wohlers, Umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren in der Praxis, Zürich 2008, 58 f. Zehetner, der Chef der Immofinanz-Gruppe im Interview des Standard vom 6./7. 2. 2010, 15.
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2. In manchen Bereichen wie etwa im Kapitalmarktrecht oder im Informationsrecht haben sich die traditionellen Tatbestände allerdings endgültig als unzureichend erwiesen. Neue Tatbestände wurden geschaffen, allerdings: selten sind sie gut gelungen. Das moderne Börsenstrafrecht ist nur ein Beispiel. Der Tatbestand der Marktmanipulation nach § 20 a iVm § 38 Abs. 2 des deutschen Wertpapierhandelsgesetz, aber auch die Strafbestimmungen des österreichischen Börsengesetzes (§§ 48 ff)5 oder die schweizerischen Strafnormen gegen Insidergeschäfte und Kursmanipulation (Art. 161 und 161bis chStGB)6 – sie sind unübersichtlich, kasuistisch, unbestimmt. Man erkennt das Bemühen um eine zeitgemäße Sprache. Die Klarheit ist ihr abhanden gekommen. Beide Entwicklungen des Wirtschaftsstrafrechts7 – mäßig geeignete klassische, missglückte moderne Tatbestände – führen zur „normative[n] Desorientierung“,8 zu einem Verlust an Trennschärfe: Es lässt sich kaum mehr verständlich machen, welche wirtschaftliche Entscheidungen erlaubt, welche ihre Akteure bloß zivilrechtlich verantwortlich machen und welche kriminell sind. Welchen Platz hat die Untreue in dieser allgemeinen Bestandsaufnahme? Sie gehört zum Kernbestand des Strafrechts, wird aber weitreichend durch ein zunehmendes Geflecht9 außerstrafrechtlicher Normen bestimmt. So unterschiedlich sie in den einzelnen Rechtsordnungen auch definiert wird, bezieht sie sich stets auf die Wahrnehmung fremder (Vermögens-) Interessen – und damit auf eine im Wirtschaftsleben geradezu unverzichtbare Tätigkeit. Ihre Grenzen, das sind die Grenzen, in denen diese Tätigkeit (auch) strafrechtlich riskant ist, sind daher ein zentraler Teil der kriminalpolitischen Entscheidung einer Gesellschaft, ob und wie weit die Einhaltung der verwaltungs-, handels- und arbeitsrechtlichen Regeln der Wirtschaft auch durch die eingriffsstärkste Waffe des Staates, das Strafrecht, erzwungen werden soll. 5
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Etwa prangert Oppitz die „gehäufte Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe“ an, Kurspflege und Kursmanipulation – vom „nobile officium“ zum Straftatbestand? ÖBA 2005, 169, 171. Nach Stratenwerth/Jenny Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 6. Auflage, Bern 2003, 456 sind „trennscharfe Kriterien . . . nicht ersichtlich“, um legale von illegaler Kurspflege zu unterscheiden; für Bruppacher ist, so sein Artikel in der BAZ vom 17. 8. 2006, die „Insiderstrafnorm – eine Lachnummer“. Nach Bernsmann Alles Untreue? Skizzen zu Problemen der Untreue, GA 2007, 220, ist es in einer „beklagenswerte[n] Verfassung“. Hassemer Die Basis des Wirtschaftsstrafrechts, in Kempf/Lüderssen/Volk, Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, Berlin 2009, 29, 31. „Aberwitzig viele Gesetze“ sind es, die die Wirtschaft regulieren: Zehetner (Chef der Immofinanz-Gruppe) im Interview des Standard vom 6./7. 2. 2010, 15.
Untreue im Rechtsvergleich: Überlegenheit des Missbrauchskonzepts?
1 61
Um diese Entscheidung rechtsvergleichend zu erläutern, werden im Folgenden die Reichweite und die Entwicklungslinien der Untreuetatbestände in bestimmten Ländern nachgezeichnet. Im Mittelpunkt steht das jeweilige Konzept, nach dem die Tathandlung beschrieben wird10, und das anschließend skizzenhaft auf umstrittene, prominente Fälle des modernen Wirtschaftsstrafrechts angewendet wird. Anknüpfend an die Analyse der italienischen, der spanischen und der französischen Rechtslage im vorliegenden Band 11 interessieren Österreich und die Schweiz, der nordeuropäische Rechtskreis und, aus Osteuropa, Ungarn und Polen – 1. Österreich nicht nur, weil es der Autorin gut bekannt ist, sondern vor allem weil der Untreuetatbestand (§ 153 öStGB) sich durch seine enge und in dieser Enge im Wesentlichen konsequent judizierte Handlungsbeschreibung auszeichnet. Diese deutliche Grenze der Kriminalisierung war in keiner der anderen Rechtsordnungen zu finden. 2. Die Schweiz ist zum einen aufgrund ihres als besonders offen geltenden Finanz- und Wirtschaftsplatzes von Interesse, zum anderen ist die Geschichte des Untreuetatbestandes erwähnenswert. Neben einer etwas breiteren Darstellung des österreichischen und des schweizerischen Zuganges 3. soll in Kürze der nordeuropäische Rechtskreis – Schweden, Dänemark, Finnland – in die Untersuchung einbezogen werden; er gilt schließlich als besonders liberal; 4. und ein Blick auf das Untreue-Strafrecht Polens – des volkswirtschaftlich wohl stärksten Staats in Osteuropa – und Ungarns soll die Situation in den ehemaligen Ostblockstaaten beleuchten.
B.
Das Kernproblem des Untreuetatbestandes – Zuspitzung der Fragestellung
Untreue nimmt unter den gegen das Vermögen gerichteten Angriffen insofern eine besondere Stellung ein, als sie auf die Schädigung fremden Vermögens als Ganzes gerichtet ist (arg. § 266 dStGB: die vermögensbezogenen Pflichtverletzungen müssen zu einem „Nachteil“ führen). Im Gegensatz dazu sind Dieb10
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Diese Zuspitzung wird sogleich unten B. (Das Kernproblem des Untreuetatbestandes – Zuspitzung der Fragestellung) erläutert. Foffani.
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stahl, Unterschlagung, Veruntreuung oder Sachbeschädigung Angriffe gegen das Eigentum – sie werden durch Aneignung oder Zerstörung einer fremden Sache begangen. Dieses Tatobjekt gibt ihnen die deutliche Kontur des Eigentumsbegriffs. Es ist zivilrechtlich klar definiert und jedem nachvollziehbar.12 Aus ihrer auf das Vermögen als solches bezogenen Schutzrichtung erhalten der Untreue- ebenso wie der Betrugs- oder Erpressungstatbestand keine vergleichbare Grenze. Die Begriffe des Vermögens und des Vermögensschadens sind nur im Kern geklärt.13 Sämtliche offenen Fragen stellen sich auch im Strafrecht, denn es ist in diesem Bereich streng zivilrechts-akzessorisch auszulegen.14 Die Unschärfe gefährdet allerdings den Grundsatz, dass Strafrecht, jedenfalls ein liberal verstandenes Strafrecht, als ultima ratio der staatlichen Regulierung verstanden wird. Es erfasst nicht sämtliche unerlaubte Angriffe – hier: auf vermögenswerte Rechte – sondern nur solche, deren Unwert weder das Zivil- noch das Verwaltungsrecht adäquat aufarbeiten können,15 mit anderen Worten: Nicht alles, was verboten ist, ist unter Strafdrohung verboten.16 Wenn dieser Grundsatz noch immer Geltung beansprucht, sich aus dem Rechtsgut hinter einem strafrechtlichen Verbots aber keine Grenze ableiten lässt, hängt die Konkretisierung an einer möglichst präzisen gesetzlichen Beschreibung der Begehungsweise.17 Der fragmentarische Charakter des Strafrechts droht ansonsten im Bereich der Wirtschaft verloren zu gehen.18 Bei Erpressung und Betrug ist dieser Anspruch auf Präzision der Tathandlung erfüllt: Hier Vermögensschaden durch Täuschung, dort Vermögensschaden durch Gewalt oder gefährliche Drohung. Beide Handlungsweisen sind unbestritten strafwürdig und im Wesentlichen gut bestimmbar.19 Gilt das auch für die Untreue? 12
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Lüderssen Primäre oder sekundäre Zuständigkeit des Strafrechts? In FS Eser, München 2005, 163, 171. Siehe dazu unter anderem Schramm Untreue und Konsens, Berlin 2005, 27 ff. Lüderssen Primäre oder sekundäre Zuständigkeit des Strafrechts? In FS Eser, München 2005, 163, 171 ff. Ackermann Unternehmenszusammenbruch und Strafrecht – anspruchsvolle Schnittstellen, in Ackermann/Wohlers, Umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren in der Praxis, Zürich 2008, 57, 62 f. Lüderssen Risikomanagement und „Risikoerhöhungstheorie“ – auf der Suche nach Alternativen zu § 266 StGB, in FS Volk, München 2009; Volk Untreue und Gesellschaftsrecht – Ein Dschungelbuch, in FS Hamm, Berlin 2008, 803, 804. Fuchs Probleme von Untreue und Betrug, StPdG 1984, 197 f. Prittwitz Perfektionierte Kontrolldichte und rechtsstaatliches Strafrecht, in Beulke/ Lüderssen/Popp/Wittig, Das Dilemma des rechtsstaatlichen Strafrechts: Symposium für Bernhard Haffke, Passau 2009, 185, 191. Fuchs Probleme von Untreue und Betrug, StPdG 1984, 197, 198 f.
Untreue im Rechtsvergleich: Überlegenheit des Missbrauchskonzepts?
C.
Missbrauchs- und Treuebruchstheorie
1.
Ausgangspunkt
1 63
Zumindest im deutschen Sprachraum lassen sich die Vorschläge, dem Straftatbestand der Untreue (mehr) Kontur zu verleihen, zur so genannten Missbrauchstheorie zuspitzen: auf die Beschränkung der Tathandlung auf den schädigenden Fehlgebrauch – den Missbrauch – der rechtlichen Macht, über fremdes Vermögen zu verfügen. Strafbare Handlung kann nach diesem Ansatz nur ein Rechtsgeschäft und Täter kann nur sein, wer eine solche Vertretungsmacht innehat; zumeist handelt es sich um den Inhaber einer Vollmacht. Er erzeugt für den Machtgeber schädigende Rechtswirkungen, die dieser im Außenverhältnis gegen sich gelten lassen muss, und setzt sich dabei bewusst über die ihm im Innenverhältnis auferlegten Schranken hinweg, m. a. W.: Untreue begeht, wer im Rahmen seines rechtlichen Könnens gegen sein rechtliches Dürfen verstößt.20 Rein faktische Handlungen erfüllen den Untreuetatbestand nicht, auch dann nicht, wenn sie zu einem Vermögensschaden führen. Die Treuebruchstheorie, die sich unter anderem in Deutschland durchgesetzt hat, geht demgegenüber ganz entscheidend weiter. Die schädigende Handlung muss nicht rechtlicher, sondern kann durchaus auch faktischer Natur sein: Jeder, dem eine Pflicht obliegt, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen – eine so genannte Treuepflicht21 –, riskiert mit ihrer Verletzung eine Strafverfolgung wegen Untreue. Die „notorische Unterbestimmtheit“22 einer derartig „blasse[n], konturlose[n]“23 Handlungsbeschreibung ist offensichtlich; in Kombination mit der Weite des Vermögensbegriffs ließe sich der Untreuetatbestand grundsätzlich als eine Art „Allzweckwaffe“24 dazu einsetzen, jede pflichtwidrige Schädigung im Wirtschaftleben zu kriminalisieren. Für ausschließlich zivilrechtliches Unrecht gäbe es keinen Raum mehr.25
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Liebscher § 153 Rn. 2, in Foregger/Nowakowski, Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 10. Lieferung, Wien 1981. Lencker/Perron § 266 Rn. 23, in Schönke/Schröder/Cramer, 27. Auflage, München 2006. Rönnau Untreue als Wirtschaftsdelikt, ZStW 2008, 887, 892. Rönnau Untreue als Wirtschaftsdelikt, ZStW 2008, 887, 903. Hamm Kann der Verstoß gegen Treu und Glauben strafbar sein? NJW 2005, 1993, 1994. Fuchs Probleme von Untreue und Betrug, StPdG 1984, 197.
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2.
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Einordnung der untersuchten Rechtsordnungen
In den hier untersuchten Rechtsordnungen ist der zuletzt genannte weite Ansatz deutlich vorherrschend: nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz, im nordeuropäischen Rechtskreis und in Osteuropa. Nur Österreich hält sich seit der Einführung des Straftatbestandes 1931 26 an die Missbrauchstheorie – dazu im Folgenden. Österreich – Tradition der Missbrauchstheorie § 153 öStGB ist auf den Missbrauch der „Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten“ und damit auf die erste Tatvariante des § 266 dStGB beschränkt. Nicht jede Verletzung einer Pflicht, die man im Bezug auf fremdes Vermögen hat, sondern nur der Missbrauch rechtlicher Verfügungsmacht ist hier erfasst; rein faktische Handlungen, die zu einem Vermögensnachteil führen, scheiden aus. Auf subjektiver Ebene wird weiter zugespitzt: Der Befugnisnehmer muss sich bewusst sein, dass er seine im Innenverhältnis zum Befugnisgeber auferlegte Pflicht verletzt. Dieses enge Verständnis von Untreue geht auf den Tatbestand der „Missbrauchsuntreue“ zurück. Er wurde 1931 in das österreichische Strafgesetz aus 1803 eingefügt (§ 205 c StG)27 und mit Rückwirkung ausgestattet; dahinter steht ein aufsehenerregender Fall einer groß angelegten Spekulation mit fremden Wertpapieren, die sich nicht als Betrug beurteilen ließ. Vorbild der 1931-Novelle war zwar grundsätzlich das deutsche Untreuestrafrecht zu dieser Zeit (§ 266 dRStGB von 1871 idF von 1931), allerdings wurde der dazu ausgetragene Meinungsstreit28 zwischen Treuebruchs- und Missbrauchtheorie bewusst und eindeutig im Sinne der Missbrauchstheorie gelöst.29 Daran wird seither festgehalten, obwohl in Deutschland kurz darauf der geradezu gegenteilige Weg eingeschlagen wurde: 1933, bereits unter der Macht der Nationalsozialisten, wurden dort bekanntlich Missbrauch der Vertretungsmacht und Treuebruch in den Untreuetatbestand (§ 266 RStGB)30 aufgenommen, der damit seine heutige Fassung (§ 266 dStGB) erhalten hat.
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BGBl 1931/365. Der Wortlaut wurde einem Strafgesetzentwurf aus 1927 entnommen (§ 348 Abs. 1 dieses Entwurfs). Nacherzählt bei Schramm Untreue und Konsens, Berlin 2005, 43 f; zur Geschichte des österreichischen Tatbestandes Huber Der Einfluss des Gesellschaftsrechts auf die Organuntreue zu Lasten von Kapitalgesellschaften, Wien 2010, im Druck. Kadecka Untreue und Missbrauch der Amtsgewalt, JBl 1036, 133, 134. RGBl 1933 I, 295.
Untreue im Rechtsvergleich: Überlegenheit des Missbrauchskonzepts?
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Schweiz – Treuebruchsvariante im Zentrum Deutschland steht mit dieser Entwicklung keineswegs alleine. Unter dem Titel „ungetreue Geschäftsbesorgung“ werden auch in der Schweiz beide Handlungsweisen – Treuebruch und Missbrauch einer Vertretungsmacht – mit Strafe bedroht. Nach Art. 158 Ziff. 1 chStGB ist strafbar, „wer damit betraut ist, Vermögen eines andern zu verwalten oder eine solche Vermögensverwaltung auch nur zu beaufsichtigen, und dabei unter Verletzung seiner [nicht näher beschriebenen] Pflichten bewirkt [nicht näher beschrieben, wodurch] oder auch nur zulässt, dass der andere am Vermögen geschädigt wird“. Ziff. 2 ist mit dem österreichischen Tatbestand (§ 153 öStGB) insofern deckungsgleich, als er den strafbaren Missbrauch einer „Ermächtigung, jemanden zu vertreten“ erfasst. Im Gegensatz zum öStGB enthält er aber außerdem ein Korrektiv auf subjektiver Ebene: die Einschränkung auf Bereicherungsabsicht. Die Gesetzgebungsgeschichte hebt sich allerdings vom deutschen Zugang entscheidend ab. So steht in der Schweiz der Treuebruchstatbestand eindeutig im Mittelpunkt. Bereits ab 1894 in Entwürfen zum chStGB zu finden,31 mag die althergebrachte (schweizerische) Vorstellung vom Aufbau eines Unternehmens hinter ihm stehen: Der Patron an der Spitze ist zur selbständigen Vermögensverwaltung eingesetzt – nur er ist es, der nach dieser Tradition eine allgemeine Vermögensfürsorgepflicht innehat. In den 1990er-Jahren hat sich diese Tradition jedoch überlebt. Die auf eine Person zugespitzte Unternehmensstruktur ist längst dem Prinzip der Delegierung gewichen: Unternehmerische Entscheidungen fallen (auch) durch Vertretungsbefugte. Das hat (erst) 1995 dazu geführt, die Tatbestandsvariante des Missbrauchs einer solchen Vertretungsbefugnis einzuführen. Eine überdehnte Anwendung des Treuebruchstatbestandes auf untere hierarchische Ebenen sollte auf diese Weise vermieden werden.32 Dass der Treuebruchstatbestand trotz seines unbestimmten Wortlauts zu eng geworden ist, hängt mit seiner in Praxis und Lehre vorgenommenen Präzisierung zusammen. Es sind zwar tatsächliche und rechtliche Verfügungen sowie Unterlassungen gleichermaßen erfasst.33 Als Täter kommt jedoch nur in Frage, wer in „tatsächlich oder formell selbständiger und verantwortlicher Stellung im Interesse eines anderen für einen nicht unerheblichen Vermögenskomplex zu sorgen 31
32 33
Niggli Art. 158 Rn. 5, in Niggli/Wiprächtiger, Basler Kommentar Strafrecht II, 2. Auflage, Basel 2007. Botschaft 91.032 vom 24. 4. 1991, 79. Niggli Art. 158 Rn. 109, in Niggli/Wiprächtiger, Basler Kommentar Strafrecht II, 2. Auflage, Basel 2007.
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hat“.34 Dazu gehören vor allem die geschäftsführenden und die mit der Aufsicht über die Geschäftsführung betrauten Organe von Gesellschaften. Untergeordnete Aufgaben wie Buchhaltung oder Beratung des Geschäftsführers vermitteln demgegenüber keine Treuepflicht; nicht einmal Mitglieder einer Geschäftsleitung, die für eine Kreditvergabe die Genehmigung des Aufsichtsrats brauchen, verfügen über das erforderliche Maß an Selbständigkeit.35 Die zuletzt genannten Personen sind nicht selbständig, sondern führen Aufträge aus. Nur, wenn sie in Verbindung damit über die Macht verfügen, in fremden Namen Rechtsgeschäfte abzuschließen – nur dann können auch sie ungetreue Geschäftsbesorgung begehen: Nach Ziff. 2 des Art. 158 ist strafbar, wer seine Vertretungsmacht missbraucht und den Vertretenen dadurch am Vermögen schädigt. Rein faktisches Verhalten ist nicht erfasst, jedenfalls nicht unter Art. 158 Ziff. 2 chStGB, und eine Begehung durch Unterlassen ist bei dieser Tatbestandsvariante ausgeschlossen. Nordeuropa – Treuebruchsmodell vorherrschend Dem schwedischen, finnischen und dänischen Zugang36 ist gemeinsam, dass sie einem umfassenden Modell folgen. Untreue nach dem finnischen Strafgesetz (Kap. 36 § 5 Rikoslaki) begeht, wer die Aufgabe hat, die wirtschaftlichen oder rechtlichen Angelegenheiten eines anderen zu besorgen, die damit verbundene Vertrauensstellung missbraucht und dadurch dem Auftraggeber einen Schaden zufügt. Ein solcher Vertrauensmissbrauch kann in einer rechtswidrigen Maßnahme oder in einem Versäumnis liegen; Vertretungsmacht ist keine Voraussetzung. In Schweden und Dänemark ist die aus dem deutschen und schweizerischen Recht bekannte Zweiteilung des Tatbestandes zu finden. Sowohl der dänische (§ 280 Straffeloven) als auch der schwedische (Kap. 10 § 6 Brottsbalken) Miss-
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Bundesgericht, Kassationshof in Strafsachen vom 2. 3. 2000, 6S. 604/1999. Wie Fn. 34; dazu Niggli Art. 158 Rn. 10 ff, in Niggli/Wiprächtiger, Basler Kommentar Strafrecht II, 2. Auflage, Basel 2007. Die deutschen Fassungen der einschlägigen Gesetzesstellen sind entnommen: Cornils/Frände/Matikkala Das finnische Strafgesetz – Rikoslaki – Strafflag, dreisprachige Ausgabe, Sammlung ausländischer Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, Berlin, 2006; Cornils/Greve Das dänische Strafgesetz – Straffeloven, zweisprachige Ausgabe, 3. Auflage, Sammlung ausländischer Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung. Berlin 2009; Cornils/Jareborg Das schwedische Kriminalgesetzbuch – Brottsbalken, zweisprachige Ausgabe, Sammlung ausländischer Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, Freiburg 2000. Ich danke Frau Karin Cornils, MPI Freiburg iBr. für die Zusendung und das Gespräch.
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brauchstatbestand ist auf den Missbrauch rechtlicher Vertretungsmacht reduziert, wie nach der deutschen und der schweizerischen Lösung wird er jedoch einer breit formulierten Begehung durch Vertrauensbruch (Schweden) bzw. durch ein Handeln gegen das Interesse seines Auftraggebers (Dänemark) gegenübergestellt. Diese Variante scheint in Schweden zentral zu sein. Der Täterkreis und die Handlungsbeschreibung gehen auffallend weit: Es ist jeder erfasst, der einen bestimmten Auftrag hat, für jemanden anderen eine wirtschaftliche oder rechtliche Angelegenheit zu besorgen oder eine qualifizierte technische Angelegenheit selbständig zu erledigen hat, und diesen Auftrag missbräuchlich – also unter Verletzung (irgend-) einer mit dem Auftrag verbundenen Pflicht – erledigt. Der Missbrauch der Vertretungsbefugnis ist im Auffangtatbestand erfasst. Dieser ist nur anwendbar, wenn die Befugnis außerhalb der Erfüllung eines bestimmten Auftrags pflichtwidrig eingesetzt wurde. Osteuropa – Treuebruchsmodell vorherrschend In Ungarn heißt es nach § 319 uStGB: „Wer mit der Verwaltung fremden Vermögens betraut wurde und durch Verletzung seiner daraus entstammenden Pflichten einen Vermögensverlust verursacht . . .“.37 Verwalten von Vermögen – das können durchaus auch faktische Handlungen sein. Immerhin aber wurde auf die Pflichten eines Vermögensverwalters und damit auf eine bestimmte Machtposition eingeschränkt; insofern ist der Tatbestand enger formuliert als § 266 dStGB, der dem Wortlaut nach jede „Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen“ und damit durchaus auch untergeordnete Tätigkeiten erfassen kann. Bei einer gesetzlich vorgesehenen Verwalterstellung genügt in Ungarn allerdings sogar fahrlässiges Verhalten: Es erfüllt den Tatbestand des „Nachlässigen Verwaltens“ nach § 320 uStGB. Das polnische Untreuestrafrecht geht insofern besonders weit, als nicht nur das Strafgesetzbuch die Tathandlung einigermaßen umfassend beschreibt (Art. 296 Kodeks karny), sondern das Handelsgesellschaftengesetzbuch zusätzlich eine gegen leitende Organe gerichtete Strafdrohung enthält (Art. 585 § 1). Unter dem Titel „Handeln zum Nachteil der Gesellschaft“ wird der Täterkreis zwar auf Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder, Mitglieder der Revisionskommission und Liquidatoren reduziert, doch bleibt diese Beschränkung die einzige: Erstens ist nicht einmal pflichtwidriges Handeln erforderlich, denn es genügt, wenn zum Nachteil der bestreffenden Gesellschaft gehandelt wird. Zweitens wird der Tatbestand als schlichtes Tätigkeitsdelikt
37
Ich danke herzlich Herrn András Csúri, zzt. MPI Freiburg iBr., für Übersetzung und Gespräch.
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gelesen. „Zum Nachteil handeln“ soll nämlich keinen tatsächlichen Schaden, sondern soll nur die Eignung einer Handlung, einen Schaden zu bewirken, zum Ausdruck bringen. Drittens gibt es auch auf subjektiver Ebene keine Zuspitzung. Die Lehre ist entsprechend kritisch.38
D.
Zwischenergebnis und Ausgangspunkt für die Anwendung
Jeder, der zumindest auf mittlerer Hierarchieebene in einem Unternehmen arbeitet, hat sich dazu verpflichtet, die Vermögensinteressen dieses Unternehmens bzw. die der Unternehmensinhaber wahrzunehmen. Seine Pflichten sind vor allem im Arbeits- und Gesellschaftsrecht geregelt. Unter dem Titel der Untreue oder der ungetreuen Geschäftsbesorgung wird ihre Einhaltung aber auch strafrechtlich geschützt. Strafrechtlicher Schutz ist in einer freiheitlichen Rechtsordnung allerdings nur subsidiär und erst als ultima ratio legitim, er ist fragmentarisch – auch in gegenüber dem Zivilrecht sekundären und damit zivilrechtlich vorbestimmten Materien wie der Untreue.39 Allein aus diesem Blickwinkel bedarf der Untreuetatbestand engere und präzisere Grenzen als die zivilrechtliche Verantwortung.40 In den untersuchten Rechtsordnungen sind sie allerdings tendenziell weit und wenig bestimmt. Das liegt zum einen daran, dass das Schutzziel der Untreue, das Vermögen, kein deutlich abgrenzbarer Gegenstand ist. Zum anderen erschwert vor allem das außerhalb von Österreich vorherrschende Treuebruchsmodell, strafbare gegenüber straflosen Pflichtverletzungen abzugrenzen. Mit ihm besteht die Gefahr, dass die in diesem Bereich notwendige Zivilrechtsakzessorietät des Strafrechts flächendeckend, also als hinreichende Bedingung für strafrechtliche Verantwortlichkeit verstanden wird.41 38
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Tosza Die Wirtschaftskrise und dogmatische Aspekte der Untreue aus rechtsvergleichender Sicht, Vortrag, MPI Freiburg iBr. 2.2010. Zu dieser Funktionsaufteilung zwischen Zivil- und Strafrecht Lüderssen Primäre oder sekundäre Zuständigkeit des Strafrechts? In FS Eser, München 2005, 163, 167 ff., passim. Ackermann Unternehmenszusammenbruch und Strafrecht – anspruchsvolle Schnittstellen, in Ackermann/Wohlers, Umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren in der Praxis, Zürich 2008, 57, 62 f. Statt eine „asymmetrische“ Akzessorietät des Strafrechts zu bewahren: so Lüderssen Primäre oder sekundäre Zuständigkeit des Strafrechts? In FS Eser, München 2005, 163, 170.
Untreue im Rechtsvergleich: Überlegenheit des Missbrauchskonzepts?
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Soweit zur Ausgangslage der großen Wirtschaftstraffälle unserer Gegenwart. Deren strafgerichtliche Aufarbeitungen interessieren im Folgenden: die Urteile zu Mannesmann und Siemens, in denen der BGH § 266 dStGB bejaht hat. Beide Entscheidungen wurden hinsichtlich der Auslegung der Untreue kritisiert. Würde das in Österreich gewählte Konzept, die strafbare Untreue auf den Missbrauch rechtlicher Vertretungsmacht zu beschränken, die genannten Fälle besser – klarer, aber auch gerechter – lösen?
E.
Fallbeurteilungen: Vorteile der Missbrauchstheorie?
1.
Siemens – Verwaltung schwarzer Kassen42
Die juristische Aufarbeitung des Skandals um die bei Siemens ans Licht gekommenen korrupten Geschäftspraktiken hat bekanntlich weit mehr Facetten, als die eine, die im Folgenden näher ausgeleuchtet wird. Diese betrifft den Untreuevorwurf, der in der Verwaltung von der Firmenleitung nicht deklarierten, der Firmenleitung daher laut bindender gerichtlicher Sachverhaltsfeststellung unbekannten und insofern „schwarzen“ Vermögenswerten liegt. Die spätere bestimmungsgemäße Verwendung der Gelder zu Bestechungszwecken wird in der Argumentation eine gewisse Rolle spielen, steht aber nicht im Zentrum. Nach den – hier verkürzt nacherzählten – Feststellungen war der Angeklagte K. als leitender Angestellter der Siemens AG, und zwar als Bereichsvorstand eines bestimmten Geschäftsbereichs, zum einen autorisiert, Zahlungen in unbegrenzter Höhe anzuweisen, zum anderen war er für die korrekte Verbuchung der zu seinem Bereich gehörenden Vermögenswerte zuständig. Bestimmte Vermögenswerte hat er allerdings nicht in der Buchhaltung aufscheinen lassen, sondern unter dem Namen anderer Unternehmen – nicht der Siemens AG – auf diversen Konten angelegt. Diese sollten für vorerst noch nicht näher bestimmte Bestechungen bereitgehalten werden, zu denen es zum Teil auch kam: Bestechungen mit dem Ziel, lukrative Aufträge für Siemens einzuhandeln, Aufträge, die als solche durchaus im endgültigen Nutzen der Firma lagen. Deren Organe wussten allerdings nichts über die Existenz des Geldes. 42
BGH, 29. 8. 2008, 2 StR 587/07, NStZ 2009, 95.
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Aus den Urteilsgründen lässt sich allerdings schließen, dass der Angeklagte K. jene verdeckten Kassen, die Gegenstand des Vorwurfs sind, zwar verwaltet, aber nicht selber angelegt hat: Zum Teil hat er sie „vorgefunden“,43 zum Teil wurden sie ihm von einem Vorgänger übergeben. Die ursprüngliche Transaktion der Gelder von Konten der Siemens AG auf Anlageformen unter dem Namen anderer Unternehmen – eine solche Transaktion muss es wohl irgendwann gegeben haben – wurde offensichtlich von jemand anderen als K. durchgeführt. Weder diese ursprünglich Transaktion selbst noch die abwickelnde Person werden im Urteil erwähnt. Unabhängig davon subsumiert der BGH das Verhalten des Angeklagten K. unter Untreue nach § 266 dStGB. Die Tathandlung, jedenfalls das „Schwergewicht der Pflichtwidrigkeit“ liege im Unterlassen des Verbuchens der Vermögenswerte: Es sei ein „Kernbereich der Vermögensbetreuungspflicht“ des Angeklagten gewesen, „seiner Arbeitgeberin bislang unbekannte, ihr zustehende Vermögenswerte . . . zu offenbaren und diese ordnungsgemäß zu verbuchen“ – was er nicht getan und diese Pflicht daher verletzt hat. Ob damit der Missbrauch rechtlicher Vertretungsmacht oder die Tatbildvariante des Treubruchs erfüllt ist, lässt die Entscheidung offen. Den Vermögensschaden erkennt der BGH darin, dass die Siemens AG auf die ihr verborgenen Vermögenswerte nicht zugreifen konnte. Sie seien ihr durch die pflichtwidrige Unterlassung daher entzogen worden, und zwar auf Dauer. Das Vorhaben, die betreffenden Mittel später zur Verbesserung der Auftragslage und insofern im Interesse der Treugeberin einzusetzen, ändert daran nichts. Zu dieser Lösung würden auch alle anderen Rechtsordnungen tendieren, in denen grundsätzlich jede Art von Treuepflichtverletzung unter Untreue fällt. Auch in der Schweiz wäre die erste und dort zentrale Variante von Art. 158 Ziff. 1 erfüllt, da der Angeklagte als Bereichsleiter wohl das für die Vermögensverwaltung von der Schweizer Judikatur geforderte hohe Maß an Selbständigkeit innehatte. Anders ist, wie oben ausgeführt,44 nur die Rechtslage in Österreich, nach der Untreue auf missbräuchliche Vertretungshandlungen beschränkt bleibt und zu einer differenzierteren Lösung führt als die Treuebruchsmodelle. Zu unwahren Angaben in der Buchhaltung hat der OGH jüngst festgestellt, dass darin kein rechtsgeschäftliches Handeln in fremden Namen und damit keine untreuspe43 44
BGH, wie Fn. 42, NStZ 2009, 97. Oben C.2. (Österreich – Tradition der Missbrauchstheorie).
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zifische Pflichtverletzung vorliegt.45 Verdeckte Kassen waren allerdings noch kein Gegenstand der Judikatur. Sie könnten durchaus tatbildlich sein – nur sind die dafür erforderlichen Voraussetzungen in der vorliegenden Konstellation nicht erfüllt. Erstens ist Verschweigen, auch pflichtwidriges Verschweigen der Existenz von Vermögenswerten keine Handlung in Vertretung des wirtschaftlich Berechtigten. Die Verletzung der Pflicht zur Information ist überhaupt kein rechtsgeschäftliches Verhalten. Es entfaltet keine die Treugeberin bindende Wirkung nach außen, es verschafft ihr, der Siemens AG, keine Verpflichtung, sondern verhindert bloß faktisch, dass die Siemens AG auf die betreffenden Gelder zugreifen kann. Der Schaden, der durch faktisches Handeln oder Unterlassen verursacht wird, ist nicht untreuespezifisch. Zweitens fällt auch keine derjenigen Transaktionen unter Untreue, die mit dem Verwalten oder gar mit der Verwendung der geheim gehaltenen Vermögenswerte verbunden ist. Deren Umbuchung auf andere Konten, die Umwandlung eines Nummern- in ein Wertpapierkonto oder das Auszahlen einer Bestechungssumme sind zwar Rechtshandlungen. Sie erfolgen allerdings zu einem Zeitpunkt, nachdem sie unter dem Namen anderer Unternehmen veranlagt und damit bereits aus dem Vermögen der Siemens AG ausgeschieden waren. Mit Um- oder Abschichtungen dieser Veranlagungen fügt K. der Siemens AG keinen (weiteren) Schaden zu. Eine Untreuehandlung könnte allein in dieser früheren, durch die deutschen Gerichte im Verfahren gegen K. aber gar nicht zur Sprache gebrachten Handlung liegen: im ursprünglichen Anlegen der verdeckten Kassen, indem die betreffenden Gelder von Siemens-Konten auf die Konten anderer Unternehmen transferiert wurden. Diese Buchungen mussten einst im Namen der Siemens AG vorgenommen worden sein; anders hätte man kein Kontengeflecht aus dem Vermögen der Siemens AG errichten können. Damit wurde jedenfalls eine Befugnis, über Vermögen von Siemens zu verfügen, im Sinn von § 153 öStGB missbraucht – vorausgesetzt, dass die Firmenleitung der Siemens AG in die damaligen Transaktionen nicht eingewilligt hat. Darüber gibt es verschiedene Mutmaßungen. Wenn K. auch an diesem Vorgehen beteiligt war – noch einmal: am Anlegen verdeckter Konten durch Transaktionen zu Lasten und im Namen der Siemens AG –, hätte er auch nach österreichischem Recht Untreue verwirklicht. Die Sachverhalts-Schilderung des BGH geht in eine andere Richtung. Sie lässt vermuten, dass K. bloß das bereits entzogene Vermögen verheimlicht und verwaltet hat.
45
OGH, 17. 2. 2009, 14 Os 186/08x, EvBl 2009/85.
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Wenn dieses Verheimlichen und Verwalten im Anschluss an die von anderen Personen begangene Untreue stattgefunden hat, könnte es allerdings unter Geldwäscherei (§ 165 öStGB) fallen: Die angesichts der wohl über 50.000 € liegenden Schadenssumme qualifizierte Untreue (§ 153 Abs. 2 Fall 2 öStGB) kommt als Vortat in Frage und die verschiedenen Verschleierungsaktionen als Geldwäschehandlungen. Immerhin ist aber der Strafrahmen einer wertqualifizierten Geldwäscherei (§ 165 Abs. 3 öStGB) nur halb so hoch wie die wegen wertqualifizierter Untreue drohende Strafe (§ 153 Abs. 2 Fall 2 öStGB: ein bis zehn Jahre Freiheitsstrafe bei einem 50.000 € übersteigenden Schaden). Soweit verdeckte Kassen im Übrigen nicht unter dem Namen anderer Unternehmen sondern unter dem Namen des Treuegebers errichtet werden, sind selbst diese Transaktion nicht als Untreue nach § 153 öStGB strafbar: Die Umschichtung als solche wird einem weitgehend selbständigen Bereichsvorstand, wie der Angeklagte K. es war, im Innenverhältnis durchaus erlaubt sein. Sie ist daher kein Missbrauch seiner Befugnis. Das anschließende Nicht-Aufnehmen dieser Konten in die offizielle Buchhaltung ist zwar pflichtwidrig – darin liegt aber keine Vertretungshandlung mehr, sondern ein faktisches Vorgehen, und Untreue scheidet ebenfalls aus. In der zuletzt gedachten Konstellation kommt allerdings ein anderer Straftatbestand in Frage: Veruntreuung nach § 133 öStGB. Die in einem bestimmten Geschäftsbereich unter dem Namen der Siemens AG geführten Konten sind dem Bereichsvorstand anvertraut46, und die Vertuschung ihrer Existenz lässt sich durchaus als Zueignung verstehen. Damit liegen die beiden Elemente des Tatbildes vor. Unter dem Blickwinkel der Veruntreuung wird schließlich die Widmung der verdeckten Kassen in die Beurteilung mit einbezogen. Bei auf Bestechung ausgerichteten Kassen wäre der erforderliche Vorsatz, sich oder einen Dritten durch die unrechtmäßige Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, gegeben. Wer aber Gelder nur deswegen verheimlicht, um später damit eine feindliche Übernahme des Unternehmens verhindern zu können, wäre mangels Bereicherungsvorsatz straflos. Fazit. Mit einem auf den Missbrauch von Vertretungsmacht reduzierten Tatbild der Untreue hätte der hier diskutierte Teil des Siemens-Skandals anders und zwar differenzierter gelöst werden müssen. Straflosigkeit des angeklagten K. wäre damit nicht unbedingt verbunden gewesen. Das Gericht hätte aber einige Fakten erheben müssen, die über die dem BGH-Urteil zugrunde
46
In Österreich wird auch Buchgeld als Gut, das veruntreut werden kann, angesehen: Lewisch Strafrecht, Besonderer Teil I, 2. Auflage, Wien 1999.
Untreue im Rechtsvergleich: Überlegenheit des Missbrauchskonzepts?
1 73
liegenden hinausgehen. Insbesondere hätte in Österreich die Untreuequalität der ursprünglichen Transaktion der Gelder aus den der Siemens AG zugeordneten Konten nachgewiesen werden müssen. Für K. hätte dies eine Verurteilung wegen Geldwäscherei, nicht aber wegen Untreue zur Folge haben können.
2.
Mannesmann – nicht geschuldete nachträgliche Sonderzahlungen für geschuldete Leistungen47
Dem Urteil liegt im Kern zugrunde, dass die angeklagten Mitglieder des Aufsichtsratsausschusses für Vorstandsangelegenheiten (Präsidium) der früheren Mannesmann-AG kurz nach einer Übernahmeentscheidung dieser AG durch Vodafone beschlossen haben, an bestimmte Vorstandsmitglieder Sonderzahlungen in der Höhe von insgesamt etwa 30 Mio € auszuzahlen – zusätzlich zu deren ohnehin äußerst hohen Abfindungen. Diese „Anerkennungsprämien für in der Vergangenheit erbrachte besondere Leistungen“ waren weder vertraglich geschuldet noch von irgendeinem Nutzen für die Mannesmann-AG, der Treugeberin: Sie waren nicht geeignet, das Ansehen der Mannesmann AG in der Öffentlichkeit zu fördern, kein Ansporn für aktive oder zukünftige Führungskräfte, kein Motiv für die Begünstigten, sich weiter an das Unternehmen zu binden – und all das war den angeklagten Präsidiumsmitgliedern bekannt. Der BGH hob die Freisprüche des Erstgerichts48 auf. Zwar sei „nicht jede Vergütungsentscheidungen des Präsidiums, die im Ergebnis zu einer Schädigung der Aktiengesellschaft führt“ als Pflichtverletzung und daher als Untreue zu beurteilen, viel mehr bestehe diesbezüglich ein „weiter Beurteilungs- und Ermessensspielraum“.49 Prämien allerdings, die wie die vorliegenden ohne Aussicht auf irgendeine Art einer Kompensation verbunden sind, die also keine einzige für das Unternehmen günstige Auswirkung erwarten lassen, dürfen nicht zugesprochen werden.50 Mit der Missachtung dieses Verbots,
47 48
49 50
BGH, 21. 12. 2005, 3 StR 470/04, NJW 2006, 522. LG Düsseldorf, 22. 7. 2004, XIV 5/03, NJW 2004, 3275; das Verfahren endete bekanntlich mit einer Einstellung unter Auflagen in der Höhe von insgesamt 5,8 Mio. BGH, 21. 12. 2005, 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 Rn. 15 Punkt aa). Vgl. das Bezirksgericht Bülach (Schweiz) zu einer anderen spektakulären Wirtschaftsstrafsache, dem Zusammenbruch der Swissair 2001: Dem Geschäftsführer sei generell verboten „die Gesellschaft zu einer Leistung zu verpflichten, welcher keine adäquate Gegenleistung gegenübersteht“: Urteil vom 4. 6. 2007 in Sachen Leuenberger, Erwägung 8.
174
Ingeborg Zerbes
so der BGH, haben die angeklagten Präsidiumsmitglieder ihre Vermögensbetreuungspflicht verletzt und dadurch der Mannesmann AG einen Schaden in der Höhe der gezahlten Prämien zugefügt. Die somit als pflichtwidrig erkannte Vergütungsentscheidung der Angeklagten fiel allerdings zu einem Zeitpunkt, als der Abwehrkampf der Mannesmann AG zu Ende war und die Übernahme durch Vodafone sowie die Übernahmebedingungen so gut wie unverrückbar waren. Vodafone, zu diesem Zeitpunkt erst Mehrheitsaktionär in spe, stimmte den Prämien nachträglich zu; ausgezahlt wurden sie schließlich erst nach vollzogener Übernahme – als Vodafone 98,66% des Grundkapitals hielt. In den kritischen Reaktionen auf das Urteil wird dem BGH daher einerseits vorgeworfen, dass er mangels Hauptversammlungsbeschluss der Mannesmann AG ein Einverständnis des Vermögensinhabers abgelehnt hat, ohne diese zuletzt nacherzählte Chronologie tatbestandsausschließend zu würdigen.51 Denn erst als Vodafone ihrer zuvor gegebenen Zustimmung entsprechend die Prämien auszahlt, tritt der eigentliche Vermögensschaden ein. Dass ihre 98,66% der Aktien nicht genügen, sondern für diese Entscheidung die Zustimmung aller Aktionäre erforderlich sein soll, wird mit plausiblen aktienrechtlichen Argumenten in Frage gestellt.52 Selbst wenn es so wäre: Mit ihrer Bewilligung haben die Angeklagten erst eine Vermögensgefährdung verursacht.53 Ob dabei die vom BGH54 später entwickelten engen subjektiven Voraussetzungen vorliegen, ist äußert zweifelhaft.55 Zweitens ist die Feststellung, dass die Präsidiumsmitglieder ihre Vermögensbetreuungspflicht tatsächlich verletzt haben, zwar beim ersten Lesen überzeugend: „Verschwendung“56 von Gesellschaftsvermögen – das kann doch nicht erlaubt sein. Aktienrechtlich ist das jedoch nicht so einfach zu bestätigen.57 51
52
53
54
55
56 57
Bernsmann Alles Untreue? Skizzen zu Problemen der Untreue nach § 266 StGB, GA 2007, 219, 221 f; Ransiek Anerkennungsprämien und Untreue – das MannesmannUrteil des BGH, NJW 2006, 814, 815. Ransiek Anerkennungsprämien und Untreue – das Mannesmann-Urteil des BGH, NJW 2006, 814, 815. Bernsmann Alles Untreue? Skizzen zu Problemen der Untreue nach § 266 StGB, GA 2007, 219, 221. BGH, 18. 10. 2006, 2 StR 499/05 (Rn. 63), NJW 2007, 1760, Anm. Ransiek NJW 2007, 1727, Anm. Perron NStZ 2008, 517. Bernsmann Alles Untreue? Skizzen zu Problemen der Untreue nach § 266 StGB, GA 2007, 219, 221 f. BGH, 21. 12. 2005, 3 StR 470/04, NJW 2006, 522 Rn. 19 Punkt 3). Zweifelnd Ransiek Anerkennungsprämien und Untreue – das Mannesmann-Urteil des BGH, NJW 2006, 814, 815.
Untreue im Rechtsvergleich: Überlegenheit des Missbrauchskonzepts?
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Immerhin ist der Aufsichtsrat zuständig, die Vergütung des Vorstandes zu bestimmen. Dabei besteht laut § 87 des dAktienG nur die Grenze der Angemessenheit im Bezug auf die „Aufgaben und Leistungen des Vorstandsmitglieds sowie zur Lage der Gesellschaft“; außerdem darf die „übliche Vergütung“ nur aus besonderen Gründe überstiegen werden. Sehr konkret ist das nicht. Es müssten die Gesamtleistungen der Vorstandsmitglieder einbezogen werden, auch jene im vorangegangenen Abwehrkampf. Zum Zeitpunkt der Zuerkennung der Prämien war die Lage von Mannesmann bereits gesichert, denn die Übernahmebedingungen waren beschlossen. Bis zu welcher Höhe in dieser Situation des Unternehmens Sondervergütungen vertretbar waren, lässt sich hier nicht abschließend feststellen. Würde eine Einschränkung auf ein Missbrauchskonzept klarere Lösungen bieten? – Nein, denn die Präsidiumsmitglieder haben ihre Entscheidung in jener Handlungsform getroffen, die dem Missbrauchskonzept, jedenfalls dem hier angewendeten Missbrauchskonzept nach § 153 öStGB, entspricht: Sie bestimmen die Prämien im Namen ihres Dienstgebers, der Mannesmann AG. Die skizzierten Probleme bleiben daher dieselben: Aus dem Aktienrecht ist erstens herzuleiten, durch welche Organe und nach welchen Mehrheitserfordernissen ein Einverständnis der geschädigten Gesellschaft zustande kommt. Zweitens muss geprüft werden, ob der Einsatz einer Befugnis tatsächlich ihr Missbrauch ist: ob die getroffene Entscheidung, die im Außenverhältnis bindet, im Innenverhältnis verboten war. Auch das ist eine aktienrechtliche Frage – und sie wird in Österreich genauso rudimentär gelöst wie in Deutschland. Das öAktienG (§ 78) gibt einen äußerst weitgehenden Ermessensspielraum für derartige Geschäfte: Mehr als ein „angemessene[s] Verhältnis“ zwischen Gesamtbezügen der Vorstandsmitglieder zu ihren Aufgaben und zur Lage der Gesellschaft wird auch in Österreich nicht festgelegt. Fazit aus den Überlegungen zur Mannesmann-Entscheidung ist, dass auch ein auf den Missbrauch von Vertretungsmacht eingeschränkter Tatbestand wesentliche Grenzen offen lässt. Die Mitglieder von Aufsichtsrat und Vorstand einer AG handeln, wie alle Vertreter einer juristischen Person, regelmäßig im Namen der Gesellschaft – dazu wurden sie schließlich eingesetzt. Welche Bindungen ihnen im Innenverhältnis auferlegt werden, kann nur aus dem Gesellschaftsrecht beantwortet werden. Soweit dessen Antworten nicht klar sind, soweit es kaum oder nur so diffuse Grenzen wie die Angemessenheit einer unternehmerischen Entscheidung festlegt – soweit bleibt das darauf aufbauende Strafrecht unterbestimmt.
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F.
Ingeborg Zerbes
Schlussbemerkung
Um die eingangs gestellte Frage58 nach der Rolle der Untreue im Dilemma Wirtschaftsstrafrechts zu beantworten: Die unvermeidbare Akzessorietät zu einem ausgesprochen wenig konkretisierten Bereich des Zivilrechts macht die Anwendung des Untreuetatbestandes in manchen Fällen geradezu beliebig. Das erste der benannten Probleme59 ist eingetreten – bei wirtschaftlichen Abläufen in hochkomplex strukturierten Konzernen lässt sich aus dem Deliktstypus der Untreue, einst für das Überschreiten einigermaßen klar bestimmbarer Aufträge formuliert, nicht mehr ableiten, was strafbares Unrecht ist. Das gilt für sämtliche in die vorliegenden Überlegungen einbezogenen Strafrechtsordnungen. Was fehlt? Die Einschränkung der vorherrschenden und weit gefassten Anknüpfung an die Verletzung von Vermögensbetreuungspflichten auf pflichtwidrige Vertretungshandlungen bringt für manche Fälle eine gewisse Trennschärfe. Auch sie erspart aber nicht, die Pflichten einer zur Vertretung nach außen befugten Person festzulegen: arbeits- und zivilrechtlich festzulegen. Soweit die Grenzen einer Befugnis aus dem Innenverhältnis offen sind, ist auch ein Missbrauchskonzept offen. Auf der diesem Band zugrundeliegenden Tagung wurde auch die Ansicht geäußert, dass das Zivilsrecht gar nicht für scharfe Konturen sorgen kann und soll, sondern ein flexibel auf Fehlentwicklungen reagierendes Wirtschaftsstrafrecht modern und angebracht ist. – Das kann nicht stimmen: Strafrecht, insbesondere das Wirtschaftsstrafrecht, hat insofern keine wertlenkende Funktion, als es regelmäßig an eine in anderen Rechtsgebieten getroffene Entscheidung über Recht und Unrecht anknüpft.60 Wo es keine gesellschaftliche Einigung gibt, die so klar ist, dass sie sich als präzises Verbot formulieren lässt, ist Strafrecht fehl am Platz. Den „Regulierungsbedarf“, der im Bereich der Wirtschaft evident ist, kann „das Strafrecht per definitionem nicht erfüllen“61. Die Strafbarkeit wegen Untreue wird daher solange unterbestimmt bleiben, bis die dahinterstehenden Pflichten zivilrechtlich konkretisiert werden62. 58 59 60
61
62
Oben A. (Postmodernes Wirtschaftsstrafrecht). Oben A. (Postmodernes Wirtschaftsstrafrecht unter Punkt 1). Lüderssen Primäre oder sekundäre Zuständigkeit des Strafrechts? In FS Eser, München 2005, 163 passim; Achenbach Strafrecht als Mittel der Wirtschaftslenkung, ZStW 2008, 289. Prittwitz Perfektionierte Kontrolldichte und rechtsstaatliches Strafrecht, in Beulke/Lüderssen/Popp/Wittig, Das Dilemma des rechtsstaatlichen Strafrechts: Symposium für Bernhard Haffke, Passau 2009, 185, 193. Huber Der Einfluss des Gesellschaftsrechts auf die Organuntreue zu Lasten von Kapitalgesellschaften, Einleitung, passim, Wien 2010, im Druck.
Risikomanagement und objektive Zurechnung
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Risikomanagement und objektive Zurechnung Risikomanagement und objektive Zurechnung Gunther Arzt
Gunther Arzt Gliederung I. Finanzmarktkrise und der Korruptionsfall Siemens II. Untreue und AT 1. Treue als unbestimmtes Konzept 2. Konzentration auf den AT (Pflicht zum Risiko; Einwilligung ins Risiko; vielleicht verbotenes Risiko) III. Für oder gegen – Zurechnung bei juristischen Personen IV. Compliance – Brave neue Welt V. Fazit
I.
Finanzmarktkrise und der Korruptionsfall Siemens
Ich freue mich, vor einem so sachverständigen Publikum über Untreue, insbesondere Zurechnungsfragen, sprechen zu können. In tatsächlicher Hinsicht lehne ich mich im Folgenden mehr oder weniger eng an den Fall Siemens1 an,
1
Eingehend (auch zu den USA-Verfahren) Arzt Siemens: Vom größten zum lukrativsten Kriminalfall der deutschen Geschichte, in FS Stöckel 2010 S. 15 ff.; vgl. auch Pohlmann (in diesem Band). Zur Einordnung der US-Verfahren gegen Siemens in andere amerikanische Fälle Pilchen, The Risks and Rewards of International Transactions Involving US Assets and Funds. . . in Ackermann/Wohlers (Hrsg.), Finanzmarkt ausser Kontrolle? Selbstregulierung – Aufsichtsrecht – Strafrecht, Zürich etc. 2009 S. 93 ff. (speziell zur Korruption S. 136 ff.); vgl. auch Wessing (wie Fn. 25). Da ich mich im folgenden Vortrag an den Sachverhalt „Siemens“ nur anlehne, verweise ich zu BGHSt 52, 323 (schwarze Kasse bei Siemens als Untreue) nur auf Fischer (in diesem Band); Kempf „Schwarze Kassen“: Effektiver Schaden FS Volk 2009 S. 231 ff. (vgl. auch Kempf, Bestechende Untreue? FS Hamm 2008, S. 255 ff.) und die Kontroverse in Strafo 2008 (Fischer S. 269/Nack S. 277). Angesichts der Diskussion nach den Vorträgen von Fischer und mir merke ich auch hier an, dass ich weder in den Fall Siemens noch in andere § 266-Verfahren involviert war.
178
Gunther Arzt
also durch schwarze Kassen (oder sonst!) verdeckte Zahlungen von Schmiergeld, Bestechungsgeld oder die kaschierte Erfüllung von erpresserischen Forderungen, z. B. nach Schutzgeld oder Beraterhonorar für dubiose Mittelsmänner. Auf den ersten Blick hat die Korruptionsaffäre Siemens mit dem Thema der Finanzmarktkrise, das im Zentrum dieser Tagung steht, wenig gemeinsam. Mit § 266 StGB ist zwar der „Aufhänger“ gleich, doch scheint dies mehr oder weniger zufällig zu sein. Bei genauerem Zusehen wird rasch deutlich, dass es kein Spezifikum des Finanzsektors ist, wenn problematische Risiken eingegangen werden, weil die Konkurrenten es auch tun und die Firma mitsamt ihrer Manager eine Zeit lang profitiert. Auch in der „Realwirtschaft“ gibt es Firmen „too big to fail“. Mit Siemens stand fast über Nacht ein solches Großunternehmen vor einem Kollaps mit unübersehbaren Folgen. Auf weitere Parallelen zwischen Finanzmarktkrise und Siemens komme ich am Ende meines Beitrags zurück, insbesondere auf die Rolle der staatlichen Aufsichtsbehörden und der innerbetrieblichen Compliance-Bürokratie.
II.
Untreue und AT
1.
Treue als unbestimmtes Konzept
Treue ist tendenziell ein umfassendes und zugleich unbestimmtes Konzept, nicht zuletzt wegen des impliziten Appells an moralische Wertungen. Diesen Geburtsfehler des § 266 hat Hellmuth Mayer 1954 auf die Formel gebracht: „Das totale Vermögensstrafrecht liegt also auf dem Wege zum totalen Staat“.2 In der weiteren Entwicklung hat das (meiner Ansicht nach wesentlich dem BGH anzulastende) Einreißen der Barriere zwischen Missbrauchs- und Treubruchstatbestand3 zur Verschlimmerung der Unschärfe beigetragen. Heute wird die durch „Kontrolldichte“ gegenüber unternehmerischen Entschei-
2 3
H. Mayer Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. 1, Bonn 1954, S. 339. BGHSt 24, 386 (1972); Details bei Arzt Zur Untreue durch befugtes Handeln, FS Bruns 1978 S. 365. Nach meiner extrem bitteren Rezension (JZ 1981, 413) der Lieferung des LK (10. Aufl.) mit der Kommentierung des § 266 durch den Präsidenten des zuständigen Senats (Hübner) habe ich mich fast 30 Jahre nicht mehr zu diesem Thema geäußert. Der Kontext zwischen der damaligen Kontroverse und dem heutigen Streitstand wird in LK (11. Aufl.)-Schünemann § 266 N 32 ff. deutlich; vgl. auch Arzt/Weber-Weber Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009 § 22 N 68, 79.
Risikomanagement und objektive Zurechnung
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dungen entstandene Kasuistik zu § 266 als „Dschungelbuch“ (Volk)4 bezeichnet. „Ist ein Risikogeschäft Gegenstand der Anklage, so wird die Anklage selbst zum Risikogeschäft“ (Nack).5 Werde gegen einen Entscheidungsträger aus der Wirtschaft wegen einer unternehmerischen Entscheidung Anklage nach § 266 erhoben, liege sein „Schicksal im Schoß der Götter . . . Rechtssicherheit als Illusion“ (Beulke).6 Bei aller Sympathie für Kritik an dieser Rechtsunsicherheit ist daran zu erinnern, dass kaum je die Restriktion eines Tatbestandes mit einem gleichzeitigen Gewinn an Bestimmtheit erreichbar ist und dass die allein in den letzten 2–3 Jahren zu registrierende bemerkenswerte Fülle an Äußerungen zu § 266 die Rechtsunsicherheit noch gesteigert hat. Für meinen heutigen Beitrag habe ich mir auch deshalb eine radikale Beschränkung auf einen schmalen Ausschnitt vorgenommen.
2.
Konzentration auf den AT (Pflicht zum Risiko; Einwilligung ins Risiko; vielleicht verbotenes Risiko)
§ 266 ist über den Gefährdungsschaden, also über das Risiko, in ganz eigentümlicher Weise mit dem AT verknüpft. Das betrifft zunächst das Einverständnis des (angeblichen) Opfers. Hier liegt einer der ganz seltenen Fälle vor, in denen sich eine von mir befürwortete Vereinfachung durchgesetzt hat, nämlich Lösung statt via Risikogeschäft simpel über den subjektiven „Einschlag“ beim Vermögens- und Schadensbegriff.7 Vereinfachungsideen stoßen in unserem Wissenschaftsbetrieb so selten auf Sympathie, dass man versucht ist, sie sich abzugewöhnen. Der Zusammenhang mit Vorsatzfragen ist denn auch komplexer. Wer fremdes Vermögen zu betreuen hat, handelt selbstverständlich pflichtwidrig, wenn er es absichtlich schädigt. Ebenso selbstverständlich fällt das Eingehen eines Risikos für das betreute Vermögen nicht mit Pflichtwidrigkeit zusammen, auch wenn das Risiko sich zu einer definitiven Schädi-
4 5
6
7
Volk FS Hamm 2008, S. 803. Nack in Müller-Gugenberger/Bieneck (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 66 N 4. Beulke FS Eisenberg 2009, S. 245 ff., 247, ebenda S. 262 „der inflationäre Rückgriff der Rspr. auf die Rechtsfigur der schadensgleichen Vermögensgefährdung ist die wohl bedauernswerteste Fehlentwicklung der Rspr. in den letzten Jahrzehnten“. Arzt FS Bruns (wie Fn. 2) 376 f.; weiterführend Hillenkamp NStZ 1981, 161, seitdem h. L., vgl. z. B. Feigen Untreue durch Kreditvergabe, FS Rudolphi 2004, S. 445, 447. – Zum Einverständnis einer juristischen Person in ein Geschäft, dessen Risiko in Unmoral oder Illegalität liegt, unten V.
180
Gunther Arzt
gung auswächst.8 Riskantes Handeln gehört zu den zentralen Pflichten eines Managers. Bei der strafrechtlichen Erfassung des Risikos stehen wir deshalb bei § 266 vor ganz anderen Herausforderungen als sonst bei Vermögensdelikten, z. B. beim Betrug. Zwar wird auch bei § 263 die Vermögensgefährdung thematisiert, doch geht es dabei meist nur um die Schwelle zwischen Versuch und Vollendung oder zwischen bewusster Fahrlässigkeit und dolus eventualis.9 Würde man bei § 266 den auf die Schädigung bezogenen dolus aus der bewussten Inkaufnahme der Verwirklichung des eingegangenen Risikos folgern (wie es beim Betrug die Regel ist und zudem durch die AT-Definitionen des dolus eventualis suggeriert wird), hätte man die schon für die Fahrlässigkeit zentrale Frage nach dem erlaubten Risiko übersprungen. Es ist der Fluch der vielen Theorien zum dolus eventualis, dass sie am Übergang von Fahrlässigkeit zu Vorsatz orientiert sind. Wo, wie bei § 266, ein Fahrlässigkeitstatbestand fehlt, ist die vorsätzliche Herbeiführung eines Risikos und die damit verbundene Inkaufnahme der Verwirklichung dieses Risikos irrelevant, so lange die (sonst schon im Rahmen der Fahrlässigkeit aufgeworfene und dort vorentschiedene) Frage der Angemessenheit des Risikos nicht geklärt ist.10 Es mag sein, dass die Leserinnen und Leser angesichts solcher Selbstverständlichkeiten ungeduldig werden (im mündlichen Vortrag habe ich Abschnitt II ganz übersprungen). Die praktische Relevanz solcher theoretischer Grundsatzfragen sollte freilich nicht unterschätzt werden. Liegt keine bewusste Fahrlässigkeit vor, wenn der Täter ein von ihm als erlaubt eingeschätztes Risiko eingeht, bedeutet das für § 266, dass bei als erlaubt angesehenen Risiken erst recht kein Schädigungsvorsatz gegeben sein kann. Bei einem entsprechenden Irrtum entfällt der Vorsatz,11 ohne dass es auf die Vermeidbarkeit dieses Irrtums ankommt (wie es der Fall wäre, wenn der Irrtum das Unrechtsbewusstsein betreffen würde). Ich vermute, dass etliche Untersuchungen gegen leichtsinnige Akteure im Finanzsektor schon im Frühstadium an dieser Hürde scheitern werden. Schließlich steckt im „Risiko“ (und der wirtschaftlichen Betrachtung des Vermögens) das Potential für eine Abkehr von (zulässi8
9 10
11
Ob Klagen über die Gleichsetzung der Schädigung mit Pflichtwidrigkeit (oder umgekehrt!) in diesem oder jenem Urteil begründet sind, ist eine andere Frage, vgl. Volk (wie Fn. 4) 805, 807 (Volk bezweifelt auch bei wissentlicher Schädigung die Gleichsetzung mit Pflichtwidrigkeit). Das Verbot ist bei § 263 schon in der Arglist angelegt. Zum Zusammenhang zwischen Unrechtsbewusstsein und bewusster Fahrlässigkeit Arzt Zum Verbotsirrtum beim Fahrlässigkeitsdelikt ZStW 91 (1979) 857 ff., 864 ff. Zum Risiko in Gestalt der Vornahme einer vielleicht verbotenen Handlung Arzt Dolus eventualis und Verzicht, FS Rudolphi 2004, S. 3 ff. Arzt/Weber-Weber BT (wie Fn. 3) § 22 N 69.
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ger!) Grenzmoral12 bis zur Umkehr des Grundsatzes in dubio pro reo.13 Die Wirtschaftsaufsicht erwartet, dass Unternehmen ihre Zuverlässigkeit gewährleisten. So wird die Unschuldsvermutung in eine Unschuldsgewährleistungspflicht verkehrt.14 Geht man von einer Pflicht zum Risiko aus, wird die Ambivalenz zwischen Erhöhung und Reduktion deutlich. Wo Risiken eingegangen werden müssen, kann man sich fast unendlich viele Detailpflichten zur Minimierung solcher Risiken ausdenken. Hier dürfte die Wurzel für die verbreiteten Klagen über die Unbestimmtheit des § 266 zu suchen sein.15 Schon das Zivilrecht bemüht sich um eine vernünftige Limitierung der Verantwortung der Entscheidungsträger, insbesondere durch objektive Maßstäbe („Unvertretbarkeit“ des Resultats; Verletzung einer „wichtigen“ Pflicht). Darin steckt ein Stück Wahrheit (zur nicht erreichten Rechtssicherheit oben II1). Der objektive Maßstab darf jedoch nicht erst (und nur) an das Ergebnis einer Entscheidung angelegt werden, sondern ist (wie bei Ermessensentscheidungen von Amtsträgern!) auch und schon an den Entscheidungsprozess anzulegen. Das Strafrecht ist frei, mit seiner Risikoanalyse über Stellvertretungsregeln des Zivilrechts hinaus zu gehen. Der Manager soll ein guter Netzwerker sein, aber vielleicht ist die Objektivität seiner Entscheidung schon gefährdet, wenn sein Vetter profitiert. Sicher fehlt diese Objektivität, wenn für den Entscheidungsträger ein Sondervorteil abfällt. Es ist bequem, den Kickback als solchen strafrechtlich zum „Aufhänger“ für § 266 zu machen. In Wahrheit geht es jedoch um die von der Aussicht auf diesen Sondervorteil getroffene Entscheidung.16 Ich habe den Eindruck, dass die vom persönlichen Bereich des Entscheidungsträgers ausgehenden Untreuerisiken derzeit noch unterschätzt werden. Bei einer fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr gehen wir vom Schadenseintritt aus (Terminologie bei § 222 und § 266 identisch) und fragen nicht nur nach einem Fahrfehler, sondern auch – in objektivierter Form – nach den subjektiven Qualitäten des Fahrers. Nicht nur als Teilnehmer am Straßenverkehr, 12
13 14 15
16
Lüderssen in Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, Berlin 2009, S. 241 ff., 296. Hamm (wie Fn. 12) S. 44 ff., 51. Arzt (wie Fn. 1) S. 24 ff. Über die wenigen Nachweise oben Fn. 4–6 hinaus vgl. (alle in FS Hamm 2008) Albrecht (S. 1); Ignov/Sättele (S. 211); Thomas (S. 767). Nachdem der Manager im Korruptionsstrafrecht quasi wie ein Amtsträger behandelt worden ist (vgl. Lüderssen FS Tiedemann 2008 S. 889), liegt es nahe, eine von ihm ermessensfehlerhaft getroffene Entscheidung als unangemessenes Risiko im Sinne auch des § 266 einzuordnen. Erfreulich ist diese Entwicklung nicht.
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sondern auch bei Entscheidungen im Finanzverkehr sollte der Manager in persönlicher Hinsicht verkehrstüchtig sein, also nicht angetrunken, nicht übermüdet, etc. Wie Trunkenheit beim Chauffeur im Straßenverkehr ist Euphorie im Geldverkehr hoch riskant. Im Straßenverkehr kann dem vom betrunkenen Autofahrer verletzten Fußgänger nicht entgegengehalten werden, in der fraglichen Nacht seien alle Autofahrer betrunken unterwegs gewesen. Ich will die Parallelen zum Finanzverkehr, wo zeitweilig alle Akteure mit irrational exuberance (Greenspan) unterwegs waren, nicht weiter verfolgen. Was die Risiken bei der Untreue angeht, werden die an Sonderfällen bei reinen Erfolgsdelikten entwickelten dogmatischen Figuren – vom hypothetischen Alternativverhalten bis zur Risikoerhöhungstheorie – für Normalfälle des § 266 relevant. Die „Operationalisierung“ der objektiven Zurechnung halte ich bei § 266 für schwierig. Lüderssen17 hat im Zeichen der objektiven Zurechnung im Kontext der Untreue nach dem spezifischen Zusammenhang zwischen Risikoschaffung und Schaden gefragt, unter Hinweis auf den alten Radfahrerfall BGHSt 11, 1. Zur objektiven Zurechnung gehört nach der herrschend gewordenen Ansicht die Trennlinie zwischen Opferverantwortung und Täterverantwortung.18 Diesem Teilbereich möchte ich mich zuwenden: Ist es nicht geradezu ein Charakteristikum der Finanzmarktkrise, dass weder Bank A die Bank B geschädigt hat, noch Bank A und/oder Bank B die Kreditausfallversicherung C, sondern A, B, C für ihre Verluste selbst verantwortlich sind? Kann diese Selbstverantwortung der juristischen Person wieder so in Fremdverantwortung aufgelöst werden, dass die juristische Person sich als Opfer eines ihrer Vertreter definiert?
17
18
Lüderssen in Kempf/Lüderssen/Volk (wie Fn. 12) 259 ff.; ders., FS Volk 2009 S. 346 ff., 357 ff. Auch was die Systemverantwortung betrifft (Lüderssen, StV 2009, 486), sehe ich zwischen Wirtschaft und Straßenverkehr Parallelen (Massendelinquenz kann nur mit billigen Mitteln untersucht und mit milden Sanktionen eingegrenzt werden). Die neuere Judikatur befasst sich mit diesem „Topos“ meist nicht im Kontext von Sachwerten sondern von Personwerten, etwa wenn eine Frau einen Mann anweist, sie in besonderer (lebensgefährlicher) Weise zu würgen (sexuelles Motiv). Ob die Lebensgefahr der Frau mit Hilfe des Mannes von ihr selbst quasi-täterschaftlich herbeigeführt wird – oder ob der Mann als Täter anzusehen ist und die Frau als Opfer, das vom Mann in Lebensgefahr gebracht wird, hängt davon ab, wem das Geschehen objektiv zuzurechnen ist, vgl. BGHSt 49, 166 mit Anm. Arzt JZ 2005, 103. Bei Sachwerten wird vor allem bei § 263 (und dort besonders bei der „Arglist“) mit Opferverantwortung argumentiert.
Risikomanagement und objektive Zurechnung
III.
1 83
Für oder gegen – Zurechnung bei juristischen Personen
Wir sind uns wohl darin einig, dass Strafrechtsdogmatik zu den einfachen Wissenschaftsbereichen gehört – freilich sollte man am Eingang ins System die Weichen richtig stellen und potentielle Täter sauber von potentiellen Opfern scheiden. Damit richtet sich der Blick auf die Besonderheit, dass eine juristische Person zwar völlig unproblematisch wie eine natürliche Person im Strafrechtssystem die Opferrolle bekleiden kann. Die Täterrolle ist dagegen für eine juristische Person strafrechtlich nicht vorgesehen,19 außer in peripherer Form im OWiG. Dass diese periphere Form – wie Siemens lehrt – teuer werden kann, ist schon eine andere Geschichte. Siemens ist im amerikanischen System, wo juristische Personen unproblematisch in die Täterrolle versetzt werden können, als Täter abgeurteilt worden. Für die USA war nie zweifelhaft, dass Siemens als beschuldigte juristische Person über das System schwarzer Kassen so informiert war, dass Siemens dieses System zugerechnet werden konnte. Derselbe Lebenssachverhalt ist in Deutschland mit Siemens in der Opferrolle abgeurteilt worden. Bei einer juristischen Person entsteht ein besonderes Zurechnungsproblem, wenn natürliche Personen in der Sphäre der juristischen Person für – und womöglich zugleich gegen – die Interessen der juristischen Person handeln. Diese elementare Schwierigkeit ist darauf zurück zu führen, dass einer juristischen Person – anders als einer natürlichen Person – zwingend ein Lippenbekenntnis zur Rechtstreue, Compliance abgefordert wird. Blicken wir kurz zurück: Bis 1975 konnte der Gewerbegehilfe, der für die Firma Diebesgut billig ankauft, nicht wegen Hehlerei bestraft werden, weil es an seiner Eigennützigkeit fehlte. Beihilfe zum eigennützigen Handeln des Firmeninhabers hätte entsprechende Anweisungen des Chefs als Täter erfordert (meist hatte der Chef solche Anweisungen gegeben, aber im Prozess gegen den Gewerbegehilfen war dies oft nicht nachweisbar). Die deshalb damals erfolgte Erweiterung der Hehlerei auf Fremdnützigkeit20 zeigt, dass der Gesetzgeber bei einer Firma, 19
20
Nicht äußern möchte ich mich über die Schaffung einer mehr oder weniger echten Strafbarkeit der juristischen Person. Die Schweiz hat einen Anlauf dazu unternommen und die juristische Person als Täterin fingiert – auch dort, wo sie Opfer ihrer Vertreter oder Mitarbeiter geworden ist. Daran ranken sich querelles Helvetiques, aus denen man immerhin lernen kann, dass man keine materiellrechtliche Lösung schaffen sollte, ohne sich die prozessualen Folgen eingehend überlegt zu haben. Arzt Fremdnützige Hehlerei, JA 1978, 574 (auch zur Untreue).
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wohl auch in Form einer juristischen Person, die Sicht des Täters geteilt hat: Der Gesetzgeber hat das Geschäft als fremdnützige Hehlerei betrachtet. Ob das Handeln eines Organs oder eines sonstigen Vertreters „für“ die juristische Person erfolgt und der juristischen Person zugerechnet wird, ist als Teilthema im Rahmen der objektiven Zurechnung zu begreifen. Über die Zurechnung der Handlungen von Gehilfen nach §§ 278, 831 BGB wird mit Hilfe der alten Formeln „bei Gelegenheit“ bzw. „in Ausführung“ geurteilt. Der Zusammenhang der fraglichen Handlung mit dem Geschäftszweck der juristischen Person (oder die Entfernung vom Geschäftszweck) spielt eine Rolle. Von Beginn an steckt in der Zurechnung von Rechtsverletzungen eine Ambivalenz. Die Lösung ist meiner Ansicht nach über die Intensität der Rechtsverletzung zu suchen: Eigentlich ist niemand befugt, namens der juristischen Person auch nur leichte Rechtsverletzungen vorzunehmen, etwa einen Vertrag zu brechen (auf die Zurechnung von Unterlassungen, z. B. Nichterfüllung, gehe ich nicht ein). So wünschenswert einer juristischen Person die Ausschaltung eines Wettbewerbers erscheinen mag – niemand ist befugt, Geld der juristischen Person für einen Schläger auszugeben, der den lästigen Wettbewerber verprügelt. Zu milderen Formen des unlauteren Wettbewerbs, z. B. Verleumdung, Bestechung oder Kartellabsprache, besteht kein prinzipieller, wohl aber ein gradueller – meiner Ansicht nach entscheidender! – Unterschied. Von der Anstellung einer Geliebten eines leitenden Angestellten (die für die Firma nichts leistet, doch wo ist der Nutzen anderer Statussymbole?)21 über die Versorgung von Parteigenossen durch einen Posten im öffentlichen Dienst (so Vorwürfe gegen den ehemaligen französischen Staatspräsidenten Chirac) bis hin zur Einstellung eigentlich nicht benötigten Personals in Entwicklungsländern (in der Hoffnung auf good will), es gibt unendlich viele graduelle Übergänge. Praktisch hat die Zuschanzung von Beraterverträgen eine besondere Bedeutung erlangt (auch, aber nicht erst im Fall Siemens!).22 Dass mit „Beratung“ demonstriert wird, wie ernst man sich eine Entscheidung macht, ändert nichts daran, dass hier eine schwer fassbare neue Form der Korruption entstanden ist. Die Frage, ob für oder gegen die juristische Person gehandelt wird, hängt – wie gesagt – vom Geschäftszweck des Unternehmens ab. Geht es um Vermö21
22
Als „Bonus“ für einen leitenden Angestellten mag ein Firmenwagen mit Chauffeur die juristische Person teurer kommen als die Geliebte. Trotzdem ist eine Geliebte als Statussymbol offiziell nicht vorgesehen, der Schaden deshalb durch Verzicht auf den Chauffeur nicht kompensierbar (juristischer Vermögensbegriff, anschließend im Text). Zur legalen Beraterkorruption Arzt Neue Wirtschaftsethik, neues Wirtschaftsstrafrecht, neue Korruption in FS Wiegand 2005, S. 739 ff., 757.
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gensvorteile, fragt sich, ob der juristischen Person angesichts ihres Compliance-Gelübdes ein radikaler juristischer Vermögensbegriff oktroyiert werden kann oder muss. Obwohl auch Ethikorganisationen ohne Geld nicht arbeiten können, halte ich eine rigoros wirtschaftliche Betrachtung des Vermögens bei einer nicht am Wirtschaftsverkehr teilnehmenden, ethisch aufgeladenen juristischen Person (von Kirchen über NGO’s bis hin zu deutschen Parteien) für verfehlt. Insofern ist es mit Blick auf den Normalfall des Wirtschaftsunternehmens unglücklich gelaufen, dass die Frage „für/gegen“ die juristische Person mit Präjudizien zu Sonderfällen (Sport und Partei) begonnen hat. Angesichts der Realität schwarzer Märkte fragt sich, wie ein großes Unternehmen sich in einer solchen Realität bewegen kann. Wie kann es einen unerlaubten wirtschaftlichen Vorteil erkaufen, wenn nicht durch Zahlung von Schmiergeld, Bestechungsgeld, Schutzgeld etc. über schwarze Kassen oder durch kaschierte Zahlungen (Beraterhonorar etc.) aus weißen Kassen? Wird schon die Auslagerung von Firmenvermögen in eine schwarze Kasse23 – trotz langer und für die Firma wirtschaftlich vorteilhafter Nutzung solcher Kassen – als Schaden betrachtet, bedeutet dies, dass man der Firma die schwarze Kasse nicht zurechnen will. In Wahrheit geht es um die Verhinderung von verbotenen Zahlungen, die für die Firma rein wirtschaftlich gesehen nützlich wären. Schon bei einer natürlichen Person ist „verdrängtes Wissen“ ein gängiges, strafrechtlich aber nur schwer fassbares Phänomen. Mit Blick auf ein Großunternehmen ist ein „nicht wissen Wollen“ der Vorgesetzten (Politik des plausible denial) bis hin zu Vorstand und Aufsichtsrat ein Standardthema der Compliance. Anders als „nolens-volens“, das wir als dolus eventualis zweistufig erfassen (Wissen um das Risiko; Wollen des Erfolgs als nächster Stufe) ist das Problem (nicht der „Wissenszurechnung“, sondern) was als zuzurechnendes Wissen „einstufig“ anzusehen ist, kaum erörtert. Kann man wirklich mit BGHSt 52, 323 sagen, da der Zentralvorstand nicht im Bild war, hat Siemens als juristische Person nicht um seine schwarzen Kassen gewusst? Selbst wenn man das Vermögen juristischer Personen dem juristischen Vermögensbegriff uneingeschränkt unterstellen würde, folgt daraus noch nicht, dass die juristische Person einen bei juristischer Betrachtung entstandenen Schaden offenbaren muss. Man kann die (praktisch wichtige!) Frage auch dahin formulieren, ob ein Manager „seiner“ juristischen Person Treue in dem Sinne schuldet, dass er eine wirtschaftlich vorteilhafte Verdeckung einer (mit oder ohne sein Zutun begangenen) Straftat vornehmen darf oder muss. Es 23
Vor dem Siemens-Urteil von Achenbach/Ransiek-Seier, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2004 Kap. V, Abschnitt 2, Rn. 181 als „verbreitet“ bezeichnet.
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kann ein „erhebliches Interesse der Gesellschaft daran bestehen, festgestellte Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten nicht publik zu machen“ (Cramer).24 Angestoßen vom Fall Siemens werden die in dieser Konstellation steckenden Loyalitätskonflikte auf verschiedenen Ebenen allmählich bewusst.25
IV.
Compliance – Brave neue Welt
Die Frage liegt nahe, was denn so schlimm daran wäre, wenn man in großen Unternehmen Rechtstreue durch eine juristische Betrachtung ihres Vermögens erzwingen würde. Was ist denn schlimm an der brave new world des totalen Rechtsgehorsams? Was ist falsch, wenn die juristische Person dank eingebauter Compliance gar keine ihr zurechenbare Straftaten begehen könnte, weil einschlägige Zahlungen – dank immer detaillierter werdender Buchführungsregeln – vor den Augen der juristischen Person versteckt werden müssen und damit nicht für sie vorgenommen werden können, sondern nur gegen sie? Die Antwort liegt in den Fernwirkungen der totalen Compliance: (1) Für den Staat erscheint die Verdrängung aller Firmen attraktiv, die der Compliancepflicht nicht unterliegen oder sich ihr ohne firmeninterne Risiken entziehen können, Einzelkaufleute, kleine Firmen. (2) Privatrechtlich betriebene Compliance und staatliche Überwachungsbürokratie werden sich gegenseitig (und international) hochschaukeln – eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Juristen. Das Anschwellen einer firmeninternen Bürokratie muss von den Kunden und Aktionären bezahlt werden. (3) Bedürfnisse, die mit totaler Compliance nicht oder nicht zu vernünftigen Preisen befriedigt werden können, werden in die Illegalität verdrängt; also auf parallele oder schwarze Märkte. 24
25
Cramer FS Stree/Wessels 1993 S. 583; vgl. dazu Lüderssen FS Lampe 2003 S. 727 ff., 728; Arzt wie Fn. 1 S. 28. Ob das auch für Compliance-Offiziere gilt, und ob das auch dann gilt, wenn die Gesellschaft sich und alle ihre Mitarbeiter zur Anzeige krimineller Machenschaften verpflichtet hat, wird uns meiner Meinung nach noch intensiv beschäftigen. „Alle lieben Whistleblowing“ Hefendehl FS Amelung 2009 S. 617. Zur arbeitsrechtlichen Problematik Sieg, FS Buchner 2009 S. 859 ff.; zur strafprozessrechtlichen Problematik Arzt FS Stöckel (wie Fn. 1) S. 27 ff. und Wessing Compliance FS Volk 2009 S. 867. Mit der Strafbarkeit der juristischen Person stellt sich auch die Frage nach strafloser Selbstbegünstigung, dazu schon Arzt JZ 2003, 456, 458 f. und eingehend Klaus Schneider Unternehmensstrafbarkeit zwischen Obstruktion und Kooperation . . . , Diss. Bern 2009 = Abhandlungen zum schweizerischen Recht, Heft 764.
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(4) Nicht nur die Verletzung strafrechtlicher Verbote, sondern auch die Verstöße gegen die (großen Unternehmen aufgenötigten!) Lippenbekenntnisse zur Erfüllung moralischer Maxima (Umweltstandards etc.) werden zu Angriffen gegen das Unternehmen. Wenn sich das Unternehmen besondere Standards auferlegt (z. B. nur ökologisch hergestellte Produkte einzukaufen), ist aus seiner subjektiven Vermögensbetrachtung eine auf dem Markt von seinem Vertreter günstig eingekaufte Ware, bei der die fraglichen Standards nicht (oder nicht in zertifizierter Form) erfüllt sind, das ausgegebene Geld nicht wert. § 266, wenn der Unternehmensvertreter in Kenntnis von „nicht-öko“ einkauft?26 (5) Je größer das Unternehmen, desto näher wird die ComplianceBürokratie an Orwell`s brave new world herankommen. Schon heute sind Treueschwüre (bitte schriftlich) verbreitet. V-Männer, Spitzel, Lockvögel, Whistle Blowers: Aufpasser in allen Variationen.
V.
Fazit
Mein Fazit lautet: (1) Wie im Zivilrecht ist auch im Strafrecht mit Hilfe eines quantitativen – und unsicheren! – Elements der Intensität der kriminellen Aktivität und des Ausmaßes der Entfernung vom Geschäftszweck des Unternehmens darüber zu entscheiden, welche Rechtsverletzung der juristischen Person zuzurechnen ist und damit für sie vorgenommen wird – und bei welcher Rechtsverletzung die juristische Person nicht als Täter, sondern als Opfer anzusehen ist. (2) Bei juristischen Personen des Wirtschaftsverkehrs gilt kein radikal juristischer Vermögensbegriff, d. h. bei kleinem Entdeckungsrisiko sind Vermögensvorteile, erreicht durch Noncompliance, für die juristische Person erzielt. Ausgaben für solche Geschäfte erfolgen für – nicht gegen – die juristische Person. Der Zwiespalt, dass die juristische Person sich mit solchen Risikogeschäften angesichts ihrer Satzung und Compliance-Organisation nicht offiziell einverstanden erklären kann,27 wäre nur über einen radikal juristischen Vermögensbegriff zu vermeiden. (4) In der Verschleierung solcher 26
27
Je ethischer sich die juristischen Personen gerieren, desto häufiger werden sich ihre Agenten vor Ort über solche Standards hinwegsetzen. Bei Menschen sind (eng zu definierende) Konzessionen an die subjektive Vermögensbetrachtung nötig. Wer koscher bestellt, ist durch Lieferung von nicht-koscher zum günstigen Marktpreis geschädigt, Arzt/Weber-Arzt BT (wie Fn. 3) § 20 Rn. 92 ff., 121. Zur Auflösung des wirtschaftlichen Vermögensbegriffs durch eine Flut kleiner Weltanschauungen Arzt Betrug mit bio und öko, FS Lampe 2003 S. 673 ff. Zum Einverständnis oben bei Fn. 7.
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Ausgaben für unmoralische, reputationsschädliche oder rechtswidrige Zwecke liegt keine Untreue, solange bei wirtschaftlicher Betrachtung das Unternehmen begünstigt wird. Wer mit BGHSt 52, 323 schon die Bildung einer schwarzen Kasse zwecks Vorbereitung von solchen, das Unternehmen wirtschaftlich begünstigenden Zahlungen der Strafbarkeit nach § 266 unterstellt, oktroyiert dem Unternehmen einen juristischen Vermögensbegriff. Die (notwendig verschleierte und organisierte!) Abwicklung von Schwarzmarkttransaktionen wird bis zu § 129 StGB hinauf katapultiert. (5) Die USA versuchen Noncompliance dadurch zu verhindern, dass sie mit ihrem korrupten (weil ganz auf die Interessen der Juristen zielenden) Rechtssystem schon bei Bagatellverletzungen exorbitante, völlig unverhältnismäßige Sanktionen gegen Großunternehmen per plea bargaining durchsetzen. Das beschuldigte Unternehmen muss sich auf einen Ablasshandel einlassen, weil ihm im Fall einer Konfrontation die Todesstrafe droht – und zwar (das ist die rechtsstaatliche Pointe!) noch vor Abschluss des Verfahrens, Andersen 2002, UBS 2009. Das sollte für uns kein Vorbild sein. Ob (und wie) die im (unwahrscheinlichen) Fall der Entdeckung der juristischen Person drohenden enorm hohen Bußgelder mit den aus dem Risikogeschäft erwarteten Gewinnen zu saldieren sind, ist eine Frage für sich.28 Dass die hohen Bußen von großen Unternehmen auf Aktionäre, Mitarbeiter, Kunden und letztlich auf die Allgemeinheit der Steuerzahler abgewälzt werden, sei am Rande bemerkt. Ob angesichts der vielen internationalen Gremien und der weltweiten Zunahme der Juristen Vernunft gegen die USA durchsetzbar ist, eine Vernunft, die die Einnahmen der Juristen schmälert, ist mir allerdings zweifelhaft. Die Geldwäschebekämpfung ist das Lehrstück, an dem zu sehen ist, wie evidente Erfolglosigkeit in paradoxer Weise noch zum Ausbau eines für Juristen lukrativen Systems beiträgt.29 Siemens steht für die Grenzen, die dem Arrangement der Wirtschaft mit der Korrup28 29
Dazu Weber FS Seebode 2008 S. 437 ff. Geldwäscheverbote sind mit skandalösen Praktiken begründet worden, etwa dass eine Unterweltfigur den Tresorraum einer großen Bank erst nach Ausschaltung der Überwachungskameras betreten hat, weil diesem Kunden Aufnahmen unerwünscht waren, oder dass Banken in Florida Schachteln mit $ 20 Noten (bevorzugte Währung im Drogenkleinhandel) nach Gewicht gutgeschrieben haben, weil sie mit dem Zählen nicht nachgekommen sind, vgl. Arzt ZStrR 106 (1989) 160 ff. Die Erwartung, dass die Verbrecherorganisationen in ihrem schmutzigen Geld ersticken werden und binnen kurzem der Drogenhandel erlöschen werde, wenn man die geschilderten Praktiken mittels Geldwäscheverboten kriminalisiere, war illusionär. Man hat in lächerlicher Weise die Anpassungsfähigkeit der Drogenhändler einfach ausgeblendet. Auch die Korruption wird lernen, sich an Verbote anzupassen, ganz abgesehen davon, dass schon heute die legale Korruption als das eigentliche Problem anzusehen ist.
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tion gezogen werden müssen. Optimisten mögen sagen, Siemens zeigt, dass Korruption mit den – statt gegen die – großen Unternehmen zu bekämpfen ist. Aber ob Korruption in der realen Wirtschaft oder auf Finanzmärkten: Wir müssen den Griff zum Strafrecht im Licht der Anpassung der Akteure und im Licht der Egoismen der Kontrolleure sehen. Vielleicht hat die offenbare Sinnlosigkeit der teueren Formalitäten bezüglich der Geldwäscheprävention dazu beigetragen, dass die Banken an die Kontrolle der Werthaftigkeit von verbrieften Darlehen mit einem vergleichbaren formellen Ansatz herangegangen sind. Für eine Bürokratie, die auf dem Kollaps der Drogenkriminalität als Illusion aufbaut, mag der Kollaps des Häusermarktes in vergleichbar märchenhafter Ferne gelegen haben.
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Risikomanagement und objektive Zurechnung Thomas Fischer
Thomas Fischer Gliederung 1. Unternehmen: Täter oder Opfer 2. Verantwortung: System oder Person 3. Angedeutetes 4. Schluss Ich bin um einen kurzen Beitrag im Tagungsabschnitt „Untreue. Altes und Neues“ zum Thema „Risikomanagement und objektive Zurechnung“ gebeten worden. Ich danke herzlich für die Einladung und die Gelegenheit, an dieser interessanten und in mehrfacher Hinsicht innovativen Diskussion teilzunehmen. Ich bin Mitglied des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs, hier allerdings allenfalls dessen Repräsentant, nicht sein Vertreter in Wille oder Meinung. Dass Mitglieder des BGH als des obersten deutschen Gerichtshofs für Strafsachen zu fachübergreifenden Tagungen über innovative dogmatische Konzepte oder über die – tatsächlichen, konzeptionellen oder wünschenswerten – Grenzen formeller Sanktionierung eingeladen werden, ist nicht selbstverständlich. Der BGH gilt gemeinhin nicht als Brutstätte strafrechtsdogmatischer Innovation, manchen wohl gar als Hort uninformiert schematischen Beharrungsbestrebens auf tatsächlich und normativ längst von der allgegenwärtigen „Modernisierung“ unterspülten Bastionen. Und wenn er, wie jüngst etwa in der Anwendung des Untreuetatbestands sowohl im Bereich subjektiver (Stichwort: 1
Weitgehend unveränderte Fassung des Manuskripts des Kurzvortrags. Dieser nahm unmittelbar auf die Ausführungen von Arzt zu Grundsatzfragen der Untreue am Bespiel des Siemens-Falles (BGHSt 52, 323) Bezug. Die (wenigen) Nachweise sind als Fußnoten gesetzt. In den Fußnoten habe ich vereinzelt auf Veröffentlichungen Bezug genommen, die erst nach dem Vortragsdatum erschienen sind. Ergänzt ist das Manuskript um einige kurze Bemerkungen zu Fragen der Zurechnung, die im Rahmen der Tagung aus Zeitgründen nicht vorgetragen werden konnten. Sie nehmen wiederum Bezug auf den für den Abdruck ergänzten Beitrag von Arzt, der mir vom Verfasser freundlicherweise vorab überlassen wurde.
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Kanther-Urteil) als auch im Bereich objektiver Zurechnung (Stichwort: SiemensUrteil), in der Anwendung des § 263 für die Begründung unternehmensinterner Garantenstellungen (Stichworte: Innenrevision; Compliance-Verantwortliche) oder in der Anwendung der §§ 283 ff. StGB für die Begründung der Täterstellung nach der sog. „Interessentheorie“, unbekanntes Gelände mit dem Versuch neuer Lösungen betritt, sind ihm oft nur eher kleinräumige Nachweise dogmatischer Unschärfen oder die allgemeine Feststellung gewiss, einmal mehr habe er die wahren Erfordernisse sachgerechter Rechtsfortbildung nicht erkannt. Freilich mag es sein, dass eine solche Position des Gerichts, gegen die Wissenschaft und sog. interessierte Kreise gelegentlich von allen Seiten zugleich anrennen, gerade Teil seiner Aufgabe sein könnte. Gunter Arzt hat in seinem scharfsinnigen Referat anhand der SiemensEntscheidung des 2. Strafsenats2 auf Widersprüchlichkeiten hingewiesen, die sich im Bereich der Untreuestrafbarkeit, aber auch darüber hinaus, aus bisher überwiegend als gesichert geltenden Annahmen ergeben könnten. Ich will versuchen, hierauf mit einigen kurzen Bemerkungen zu antworten. Manches davon wird wiederholen, was ich an dieser Stelle schon in der Diskussion anlässlich der Tagung vom November 2008 ausgeführt habe. Ich hoffe, dass ich Sie gleichwohl nicht langweile. Ein vertieftes Eingehen auf Fragen der sog. objektiven Zurechnung ist mir im Rahmen dieses Kurzbeitrags nicht möglich.
1.
Unternehmen: Täter oder Opfer?
Frappierend erscheint zunächst die Feststellung, die Fa. Siemens sei in den USA, wo juristische Personen ohne Weiteres die Täter-Rolle einnehmen können, als solcher abgeurteilt worden; in Deutschland sei die Siemens AG hingegen als Opfer von Untreuetaten angesehen worden. Der Hinweis, dies sei auf der Grundlage desselben Sachverhalts geschehen, erscheint mir allerdings nicht gesichert; freilich sind mir Einzelheiten der amerikanischen Verfahren, auf welche ich hier auch nicht näher eingehen will, nicht bekannt. Eine „bloße“ Opferstellung der Gesellschaft liegt auch in Deutschland nicht vor, da hier das Fehlen eines Unternehmens-Strafrechts jedenfalls teilweise durch § 30 iVm § 130 OWiG kompensiert wird. Die insoweit verhängten Geldbußen waren im konkreten Fall durchaus erheblich, auch wenn sie die illegal erlangten Vorteile mutmaßlich nicht annähernd aufwogen. 2
BGHSt 52, 323.
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Eine Besonderheit stellte in dem vom 2. Strafsenat des BGH entschiedenen Fall der Bildung und Unterhaltung verdeckter Kassen zum Zweck späterer Bestechungszahlungen im In- oder Ausland der Umstand dar, dass das hier erfasste Verhalten von leitenden Angestellten der zweiten und dritten Führungsebene vom Zentralvorstand der AG ausdrücklich und unter Androhung von arbeitsrechtlichen Sanktionen verboten worden war; die Angeklagten hatten entsprechende Memoranden, Merkblätter und Weisungen selbst an ihre nachgeordneten Mitarbeiter weiter gegeben. Diese Umstände kann man nicht, wie dies in erstaunlichem Umfang in Urteilsbesprechungen auch von wissenschaftlicher Seite geschehen ist, mit schlichten Hinweisen auf Glaubhaftigkeitszweifel und Appellen an den sog. gesunden Menschenverstand wegwischen. Für das hier behandelte Thema ist dies aber wohl von sekundärer Bedeutung. In voller Deutlichkeit stellt sich das von Arzt bezeichnete Problem, wenn man von einem Einverständnis des Vorstands mit den Handlungen der im Fall angeklagten Manager oder gar von entsprechenden Weisungen oder anderen eigenen Tathandlungen des Vorstands ausgeht, wie es vielfach unterstellt worden ist. Der 2. Strafsenat musste in seinem Urteil über diesen Sachverhalt nicht entscheiden; in der Literatur ist er hingegen vielfach, überwiegend kritisch gegen die Rechtsprechung, erörtert worden. In Rn. 40 seines Urteils hat der Senat dahinstehen lassen, „ob und in welchem Umfang etwa eine auf § 76 Abs. 1 AktG gestützte Befugnis des Zentralvorstands der AG zu einer entsprechenden Einwilligung durch § 93 AktG auf Grund normativer Bindungen ausgeschlossen wäre“3 er hat insoweit auf frühere Rechtsprechung zu normativen Einschränkungen der Verfügungsbefugnis über Gesellschaftsvermögen hingewiesen.4 An anderer Stelle5 habe ich näher dargelegt, dass und warum ich eine entsprechende Einwilligung des Vorstands auf der Grundlage von § 93 Abs. 1 AktG für unwirksam halten würde. Es entspricht in keiner Weise der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters (§ 93 Abs. 1 S. 1 AktG), Gesellschaftsvermögen zur Begehung von (vorsätzlichen) Straftaten zu verwenden; dies dient auch dann nicht dem „Wohle der Gesellschaft“ (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG), wenn es mittelbar auf die Erwirtschaftung von Einnahmen abzielt.
3 4 5
BGHSt 52, 323, 335. BGHSt 33, 379, 384 f.; 35, 333, 337; 49, 147, 158. NStZ-Sonderheft für Miebach 2009,, 8 ff.; Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, § 266 Rn. 93 ff., 103.
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Insoweit kann ich der Formulierung von Arzt „In Wahrheit geht es um die Verhinderung von verbotenen Zahlungen, die für die Firma rein wirtschaftlich gesehen vorteilhaft wären“, nicht ganz zustimmen, denn sie legt das Schwergewicht m. E. so, dass ein einseitiges Bild entsteht: Soweit ersichtlich, bezweifelt niemand, dass es nicht der Sorgfalt ordentlicher und gewissenhafter Geschäftsleiter entsprechen würde, z. B. Manager konkurrierender Unternehmen ermorden, Gewerkschafter zusammenschlagen oder Mitarbeiter unbefugt abhören zu lassen, Amtsträger zu bestechen oder über Strohmänner Insidergeschäfte zur wirtschaftlichen Schädigung von Konkurrenten abzuwickeln. Dies gilt aber unabhängig davon, ob solche Maßnahmen dem Zweck dienen, mittelbar dem betreuten Gesellschaftsvermögen zu nutzen: Ein Vorstand, der der Gesellschaft Vermögenswerte entzieht, um sie für solche kriminellen Zwecke einzusetzen, verstößt auch dann gegen § 93 Abs. 1 S. 1 AktG, wenn er mittelfristig den Gewinn der Gesellschaft steigern möchte. Wenn sich solche Aktivitäten auf das Vermögen der Gesellschaft nicht auswirken, sind sie im Hinblick auf Vermögensstraftaten neutral; sie sollen u. a. mit Hilfe derjenigen Strafvorschriften verhindert werden, gegen welche sie verstoßen. Wird aber Gesellschaftsvermögen dafür verwendet, etwa zur Entlohnung von unmittelbaren Tätern oder zur Investition in korruptive Systeme, lässt sich bei der Beurteilung der Befugnis hierzu (§ 93 Abs. 1 AktG) das (wirtschaftliche) Interesse nicht einfach vom (verbotenen) Zweck trennen.6 Der dem 2. Strafsenat gemachte polemische Vorhalt, § 266 StGB diene nicht dem Schutz des Vermögensinhabers gegen Einschränkungen seiner Dispositionsfreiheit, des Wettbewerbs gegen Korruption oder von Individuen gegen Mord oder Ausforschung der Intimsphäre, trifft das angesprochene Problem kaum, denn die im Kern, aber auch hier nicht ausschließlich wirtschaftliche Betrachtungsweise, die dem Schadensbegriff des § 266 Abs. 1 StGB zugrunde liegt, ist über das Merkmal der Pflichtwidrigkeit mit der Unternehmensstruktur, Stellung und Bindung des Unternehmens im gesellschaftlichen Zusammenhang und daher auch mit den allgemeinen normativen Standards verbunden. Nicht erst wenn mit dem Zweck der Haftungsbeschränkung als juristische Personen des
6
Man mag hier – mit Arzt – eine quantitative Differenzierung einbauen (die vermutlich eher eine qualitative nach dem Maß der Entfernung vom legalen Wirtschaftshandeln ist); über die Kategorisierungen und Grenzen wäre zu diskutieren. Am Grundsatz ändert dies m. E. nichts, wenn man nicht – in Umkehrung des „Brave-new-world“Scenarios von Arzt – die Vermögens- und Pflichtenlage im Verhältnis von juristischen Personen und ihren Organen denen von Einzelkaufleuten angleichen will. Damit wäre das Beste zweier Welten auf wundersame Weise vereint und angestellte AGVorstände endgültig in die Sphäre der Unantastbarkeit aufgestiegen.
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Privatrechts organisierte Unternehmen so „systemisch“ (geworden) sind, dass das Wohlergehens ihres Vermögens, also ihre Unsterblichkeit, notfalls auch gegen ökonomische Rationalität, durch Einsatz von Steuermitteln zu Lasten der Allgemeinheit zu sichern ist, lassen sich wirtschaftliches Interesse und Gemeinwohlorientierung nicht mehr nach Belieben, d. h. nach Maßgabe der jeweils nützlich erscheinenden Verantwortungsminimierung trennen. Hinzu kommt im Übrigen der meist vernachlässigte Umstand, dass von einem Handeln allein „im Interesse“ des Unternehmens auch unter wirtschaftlichem Blickwinkel meist nicht gesprochen werden kann. Fast immer sind entsprechende Handlungen mit individuellen Bereicherungen verbunden oder zielen auf diese ab. Auch wenn diese (nur) aus illegalen Zusatz-Gewinnen realisiert werden sollen, wirft dies ein immerhin eingetrübtes Licht auf die notorisch vorgetragenen Einlassungen purer Selbstlosigkeit.7 Zutreffend ist, dass sich auf dieser Grundlage jeweils abweichende Zurechnungskonstruktionen einerseits für haftungsbeschränkte Unternehmen, also juristische Personen, andererseits für Personengesellschaften oder Einzelunternehmer ergeben. Dieser Unterschied erscheint mir aufgrund der grundlegend unterschiedlichen Zuordnung des Vermögens, welche die juristischen Personen gerade zur Haftungsbeschränkung nutzen, gerechtfertigt; ich sehe keine Veranlassung, ihn aufzugeben. Eine Gleichbehandlung des Eigentümers oder Vermögensinhabers mit dem Nichteigentümer oder dem angestellten Organ ist auch unter strafrechtlichem Blickwinkel weder naheliegend noch gar zwingend; sie ist auch nicht durch sog. „moderne“ Strukturen der Kapitalverflechtung und -verwertung geboten. Vorstände und Geschäftsführer, die der von ihnen geleiteten Gesellschaft Mittel entziehen, um sie bei passender Gelegenheit für strafbare, auch der Gesellschaft voraussichtlich wirtschaftlich nützliche Zwecke zu verwenden, begehen keine Untreue „gegen sich selbst“; sie handeln aber bei wirtschaftlich-normativer Betrachtung auch nicht „im Interesse“ oder „zum Wohle“ der Gesellschaft. Das von Arzt dargestellte Zurechnungsproblem sehe ich insoweit im praktischen Ergebnis nicht; der von ihm dargestellte Unterschied zur amerikanischen Sichtweise ist in den unterschiedlichen Rechtssystemen begründet und stellt m. E. kein grundlegendes systematisches Problem dar. An diesen Grundsätzen wird, soweit ich dies derzeit beurteilen kann, voraussichtlich auch der BGH festhalten, unabhängig von manchen Unterschieden 7
Auf den (selbstverständlich normativen) Zusammenhang zwischen dem Pflichtwidrigkeitsbegriff des § 266 und dem Phänomen des Sondervorteils für Entscheidungsträger bei der Risikogestaltung weist zutreffend auch Arzt hin (Abschn. II. 2).
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zwischen einzelnen Senaten in der Beurteilung der Pflichtwidrigkeit und des Schadens. Dafür sprechen auch neue Entscheidungen des BGH zu Fällen der Konzernuntreue.8
2.
Verantwortung: System oder Person?
Der Zeitplan lässt mir nur wenig Raum für einige Bemerkungen zu der von Arzt angesprochenen, in dem kürzlich erschienenen Beitrag von Lüderssen9 im einzelnen ausgeführten und in einer Vielzahl neuerer Veröffentlichungen erörterten Frage nach der Ablösung einer personalen durch eine „System“Verantwortung (im weiteren Sinne) im modernen Wirtschaftsstrafrecht und nach den Grenzen personaler Zuschreibung von Risikoverwirklichungen unter den Bedingungen hochkomplexer, von der Gesellschaft gewünschter „System“-Risiken für individuelles Vermögen und kollektive Sicherheitsstrukturen, vor allem in den Bereichen des Wettbewerbs, der Funktion und Sicherheit des Finanzsystems, der Legitimität von und des Vertrauens in öffentliche Systeme des Wirtschaftens und der Kommunikation. Vielfach werden Hinweise und Warnungen vor einem möglicherweise bestehenden Widerspruch vorgetragen zwischen einer in einem System von „Compliance“Kontrolle, also Regelkonformität befangenen Zuschreibungshypertrophie einerseits, welche die Grenzen zwischen Innen und Außen, sprich: Privatwirtschaft und Staat aufzulösen scheint, und einer gerade in Folge solcher Entgrenzung aufsteigenden Unmöglichkeit andererseits, die Rollen der am Geschehen Beteiligten noch präzise zu unterscheiden, also Täter und Opfer, Tathandlungen und Tatverhinderungen hinreichend genau und mit einer für das Rechtssystem erforderlichen Dauerhaftigkeit und damit Verlässlichkeit zu bestimmen. Instrumente und Elemente dieser Analyse, deren Charakter als Warnung, Ausblick oder Forderung überdies oft vage bleibt, erscheinen freilich – zugespitzt formuliert – bisweilen wie eine Art postmoderner Selbstbedienungsladen, der die Postulate der liberalen Strafrechtstheorie ebenso wie den kritischen Gehalt der Systemtheorie in einer aus dem Inbegriff der „Modernisierung“ geschöpften, sich selbst bestätigenden Gesamtschau kurzerhand für gescheitert erklärt. Sie fordert, in Ansehung der unter ihren Füßen sich wandelnden Welt, zu je-
8 9
Vgl. zuletzt BGHSt 54, 52 = 2 StR 95/09. In StV 2009, 486 ff.
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dem „Phänomen“ 10 stets das „neue“ Strafrecht, verweist zu dessen Konturen aber überwiegend nur auf einen doch recht unscharf bleibenden Überschneidungsbereich von Sicherheits-, Haftungs- und Sanktionierungsrecht. Als praktisches Zwischenergebnis11 erscheint ihr, soweit es den hier behandelten Sachzusammenhang betrifft, wenn nicht ausgemacht so doch jedenfalls naheliegend, dass die menschlichem Verständnis fast schon unzugänglichen Phänomene der sog. Finanzmarktkrise ebenso wie die im Vergleich dazu bescheidenen der Korruption mit den Mitteln des heute zur Verfügung stehenden Strafrechts nicht gelöst werden können (oder gar: dürfen). Ich habe Bedenken, dem zu folgen. Denn die genannte, überraschend praktische Feststellung beeindruckt nicht ohne Weiteres als Ergebnis der Analyse, sondern erscheint gelegentlich eher als deren Voraussetzung. Beispielhaft: Ist das auf individuelle Schuldzuschreibung fixierte Strafrecht untauglich, die verheerenden Folgen eines chaotischen, auf einer unbegrenzten Vielzahl von auf persönlichen Nutzen ausgerichteten Entscheidungen beruhenden Systems wie etwa des individuellen Kraftfahrzeugverkehrs zu verstehen, zu verhindern oder rational „aufzuarbeiten“? Sind jährlich 5000 Verkehrstote die Verwirklichung eines individuell zuzuschreibenden „Restrisikos“, ein Triumph der Selbstverantwortung, oder ein Resultat kollektiver Verantwortungslosigkeit, ein Indiz für die Untauglichkeit eines normativen Systems, das nach Maßgabe individueller Schuld zusätzliche soziale Kosten aufhäuft, anstatt das Erwünschte nach rationalen Kriterien zu steuern? Die Antworten, die hierauf gegeben werden, differieren je nach den Annahmen, auf deren Basis die Fragen gestellt werden; Grundsatzkritik und Affirmation liegen oft überraschend nahe beieinander. Aber wenn ein betrunkener Autofahrer nachts ohne Licht mit überhöhter Geschwindigkeit in eine Gruppe von Fußgängern gefahren ist, die trotz Haltesignal einer Lichtzeichenanlage die Fahrbahn überquerten, vertritt, soweit ich sehe, niemand die Ansicht, das Strafrecht solle sich aus der Frage der Zurechnung der hierdurch verursachten Personen- und Sachschäden heraushalten, da seine Zuschreibungskriterien der Komplexität des Verkehrssystems und den Wechselbezüglichkeiten der Risikoverantwortung nicht adäquat sei. Diese Analogie mag Ihnen vielleicht zu vereinfacht erscheinen. Gleichwohl leuchtet mir bislang nicht ein, welche Gesetze des Wirtschaftssystems es notwendig machen sollten, gerade hier die Legitimität verhaltenssteuernder Sanktionierung nach grundlegend anderen 10
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Zum ersten Börsencrash und zum zweiten; zum Internet und zum Klimawandel, zum Zusammenbruch der DDR und zum religiös motivierten Terrorismus. Wobei freilich seit jeher meist offen bleibt, ob jemals mehr erreicht werden soll als Vorläufiges. Ein „Gesamtkonzept“ wagt niemand mehr zu versprechen.
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Maßstäben zu beurteilen. Polemisch gefragt: Könnte ein Ansatz, der vor langer Zeit als kritische Kritik abgesprungen ist, hier am Ende in der Affirmation der so genannten „Systemrelevanz“, gelandet sein? Könnte sich, mit 40 Jahren Anlauf, die kritische Gesamtschau auf eine sprichwörtliche Eindimensionaliät der marktgesellschaftlichen Kultur mit dem neoliberalen Credo eines „. . .und das ist auch gut so“ verbunden haben? Wäre dies so, stünde also Dogmatik unter dem Vorbehalt, nur die passenden Begriffe für das Unvermeidliche liefern zu sollen, erschiene mir dies weder überzeugend noch auch nur originell. Ich bin mir darüber nicht schlüssig; aber dass manche Veröffentlichungen zur Finanzmarktkrise diese eilig zum finalen Exempel für die Untauglichkeit überkommener Zurechnungsstrukturen erklären, scheint mir bedenklich. Das soll hier jedenfalls angemerkt sein. Selbstverständlich sind Fragen nach der Tauglichkeit alter oder neuer rechtlichen Instrumente gegen die (angeblich) neue Unübersichtlichkeit der Verteilung von Gewinnen und Schäden ebenso von Interessen bestimmt wie die möglichen Antworten.12 Jedenfalls ein Teil der derzeit oft beklagten Verwirrung in den Rechtsfragen des Untreuetatbestands hat, so scheint es mir, weniger in angeblich unerhört neuen Rechtsfragen seinen Ursprung als in den Interessenlagen von Strafverteidigung, die selbstverständlich – und legitimerweise – Vertreter von Partei-Interessen ist. Die Endzeitstimmung, mit der die vorsichtigen Ausdifferenzierungen rechtlicher Beurteilungen in der Rechtsprechung des BGH gelegentlich als angeblicher Verlust von Rechtssicherheit skandalisiert und Selbstverständlichkeiten der Rechtsanwendung zu unvorhersehbaren „Beratungsrisiken“ stilisiert werden, ist nicht angemessen. Wer sein Einkommen damit erzielt, freiberufliche Beratung zur Vermeidung der strafrechtlichen Risiken unternehmerischer Entscheidungen anzubieten, wird, nach aller Lebenserfahrung, tatsächliche oder potentielle Mandanten in eine nicht endende Kette solcher Risiken verstrickt sehen. Aus Unternehmen und beratenden Kanzleien wird berichtet, manches Management sehe sich heute, aus purer Angst vor der angeblichen „Hypertrophie des Untreuetatbestands“,
12
Schünemann hat hierauf zuletzt im Hinblick darauf hingewiesen, dass der Veranstalter dieser Tagung „vor allem von den deutschen Banken getragen und finanziert“ werde (StraFo 2010, 1 bei Fn. 7). Der Hinweis trifft zu und ist wichtig, wäre aber noch überzeugender, wenn im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Feststellung, die Rechtsprechung des 2. Strafsenats zur Problematik der „Schwarzen Kassen“ im Fall Siemens sei „weder in verfassungsrechtlicher noch in dogmatischer Hinsicht überzeugend“ (ebd. S. 10), darauf hingewiesen wäre, dass der Verfasser dieser Analyse einen der Angeklagten jenes Falles im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht vertritt.
198
Thomas Fischer
ohne vorsorgliches Rechtsgutachten kaum noch in der Lage, unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Dass solche Hysterien durch die plötzliche Verzweiflung über den 140 Jahre alten Begriff des Gefährdungsschadens und durch die Entscheidung des BGH verursacht sein könnte, die Einrichtung verdeckter Kassen zur Korruptionsfinanzierung sei strafrechtlich verboten, ist schwer zu glauben. Es könnte, jedenfalls zum Teil, auch daran liegen, dass strafrechtliche Tatbestände auf Verhaltensweisen angewandt werden, für die es schon immer galt. Recht ähnliche Diskussionen sind aus allen Lebensbereichen bekannt, in denen extrem komplexe Systeme individueller Interessenverfolgung zu „systemischen“ Risiken führen, deren Verwirklichung Fragen der Abgrenzung von Zufall und Verschulden, Folgenzurechnung und Eigenverantwortung aufwirft, neben dem schon erwähnten Beispiel des Kraftfahrzeugverkehrs etwa auch im Bereich des Internet. Selbstverständlich sind die Fragen nicht deckungsgleich; aber es ist darauf hinzuweisen, dass Probleme der Kausalität, der Risikoverteilung oder der Schadenszurechnung auch hier mitnichten zur Entwicklung von als legitim akzeptierten Sanktionierungsinstrumentarien jenseits personaler Verantwortung geführt haben. Zusammengefasst: Ich kann derzeit nicht erkennen, aus welchen Gründen das bestehende System strafrechtlicher Zuschreibung von individueller Verantwortung im Grundsatz nicht geeignet sein sollte, die beschriebenen Risiken zu strukturieren und in einer Legitimität erzeugenden Weise normative Standards durchzusetzen. Es ist jedenfalls zu kurz gegriffen, das Bestehen solcher Standards entweder schlicht zu leugnen oder sie, in einer Gegenbewegung, als bloßes Moralunternehmertum, als „brave neue Welt“ (Arzt) zu denunzieren. Denn als „systemisch“ sollen ja vorerst nur die Risiken, nicht aber die Gewinne des Finanzmarkts gelten. Wenn und solange aber die Vorteile des Marktes nach (mehr oder minder rationalen) Kriterien personaler VerdienstZurechnung verteilt werden, lassen sich die Schäden nicht legitimerweise als „Systemversagen“ wegdefinieren. Es gibt, am Beispiel des Siemens-Falles vereinfacht und praktisch gewendet, eine klare gesetzliche Entscheidung gegen Korruption im öffentlichen wie im privatwirtschaftlichen Sektor. Diese Entscheidung ist kriminologisch, rechtspolitisch und dogmatisch gut begründet und wird von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen. Es erschiene mir geradezu aberwitzig, diese gesicherte Basis aufzugeben und ihr ein „Konzept“ der Neuaushandlung von Regulierungen entgegen zu stellen, welches sich auf die Behauptung gründet, Korruption, Betrug und Untreue seien zu „systemisch“ zwin-
Risikomanagement und objektive Zurechnung
1 99
genden Voraussetzungen kapitalistisch erfolgreichen Wirtschaftens geworden. Einen solchen Weg würde nach meiner Ansicht weder der deutsche Gesetzgeber noch die Rechtsprechung mitgehen. Dasselbe gilt nach meiner Ansicht für mögliche Auflösungen des im Kern gesicherten Bereichs des Vermögensstrafrechts.13
3.
Angedeutetes
Eine letzte Bemerkung zu zwei Fragen, die ich im Rahmen meines kurzen Beitrags nicht mehr näher behandeln kann: Dies sind zum einen Probleme der Verantwortungszuschreibung innerhalb von Unternehmen, namentlich auch im Hinblick auf Aufgabendelegation, sog. Outsourcing, Fahrlässigkeitsstrukturen und einer teilweise sehr weit verstandenen „Compliance“Verantwortung nach außen. Hier scheint mir, verkürzt ausgedrückt, das dogmatische Instrumentarium des geltenden Strafrechts grundsätzlich geeignet und in der Regel ausreichend, um Strukturen und Verantwortlichkeiten zu erfassen. Wir verfügen mit den vielfältigen Ansätzen und Ergebnissen der Zurechnungslehren über ein außerordentlich ausdifferenziertes dogmatisches Instrumentarium zur Erfassung dieser Phänomene. Die pragmatische Methode der Rechtsprechung, die in kleinen Schritten, unter eklektischer Heranziehung geeignet erscheinender Theorieelemente, anhand konkreter Fallgruppen voranschreitet, mag gelegentlich unzureichend erscheinen; dass ihre Ergebnisse nicht geeignet wären, die Folgeprobleme und Legitimitätsaufgaben zu lösen, welche sich stellen, sehe ich nicht. Zum anderen ist durch die Entscheidung des 5. Strafsenats v. 17. 7. 2009 – 5 StR 394/08 – zur Garantenstellung des Leiters der Innenrevision einer Anstalt des Öffentlichen Rechts, namentlich durch die dort im Rahmen eines obiter dictum ausgeführten Erwägungen zur allgemeinen Begründung von Garantenstellungen unter anderem sog. Compliance-Beauftragter, in Wirtschaftsunternehmen und Anwaltschaft erhebliche Unruhe entstanden. Entgegen ersten Besprechungen dieses Urteils, namentlich aus beratend tätigen Anwaltskanzleien, glaube ich, dass die Entscheidung viele interessante Implikationen hat, jedoch keinerlei Grund zur Panik bietet. Dass sich auf sie eine grundsätzliche Neubewertung der Zuschreibung unternehmensexterner Schäden stützen ließe, erscheint mir zweifelhaft.
13
Vgl. auch Fischer StV 2010, 95, 99 f.
200
4.
Thomas Fischer
Schluss
Ich stimme Gunther Arzt ganz darin zu, dass die sog. Geldwäschebekämpfung ein abschreckendes Lehrstück selbstbezüglichen Strafrechts ohne Aussicht auf rationalen Nutzen ist. Ich stimme ihm nicht darin zu, dass die Strafverfolgung von Untreue zu Lasten juristischer Personen auf ähnlich irrationalen Annahmen beruht. Ich sehe in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch keine ernstlichen Ansätze zu einem System totalitärer Durchdringung des Marktes mit Hilfe von Kriterien einer außer Rand und Band geratenen Compliance. Selbstverständlich wird man über Fragen des Vermögensbegriffs und der Schadenszurechnung im Rahmen der Betrugs-, Untreue- und Korruptions-Tatbestände immer wieder neu nachdenken müssen. Sie mit der Begründung aufzulösen, das Strafrecht sei nutzlos, wenn jeder jeden betrügen will oder alle einander wechselseitig bestechen, erschiene mir weit überzogen.
Die Vermögensbetreuungspflicht
2 01
Die Vermögensbetreuungspflicht – ihre Expansion über neue außerstrafrechtliche (auch internationale) Pflichtenkataloge Die Vermögensbetreuungspflicht Alfred Dierlamm
Alfred Dierlamm Gliederung 1. Vorbemerkungen 2. Die Vermögensbetreuungspflicht – Grundlagen a) Spezifischer Vermögensbezug b) Vermögensbetreuungspflichten als ausgestanzter Bereich der Pflichtenstellung 3. Konkrete Anwendungsbeispiele für außerstrafrechtliche Pflichtenkataloge 4. Zusammenfassung
1.
Vorbemerkungen
Die Untreue ist zum Universaldelikt geworden. Sie schützt primär das Vermögen, sie schützt der Sache nach aber auch die Dispositionsfreiheit, Gläubiger eines Unternehmens, sie schützt ein Unternehmen vor Korruption, ja ganz generell scheint die Untreue dem Schutz von Ethik und Moral zu dienen. Gerade die Ahndung von Korruption mit dem Untreuetatbestand verspricht Erleichterungen, was insbesondere dann gilt, wenn umfangreiche Ermittlungen im Ausland zu führen sind. In Dritt- und Schwellenländern sind substantielle Erkenntnisse im Wege der Rechtshilfe oft nur schwer zu erlangen. Selbst wenn Geständnisse inländischer Beschuldigter vorliegen, fehlt es nicht selten an tragfähigen Ermittlungsergebnissen zum Zahlungsempfänger, zu den Zahlungszeitpunkten und Zahlungswegen sowie zur Unrechtsvereinbarung, die typischerweise nicht im unmittelbaren Kontakt mit inländischen Personen getroffen wird, sondern über sog. Consultants im Ausland, die das Erforderliche vor Ort regeln. All dies bleibt der Strafjustiz erspart, wenn sich die Ermittlungen auf die Zahlungsabflüsse zu den sog. schwarzen Kassen beschränken, die – stellvertretend für die Korruption in toto – als tatrelevante Sachverhalte herhalten müssen. Es ist tägliche Praxis
202
Alfred Dierlamm
geworden, dass Korruptionsverfahren nicht nur mit der Untreue als Kernvorwurf beginnen, sondern auch mit einer Verurteilung wegen Untreue enden.1 Korruptionsdelikte erscheinen als unnötiges Beiwerk, das sich früher oder später im Verfahren ohnehin nach den §§ 154, 154 a StPO in Luft auflöst. So verbreitet diese Praxis inzwischen zu sein scheint, so fragwürdig ist sie. Dies gilt dogmatisch, wobei ich im Rahmen dieses Beitrags nur auf das Tatbestandsmerkmal der Vermögensbetreuungspflicht eingehen möchte; die dogmatischen Bedenken gegen die extensive Handhabung der Merkmale der Pflichtverletzung und des Vermögensnachteils sind genauso schwerwiegend. Dies gilt in besonderer Weise aber auch kriminalpolitisch. Wer glaubt, mit dem Untreuetatbestand den – so oft zitierten – „Sumpf“ austrocknen zu können, der irrt. Denn Ermittlungen, die sich auf die Bildung einer „schwarzen Kasse“ beschränken, ohne im Einzelnen aufzuklären, wann, mit wem und mit welchem Inhalt eine Unrechtsvereinbarung getroffen wurde und welche Zahlungsempfänger in welcher Höhe Schmiergelder erhalten haben, lassen die Kernelemente der Korruption unangetastet. Die Strukturen der Korruption bleiben unberührt – eine Kapitulation der Strafjustiz. Die dysfunktionale Ausweitung des Untreuetatbestandes in das Korruptionsstrafrecht hat nicht nur fundamentale dogmatische Veränderungen beim Tatbestandsmerkmal des Vermögensnachteils zur Folge, sondern auch und besonders für die Frage, woraus sich eine Vermögensbetreuungspflicht und deren Verletzung ableitet. Das Landgericht Darmstadt ist in seinem Urteil vom 14. 5. 2007 im Fall Siemens/ENEL auf den Gedanken verfallen, eine Pflichtverletzung im Sinne des Untreuetatbestandes aus dem Verstoß gegen ComplianceRichtlinien abzuleiten.2 In den Gründen des Urteils wird hierzu ausgeführt:3 „Die Pflichtwidrigkeit dieser Handlung ergibt sich ohne Weiteres daraus, dass nach den bei S PG bestehenden Compliance-Regelungen jegliche Bestechungszahlungen untersagt waren.“ Diese dogmatische Konstruktion, die darauf hinausläuft, dass allgemeine Nebenpflichten eines Arbeitnehmers durch die Aufnahme in ein ComplianceRegelwerk zu strafbewehrten Vermögensbetreuungspflichten werden sollen, macht es erforderlich, auf die dogmatischen Grundstrukturen der Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 StGB und ihrer Verletzung einzugehen. 1 2
3
Vgl. zu diesem Phänomen Dierlamm FS für Widmaier 2008 S. 607 f. m. w. N. LG Darmstadt, Urt. v. 14. 5. 2007 – 712 Js 5213/04 – 9 KLs; vgl. hierzu eingehend Saliger/Gaede HRRS 2008, 57; Dierlamm FS für Widmayer 2008 S. 607. LG Darmstadt aaO.
Die Vermögensbetreuungspflicht
2 03
2.
Die Vermögensbetreuungspflicht – Grundlagen
a)
Spezifischer Vermögensbezug
Der Tatbestand des § 266 StGB verlangt die Verletzung der Pflicht, „fremde Vermögensinteressen zu betreuen“. Das Merkmal der Vermögensbetreuungspflicht dient der Einschränkung des Tatbestandes nicht nur beim Treubruchstatbestand, sondern in gleicher Weise und mit gleicher Intensität auch beim Mißbrauchstatbestand.4 Die Vermögensbetreuungspflicht ist Ansatzpunkt für eine restriktive Auslegung des Untreuetatbestandes. 5 Wie die Pflichtenstellung konkret ausgestaltet sein muss, wird im Gesetzestext nicht näher beschrieben. Die tatbestandliche Pflichtenstellung lässt sich schon aus dem Wortlaut „Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen“ herleiten. „Wahrnehmen“ bedeutet nach dem üblichen Sprachgebrauch behüten, wahren, sich einer Sache fürsorglich annehmen, für sie Sorge tragen, sich um sie kümmern. Aus der Verbindung des Prädikats „Wahrnehmen“ mit dem Bezugsobjekt „Vermögensinteressen“ ergibt sich, dass die Pflichtenstellung durch eine Interessenwahrnehmung charakterisiert sein muss. Die Zweckrichtung dieser Interessenwahrnehmung ist die Fürsorge für das fremde Vermögen. Interessenwahrnehmung beinhaltet mehr als die Wahrnehmung einer bloßen Gelegenheit. Interessenwahrnehmung mit dem Ziel der Vermögensfürsorge erfordert eine Pflichtenstellung von einiger Bedeutung. Diese Pflichtenstellung muss auf die Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen ausgerichtet sein. Durch das Vermögensinteresse wird die Zweckrichtung der Pflichtenstellung gekennzeichnet. Die Verhaltenspflicht muss gerade darauf abzielen, das Vermögen des Geschäftsherrn zu schützen, sie muss genuin und spezifisch dem Vermögensschutz dienen. Die Verletzung nicht spezifisch vermögensbezogener Verhaltenspflichten genügt für den Untreuetatbestand nicht, und zwar auch dann nicht, wenn Schadensersatzverbindlichkeiten gegen den Geschäftsherrn ausgelöst werden oder mit einer Sanktionierung des Verhaltensverstoßes als Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu rechnen ist. Nicht spezifisch vermögensbezogene Pflichten fallen nicht in den Kreis der Pflichten, die in strafbarer Weise nach § 266 StGB verletzt werden können. Der Vermögensschutz darf nicht nur Rechtsreflex sein. Der Untreuetatbe4
5
BGHSt 24, 386; 33, 244, 250; 35, 244; OLG Hamm NJW 1977, 1834, 1835; OLG Köln NJW 1978, 713 f.; NJW 1988, 3219; Dunkel GA 1977, 329 ff.; Schreiber/Beulke JuS 1977, 656 ff.; Seebode JR 1973, 117, 119 f.; Vormbaum JuS 1981, 18, 19 f.; SK/Samson/Günther § 266 Rn. 4 f.; MK/Dierlamm § 266 Rn. 30. Vgl. nur Krey/Hellmann BT/2 Rn. 564.
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Alfred Dierlamm
stand schützt ausschließlich das Vermögen des Geschäftsherrn. Die Grenzen der Auslegung werden verlassen, wenn der Pflichtenkreis durch solche Pflichten angereichert wird, die nicht spezifisch den fremden Vermögensinteressen zu dienen bestimmt sind, sondern vornehmlich anderen Zwecken. Überdies muss die Pflichtenstellung durch die „Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen“ geprägt sein. Wer im Rahmen von Austauschverhältnissen und schuldrechtlichen Beziehungen eigene Interessen im Wirtschaftsleben verfolgt, kann nicht im Verhältnis zur anderen Vertragspartei deren Vermögensinteressen wahrnehmen.6 Durch das Erfordernis einer fremdnützig ausgerichteten Pflichtenstellung werden zweiseitige, synallagmatische Schuldverhältnisse aus dem Pflichtenkreis des § 266 StGB ausgeschieden. Dies gilt auch dann, wenn ausdrücklich oder konkludent fremdnützige Nebenpflichten vertraglich vereinbart worden sind. Wer im Rahmen von schuldrechtlichen Vertragsbeziehungen eigene Interessen im Wirtschaftsleben verfolgt, kann nicht zugleich zur fremdnützigen Vermögensfürsorge verpflichtet sein. Die vertragliche Verpflichtung, das Vermögen eines anderen nicht durch Leistungsstörungen oder in sonstiger Weise zu schädigen, begründet keine Vermögensbetreuungspflicht. Der Vermögensbetreuungspflichtige handelt für seinen Geschäftsherrn im Gegensatz zu Austauschverhältnissen, die durch die Leistung an den Vertragsgegner gekennzeichnet sind. Die Pflichtenstellung muss somit spezifisch und genuin auf die Wahrnehmung von Vermögensinteressen des Geschäftsherrn ausgerichtet sein; sie muss insgesamt fremdnützig geprägt sein.
b)
Vermögensbetreuungspflichten als ausgestanzter Bereich der Pflichtenstellung
Verfügt der Täter über eine Pflichtenstellung im Sinne des § 266 StGB, so ist der Kreis der im Rahmen des § 266 StGB verletzbaren Pflichten, also der Vermögensbetreuungspflichten, immer oder jedenfalls typischerweise nur ein ausgestanzter Bereich dieser Pflichtenstellung. Nicht jede vermögensmindernde Pflichtverletzung eines Vermögensbetreuungspflichtigen führt zur Untreue, sondern nur die Pflichtverletzung, die eben auch gerade die spezifische, dem Vermögensschutz dienende Pflicht betrifft. Die verletzte Pflicht muss dem qualifizierten Pflichtenkreis angehören, der für die Begründung 6
Vgl. nur Thomas FS für Rieß 2002 S. 795, 796; MK/Dierlamm § 266 Rn. 35, 39.
Die Vermögensbetreuungspflicht
2 05
der tatbestandsrelevanten Vermögensbetreuungspflicht konstituierend ist.7 So hat der BGH beispielweise darauf hingewiesen, dass die Verpflichtung, erhaltene Schmiergelder bzw. Provisionen an den Geschäftsherrn herauszugeben, nicht Bestandteil der spezifischen Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 StGB sei. Jene Verpflichtung unterscheide sich nicht von sonstigen Herausgabe- und Rückerstattungspflichten anderer Schuldverhältnisse, die regelmäßig keine spezifischen Vermögensbetreuungspflichten enthielten.8 Zwar kann ein Rechtsanwalt gegenüber seinem Mandanten vermögensbetreuungspflichtig sein; allerdings fällt die Pflicht des Rechtsanwalts, von seinem Mandanten keine höheren als die tatsächlich geschuldeten gesetzlichen Gebühren zu verlangen und zu vereinnahmen, nicht unter die qualifizierten Treuepflichten nach § 266 StGB.9 Auch die Pflicht zur Rückerstattung eines Kostenvorschusses an den Mandanten ist von den strafbewehrten Vermögensbetreuungspflichten nach § 266 StGB nicht erfasst. Der Vorstand einer Aktiengesellschaft unterliegt keiner strafbewehrten Vermögensbetreuungspflicht hinsichtlich seiner Vorstandsvergütung oder der Pflicht zur Abführung des Gewinns an die AG gem. § 88 Abs. 2 S. 2 AktG nach einem Verstoß gegen ein Wettbewerbsverbot.10 Eine tatbestandsrelevante Pflichtverletzung nach § 266 StGB kann nur eine Pflicht aus dem ausgestanzten Bereich der Pflichtenstellung des Vermögensbetreuungspflichtigen betreffen. Zwischen der Pflichtverletzung und der durch das Merkmal der Vermögensbetreuungspflicht definierten Pflichtenstellung des Täters muss ein sachlich-inhaltlicher Zusammenhang bestehen. Die Verletzbarkeit der Pflicht kann nicht weiter reichen als die Pflicht selbst.
3.
Konkrete Anwendungsbeispiele für außerstrafrechtliche Pflichtenkataloge
a) In Ziffer 3.8 des Deutschen Corporate Governance-Kodex (DCGK) sind Haftungsvorschriften für Vorstand und Aufsichtsrat geregelt. Insbesondere ist vorgesehen, dass bei D&O-Versicherungen „ein Selbstbehalt von mindestens 10% des Schadens bis mindestens zur Höhe des eineinhalbfachen der festen 7 8
9 10
Vgl. nur Fischer § 266 Rn. 40; MK/Dierlamm § 266 Rn. 162. BGH NStZ 1995, 233, 234; dazu Sonnen JA 1995, 627; vgl. auch BGHSt 47, 295 (297 ff.). OLG Karlsruhe NStZ 1991, 239. BGH NJW 1988, 2483, 2485; MK/Dierlamm § 266 Rn. 82.
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Alfred Dierlamm
jährlichen Vergütung des Vorstandsmitglieds“ zu vereinbaren ist. Wird eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 StGB verletzt, wenn der Vorstand dieser Verpflichtung zuwiderhandelt? Der DCGK will ausweislich seiner Präambel „das Vertrauen der internationalen und nationalen Anleger, der Kunden, der Mitarbeiter und der Öffentlichkeit in die Leitung und Überwachung deutscher börsennotierter Gesellschaften fördern“. Die Regelung in Ziffer 3.8 des DCGK zielt nicht spezifisch und genuin auf den Schutz des Vermögens der Kapitalgesellschaft ab, sondern darauf, das Verantwortungsbewusstsein der Organe zu stärken. Dass sich dies auch als Reflex auf das Vermögen auswirken kann, ist für den strafbewehrten Pflichtenkreis nach § 266 StGB unbeachtlich. Bei der Pflicht zur Vereinbarung des Selbstbehalts nach Ziffer 3.8 des DCGK handelt es sich nicht um eine spezifisch dem Schutz des Vermögens dienende Pflicht, mithin nicht um eine Vermögensbetreuungspflicht nach § 266 StGB. Dies gilt unabhängig davon, dass die Verpflichtung nach Ziffer 3.8 des DCGK als Konkretisierung der Pflichtenstellung des Vorstands nach § 93 Abs. 1 S. 1 AktG angesehen werden mag. b) Nach Ziffer 6.1 DCGK wird der Vorstand „Insiderinformationen, die die Gesellschaft unmittelbar betreffen, unverzüglich veröffentlichen, soweit er nicht im Einzelfall von der Veröffentlichungspflicht befreit ist.“ Darüber hinaus sind in den Ziffern 6.2 bis 6.8 weitere Transparenzvorgaben enthalten. Die durch Ziffer 6 des DCGK („Transparenz“) geregelten Pflichten decken sich im Wesentlichen mit den Regelungen im WpHG (§ 15 WpHG). Die Regelungen in Ziffer 6 des DCGK begründen jedoch keine Pflichten, die unter den Kreis der strafbewehrten Vermögensbetreuungspflicht nach § 266 StGB fallen. Die Pflichten dienen der Transparenz und dem Vertrauen der Anleger, nicht aber spezifisch und geniun dem Vermögensschutz, mag dieser mittelbar auch die Folge dieser Pflichten sein. c) In Compliance-Regelwerken ist häufig die Verpflichtung von Arbeitnehmern normiert, zugewendete Vorteile beim Arbeitgeber oder beim Compliance-Beauftragten abzuliefern. Auch hierbei handelt es sich – wie der BGH zutreffend hervorgehoben hat 11 – um eine zivilrechtliche Nebenpflicht des Arbeitnehmers, die sich bereits aus dem Gesetz ergibt. Diese Pflicht ist nicht vom Kreis der Vermögensbetreuungspflichten umfasst. Sie wird auch nicht zur strafbewehrten Vermögensbetreuungspflicht dadurch, dass sie in ein Compliance-Regelwerk aufgenommen wird. Denn der Inhalt und die spezifische Zweckrichtung der Pflicht ändert sich nicht dadurch, dass sie in einem Compliance-Regelwerk niedergeschrieben wird. 11
BGH NStZ 1995, 233, 234.
Die Vermögensbetreuungspflicht
2 07
d) Typischerweise wird in Compliance-Regelwerken oder sog. Ethik-Richtlinien das Verbot aufgenommen, Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zum Nachteil des Unternehmens zu begehen. Auch hierbei handelt es sich um eine arbeitsrechtliche Nebenpflicht und nicht um eine Pflicht, die dem qualifizierten Pflichtenkreis des Vermögensbetreuungspflichtigen nach § 266 StGB zugehört, auch wenn mit einer Sanktionierung des Verhaltens zu Lasten des Unternehmens zu rechnen ist, sei es in Form von zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen, sei es in Gestalt von Unternehmensgeldbußen nach § 30 OWiG. Die allgemeine Nebenpflicht des Arbeitsnehmers, keine Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten zu begehen, wird auch nicht zur Vermögensbetreuungspflicht dadurch, dass diese Pflicht in Compliance-Regelwerken niedergeschrieben wird und die Mitarbeiter auf die Einhaltung dieser Regeln verpflichtet werden. Die Pflicht jedes Arbeitnehmers, keine Straftaten im Unternehmen zu begehen, beinhaltet keine spezifische Pflicht zum Schutze des Vermögens, sondern ergibt sich allenfalls als Rechtsreflex aus den verletzten Bestimmungen. Die Begründung von Schadensersatzverbindlichkeiten zum Nachteil des Geschäftsherrn gem. §§ 31, 278 BGB oder von Unternehmensgeldbußen nach § 30 OWiG verletzt nur dann eine dem qualifizierten Pflichtenkreis nach § 266 StGB zugehörige Pflichtenposition, wenn durch das haftungsbegründende Verhalten des Treupflichtigen eine spezifische und genuin zum Schutz des anvertrauten Vermögens bestimmte Pflicht verletzt worden ist.12 e) Nach dem Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) sind Aktiengesellschaften gesetzlich verpflichtet, ein Risikomanagementsystem einzuführen. In Risikomanagementsystemen werden für Organe und Mitarbeiter von Unternehmen weitreichende Pflichten normiert. Ob und welche Pflichten unter den qualifizierten Pflichtenkreis nach § 266 StGB fallen, muss durch Auslegung der jeweiligen Regelungen nach Inhalt und Zweckrichtung ermittelt werden. Dies mag nachfolgend beispielhaft an den MaRisk – Mindestanforderungen an das Risikomanagement – für Kreditinstitute dargelegt werden.13 In den MaRisk werden Vorgaben für die Einrichtung von Risikomanagementsystemen bei Banken und Kreditinstituten geregelt. Die MaRisk hat verschiedene Schutzzwecke, die in der Regelung AT 2 wie folgt beschrieben sind: „Die Beachtung der Anforderungen des Rundschreibens durch die Institute soll dazu beitragen, Missständen im Kredit- und Finanzdienstleistungswesen entgegenzuwirken, wel12 13
Vgl. hierzu MK/Dierlamm § 266 Rn. 174. Vgl. Rundschreiben 15/2009 der BaFin v. 14. 8. 2009.
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Alfred Dierlamm
che die Sicherheit der den Instituten anvertrauten Vermögenswerte gefährden, die ordnungsgemäße Durchführung der Bankgeschäfte oder Finanzdienstleistungen beeinträchtigen oder erhebliche Nachteile für die Gesamtwirtschaft herbeiführen können.“ Nur die Regelungen, die spezifisch dem Vermögensschutz dienen, kommen als Pflichten im Rahmen der strafbewehrten Vermögensbetreuungspflicht in Betracht, beispielsweise die umfangreichen Regelungen über die „Anforderungen an die Prozesse im Kreditgeschäft“ (BTO 1.2). Demgegenüber fallen Regelungen, die eher allgemein dem Schutz von Ethik und Moral, dem Vertrauen der Kunden oder der Vermeidung von „Nachteilen für die Gesamtwirtschaft“ dienen, nicht unter den strafbewehrten Pflichtenkreis, z. B. die Regelungen über variable Vergütungen von Bankmitarbeitern („Anreizsysteme“). Die Verletzung von Verhaltenspflichten in Risikomanagementsystemen, die nicht spezifisch auf den Schutz des Vermögens des Geschäftsherrn abzielen, unterfällt auch dann nicht dem Untreuetatbestand, wenn die verletzte Verhaltenspflicht Teil der Pflichtenstellung des Vorstands nach § 93 Abs. 1 AktG. f) In Compliance-Regelwerken finden sich häufig Regelungen über Prozessund Entscheidungsabläufe, z. B. das Vier-Augen-Prinzip. Auch hier muss im Einzelfall geprüft werden, ob die jeweilige Pflicht spezifisch auf den Schutz des Vermögens ausgerichtet ist. Handelt es sich um eine Vorschrift, die dem Schutz des Unternehmens vor Korruption dient, mag dies mittelbar von Vermögensrelevanz sein, aber spezifisch und zweckgerichtet geht es bei dieser Pflicht um die Vermeidung von Straftaten, nicht zweckgerichtet um den Schutz des Vermögens.
4.
Zusammenfassung
Nicht jede kodifizierte Verhaltenspflicht mit Vermögensrelevanz unterfällt dem qualifizierten und durch § 266 StGB strafbewehrten Pflichtenkreis. Der Untreuetatbestand erfordert die Verletzung einer spezifisch und unmittelbar dem Vermögensschutz dienenden Pflicht. Eine Pflichtverletzung durch einen Vermögensbetreuungspflichtigen kann nur dann den Untreuetatbestand begründen, wenn die verletzte Pflicht gerade dem qualifizierten, für die Vermögensbetreuungspflicht konstituierenden Pflichtenkreis angehört. Und eins zum Abschluss: Korruption muss mit dem Korruptionsstrafrecht bekämpft werden. Dazu ist es da!
Die Vermögensbetreuungspflicht
Zwischenbilanz
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Alfred Dierlamm
Finanzmarktkrise, Risikomanagement und Strafrecht
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Finanzmarktkrise, Risikomanagement und Strafrecht Finanzmarktkrise, Risikomanagement und Strafrecht Klaus Lüderssen
Klaus Lüderssen Gliederung A. Schnelles Strafrecht? B. Verantwortung im Wirtschaftsleben. C. Ökonomie und Unternehmensethik. D. Der Regelungsbedarf. E. Ein neues Strafrecht? F. Ergebnis. Weltweit und „systemisch“ sind die Regeln, oft spricht man auch von Reregulierung, die als jetzt schon unübersichtliche Masse von Ankündigungen auf Staat und Wirtschaft zurollen, und so wartet der Strafrechtler förmlich auf die neuen Straftatbestände. Aber sie kommen nicht. Schreckt die Rechtspolitik hier wirklich davor zurück, Verantwortlichkeit einzelner Personen zu fixieren? 1 Denn das müsste es in erster Linie sein; „Unternehmensstrafrecht“ steht nach wie vor im weiten Felde, findet substanziell auch weitgehend im Ordnungswidrigkeitenrecht statt. Auf anderen Gebieten indessen, etwa der Terrorismusbekämpfung, ist der Staat schnell bei der Hand mit Strafvorschriften – wohl, weil hier von vornherein an Personen, nicht an Institutionen gedacht wird. 1
Offenbar ungehört verhallt sind die Vorschläge von Helmut Schmidt Strafbarkeit von Geschäften außerhalb der eigenen Bilanzen, Strafbarkeit des Handelns mit nicht an den Wertpapierbörsen zugelassenen Finanzderivaten und Zertifikaten, Strafbarkeit des Verkaufs von Finanzinstrumenten, die dem Verkäufer nicht gehören (Shortselling), Strafbarkeit bei Finanzanlagen und Finanzkrediten in Steueraufsichtsoasen einzuführen, in: Die ZEIT v. 11. 1. 2009; kritisch dazu Lüderssen Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 1. 2009. Inzwischen mehren sich aber die Rufe nach Strafbarkeit, s. die weiteren Hinweise bei Lüderssen Regulierung, Selbstregulierung und Wirtschaftsstrafrecht, in Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.) Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, Berlin 2009, S. 241ff. (244); ferner Schünemann Die sogenannte Finanzkrise – Systemversagen oder global organisierte Kriminalität, in: Bernd Schünemann (Hrsg.) Die sogenannte Finanzkrise – Systemversagen oder global organisierte Kriminalität? Berlin 2010, S. 71ff. und Schröder Handbuch Kapitalmarktstrafrecht, 2. Aufl., Köln 2010, S. 403 ff.
212
Klaus Lüderssen
Wie berechtigt diese Abstinenz vom Persönlichen auf dem Gebiet der Ökonomie sein mag, wird sich noch zeigen. Wo aber das Wirtschaftsleben steuernde Eingriffe der Strafgesetzgebung nicht gefragt sind, sondern die retributiven Funktionen der Justiz, da regt es sich. Diverse Ermittlungsverfahren laufen, besonders prominent werden wird die Strafanzeige gegen Mitglieder des Vorstandes und des Aufsichtsrats einer Landesbank, bezogen auf den Erwerb problematischer „Verbriefungen“ – Geschäfte, die in Zusammenhang gebracht werden mit milliardenschweren Wertberichtigungen. Wenn der Chefredakteur des STERN in einer Talkshow empört ausruft: „Weshalb ist bisher noch kein Banker vor Gericht gestellt worden“ – ist das nun der Ausdruck einer persönlich bleibenden Entrüstung oder bahnt sich ein neues Strafverfolgungsklima an? Schwer zu sagen, denn man weiß ja auf der anderen Seite, dass die Anzeigeerstatter häufig aus Verlegenheit zum Strafrecht greifen, weil sie nicht recht sehen, wie mit Hilfe anderer Rechtsinstrumente die von ihnen für nötig gehaltene Remedur geschaffen werden könnte. Es ist in der Tat nicht leicht, Geschädigte zu identifizieren und eine Anspruchsgrundlage zu finden,2 zumal Popularklagen nach wie vor nicht funktionieren. Gelegentlich kommt es zu elegisch getönten Gedankenspielen, dass es merkwürdig sei, wenn man in dem Geflecht der Finanzkrise keine Stelle finden könne, wo sich eine persönliche Verantwortung etablieren lasse. Es sei doch ungerecht, dass dort, wo solche Beziehungen hergestellt werden können, weil die Verhältnisse überschaubarer seien, sich im Kleinen abspielen, dann doch eine Haftung begründet werde, und sogar eine strafrechtliche.3 Aus dem Schatten derartiger indistinkt bleibender Deliberationen heraus tritt allerdings die in der Zeitschrift Kriminalistik angestellte Vermutung, „dass ein fehlendes Verständnis für komplexe Finanzgeschäfte und für die damit einhergehende Gefahrenlage zu einer entsprechenden Kriminalität führen kann, durch welche die Komplexität ausgenutzt wird“.4 Bezogen auf die Tätigkeit von Rating-Agenturen wird das konkretisiert mit dem Hinweis, es sei irrig, „nur ein Marktversagen zu vermuten und zu meinen, das Ganze habe mit dem Strafrecht nichts zu tun. Vieles spricht dafür, dass das Vertrauen in Ratings missbraucht wurde. Der Umstand, dass AAA-Ratings im freien Fall sämtliche Rating-Stufen herabstürzen konnten, verlangt nach Aufklä-
2
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Dazu Lutter Bankenkrise und Organhaftung, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2009, 197 ff. Bernsmann, Untreue und Korruption – der BGH auf Abwegen, Goltdammer’s Archiv 2009, 290 ff.(298). Schröder, Die Komplexität internationaler Finanzmärkte – Einfallstor für Kriminalität, Kriminalistik 2009, 12 ff. (12).
Finanzmarktkrise, Risikomanagement und Strafrecht
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rung, weil die Ratings für sich beansprucht haben, Risikoszenarien abzubilden“.5 So unterschiedlich im Anlass, im Gewicht und in der Formulierung diese Anstöße, beim Umgang mit der Finanzmarktkrise doch auch das Strafrecht zu fragen, noch sind, sie bieten Grund genug für einen ersten systematisierenden Versuch.
A.
Schnelles Strafrecht?
Das Interesse konzentriert sich auf den Handel mit dubiosen Papieren. Was damit gemeint ist, hat sich inzwischen herumgesprochen; es bedarf hier deshalb nur einiger weniger Hervorhebungen. Die amerikanische Praxis, „anspruchsgesicherte Wertpapiere (Asset Backed Securities [ABS]) zu schaffen, unter denen die hypothekengedeckten Wertpapiere (Mortgaged Backed Securities [MBS]) die größte Rolle spielten, erweiterte „die ohnehin schon bestehende Haftungsbeschränkung der Kapitalgesellschaften“ noch einmal. „In den meisten Fällen hielt die emittierende Bank selbst keinen Anteil an den risikobehafteten Wertpapieren.“6 Die bereits verbrieften Ansprüche wurden anschließend erneut verbrieft, so entstanden Portfolios mit Papieren, für die sich der Name „Collaterized Debt Obligations (CDO)“ eingebürgert hat – nach Art einer Kaskade. Hinzu traten die aus Absicherungsgeschäften entstandenen Papiere, die „Credit Default Swaps [CDS]“. Es war üblich, „dass der Gläubiger einen CDS zur Absicherung seiner Forderung von einer anderen Bank kauft, und dass diese andere Bank sich dann ebenfalls gegen die mögliche Zahlung versicherte, indem sie selbst einen CDS von einer dritten Bank kaufte“. So entstand „eine lange Kette von gegenseitigen Verpflichtungen, die wie die Kaskade der CDO-Papiere (. . .) nur schwer zu durchschauen“ war.7 Wichtig sind sicher noch ein paar Zahlen:: Es wird berichtet, dass die „Sicherungssumme“ der Credit Default Swaps bis zum zweiten halben Jahr 2007 auf über 60 Billionen Dollar“ angewachsen sei, „was mehr ist, als das Weltsozialprodukt des Jahres 2007 (etwa 55 Billionen Dollar).8 Dass dieses Vo-
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AaO. S. 13. Sinn Kasino-Kapitalismus, Berlin 2009, S. 129. Sinn aaO. S. 204; s. auch Münchau Kernschmelze im Finanzsystem, München 2008, S. 182 f. Sinn aaO. S. 204.
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lumen seit 2008 „stark im Fallen begriffen“9 ist, nimmt der Frage nach der Haftbarkeit einzelner Personen für diese Vorgänge nicht ihre Bedeutung. Sieht man sich die Begründungen an, die im Einzelnen gegeben werden (in erster Linie mit Blick auf § 266 StGB), so findet man allerdings zunächst nichts als die auf Presseberichte und andere Medienverlautbarungen gestützte Behauptung, dass diese Risiken eben unübersehbar geworden seien.10 Der
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Sinn aaO. Das muss leider auch mit Bezug auf die Begründungen gesagt werden, die Schünemann aaO. für die Strafbarkeit von Unternehmern anführt, die mit schwer überblickbaren Finanzprodukten gehandelt haben. Zwar geht Schünemann mit bewunderungswürdiger Genauigkeit auf die technischen Einzelheiten der Derivate ein, gelangt aber nicht zu überzeugenden Subsumtionen; das für ihn Ausschlag gebende Kriterium der „Bestandsgefährdung“ (S. 92) wird nicht expliziert. Vor allem aber fordert seine Auffassung zur Kritik heraus, dass hier ein Anwendungsfall für Strafrecht als sola oder prima ratio vorliege. Das ist nicht bewiesen, und nicht einmal schlüssig dargetan. Über Behauptungen kommt auch Kasiske Aufarbeitung der Finanzkrise durch das Strafrecht? Zur Untreuestrafbarkeit durch Portfolioinvestments in Collateral Debt Organisation via Zweckgesellschaft, in: Schünemann aaO. S. 13 ff., nicht hinaus – trotz subtiler Ausbreitung der ökonomischen Fakten. Ebenfalls nicht überzeugend der Versuch Schröders, aaO., der den Schwerpunkt seiner Erörterungen auf die Auslegung des ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals der Unvertretbarkeit geschäftlichen Handelns legt. Auch dieser Text ist in den ökonomischen Details ausführlich und äußerst sachkundig (S. 404–421) und verspricht auch unter dem Zwischentitel „Komplexität als Ursache von Kapitalmarktkriminalität“ interessante Aufschlüsse (S. 422 ff.). Aber dogmatisch bleibt dann doch das Entscheidende offen. So ist der Zeitpunkt, zu dem das den Ankauf von ABSAnleihen durch die Zweckgesellschaften deckende Garantieversprechen durch die Banken (wobei einmal dahingestellt sein soll, ob dies dem Kredit wirklich verwandt ist, S. 427) in das Stadium der Unvertretbarkeit tritt, nicht fixierbar. Vielmehr handelt es sich um eine gleitende Skala immer unsicherer werdender Situationen. Immerhin räumt Schröder ein, dass es „in diesem Sinne keinen Einzelakt, der unmittelbar zur Insolvenzreife führte, gibt (S. 430). Untreue als Kumulationsdelikt wäre insofern etwas Neues. Auch zur Existenzgefährdung als quantitativen Kriterium sagt Schröder nichts, was die Subsumtion im Einzelfall erleichtern könnte. „Bei der Risikoübernahme durch Banken für die exzessive Fristentransformation in Conduit“ sei der Bestand des Unternehmens gefährdet gewesen, „weil die Zweckgesellschaften angesichts der bewegten Volumina hoffnungslos unterkapitalisiert und die garantierenden Banken dadurch existenziell Risiken ausgesetzt waren“ (S. 437). Aber das ist immer noch nur eine Behauptung, zumal es sich ja auch bei der nachträglichen Betrachtung um die Imagination einer Prognose ex ante handeln muss, woran Schröder übrigens keinen Zweifel lässt (S. 438). Da Schröder, wie es scheint, auf Unterlassungen des Abbruchs dieser Geschäfte abstellen möchte, hat er auch noch das Problem der Erfolgsabwendungspflicht zu lösen, sagt dazu aber nichts.
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Schluss von der Tatsache, dass jemand ein unübersehbares Risiko eingehe, auf den Anfangsverdacht einer Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 StGB und eines dadurch herbei geführten Vermögensnachteils, scheint aber nicht ohne weiteres den Bestimmtheitserfordernissen zu genügen, die man an die Subsumtion eines Sachverhaltes unter § 266 StGB stellen muss, vor allem dann, wenn man sämtliche die Anwendbarkeit des § 266 StGB einschränkenden Gesichtspunkte beachtet. Die Pflicht zur Vermögensbetreuung, die § 266 StGB voraussetzt, muss über die seit langem anerkannten Standards (Hauptpflicht, Geschäfte von einiger Bedeutung) hinaus besonders schwer wiegen. Man könnte auch sagen, dass die Verletzung dieser Pflicht besonders schwerwiegend sein muss, „gravierend“, ist der inzwischen eingebürgerte Terminus. Wie sich dieses Merkmal auf die Pflicht selbst und auf deren Verletzung verteilt, bleibt merkwürdig dunkel. Aber darauf kommt es hier jetzt nicht an. Vielmehr wird man sich darauf einigen können, dass mit der Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht eine besondere Steigerung des Risikos für den Erfolgseintritt (Vermögensnachteil) gegeben sein muss. Dieses im allgemeinen Teil des Strafrechts entwickelte Kriterium für Delikte, die keine besondere Tatbeschreibung aufweisen, muss auch dort zur Geltung kommen, wo die Tatmodalitäten zwar ausgesprochen sind, die Beschreibung aber kaum über den Grad einer Generalklausel hinaus kommt.11 Womöglich muss man noch weiter gehen und das allgemeine Tätermerkmal der Tatherrschaft einfordern. Wenn sich eine solche Konstellation nicht nachweisen lässt, sondern insoweit die selbständigen Mechanismen der betriebswirtschaftlichen Systeme,12 die hier aufeinander stoßen, den Hauptpart übernehmen, dann hätte man bei den Personen, die man für ihre Mitwirkung haftbar machen wollte, gewissermaßen nur eine (straflose) Teilnahme ohne Haupttat.13
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Darüber Verf. ausführlich: Risikomanagement und „Risikoerhöhungstheorie“ – auf der Suche nach Alternativen zu § 266 StGB, in: FS für Klaus Volk, München 2009, S. 345 ff.; im Ergebnis skeptisch auch Brüning/Samson Bankenkrise und strafrechtliche Haftung wegen Untreue gem. § 266 StGB, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 2009, 1089 ff. (1091, 1093). Leider machen Schünemann und Schröder aaO. nicht den Versuch, die allgemeinen Zurechnungskriterien auf die spezifische Tatbestandsstruktur des § 266 StGB auszudehnen. Genauer dazu Lüderssen Systemtheorie und Wirtschaftsstrafrecht, in FS für Knut Amelung, Berlin 2009, S. 67 ff. Zu dieser möglichen Konstruktion Lüderssen Der Beitrag der Kriminologie zur Strafrechtsdogmatik – Eine Konkretisierung mit Blick auf die Probleme von Täterschaft und Teilnahme, in: Lahti/Nuotio (Hrsg.) Straftheorie im Umbruch, Helsinki 1992, S. 465 ff.
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Vergleichbare Probleme tauchen auf, wenn man versucht, mit dem Tatbestand des Betrugs zu arbeiten. Die Operation ins Ungewisse mit Produkten, die „kein Menschen mehr verstehen“ konnte,14 als Täuschung zu deklarieren, ist problematisch, weil das ja noch keine f a l s c h e n Tatsachen sind.15 Betriebswirtschaftlich sieht das so aus: „Durch die Verbriefungskaskade konnte ein Ursprungsportfolio von Hypotheken-Krediten mit mittlerer Qualität in ein Portfolio mit einem relativ hohen Anteil von Aktiva mit einem AAARating und einem kleinen von Aktiva mit einer sehr hohen Ausfallwahrscheinlichkeit umgewandelt werden. Das war kein offener Betrug, denn die mathematischen Rechnungen dahinter waren nachvollziehbar und in sich logisch. Nur waren die Rechnungen leider empirisch falsch, weil die zugrunde liegende Annahme der unabhängigen Risiken nicht erfüllt war“.16 Spätestens bei der Irrtumserregung scheitert die Konstruktion endgültig, denn wer mit Ungewissem konfrontiert wird, kann sich ja gar keine exakte Vorstellung von dem, was richtig sein könnte oder falsch, machen – vom Vorsatz schließlich ganz zu schweigen. Das sind vorläufige Überlegungen, die aber vielleicht doch zu technisch sind, zu sehr an die hergebrachte Dogmatik der Strafrechts anknüpfen und an dem Wunsch, ja der Forderung vorbeigehen, es müsse doch jemand verantwortlich sein.
B.
Verantwortung im Wirtschaftsleben
I. Mit dem Wort „Verantwortung“ verbindet sich offenbar mehr als das, was die Rechtswelt zu bieten scheint. Im Zivilrecht ist es die Haftung, wonach gefragt wird. Im Strafrecht geht es um höchstpersönliche Schuld – aber im öffentlichen Recht, werden da nicht wenigstens weiter reichende Verantwortungen aufgesucht? In der Tat wird von „Verwaltungsverantwortung als dogmatischer Begriff“ gesprochen,17 oder von „Verantwortung im demokratischen Verwaltungsstaat“.18 Doch die auch für andere Rechtsgebiete sich da14 15
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Sinn aaO. S. 135. Über die logische Anfechtbarkeit des Begriffs falscher Tatsachen sei hier einmal hinweg gesehen. Sinn aaO. S. 135, mit einem in der Anm. 7 ausführlich durchgerechneten Fall. Röhl in: Die Verwaltung, Beiheft 2, 1999, 33 ff. Dreier in: Neumann/ Schulz (Hrsg.) Verantwortung in Recht und Moral, ARSP, Beiheft 74, 2000, 9 ff.
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mit öffnenden Fragen werden weniger beantwortet als zugespitzt. „Verantwortung (. . .) trägt für die einen Hoffnungen auf dogmatische Evolutionen, wie sie für die anderen Inbegriff des Unbeherrschbaren ist, das von außen in das System dringt und Verwirrung stiftet“.19 Soll man, auf diese Weise entmutigt, sich doch auf Traditionen und Konventionen besinnen und nicht weiter anstrengen? Andererseits ist ja nicht zu übersehen, dass im Schuldbegriff jedenfalls des Strafrechts die Vokabel „Verantwortung“ vorkommt und von dort aus vielleicht doch ein Bogen gespannt werden muss zu einem allgemeinen Prinzip von Verantwortung in Staat und Gesellschaft, mit der Folge, dass sogar die Aufgaben des Strafrechts neu und umfassender definiert werden müssen. Die ewige Klage, dass das Strafrecht nur das gewissermaßen kleine und eng Umschriebene erfassen könne, bei schwierigeren gesellschaftlichen Vorgängen aber immer wieder versage, kann ja nicht einfach abgestellt werden. Vom Elendsstrafrecht ist die Rede, das übrig bleibe, wenn man im Großen mit dem Strafrecht nichts anfangen könne.20 Anders ist es im Politischen. Dort hat sich –im modernen Völkerstrafrecht – einiges getan bis hin zu einer Wiederbelebung eines emphatischen Begriffs vom Strafen, auf der Basis der unbeirrbaren Annahme, dass der Verkehr der Herrschenden mit den Bürgern, der Verkehr der Völker untereinander, der Krieg schließlich nichts sei, was von selbst geschehe, sondern immer Personen dahinter stünden.21 Vielleicht lohnt es sich also, auch für das Wirtschaftsleben im Arsenal der Verantwortungsbegriffe neue Anknüpfungen zu suchen für ein modernen Erwartungen entsprechendes Wirtschaftsstrafrecht. II. „Verantwortung ist kulturübergreifend, interkulturell und transkulturell, die Folie jeder Gesellschaft“.22 Demgemäß wird in der Risikogesellschaft „Verantwortung systematisch ausgeweitet“.23 Den großen Bezugsrahmen hat Hans Jonas geliefert.24 Damals war das ein Versuch, auf ökologische Heraus19 20
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Klement Verantwortung, Tübingen 2006, S. 4. Dazu Lüderssen Elendsstrafrecht, in: Hefendehl (Hrsg.), Empirie und dogmatische Fundamente kriminalpolitischer Impetus, Symposion für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, München 2005, S. 281 ff. Jäger Ist Politik kriminalisierbar? in: Lüderssen (Hrsg.) Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Band III, Makrodelinquenz, Baden-Baden 1998, kS. 121 ff.: Prittwitz Einleitung, in: Lüderssen (Hrsg.), aaO. S. 7 ff. Schulz Strukturen von Verantwortung von Recht und Moral, in: Lorenz Schulz (Hrsg.) Verantwortung zwischen materialer und prozeduraler Zurechnung, ARSP, Beiheft 75, Stuttgart 2000, 175 ff. (178). Schulz aaO. S. 182. Jonas Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main 1979.
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forderungen zur reagieren. „Sein Prinzip, mit dem die Menschheit selbst als Subjekt der Verantwortung inthronisiert wird, dehnt die Zurechenbarkeit potentiell grenzenlos aus auf sämtliche, auch nicht-intendierte und gar nicht bewusste Folgen des Handelns, ob es nun von Individuen oder Kollektiven ausgeht“.25 Es sollte „die Eröffnung gravierender Gefahren (Risiken), die ,organisierte Unverantwortlichkeit‘ verhindert werden“.26 Das hat viel Widerspruch hervor gerufen, und Cornelius Prittwitz hat die Zumutungen, die von dieser Basis aus auch an die Adresse des Strafrechts gerichtet worden sind, seinerzeit zurückgewiesen.27 Seine tour d’horizon ist eine gleichsam antizipierte Warnung sein, es jetzt angesichts der Phänomene der Finanzmarktkrise erneut mit einer Expansion des Strafrechts zu versuchen. III. Ehe man sich endgültig entscheidet, müsste aber erst einmal geklärt werden, ob die Minimalanforderung für eine solche Entwicklung, dass überhauptp e r s ö n l i c h e Verantwortungen fixiert werden können, erfüllbar ist. Die Literatur, die sich diesem Thema nähert, wächst gegenwärtig ins Unermessliche. Vor allem ist es die „Governance-Forschung“, die das deutlich macht. „Die governancebezogene Perspektive (. . .) erlaubt insbesondere Neuvermessungen der Arbeits-, Funktionen- und Verantwortungsteilung zwischen staatlichen, staatlich-privaten (. . .) und privaten Akteuren“.28 Auf einer höheren Abstraktionsebene geht es darum, „dass Regieren heute nicht mehr in einem durch das Paradigma der strikten Trennung von Staat und Gesellschaft (. . .) geprägten Verhältnis des Umgangs mit sozialen Problemen und Konflikten erfolgt“.29 Das bedeutet, dass „für die Lösung sozialer Probleme sich das Modell hierarchischer Über- und Unterordnung auf dem Rückzug“ befindet.30 Substanziell ist das eine praktische Folge der „in der Politik und staatrechtlichen Diskussion“ schon seit längerer Zeit in Gang gekommenen Entwicklung, „dass verständigungsorientierte Kommunikationen faktische Bedeutung im Prozess der Politikformulierung gewinnen“.31 Diese Situationsbeschreibung findet ihre Bestätigung in einer breiten rechtstheoretischen und staatsrechtlichen Diskussion über das Vordringen „kooperativer
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Schulz aaO. Schulz aaO. Prittwitz Strafrecht in der Risikogesellschaft, Frankfurt am Main 1993. Hoffmann-Riem Governance im Gewährleistungsstaat – vom Nutzen der Governance Perspektive für die Rechtswissenschaft, in: Schuppert (Hrsg.) Governance-Forschung, 2. Aufl., 2006, S. 195 ff. (196). Hoffmann-Riem aaO. Hoffmann-Riem aaO. Schuppert in Schuppert aaO. S. 371 ff. (449).
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und konsensualer Strukturen in der Normsetzung“.32 Das Interesse gilt der „Vielfalt der real existierenden Steuerungsmodi. Aus der Perspektive des Staates geht es in neo-kooperativen Arrangements darum, organisierte soziale Gruppen dazu zu bewegen, sich aus eigenem Interesse heraus gemeinwohlverträglich selbst zu regulieren“.33 Mit anderen Worten, es kommt darauf an, „ein enges Zusammenspiel zwischen privaten und öffentlichen Akteuren zu ermöglichen und durch diese Integration die Steuerungsressourcen auf eine größere Zahl von Akteuren zu verteilen“.34 IV. Handelt es sich um spezielle Wirtschaftszweige, stößt man aber sehr bald auf eine große Zurückhaltung bei der Aufnahme dieser Assoziationen der Öffentlichrechtler. Es gibt keine „Verfahren, wonach die Geschäftsführung einer Bank hinsichtlich ihrer volkswirtschaftlichen Verantwortung zur Rechenschaft gezogen werden könnte“.35 Dabei wird freilich auf Theoretiker Bezug genommen, die noch diesseits von Keynes die Autopoiese, wie man heute sagen würde, des wirtschaftlichen Systems betonen, denn das „Fehlen von ,cheques and balances‘ in der Wahrnehmung übergeordneter ,Verantwortung‘ – und damit die Umwälzung des Begriffs ,Verantwortung‘ selbst“, gehöre „zu den konstruktiven Elementen der Machtkonzentration in solchen Systemen“.36 Die Feststellung, dass „Verfügungsgewalt über Vermögenswerte in einer Volkswirtschaft bei den Leitungen der großen Publikums-Aktiengesellschaften konzentriert ist, und die damit verbundene Macht der Kontrolle von außen praktisch entzogen ist“, ist die nüchterne Folgerung. Letztlich gehe es um „Verteilungskonflikte“, und die fallen – und nun wird ein Begriff aus dem Aktienrecht eingeführt – unter das Thema „Stakeholder Value versus Shareholder Value“. Gleichwohl wird beklagt, dass die Frage nach der Verantwortlichkeit „so selten thematisiert werde“. „Das politische System begnügt sich weitgehend damit, die Immunisierung der Unternehmensleitungen gegenüber etwaigen unangenehmen Überraschungen von Seiten des Aktionariats zu unterstützen, ohne im Gegenzug eine Verantwortlichkeit anderer Art festzulegen. Die deutsche Mitbestimmung ist eine Ausnahme, die
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Becker Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, 2005. Schuppert aaO. S. 379. AaO.; was das für die strafrechtsdogmatische Beurteilung der Beteiligung des Staats am Wirtschaftsleben durch privat organisierte Gesellschaften und Amtsträger bedeutet, ist jetzt übersichtlich geschildert bei Noltensmeier Public Private Partnership und Korruption, 2008. Hellwig Zur volkswirtschaftlichen Verantwortung der Banken, unveröffentlichtes Manuskript. AaO. S. 3.
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die Regel bestätigt; denn merkwürdigerweise haben in anderen Ländern nicht nur die politischen Instanzen, sondern auch die Arbeitnehmerorganisationen deutliche Vorbehalte gegenüber dieser Form von Stakeholder-Interessen durch die institutionalisierten Mitspracherechte“.37 Es folgen Beispiele sehr wirksamer informeller Mechanismen, die „den Vorzug haben, dass sie erheblich mehr Flexibilität zulassen und dass sie weniger Aufwand erfordern.38 Diese Leseproben zeigen, dass man auch mit dem Peilstab (sit venia verbo) der „Verantwortung“ aus dem Meer des Unsichtbaren lediglich – und dann auch noch mehr oder weniger verzweifelt nach verschiedenen Richtungen blickend – auftauchen, es aber nicht durchdringen kann. Am Ende gelingt das mit keiner Methode. Aber ehe man in dieser Weise resigniert, lohnt doch vielleicht noch ein weiterer Anlauf.
C.
Ökonomie und Unternehmensethik
Nach dem – freilich sehr umstrittenen – Prinzip eines Zusammenhangs zwischen Genesis und Geltung39 kann vielleicht die Analyse der Entwicklung der Finanzkrise Erklärungsmuster produzieren, bis hin zu den streckenweise noch virtuellen Haftungssystemen einschließlich des Strafrechts. I. Die äußeren Daten der Entstehung der Finanzmarktkrise40 sind inzwischen so bekannt, dass nicht erneut im einzelnen dargetan werden40muss, wie die 37 38 39 40
AaO. S. 6. AaO. S. 9. Dazu Lüderssen Genesis und Geltung, Frankfurt am Main 1996. Gute Orientierung bei Vaubel Lehren aus der Finanzkrise: Rolle des Staates und internationale Dimension (in Ordo, Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 2009, S. 247 ff.); Weede Die Finanzmarktkrise als Legitimitätskrise des Kapitalismus: Überlegungen zur (allzu) menschlichem Handeln in Wirtschaft und Politik (in Ordo aaO., S. 67 ff.; Michler/Thieme Finanzmarktkrise: Marktversagen oder Staatsversagen, Ordo aaO., S. 185 ff.); Schüller Krisenprävention als ordnungspolitische Aufgabe, in Ordo aaO., S. 355 ff.; Rudolph Lehren aus den Ursachen und dem Verkauf der internationalen Finanzkrise, Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, Band 60, 2008, S. 713 ff.; Kempa Finanzmarktglobalisierung und Finanzmarktkrise, in: „Das wirtschaftswissenschaftliche Studium“, 2009, S. 139 ff.; Beckert Die Anspruchsinflation des Wirtschaftssystems (Westend 2010, S. 140 ff.). S. ferner Hartmann-Wendels Die Suprime-Krise: Die Rolle von Forderungsverbriefungen. In: Finanzierung, Leasing, Fackering, 2008, S. 253 ff.; Jäger/Voigtländer Hintergründe und Lehren aus der Suprime-Krise, in: Trends, 2008, 1 ff.; Gerdes/ Wolz
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Masse der amerikanischen Bürger in am Ende unbezahlbare Kredite hinein gelockt worden ist, welche Schuld daran die amerikanische Regierung trifft und die amerikanischen Banken, „weltweit eine Spielart des Kapitalismus durchzusetzen (. . .) der Geld aus Geld machte statt aus nützlichen Produkten“.41 Das Mittel ist eigentlich bewährt, das Stichwort heißt „Fristentransformation“. Das heißt, langfristig ausgeliehene Gelder werden kurzfristig refinanziert. In der Zinsdifferenz zwischen verliehenem und geliehenem Kapital liegt der Gewinn. Wenn aber die günstigere Finanzierung erkauft ist durch Risiken, die nur eine kurze Zeit überbrückt werden, danach aber andere umso schwerer treffen, dann stellt sich die Frage, ob selbst bei wirklich produktiv investitiver Verwendung des schnell verdienten Geldes, das, was danach passiert ist, ein zu hoher Preis war. Ex post betrachtet sicher, aber auch ex ante? Wenn die große Geldschöpfung aus Geld gelingt und dieses Geld „arbeitet“, werden Güter geschaffen, und die Erfolgsgeschichte der Steigerung des Lebensstandards in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ist der Beleg dafür. Aber was Anfang des 21. Jahrhunderts passiert ist, scheint das Gegenteil zu belegen. Und so sieht es aus: „Der amerikanische Hauspreisverfall erschütterte nicht nur die Finanz-, sondern auch die Realwirtschaft. Der unmittelbarste Effekt auf die Realwirtschaft, der von den fallenden Hauspreisen ausgeht, zeigt sich am Rückgang der Bautätigkeit. Denn wenn die Preise unter das Niveau der Baukosten fallen, lohnt es sich nicht, neue Häuser zu bauen. Wenn die Neubautätigkeit zusammenbricht, entsteht in der Baubranche sowie bei den Herstellern der Baumaterialien Arbeitslosigkeit. Parallel dazu schränkt die Bauindustrie ihre Investitionstätigkeit ein und kauft weniger Baumaschinen und weniger Dienstleistungen anderer Branchen ein, so dass auch dort die Arbeitslosigkeit wächst. (. . .) Die betroffenen Arbeitnehmer schränken ihren Konsum ein mit der Folge, dass die Konsumgüterbranchen, die die betroffenen Arbeitnehmer beliefern, weniger zu tun haben und auch Leute entlassen. Davon
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Mangelnde Risikotransparenz als Ursache vor der Finanzmarktkrise – Hat das externe Rechnungswesen versagt? In: Finanz Betrieb 2009, 274 ff.; Ralf Fendel/Michael Frenkel, Die Suprime-Krise 2007/2008: Ursachen, Auswirkungen und Lehren, in: Das Wirtschaftswissenschaftliche Studium 2009, 78 ff.; Beise Die Die Ausplünderung der Mittelschicht, München 2009, S. 69 ff.; Skidelsky Die Rückkehr des Meisters, Keynes für das 21. Jahrhundert, München 2010, S. 25 ff.; Herzog Marktwirtschaft in der Zwickmühle, Stuttgart/Leipzig 2009, S. 94 ff.; Hellwig Systemic Risk in the Financial Sector: An Analysis of suprime-mortgage Financial Crisis, in: De Economist 2009, S. 129 ff. Weitere Literaturhinweise bei Lüderssen in Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.) aaO., S. 270. Streeck in: FAZ 21. 6. 2009, S. 32.
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sind heimische Produkte wie Importe betroffen. Es entsteht ein negativer Multiplikationsprozess, der sich erst auf die amerikanische Wirtschaft und dann sukzessive auf die ganze Welt ausweitet. Im Endeffekt spüren alle Länder, die am internationalen Güterhandel beteiligt sind, die Flaute. (. . .) Hinzu kommen andere Bremseffekte auf den Konsum. So wie die Hauseigentümer und Aktienbesitzer mehr Konsum wagen, wenn sie reicher werden, schränken sie sich ein, wenn der Wert ihrer Immobilien sinkt. Viele sehen ihre Altersvorsorge gefährdet und versuchen, gegen die Vermögensverluste anzusparen. Andere müssen ihren Konsum einschränken, weil die Banken bei fallenden Hauspreisen auslaufende Hypothekenkredite nicht mehr verlängern. In jedem Fall schrumpft der Konsum, was wiederum negative Multiplikatoreneffekte für die Weltwirtschaft in Gang setzt. Die von den USA ausgehenden Bremseffekte sind riesengroß, weil Amerika wirtschaftlich groß ist und weil in den Immobilien und Aktien der Löwenanteil des Vermögens steckt. Das Platzen der Hauspreisblase mit einem Wertverlust der Immobilien von über 7 Billionen Dollar in nur zweieinhalb Jahren kommt einer Atomexplosion im Herzen Amerikas gleich, und leider löst diese Explosion wiederum weltweite Kettenreaktionen aus“.42 Zwischen Glück und Abgrund, nur weil „ein anonymer Systemfehler vorliegt“?43 II. Wer endgültig diese Perspektive einnehmen möchte, mit der Folge, dass „die Suche nach Schuldigen, die man vor Gericht oder moralisch zur Rechenschaft ziehen könnte, wenig Sinn mache, „weil das Fehlverhalten zum Normalfall geworden ist und sich bei tausenden Entscheidungsträgern zeigt, ohne dass man einzelne Individuen zu Hauptverantwortlichen machen könnte (. . .),“44 der sollte, ehe er das tut, doch vielleicht mehr wissen über die makroökonomischen Hintergründe. Dabei handelt es sich um Fakten und Normen. 1) Am nächsten liegt es, die erste Orientierung in der Verfassung zu suchen. Wirtschaftsverfassung und Grundgesetz“ ist ein Thema, das vor allem in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts viel erörtert worden ist, bei zunehmender Konzentration freilich auf das Problem der Mitbestimmung und der Kartelle.45 Die Wiederaufnahme der Marxismus-Diskussion an den 42 43 44 45
Sinn aaO. S. 49–51. Sinn aaO. S. 97. Sinn aaO. Zum Verlauf und aktuellen Stand der Diskussion: Zacher Aufgaben einer Theorie der Wirtschaftsverfassung, in: FS Böhm, 1970, S. 63 ff.; Papier Wirtschaftsverfassung in der Wirtschaftsordnung der Gegenwart, in: FS Sellmer, 2004, S. 459 ff.; Schmidt
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westdeutschen Universitäten in den siebziger Jahren hat diese Thematik verdunkelt, und als das vorbei war, hätte man sich auf den in Theorie und Praxis der sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegenden Ordoliberalismus von Franz Böhm, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow wieder besinnen können. Doch dann kam die Rezeption der „Systemtheorie“ (Luhmann), und die neue Institutionenökonomik mit ganz anderen, eher technischen Problemen. Man diskutierte über die Entdeckung der Relevanz der „Transaktionskosten“, nicht aber über „Kapitalismus und Demokratie“. Doch nur wenn man auch diese Frage wieder aufgreift (die Relativierung der in erster Linie auf den Staat setzenden Modelle ist lebenswichtig), und die älteren Theorien zum neuen Phänomen der Finanzmärkte in Beziehung setzt, wird man die Akzeptanzkrise meistern können, der die Konzeption einer sozialen Marktwirtschaft gegenwärtig ausgesetzt ist.46 2) Ob die Entwicklungen des Finanzmarktes die Diagnose zulassen, dass das Konzept der sozialen Marktwirtschaft noch passt, ist eine offene Frage, die auch die Großen der ökonomischen Theorie nur mit wechselseitigen Prophetien beantworten. So wendet sich Richard Posner, bekannt als führender Theoretiker von Law and Economics, gleichzeitig hoher Richter in den USA: „against the new New Deal that liberal economists like Paul Krugman and Joseph Stiglitz are dreaming of“.47 In der großen Koalition der Bundesregierung ist von sozialdemokratischer Seite eher ein neuer Keynesialismus zu spüren, während die CDU bei der Regulierung der Selbstregulierung bleiben möchte, direkte staatliche Intervention für kontraindiziert hält. Über eines sind sich allerdings alle Beteiligten einig. Die Welt des Kredites durch Banken ist auch ein Stück Demokratie, ein heimlicher Verteilungsprozess, der die Machtverhältnisse zwischen Eigentum und Nichteigentum auszugleichen versucht. „Eine Welt, in der jede Investition und aller Konsum ausschließlich mit Eigenkapital bezahlt werden müsste, wäre nicht nur eine ärmere Welt als unse-
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Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Isensee/Kirchhoff Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik, Band IV, 3. Aufl., 2006, § 92; Badura Wirtschaftsverfassung und Wirtschaftsverwaltung, 3. Aufl., 2008, Tübingen. In diese Richtung gehende Versuche sind vor allen Dingen den Arbeiten von Ingo Pies zu verdanken: Ich hebe hervor: Ordnungspolitik in der Demokratie, Tübingen 2000; Eucken und von Hayek im Vergleich, Tübingen 2001; Theoretische Grundlagen einer Konzeption der ,sozialen Marktwirtschaft‘: Normative Institutionenökonomik als Renaissance der klassischen Ordnungstheorie, in: Cassel (Hrsg.), Fünfzig Jahre soziale Marktwirtschaft, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Band 57, Stuttgart 1998, S. 98 ff. Posner A Failure of Capitalism, Cambridge, Massachusetts und London/England, 2009. S. 235.
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re; sie wäre vor allem auch eine Welt der festen Klassenunterschiede, eine Welt ohne soziale Mobilität. Denn nur die reichen Erben hätten genügend Geld, um ihre Ideen zu finanzieren und im Luxus zu leben. Die Armen müssten immer arm bleiben. (. . .) Die Erfindung des Kredits dagegen gibt den Armen ein Entmachtungsinstrument in die Hand, mit sie mit den Reichen und Etablierten im Markt konkurrieren können“.48 3) Das materielle Substrat für diese Deutungen ist die Gemeinwohlorientierung vor allem großer und mittlerer privater Unternehmen. Sie ist unbestritten, streitig ist nur, wie sie funktioniert. Pars pro toto könnte man das demonstrieren mit der schon erwähnten Diskussion über Shareholder Value oder Stakeholder Value als Leitlinien des Aktienrechts. Das ist die Frage, ob in der Geschäftspolitik nicht nur das Interesse der Anteilseigner, sondern auch das Interesse der Mitarbeiter, der Gläubiger und der Kunden, aber auch sonstige ökonomische Interessen der Allgemeinheit zu berücksichtigen sind. Die Auseinandersetzung gewinnt jetzt an Schärfe, weil der sachliche Gegensatz sich widerspiegelt in einem politischen: Angelsächsisch-amerikanische Welt – Kultivierung der Shareholder Value; kontinentaleuropäische Welt – Ausbau des Stakeholder Value Ansatzes. Diese Debatte entfaltet sich nach beiden Seiten: Perfektionierung der Shareholderorientierung durch Mobilisierung der Gestaltungsmöglichkeiten der Aktionäre und ihrer Einwilligungskompetenz einerseits, Übertragung des aktienrechtlichen Stakeholder-Ansatzes auf die allgemeine Unternehmenskultur im Sinne des interessenpluralistischen Konzepts des deutschen Corporate Governance Codex andererseits.49 Wie weit dieses Modell tragen wird, hängt davon ab, wie es sich in die Logik impliziter und externer Gemeinwohlorientierung einfügt. a) Was damit gemeint ist, wird deutlich in der Entwicklung der Unternehmensethik. Darüber informiert die in diesem Bande abgedruckte Arbeit von
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Hank Der amerikanische Virus, München 2009, S. 95; über die expressive Ausreizung dieses Prinzips im Namen der Armutsbekämpfung vgl. das Projekt des Nobelpreisträgers Yunus (darüber Schmidt Microfinance, Kommerzialisierung und Ethik, Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Stuttgart 2008). Zum Ganzen jetzt Spindler Unternehmensinteresse als Leitlinie des Vorstandshandelns – Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen und Shareholder Value, Kurzgutachten im Auftrag der Hans Böckler Stiftung, Oktober 2008, und in diesem Band, S. 71 ff.; zur allgemeinen Orientierung hier vor allem Kuhner Unternehmensinteresse vs. Shareholder Value als Leitmaxime kapitalmarktorientierter Kapitalmarktgesellschaften, in: ZGR 2004, 244 ff.
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Andreas Suchanek.50 Die Fragestellungen unterscheiden sich je nach dem, ob man der Ökonomie implizite oder explizite Orientierung zugrunde legt.51 b) Der Prüfstein dafür, in welchem Maße implizite, in welchem Maße externe Gesichtspunkte die Gemeinwohlorientierung des Unternehmens bestimmen, könnte in der Antwort auf die Frage liegen, an welcher Stelle die Situation und die Dynamik der modernen Finanzmärkte wettbewerbsfördernd und an welcher Stelle sie wettbewerbshindernd ist. Die kartellpolitische Diskussion in der Theorie der sozialen Marktwirtschaft kreiste seinerzeit um den Begriff der optimalen Wettbewerbsintensität. Sie ist ebenso gefährdet durch das enge Oligopol, wie durch die ruinöse Konkurrenz, und so ergibt sich die folgende Hypothese. So wie unter dem Gesichtspunkt der Abwehrung des Monopols es am Ende doch nicht effektiv ist, vollständige Konkurrenz anzustreben, muss man bei der Suche nach der optimalen Wettbewerbsintensität im Funktionieren der Finanzmärkte auch den goldenen Schnitt finden zwischen vollständiger Risikofreiheit und unendlicher Risikogefahr. Praktisch bedeutet das ein System von Regulierungen auf einer mittleren Ebene. Das ist inzwischen längst der pragmatische Kompromiss, aber es fehlt das theoretische Konzept. Was entspricht den optimalen weiten Oligopolen auf der Ebene der Finanzmarktrisiken? Der verbindende Topos könnte sein: „Ein staatliches Offenhalten der Märkte, eine auf wettbewerbliche Leistungsanreize kalkulierte Kombination von Vertragsfreiheit, privatem Eigentumsrecht und entsprechenden Haftungspflichten, sowie eine den Geldwert und die Erwartungsbildung stabilisierende Währung und Wirtschaftspolitik“.52 Besinnen wir uns auf die zentrale Funktion des Kredits. Er muss zu Investitionen führen können. Diese Eignung müsste eigentlich über Qualität und Seriosität eines Finanzmarktgeschäftes entscheiden. Wenn man das mit dem im Kartellrecht ausgebildeten Begriff der Wettbewerbsintensität parallel schaltet, könnte so etwas wie eine im Kartellrecht vergleichbare Formel herauskommen. Der Wettbewerbsintensität entspräche dann die optimale Inves-
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51 52
Vgl. ferner Homann Was bringt die Wirtschaftsethik für die Ethik, WittenbergZentrum für globale Ethik, Diskussionspapier Nr. 2008–4, 2008; Andreas Suchanek, Verantwortung, Selbstbindung und die Funktion von Leitbildern; Nik Lynn-LiAi/Andreas Suchanek, Eine wirtschaftsethische Kommentierung der Finanzkrise, Wittenberg-Zentrum für globale Ethik, Diskussionspapier Nr. 2009–2; Koslowski Ethik der Banken. Folgerungen aus der Finanzkrise, München 2009. Darüber im Einzelnen Lüderssen in Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.) aaO., S. 282 ff. Das ist Eucken; dazu Pies Eucken im Vergleich mit Hayek, Tübingen 2001, S. 66.
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titionstendenz. Das heißt, man müsste nach der Leistung suchen, die im Wandel des Verkaufs der Papiere zu niedrigen und dann wieder zu höheren Kurswerten liegt. Die betriebswirtschaftliche Aufgabe würde dann darin bestehen, zu prognostizieren, ob die Bewertungen von Verbriefungen das Spiegelbild produkterzeugender Prozesse sind. Dabei wäre dann allerdings noch das Problem zu lösen, bei den Wettbewerbsbeschränkungen zu unterscheiden, ob sie von den Adressaten der Wettbewerbspolitik, oder von der staatlichen Intervention ausgehen.53
D.
Der Regelungsbedarf
In der Tat lassen sich also aus der Analyse der Entwicklung der Finanzmarktkrise die Leitlinien für die Handhabung bereits vorhandener und die Schaffung neuer Regelungen in großen Zügen ableiten. Doch erst wenn man das genauer weiß, kann erneut und abschließend dazu übergegangen werden, die strafrechtlichen Konsequenzen (real und virtuell) zu kalkulieren. I. Viele Vorschläge sind inzwischen in der Literatur gemacht worden. 1) Am häufigsten wird gefordert, dass Regeln geschaffen werden, die eine entschiedene Steigerung der Transparenz der Verbriefungen garantieren. Dann die Priorität nachhaltiger Wertschöpfung; die damit verbundene Gefahr feindlicher Übernahme wegen Ausbleibens kurzfristiger Gewinnsteigerungen54 müsste balanciert werden durch entsprechende restringierende Vorkehrungen auf dem Gebiet des Übernahmerechts. 2) Vorgeschlagen werden ferner neue Risikoabschätzungsverfahren. Denn „als gravierendes Problem im Risikomanagement erweist sich (. . .) nicht nur die Messbarkeit der Risikointerdependenz in der Krise, also die Veränderung der Rückflüsse, der Ausfallkorrelationen und der Veränderungen der angenommenen Ausfallszeitpunkte, sondern ganz generell die Interdependenz verschiedener Risikoarten. (. . .) Quantitative Methoden zur Messung der Interdependenz dieser Risiken mit den Markt- und Kreditrisiken fehlen vollkommen. Mit der im Zuge der Entwicklung der Finanzmärkte immer weiter gehenden Vervollkommnung und Vervollständigung der Kapitalmärkte konnte man darauf vertrauen, dass die Liquiditätsrisiken vergleichsweise in 53
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Hellwig Effizienz oder Wettbewerbsfreiheit? Zur normativen Grundlegung der Wettbewerbspolitik. In: FS Mestmäcker, 2006, S. 231–268. Dazu Sinn aaO. S. 93 ff.
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den Hintergrund getreten sind. (. . .) Jenseits der technischen Mängel bei der Einschätzung der Risiken wird auch auf eine mangelnde Risikokultur hingewiesen.“55 Das wird auch psychologisch begründet: „Die hier formulierte Überzeugung ähnelt den Überlegungen der psychologischen Ökonomik, dass unter bestimmten Voraussetzungen ein Verdrehungseffekt der intrinsischen Motivation durch den Einsatz extrensischer Anreize beobachtet werden kann. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Konzentration auf das quantitative Management die rechenbaren Anteile überbetont und nicht nur viele Ressourcen im quantitativen Bereich bindet, sondern auch aus psychologischer Perspektive die qualitativen weichen Elemente des Risikomanagements zurückdrängt oder beeinträchtigt.“56 Das Mittel ist die „Zerlegung der Wertschöpfungsketten im Finanzbereich“.57 Im Übrigen rührt „die Frage, welche Rolle Wissen im prognostischen Betrieb der Finanzmärkte spielt (. . .), an allgemeine Fragen der Wissensvermittlung und Aufnahme und auch Funktion in der modernen Gesellschaft.“58 3) Die Forderung nach größerer Eigenkapitalbeteiligung ist inzwischen notorisch. Ob es dabei realistisch ist, dass man von den Banken verlangt, auch für „the worst case“ von Ausfällen die nötige Rückendeckung im Eigenkapital zu haben, erscheint zweifelhaft.59 4) Erwogen wird das Verbot von Leerverkäufen: „Man verkauft Aktien, die man gar nicht hat, treibt dadurch den Kurs der Aktien nach unten und kauft anschließend ganz rasch, bevor man die bereits verkauften Aktien wirklich liefert, die entwerteten Aktien am Markt, um seiner Lieferverpflichtung in letzter Sekunde nachkommen zu können.“60 Darin werden „extreme spekulative riskante Transaktionen“ gesehen.61 Andererseits wird auch betont, dass 55 56 57 58
59
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Rudolph aaO. S. 728. Rudolph aaO. Rudolph aaO., S. 733. Rudolph aaO.; genaueres dazu bei Strulik Beobachtungen im Kontext der Risikosteuerung des globalen Finanzsystems, in Schuppert/Vosskuhle (Hrsg.), Governance von und durch Wissen, Baden-Baden 2008, S. 87 ff. Darüber ausführlich Knebel/ Schmidt Gestaltungen zur Eigenkapital-Optimierung vor dem Hintergrund der Finanzkrise, in: Betriebsberater 2009, 430 ff. So die kurze Charakterisierung bei Sinn aaO. S. 168. Sinn aaO.; das BaFin hat ja dann auch für eine begrenzte Zeit ein Verbot ausgesprochen. Welche Folgen das in strafrechtlicher Hinsicht haben könnte, ist noch nicht abzusehen. Die Norm, auf die das Verbot durch das BaFin gestützt ist (§ 4 Abs. 1 Ziff. 3 Wertpapierhandelsgesetz) taucht jedenfalls nicht einmal in der Aufzählung der Anordnungen auf, deren Nichtbeachtung gemäß § 39 Abs. 3 Ziff. 1 Wertpapierhandelsgesetz eine Ordnungswidrigkeit darstellt. Inzwischen ist das BaFin-Verbot wie-
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sie die „Liquidität“ erhöhe und den Anlegern das Risikomanagement erleichtere, sie seien also eine wertvolle Ergänzung der traditionellen Finanzinstrumente.62 5) Entschiedene Einschnitte werden für die Reform des „Rating“ gefordert, weil die Agenturen „ihren Kunden im Rahmen des so genannten dictative rating gegen Gebühr dabei geholfen“ haben, „die Wertpapiere, die sie besaßen, zu strukturieren und somit den verschiedenen Tranchen zuzuweisen. Die Kunst bestand dann darin, die Tranchen so zu gestalten, dass ein möglichst großes Volumen an AAA-Tranchen entstand, denn damit konnten die Unternehmen wegen der niedrigen Zinsen, die sie für diese Tranchen entrichten mussten, die besten Geschäfte machen“.63 Das Problem war, dass man beispielsweise „einen Großkunden wie Lehman Brothers bei Meryll Lynch durch eine restriktive Bewertung verärgerte und dann möglicherweise verlor. Da fiel es ihnen schon leichter, ein paar kleinere europäische Banken korrekt zu bewerten und damit ihre Objektivität unter Beweis zu stellen“.64 6) Ganz sicher werden die Reformen auch die Existenz der außerhalb der Bilanz der Banken sich bewegenden so genannten Zweckgesellschaften (conduits) einbeziehen. 7) Das größte Problem sind die Haftungsregeln. Die auf das eingebrachte Kapital begrenzte Haftung ist die Grundlage unserer Marktwirtschaft. „Die Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung ist das zentrale Erfolgsmodell des Kapitalismus“. Sie sei, heißt es Anfang des vergangenen Jahrhunderts, „die größte Einzelentdeckung der Neuzeit. (. . .) Selbst Dampf und Elektrizität sind weit weniger wichtig als die Gesellschaft mit beschränkter Haftung“.65 Diese Struktur kann, so suggestiv auch in dieser Hinsicht im Insolvenzfall Arcandor auf die Eigentümer eingewirkt worden ist, durch den Verfassungssatz, „Eigentum verpflichtet“, nicht ausgehebelt werden. Das ist auch niemals ernsthaft diskutiert worden, wohl aber das andere Haftungsproblem, das auf die Formel „Principal/Agent“ gebracht wird. Die Trennung von Eigentum und Management führt zu einer asymmetrischen Risikowahrnehmung:
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der aufgehoben worden. Stattdessen gibt es jetzt das gesetzliche Verbot „ungedeckter Leerverkäufe“ (vgl. Bundestagsdrucksache 17/1952 v. 8. 6. 2010). Vgl. im übrigen Trüg in diesem Band, S. 290 ff. Studie der Deutschen Bank, zitiert nach dem Bericht in der FAZ v. 7. 4. 2010 (S. 17). Sinn aaO.; äußerst instruktiv der Artikel von Möllers Von Standards zum Recht, Auf dem Weg zu einer Rating-Agentur in Europa und in USA, in: Zeitschrift für das juristische Studium, 2009, 227 ff. Sinn aaO. S. 147. Belege bei Sinn S. 85.
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„Falls es schief geht, kann das Management ohnehin den Schaden nicht voll tragen. Falls es gut geht, sind Reputationsgewinn, Eigentumszuwächse oder Bonuszahlungen drin, also Gewinnbeteiligung, die das Ausmaß der denkbaren Verlustbeteiligung übertrifft.“66 II. Was auf diesen Gebieten von den nationalen und europäischen Institutionen an Regelungsvorschlägen zu erwarten ist, kann man schwer überblicken. Basis sind nach wie vor die 29 Punkte des „Global Plan für Recovery and Reform“ vom 2. 4. 2009. Was auf europäischer Ebene dazu inzwischen vorliegt, ergibt sich aus einer Mitteilung der Kommission über die europäische Finanzaufsicht vom 27. 5. 2009 und in dem, wenn ich recht sehe, nicht übersetzten „Accompanying Document for the Communication of the Commission European Financial Supervision“ unter der Überschrift „Impact Assessment“. Dazu tritt ein wiederum übersetztes Begleitdokument zur Mitteilung der Kommission unter der Überschrift „Zusammenfassung der Folgenabschätzung“, auch vom 27. 5. 2009. Das ist ein hochkarätiges Papier mit einer Vielfalt von Zuständigkeitsverteilungen, aber ohne inhaltliche Vorgaben, wenn man davon absieht, dass das Problem vor allem im Missverhältnis zwischen dem Niveau der europäischen Integration der EU-Finanzmärkte und der nationalen Organisation der Aufsichtspflichten gesehen wird und dass eine nicht uninteressante Differenzierung zwischen Mikro-Ebene und Makro-Ebene angeboten wird. Weitere Fortschritte sind nicht zu verzeichnen. Auch der Gipfel von Toronto (26./27. 6. 2010) hat nicht viel gebracht. Ob die neue Gesetzgebung der USA etwas bewirken wird, bleibt abzuwarten.
E.
Ein neues Strafrecht?
I. Das Strafrecht, das nicht frei schwebend unter der Devise seiner sittenbildenden Aufgabe (so hat man tatsächlich einmal gesprochen) in dieses komplexe ökonomische Gebiet einmarschieren und Plus und Minus verteilen darf (darüber ist man sich einig, insofern hat sich doch allmählich durchgesetzt, dass das Strafrecht nur eine sekundäre Ordnung ist67), hat es gleichwohl nicht 66 67
Weede aaO. S. 9 f. Dazu Lüderssen Primäre oder sekundäre Zuständigkeit des Strafrechts, in FS Eser, München 2005, S. 167 ff.; auch Schröder aaO., wie dargelegt, zum Strafen durchaus bereit, gesteht dies – jedenfalls für das Verhältnis von Strafrecht und Gesellschaftsrecht – zu, aaO. S. 15; ebenfalls in diesem Sinne Ransiek/ Hüls Strafrecht zur Regulierung der Wirtschaft, in: Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, 2009, 157 ff. (161 ff.).
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leicht, den Grad seiner Abhängigkeit abzuschätzen, die Stelle zu finden, an der die zusätzlichen, dann doch autonomen strafrechtlichen Kriterien beginnen. 1) Gibt es eindeutige vorgegebene rechtliche Regeln, so ist die Entscheidung leicht. 2) Sind diese rechtlichen Regeln auslegungsbedürftig, so entsteht indessen sofort ein Problem: Wer entscheidet über die richtige Auslegung? Gilt die akzessorische Natur des Strafrechts auch insofern, als es sich den Auslegungen der Vertreter der primär zuständigen Rechtsgebiete anschließen muss? Das wird man nicht sagen können. Im Zweifel gilt eine Auslegung, die den speziellen Erfordernissen des Strafrechts in Bezug auf Bestimmtheit, ultima ratio-Funktion und die übergreifenden prozessrechtlichen Grundsätze, wie nemo tenetur se ipse accusare, in dubio pro reo, etc. gerecht wird.68 3) Noch schwieriger ist es, wenn gar nicht andere Rechtsgebiete, sondern andere Wissenschaften – in Theorie und Praxis – (nicht selten streitige) Vorgaben machen könnten. Eine formelle Bindung besteht hier überhaupt nicht, und im Prozess entscheidet sich die Frage danach, ob der Richter die eigene Sachkunde hat (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO). Diese Entscheidung trifft er freilich selbst, und damit steht er dann doch vor dem substanziellen Problem, eine zweite Zuständigkeit herstellen zu müssen. Mehr nicht. Denn dem Sachverständigen, der dann spricht, braucht er auch nicht zu folgen, Grenzen gibt es da nur mit Blick auf Denkgesetze und unüberschreitbare naturwissenschaftliche Fakten. Selbst diese Bereiche sind streitig. Sind alle neuen Erkenntnisse der Neuro-Wissenschaften, die zu einer veränderten Anwendung der §§ 20, 21 StGB führen könnten, in dieser Weise verbindlich? Gegenwärtig erleben wir, dass die Strafrechtswissenschaft sich aufbäumt gegen ihr vorgehaltene Positionen der Neuro-Wissenschaften. Die einfache Rechnung, dass vieles, was diese Wissenschaftler behaupten, doch so rudimentär ist, dass für das Strafrecht praktisch nichts daraus folgen kann, wird gar nicht angestellt. Vielmehr überwiegt die Erregung darüber, dass hier jemand in das normative Reich des Strafrechts hineinregieren könnte; deshalb werden auch nahe liegende wissenschaftstheoretische Einwände gegen die Schlussfolgerungen der Neuwissenschaftler gar nicht ausgereizt, sondern sofort mit einem dualistischen Gegenprogramm übertrumpft. Dass das am Ende vernünftiger und freiheitsorientierter ist, als die von den Neurowissenschaftlern vorgeschlage68
Dazu im einzelnen Lüderssen Zur Konkretisierung der Vermögensbetreuungspflicht in § 266 StGB, § 87 Abs. 1 Satz 1 Aktiengesetz, in: FS Schroeder Heidelberg 2007, S. 569 ff.; so auch Ransiek/Hüls aaO. S. 174.
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nen Konditionierungsprogramme, steht auf einem anderen Blatt, könnte vielleicht sogar selbst dann, wenn die Neurowissenschaftler über die menschliche Motivation im Besitz der Wahrheit wären, zu einem normativ begründeten fiktiven Konzept führen.69 Doch an der Frage, aus welchen Gründen die Neurowissenschaft Daten anbieten könnte, die für die Strafrechtswissenschaft verbindlich sein können, geht das vorbei. 4) Ganz hoffnungslos ist es, wenn nicht Naturwissenschaft, sondern Sozialwissenschaft angeboten wird als Rechtsquelle. Wird etwa die Unzweckmäßigkeit der Abschaffung von Hedge-Fonds dargetan und geschieht das auf der Basis eines Konzeptes des Marktes und seiner Aufgaben für die gegenwärtige Volkswirtschaft und für den Einzelnen, das diskutierbar ist, über das man verschiedener Meinung sein kann – haben die Ökonomen dann doch das Prävenir, oder ist der Jurist ganz frei? Bei Handelsbräuchen z. B. hat sich eine Art von Verbindlichkeit für das Recht durchgesetzt, und für manche strafrechtsdogmatische Begriffe, die stark auf sozialen Normen aufbauen, gilt das auch, so für den Gewahrsamsbegriff. Hier genügt nicht die jederzeitige Zugriffsmöglichkeit und der Wille dazu, vielmehr muss nach den Anschauungen des alltäglichen sozialen Lebens von Gewahrsam die Rede sein können. Das ist ein primitives Beispiel, niemand streitet darüber, und es ist auch nicht so wichtig. Aber wenn die makro- und mikro-ökonomischen Spezialisten sprechen, verkörpern sie die ökonomische Vernunft, vertreten gewissermaßen einen hochstilisierten Alltag, der – wäre er ein einfacher Alltag – von den Juristen ohne weiteres akzeptiert würde. Dies freilich nur unter der Voraussetzung einer vorausgehenden sozialen Bewertung, die dann ihrerseits im speziellen Bewertungshorizont der Juristen untergebracht werden muss. Der Einfluss der Sozialwissenschaften auf das Strafrecht war in den methodologischen Diskussionen der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts jahrzehntelang das Thema. Greifbare Ergebnisse sind nicht dabei herausgekommen. Ähnlich steht es mit der für wirtschaftliche Sachverhalte eher zuständigen Bewegung von „Law and Economics“. Man erinnert sich an endlose Travemünder Symposien zu diesem Thema.70 69
70
Darüber Lüderssen Das Subjekt zwischen Metaphysik und Empirie. Einfluss der modernen Hirnforschung auf das Strafrecht? In: Duncker (Hrsg.), Beiträge zu einer aktuellen Anthropologie, 2006, S. 189 ff. Vgl. statt vieler Schäfer/Ott Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen, Tübingen 1999; Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts, Band 2, Baden-Baden 2007, S. 1 ff.
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5) Eine weitere Aufklärung könnte von der Kriminologie kommen. Aber sie hat sich dieser Methodenfrage immer versagt. Entweder hat sie sich als dem Strafrecht zuarbeitende Hilfswissenschaft verstanden oder das Strafrecht abgelehnt; die Zuschreibungskritik, die unter dem Namen „Labeling Approach“ bekannt geworden ist, stand ganz in diesem Zeichen. Als es sich dann darum handelte zu entdecken, dass auch aus der Sicht der Vertreter dieser Kriminologie „Strafwürdiges“ passiere, beginnend mit den Taten Rechtsradikaler, wurde tatsächlich die Frage gestellt, ob es nicht unterlassene Zuschreibung geben könne. Aber ernste Versuche von Strafrechtlern, diese Frage zu beantworten,71 blieben ohne jede Resonanz. Es gibt lediglich – erst kürzlich erschienen – einen traurigen Abgesang unter dem Titel „Die Kontroverse um das ,repressive Verbrechen‘ und die Folgen für die Theorie“,72 ohne jeden sachlichen Gehalt. Die interaktionistische Kriminologie ist eine wissenschaftliche Antwort auf das Wirtschaftsstrafrecht bisher schuldig geblieben.73 6) Wissenschaftstheoretisch verlässliche Kriterien dafür, wo man angesichts der Vielfalt von Wissbarem, die Selbständigkeit des Strafrechts anfangen bzw. aufhören lassen sollte, gibt es also nicht, so schwer mir das zuzugeben fällt, denn ich habe die Belehrung durch die Sozialwissenschaften immer gesucht. II. Es kommt daher doch vor allem auf rechtspolitische Entscheidungen an. 1) Wenn man sich, wofür viel spricht, für jenen Typus sozialverantwortlichen Wirtschaftens entscheidet, der strenge Regulierungen des Marktes nur als Regulierung von Selbstregulierung und nicht als staatliche Intervention wünscht – und das wäre ein wettbewerbstheoretisch und unternehmensethisch modernisierter Liberalismus, dessen Ursprünge in die zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückgehen74 – dann ergibt sich für das Strafrecht ziemlich zwingend der Verzicht auf eine Teilnahme an direkter Steuerung des Wirtschaftslebens.75 71 72 73
74 75
Lüderssen Unterlassene Zuschreibung, FS Sack, Baden-Baden 1996, S. 113 ff. Hess in: Prittwitz u. a. (Hrsg.), Kriminalität der Mächtigen, Baden-Baden 2008, S. 306 ff. Vgl. Techmeier Zur strafrechtlichen Immunisierung bei Wirtschaftsstrafsachen, in: Prittwitz u. a. aaO. S. 62 ff.; sorgfältige Aufarbeitung des Dilemmas, in das sich die kritischen Kriminologen begeben haben, jetzt bei Schneider Wirtschaftskriminalität, Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminologie – Über die Erstarrung der deutschen Kriminologie zwischen atypischem Moralunternehmertum und Bedarfswissenschaft, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche Schranken, 2009, S. 61 ff. „Ordoliberalismus“ – ein damals zeitgemäßer Begriff. So mit großer Entschiedenheit und Klarheit jetzt auch Hassemer Die Basis des Wirtschaftsstrafrechts. In: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.) aaO., S. 29 ff.
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Wenn das Strafrecht aber nicht steuern soll, was soll es dann? Soll es sich darauf beschränken, rückwirkend zu vergelten? Nicht wenige Kritiker des strafrechtlichen Steuerungsanspruches sehen diese Konsequenz und finden nichts dabei, obwohl man sie keineswegs alle auf der Seite der absoluten Straftheorien verbuchen kann, einige vielmehr in anderen Kontexten durchaus von Resozialisierung und weiteren relativen Strafzwecken sprechen. Diese Literaturlage philologisch zu untersuchen ist hier nicht der Ort. Aber dass Prävention als Aufgabe des Strafrechts nicht gleichgesetzt werden muss mit einem allgemeinen entsprechenden Steuerungsanspruch des Staates, sollte doch vielleicht etwas deutlicher gemacht werden. In ECLE 1, S. 285/286 ist das in Umrissen geschehen. 2) Es bleibt die rechtspolitische Entscheidung, die man guten Gewissens treffen kann: Je mehr gute wirtschaftsverwaltungsrechtliche Kontrollen des Finanzmarkts wir bekommen, umso weniger strafrechtliche werden wir brauchen.76 a) Diese Überlegung ist freilich dem Einwand ausgesetzt, dass die Verbindung von modernen Compliance-Systemen und „good corporate citizen“ die Schutzwürdigkeit von Interessen deutlich macht, die bisher als strafrechtliche Rechtsgüter noch nicht definiert sind. Es könnte ja durchaus in der Entwicklungslinie einer Mixtur von Staat und Markt liegen, dass in dem Maße, wie der Markt auch öffentliche Aufgaben übernimmt, neue kollektive Rechtsgüter entstehen, und dass es nur konsequent wäre, auf deren Verletzung auch mit dem Strafrecht zu reagieren. Strafrechtliche Relevanz dürfen, sollen nicht wichtige liberale Traditionen verlassen werden, solche kollektiven Rechtsgüter nur erhalten, wenn als Bezugsgröße an irgendeiner Stelle doch die einzelne Person eingesetzt werden kann. Der konstruktive Weg dafür wäre, das kollektive Rechtsgut als die Abbreviatur eines bestimmten Stadiums des Weges anzusehen, auf dem das Rechtsgut eines Einzelnen angegriffen wird. Der Gesetzgeber interveniert eben schon früh und relativ umfassend und wartet nicht erst ab, bis beim Einzelnen der Schaden angekommen ist. Im Grunde ist das die – freilich anfechtbare – Konstruktion der abstrakten Gefährdungsdelikte. Wenn allerdings der Ursprung des Angriffswegs sich zu weit verliert in die unübersehbaren Strukturen des Finanzmarktes, ist bei einem Tatbestand, der 76
Zu dieser Priorität ausführlich und gründlich Prittwitz Perfektionierte Kontrolldichte und rechtstaatliches Strafrecht, in: Beulke/Lüderssen/Popp/Wittig (Hrsg.), Das Dilemma des rechtsstaatlichen Strafrechts, Berlin 2009, S. 185 ff.
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diese Strukturen – in der Gestalt von Zwischenrechtsgütern, wie man auch sagen könnte – bezogen auf die Schutzwürdigkeit des Einzelnen fixieren will, eine vom Verfassungsrecht garantierte Bestimmtheit nicht mehr gegeben. b) Wie soll das Strafrecht auf den gleichwohl zu erwartenden Kriminalisierungsdruck reagieren? aa) Ausgangspunkt ist, dass der im Namen der Staatsräson erhobene öffentliche Strafanspruch abgelöst worden ist durch den öffentlichen Strafanspruch im Namen des Gemeinwohls.77 Das Gemeinwohl muss für das Strafrecht – zusätzlich – aus der Perspektive der Strafzwecke definiert werden. Das heißt, die Frage etwa nach der Einbeziehung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts in die Begründung für die Etablierung neuer strafrechtlich zu schützender Rechtsgüter beschränkt sich nicht darauf, die Verbindungslinien herzustellen zwischen dem Funktionieren des Marktes und der Wohlfahrt des Einzelnen, sondern muss auch in den Blick nehmen, ob es zur Blockierung dieses weitläufigen Angriffsweges im Namen des Gemeinwohls wirklich erforderlich ist, die Akteure über die Schadensersatz- oder Wiedergutmachungspflichten hinaus, die sie treffen können, zu disziplinieren. bb) Diese Ankündigungen sollten aber nicht nur auf dem Papier stehen, sondern sich im Einzelfall realisieren, und das heißt, unter Umständen: Einsperren mit dem Zweck der Resozialisierung (oder – etwas petrefakt – Vergeltung). Das muss vor Augen haben, wer Strafbarkeit fordert, und zwar auch schon bei der abstrakten Androhung der Strafe im Strafgesetz. Denn die damit angestrebte Generalprävention ist nur realistisch, wenn ihre Adressaten – die Bürger – damit rechnen müssen, dass im Einzelfall die Strafe auch ausgesprochen und vollzogen wird, gleichviel ob das geschieht, um die Bürger von zukünftigen Taten abzuschrecken (negative Generalprävention), oder um ihnen zu demonstrieren, dass die strafrechtlichen Verbote wirklich gelten (positive Generalprävention). cc) Deshalb muss jetzt eine neue Forschung über die Rolle eines bestimmten, bisher noch nicht definierten Typus des homo oeconomicus beginnen: Nicht der Bankrotteur, oder die Gründer von Schwindelfirmen, die Urheber von betrügerischen Schneeballsystemen interessieren, sondern die am Wirtschaftsleben teilnehmenden Personen, die große Risiken eingehen nach Regeln, deren 77
Zum folgenden, mit weiteren Belegen, Lüderssen, Muss Strafe sein? Das Strafrecht auf dem Weg in die Zivilgesellschaft, in Festschrift für Winfried Hassemer, Heidelberg u. a. 2010. S. 467 ff. (475 ff.).
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Umfang und Verbindlichkeit gegenwärtig weitgehend ungeklärt sind. Wie sehen in einem von ökonomischer Eigendynamik geprägten System Risiken aus, die so unbeherrschbar sind, dass die Personen, die sich vorsätzlich und dominant über diese Risiken hinweg setzen, resozialisiert werden müssen oder Vergeltung verdienen? Die Regeln, die hier verbindlich werden sollen, müssen eine Überzeugungskraft von großer Allgemeinheit besitzen, ehe sie als Grundlage für die Konstituierung strafrechtlich geschützter Rechtsgüter und die persönliche Zurechnung ihrer Verletzung in Betracht kommen. Von der Strafgesetzgebung ist deshalb zu fordern, nicht nur ihrer ohnehin bestehenden Pflicht nach Folgenabschätzung nachzukommen, sondern erst einmal die Grundlagen für diese Folgenabschätzung zu erforschen – unter Heranziehung aller beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen und verfügbaren wirtschaftlichen Erfahrungen.
F.
Ergebnis
So lange die strafrechtsrelevanten normativen und empirischen ökonomischen Zusammenhänge, in denen sich die virtuellen Täter und Taten im Risikomanagement des Wirtschaftslebens bewegen, und die Wirkungen, die in den anvisierten Fällen von – im Namen des Gemeinwohls angedrohten und verhängten – Sanktionen ausgehen können, nicht einmal annähernd erforscht sind, bleibt die Anwendung des Strafrechts experimentell; die Strafrechtsprechung muss sich also zurückhalten, und dem Gesetzgeber fehlt vorerst die Legitimation, auf diesem Gebiet neue Straftatbestände zu schaffen.78
78
So auch Gillmeister in diesem Band. S. auch Lüderssen, Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 30. 6. 2010, S. 18.
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Neue betriebswirtschaftliche Phänomene und Wirtschaftsstrafrecht
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Mehrdeutigkeit der Rechnungslegung
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Mehrdeutigkeit der Rechnungslegung und Herdenverhalten als Ursachen der Finanzkrise Mehrdeutigkeit der Rechnungslegung Olaf Clemens und Reinhard H. Schmidt
Olaf Clemens und Reinhard H. Schmidt Gliederung I. Erklärungen der Finanzkrise und der Anspruch unseres eigenen Beitrags 1. Die makroökonomischen Erklärungsansätze 2. Die mikroökonomischen Erklärungsansätze 3. Ziel und Aufbau unseres Beitrags II. Ambiguität von Information als eine spezielle Form und Quelle der Unsicherheit 1. Allgemeine Kennzeichnung von Ambiguität 2. Der Prozess der Verbriefung als Quelle der Ambiguität 3. Zweideutige Rechnungslegungsinformation als Ursache der Ambiguität III. Informationskaskaden als Ursache von Funktionsstörungen auf Märkten 1. Informationskaskaden und Herdenverhalten: Definitionen und allgemeine Kennzeichnung 2. Informationskaskaden und Herdenverhalten in der aktuellen Finanzkrise IV. Des Kaisers neue Kleider
I.
Erklärungen der Finanzkrise und der Anspruch unseres eigenen Beitrags
Die im Jahre 2007 ausgebrochene Krise war die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren. Dies gilt unabhängig davon, wie man die Krisenfolgen misst. Dies allein rechtfertigt es, sich intensiv mit der Frage zu beschäftigen, wie es zu der Krise kommen konnte. In diesem Beitrag untersuchen wir einen mutmaßlich ursächlichen Faktor, der bisher in der Literatur nahezu überhaupt nicht angesprochen worden ist, die Uneindeutigkeit der Rechnungslegungsinformationen, und zeigen die Mechanismen auf, die daraus eine akute Krise entstehen ließen.
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Olaf Clemens und Reinhard H. Schmidt
Die Meinungen darüber, woran es gelegen hat, dass die Krise überhaupt entstanden ist und warum sie dann ausgebrochen ist, sind geteilt und reflektieren in vielen Fällen die professionelle Herkunft der jeweiligen Autoren. Hingegen ist es weniger umstritten, wie sich die Krise von dem eher kleinen Marktsegment des amerikanischen „Subprime-Marktes“, des Marktes für Immobilienkredite an Kreditnehmer mit geringer Kreditwürdigkeit, auf das gesamte Finanzsystem in den USA und weltweit ausbreiten und aus der Finanzkrise eine weltweite Wirtschaftskrise werden konnte. Auf den Aspekt der Krisenverbreitung gehen wir in unserem Beispiel allerdings nicht ein.
1.
Die makroökonomischen Erklärungsansätze
Generell und gewiss vergröbernd kann man die Erklärungen der Krisenentstehung in eher makroökonomisch orientierte und eher mikroökonomisch orientierte Erklärungen einteilen. Makroökonomische Erklärungen1 sehen die Ursache der Krise vor allem in der Geldpolitik der US-Notenbank unter Alan Greenspan. Ihnen zufolge war die Entstehung der Krise eine Folge der Politik des leichten Geldes, die die amerikanischen Zentralbank seit dem Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts verfolgte, um die wirtschaftlichen Folgen der rasch aufeinander folgenden potenziellen Krisenauslöser2 abzufedern und zu verhindern, dass diese Ereignisse zu massiven Wirtschaftskrisen in den USA auswachsen. Kurzfristig war diese Politik regelmäßig erfolgreich; ihre langfristigen negativen Wirkungen hat man hingegen seinerzeit übersehen und damit die Voraussetzungen der derzeit noch anhaltenden Krise geschaffen. Dass die amerikanische Zentralbank es sich erlauben konnte, mögliche Krisen immer wieder mit einem massiven Zufluss an Liquidität, d. h. viel billigem Geld, zu bekämpfen, ohne dass dies die Preisstabilität gefährdet hat, hatte außenwirtschaftliche Gründe: Vor allem die asiatischen Länder, die von der Asienkrise massiv betroffen waren oder hätten betroffen sein können, namentlich China und Korea, haben ihre Lektion von 1998/99 gelernt. Sie wollten nie wieder abhängig davon sein, dass ihnen der IWF aus ihrer Krise heraushilft und ihnen dabei Auflagen macht, die der inländischen Wirtschaft
1 2
Vgl. beispielsweise Rajan (2007), Borio (2008) und Demyanyk und Van Hemert (2009), Gemeint sind hier Asien- und Russlandkrise und die damit verbundene LTCM-Krise (1998), das Platzen der Dot-Com-Blase (2000) und die Folgen der Terroranschläge v. 11. 9. 2001.
Mehrdeutigkeit der Rechnungslegung
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und Gesellschaft schweren Schaden zufügte.3 Um sich von ausländischen Krediten unabhängig zu machen und sich so vor zweifelhaften Auflagen des IWF zu schützen, begannen sie durch billige Exporte riesige Exportüberschüsse zu erwirtschaften und daraus gespeist Finanzpolster zu bilden. Die erzielten Finanzüberschüsse legten sie am amerikanischen Kapitalmarkt an. Die Exportoffensive der asiatischen Länder hielt die Verbraucherpreise in den USA niedrig und ersparte es der amerikanischen Zentralbank, die kurzfristigen Zinsen hoch zu setzen. Zugleich übte der Kapitalimport aus diesen Ländern Druck auf die längerfristigen Zinsen in Amerika aus und stärkte so die Politik niedriger kurzfristiger Zinsen, die die FED verfolgte, um die Binnenwirtschaft in den USA anzuregen. Niedrige Zinsen erleichtern die längerfristige Verschuldung, und wenn sich die Erwartung verfestigt, dass die Zinsen niedrig bleiben, steigen die Immobilienpreise. Genau dies geschah in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts. Dies wiederum ließ die Hauskäufer – und auch viele ihrer Kreditgeber basierend auf den Erfahrungen der Vergangenheit – erwarten, dass die Immobilienpreise dauerhaft nur steigen könnten, und ermunterte sie, Häuser und Wohnungen zu erwerben, die sie sich unter anderen Bedingungen nie leisten könnten. So kam es zu dem Immobilienpreisboom in den USA. In dessen Verlauf wurden auch immer mehr Kredite an Hauskäufer mit geringer Solvenz, so genannte subprime loans, vergeben. Erst im Jahre 2006, als die Zinspolitik der Zentralbank verbunden mit der zunehmenden Auslandsverschuldung der USA nicht mehr durchhaltbar war, brach der Boom ab, kehrte sich um, und die Krise setzte ein.
2.
Die mikroökonomischen Erklärungsansätze
Die mikroökonomischen Erklärungen widersprechen dieser Argumentation nicht, ergänzen sie aber und betonen andere Faktoren.4 Für sie ist die Entstehung der Krise vor allem verbunden mit den Prozessen der Deregulierung und der Innovation. Der wesentliche Schritt der Deregulierung in den USA war die Aufhebung des alten Bankengesetzes aus dem Jahr 1933, des GlassSteagall Act, das eine strikte Trennung zwischen Geschäftsbanken und In3
4
Es waren Ratschläge und Auflagen, die glücklicherweise in der aktuellen Krise kein westliches Land auch nur erwogen hat, für sich anzuwenden, wie Franklin Allen im Herbst 2009 in einem noch nicht veröffentlichten Vortrag auf der DGF-Tagung in Frankfurt ausgeführt hat. Vgl. beispielsweise Brunnermeier (2008), Crouhy, Jarrow und Turnbull (2008), Franke und Krahnen (2008) und Gorton (2008).
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Olaf Clemens und Reinhard H. Schmidt
vestmentbanken gefordert hatte, im Jahre 1999. Das neue Bankengesetz, der Gramm-Leach-Bliley Act, erweiterte die Geschäftsfelder der Bankkonzerne (financial holding companies) auf alle Arten von Finanzdienstleistungen.5 Dies erlaubte den Banken auch, Kredite zu verbriefen. Bis dahin war dieses Geschäft im Wesentlichen den halbstaatlichen Immobilienbanken Fanny Mae und Freddy Mac vorbehalten gewesen. Zu den wichtigsten Innovationen jener Zeit gehört die Technik der Kreditverbriefung. Im Zuge dieser securitization werden von einer Bank Bündel von Krediten auf spezielle, rechtlich selbständige Unternehmen, so genannte „Special Purpose Vehicles (SPVs)“ oder „Structured Investment Vehicles (SIVs)“, übertragen und dort dann in „Pakete“ (Tranchen) mit bestimmten Charakteristiken hinsichtlich Zahlungsansprüchen und übernommenen Risiken zerlegt und rechtlich verpackt. Damit entstehen aus einem Pool von Krediten mit durchschnittlichem Risiko strukturierte Wertpapiere mit sehr unterschiedlichen Ausfallrisiken. Ein Teil davon sind weitgehend oder sogar vollständig risikolose Wertpapiere, während andere ein gewisses oder sogar ein hohes Risiko tragen. Diese in synthetische Wertpapiere gekleideten „Pakete“ werden dann von einer Rating-Agentur bewertet und – versehen mit dieser Bewertung – am Kapitalmarkt insbesondere an institutionelle Investoren verkauft. Für viele institutionelle Investoren sind auf Grund der für sie geltenden Anlagevorschriften die risikolosen bzw. sehr risikoarmen Wertpapiere mit verbrieften Krediten, die von Rating-Agenturen mit dem Prädikat AAA versehen sind, besonders attraktiv. Die neue Technik der Verbriefung ermöglicht es, diese zunehmend wichtigen Kapitalquellen zu erschließen. Auch generell stellt die Verbriefung eine durchaus sinnvolle Finanztechnik dar, erlaubt sie doch, Vermögenspositionen mit unterschiedlichen Risiken – und entsprechend unterschiedlich hohen Verzinsungen – zu schaffen, so dass die Risiken gezielt denjenigen Marktteilnehmern übertragen werden können, die besonders geeignet erscheinen, höhere Risiken zu tragen. So kann eine effiziente Risikoallokation zustande kommen. Die Verbriefung stellt insofern nichts anderes dar als eine subtile Form der Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Kapitalmarktteilnehmern, die je nach ihren Interessen und Fähigkeiten unterschiedliche Funktionen innerhalb des Gesamtprozesses der Kreditvergabe übernehmen. Damit ändert sich zugleich die Rolle der Banken. Statt wie früher alle Funktionen zugleich zu erfüllen, also Kreditnehmer zu finden und auf ihre Kreditfähigkeit und Kreditwürdigkeit
5
Gramm-Leach-Bliley Act, Sec. 103 (a).
Mehrdeutigkeit der Rechnungslegung
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hin zu überprüfen, die nötigen Mittel dauerhaft bereitzustellen, alle Risiken zu tragen und schließlich für die Eintreibung der fälligen Zinsen und Rückzahlungen zu sorgen, sind sie im Falle der Verbriefung nur noch dafür zuständig, Kreditnehmer zu finden und mit ihnen Verträge abzuschließen. Das alte Geschäftsmodell der Banken – „originate and hold“ – wird ersetzt durch ein neues, das man mit den Schlagworten „originate and distribute“ kennzeichnet.6 Im Prinzip lässt sich diese Technik der Verbriefung auch auf subprime loans anwenden, die den herkömmlichen Anforderungen von Banken nicht genügen würden. Und genau dies ist nach 1999 auch in großem Umfang geschehen. Die fortlaufende Erfahrung, dass dies möglich und für die beteiligten Finanzinstitutionen sehr ertragreich ist, hat die Bereitschaft der Banken erhöht, solche Kredite zu gewähren. Dass damit die Kreditvergabe auch auf bisher nicht als kreditwürdig geltende Schuldnergruppen erweitert wurde, war ein wirtschafts- und sogar sozialpolitisch durchaus erwünschter Nebeneffekt der Deregulierung. Es wäre unangemessen, die Verbriefung generell und per se als problematisch oder gar als eine Ursache der Finanzkrise anzusehen. Doch wie andere verursacht auch diese Form der Arbeitsteilung Reibungen, technisch gesprochen Transaktionskosten, und bei ihrer Anwendung können Fehler gemacht werden. Wie auch bei anderen Formen einer sehr weitgehenden Arbeitsteilung ergeben sich Transaktionskosten daraus, dass für alle beteiligten Parteien Anreize entstehen, die spezielle Aufgabe, die ihnen zufällt und deren ordentliche Erledigung anderen zugutekommen würde, weniger sorgfältig zu erfüllen, als sie es täten, wenn sie alle Folgen selbst zu tragen hätten. Außerdem entstehen Transaktionskosten daraus, dass zwischen den verschiedenen beteiligten Parteien sehr komplizierte Verträge abgeschlossen werden müssen. Diese Transaktionskosten sind um so höher, je weniger überschaubar der gesamte Prozess und seine einzelnen Komponenten sind und je mehr Parteien involviert sind. Es kann sehr wohl sein, dass die Transaktionskosten die Vorteile der Arbeitsteilung übertreffen, und es kann auch sein, dass die Probleme von den Beteiligten nicht richtig eingeschätzt werden. Genau dies scheint bei der Verbriefung von subprime loans geschehen zu sein, und dies hat die 2006 einsetzende Krise herbeigeführt.7 An einer letztlich verbrieften Kreditgewährung an Schuldner mit geringer Solvenz waren zahlreiche Parteien beteiligt. Wir beschreiben hier – nicht zuletzt
6 7
Vgl. dazu Brunnermeier (2008), Dell’Ariccia et al. (2008) und Gorton (2008). Vgl. dazu ausführlich die in Anm. 4 genannten Quellen sowie Clemens (2010a).
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Olaf Clemens und Reinhard H. Schmidt
zu Vorbereitung unserer Ausführungen in den späteren Abschnitten dieses Beitrags – nur den idealtypischen und damit extremen Fall. Die Identifikation von Kreditnehmern und der Vertragsabschluss erfolgten häufig, wenn auch nicht immer, nicht durch eine Bank, sondern durch Kreditmakler. Diese reichten die abgeschlossenen Verträge sofort an eine Bank oder deren Repräsentanten weiter, bekamen ihre Vermittlungsprovision und waren von da an nicht mehr an dem Prozess und den damit verbundenen Risiken beteiligt. Natürlich hatten sie keinen Anreiz, mehr als ein Minimum an Mühe auf die Kreditwürdigkeitsprüfung zu verwenden. Ihr Hauptinteresse galt einem schnellen Vertragsabschluss. Die originating bank übertrug das so entstandene Bündel angesammelter Kredite zweifelhafter Qualität an eine angesehene Investmentbank wie Goldman Sachs oder an ein Konsortium solcher Investmentbanken. Die Investmentbank brachte dann ihrerseits die Kredite in eine rechtlich selbständige, nicht konsolidierungspflichtige Zweckgesellschaft, ein „Special Purpose Vehicle“ (SPV), ein und zerlegte die Gesamtheit der Kredite, den credit pool, in Tranchen mit unterschiedlichen Auszahlungsansprüchen und unterschiedlichem Risiko, die später in der Form von Wertpapieren an die eigentlichen Kapitalgeber verkauft werden sollten. Vorher und als Vorbereitung des Verkaufs wurde noch eine – wiederum sehr angesehene – Rating-Agentur beauftragt, diese Tranchen bzw. die auf diesen basierenden Wertpapiere zu bewerten. Für die Investmentbank und die Rating-Agentur waren die „Tranchierung“ und die Bewertung der Tranchen bzw. der Wertpapiere ein sehr lukratives Geschäft. Alle Beteiligten wussten natürlich, wie wichtig es ist, dass ein großer Teil der entstehenden Wertpapiere mit der Bestnote AAA ausgezeichnet wurde. Denn je besser das Rating war, umso höher war der erzielbare Verkaufspreis. Um möglichst hohe Bewertungen und insbesondere einen hohen Anteil an AAA-Papieren zu erreichen, stimmten sich die originating bank, die Investmentbank und die RatingAgentur so gut es ging – und nicht rechtlich zu beanstanden war – untereinander ab. Die in den Jahren bis 2007 durchaus berechtigte Erwartung, dass die Kredite und die durch die Verbriefung entstandenen Wertpapiere vollständig, d. h. ohne Rückgriffsmöglichkeiten auf den jeweiligen Verkäufer weitergegeben werden können („no recourse“), schwächt freilich die Anreize, schon bei der Entstehung der Kredite und dann auch bei der Tranchierung und der Bewertung, dem Rating, ein Übermaß der Sorgfalt und Vorsicht walten zu lassen. Versehen mit den „Gütesiegeln“ einer angesehenen Investmentbank und einer angesehenen Rating-Agentur wurden die Papiere dann verkauft. Käufer waren Kapitalsammelstellen wie Versicherungen, Pensionsfonds und Stiftungen und nicht zuletzt Tochtergesellschaften anderer Banken, von denen
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2 45
einige an Orten domizilierten, die für eine „verständnisvolle“ oder eine einfach nicht existente Finanzaufsicht bekannt waren. Einige dieser Investoren hatten bereits die erforderlichen Mittel, um die scheinbar attraktiven „strukturierten Produkte“ zu kaufen, und viele von ihnen scheinen einfach nicht gemerkt zu haben, dass die Wertpapiere unter Bedingungen zustande gekommen waren, die Zweifel an ihrer Werthaltigkeit rechtfertigen würden. Andere Investoren, oft die Tochtergesellschaften europäischer Banken, mussten sich die Mittel besorgen. Sie taten dies ihrerseits am Kapitalmarkt. Je kurzfristiger diese Refinanzierung erfolgte, umso billiger war sie und umso ertragreicher erschien das Geschäft mit den strukturierten Wertpapieren. Dass eine nicht fristenkongruente Refinanzierung Liquiditätsrisiken mit sich bringt sahen sie kaum, denn die Interbankenmärkte galten seit vielen Jahren als garantiert liquide. Deshalb erschien es auch als eine eher geringfügige Belastung der Mutter-Banken, wenn sie die kurzfristigen Refinanzierungen ihrer Töchter durch Liquiditätsgarantien absicherten. Um diese Garantien nicht eigenkapitalbelastend ausweisen zu müssen, hatten die entsprechenden Zusagen in der Regel eine Laufzeit von knapp unter einem Jahr. Der Kern der mikroökonomischen Erklärung für die Entstehung der Krise besteht in der Feststellung, dass das ganze System der Verbriefung von geringwertigen Krediten auf beinahe jeder Prozessstufe die Anreize zu verantwortungsvollem Handeln außer Kraft gesetzt hat, und dass sich dieses „anreizgeschwächte“ System auf Dauer nicht durchhalten ließ. Es war, so könnte man sagen, ein System der organisierten Verantwortungslosigkeit. Dazu trug natürlich bei, dass der Prozess, solange er funktionierte, allen Beteiligten wesentlich höhere Gewinne einbrachte, als sie sonst hätten erreichen können, und solange die Hauspreise in Amerika stiegen und die Liquidität auf den internationalen Kapitalmärkten ausreichte, schien das Risiko, dass das System nicht stabil ist, auch so gering, dass es angesichts der Gewinnchancen hinnehmbar war. Die Krise entstand quasi über Nacht. Das System platzte, als die Zinsen in den USA anstiegen, die ersten Kredite ausfielen, die Liquidität auf dem internationalen Kapitalmarkt versiegte und dann die Garantien der Mutterbanken fällig wurden. Plötzlich wurde allen Beteiligten bewusst, worauf sie sich eingelassen hatten.
3.
Ziel und Aufbau unseres Beitrags
Unser Beitrag ist der Gruppe der mikroökonomischen Erklärungen zuzurechnen und ergänzt die dazu bereits vorliegenden Beiträge der Literatur. Wir
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Olaf Clemens und Reinhard H. Schmidt
untersuchen allerdings einen Aspekt der Finanzkrise, der in der bisherigen Diskussion über die Vorbereitung und die Auslösung der Krise nicht aufgegriffen worden ist, nämlich die Rolle von Undurchsichtigkeit und Mehrdeutigkeit von Rechnungslegungsinformationen. Dabei entwickeln wir die These, – dass die geltenden Rechnungslegungsvorschriften den zur Rechnungslegung Verpflichteten große Spielräume lassen, die diese nutzen können und im eigenen Interesse auch nutzen, – dass dies zur so genannten Ambiguität der Informationen und Erwartungen führt, – dass sich Entscheider mit ambiguous information bei ihren Entscheidungen nicht auf ihre eigenen Informationen stützen, sondern auf diejenigen, die sie bei anderen Marktteilnehmern vermuten, und – dass dies zu Informationskaskaden und Herdenverhalten führt, – die, ausgelöst durch ein eher zufälliges Ereignis, leicht in sich zusammenbrechen können.8 Rechnungslegungsfragen sind in der Literatur zur Finanzkrise schon angesprochen worden. Doch die dazu vorliegenden Beiträge betreffen weniger die Entstehung der Krise – oder genauer: die Entstehung der Situation, die schließlich zu der Krise führte – als vielmehr die Ausbreitung der Krise. In ihnen geht es vor allem um die Frage, ob die „moderne“ angelsächsische Rechnungslegungskonzeption, die sich am aktuellen Marktwert („fair value“) – statt wie die traditionelle, eher deutsche Rechnungslegung am Anschaffungswertprinzip orientiert – krisenverschärfend auswirkt. 9 Mittelbar ist damit die Frage angesprochen, welche Konzeption der Rechnungslegung vorzuziehen sei. Darauf nehmen wir in unserem Beitrag aber nicht Bezug. Was wir vorstellen wollen, gilt zwar in erster Linie für die amerikanischen und internationalen Rechnungsvorschriften, aber bei Anwendung der traditionellen deutschen Normen gäbe es andere und nicht notwendigerweise geringere Probleme. Der folgende Hauptteil unseres Beitrags ist wie folgt aufgebaut: In Abschnitt II stellen wir das Konzept der Ambiguität von Information als Ursache einer speziellen Form der Unsicherheit vor, diskutieren dann, welche Folgen Ambiguität von Information für Marktgleichgewichte hat oder zumindest haben
8 9
Der Beitrag stützt sich auf die Arbeiten von Clemens (2010 a und b). Vgl. insb. Laux und Leuz (2009 a,b) und Dechow et. al (2010).
Mehrdeutigkeit der Rechnungslegung
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kann, und zeigen die Möglichkeit und die Bedeutung von Ambiguität in der Finanzkrise auf. Die Folge von Ambiguität sind Informationskaskaden und Herdenverhalten. Im Abschnittt III erläutern wir die mit diesen Begriffen bezeichneten Phänomene erst allgemein, dann speziell im Falle von uneindeutiger Rechnungslegungsinformation im Kontext der aktuellen Finanzkrise. Wie wir zeigen werden, lässt sich mit der Verknüpfung der Konzepte von Ambiguität und Informationskaskaden eine plausible Erklärung für die Vorbereitung und den Ausbruch der Krise geben. Die Situation, die wir rekonstruieren und von der wir behaupten, dass sie die Krise treffend beschreibt, ähnelt sehr der Situation in Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, wie wir im Abschnitt IV zeigen wollen. Auch dort haben die Akteure Grund, nicht ihren eigenen Informationen zu folgen, sondern sich an dem zu orientieren, was sie für die Informationen und Einschätzungen der anderen halten. Es kommt in dem Märchen zu einer Informationskaskade, auch wenn diese nicht auf Ambiguität beruht. Und wie in der Realität der Finanzkrise lässt auch in Andersens Märchen ein eher zufälliges, aber für den außenstehenden Beobachter oder Leser des Märchens durchaus erwartbares Ereignis die auf vermeintlichen Fehlwahrnehmungen aufgebaute „Realität“ in sich zusammenbrechen. Zum Abschluss unserer Ausführungen vergleichen wir die von uns vorgestellte Erklärung der Finanzkrise noch einmal kurz mit den bisher in der Fachliteratur vorliegenden Krisenerklärungen.
II.
Ambiguität von Information als eine spezielle Form und Quelle der Unsicherheit
1.
Allgemeine Kennzeichnung von Ambiguität
Wirtschaftliche Entscheidungen beziehen sich auf die Zukunft und sind deshalb unter Unsicherheit zu treffen. In der gängigen ökonomischen Theorie wird Unsicherheit durch die Vorstellung erfasst, die Entscheider hätten zutreffende Erwartungen darüber, was in der Zukunft passieren kann, und subjektive Einschätzungen darüber, wie wahrscheinlich das Eintreten der für möglich gehaltenen alternativen Zukunftsentwicklungen ist. Doch es gibt noch andere Situationen. In diesen wissen die Entscheider nicht, welche von mehreren möglichen Wahrscheinlichkeitsverteilungen über mögliche Zukunftsentwicklungen wirklich vorliegt. Dann liegt, wie man sagt, Ambiguität
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Olaf Clemens und Reinhard H. Schmidt
vor. Ambiguität ist am besten durch Uneindeutigkeit zu übersetzen. Sie ist Unsicherheit darüber, wieviel Unsicherheit wirklich vorliegt und welcher Art sie ist. Wie zuerst Daniel Ellsberg (1961) vermutet hat, ist Ambiguität eine eigene und zusätzliche Form und Quelle von Unsicherheit, die die „objektive“, aber immer subjektiv zu erfassende „an sich bestehende“ Unsicherheit ergänzt und erweitert. Nach Ellsberg hat Ambiguität einen eigenen Einfluss darauf, wie Entscheidungen getroffen werden. Seine Idee ist von einer kleinen, aber wachsenden Gruppe von verhaltenswissenschaftlich orientierten Wirtschaftswissenschaftlern und Psychologen aufgegriffen und weiterentwickelt worden.10 Vor allem mit experimentellen Untersuchungen konnten sie Ellsbergs Vermutung bestätigen und präzisieren. Es scheint eine eigenständige „Ambiguitätspräferenz“ zu geben, die sich je nach der Art der Entscheidungssituation eher positiv oder negativ auf die Bewertung auswirkt. Ambiguität hat nicht nur Einfluss darauf, wie Entscheidungen bei gegebenem Informationsstand getroffen werden, sondern auch darauf, wie Entscheider lernen, d. h. ihren Informationsstand verändern. Wiederum experimentelle Untersuchungen haben gezeigt, dass Entscheider, deren Information uneindeutig ist, ihre Erwartungen und die darauf gegründeten Einschätzungen von Handlungsalternativen verändern, wenn sie neue Informationen bekommen können. Doch dies erfolgt auch anders, als man vielleicht vermuten würde und als es in der vorherrschenden ökonomischen Theorie unterstellt wird. Lernen erfolgt asymmetrisch: Entscheider mit Ambiguität nehmen schlechte Informationen aktiv auf und revidieren ihre eigenen Erwartungen entsprechend, während sie positive Informationen eher nicht zum Anlass nehmen, ihre Erwartungen und Bewertungen anzupassen. Zudem führt der Zufluss neuer Informationen, also Lernen, unter Ambiguität nach diesen Theorien nicht dazu, dass sich die Ambiguität auflöst. Wie Epstein und Schneider (2007 und 2008) gefunden haben, bleiben Entscheider trotz zusätzlicher Informationen bei ihrer Einschätzung, dass sie nicht wissen, wie groß und welcher Art die „wahre Unsicherheit“ ist. Ambiguität von Informationen und deren eigenständige Bewertung durch die Akteure kann weitreichende Implikationen für das Funktionieren von Märkten haben. Sie führt zu Marktgleichgewichten, die nicht den gängigen Vorstellungen von Optimalität und Gleichgewicht entsprechen, und vor allem verursacht sie Instabilität in Märkten.
10
Vgl. z. B. Einhorn und Hogarth (1986) und Fox und Tversky (1995).
Mehrdeutigkeit der Rechnungslegung
2.
2 49
Der Prozess der Verbriefung als Quelle der Ambiguität
Auch wenn diese Unterscheidung eher künstlich erscheinen mag, gibt es bei der Verbriefung von Subprime-Krediten zwei Quellen der Ambiguität von Informationen. Eine Quelle ist die Komplexität des gesamten Prozesses, die andere ist die Anwendung von Rechnungslegungsvorschriften, die den Beteiligten Ermessenspielräume belassen, die diese im eigenen Interesse ausnutzen können und in der Realität auch faktisch ausnutzen. In diesem Abschnitt betrachten wir zuerst die Komplexität des Verbriefungsprozesses als Quelle der Ambiguität. Die Grundstruktur des Gesamtprozesses wurde oben schon beschrieben. Die Vergabe von Krediten erfolgte bereits mit der Erwartung, dass die Kredite einschließlich des mit ihnen verbundenen Ausfallrisikos an andere weitergegeben werden können. Vorsicht und Sorgfalt waren schon bei der Kreditvergabe selbst nicht wesentlich. Den Kreditnehmern, denen Subprime-Kredite angeboten wurden, wurde in einem beträchtlichen Teil der Fälle nicht wie vorher üblich viel Information abverlangt und diese Informationen wurden zudem auch oft nicht überprüft. Kredite ohne überprüfbare Unterlagen etwa über die Vermögens- und Einkommenssituation der Kreditnehmer waren verbreitet. Es wird auch berichtet, dass Kreditnehmer und die Gutachter, die die zu finanzierenden Immobilien bewertet haben, ermuntert wurden, „großzügig“ zu sein und die relevanten Daten positiver erscheinen zu lassen, als sie es wirklich waren. Dies führte im Extrem zu so genannten NINJA loans: Das steht für Kredite an Personen mit No Income, No Job or Assets. Hinzu kommt, dass in einigen Staaten der USA Personen, die ihren Immobilienkauf finanzieren, nur mit der Immobilie, nicht aber mit ihrem sonstigen Vermögen und Einkommen haften. Wenn man Kredite nicht bedienen kann, genügt es, der Bank die Immobilie zurückzugeben, und man ist aller Verpflichtungen ledig. Schließlich waren die Rechte einer frühzeitigen Kündigung der Kreditverträge seitens der Kreditnehmer sehr großzügig, so dass die tatsächlichen effektiven Kreditlaufzeiten kaum abschätzbar waren. Als Fazit ergibt sich daraus, dass schon die Information über die gewährten Kredite und deren Risiken oft einfach nicht vorlag und jedenfalls nicht überschaubar war. Bei der Weitergabe der Kredite an die Investmentbank(en) und schließlich an die SPVs erhöhte sich das Informationsdefizit noch einmal beträchtlich. Es ist bereits fraglich, wieviel Information diese Institutionen als Käufer der Kredite
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selbst hatten und haben konnten. Anschließend wurden die Kredite in credit pools zusammengefasst und diese dann in Tranchen aufgeteilt. Selbst die in einem credit pool zusammengefassten Kredite waren aber nicht homogen, so dass das Ausfallrisiko nicht mehr hinreichend erkennbar war. Bei der Zerlegung des pools in Teile oder Tranchen kam es systematisch zu „Beimischungen“ von Krediten mit unterschiedlichen Risiken, so dass jedenfalls die Käufer der entstehenden Wertpapiere kaum die Möglichkeit gehabt haben dürften zu wissen, was sie an finanziellen Ansprüchen wirklich erwerben. In den meisten Fällen blieben bei der Übertragung der Kreditbündel von den originating banks auf die Investmentbanken bzw. die von ihnen geschaffenen Zweckgesellschaften, die SPVs, noch gewisse Ansprüche gegenüber den die Kreditbündel verkaufenden Banken bestehen, und in einigen Fällen gab es so genannte credit enhancements in der Form von Garantien etc. von dritter Seite. War dies möglicherweise bei der Übertragung der gesamten Kreditbündel noch einigermaßen überschaubar, so war die Zurechenbarkeit bei einigen besonders komplexen Konstruktionen nicht mehr erkennbar. Die Ansprüche mögen bestanden haben, aber überschaubar und damit auch faktisch durchsetzbar dürften sie kaum gewesen sein. Eine wichtige Rolle zur Herstellung von Transparenz sollten eigentlich auch die Rating-Agenturen spielen, die die entstandenen, auf Subprime-Kredite gegründeten Wertpapiere bewerten und beurteilen sollten. Ohne ein solches Rating, möglichst eines der höchsten Kategorie AAA, wären sie nicht platzierbar gewesen, und wie es scheint, haben die Investoren den Ratings auch viel Bedeutung beigemessen. Die Agenturen haben in den Jahren seit 2000 das Rating von strukturierten Wertpapieren zu einem für sie sehr wichtigen Geschäftsfeld gemacht. Doch wie wertvoll diese Ratings waren, ist mehr als fraglich. Dies hat eine Reihe von Gründen. Als erstes ist der Umstand zu nennen, dass auch die Agenturen nicht über die Informationen verfügten, die sie eigentlich gebraucht hätten, um die neuen Wertpapiere so sorgfältig zu analysieren und zu bewerten, wie sie dies bei Anleihen, dem traditionellen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit, zu tun vermochten. Hinzu kommt, dass sie auch nicht die Zeit und die erforderlichen personellen Kapazitäten hatten und diese auch nicht schnell genug aufbauen konnten.11 Sie verließen sich beispielsweise auf Stichproben der verbrieften Kredite. Um ihre Reputation abzusichern und wohl auch um möglichen rechtlichen Problemen vorzubeugen, haben sich die Rating-Agenturen
11
So nachzulesen in SEC Staff Report (2008).
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bei ihren Bewertungen so weit wie möglich auf verfügbare und verlässliche Vergleichsdaten gestützt, die sie über die Jahre gesammelt hatten. Doch diese Daten stammten aus einer Zeit, als es noch keine derartigen Verbriefungen von Subprime-Krediten gab; sie waren also weitgehend irrelevant. Schließlich haben die Rating-Agenturen nicht nur damit viel Geld verdient, dass sie die Kreditverbriefungen bewerteten, sondern sie haben auch als Berater den Prozess der Verbriefung begleitet. Sie haben insofern Finanzprodukte mitgestaltet, die sie wenig später selbst bewerteten. Dass dieser evidente Interessenkonflikt den Informationsgehalt der Ratings nicht gerade erhöht, bedarf kaum der Erklärung. Die Informationen, die die Beteiligten hatten und haben konnten, waren also denkbar schlecht. Caballero und Krishnamurthy (2008) bringen diesen Befund treffend zum Ausdruck, wenn sie über die Subprime-Verbriefungen und die dabei eingeschalteten Zweckgesellschaften schreiben: „Because of the rapid proliferation of these instruments, market participants cannot refer to a historical record to measure how these financial structures will behave during a time of stress. These two factors, complexity and lack of history, are the preconditions for rampant uncertainty“. Dies betrifft zwar in erster Linie die meisten Käufer der Wertpapiere, die Investoren, doch es gilt weitgehend auch für alle anderen, die in den Prozess eingebunden waren, und es schafft nicht nur eine enorme Unsicherheit, sondern bildet auch die Basis für Uneindeutigkeit, also die Ambiguität.
3.
Zweideutige Rechnungslegungsinformation als Ursache der Ambiguität
Nach den für die Schaffung von Rechnungslegungsnormen zuständigen Instanzen, dem amerikanischen Financial Accounting Standards Board (FASB) und seinem internationalen Pendant, dem International Accounting Standards Board (IASB) ist das oberste Ziel der Rechnungslegung, Informationen für Investoren bereit zu stellen, die diese verwenden können, um gute Anlageentscheidungen treffen zu können. Beide Systeme von Rechnungslegungsnormen, die amerikanischen US-GAAP und die internationalen IFRS, sind sich in dieser Zielsetzung gleich, und sie entsprechen sich auch weitgehend darin, dass sie sich im Wesentlichen auf das Bewertungsprinzip des „Fair Value“ stützen. Der „Fair Value“ ist definiert als der „price that would be received to sell an asset or paid to transfer a liability in an orderly transaction between market participants at the measurement date“ (Financial Accounting
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Standard 157.5). Er gründet sich auf Marktpreise, die im Prinzip als beobachtbar und insoweit „objektiv“, d. h. als gegeben und nicht gestaltbar, gelten. Man spricht deshalb auch von „marking-to-market“. Marktpreise für Vermögensgegenstände sind immer dann anzusetzen, wenn diese „assets“ nicht bis zur Endfälligkeit gehalten werden sollen. Die weitergehende Verwendung von Marktpreisen ist einer der wesentlichen Unterschiede zu den tradierten deutschen Rechnungslegungsvorschriften nach HGB. Ein anderer ist der, dass US-GAAP und IFRS in vielen Fällen eine frühere Ertragsrealisierung zulassen, als sie bei strikter Geltung des Realisationsprinzips möglich wäre. Schließlich gibt es zahlreiche weitere Wahlrechte und Gestaltungsmöglichkeiten, die die Rechnungslegenden nutzen können. Das in dem hier diskutierten Kontext relevante Problem ergibt sich in erster Linie daraus, wie eine Marktbewertung bei Kreditverbriefungen erfolgen kann, wo doch die betreffenden Wertpapiere nicht oder so gut wie nicht gehandelt werden. Marktwerte sind in solchen Fällen nicht beobachtbar und einfach „objektiv“ gegeben, und sie sind durch – unvermeidbar subjektive – Schätzungen darüber zu ersetzen, wie hoch Marktwerte wären, wenn es sie gäbe. Dafür gibt es natürlich auch Vorschriften, aber diese können das Ermessen nicht ausschließen. Kombiniert man dies mit dem ohnehin hohen Grad an Ermessen, das jeder bilanziellen Rechnungslegung, auch der nach USGAAP bzw. IFRS, anhaftet, dann wird schnell erkennbar, dass accounting information durchaus gestaltbar ist. Motive zur Gestaltung, dem so genannten earnings management, gibt es natürlich auch im Falle der Kreditverbriefung. Eines könnte darin gesehen werden, die durch Verbriefung entstehenden Wertpapiere wertvoller erscheinen zu lassen, als sie wirklich sind, um Käufer irrezuführen. Doch dies spielt hier weniger eine Rolle, denn diese – sehr unvollkommene – Information wird anders ermittelt und übermittelt. Doch earnings management ist wichtig für die Frage, wann die beteiligten Institute Erträge ausweisen können und wann diese als Gewinne an ihre Aktionäre und, was bei Investmentbanken noch wichtiger ist, als Teil der Entlohnung an die Mitarbeiter verteilt werden können. Soweit ausgewiesene Gewinne nicht ausgeschüttet werden, erhöhen sie das bilanzielle Eigenkapital der Institute. Ein früherer Gewinnausweis erweckt den Eindruck, die Kapitalausstattung eines Instituts sei besser und das Risiko, das man im Geschäftsverkehr mit ihm eingeht, sei geringer. Spielräume der Rechnungslegung gibt es auf nahezu jeder Stufe des Verbriefungsprozesses, wie in Clemens (2010 a) gezeigt wird. Sie werden umso größer, je komplexer die Verbriefungstransaktion ist und je weniger standardisiert
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2 53
die entstehenden Wertpapiere sind. Da im Zeitablauf die Verbriefungstechnik immer weiter verfeinert worden ist, die Zahl der aus einem Kreditbündel gegebener Größe und Qualität gebildeten Tranchen bzw. Wertpapiere stetig zugenommen hat und im Zeitablauf zunehmend Verbriefungen nach den individuellen Wünschen einzelner prospektiver Käufer gestaltet worden sind (Firla-Cuchra und Jenkinson, 2005), wurde das Problem, geeignete Marktwerte zu schaffen, immer gravierender, denn die Marktliquidität nahm damit ab. Ein Ausweg aus diesem Problem bestand darin, dass Investmentbanken, die Bündel von Subprime-Krediten verbrieft hatten, zugleich auch weitere Zweckgesellschaften errichteten, die die sehr speziellen und an sich überhaupt nicht liquiden Wertpapiere handelten. Diese so genannten „market making qualifying SPVs“, erfüllten damit nicht zuletzt die Funktion, die „objektiven“ Marktpreise zu liefern, die benötigt wurden, um die Papiere zu Marktpreisen bewerten zu können. Damit wurde zugleich ein früher Gewinnausweis bei der Muttergesellschaft, dem so genannten Sponsor, und den Investoren möglich. Dass solche „produzierten“ Marktpreise keine solide Informationsbasis darstellen, ist offensichtlich. Noch gravierender ist das Problem des Ermessens bei Wertpapieren, für die es keine beobachtbaren Marktpreise gibt. „Marking-to-model“ ist naturgemäß nicht ermessenfrei möglich, zumal wenn es für die komplex gestalteten Papiere keine fraglos relevante Bewertungsmethode gibt. Aber selbst dann, wenn die Methode unstrittig und damit das anzuwendende Bewertungsmodell normativ vorgegeben wäre, müssten die Parameter als Erwartungsgrößen eingegeben werden, um das Modell anwenden zu können. Da diese Modellparameter fast immer Erwartungen über Zukunftsgrößen repräsentieren, ist auch hier ein Ermessenspielraum gegeben und auch unvermeidbar. Doch es geht hier nicht darum, Gewinnmanipulationen anklagend aufzudecken, sondern darum, den Ermessenspielraum zu kennzeichnen. In Clemens (2010 a) wird der Fall von Goldman Sachs und seinen Kreditverbriefungen untersucht. Dort wird auf der Basis öffentlich verfügbarer Informationen, den Form 10-K Meldungen an die Börsenaufsichtsbehörde SEC, für die Jahre 2002 bis 2008 der Spielraum für die möglichen Wertansätze derjenigen assets in der Bilanz von Goldman Sachs ermittelt, die „die Firma“ aus Verbriefungen übernommen hat. Die meisten dieser Verbriefungen sind von Goldman Sachs selbst vorgenommen worden. Clemens berechnet bilanzrechtlich vertretbare niedrige Bewertungen und ebensolche hohe Bewertungen und vergleicht sie mit den von Goldman Sachs in ihrer Bilanz ausgewiesenen „Fair Values“. Die ermittelten Werte zeigen eine enorme Spannweite zwischen niedrigen und hohen Bewertungen. In jedem der betrachteten Jahre ist diese Spannweite
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größer als der von Goldman-Sachs in ihrer Bilanz angesetzte Wert. Im Durchschnitt der Jahre betrug der Bilanzansatz USD 3,2 und die Spannweite USD 3,5 Milliarden. Wie gesagt geht es nicht darum einen Vorwurf der Verschleierung oder gar der Manipulation zu erheben, sondern vielmehr darum, das Ausmaß möglichen Ermessens exemplarisch zu kennzeichnen. Natürlich hat auch Goldman Sachs ein Motiv, eine eher frühe Gewinnrealisierung zu erreichen, und die ausgewiesenen Beträge sind vermutlich unter dem Einfluss dieses Motivs entstanden, auch wenn die Bilanzansätze tendenziell unterhalb des Mittelwertes der errechneten Spanne liegen. Entscheidend ist aber etwas anderes: Externe Empfänger dieser Information – und in ähnlicher Weise entstandener anderer Informationen – können nicht erkennen und nicht einmal abschätzen, wie groß in dem jeweils betrachteten Fall die Spanne ist und wie das zulässige Ermessen genutzt worden ist. Was hier für den Fall der vermutlich wichtigsten aller Investmentbanken ausgeführt wurde, lässt sich weitgehend auf andere Institute und andere „Finanzvehikel“ übertragen. Die Vorstellung, die amerikanischen und/oder internationalen an Marktpreisen orientierten Rechnungslegungsinformationen wären so aufschlussreich, dass sie die Unsicherheit reduzieren würden, dürfte falsch sein. So etwas zu glauben wäre eine Illusion. Nimmt man hinzu, dass sich Investmentbanken einen Teil ihrer „Marktdaten“ von eigenen Zweckgesellschaften generieren lassen, dann erkennt man: Die Rechnungslegung ist – generell, aber speziell in dem hier diskutierten Kontext – kein Mittel, um verlässliche Information zu übermitteln und damit Unsicherheit abzubauen. Erst recht lässt die Rechnungslegung nichts darüber erkennen, wie die Risiken verteilt sind, was nötig wäre, wenn, gemäß der oben zitierten Aufgabe der Rechnungslegung, Investoren die für ihre Entscheidungen erforderlichen Informationen bekommen sollen. Für den geschulten, kritischen Bilanzleser, der weiß oder zumindest ahnt, wie groß die Ermessensspielräume und wie stark die Anreize sind sie zu gebrauchen, enthält die Rechnungslegung vor allem den Warnhinweis darauf, wie unsicher oder uneindeutig seine möglichen eigenen Einschätzungen der wirklichen Unsicherheit sind. Die Rechnungslegung ist neben der reinen Komplexität des Verbriefungsprozesses somit eine zweite Quelle der Ambiguität; und die beiden verstärken sich gegenseitig. Die Ambiguität betrifft die Informationen über alle an der Verbriefung beteiligten Finanzinstitutionen.
Mehrdeutigkeit der Rechnungslegung
III.
Informationskaskaden als Ursache von Funktionsstörungen auf Märkten
1.
Informationskaskaden und Herdenverhalten: Definitionen und allgemeine Kennzeichnung
2 55
„An informational cascade occurs if an individual’s action does not depend on his private information signal“ (Bikhchandani et al., 1992, S. 1000) und wenn diese Person – und genau so die anderen Marktteilnehmer – sich statt dessen an der Information orientieren, die sie dem Verhalten der anderen entnehmen zu können glauben. Andere Autoren, beispielsweise Banerjee (1992), bezeichnen solche Situationen als Fälle von Herdenverhalten. Jeder Einzelne läuft dort hin, wohin auch die anderen laufen, weil er vermutet, dass es dafür gute Gründe gibt, die er aber nicht kennt. Und er tut dies selbst dann, wenn er private Informationen hat, die die Richtung, in der die Herde läuft, als nicht sinnvoll erscheinen lassen. Eine Voraussetzung für das Auftreten von Informationskaskaden oder Herdenverhalten ist das fehlende Vertrauen in die eigene Information, die die Entscheidungsträger haben oder auch nicht haben. Ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber vorhandener eigener Information kann seinen Grund in der Ambiguität dieser Information haben. Wie oben erläutert wurde, kann Ambiguität ja auch zur Folge haben, dass zufließende neue Information abgewehrt wird, zumal wenn diese nicht ein sehr starkes Signal enthält. Damit verfestigt sich die Informationskaskade nur. Wer seiner eigenen Information so wenig traut, dass er sie bei seinen Entscheidungen nicht berücksichtigt, hat in der Regel zugleich Grund, den vermuteten Informationen der anderen, die er entweder direkt beobachten kann oder indirekt erschließen zu können meint, eher zu trauen. Das kann daran liegen, dass die anderen als normalerweise gut informiert gelten, sie sind Autoritäten oder Insider. Es kann aber auch daran liegen, dass es ausgeprägt negative Folgen hätte, wenn man als Einziger irrt und zugleich alle anderen Recht haben, während es nicht so schlimm ist, sich so zu irren wie die anderen (Scharfstein und Stein, 1990). Gerade in beruflichen Kontexten, in denen Erfolg nicht absolut, sondern im Vergleich zu anderen Akteuren gemessen und stark belohnt wird, ist diese Bedingung häufig erfüllt. Beispielsweise werden Vermögensverwalter in der Regel im Vergleich zu ihren Kollegen und Konkurrenten beurteilt. Für sie liegt es daher nahe, sich am Verhalten der anderen zu
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orientieren. Dies ist einer der Gründe, warum es gerade auf Finanzmärkte häufig zu Informationskaskaden und Herdenverhalten kommt. Weil Informationskaskaden und Herdenverhalten darauf beruhen, dass die einzelnen Akteure Informationen bei ihren Entscheidungen nicht berücksichtigen, sind solche Situationen eher instabil. Tritt öffentliche, allgemein verfügbare Information auf, die vermuten lässt, dass das, was die Einzelnen den anderen unterstellt haben, nicht zutrifft, bricht die Kaskade ab bzw. der Lauf der Herde wird unterbrochen. Dasselbe kann auch als Folge von neuer privater Information geschehen, wenn diese besonders wichtig und/oder besonders glaubhaft ist. Wichtige und besonders glaubwürdige Information kann Anlass sein, die Unterdrückung der eigenen Einschätzung in Frage zu stellen und das eigene Verhalten zu verändern. Wenn dies für andere beobachtbar ist, können auch sie ihre Art der Informationsverarbeitung überdenken und ihre Einschätzung und ihr Verhalten ändern. Auch dies ist auf Finanzmärkten durchaus zu erwarten. Wie lange eine Informationskaskade anhält, ist deshalb sehr schwer vorherzusagen. Deshalb zu glauben, es gäbe sie nicht, wäre wohl zu optimistisch. „Manias, Panics, and Crashes“ (Kindleberger, 1978) gibt es auf Finanzmärkten seit Jahrhunderten immer wieder.12
2.
Informationskaskaden und Herdenverhalten in der aktuellen Finanzkrise
Es liegt nun sehr nahe, die Überlegungen zu Informationskaskaden und Herdenverhalten auf die aktuelle Finanzkrise zu beziehen. Eine Voraussetzung, die Ambiguität, die die einzelnen Akteure an der Glaubwürdigkeit und Richtigkeit ihrer eigenen Informationen zweifeln lässt, dürfte gegeben sein, wie wir im letzten Abschnitt dargelegt haben: Sowohl die außerordentliche Komplexität der Verbriefungsprozesse als auch der geringe Informationsgehalt der verfügbaren Rechnungslegungsinformation sind starke Gründe für einzelne Akteure, ihren eigenen, ohnehin schwachen Informationssignalen nicht zu trauen. Statt dessen konnten sie in den frühen Jahren des gerade zu Ende gehenden Jahrzehnts beobachten, dass all diejenigen, die sich auf die Vergabe von subprime loans, auf deren Verbriefung und auch auf ihre Finanzierung eingelassen haben, damit systematisch sehr hohe Gewinne erzielen konnten. Sie konnten auch beobachten, dass das ganze System der Subprime-Verbriefungen eine eigene positive Dynamik aufwies: Die ersten erfolgreichen Verbriefungen regten die Nachfrage der Investmentbanken nach weiterem zur Ver12
Vgl. aus jüngerer Zeit Allen und Gale (2007) und Rogoff und Reinhart (2009).
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briefung geeignetem „Material“ an und sie entlasteten die Bilanzen der originating banks und führten ihnen freie Mittel zu, die sie in weitere Kredite an Immobilienkäufer investieren konnten. Damit stieg die Nachfrage nach Immobilien, die Hauspreise stiegen, und Kreditausfälle waren selten bzw. für die kreditgebende Banken unproblematisch; sie konnten die Häuser pfänden und leicht zu gestiegenen Preisen weiterverkaufen, ohne Verluste hinnehmen zu müssen. Und ebenso schienen die Investoren zufrieden, denn die Geldanlage in den neuartigen mit AAA bewerteten Wertpapieren mit einer im Vergleich zu Staatsanleihen etwas höheren Verzinsung ließ sich am internationalen Kapitalmarkt leicht refinanzieren, soweit eine Refinanzierung überhaupt nötig war. Und wenn man, was zunehmend geschah, die mittelfristigen Anlagen kurzfristig refinanzierte, waren die erzielbaren Gewinne der Tochtergesellschaften europäischer Banken mehr als ansehnlich. Auch die Gewinne der Investmentbanken und der Rating-Agenturen explodierten geradezu. Die amerikanische Geldpolitik und das auch international niedrige Zinsniveau der Jahre bis etwa 2007 stützte das System sowohl was die Nachfrage nach Immobilienkrediten anging als auch hinsichtlich der – wie es berichtet wurde – geradezu verzweifelten Suche von Investoren nach ertragreichen Anlagemöglichkeiten. Liquidität, das erforderliche Schmiermittel der Geldmaschine, gab es mehr als genug. Und schließlich war die Vergabe von Immobilienkrediten an ärmere Bevölkerungskreise politisch höchst erwünscht. Die Herde schien also genau in die richtige Richtung zu laufen, und es war für den einzelnen aktuell oder potenziell Beteiligten kein Grund sichtbar, warum dies nicht so weiter gehen sollte. Also warum nicht mitmachen? Die Zweifel, die man schon relativ früh hätte haben können, kamen eher nicht aus der Perspektive der Beteiligten, sondern eher aus der eines „distanzierten“ Beobachters, und sie gründeten sich nicht auf öffentliche Informationen, sondern auf das eher schwache, theoretisch inspirierte Bedenken, das ganze System könne nicht dauerhaft funktionieren, weil seine Basis nicht tragfähig sei. Solche „abgehobenen“ Bedenken von notorischen Schwarzsehern konnten sich in den großen Banken an der Wall Street und andernorts nicht durchsetzen, sie wurden als geradezu defaitistisch abgelehnt und abgewehrt.13 Die Entstehung der Finanzkrise im Sinne der Abfolge von Ereignissen, die dazu geführt haben, dass es schließlich zum Ausbruch der Krise kam, lässt
13
Diese Abwehr wird sehr anschaulich beschrieben in McDonald und Robinson (2009). McDonald war ein Mitarbeiter der später gescheiterten Investmentbank Lehman Brothers, der immer wieder vor dem Zusammenbrechen des Subprime Booms gewarnt hat – und deshalb entlassen wurde.
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sich also, wie es scheint, recht gut als eine Informationskaskade und als Herdenverhalten deuten. Eine wesentliche Ursache für die Entstehung der Krise scheint in der Tat die Ambiguität mit ihren zwei oben beschriebenen Gründen zu sein. Doch wie kam es dazu, dass die Krise ausbrach? Die Denkfigur der Informationskaskade macht deutlich, dass es dafür keines wirklich gewichtigen Anlasses bedarf. Erforderlich sind nur Ereignisse, die zweifelsfrei relevant und allgemein und gut sichtbar sind und deshalb von den Akteuren nicht verdrängt werden können. Solche Ereignisse gab es ab dem Jahr 2006. Von da an erhöhte die FED die Zinsen. Das war nicht zu übersehen, wenn auch die Relevanz für das System der Subprime-Verbriefung möglicherweise nicht allgemein verstanden wurde. Die Schließung von zwei von Bear Stearns aufgelegten Fonds, die massiv in plötzlich ausfallbedrohte subprime-basierte Papiere investiert hatten, im Hochsommer 2007 war ebenso wenig übersehbar und zweifelsfrei relevant. Deren Probleme betrafen die Anlageseite, die Kredite und deren Risiko. Doch gänzlich unübersehbar war der beinaheZusammenbruch der deutschen IKB. Deren Zweckgesellschaft Rhineland Funding war plötzlich nicht mehr in der Lage, ihre kurzfristige Finanzierung bei Fälligkeit zu ersetzen; die potentiellen Geldgeber wollten nicht mehr mit der Herde mitlaufen. Die Liquiditätsgarantie der IKB wurde fällig, letztlich musste die IKB gerettet werden. Anders als bei den beiden Fonds von Bear Stearns war es diesmal die Finanzierungsseite, von der die akuten Probleme ausgingen. Damit war die Krise vollends ausgebrochen. Sie manifestierte sich zuerst darin, dass keine Finanzinstitution der anderen mehr traute: Die Ambiguität der Informationen wurde den Beteiligten bewusst und sie führte zu Angst und einem allgemeinen Misstrauen unter den Finanzinstitutionen. Es wusste ja wirklich niemand, welche Risiken die einzelnen Banken im Zusammenhang mit der Verbriefung von Subprime-Krediten und anderen möglicherweise auch gefährlichen Produkten eingegangen waren. Finanztechnisch gesprochen manifestiert sich das fehlende Vertrauen darin, dass plötzlich alle Liquidität vom Markt verschwunden war. Das bisherige System der SubprimeVerbriefung löste sich innerhalb von wenigen Wochen auf. Die Herde stockte, lief auseinander oder kehrte um.
IV.
Des Kaisers neue Kleider
Das bekannte Märchen von Hans Christian Andersen weist eine erstaunliche Parallelität zu der Geschichte der aktuellen Finanzkrise bis zu deren Ausbruch
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im Jahre 2007 auf. Des Kaisers einziges Interesse galt schönen neuen Kleidern. Zwei Schwindler machten sich dies zunutze, indem sie dem Kaiser versprachen ihm neue Kleider zu weben und zu schneidern, die nicht nur wunderschön wären, sondern noch einen weiteren Vorteil hätten: Sie wären für alle, die entweder dumm wären oder für ihr Amt nicht taugten, unsichtbar. Der Kaiser war begeistert und gab ihnen Seide, Gold und viel Geld. Bekanntlich webten die Schwindler keine Stoffe, sondern sie taten nur so, und zudem setzten sie alles daran, die Kunde von den neuen Kleidern und ihren besonderen Eigenschaften zu verbreiten. Der Kaiser war sehr gespannt auf den Fortgang der Dinge, und er schickte seinen alten bewährten Minister, der seiner Meinung nach klug und für sein Amt sehr geeignet war, zu den Webern, damit er nachsehen sollte, wie die Arbeit voran ginge. Er sah natürlich nichts von den Stoffen, denn es gab ja auch nichts zu sehen. Aber zugeben, dass er nichts sähe, wollte er nicht, denn dann wäre ja der Anschein entstanden, er wäre dumm oder untüchtig. Und so ließ er sich auf das Spiel ein, gab vor, wunderschöne Stoffe gesehen zu haben, und berichtete dem Kaiser begeistert davon. Genauso ging es anderen, und sie verhielten sich auch genauso wie der erste Minister, auch wenn sie vielleicht zweifelten, ob sie nicht doch dumm oder für ihr jeweiliges Amt ungeeignet wären. Auch dem Kaiser selbst ging es so. Was geschah, als der Festtag gekommen war und der Kaiser in einer öffentlichen Prozession die schönen neuen Kleider zu tragen meinte? Alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: „Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!“ Keiner wollte es sich anmerken lassen, dass er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese. Als dann aber ein kleines Kind rief „Aber er hat ja gar nichts an“, da sagten auf einmal auch alle anderen Leute „Er hat ja gar nichts an.“ Andersen beschreibt eine Informationskaskade und ihr Ende. Ganz am Anfang mag es auch unüberschaubar gewesen sein, ob die beiden Schwindler nicht wirklich die wunderbaren Kleider weben könnten. Doch bald hatten diejenigen, die die Werkstatt der „Weber“ besuchten, später der Kaiser selbst und schließlich das ganze Volk der Stadt eigene und völlig eindeutige Informationen. Ambiguität spielt in der Geschichte keine Rolle.
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Doch ihr Verhalten war so, als ob sie ihrer eigenen Information nicht trauten. Dafür hatten sie gut erscheinende Gründe, und mit seinem Verhalten verstärkte jeder Einzelne nur die Gründe der anderen, sich genauso zu verhalten. Sie wollten ja alle nicht als dumm oder untüchtig erscheinen. Erst als das von allen als unschuldig akzeptierte Kind die Wahrheit aussprach, konnten alle sagen, was sie längst gewusst hatten. Die neuen subprime-basierten Wertpapiere sind die neuen Kleider des Kaisers. Die Investmentbanken und ihre „qualifying SPVs“ sind die Weber und Schwindler, die an der von ihnen geschaffenen Sachlage sehr viel verdienten und sich die Seide, das Gold und das Geld „in die eigenen Taschen steckten“. Die Rating-Agenturen entsprechen den „Ministern und ehrlichen Staatsmännern“, die der Kaiser ausgesandt hatte, um die Sachlage zu erkunden, und von denen er erwartete, dass sie ihm verlässliche Nachrichten bringen würden. Das Ende der Geschichte entspricht dem Platzen der Blase im Jahre 2007. Vielleicht war der beinahe Zusammenbruch der IKB der Ausruf des unschuldigen Kindes. Aber für wen steht der Kaiser selbst, der in dem Märchen meint, trotz der peinlichen Situation durchhalten und die Prozession weiterführen zu müssen? Er repräsentiert wohl die Investoren die sich so viel erhofft hatten, und die anderen, die Steuerzahler, die zusammen mit den Investoren letztlich den Schaden zu tragen hatten. Im Fall der Finanzkrise waren die Zusammenhänge doch etwas subtiler als in Andersens Märchen. Zu der Informationskaskade, die Andersen so meisterhaft beschreibt, kommt im Falle der Finanzkrise die Ambiguität hinzu. Mit der Verbindung der beiden Konzepte von Ambiguität und Informationskaskaden lässt sich, so meinen wir, eine stimmige Rekonstruktion der Krise geben. Damit wollen wir nicht beanspruchen, dass wir mehr zu erklären wüssten als andere Krisenerklärungen schon geliefert haben. Aber die typischen makroökonomischen Erklärungen lassen doch die Frage weitgehend unbeantwortet, warum die Beteiligten, die man sich in der Tradition der herrschenden Ökonomie immer als rational handelnde Wirtschaftsubjekte vorstellt und denen man eine rationale Erwartungsbildung unterstellt, nicht schon früh erkannt haben, dass die Blase platzen muss, und die damit bereits ihre Entstehung verhindert hätten. Und die typischen mikroökonomischen Erklärungen, die – völlig zu Recht – die Anreizverzerrungen ins Zentrum ihrer Argumentation stellen, lassen doch weitgehend eine Erklärung vermissen, warum das ganze System der Subprime-Verbriefung schließlich so plötzlich zusammengebrochen ist. Zumindest in diesen beiden Hinsichten ist unsere Erklärung der Subprime-Krise gehaltvoller. Sie kann deshalb für sich in Anspruch nehmen, die bisherigen Erklärungen um wichtige Punkte zu ergänzen.
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Geschäfte außerhalb der Bilanzen
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Geschäfte außerhalb der Bilanzen Geschäfte außerhalb der Bilanzen Ulrich Sorgenfrei
Ulrich Sorgenfrei Gliederung I. Konkretisierung II. Beispiele III. Zielsetzung IV. Abgrenzungsproblematik V. „Neue“ Phänomene? VI. EU- und nationale Gesetzgebungsreaktionen VII. Rechtliche Alternativen zum Strafrecht? VIII. Fazit
I.
Konkretisierung
Der Beitrag behandelt Vorgänge, mit denen Vermögensgegenstände und die damit verbundenen Risiken entweder so gestaltet werden, dass sie nach dem jeweiligen Rechnungslegungs-Regime gar nicht erst im Jahresabschluss (d. h. der Bilanz bzw. der Gewinn- und Verlustrechnung), dem Anhang oder dem Lagebericht aufscheinen müssen, oder sie werden zeitweise „ausgelagert“, damit sie (jedenfalls) am Bilanzstichtag nicht bzw. nicht wie bisher erfasst werden müssen („Umetikettierung“). Es geht dagegen nicht um Geschäfte, die völlig außerhalb der Bilanzen realisiert werden, also um das strafrechtlich relevante Verschweigen von bilanzierungspflichtigen Transaktionen (vgl. § 331 HGB),1 sondern vielmehr um die Abgrenzung zwischen handelsrechtlich zulässiger Bilanz- bzw. Jahresabschlusspolitik durch Nutzung von Sachverhaltsgestaltungs- und gesetzlich eingeräumten Ansatz-, Beurteilungs- und Bewertungsspielräumen, von unzulässiger Bilanzmanipulation. Begrifflich präziser spricht man von Rechnungslegungsmanipulation, die als potentielles Tatobjekt nicht nur die Bilanz, sondern auch die Gewinn- und Verlustrechnung, den Anhang und Lagebericht sowie in Konzernfällen auch die Ka1
Ulmer/Dannecker HGB-Bilanzrecht, § 331 Rn. 37, 51; MünchKommStGB/Sorgenfrei Band 6/1, 2010, Vor §§ 331 ff. HGB Rn. 42.
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pitalflussrechnung, den Eigenkapitalspiegel sowie die Segmentberichterstattung (§ 297 HGB) umfasst.
II.
Beispiele
Bereits in der Vergangenheit wurden etwa Wertpapiere über den Bilanzstichtag „in Pension“ gegeben, in der Form eines echten bzw. unechten Pensionsgeschäfts2 oder auch als Wertpapier-Leihgeschäfte (d. h. als Sachdarlehen, § 607 BGB) gestaltet. Gängige Geschäftsvorgänge sind auch sog. Sale-/Lease Back-Transaktionen sowie der Verkauf von (Leasing-, Immobilienkredit- o. ä.) Forderungen an eine sog. Zweckgesellschaft (Conduit). Diese auch Single oder Special Purpose Vehicle (SPV) bzw. Structured Investment Vehicle (SIV) genannten Gesellschaften verbriefen diese Forderungen sodann und begeben die entsprechenden Schuldverschreibungen am Kapitalmarkt (Mortgage Backed Securities, Asset Backed Securities).
III.
Zielsetzung
Die mit derartigen Transaktionen verbundenen Ziele sind vielfältiger Art.3 Insbesondere aus Sicht von Kreditinstituten stehen folgende Ziele im Vordergrund: – bilanzpolitische Ziele (Beeinflussung von Finanzkennzahlen und damit des Unternehmens-Ratings; Vermeidung von handelsrechtlichen KonzernKonsolidierungsvorschriften)4 – aufsichtsrechtliche Ziele (Verringerung des „teuren“ haftenden Eigenkapitals) 2
3
4
Für Kreditinstitute geregelt in § 340b HGB; zur streitigen Frage der Zurechnung des Pensionsguts bei Pensionsnehmer oder -geber vgl. nur Haase Inf. 2006, 457; Schmidt/Weber-Grellet EStG, 28. Aufl. 2009, § 5 Rn. 270 „Pensionsgeschäfte“; Selchert DB 1996, 1933, 1936; Haarmann StBJb 2006//2007, 253 ff. Castan/Schaber/Färber, Handbuch der Rechnungslegung, B 745 Rn. 2 ff.; Kustner KoR 2004, 309; App/Klein, KoR 2006, 489 f. Castan/Schaber/Färber (Fn. 3) 47 ff. zur Konsolidierung nach IAS/IFRS, Rn. 113 ff. zur Konsolidierung nach HGB sowie Weber/Lorson/Pfitzer/Kessler/Wirth/Eick FS Küting, 2009, S. 214 ff. zur Konsolidierung nach US GAAP.
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– steuerliche Ziele (steueroptionale Ansiedlung der Zweckgesellschaften in sog. Steueroasen-Ländern) – Investmentsteuerung (die Geschäftsführung bei Leasing-Objekt-Gesellschaften entspricht „Autopiloten“).5
IV.
Abgrenzungsproblematik
Die Grenzziehung zwischen noch erlaubter Bilanzkosmetik (Bilanzumgehung, Schönfärberei, Bilanzlifting, window dressing, creative accounting)6 und strafbarer unrichtiger oder verschleiernder Angaben im Sinne des § 331 HGB, § 400 AktG ist allerdings nur schwer festzumachen.7 Eine ähnliche Thematik stellt sich im Steuerrecht bei der Abgrenzung zwischen zulässiger Steuergestaltung einerseits und unzulässigem sog. Gestaltungsmissbrauch (§ 42 AO).8 Zusätzlich zu dieser schwierigen Abgrenzung zwischen noch zulässiger „Bilanz“politik einerseits und unzulässiger „Bilanz“manipulation andererseits ist nach allgemeiner Ansicht zudem eine Einschränkung dahingehend geboten, dass nur völlig unvertretbare Ansichten pönalisiert werden dürfen.9 Einigkeit besteht ferner darin, dass nur eine Wesentlichkeits- bzw. Erheblichkeitsschwelle bei Bilanzierungs-, Berichts- oder Testatsverstößen eine ge5
6
7 8
9
Schruff/Rothenburger WPg 2002, 756; Köhler/Strauch WPg 2008, 189, 190; Kirsch/Ewelt BB 2009, 1574. Vgl. bereits RG v. 27. 1. 1905, RGSt 37, 433, 434; Ulmer/Dannecker (Fn. 1) § 331 HGB Rn. 80; Peemöller/Hofmann Bilanzskandale, 2005, S. 24 f.; Schüppen, Systematik und Auslegung des Bilanzstrafrechts, 1992, S. 9 ff.; Pfleger Bilanz-Lifting, 2. Aufl. 2001, S. 1 ff.; Gössweiner Wesen und Probleme der Bilanzdelikte, 1970, S. 156 f.; zum bilanzpolitischen Instrumentarium bei IAS/IFRS-Abschlüssen vgl. Küting/Dawo StuB 2002, 1157; Scheffler, BB 2006, BB-Special 4 zu Heft 17, 2, 4 ff.; Köhler StBp 2008, 185, 197; ders. StBp 2009, 46 ff.; Hüttche BB 2009, 1346; ders. StuB 2009, 409; Petersen/Zwirner/Künkele StuB 2009, 669. Sorgenfrei StuB 2006, Beil. PiR 3/2006, 38; Wolf StuB 2009, 909, jeweils m. w. N. Vgl. die umfangreichen Kommentierungen hierzu bei Tipke/Kruse AO/FGO § 42 AO Rn. 1 ff.; Hübschmann/Hepp/Spitaler AO/FGO, § 42 AO Rn. 1 ff.; Klein/Ratschow AO, 10. Aful. 2009, § 42 Rn. 5 ff. Vgl. BVerfGE 37, 201 ff.; HWSt/Ransiek VIII 1 Rn. 8; Ulmer/Dannecker (Fn. 1) § 331 Rn. 43, 80, 91, 111; MünchKommStGB/Sorgenfrei (Fn. 1) Vor §§ 331 ff. HGB Rn. 32; Beck’scher Bilanzkommentar/Hoyos/H. P. Huber § 331 HGB Rn. 11; Heymann/Otto § 331 HGB Rn. 26; MünchKommHGB/Quedenfeld § 331 Rn. 34; Erbs/Kohlhaas/Schaal Rn. 19; Schüppen (Fn. 6) S. 167; Gramich wistra 1987, 159.
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eignete qualitativ-quantitative Eingrenzung gegenüber einer ansonsten zu unbestimmten Normiertheit (Art. 103 Abs. 2 GG) darstellt.10 Schließlich ist bei weniger gravierenden Rechnungslegungsfehlern noch die Abgrenzung zu Ordnungswidrigkeiten nach § 334 HGB vorzunehmen.11 Bemerkenswert ist, dass die in Zeiten der sog. Finanzmarktkrise noch so verpönten Zweckgesellschaften nunmehr vom Gesetzgeber selbst als Instrumente zur Auslagerung sog. toxischer Papiere in den „bad banks“ eingesetzt werden.12
V.
„Neue“ Phänomene?
Insbesondere bei den Zweckgesellschaften und den mit ihnen verbundenen Transaktionen handelt es sich jedoch keineswegs um „neue“ Erscheinungsformen von Bilanzgestaltung. Im Zuge der Finanzkrise der Jahre 2008/2009 rückten allerdings insbesondere die von Kreditinstituten vorgenommenen Risikotransformationsgestaltungen13 in den Blickwinkel des öffentlichen Interesses. Die Fragmentierung und Verlagerung eigener Liquiditäts-, Bonitäts-, Ausfall- und anderer Risiken auf andere Kapitalmarktteilnehmer einerseits 10
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Vgl. bereits RGSt 29, 305, 308; RGSt 49, 358, 363; BGHSt 30, 285, 286 ff. (zu § 265 b StGB); OLG Frankfurt/M. NStZ-RR 2002, 275, 276; OLG Frankfurt/M. DB 2007, 1913, 1914; OLG Frankfurt/M. DB 2009, 333; Hennrichs DStR 2009, 1446; Kumm DB 2009, 1635; Ulmer/Dannecker (Fn. 1) Vor §§ 331 ff. HGB Rn. 87; MünchKommHGB/ Quedenfeld Vor §§ 331 ff. Rn. 38; § 331 Rn. 42 f.; Volk/Knierim MAH Wirtschaftsund Steuerstrafsachen, § 25 Rn. 94, 127 ff.; Schüppen (Fn. 6) S. 130 f., 158 ff.; Enderle Blankettstrafgesetze, 2000, S. 131 ff., 152 ff., 205 ff.; Bongertz IAS-Verordnung, 2008, S. 320 f.; Mekat Der Grundsatz der Wesentlichkeit in Rechnungslegung und Abschlussprüfung, 2009, S. 70 ff., 252 ff.; Wolf StuB 2009, 909, 912; zur Wesentlichkeit nach deutschen Prüfungsstandards vgl. Institut der Wirtschaftsprüfer (IdW), Wesentlichkeit im Rahmen der Jahresabschlussprüfung (PS 250), WPg 2003, 944; zur Wesentlichkeit eines Fehlens nach IAS/IFRS vgl. IAS 1.11 sowie 8.5 i. d. F. Verordnung (EG) Nr. 1126/2008 ABl. EU v. 29. 11. 2008 Nr. L 320, S. 1 ff. Ulmer/Dannecker (Fn. 1) § 331 Rn. 43, § 334 Rn. 1; Erbs/Kohlhaas/Schaal § 331 AGB Rn. 19; MünchKommStGB/Sorgenfrei (Fn. 1) § 331 HGB Rn. 51, 66, 91; de Weerth Die Bilanzordnungswidrigkeiten nach § 334 HGB, 1994, S. 17. Vgl. § 6a Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz idF Art. 1 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Finanzmarktstabilisierung v. 17. 7. 2009, BGBl. I S. 1980; BTDrucks. 16/13590 v. 1. 7. 2009; BR-Drucks. 634/09 v. 3. 7. 2009; allg. zur Rechnungslegung v. Zweckgesellschaften Castan/Schaber/Färber (Fn. 6) B 745 Rn. 42 ff. Ausführlich zu den einzelnen Risikogruppen Castan/Schaber/Färber (Fn. 3) B 745 Rn. 24 ff.
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bei Hereinnahme fremder, teileweise offenbar nicht hinreichend transparenter Risiken auch in Form von (z. B. U. S. Subprime-Hypotheken-)Klumpenrisiken wurde nicht zuletzt von Politik14 und Justiz15 auf den Prüfstand gestellt. Dabei traten offenkundig Wahrnehmungs- und Verständnisdefizite sowohl bei Kreditinstituten, Rating-Agenturen als auch bei Aufsichtsbehörden zu Tage, auf deren Ursachen im Zuge dieses Beitrags nicht näher eingegangen werden kann. Deutlich wurde jedoch die extreme Komplexität der hiermit verbundenen Finanzprodukte einerseits, der zugrunde liegenden grenzüberschreitenden Verflechtungen von Finanzmärkten und deren Teilnehmer andererseits und einer offensichtlich nicht hinreichenden aufsichtsrechtlichen Überwachungstätigkeit und möglicherweise sogar -kompetenz.16
VI.
EU- und nationale Gesetzgebungsreaktionen
Um die mit derartigen Risikotransformationsgestaltungen verbundenen Strukturen transparenter und damit sowohl für Kapitalmarktteilnehmer (insbesondere den „Klein“anleger), aber auch für die Aufsichtsgremien transparenter und damit verständlicher zu machen, wurden bereits vor Jahren Gesetzgebungsaktivitäten entfaltet: – bereits im Jahr 2 003: IASB Exposure Draft ED 10 Consolidated Financial Statements (Endfassung war für IV. Quartal 2009 vorgesehen) – im Jahr 2004 Einführung der neuen Rechnungslegungswelt (IAS/IFRS) für kapitalmarktorientierte Unternehmen mit gegenüber dem HGB erheblich erweiterten Prognose-, Ermessens- und zusätzlichen Wahlrechten17 14
15
16 17
Vgl, nur Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz v. 17. 10. 2008, BGBl. I S. 1982 sowie Fn. 12. Vgl. Ermittlungsverfahren gegen Verantwortliche der IKB, Hypo Real Estate, Sachsen LB, HSH Nordbank ferner die Vorwürfe im Zusammenhang mit der Bayern LB und der KfW, Süddeutsche Zeitung v. 3. 7. 2009, S. 25. Schröder Kriminalstatistik 2009, S. 12 ff. Gesetz zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung (Bilanzrechtsreformgesetz – BilReG) v. 4. 12. 2004, BGBl. I S. 3166; BR-Drucks. 852/04 v. 5. 11. 2004; BT-Drucks. 15/4054 v. 27. 10. 2004; BT-Drucks. 15/3419 v. 24. 6. 2004; BR-Drucks. 326/04 v. 30. 4. 2002; Bongertz (Fn. 10), S. 180 f.; Hüttemann BB 2004, 203; Kajüter DB 2004, 197; Pottgießer StuB 2004, 166; Hucke/Ammann StuB 2004, 407; krit. Kirsch DStZ 2004, 470; Peemöller/Oehler BB 2004, 1158; Busse von Colbe BB 2002, 1530; Prinz DStR 2003, 1359; Buchheim/Gröner BB 2003, 953.
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– Umsetzung der sog. EU-Abänderungsrichtlinie im Jahr 200618 – Transparenzrichtlinie-Umsetzungsgesetz aus dem Jahr 2 007, u. a. mit Einführung des „Bilanzeids“19 – erhebliche Ausweitung der im Anhang zum Jahresabschluss zu machenden Angaben durch das Bilanzmodernisierungsgesetz im Jahr 2009 (§ 285 HGB/neu). Ferner ist im Bereich der Konzernkonsolidierungsvorschriften statt des bisherigen Beteiligungserfordernisses die Schwelle auf die nunmehr ausreichende einheitliche Leitung abgesenkt worden (§ 290 Abs. 1 HGB). Dies entspricht in etwa dem aus dem IFRS-Regelwerk bekannten Control-Konzept (IAS 27.4). Insbesondere durch die Einführung der IAS/IFRS-Rechnungslegungswelt für kapitalmarktorientierte Unternehmen wurden verschiedene Effekte ausgelöst, die erhebliche Auswirkungen für die strafrechtliche Beurteilung von möglichen Rechnungslegungsdelikten zur Folge haben:
1. Zunächst ist zu beachten, dass es sich bei den IAS/IFRS um kein geschlossenes Normensystem handelt. Vielmehr stellen diese Vorschriften als Gegensatz zu einem in sich abgeschlossenen Regelwerk nur einen Teil einer Gemengelage dar.20 Diese besteht aus einem Vorwort („Preface“),21 sowie einem Rahmen18
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Richtlinie 2006/46/EG v. 14. 6. 2006 zur Änderung der Richtlinien des Rates 78/ 660/EWG über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, 83/349/EWG über den konsolidierten Abschluss, 86/635/EWG über den Jahres- und den konsolidierten Jahresabschluss von Banken und anderen Finanzinstituten und 91/674/EWG über den Jahresabschluss und den konsolidierten Abschluss von Versicherungsunternehmen, ABl. EG Nr. L 224, S. (sog. Abänderungsrichtlinie); der Vorschlag hierzu datiert bereits aus dem Jahr 2004, vgl. BR-Drucks. 901/04 v. 9. 11. 2004; Lanfermann/Maul DB 2006, 2011. Krit. hierzu Fleischer ZIP 2007, 97; Sorgenfrei wistra 2008, 329; Park FS Egon Müller, 2008, S. 533 ff.; Schellhorn DB 2009, 2363; ausführlich MünchKommStGB/Sorgenfrei (Fn. 1) § 331 HGB Rn. 113 ff. Vgl. die Definition in IAS 1 idF Verordnung (EG) Nr. 1274/2008 v. 17. 12. 2008, ABl. EU Nr. L 339/S. 3, 5 unter Nr. 7: IFRS, IAS und IFRIC- bzw. SIC-Interpretationen; Bongertz (Fn. 10)) S. 67 ff.; Wojcik Die internationalen Rechnungslegungsstandards IAS/IFRS als europäisches Recht, 2008, S. 253, 262; MünchKommHGB/Ballwieser Vor § 238 Rn. 25 f.; MünchKommStGB/Sorgenfrei (Fn. 1) § 331 HGB Rn. 95; zur Entstehungsgeschichte vgl. Beck’sches IFRS-Handbuch/Bohl § 1 Rn. 1 ff.; Luttermann WPg 2006, 778, 781: Stückwerk. Vgl. Baumbach/Hopt/Merkt Vor § 238 Rn. 105.
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konzept („Framework“),22 sodann aus den (bis Ende 2008: 37) nummerierten Einzelstandards für die Rechnungslegung (z. B. IAS 1, IFRS 1 usw.),23 ferner den (bis Ende 2008: 21) Rechnungslegungsinterpretationen durch das Standing Interpretation Committee (SIC, ab 2001 umbenannt in International Financial Reporting Interpretations Committee, IFRIC) und den sog. Anwendungshilfen („Implementation Guidances/Illustrative Examples“). 24 Dieses Normengeflecht umfasst derzeit mehr als 2000 Seiten, wobei die deutsche Übersetzung des in englischer Sprache abgefassten Originalwerks teilweise erhebliche Fehler aufweist.25 Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich gebotenen Tatbestandsbestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) ist die Blankettnorm des § 331 HGB schon bei Beurteilung des bisherigen HGB-Rechnungslegungsregimes kritisch und zurückhaltend zu prüfen.26 Zur Inhaltsbestimmung sind dabei zunächst handelsrechtliche Maßstäbe und Wertungen heranzuziehen („vernünftige kaufmännische Beurteilung“).27 Dies gilt erst recht für § 331 Nr. 1 a HGB i. V. m. dem IAS/IFRS-Regelungskonvolut und seinen (gegenüber dem HGB) erweiterten Beurteilungs-, Ermessens- und Prognosespielräumen.28 Ergänzend ist zu beachten, dass letztere Normen einer erheblichen Volatilität ausgesetzt 22
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Framework for the Preparation and Presentation of Financial Statements; näher Großfeld/Luttermann Beck’sches IFRS-Handbuch/Bohl/Mangliers § 2 Rn. 1 ff.; Schöllhorn/Müller DStR 2004, 1623; zur Überarbeitung des Rahmenkonzepts vgl. IASB, Conceptual Framework Project v. 29. 5. 2008, abrufbar unter www.iasb.org; hierzu Zülch/Nellesen PiR 2008, 270; Kirsch DStZ 2008, 511; Gassen/Fischkin/Hill WPg 2008, 874. Vgl. konsolidierte Fassung in Verordnung (EG) Nr. 1126/2008 der Kommission v. 3. 11. 2008 zur Übernahme bestimmter internationaler Rechnungslegungsstandards gem. der Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. EU Nr. L 320, S. 5 ff.; zur erstmaligen Anwendung von und zur Überleitung auf IAS/IFRS vgl. Verordnung (EG) Nr. 707/2004 der Kommission v. 6. 4. 2004, ABl. EG Nr. L 111 5.3; Beck’sches IFRS-Handbuch/Bohl § 1 Rn. 15 ff. Vgl. Baumach/Hopt/Merkt HGB, Vor § 238 Rn. 112; Zülch StuB 2005, Beilage PiR 1, 1 ff.; Sorgenfrei PiR 2006, 38. Niehus DB 2005, 2477; Sorgenfrei PiR 2006, 38, 40; Ballwieser/Zimmermann WPg 2004, Sonderheft, 78 ff.; MünchKommStGB/Sorgenfrei § 331 HGB Rn. 105. § 331 Nr. 1 HGB ist noch hinreichend bestimmt, vgl. BGH v. 25. 4. 2006, wistra 465; BVerfG v. 15. 8. 2006, WM 2006, 1839 m. krit. Anm. Kutzner WuB 2007, § 331 HGB 1. MünchKommHGB/Quedenfeld Vor § 331 Rn. 38; Scheffler BB 2006, BB-Special 4 zu Heft 17, 2, 3; MünchKommStGB/Sorgenfrei § 331 HGB Rn. 9. Vgl. nur Wohlgemuth IFRS: Bilanzpolitik und Bilanzanalyse, 2007, S. 23 ff.; Küting/ Wohlgemuth DStR 2004, Beihefter zu Heft 48/2004, S. 1 ff.; Hüttche BB 2005, 147; Petersen/Zwirner/Künkele StuB 2009, 669.
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sind: so wurde die sog. IAS-Verordnung29 in kürzesten Abständen geändert bzw. erweitert.30 Die IAS-Verordnung ist mittlerweile durch eine konsolidierte Fassung der bisher geltenden 18 Einzelverordnungen (!) abgelöst worden.31 Diese Unstetheit der handelsrechtlichen Normengrundlage wirkt sich über die Frage, welche Norm zu welchem Zeitpunkt der Strafnorm des § 331 Nr. 1 a HGB zugrunde zu legen ist, zwangsläufig aus. Die sich hieraus möglicherweise ergebenden Irrtumskonstellationen für potentiell Verantwortliche (Vorstände etc.) sind evident.
2. Da aus der IAS-Verordnung eine bindende Vorgabe für den nationalen Gesetzgeber entsteht, ist nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts32 bereits für die handelsrechtliche,33 aber auch für die strafrechtliche Würdigung in jedem Fall der Grundsatz richtlinienkonformer Auslegung zu beachten.34 Dies führt im Ergebnis zu einer Europäisierung des Bilanzstraf-
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Verordnung (EG) Nr. 1606/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19. 7. 2002 betreffend die Anwendung internationaler Rechnungslegungsstandards, ABl. EG Nr. L 243, S. 1. Vgl. die künftig jährlich erfolgende Anpassung von IAS/IFRS durch das IASB („Annual Improvements Project“ zuletzt v. 22. 5. 2008 in Form eines Sammelstandards mit immerhin 24 materiell-rechtlichen und 11 terminologischen Änderungen); hierzu Fink PiR 2008, 281; Bömelburg/Landgraf/Eberhardt, PiR 2008, 331; Fink/Müller PiR 2009, 319 sowie Darstellung bei MünchKommStGB/Sorgenfrei (Fn. 1), Vor §§ 331 ff. HGB Rn. 33. Verordnung (EG) Nr. 1126/2008 der Kommission v. 3. 11. 2008, ABl. EU v. 29. 8. 2008 Nr. L 320, S. 1 ff.; ausführlich Bongertz (Fn. 10) S. 43 ff. Vgl. Art. 10 EGV; Schwarze EU-Kommentar 2000, Art. 10 Rn. 20 f. Zur Relevanz der IAS/IFRS-Normenbestandteile bei der Auslegungsreihenfolge vgl. Scheffler BB 2006, BB Special 4 zu Heft 17, 2, 4; Müller-Gugenberger/Bieneck/Wolf Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 26 Rn. 158; vgl. ferner EuGH v. 7. 1. 2003 BB 2003, 355 = DB 2003, 181 zur Vorlagepflicht des BFH in Auslegungsfragen deutschen (Steuer-)Bilanzrechts; Schütz DB 2003, 688 ff. m. w. N.; de Weerth (Fn. 11) S. 48 ff.; MünchKommStGB/Sorgenfrei (Fn. 1) Vor §§ 331 ff. HGB Rn. 37. BGHSt 37, 168, 174 ff.; BGHSt 37, 333 ff.; BGH v. 26. 11. 2008 – VIII ZR 200/05, HFR 2009, 717; MünchKommHGB/Quedenfeld (Fn. 9) Vor §§ 331 HGB Rn. 26; Ulmer/Dannecker (Fn. 1) Vor §§ 331 ff. HGB Rn. 88; Bücklers Bilanzfälschung nach § 331 Nr. 1 HGB 2002, S. 28 ff.; Hugger DStZ 1993, 421 ff.; Schröder Europäische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002, S. 321 ff., 331 ff.; zur Auslegung von IAS/IFRS: Schön BB 2004, 763; Küting/Ranker BB 2004, 2510; Schöllhorn/Müller DStR 2004, 1666, 1669; Hauck/Prinz BB 2007, 2434, 2435 f.; MünchKommBilR/Watrin IFRS Einf. Rn. 65 ff.;
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rechts, obwohl ansonsten der Tendenz, Strafrecht als europäische Regelungsmaterie zuzulassen, eher restriktiv begegnet wird.35
3. Darüber hinaus bestehen nicht unerhebliche Zweifel an der hinreichende demokratischen Legitimation dieses Regelungskonvoluts: Das diese Vorschriften entwickelnde Gremium (sog. Standard Setter), das International Accounting Standards Board (IASB) ist privatrechtlich konstituiert, gelenkt und privat finanziert.36 Die Übernahme in Gemeinschaftsrecht im Rang einer EG-Verordnung erfolgt in einem besonderen gemeinschaftsrechtlichen Regelungsverfahren (sog. Komitologieverfahren Art. 202 EGV).37 Demgemäß werden IAS/IFRS nur insoweit durch die IAS-Verordnung als europäisches Recht bindende Normen, als ihre Anwendbarkeit von der Kommission (und ohne weitere Befassung sei-
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Bongertz (Fn. 10) S. 174 ff.; Wojcik (Fn. 20) S. 268 ff.; Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht 2. Aufl. 2007, § 8 Rn. 99 ff.; Stibi/Fuchs DB 2009, 9. Zur fehlenden Strafbarkeit wegen Bilanzfälschung allein aufgrund einer EURichtlinie vgl. EuGH v. 3. 5. 2005 – C 387, C 391/02, C 403/02 (Berlusconi u. a.), ABl. EU Nr. C 171 S. 1 ff. = EuZW 2005, 369 ff. m. krit. Anm. Gross; zur Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Kommission und Europäischem Rat bei der Harmonisierung des Strafrechts vgl. EuGH v. 13. 9. 2005 – C 176/03; Braum wistra 2006, 121; Satzger Europa: Neues Strafrecht durch die Hintertür?, Schriften zum 31. Strafverteidigertag 2007, S. 161 f., 169; Hefendehl ZIS 2006, 229 ff.; Sorgenfrei PiR 2006, 38, 40; Frenz/Wübbenhorst wistra 2009, 449. Vgl. diesbezügliche Kritik im Initiativbericht des EU-Parlamentsausschusses für Wirtschaft und Währung über die IFRS und die Leitung des IASB v. 5. 2. 2008 (2006/2248 (INI), sog. „Radwan“-Bericht, S. 5 unter Ziff. 2 abrufbar unter www. standardsetter.de; MünchKommBiLR/Watrin IFRS Einf. Rn. 15 ff., 17, 40 ff.; Bongertz (Fn. 10) S. 56 ff.; Wojcik (Fn. 20) S. 190 ff, 215; Sorgenfrei PiR 2006, 38, 39; W. Müller, FS Priester 2007, S. 505, 513, 520; zur Zusammensetzung und Finanzierung des IASB vgl. auch Beck’sches IFRS-Handbuch/Bohl, § 1 Rn. 9, 11. Vgl. Art. 6 IAS-Verordnung (Fn. 23) i. V. m. Beschluss des Rates 1999/468/EG v. 28. 6. 1999 zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, ABl. EG Nr. L 184 S. 23 (sog. Komitologiebeschluss) i. V. m. Beschluss des Rates v. 17. 7. 2006 (2006/512/EG), ABl. EG Nr. L 200, S. 11 ff., zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 297/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. EU v. 9. 4. 2008 Nr. L 92, S. 62; MünchKommHGB/Ballwieser Vor § 238 Rn. 22 ff.; Buchheim/Gröner/Kühne BB 2004, 1783; Schön BB 2004, 763, 764; Sorgenfrei, PiR 2006, 38, 39; ausführlich Bongertz (Fn. 10) S. 147 ff., 161 ff.
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tens des nationalen Gesetzgebers) beschlossen wurde.38 Einzelheiten dieses Anerkennungsmechanismus (sog. Endorsement-Verfahren) ist in Art. 3 Abs. 1, 6 IAS-Verordnung geregelt.39 Nach aufgetretenen Zweifeln, ob diese Art der Übernahme in europäisches Recht mit der Folge unmittelbarer Geltung in den Mitgliedstaaten40 als noch hinreichend demokratisch legitimiert ansehen kann, und damit die übernommenen IAS/IFRS als „gesetzlich bestimmt“ i. S. Art. 103 Abs. 2 GG akzeptieren zu können, wurde das Verfahren modifiziert. Anstelle des zunächst geltenden „Regelungsverfahrens“, in dem zumindest der vorgesehene Regelungsausschuss mit Vertretern der EU- Mitgliedstaaten besetzt war,41 ist nach einer Reform des Komitologieverfahrens im Jahr 2006 ein „Regelungsverfahren mit Kontrolle“ und einer damit einhergehenden stärkeren Einbeziehung des EU-Parlaments getreten.42 Ob es damit sein Bewenden hat, wird sicherlich noch einer genauen Überprüfung zugeführt werden müssen. Diese grundsätzlichen Bedenken sind nämlich insbesondere im Zuge der Bewältigung der sog. Finanzkrise zu Tage getreten. Die hierzu aus dem angloamerikanischen Rechtskreis herrührenden Vorschläge zur Überarbeitung des IAS 39, der die Bewertung von Finanzinstrumenten zum Inhalt hat, ebenso wie die zunächst beibehaltene strikte Anlehnung an das sog. Fair ValueKonzept43 ist auf erhebliche Kritik gestoßen,44 da die hiermit verbundene 38
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Vgl. Weber wistra 2007, 284, 287; MünchKommBilR/Hennrichs IFRS Einf. Rn. 58 ff., 60 ff.; Bongertz (Fn. 10) S. 170 f.; Wojcik (Fn. 20) S. 263 ff.; Pellens/D. Jödicke/Jödicke BB 2007, 2503. Zur Kompetenz der EG zur Regelung der Rechnungslegung vgl. Art. 95 Abs. 1 EGV. Art. 11 und darauf folgender Satz der IAS-Verordnung (Fn. 29). Art. 6 IAS-Verordnung (Fn. 29); vgl. auch RegBegr. BilReG, BT-Drucks. 15/3419, S. 22; zur Beteiligung von IFRS-Anwendern bei der Normengestaltung vgl. Schreiber BB 2006, 1379; MünchKommBilR/Watrin IFRS Einf. Rn. 18 ff.; Handelsblatt v. 21. 7. 2008: „lebendige Expertendemokratie“. Art. 1 Abs. 2 lit. a Verordnung (EG) Nr. 297/2008 v. 11. 3. 2008, ABl. Nr. L 97, S. 62; hierzu Lanfermann/Röhricht BB 2008, 826; MünchKommStGB/Sorgenfrei (Fn. 1) Vor §§ 331 ff. HGB Rn35; zur Kritik vgl. den sog. Radwan-Bericht (Fn. 36); Radwan WPg 2008, 481. Vgl. Richtlinie 2001/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27. 9. 2001 zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG, 83/349/EWG und 83/635/EWG des Rates im Hinblick auf die im Jahresabschluss bzw. im konsolidierten Abschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen und von Banken und anderen Finanzinstrumenten zulässigen Wertansätze, ABl. EG Nr. L 283, S. 28 (sog. Fair-ValueRichlinie); Lüdenbach/Hoffmann DStR 2007, Beihefter zu Heft 50, S. 1 ff.; krit. Küting DStR 2009, 288 ff. FAZ v. 19. 3. 2008; Handelsblatt v. 16. 7. 2009; Handelsblatt v. 29. 7. 2009; FAZ v. 28. 8. 2009; Handelsblatt v. 15. 9. 2009; DB 2009 Heft 22, S. 1; DB 2009 Heft 26, S. I.
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prozyklische Bewertung von Finanzinstrumenten zu aktuellen (sinkenden) Marktpreisen in Krisenzeiten den negativen Bewertungstrend sogar noch verschärft statt entschärft hatte.45 Zwischenzeitlich hat das IASB hierauf auch reagiert.46
4. Soweit im Rechnungslegungsstrafrecht zur Fehlerbestimmung auf den Beurteilungshorizont eines „bilanzkundigen Lesers“47 abgestellt wird, fragt sich ferner, welchen Grad an Bilanzkunde ein Leser haben soll: derjenige eines Analysten oder einer Investmentbank unterscheidet sich diametral von demjenigen eines Privat- (Klein-)Anlegers.48 Bei IAS/IFRS-Abschlüssen ist ein Fehler dann wesentlich, wenn seine Auswirkungen einzeln oder bei mehreren Fehlern insgesamt die auf der Basis des Abschlusses betroffene wirtschaftliche Entscheidung „des Adressaten“ beeinflussen könnte.49 Hierbei soll u. a. auf die Fähigkeit der Abschlussadressaten (Kapitalmarktteilnehmer) abzustellen sein, die wirtschaftlichen Tätigkeiten des Unternehmens und die diesbezügliche Rechnungsmethoden zu verstehen, d. h. bei den Abschlussadressaten wird eine angemessene Kenntnis der geschäftlichen und wirtschaftlichen Tätigkeit unterstellt sowie gleichzeitig eine kritische Grundhaltung bei deren Verarbeitung vorausgesetzt.50 Korrespondierend zu dieser differenzierend anzustellenden Anleger-Adressatenbetrachtung ist der durch Bezugnahme auf IAS/IFRS noch weiter zersplitterte Normzweck von § 331 HGB zu sehen: Während bislang als Hauptzwecke der HGB-Rechnungslegung der Gläubigerschutz, die Selbst45
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Vgl. Handelsbaltt v. 1. 12. 2009: „Berlin opponiert gegen Bilanzregeln“; Handelsblatt v. 15. 9. 2009: „Bilanzexperten in der Kritik“; FAZ v. 2. 12. 2009: „Regierung gegen neue Bilanzregeln“. FAZ v. 21. 10. 2009: IASB kommt Kritikern entgegen. RGSt 68, 346, 349; Ulmer/Dannecker (Fn. 1) § 331 HGB Rn. 40; Schmedding Unrichtige Konzernrechnungslegung, 1991, S. 46. Vgl. BGH, WM 1982, 862, 863 im Zusammenhang mit Prospekthaftung: „durchschnittliche Anleger . . ., der zwar eine Bilanz zu lesen versteht, aber nicht unbedingt mit der in eingeweihten Kreisen gebräuchlichen Schlüsselsprache vertraut zu sein braucht“. IAS 8.5 aF bzw. IAS 1.1 aF; MünchKommStGB/Sorgenfrei (Fn. 1) § 331 HGB Rn. 74. Beck’sches IFRS-Handbuch/Driesch § 44 Rn. 42; Küting/Weber/Keßler/Metz DB 2007, Beilage Nr. 7 zu Heft 45, 8 ff.; Erchinger/Melcher KoR 2008, 616, 619; MünchKommStGB/Sorgenfrei (Fn. 1) § 331 HGB Rn. 74.
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information des Kaufmanns und der Beweissicherung im Vordergrund standen, 51 eröffnet der Gesetzgeber nunmehr durch Anwendung des auf Kapitalmarktinformation ausgerichteten Normenkreises der IAS/IFRS52 unterschiedliche bzw. gemischte Anforderungen an die Rechnungslegung von Unternehmen in Abhängigkeit von deren Rechtsform, Kapitalmarktorientierung, Konzernzugehörigkeit oder Unternehmensgröße.53 Dies kann im Extremfall zu einer mehrfachen, unterschiedlichen Normsystemen unterworfenen Rechnungslegung führen54 und erschwert damit ggfs. eine Konkretisierung des Schutzzweckzusammenhangs (Zurechenbarkeit eines Taterfolgs).55
5. Hinsichtlich der Einbeziehung von Zweckgesellschaften in den Konsolidierungskreis eines Konzernabschlusses bzw. der Überwachung von Geschäften mit nahestehenden Personen hat nunmehr das Bilanzmodernisierungsgesetz erweiternde Möglichkeiten geschaffen (§ 290 Abs. 1 HGB, s. o.).56 Die als Folge der Finanzkrise verstärkten Überwachungsaktivitäten haben jedoch ergeben, dass weiterhin etwa jedes fünfte Unternehmen gegen zwingende Vorschriften der Berichterstattung über Special Purpose Entities verstößt. Untersucht worden waren die 2008er Jahresabschlüsse von 96 Banken und Versicherungen durch das Committee of European Securities Regulators (CESR).57 Ferner wurde am 4. 11. 2009 eine überarbeitete Version zu „Related Party Disclosures“ (IAS/24) einschließlich einer neuen Definition der nahestehenden Unternehmen und Personen veröffentlicht.
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Vgl. nur MünchKommHGB/Ballwieser § 238 Rn. 1 m. w. N.; Bongertz (Fn. 10) S. 74 f. Vgl. IAS-Verordnung (Fn. 29) Erwägungsgründe 1, 2 und 4; BegrRegE zum Gesetz zur Einführung internationaler Rechnungslegungsstandards und zur Sicherung der Qualität der Abschlussprüfung (Bilanzrechtsreformgesetz – BilReG), BT-Drucks. 15/3419, S. 23. Vgl. Weber wistra 2007, 284; zu den Entwicklungen für kleine und mittlere Unternehmen vgl. Exposure Draft IFRS for Small and Medium Sized Entities (EDIFRS/SME), abrufbar unter www.iasb.org. Küting StuB 2004, 683, 685: im Extremfall sechsfache Rechnungslegung. Vgl. nur Fischer StGB, 57. Aufl. 2010, Vor § 13 Rn. 30 m. w. N. Vgl. bereits Lüderssen StV 2009, 486, 492; Kümpel/Piel DStR 2009, 1222; Kirsch/Ewelt BB 2009, 1574; Mujkanovic StuB 2009, 374; Lüdenbach/Freiberg BB 2009, 1230; Zoeger/Möller KoR 2009, 309 ff. Committee of European Securities Regulators, Bericht vom 2. 11. 2009, Hinweis bei BB 2009, 2525.
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VII.
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Rechtliche Alternativen zum Strafrecht?
Die Fragestellung berührt das allgemeine Thema noch zulässiger „Risikogeschäfte“ einerseits (insbesondere die Risiko-Auslagerung bzw. Risiko-Hereinnahme durch Kreditinstitute) und das Maß bzw. die Grenze erforderlicher (Kapitalmarkt-)Information hierüber und die hiermit verbundene Transparenz für Kapitalmarktteilnehmer andererseits.58
1. In diesem Zusammenhang sind diverse Kontrollmechanismen und -instrumente festzustellen: aus dem Bereich der unternehmensinternen Mechanismen ist die Eigenverpflichtung des Vorstands einer AG hervorzuheben, für Risikoüberwachungssysteme zur sorgen (§ 91 Abs. 2 AktG). Ferner ist die Stellung und Funktion des Aufsichtsrats verbessert und verstärkt worden.59 Andererseits sind Verwässerungstendenzen unverkennbar, die offenbar politischen Kompromissen geschuldet werden. So ist im aktuellen Entwurf des Gesetzes zur Stärkung der Finanzmarkt- und Versicherungsaufsicht für das Anforderungsprofil von Aufsichtsräten von Banken nur noch vorgesehen, dass diese über „eine fachliche Eignung zum Verständnis der wirtschaftlichen und rechtlichen Abläufe im Tagesgeschehen eines Instituts oder einer Finanzholding verfügen“. Nach dem ursprünglichen Gesetzesentwurf sollten sie dagegen über die „erforderliche Sachkunde“ wie Geschäftsleiter einer Bank verfügen. Mit einer Entschärfung der Anforderungen ist die seinerzeitige Regierungskoalition den Sparkassen und Genossenschaftsbanken entgegengekommen, die sicherstellen wollten, dass Kommunalpolitiker oder Kleinunternehmer auch weiterhin in ihren Aufsichtsräten sitzen dürfen.60
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Lüderssen StV 2009, 486 ff. Zur verbindlichen Einrichtung eines Prüfungsausschusses bei börsennotierten Unternehmen vgl. Art. 41 Richtlinie 2006/43/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17. 5. 2006 über Abschlussprüfungen von Jahresabschlüssen und konsolidierten Abschlüssen, zur Änderung der Richtlinien 78/660/EWG und 83/349/EWG des Rates, ABl. EU Nr. L 157, S. 87 ff. (sog. Abschlussprüferrichtlinie). Vgl. FAZ v. 3. 7. 2009.
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2. Im Bereich der externen Kontrollmechanismen wird zwar gerne auf den Abschlussprüfer verwiesen. Hier ist jedoch (immer wieder) darauf hinzuweisen, dass dieser nur seine subjektive Feststellungswirklichkeit zum Inhalt des Prüfungsberichts macht. Eine Übereinstimmung des sodann mit einem Testat versehenen Prüfberichts mit der objektiven Wirklichkeit findet jedoch nicht statt. Die strafrechtliche Sanktionierung der Verletzung der Berichtspflicht des Abschlussprüfers (§ 332 HGB) schützt nicht die objektive Richtigkeit und Vollständigkeit der Prüfungsberichte oder Bestätigungsvermerke, sondern lediglich die subjektiv individuelle Diskrepanz zwischen den Prüferfeststellungen einerseits und dem Berichtsinhalt bzw. dem Bestätigungsvermerk andererseits. 61 Die dadurch in der Öffentlichkeit vorhandene Erwartungslücke ist auch durch die zahlreichen Bilanzskandale nicht verringert worden.62 Interessant und – soweit ersichtlich – ziemlich wirkungsvoll ist die Tätigkeit der im Jahr 2004 etablierten und seit dem 1. 7. 2005 tätigen deutschen Prüfstelle für Rechnungswesen e. V. (DPR) geworden. 63 Diese in § 342b HGB verankerte Institution fungiert als offiziöse Vorprüfungsstelle („Bilanzpolizei“).64 Sie prüft sowohl anlassbezogen als auch auf Verlangen der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) als auch im Wege von Stichproben (§ 342 b Abs. 2 Satz 3 Nr. 1–3 HGB). Stellt die DPR Fehler der Rechnungslegung fest,65 erkennt jedoch das betroffene Unternehmen den Fehler 61
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Vgl. BGH v. 15. 12. 1954 – II ZR 322/53, BGHZ 16, 17 = NJW 1955, 499; OLG Karlsruhe, ZIP 1985, 409, 411 = WM 1985, 940; Beck’scher Bilanzkommentar/Hojos/H. P. Huber § 332 Rn. 14; Volk/Knierim (10) § 25 Rn. 3256; Bongertz (Fn. 10) S. 247; Spatschek/Wulf DStR 2003, 173, 178; Dierlamm NStZ 2000, 130, 131; MünchKommStGB/ Sorgenfrei (Fn. 1) § 332 HGB Rn. 5. Vgl. bereits Steiner, Der Prüfungsbericht des Abschlussprüfers, 1991, S. 254 ff., 563; Marschdorf DStR 1995, 111; Dörner DB 1998, 1; Graf BB 2001, 562, 563; Spatscheck/ Wulf DStR 2003, 173, 178; Volk/Knierim (Fn. 10), § 25 Rn. 338 ff.; Mekat Der Grundsatz der Wesentlichkeit in Rechnungslegung und Abschlussprüfung, 2009, S. 134 ff.; MünchKommStGB/Sorgenfrei § 332 HGB Rn. 3. Art. 2 des Gesetzes zur Kontrolle von Unternehmensabschlüssen (BilKoG) v. 15. 12. 2004, BGBl. I, S. 3401; BT-Drucks. 15/3421 v. 24. 6. 2004; BR-Drucks. 325/04 v. 30. 4. 2004. Kumm/Müller IRZ 2009, 77; MünchKommHGB/Ebke/Paal § 342 Rn. 1 ff., § 342 b Rn. 1 ff.; MünchKommStGB/Sorgenfrei (Fn. 1) Vor §§ 331 ff. HGB Rn. 16. FAZ v. 23. 9. 2009: „Jede vierte Bilanz ist fehlerhaft“; Handelsblatt v. 23. 10. 2009: „Bilanzpolizei bemängelt Bilanzkosmentik“; FAZ v. 5. 12. 2009: „Bilanzpolizei prüft HSH“.
Geschäfte außerhalb der Bilanzen
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nicht an, wird auf der zweiten Stufe die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) eingeschaltet und ggfs. die Prüfung Veröffentlichung des Fehlers mit hoheitlichen Mitteln durchgesetzt (§ 37 q WpHG).66 Gleichwohl ist trotz zunehmender Personalstärke der BaFin eine geringere Anzahl von Fällen gravierender Beanstandungen bei Banken bzw. von Maßnahmen bei Geschäftsleitern zu konstatieren.67 Ferner darf man die Effizienz von nationalen/supranationalen Aufsichtsbehördenkaskaden bezweifeln, die als Folge der Finanzmarktkrise auf europäischer Ebene wohl errichtet werden sollen.
3. Ein Seitenblick auf das Modell einer im Mikro-Kosmos einer lokalen Börse bestehenden, auf Eigenverantwortung basierten und sehr effizient funktionierenden Experten-Regulierung (Sanktionsausschuss, § 22 BörsG; früher: Ehrenausschuss der Frankfurter Börse, § 9 BörsG a. F.)68 erscheint zunächst zwar vielversprechend. Im Bereich der Rechnungslegung dürfte eine solche Regulierungsebene aber vermutlich an der Internationalität und Interessenorientiertheit der Akteure einerseits sowie der nationalen Behauptung staatlicher Legislativ-Kompetenz andererseits scheitern.
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67
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Vgl. OLG Frankfurt/M. v. 14. 6. 2007 – WpÜg 1/07, BB 2007, 2060; v. 22. 1. 2009 – WpÜg 1, 3/08, DB 2009, 333; v. 24. 11. 2009 – WpÜg 11, 12/09, DB 2009, 2773; die bisherigen Fehlerveröfffentlichungen sind abrufbar unter www.ebundesanzeiger.de. Vgl. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion, BTDrucks. 16/13042, 16/13277. § 9 Abs. 1 S. 2 BörsG aF lautete wie folgt: Der Ehrenausschuss kann mit Ausnahme der Kursmakler und ihrer Stellvertreter alle zur Teilnahme am Börsenhandel zugelassenen Personen, die sich im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit an der Börse eine mit der Ehre oder dem Anspruch auf kaufmännisches Vertrauen nicht zu vereinbarende Handlung haben zu Schulden kommen lassen, mit Verweis, mit Ordnungsgeld bis zu zweitausend Deutsche Mark oder mit Ausschließung von der Börse bis zu 10 Sitzungstagen belegen. § 22 Abs. 2 S. 1 BörsG nF lautet nunmehr wie folgt: Der Sanktionsausschuss kann einen Handelsteilnehmer mit Verweis, mit Ordnungsgeld bis zu € 250.000 oder mit Ausschluss von der Börse bis zu 30 Handelstagen belegen, wenn der Handelsteilnehmer oder eine für ihn tätige Hilfsperson vorsätzlich oder fahrlässig gegen börsenrechtliche Vorschriften verstößt, die eine ordnungsgemäße Durchführung des Handels an der Börse oder der Börsengeschäftsabwicklung sicherstellen sollen.
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Ulrich Sorgenfrei
VIII.
Fazit
Die Komplexität des internationalen Wirtschafts- insbesondere Finanzlebens prallt auf kognitive Defizite derer, deren Interessen geschützt werden sollen. Nach einer Studie des deutschen Aktieninstituts stützt sich nur ein geringer Prozentsatz von Kapitalanlegern auf Jahresabschlüsse als Investitionsgrundlage.69 Ferner stehen extrem komplexe Rechtsmaterien des Kapitalmarkt- wie Rechnungslegungsrechts der beabsichtigten Informationstransparenz für den Kapitalmarkt entgegen. Die Frage, ob dabei bereits ein handelsrechtlicher, kapitalmarktrechtlicher, aufsichtsrechtlicher und nicht zuletzt strafrechtlicher Regelungsüberfluss zu konstatieren ist, ist wohl zu bejahen.70 Der beabsichtigte Anlegerschutz wirkt daher durch Informations„überfluss“ tendenziell eher kontraproduktiv. Zur Stärkung des Vertrauens in den (Aktien-) Kapitalmarkt hat ferner sicherlich nicht beigetragen, dass ein ehemals staatliches Unternehmen insbesondere für den Kleinanleger börsengängig gemacht wurde, hinterher jedoch vermeintliche Falschangaben zu einem jahrelangen, immer noch nicht abgeschlossenen Massenprozess geführt haben (Deutsche Telekom AG). Auch werden mehr als einhundert Seiten umfassende Anhänge zu einem (Konzern-) Jahresabschluss nur noch von Analysten gelesen! „Den“ Anleger gibt es ohnehin nicht. Dies zeigt bereits die Differenzierung einer anlegergerechten Beratung zwischen Privatkunden und institutionellen Kunden in § 31 a Abs. 2, 3 WpHG.71 Als Prognose verbleibt die Erkenntnis, dass Rechnungslegungs-Strafrecht weiter zum Experten-Strafrecht mutieren bzw. degenerieren wird, da die Protagonisten durch Verantwortungsdelegation (Verantwortungskaskaden) im Zweifel auch weiterhin nur in äußersten Ausnahmefällen strafrechtlich verantwortlich gemacht werden dürften. Im Übrigen bleibt es bei der Erkenntnis, dass der Jahresabschluss noch nie eine objektive Abbildung der Unternehmenswirklichkeit war und es auch nie sein wird: „Wahre Werte in der 69
70
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Deutsches Aktieninstitut (DAI), Verhalten und Präferenzen deutscher Aktionäre – eine Befragung privater und institutioneller Anleger zu Informationsverhalten, 2006, Heft 29. Vgl. etwa die bis zu siebenstufige Norm-Kaskade im Bereich der Marktmanipulation (§ 20 a WpHG) hierzu Park/Sorgenfrei Kapitalmarktstrafrecht, 2. Aufl. 2008, Teil 3 Kap. 4 T1 Rn. 20. IdF Gesetz der Umsetzung der Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente und der Durchführungsrichtlinie der Kommission v. 16. 7. 2007 (Finanzmarktrichtlinie-Umsetzungsgesetz, FRUG), BGBl. I 2007, 1330; Park/Sorgenfrei (Fn. 70) Teil 3 Kap. 4 T1 Rn. 42.
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Bilanzierung sind und bleiben ein Mythos“!72 Insofern wird es auch weiterhin eine Welt „außerhalb der Bilanzen“ geben.
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Peemöller/Hofmann Bilanzskandale 2005, S. 222.
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Ferdinand Gillmeister
Verbriefungen Verbriefungen Ferdinand Gillmeister
Ferdinand Gillmeister Gliederung Hypothekengedeckte Wertpapiere (MBS) Risikoausfallversicherungen / Credit Default Swaps Wie gelangen die Credit Swaps in den Markt? Ratingagenturen Risiken Gedanken zur Krisenbewältigung:: Die Hypothekenbanken kreditieren Immobilienkäufe ihrer Kunden gegen hypothekarische Sicherheiten. Um das Kreditvolumen zu steigern, verkaufen die Hypothekenbanken ihre Kreditforderungen z. B. an Geschäftsbanken und Investmentbanken. Die Investmentbanken bündeln die Kredite und verbriefen sie zu handelbaren, festverzinslichen Wertpapieren. Der Wert und damit der Preis der Papiere hängt wesentlich davon ab, in welchem Maße die gebündelten Kredite gesichert sind. Die Wert- und Sicherheitenbeurteilungen erfolgen durch Ratingagenturen.
Hypothekengedeckte Wertpapiere (MBS) Mit den hypothekengedeckten Wertpapieren (Mortgage Backed Securities – MBS) erwirbt der Eigentümer anteilige Zahlungsansprüche auf Zinsen und Tilgungen aus den Hypotheken. Sind die Darlehensrückzahlungsansprüche nicht durch Hypotheken unterlegt (z. B. bei Kreditkartengeschäften, LeasingVerträgen etc.), handelt es sich um ABS (Asset Backed Securities). Um die Subprime-Hypotheken, also die Immobiliar-Darlehensansprüche aufzuwerten und verkehrsfähig zu machen, wurden diese zunächst zu Paketen gebündelt und verbrieft. Jedes der Pakete wurde anschließend in „Unterpakete“ tranchiert (fraktioniert), in sog. RMBS (Residential Mortgage Backed Securities). Diese Tranchen sind in der Werthaltigkeit abgestuft. Die „SeniorTranche“ hat das Vorrecht, dass alle für das gesamte Paket eingehenden Zah-
Verbriefungen
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lungen an Zinsen und Tilgungen für die einzelnen Hypothekendarlehen zunächst auf diese Senior-Tranche verrechnet werden und deren Wertpapierinhabern zugute kommen. Erst danach werden die zweite Tranche aus demselben Paket, die dritte und schließlich weitere bedient (Kaskaden-Prinzip). Die Senior-Tranche, also die wertvollste aus dem jeweiligen Paket, wurde von den Ratingagenturen, Standard & Poor’s, Moody’s und anderen, zumeist mit der höchsten Bonität („AAA“) und damit als „absolut sicher“ bewertet, obwohl die einzelnen darin enthaltenen Hypotheken nur Subprime-Qualität, also „BB“ besaßen. Auch die zweite Tranche wurde regelmäßig noch mit „AA“ eingestuft. Die letzten Tranchen waren wegen der zu schwachen Sicherheiten zunächst wertlos und unverkäuflich. Um aber auch diese noch zu verkaufen wurden die schwach besicherten Tranchen in CDOs (Collateralized Debt Obligations) umgewandelt. Dies sind ebenso wie die RMBS’s tranchierte Portefeuilles, mit unterschiedlichen Risikoklassen. Die CDOs konnten zwar nicht mehr direkt mit Hypotheken unterlegt werden, aber mit Wertpapieren, die auch Subprime-Hypotheken enthielten. Bei diesen tranchierten „Schrottanleihen“ wurde nun wieder eine Senior-Tranche gebildet, auf die zunächst alle Mittelzuflüsse aus Zinsen und Tilgungen verrechnet wurden, bevor die nachrangigen Tranchen bedient werden konnten. Tatsächlich haben die Ratingagenturen nun auch diese Senior-Tranchen der CDOs mit der höchsten Bonitätsstufe „AAA“ ausgezeichnet, also den besten der schlechten Qualitäten beste Bonität bescheinigt. Auf diese wunderbare Weise wurden aus den minderwertigen SubprimeHypotheken Wertpapiere mit „AAA“ bzw. „AA“ Bewertungen kreiert, die große Akzeptanz genossen und am Markt sehr verkehrsfähig waren. Auf diesem Wege wurde eine enorme „Wertschöpfung“ realisiert: Infolge der Verbriefungen überstiegen die Verkaufswerte der neu geschaffenen Wertpapiere (Anleihen) die Werte der einzelnen, ihnen hinterlegten Hypotheken bei weitem. Der Verkauf der Hypothekenanleihen explodierte. Die Bewertung der Subprime-Hypotheken mit „AAA“ veranlasste z. B. die Pensionskassen, größere Positionen in ihre Portfolios zu nehmen. Die Pensionskassen stellten auch Hedgefonds das Stammkapital zur Verfügung, die unreguliert und deshalb frei in der Wahl ihrer Anlagekonzepte auch in RMBS und CDOs investierten. Viele Hedgefonds gewährten Sicherheiten für die von ihnen aufgenommenen Darlehen in Form von Anleihen, die auf Subprime-Hypotheken basierten. Über diesen Umweg gelangten die Subprime-Hypotheken wieder in die Bü-
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Ferdinand Gillmeister
cher der Banken, die die Hypotheken-Pakete zuvor selbst gepackt, verbrieft, tranchiert und verkauft hatten. Auf den ersten Blick erwecken die Mortgage Backed Securities (MBS) den Eindruck der Werthaltigkeit von Pfandbriefen. Tatsächlich bieten sie eine viel geringere Sicherheit. Während die Hypothekenpfandbriefe schuldrechtliche Ansprüche gegen die emittierende Bank verkörpern, die zusätzlich durch die Immobilien gesichert sind, erwirbt der Käufer der MBS-Papiere nur Ansprüche gegen den ursprünglichen, ihm unbekannten Darlehensnehmer und seine Immobilie, jedoch keine Ansprüche gegen die Bank. Wird die emittierende Bank insolvent, so kann sich der Käufer von Pfandbriefen immerhin noch aus der Immobilie befriedigen. Und für den Fall, dass die Immobilie an Wert verliert, haftet die Bank. Dagegen sind die MBS-Papiere nur in dem Maße werthaltig, wie der primäre Darlehensschuldner Zins und Tilgung leistet und seine Immobilie als Sicherheit werthaltig ist. Die Bank haftet insoweit nicht, auch nicht subsidiär.
Risikoausfallversicherungen / Credit Default Swaps Wenn ein Investmentfonds Anleihen in seinem Depot verwaltet und das Risiko für die Anleihen steigt, weil z. B. ein Großschuldner Zinsen und Tilgung nicht mehr aufbringt, so wird der Fonds versuchen, die Anleihen zu verkaufen. Dadurch entstehen Kosten, und der Wert der Anleihen wird voraussichtlich fallen. Der Fonds kann auch eine Versicherung abschließen, die den Wertverlust der Anleihen kompensiert. Hier wirkt sich die Versicherungsprämie belastend aus. Wird die versicherte Anleihe nicht mehr bedient, muss der Versicherer einstehen. Als Versicherer kommen nicht nur professionelle Versicherungsgesellschaften in Betracht, sondern auch private Anleger, Banken, Firmenfonds etc. Bei einem Splitting wird das Risiko auf mehrere Risikoträger verteilt. Dass sich Gläubigerbanken gegen Kreditausfälle versichern, ist üblich und sinnvoll. Swaps sind Tauschgeschäfte über Verbindlichkeiten. Banken können die versicherten Außenstände ganz oder teilweise aus den Büchern nehmen, weil die Forderungen gesichert sind. Die Kreditinstitute gewinnen damit freie Mittel für weitere Kreditvergaben. Das Volumen der Absicherungsverträge auf der Basis der sog. Credit Default Swaps (CDS) ist enorm und betrug im zweiten Halbjahr 2007 etwa 60 Billio-
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nen US Dollar. (Zum Vergleich: das Weltsozialprodukt des Jahres 2007 betrug etwa 55 Billionen US Dollar.) Die Credit Default Swaps haben sich jedoch von ihrer ursprünglichen Funktion, den Kreditgeber zu sichern, verselbständigt. Theoretisch sind alle künftigen Risiken versicherbar. Ein sinnvoller geschäftlicher Bezug zwischen Versicherungsnehmer und Versicherungsobjekt wird nicht vorausgesetzt. Versicherungen können auf beliebige Ereignisse abgeschlossen werden, von denen man im Falle der Realisierung selbst nicht betroffen sein muss. So ist es möglich, sich über ein CDS gegen den Konkurs einer beliebigen Firma zu versichern. Die Swaps dienen damit reinen Spekulations- oder Wettgeschäften. Die Bereitschaft, solche CDS zu erwerben, besteht deshalb, weil für die Versicherer insoweit keine Haftungsbeschränkungen existieren. Der Versicherer vereinnahmt die Versicherungsprämien. Kann der Versicherer im Schadenfall nicht leisten, fällt der Versicherte aus, eventuell zu Lasten der Gemeinschaft, ggf. des Steuerzahlers. Unter Umständen hat der Sicherungsnehmer sogar die Möglichkeit, den Versicherungsfall herbeizuführen, um von dem privaten Versicherungsgeber die Versicherungs- oder Garantiesumme zu kassieren. Ein Beispiel: Der Versicherungsnehmer „wettet“ auf die Insolvenz einer Firma mittels eines CDS und zahlt seine laufenden Prämien an den Sicherungsgeber. Geht die Firma in die Insolvenz, so muss der Sicherungsgeber die Garantiesumme an den Sicherungsnehmer zahlen. Vielleicht hatte es der Sicherungsnehmer auch in der Hand, durch aggressive Geschäftspraktiken, Kampfpreise etc. die Insolvenz eines Wettbewerbers herbeizuführen oder zu beschleunigen. Er profitiert dann von der Insolvenz seines Wettbewerbers und als Versicherungsnehmer.
Wie gelangen die Credit Swaps in den Markt? Der ingeniöse Manager aus der Kreditabteilung von JB Morgan, Bill Demchak, entwickelte eine Idee zu Verbriefungen von Kreditrisiken. Die Credit Swaps werden zu Wertpapieren gebündelt und in Zweckgesellschaften eingebracht. Dort werden sie gestückelt und die Tranchen an Großinvestoren verkauft. Das Produkt nennt sich „Bistro“ (Broad Index Secured Trust Offering). Die Investoren profitieren von den Prämienzahlungen und tragen dafür anteilig ein Ausfallrisiko, das z. B. die JB Morgan ursprünglich allein hielt. Die Bistro-Anteile werden nach Güteklassen zusammengestellt, geratet und mit Qualitätssiegeln verkauft – nicht anders als eine Wurst. Die Ähnlichkei-
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ten sind augenfällig: Die unterschiedlich werthaltigen Kredite werden wie Fleischstücke und Innereien zunächst durch den Fleischwolf gedreht, in einen Darm gefüllt, in Scheiben geschnitten und als Aufschnitt über die Theke verkauft. Weder der Kunde noch der Verkäufer weiß, was in der Wurst enthalten ist, und niemand möchte die Zutaten wirklich sehen. Der Käufer erwartet nicht, dass der Verkäufer die verwerteten Fleischreste bezeichnen kann und fragt deshalb auch nicht danach. Entscheidend ist, dass sich die Wurst gut verkauft.
Ratingagenturen Ohne die Ratingagenturen wären die Verbriefungen am Markt erfolglos. Ratingagenturen sind staatlich anerkannte privatwirtschaftlich geführte Firmen mit dem Ziel, Gewinne zu erwirtschaften. Sie beurteilen Bonitäten, Sicherheiten, Wertpapiere, Firmenwerte etc. im Auftrag der Banken. Die Ratingagenturen geben keine Garantien ab, sondern äußern nur „opinions“. Die Bewertungsskala reicht von “AAA” für beste Qualität über “AA” und “A” und “BBB” für mittlere Qualitäten zu “BB” und “B” für risikobehaftete Anlagen. “CCC”, “CC” sowie “C” bedeuten „bedenklich“; die Bewertung D steht für Default und prognostiziert einen Zahlungsausfall. Bei der Ratingagentur Fitch bedeutet das Qualitätsmerkmal “AAA”, dass das Verlustrisiko innerhalb des folgenden Jahres nicht höher als 0,061 Prozent liegt. Bei einem Ausfallsrisiko von ca. 37% läge die Bewertung bei “CC”. Die privaten Ratingagenturen sind in einem ständigen Interessenkonflikt, weil sie von den Emittenten der Schuldtitel für die Ratings bezahlt werden. Die Auftraggeber haben ein evidentes Interesse an einer guten Bewertung ihrer Produkte. Aber auch eine Bewertung durch Behörden wären nicht bedenkenfrei, weil die Staaten die größten Emittenten von Anleihen sind.1 Die Ratings haben weitreichende Folgen: Verkauft eine Bank Anleihen mit hoher Bonität, so kann sie bei gleichem nominalen Zinssatz dafür einen höheren Preis verlangen, als für Anleihen mit geringerer Bonität. Dies gilt ebenso für verbriefte Subprime-Kredite. Neben der oben dargestellten Wertschöpfung durch Verbriefungen sind die Beurteilungen der Ratingagenturen bedenklich und kaum nachvollziehbar. Eine objektive Bewertung erscheint 1
Vgl. zu den Interessenkonflikten der Ratingagenturen Ruhkamp Wer wird zahlen? Schwierige Resozialisierung der Ratingagenturen, FAZ v. 11. 9. 2009, S. 23.
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auch deshalb zweifelhaft, weil die Verkäufer-Banken an den für sie tätigen Ratingagenturen beteiligt sind und die Ratings bezahlen. Neben den bedenklichen Beurteilungen durch die Ratingagenturen ist ein Transparenzdefizit zu beklagen. Wegen der wiederholten Fraktionierungen der Subprime-Hypotheken und den damit verbundenen Ratings der wertmäßig gestuften Tranchen ist der Wert der RMBS bzw. CDOs kaum noch nachvollziehbar. Die persönliche Bonität des ursprünglichen Darlehensnehmers und der aktuelle Wert seiner kreditsichernden Immobilie spielen keine Rolle mehr. Die kreditgewährende Immobilienbank hat auch kein besonderes Interesse an einer sorgfältigen und kritischen Beurteilung ihres Schuldners und seiner Kreditsicherheiten, weil die gebündelten Kreditforderungen weiter verkauft werden und in den ABS-Paketen untergehen. Solange die Hypothekenkredite paketweise als RMBS oder CDOs verkauft werden, kann das System vorübergehend funktionieren. Die Schwäche der Konstruktion wird evident, wenn die Pakete aufgeschnürt und die einzelnen Hypothekenforderungen gegenüber den ursprünglichen Darlehennehmern durchgesetzt werden müssen. Unter diesen Umständen ist kaum nachvollziehbar, welche Immobilie für welchen Teil einer Anleihetranche haftet – und gegebenenfalls in welchem Umfange. DER SPIEGEL berichtet in seinem Artikel „Der Bankraub“ von einem Verfahren der Deutschen Bank, die in I. Instanz erfolglos versucht hatte, eine Zwangsvollstreckung zu betreiben. Der Richter hat die Klage der Deutschen Bank mit der Begründung abgewiesen: „Keine der Unterlagen konnte beweisen, dass die Klägerin wirklich die Eigentümerin der Rechte, Titel und Kredite ist.“2
Risiken Die CDO-Papiere waren attraktiv, weil die Verzinsung der mit “AAA” bewerteten Kreditpakete regelmäßig über den Renditen der vom amerikanischem Staat herausgereichten Anleihen mit vergleichbarer Laufzeit lag. Die Anleger meinte offenbar, die mit “AAA” bewerteten Papiere seien ausreichend sicher. Ein Ausfallrisiko sah man nur bei den niedriger bewerteten Tranchen. Das wesentliche Risiko der Papiere lag weniger in der Insolvenz einzelner Hausbesitzer, die aus individuellen Gründen nicht in der Lage waren, ihre Immobilienkredite zurückzuführen. Das Systemrisiko bestand in der Ge2
Balzki, Brinkbäumer u. a. Der Bankraub, DER SPIEGEL v. 17. 11. 2008, S. 44 ff.
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fahr, dass der gesamte amerikanische Immobilienmarkt kollabiert und einen Dominoeffekt auslöst – wie tatsächlich geschehen. Die einzelnen Kredittranchen wurden nicht aufgeschnürt, sondern wie „hot potatoes“ zum nächsten Investor weitergereicht. Niemand wusste, welches Risiko sich in „seinem“ Paket verbarg, und niemand wollte es wissen. Kein Käufer wollte die erworbenen Kreditforderungen durchsetzen. Die Gewinne wurden durch den karrusellartigen Weiterverkauf mit Provisionen und Boni erwirtschaftet. Das Kreditrisiko wurde durch die sog. Cash Back-Kredite gesteigert. In den USA wurden die Immobilien als Sicherheiten bewusst überwertet. Die Hauskäufer waren berechtigt, das zur Hausfinanzierung aufgenommene Darlehen auch für Konsumzwecke zu verwenden. Die Immobilien boten somit schon bei der Valutierung des Darlehens keine ausreichende Sicherheit. Und schließlich reduzierten sich die Immobiliarsicherheiten durch die außergewöhnlichen Honorare, Provisionen für Bonitätsprüfungen und Kreditvermittlungen, Beratungen etc., die mit jeder neuen Verbriefung und Fraktionierung anfielen und die dem Kreditvolumen zugeschlagen wurden, ohne dass die Sicherheiten entsprechend mit wuchsen. Die Käufer der CDOs erwarben faktisch nie einen realisierbaren Anspruch in Höhe der nominalen Forderung, sondern nur einen Anspruch in Höhe des viel geringeren tatsächlichen Immobilienwerts. Die deutschen Landesbanken haben mehr als 100 Milliarden Euro in den Kauf der MBS-Papiere investiert und davon ca. 97 Milliarden Euro in Zweckgesellschaften ausgelagert, um insoweit nicht zum Nachteil der Bank bilanzieren zu müssen. Die deutschen Privatbanken sollen etwa weitere 200 Milliarden Euro bis Ende des Jahres 2008 in die MBS-Papiere investiert haben.
Gedanken zur Krisenbewältigung: Dieser Vortrag kann und soll keine Lösungen für den Weg aus der Krise bieten. Diskussionswürdig erscheinen mir folgende Überlegungen:
1. Mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers wurde die mangelhafte Eigenkapitalausstattung der beteiligten Banken evident. Als eigenkapital-
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fähig sollten nur noch risikoadäquate und belastbare Werte anerkannt werden.3
2. Es ist bedenklich, dass die Banken ihre Kreditrisiken beim Derivatenhandel in sog. Zweckgesellschaften verlagern und auf diese Weise die für die Banken geltenden Eigenkapitalvorschriften umgehen konnten.
3. Es muss sichergestellt werden, dass die Ratings transparent und unabhängig durchgeführt werden. Die Ratingagenturen dürfen in Interessenkonflikten nicht beraten bzw. keine Ratings vornehmen. Die EU bereitet eine Rating-VO vor.
4. Die Rechnungslegungsvorschriften für Wertpapiere müssen international angeglichen werden. In den Vereinigten Staaten ist der US Financial Accounting Standards Board (FASB) für die Rechnungslegung zuständig. Der in London residierende International Accounting Standards Board (IASB) regelt die internationale Rechnungslegung nach den International Financial Reporting Standards (IFRS). Die Rechnungslegungsvorschriften müssen so harmonisiert werden, dass der Investor eine ausreichend sichere Tatsachengrundlage für seine Investitionsentscheidungen erfahren kann. Die angelsächsischen Systeme der Rechnungslegung bewerten grundsätzlich nach Marktpreisen („Fair Value“). Umstritten ist, ob auch einfache Kreditpositionen zu Marktpreisen oder nach fortgeführten Anschaffungskosten zu bewerten sind.4 Bedenklich erscheint ferner, dass die Rechnungslegungsvorschriften (IFRS) gegenwärtig große Bewertungsspielräume zulassen (z. B. Auflösung stiller Reserven er-
3
4
Siehe dazu die Forderungen des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich; vgl. Frühauf Zu wenig Kapital, FAZ v. 11. 9. 2009, S. 23. Vgl. zur Harmonisierung der internationalen Rechnungslegung der Banken Schulz Gemeinsame Bilanzregeln, FAZ v. 11. 9. 2009, S. 23.
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scheinen als Erträge, obwohl das operative Geschäft des Unternehmens defizitär sein kann).
5. Die Annahme, die Banken hätten ihre Kredite ohne Zustimmung des Kreditnehmers nicht bündeln und nicht verkaufen dürfen, ist unzutreffend. Die Abtretungen von Darlehensforderungen eines Kreditinstitutes sind wirksam. Ein Abtretungsausschluss setzt einen Vertrag voraus, in dem sich die Vertragsparteien zumindest stillschweigend über den Ausschluss der Abtretung geeinigt haben.5 Der Forderungsabtretung stehen weder das Bankgeheimnis noch das Bundesdatenschutzgesetz entgegen.6 Bei Immobiliar-Darlehensverträgen muss der Darlehensnehmer in der Vertragsurkunde darauf hingewiesen werden, dass der Darlehensgeber Forderungen aus dem Darlehensvertrag ohne Zustimmung des Darlehensnehmers abtreten und das Vertragsverhältnis auf einen Dritten übertragen darf, vgl. § 492 Abs. 1 a Satz 3 BGB.
6. In einer globalen Finanzkrise liegen der Ruf nach strafrechtlichen Regelungsmechanismen und die Frage nach deliktischen Verantwortungen nahe. Die Kernstraftatbestände scheinen nicht zu greifen. Wer sehenden Auges ein für ihn nicht überschaubares Risikogeschäft eingeht, ist nicht getäuscht und kann sich auch den Schutz durch den Betrugstatbestand nicht verlassen. Zu warnen ist vor einer Ausweitung der Betrugsstrafbarkeit in der Tatalternative „Unterhalten eines Irrtums“ durch Einbeziehung des „garantenpflichtigen Schweigens“ (z. B. auf Verkäuferseite). Auf diese Weise würde die Kausalitätsvoraussetzung zwischen Täuschung und Irrtum aufgegeben. Bedenklich erscheint auch die stark vom Opferschutz geprägte Auffassung, dass trotz gewichtiger Zweifel des Opfers an der Richtigkeit der Tatsachenbehauptungen des Täuschenden ein Irrtum i. S. v. § 263 StGB vorliegen soll, wenn das Opfer die behauptete Tatsache nur für möglich hält und deshalb die 5 6
BGHZ 171, 180, 183; BGH WM 2002, 1845 f. BGHZ 171, 180, 184 f., 187 f. Zur entsprechenden Regelung für Sparkassen vgl. BGH Urt. v. 27. 10. 2009 – XI ZR 225/08.
Verbriefungen
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Vermögensverfügung trifft.7 Der Verkäufer von Derivaten agiert damit in einem hohen Strafbarkeitsrisiko, wenn er sich dem Käufer gegenüber zu Wert und Risiko der Papiere äußert, selbst wenn er insoweit nur auf die Bewertungen („opinions“) der Ratingagenturen verweist. Bei der Untreue stellt sich u. a. die Frage, ob der Ankauf von Derivaten (z. B. CDOs) durch Banken, andere institutionelle Anleger und Unternehmen eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht darstellt, wenn weder der Veräußerer noch der Erwerber den „Zerschlagungswert“ der Kreditpakete kennt. Käufer und Verkäufer werden darauf verweisen, dass die gebündelten Wertpapiere in ihrem verschnürten Zustand sehr verkehrsfähig sind und weltweit hoch lukrativ gehandelt werden. Hier wäre es bedenklich aus der eingetretenen aber kaum vorhergesehenen Finanzkrise ex ante auf das konkrete Wertpapierrisiko zu schließen. Wollte man auf das Kreditrisiko der einzelnen Kreditengagements abstellen, so wäre eine Risikoprüfung insoweit de facto nicht möglich. Unter diesen Umständen besteht die Sorge, dass der Gesetzgeber wohlfeil und populistisch in seiner Verlegenheit auf das Strafrecht als dem vermeintlich wirksamsten Ordnungsmechanismus verweist. Wenn es ihm nicht gelingt, unerträgliche Marktrisiken und Marktmechanismen im Wirtschaftsverwaltungsrecht, im Kapitalmarktrecht, im Gesellschaftsrecht etc. zu regeln, dann hat das Strafrecht keine Unrechtsbasis für Sanktionen.
7
Vgl. BGH NStZ 2003, 313.
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Gerson Trüg
Finanzkrise, Wirtschaftsstrafrecht und Moral – am Beispiel der Leerverkäufe Finanzkrise, Wirtschaftsstrafrecht und Moral Gerson Trüg
Gerson Trüg „So richtig habe ich das auch jetzt nicht kapiert.“ Lehman-Kleinanleger, F. A. S. v. 8. 1. 2010, S. 10
Gliederung I. Einleitung 1. Das hermetische System „Finanzen“ 2. Der Staat als Problemlöser in der Krise und (Mit-)Verursacher der Krise 3. Zur Rolle des Strafrechts bei der Aufarbeitung der Finanzkrise 4. Moral und Spekulation 5. Zur Untersuchung der Leerverkäufe II. Erscheinungsformen von Leerverkäufen 1. Eindeckungsgeschäfte: Kauf oder Wertpapierleihe a. Eindeckung durch Kauf (coverbuy) b. Eindeckung durch Wertpapierleihe (security lending) 2. Naked short sales und gedeckte Leerverkäufe a. Naked short sale b. Gedeckter Leerverkauf III. Risiken für die beteiligten Akteure bzw. für den Finanzmarkt? 1. Risiken 2. Stabilisierende Wirkung für den Finanzmarkt IV. Sind Leerverkäufe strafbar? 1. Betrug, § 263 StGB 2. Verbot der Marktmanipulation, §§ 38, 39, 20 a Abs. 1 WpHG 3. Verleitung zu Börsenspekulationsgeschäften, §§ 49, 26 BörsG V. Zusammenfassung
I.
Einleitung
Das Nachdenken über die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral – und erst recht gilt dies für die Verschränkungen dieser Bereiche – kann
Finanzkrise, Wirtschaftsstrafrecht und Moral
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zum jetzigen Zeitpunkt nicht abschließend erfolgen, weil die Finanzkrise nicht überwunden ist, wie etwa aktuelle Meldungen der Europäischen Zentralbank (EZB) über weitere Abschreibungen im dreistelligen EUR-Milliardenbereich auf Verbriefungen und Kredite durch Kreditinstitute in den Mitgliedsstaaten zeigen.1 Manches ist jedoch gesichert.
1.
Das hermetische System „Finanzen“
Gesichert ist zunächst, dass die Finanzkrise (gemeint ist: der Zusammenbruch des selbständig agierenden weltweiten Finanzsystems) eine Krise der sog. Realwirtschaft ausgelöst hat. Dabei wird „Realwirtschaft“ entsprechend der in der Volkswirtschaftslehre mehrheitlich2 vertretenen Klassischen Dichotomie als Abgrenzung zum monetären Sektor, der Geldwirtschaft, verstanden, wobei unter Realwirtschaft der Teil der Gesamtwirtschaft zu verstehen ist, der nicht zum monetären Bereich zählt. Der Begriff Realwirtschaft wird also negativ definiert. Ob die Schöpfer dieses dichotomen Begriffspaares daran gedacht haben, welche Assoziationen ausgelöst werden, wenn von zwei gegensätzlichen Begriffen nur der eine als „real“ bezeichnet wird, ist nicht bekannt. Jedenfalls zeigt allein die zahlenmäßige Größenordnung der Finanzkrise und die Wucht der von dieser ausgehenden Erschütterung der Realwirtschaft, dass letztere in viel stärkerem Maße abhängig ist von erstgenannter als umgekehrt. Es würde einer Monographie bedürfen, um zu untersuchen, seit wann bzw. wodurch sich der Finanzmarkt – bestehend aus Kapital-, Derivate-, Geld- und Devisenmärkten – von der eigentlichen (Real-) Wirtschaft emanzipiert hat und ein in sich weitgehend geschlossenes System „Finanzen“ bilden konnte. Weiter hat die Finanzkrise auch gezeigt, dass die durch Börsenfachleute formelhaft aufgestellte Behauptung, die Aktienkurse würden wichtige realwirtschaftliche Entwicklungen sechs Monate im voraus abbilden, unzutreffend ist. Im Juli 2007 kletterte der Dax auf 8151 Punkte und markierte damit ein bis heute gültiges Rekordhoch. Kurze Zeit später begann die Finanzkrise. Im Januar 2008 stand der Dax wieder auf mehr als 8100 Punkten und implizierte damit, dass die Auswirkungen der Finanzkrise eher harmlos ausfallen würden. Auch 7200 Dax-Punkte im Mai 2008 ließen glauben, folgte man der 1
2
Verlustschätzung für Banken durch die EZB, freilich mit dem Hinweis, es handle sich um eine „verkraftbare Summe“, F. A. Z. v. 19. 12. 2009, S. 12. Abgelehnt freilich durch die keynesianische und auch durch die marxistische Wirtschaftstheorie.
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„Vorab-Abbildungsfunktion“ der Börsenkurse, dass die Finanzkrise zwar Probleme für einzelne Branchen mit sich bringen würde, die Weltwirtschaft insgesamt aber weiter wachsen werde. Eigentlich erst als die Unternehmen der Realwirtschaft im dritten Quartal 2008 ihre Gewinnerwartungen deutlich senkten, verursachte dies einen gravierenden Kursrutsch an den Börsen.3 Erst die Krisenindikatoren der Realwirtschaft also haben die eigentlichen Reaktionen auf „die“ Krise auf den Finanzmärkten ausgelöst. Es kann also keine Rede davon sein, dass die Aktienkurse hier etwas vorab abgebildet hätten. Auch dies verdeutlicht, wie hermetisch das System Finanzen operiert und funktioniert (oder eine „Parallelwelt“4 gebildet hat). Die Finanzmärkte sind längst kein Abbild mehr der Realwirtschaft, sondern bilden eine selbständige, dynamische Realität, die auf die Realwirtschaft zurückwirkt (Reflexivität5).6 Diese Funktionsweisen wurden unterstützt durch staatliche, d. h. aufsichtsrechtliche Deregulierung, welche ihrerseits auf den „Mythos des rationalen Marktes“7 baute und damit die Notwendigkeit eines Ordnungsrahmens vernachlässigte. Dabei setzten diejenigen Finanzplätze mit der geringsten Regulierung die Standards („regulatorische Arbitrage“). In welchem Maße Finanzprodukte entkoppelt sind von der Realwirtschaft zeigte sich exemplarisch anhand der Kaskaden von Credit Default Swaps (CDS). Bei CDS handelt es sich bekanntermaßen um handelbare Kreditabsicherungen, welche Banken gegenseitig gewähren, um sich gegen Verluste aus Darlehensgeschäften abzusichern. Die nützliche volkswirtschaftliche Funktion eines solchen Instruments liegt auf der Hand, weil das Risiko derjenigen Realinvestition, welche der Schuldner mit seinem Darlehen tätigt, auf mehrere Schultern verteilt und damit beherrschbar gemacht wird. Die CDS sind aber im Laufe der Zeit zweckentfremdet worden.8 Es können mittlerweile auch CDS abgeschlossen werden, auf Ereignisse, von denen der Betreffende in keiner Weise tangiert ist. Kaskaden von CDS haben ferner dazu geführt, dass ein Bezug zum Basiswert nicht mehr besteht. Im Übrigen erwirtschaften die einzelnen Glieder in einer CDS- (oder sonstigen Derivate-) Kette nur dann einen Gewinn, wenn das am Anfang stehende Darlehen ausfällt, wenn sich also die gegenteilige Situation 3 4 5 6
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Vgl. auch Mohr F. A. Z. v. 9. 9. 2009. S. 14. Zielcke Denn sie wissen nicht, was sie tun S. Z. v. 23./24. 1. 2010, S. 13. Diese Bezeichnung geht auf George Soros zurück. Eckert/Zschäpitz Vorwort: Meisterspekulant mit Mission, zu: Soros: Die Analyse der Finanzkrise. . . und was sie bedeutet – weltweit, 2009, S. 8. Vgl. umfassend Fox The Myth of the Rational Market, 2009. Im ersten Halbjahr 2008 umfassten die CDS 54,6 Billionen USD; das weltweite Bruttosozialprodukt für 2007 hingegen belief sich nach Daten der Weltbank auf ca. 55 Billionen USD, vgl. Möschel Die Finanzkrise – Wie soll es weitergehen? ZRP 2009, 129 (132).
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dessen einstellt, was der Darlehensgeber erhofft (Rückzahlung bei entsprechender Verzinsung). Bei dieser Art von Geld-gegen-Geld-Geschäften wird auch durch die beteiligten Akteure kein Mehrwert geschaffen. Ein realwirtschaftlicher Bezug ist nicht gegeben. 9 „Wettbwerb“ wird dabei eher als „Wett“-Bewerb verstanden. Dass die Mehrzahl der (Finanz-) Ökonomen noch immer die Effizienztheorie der Märkte propagiert, muss überraschen. Die fatale Rolle der Ratingagenturen kann hier nur am Rande gestreift werden. Klar ist jedoch, dass diese privatwirtschaftlichen Unternehmen einen entscheidenden Baustein im selbstreferentiellen Finanzsystem darstellen. Verbriefte Subprimekredite sind für die Kreditinstitute umso gewinnträchtiger, je besser die Bonitätseinstufung der Tranchen ausfällt. Wenn vor diesem Hintergrund die Ratingagenturen durch die Emittenten der Wertpapiere bezahlt werden, so liegt die Interessenkollision zwischen einer risikogemäßen Klassifizierung und dem Streben nach wirtschaftlichem Gewinn der Ratingagenturen auf der Hand.10 Systembezogen haben die Ratingagenturen dazu beigetragen, den einzelnen Finanzinstrumenten den Anschein der Seriosität und den Finanzmärkten den Anschein der Transparenz zu vermitteln. Weiter haben eine zunehmende Verflechtung und Konzentrationsprozesse auf den Finanzmärkten die Zahl systemrelevanter Finanzinstitute erhöht und dadurch die Risiken für die Gesamtwirtschaft ersichtlich vergrößert. Erschwerend wirkt der massive Verstoß gegen das „konstituierende Prinzip der Haftung“11, den die Finanzkrise und deren Folgen offenbart haben. Dass die handelnden Akteure selbst weitgehend ohne Gefahr eigener Haftungsinanspruchnahme agieren konnten, noch dazu für Institute tätig waren, die bei unzureichenden Kapital- und Liquiditätsanforderungen ebenfalls ein exorbitantes Risiko darstellten12 und weiter bekanntlich höchste Anlagerisiken eingingen,13 deckte ein Finanzsystem auf, 9
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Die auf den österreichisch-amerikanischen Ökonomen Joseph Schumpeter zurückgehende Aussage „Die Realwirtschaft ist der Herr, die Finanzwirtschaft der Hund“ jedenfalls gilt heute umgekehrt. Vgl. auch Hollnagel Der Markt hat immer Recht. Die Finanzkrise und die Lehren daraus, 2009, S. 104 f. Im Sinne von Walter Eucken. Die Zahl der „Baustellen“ ist groß, erörtert werden etwa Stärkung der Bankenaufsicht, Einlagengarantie, Anlegerschutz, Managervergütung, Selbstbehalt bei Verbriefungen, Eigenkapitalregeln, Rechnungslegung, Produktinformationsblatt für Finanzprodukte etc; zu dem Maßnahmen der Obama-Administration vgl. http:// www.financialstability.gov. Beispielhaft: Ca. 40% der Hypothekendarlehen in den USA im Jahre 2006 waren Subprime oder mit einem sonstigen hohen Risiko behaftet. Das größte Risiko stellten sog. „ninja“-Darlehen dar („ninja“=no income, no job, no assets).
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welches die Gewinne vereinnahmte und die Risiken und Verluste „sozialisierte“, d. h. systembezogen, auslagerte. Paul Kirchhof formuliert das so:14 „Aus dem Bankier des persönlichen Vertrauens werden Finanzinstitute, deren Transaktionen sich immer mehr von der wirtschaftlichen Realität der Produktion, der Arbeit, des Investierens und des Handels entfernen. Die Welt des Geldes und der Kredite steht fast unverbunden neben der Realwirtschaft und wird bald in einem allgemeinen Finanzmarkt unsichtbar. Keiner versteht mehr das Finanzgeschehen, nennt dieses – um die Künstlichkeit bewusst zu machen – eine Blase, die schließlich – das überrascht nun nicht mehr – platzt. Dieser Knall erschüttert die beteiligten Finanzinstitute – und das sind alle Institute dieser Welt.“ Kollektive Verantwortungslosigkeit also anstelle von individueller Verantwortung (damit ist freilich noch nicht gesagt, dass Boni-Zahlungen an Bankiers15 krisenursächlich gewesen sind.16) Jedenfalls kann es nicht überraschen, dass angesichts fehlender spürbarer Folgen für die handelnden Akteure diejenigen Finanzinstrumente, die zu den Auslösern der Krise gezählt werden, etwa Asset Backed Securities (ABS), also Kreditverbriefungen, aktuell wieder hohe Renditen zeitigen.17 Die genannten Ursachen und Wirkungen sind als Ergebnisse von unzureichend funktionierenden Märkten, d. h. von Marktversagen anzusehen. Deshalb ist der Hinweis auf eine besonders ausgeprägte Gier der auf den Finanzmärkten handelnden Akteure kaum geeignet, eine Erklärung für die Prozesse der Finanzkrise zu geben. Die Anreizstrukturen auf den Finanzmärkten, namentlich die Hebelwirkung der Finanzinstrumente, waren entschieden günstiger als auf den Feldern der Realwirtschaft. Vorwürfe gegen die handelnden Akteure bleiben gleichwohl. Selbstreflexion findet auf Seiten der Verantwortlichen offenkundig nicht statt.18 Das ist umso 14 15
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Kirchhof Das Maß der Gerechtigkeit, 2009, S. 17. Der Begriff des „Bankiers“ demjenigen des „Bankers“ gegenübergestellt; erstgenannter als derjenige, der sich der maßgebenden, gesellschaftlich-rechtlichen Werte bewusst ist, vgl. Heine Die Verletzung des Bankgeheimnisses: neue Strafbarkeitsrisiken der Bank bei grenzüberschreitenden Sachverhalten, in: Emmenegger (Hrsg.), CrossBorder Banking, 2009, S. 159,172, Bezug nehmend auf Bundespräsident Horst Köhler. Dagegen etwa Inderst/Pfeil Is Making Deferred (Bonus) Pay Mandatory a Good Idea for Banking?, Arbeitspapier Universität Frankfurt, 2009, abrufbar unter http:// www.faznet/-00lmer. Der größte ABS-Fonds, W&W Asset Backed Securities, weist für die letzten sechs Monate des Jahres 2009 eine Rendite von 159,3% aus. Vgl. umfassend die Analyse der Finanzkrisen aus acht Jahrhunderten, Reinhart/ Rogoff This Time is different, 2009; ferner auch Thurow Die Zukunft der Weltwirt-
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bedenklicher, nimmt man in den Blick, dass der einzelne Bürger zunehmend gehalten ist, selbst finanziell für die Zeit nach seiner Berufstätigkeit vorzusorgen und diese Vorsorge häufig am Kapitalmarkt wahrnimmt. Der Kapitalmarkt hat auch so gesehen an volkswirtschaftlicher Bedeutung in den vergangenen Jahren stark zugenommen.19 Mit welcher Kraft dieses System Finanzen freilich auf die Gesamtwirtschaft einwirkt hat der Herbst 2008, als „Kernschmelze“ der Finanzkrise bzw. als „Herzstillstand“ bezeichnet, gezeigt. Nach der aus der ex post-Sicht verheerende Fehleinschätzung des US-amerikanischen Finanzministeriums und der Notenbank Federal Reserve, die 158 Jahre alte New Yorker Investmentbank Lehman Brothers nicht zu stützen, sondern in die Insolvenz gehen zu lassen,20 entstand durch den sich anschließenden Zusammenbruch des Interbankenhandels ein Dominoeffekt, der hierzulande bekanntlich unter anderem in die „Verstaatlichung“ der Hypo Real Estate Holding AG und in die Gründung des mit einem Volumen von 480 Milliarden EUR ausgestatteten Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (SoFFin) bzw. um die internationale Dimension aufzuzeigen, in staatliche Rettungsprogramme von knapp 5000 Milliarden EUR21 (18,8% des durchschnittlichen BIP bzw. 8,3% der Bankaktiva) bezogen auf elf untersuchte Industrienationen mündete.22 Die Folgen für die Realwirtschaft lassen sich derzeit nur erahnen. Ein Indikator ist die Anzahl der Unternehmensinsolvenzen. Gegenüber 29 580 Insolvenzen von Unternehmen in 2008, stieg die Zahl um 16% auf 34 300 in 2009 (bei insolvenzbedingten Forderungsausfällen in Höhe von 49 Milliarden EUR); für 2010 erwartet der Verband der Vereine Creditreform e. V. einen wei-
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schaft, 2004, S. 163 ff.; Luttermann Juristische Analyse von Ökonomie, Staat und Gesellschaft, ZRP 2010, 1 ff. (4): „Emanzipiert sich Geist von kurzatmiger Geld- und Finanzpolitik? – Ökonomie, Staat und Gesellschaft sich zu wichtig, um sie ökonomischer Doktrin zu überlassen. Es geht weltweit um Machtkontrolle, Wohlstandsteilhabe und Schöpfungsbewahrung“; übergeordnet Jonas Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, 1979. Schröder Handbuch Kapitalmarktstrafrecht, 2007, Einl. S. 1. Wohl in Verkennung, dass der durch den englischen Bankexperten Walter Bagehot im 19. Jahrhundert aufgestellte Grundsatz, es sei Aufgabe der Notenbanken im Krisenfalle das gesamte Bankensystem zu stabilisieren, nicht aber einzelne Banken zu retten, angesichts der Systemrelevanz heutiger Kreditinstitute und vernetzter Finanzmärkte hinfällig ist. F. A. Z. v. 4. 9. 2009, S. 18. Vgl. Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) An assessment of financial sector rescue programme.
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teren Anstieg auf 38 000 bis 40 000 Unternehmensinsolvenzen.23 Nicht zu verkennen ist bei alledem freilich, dass Finanz- und Wirtschaftskrise nur teilweise auf gemeinsame Ursachen zurückgehen. Weitgehend unabhängig von der gegenwärtigen Finanzkrise etwa ist die Strukturkrise der Realwirtschaft, namentlich in der Automobilindustrie.24
2.
Der Staat als Problemlöser in der Krise und (Mit-)Verursacher der Krise
Ob Finanz- und Wirtschaftskrise zusammen genommen zu einer Krise des Staatswesens geführt haben oder führen werden, mag unterschiedlich beurteilt werden. Ein Vertrauensschwund in Bezug auf Demokratie und Soziale Marktwirtschaft, letztere verstanden als Wirtschafts- und Gesellschaftskonzept, 25 scheint jedenfalls nicht von der Hand zu weisen zu sein.26 Der Blick auf die Vereinigten Staaten lässt überdies die Frage aufkommen, welcher Zusammenhang zwischen einem schwach ausgebildeten Sozialstaat wie den USA und politisch gesetzten Anreizen wie der Unterstützung eines Subprime-Marktes mit vermehrter Kreditvergabe und dem damit verbundenen Prozess der Geldschöpfung bestehen.27 Die Antwort dürfte wohl lauten, dass ein fehlender Ordnungsrahmen ungeeignete staatliche Reaktionen auf ein zu starkes Auseinanderdriften der betroffenen Gesellschaft hervorruft. Nimmt man dabei Deutschland und die Aktivitäten der einzelnen Landesbanken in den Blick, die
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F. A. Z. v. 3. 12. 2009, S. 15; die Liste traditionsreicher nunmehr insolvenzreifer bzw. insolventer Unernehmen ist lang, Quelle, Karstadt, Woolworth, Schiesser, Escada, Wadan-Werften, Qimonda, Märklin, Schimmel. Möschel (Fn. 8) 129 (129): Produktionskapazität von 80 Mio. Pkws/Jahr, bei einem Absatz von 50 Mio. Pkws/Jahr. Im Sinne einer ausgewogenen Balance zwischen Markt und Staat; vgl. umfassend Kruip In der Legitimationskrise. Neue Aufgaben für die Soziale Marktwirtschaft, Herder Korrespondenz 2009, 498 ff.; auch R. Marx Die Soziallehre als Kompass, F. A. Z. v. 18. 12. 2009, S. 12. Weil mit R. Marx (Fn. 25) davon auszugehen ist, dass für die Soziale Marktwirtschaft wie für die Demokratie als Staatsform gilt, dass immer wieder neu unter Beweis gestellt werden muss, dass sie die Würde und Freiheit des Einzelnen und das Wohl aller unter heutigen Bedingungen besser und nachhaltiger verwirklichen können als alternative Systeme. Vgl. auch Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen. Stellungnahme einer von der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz berufenen Arbeitsgruppe zur Finanz- und Wirtschaftskrise, 2009, S. 18.
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wohl heute noch das größte systemische Risiko für den deutschen Finanzmarkt darstellen, ist es jedenfalls angemessen zu konstatieren, dass die öffentliche Hand zwar einerseits als Problemlöser in der Krise, andererseits aber auch als Problemverursacher der Krise anzusehen ist.28 Anhaltspunkte dafür, dass der Staat der bessere und umsichtigere Wirtschaftsakteur ist, liegen jedenfalls nicht vor,29 lässt man den Umstand beiseite, dass der Staat mit der unbegrenzten Möglichkeit, sich zu verschulden, ebenso unbegrenzte Geldmittel zur Verfügung stellen kann. Darüber hinaus ist mit Blick auf die Krise des Staatswesens darauf zu achten, dass hoheitliche Maßnahmen zur Eindämmung und Bewältigung der Krise nicht ihrerseits Schäden anrichten und Fehlanreize erzeugen. Die flächendeckende Liquiditätsversorgung von Kreditinstituten und das aktuelle Zinsniveau etwa sorgen für eine Überliquidität auf den Finanzmärkten, für einen Zustand also, der die Entstehung der Krise gerade begünstigt hat. Ferner könnte die weitgehende Übernahme von Verlustrisiken durch den Staat die Einschätzung bei den handelnden Akteuren vertiefen, bestimmte Finanzinstitute seien tatsächlich systemrelevant und daher vor einer Insolvenz faktisch geschützt („too big to fail“). Der ohnehin zu konstatierende Verstoß gegen das „konstitutive Prinzip der Haftung“ wird also durch solche staatlichen Rettungsmaßnahmen mittel- und langfristig noch verstärkt.30
3.
Zur Rolle des Strafrechts bei der Aufarbeitung der Finanzkrise
Schließlich ist abzuwarten, ob das Strafrecht auch hier als „Krisenverarbeitungsrecht“ eingesetzt werden wird und sich dadurch möglicherweise eine Krise des Strafrechts entwickelt. Der (obligatorische) Ruf nach neuen Straftatbeständen jedenfalls wurde anlässlich des Diskurses zur Finanzkrise laut, wenn auch mit der Forderung des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt von unerwarteter Seite.31 Angesichts der Notwendigkeit des Nachweises indi28
29 30 31
Bekanntlich ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart nunmehr gegen Verantwortliche der LBBW wegen des Verdachts der Untreue aufgrund „hochriskanter Finanzgeschäfte in dreistelliger Millionenhöhe seit Ende 2006, weil schon damals klar gewesen sei, dass der amerikanische Markt für Hypothekenanleihen unmittelbar vor dem Zusammenbruch stand“, vgl. Hank Razzia im Bankenviertel, F. A. S. v. 13. 12. 2009, S. 38. Kommission der Bischofskonferenz (Fn. 27) S. 19. Kommission der Bischofskonferenz (Fn. 27) S. 25. Jedenfalls könne neue Straftatbestände nicht mit „gravierenden Schäden bei systemtragenden Banken“ legitimiert werden, so aber offenbar der Spiegel-Redakteur
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vidueller Schuld im Strafrecht ist freilich vor dem Hintergrund der oben gezeigten Wirkmechanismen des Finanzsystems als hermetisches Subsystem nicht überraschend, dass bislang strafrechtliche „Erfolge“ aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden weitgehend ausgeblieben sind.32 Handelt es sich bei entsprechendem Fehlverhalten um systemimmanente Fehler, wäre zu überlegen, ob – jedenfalls mit Blick auf mögliche Untreuehandlungen von Bankmitarbeitern – das Riskieren und im Zweifel auch das Vernichten von Vermögen nicht branchenweit konsentiert wird.33 Insbesondere dann, wenn die jeweiligen Wertpapiere mit einem guten Rating versehen waren, wird sich aus deren Kauf, wohl kaum ein strafrechtlicher Vorwurf (Untreue, § 266 StGB) herleiten lassen. Umgekehrt liegt – soweit ersichtlich – kein Fall vor, dass Bankiers der Kauf von Wertpapieren mit schlechtem Rating vorgeworfen wird. Die Frage, inwieweit „Marktkräfte“ auf der einen bzw. Individuen auf der anderen Seite gewirkt haben, kann jedenfalls erst am Ende der Aufarbeitung der Finanzkrise stehen. Hinsichtlich der von einzelnen Strafverfahren ausgehenden Wirkung wird darüber hinaus zu beobachten sein, ob strafrechtliche Verfolgung von Handlungen im Zusammenhang mit der Finanzkrise deren strukturelle Aufarbeitung nicht gerade unmöglich macht, wenn sie Aufklärung und Aussagen der Betroffenen (wegen § 136 Abs. 1 S. 2 StPO) verhindert. Dann hätte, was als Aufklärung gedacht war, im Ergebnis eine gegenteilige Wirkung.34 Strukturell betrachtet wäre auch die Frage zu klären, auf welcher Ebene die (nicht-strafrechtliche) „Schuld“-Zuweisung ansetzen soll: auf der Ebene der Bankiers („exzessive Boni“), der Ökonomen („unzureichende Modelle“), der Zentralbankiers („falsche Zinspolitik“) oder der Politiker („falsche Anreize“).
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33
34
Hipp anlässlich der Podiumsdiskussion zur Bankenkrise auf dem 60. Deutschen Anwaltstag, AnwBl. 2009, 519. Das gilt hierzulande etwa auch für das IKB-Verfahren (IKB Deutsche Industriebank AG) und in den USA zuletzt für das Strafverfahren gegen zwei ehemalige HedgeFondsmanager von Bear Stearns, vgl. F. A. Z. v. 12. 11. 2009: Die Staatanwaltschaft hatte argumentiert, die beiden Fondsmanager hätte Anleger und Institutionen wie Pensionskassen oder Versicherer über die prekäre Lage ihrer im Jahre 2007 zusammengebrochenen Fonds getäuscht. Die Fonds hatten in mit zweitklassigen Hypotheken besicherte Wertpapiere investiert. Der Zusammenbruch dieser Hedge-Fonds von Bear Stearns gilt rückblickend als ursächlich für die Finanzkrise; vgl. zur Rolle des Strafrechts auch den Bericht über die Podiumsdiskussion zur Bankenkrise auf dem 60. Deutschen Anwaltstag, AnwBl. 2009, 519. Vgl. dazu Bernsmann zitiert nach F. A. S. v. 5. 7. 2009, S. 31: „Das Strafrecht ist ungeeignet, kollektive Vorgänge wie die Finanzkrise abzuurteilen.“ Dies sind die Bedenken von Rainer Hamm nach Hank Banker an die Laternen, F. A. S. v. 29. 11. 2009, S. 35.
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Gleichwohl dürfte die Sehnsucht, die Krise zu personalisieren, ihr also ein Gesicht zu geben, groß sein. Für den hier interessierenden Bereich des Kapitalmarktstrafrechts stellt sich jedenfalls die Frage, was Strafrecht – teleologisch – ist und was es regeln soll. Versteht man das Kapitalmarktstrafrecht als Summe der strafrechtlichen Normen, die unmittelbaren oder mittelbaren Bezug zum Kapitalmarkt bzw. kapitalmarkttypischen Geschäften haben,35 so erfasst dieser Begriff die typischen strafrechtlichen Implikationen des kapitalmarktbezogenen Wirtschaftslebens und dürfte damit in der Aufarbeitung der Finanzkrise eine herausgehobene Position einnehmen. Dass diese Aufarbeitung mittels Strafrecht stattfindet und weiterhin stattfinden wird, mag man zwar als „erwartungsgemäß“ bezeichnen, eine Selbstverständlichkeit ist es gleichwohl nicht. Der „Erwartungshorizont“ aber orientiert sich daran, dass der deutsche Gesetzgeber bei der Regulierung der Kapitalmärkte verstärkt auf das Strafrecht setzt. Durch Europäisches Recht ist der Einsatz von Strafrecht freilich nicht vorgegeben.36 Die Ausweitung des deutschen Kapitalmarktstrafrechts kann daher nicht unter Hinweis auf die Europäische Rechtsetzung begründet werden.37 Ein „Effektivitäts“-Vergleich mit außerstrafrechtlichen Regelungsalternativen hat freilich vor Implementierung neuer Strafnormen auch hier nicht stattgefunden.38
4.
Moral und Spekulation
Lenkt man nach alledem den Blick auf Fragen der Moral bzw. der Ethik der Finanzmärkte, und geht man zunächst davon aus, dass die ethischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft die Prinzipien Personalität, Solidarität und Subsidiarität sind,39 dann zeigt sich, dass das hermetische Finanzsystem die beiden erstgenannten Prinzipien ausklammert. Es ist wohl zutreffend zu sagen, dass sich die Soziale Marktwirtschaft nur bezieht und beziehen kann auf die Realwirtschaft, nicht aber auch auf den monetären Sektor. Die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft eignen sich zur Ordnung der Realwirtschaft, nicht aber der Finanzmärkte. Dort sind die „checks and balances“ in Form der Prüfung der Angemessenheit von Austauschverhältnissen (bezogen 35
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39
Schröder (Fn. 19) S. 1; Park/Sorgenfrei in: Park (Hrsg.) Kapitalmarktstrafrecht, 2. Aufl. 2008, Einl. Rn. 1; Park NStZ 2007, 369 (369). Schmitz ZStW 115 (2003), 501 (513 ff.); Park (Fn. 35), 369 (371). Park/Sorgenfrei (Fn. 35), Einl. Rn. 12: „Sonderweg“. Umfassend Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsstrafrechts I und II, 1998 und 2007. Vgl. auch Kommission der Bischofskonferenz (Fn. 27), S. 16.
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auf die Realwirtschaft etwa: Kauf, Werkvertrag, Dienstleistung etc.) ausgehebelt, weil der Vertragspartner der Finanzinstitute seinen Blick richtet auf die Rendite bzw. auf Aktienkurse, nicht auf das eigentliche vertragliche Austauschverhältnis. Die Logik der „Finanz-Binnenwelt“ zielt auf Kurs- und Währungsdifferenzen ab und muss dabei die Realitäten der Außenwelt nicht zur Kenntnis nehmen.40 Erst recht kann sich die Soziale Marktwirtschaft nicht behaupten, wenn deren tragende Pfeiler wie Transparenz, Verursacherprinzip und fairer Wettbewerb flächendeckend missachtet werden und diese Missachtung nicht thematisiert wird, weil (zunächst) alle Verantwortlichen von dieser Missachtung profitieren. Die Transparenz ist ausgeschaltet, wenn Verbriefungskaskaden von Wertpapieren, also „Verbriefungen von Verbriefungen“ (zunächst Mortgage Backed Securities – MBS), namentlich der Collateralized Debt Obligations (CDOs), eine Risikoabschätzung des eigentlichen, ursprünglichen Wertpapiers unmöglich machen. Das Verursacherprinzip ist ausgeschaltet, wenn lediglich kurzfristige Erfolge honoriert werden und die Haftung wie etwa bei den Immobilienkrediten in den USA auf die Immobilie beschränkt ist41 und Kreditinstitute gesetzlich veranlasst werden, auch Kunden mit schwacher Bonität Immobiliendarlehen auszureichen.42 Ein fairer Wettbewerb findet nicht statt, wenn Unternehmen too big to fail – oder eben verschleiernd: systemrelevant – sind, also nicht insolvent gehen (dürfen), sondern staatlich unterstützt und damit aufgefangen werden.43 Dies alles ermöglicht dann kollektive Verantwortungslosigkeit und damit das Gegenteil von Sozialer Marktwirtschaft bzw. von Moral. Der Handel mit Währungen, Aktien, Anleihen und anderen Wertpapieren findet im Wesentlichen außerhalb eines Ordnungsrahmens statt, also in ungeordneten Märkten.44 In diesen ungeordneten Märkten geht es nicht (mehr) darum, Kapital effizient zu allozieren, sondern um Spekulation. Dabei ist „Spekulation“, hier verstanden im Sinne von „Zocken“, abzugrenzen von unternehmerischem Risiko. Gerade die Finanzkrise hat gezeigt, dass zwischen unternehmerischem Risiko oder
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42
43 44
Vgl. auch Zielcke (Fn. 4), S. 13. Sog. non-recourse loans, also quasi regressfreie Darlehen, die in den Vereinigten Staaten bei Immobilienkrediten die Regel sind, mit der Folge, dass der Schuldner höchstens die Immobilien verlieren kann, eine Zwangsvollstreckung in sein sonstiges Vermögen oder Arbeitseinkommen aber ausscheidet, vgl. vertiefend Sinn KasinoKapitalismus, 2009, S. 109 ff. So geschehen durch den Community Reinvestment Act aus dem Jahre 1995, also während der Clinton-Administration. Siehe auch Hollnagel (Fn. 10), S. 157 ff. Diese Einschätzung ist keineswegs neu, vgl. bereits Soros Die Alchemie der Finanzen, 1987.
Finanzkrise, Wirtschaftsstrafrecht und Moral
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Wagnis auf der einen Seite und Spekulation am Finanzmarkt andererseits ein entscheidender Unterschied besteht. Das unternehmerische Risiko kann minimiert werden durch die Kenntnis des eigenen Produkts, der Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter, der Reaktion des Marktes sowie der Forschung und Entwicklung. Dann kann Risiko verantwortet werden. Vor allem hängt über einer unternehmerischen Entscheidung das Damoklesschwert der Haftung. Die Spekulationen an den Finanzmärkten hingegen, die im Zuge der Finanzkrise erörtert werden, setzten gerade hinsichtlich der Verbriefungen auf Unkenntnis und Intransparenz. Es liegt auf der Hand, dass eine so verstandene – und praktizierte – Spekulation dann marktschädlich ist, wenn sie sich auf treuhänderisch verwaltetes Kapital bezieht bzw. wenn Verluste sozialisiert, d. h. auf die Allgemeinheit abgewälzt werden.45 Wenn Spekulation immer auch mögliche Haftung gerade des Spekulanten in Bezug auf den vollen kausalen Schaden bedeutete, wäre diese Form des Eingehens von blindem Risikos inexistent. Jedenfalls ist die Antwort auf die Frage nach Moral oder ethischem Handeln in diesem Kontext schnell gefunden.
5.
Zur Untersuchung der Leerverkäufe
Auch an dieser Stelle kann die drängende Frage, wie nach der Finanzkrise weiter zu verfahren ist, nicht beantwortet werden. Vielmehr sollen die Leerverkäufe (short sales) von Wertpapieren untersucht werden, weil diesem Instrument im Zuge der Analyse der Finanzkrise von unterschiedlicher Seite eine krisenauslösende bzw. krisenverschärfende Rolle zugeschrieben wird.46 Es soll also bei allen vorstehend aufgezeigten systembezogenen Missständen einmal mehr der Blick dafür geschärft werden, wie sehr es Not tut, sine ira et studio zu prüfen, ob gerade die Leerverkäufe einen entscheidenden Beitrag zur Entstehung bzw. zum Ausmaß der Finanzkrise geleistet haben. Denn die Gefahr verfehlter Kriminalisierung besteht jedenfalls dann, wenn man dem Gedanken näher treten wollte, das Strafrecht sei für die Bewältigung der Finanzkrise ein geeignetes Mittel. Auf „die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral“ wird zurückzukommen sein.
45
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Umfassen zur Spekulation Stäheli Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie, 2007; P. Kirchhof Sind Spekulanten gut für die Wirtschaft? F. A. S. v. 13. 9. 2009, S. 53. Münchau Flächenbrand. Krise im Finanzsystem, 2008, S. 52.
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II.
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Erscheinungsformen von Leerverkäufen
Nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers schossen Credit Default Swaps (CDS) in die Höhe und das US-amerikanische Versicherungsunternehmen American International Group Inc. (AIG), welches Leerverkäufe von CDS47 in großangelegter Form getätigt hatte, stand unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit. Weiter wurden short sales für den Zusammenbruch von Lehman Brothers und weiteren Kreditinstituten mitverantwortlich gehalten.48 Die Börsenaufsichtsbehörden zahlreicher Staaten reagierten mit einem Verbot von Leerverkäufen, zumeist zeitlich und sachlich begrenzt.49 Ich möchte untersuchen, ob und ggf. welche Rolle Leerverkäufe für die Finanzmärkte spielen sowie welches ihre strafrechtlichen Implikationen sind. An anderer Stelle habe ich mich bereits zu der strafrechtlichen Relevanz von Leerverkäufen geäußert.50 Darauf wird hier teilweise Bezug genommen. Über Leerverkäufe wird bereits seit mehr als 400 Jahren berichtet. Erstmals wurden sie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden im Zusammenhang mit dem Tulpenhandel als strukturelle Erscheinung beschrieben 51 und in Bezug auf Titel der Niederländischen OstindienGesellschaft im Jahre 1609 verboten. Größere Bekanntheit erlangten short
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Dabei handelt es sich um Kreditderivate zum Handeln von Ausfallrisiken, namentlich von Krediten. Das Volumen der CDS ist enorm. Bis zum zweiten Halbjahr 2007 stieg das Gesamtvolumen auf 60 Billionen USD und überstieg damit das Weltsozialprodukt des Jahres 2007 (ca. 55 Billionen USD), Sinn (Fn. 41) S. 208. Soros Die Analyse der Finanzkrise . . . und was sie bedeutet – weltweit, 2009, S. 38; der ehemalige CEO von Lehman Brothers Fuld nannte in einer Anhörung vor dem USRepräsentantenhaus naked short sales als einen der Gründe für den rapiden Kursverfall von Lehman Brothers und Bear Stearns, United States House of Representatives, Statement of Richard S. Fuld Jr. [. . .], 6. 10. 2008, abrufbar unter www.house.gov, zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2009; Der frühere US-Präsident George W. Bush wird in Bezug auf Leerverkäufer mit den Worten zitiert „Sie werden gejagt und bestraft“, MM news v. 19. 9. 2008, abrufbar unter www.mmnews.de, zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2009; Sinn (Fn. 41), S. 171 f., 311 f. Möschel (Fn. 8), 131; kritisch Hank Der amerikanische Virus. Wie verhindern wir den nächsten Crash? 2009, S. 137; zu Maßnahmen einzelner Finanzaufsichtsbehörden BaFinJournal 09/2008, S. 7. Trüg Ist der Leerverkauf von Aktien strafbar? NJW 2009, 3202 ff.; ders. Zur strafrechtlichen Relevanz von Leerverkäufen, in: Hiebl/Kassebohm/Lilie (Hrsg.), Festschrift für Mehle, 2009, S. 637 ff. Suddath A Brief History of Short Selling, abrufbar unter www.time.com/time/ business/article/0,8599,1843255,00.html, zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2009.
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sales52 für eine breitere Öffentlichkeit am 16. 9. 1992 als Soros über seinen Hedge-Fonds Quantum Fund mittels Leerverkäufen des britischen Pfund Sterling ca. eine Milliarde USD Gewinn machte und die Bank of England dazu brachte, das Pfund Sterling aus dem europäischen Wechselkursmechanismus herauszunehmen. Abgesehen von dem hier sog. Fall Soros v. Bank of England nahm die Öffentlichkeit bis zur aktuellen Finanzkrise nur wenig Notiz von Leerverkäufen. Der Leerverkäufer (short seller, Baissier) von Wertpapieren, Waren, Devisen, Rohstoffen, Optionen oder Future-Kontrakten (im folgenden: Wertpapiere etc.) setzt darauf, bei fallenden Kursen einen Gewinn zu erzielen, indem er sich mit den durch ihn geschuldeten Wertpapieren erst später zu einem gesunkenen Tageskurs eindeckt. Der Leerverkauf erfolgt regelmäßig über ein Depot,53 im Falle durchschnittlich aktiver Privatanleger über ein gewöhnliches Wertpapierdepot bei einem der großen deutschen Online-Broker, im Falle professioneller Anleger, die mit Instrumenten wie CFDs, Futures oder Devisen handeln, sind eigene Konten bei speziellen Brokern erforderlich. Leerverkäufer können sowohl auf sog. Bärenmärkten von großen, fallenden Trends profitieren als auch während starker Aufwärtstrends auf sog. Bullenmärkten, wenn die Aktienkurse zwischenzeitlich überhitzen. Leerverkäufe sind keine vorübergehende Modeerscheinung, wie bereits die knappen Ausführungen zu ihrem Erscheinen im 17. Jahrhundert zeigen. Es spricht manches dafür, dass die Volatilität der Finanzmärkte künftig weiter zunehmen wird.54 Dann ist die klassische „buy and hold“-Strategie in Bezug auf Wertpapiere überholt. Leerverkäufer erzielen einen Gewinn, wenn es ihnen gelingt, sich am Markt mit Wertpapieren einzudecken, die sie zuvor (Leerverkauf, short sale) teurer verkauft hatten. Short sales können als sog. Kassageschäft, d. h. als Sofort- oder Spotgeschäft (und dabei als intraday oder als overnight Leerverkauf), oder als Termingeschäft durchgeführt werden. Eine allgemeine kapitalmarktrechtliche Regelung von Leerverkäufen besteht nicht. Äußerlich ist ein short sale nicht von Wertpapierverkäufen ohne Notwendigkeit späterer Eindeckung zu unterscheiden. Während andere Kapitalmarktteilnehmer bei kurzfristigen Kurseinbrüchen bzw. bei einer länger andauernden Baisse Verluste hinneh-
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54
Hingegen wird mit long sale ein gewöhnlicher Kauf bezeichnet. Privatinvestoren sind grundsätzlich „long“. Übersichtlich dargelegt etwa durch CortalConsors S. A., abrufbar unter www. cortalconsors.de. Weygand Shortselling. Profitabel traden in fallenden Märkten, 2010, S. 12 f.
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men müssen, profitieren Leerverkäufer hierdurch.55 Gerade auch in Schwächephasen der Aktienmärkte stellen Leerverkäufe eine Möglichkeit dar, Gewinn zu erwirtschaften. Short seller gehen von fallenden Märkten aus und versuchen, durch ihre Transaktionen dann einen Gewinn zu erzielen, wenn sich aus dem Kauf Verluste ergeben würden. Die Reihenfolge der Transaktionen gegenüber einem Aktienkauf, in der Hoffnung auf steigende Märkte, ist gerade umgekehrt. Dergestalt ging auch Soros über seinen Fonds Quantum Fund gegen die Bank of England vor. Quantum Fund tätigte in großem Maßstab Leerverkäufe des britischen Pfund Sterling. Die Zentralbanken gingen zunächst darauf ein und kauften Pfund. Um seine short sales zu erfüllen, musste Quantum Fund zunächst die Pfund wieder zurückkaufen. Dabei wurden kleinere Verluste in Kauf genommen. Soros bzw. sein Hedge-Fonds verfügten über große Kreditlinien. Daher spekulierte Quantum Fund so lange, bis die jeweiligen Zentralbanken nicht mehr bereit waren, weiterhin das britische Pfund Sterling durch Stützungskäufe zu sichern.56 Die Währung stürzte ab, die nunmehr erforderlichen Eindeckungskäufe durch Quantum Fund konnten auf der Grundlage des stark gefallenen Kurses erfolgen, die Differenz zwischen Verkaufs- und Kaufpreis (= Gewinn des Leerverkäufers) war also enorm. Der Gewinn ist bei einem Leerverkauf auf den Kurswert der verkauften Anteile begrenzt. Steigt der Kurs entgegen den Erwartungen des Leerverkäufers, so droht ihm – zumindest theoretisch, weil der Aktienkurs bis ins Unendliche steigen könnte57 – ein unbegrenzter Verlust.58 Es besteht also eine Asymmet55
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58
Die Frage, ob ein Privatanleger einen Leerverkauf tätigen kann, hängt von seinem Bankvertrag ab. Zumeist werden durch die Kreditinstitute sog. Sonderbedingungen für Wertpapiergeschäfte vereinbart, wonach short sales für private Anleger ausgeschlossen sind, vgl. auch Schröder (Fn. 19), 3. Kap. E. Rn. 499. In Deutschland bieten einzelne Broker Leerverkäufe an, auch gegenüber Privatpersonen, etwa Cortal Consors S. A., Interactive Brokers und sino AG; vgl. dazu das im Internet kursierende (Warn-) Hinweisschreiben der IngDiBa (nicht datiert) mit dem Fazit: „Leerverkäufe sind Wetten auf künftige Börsenentwicklungen, die Anlegern mit viel Erfahrung und dem nötigen Spielgeld vorbehalten bleiben sollten“; in den USA ist shortselling durch Privatanleger deutlich häufiger. Münchau (Fn. 46) S. 118 f. Zur Begrenzung von Verlusten bestehen für short seller unterschiedliche Möglichkeiten, insbesondere der Einsatz sog. Stop-Ordes (Stopp-Loss), vgl. Weygand (Fn. 54), S. 15; vgl. weiter die Absicherungsmöglichkeiten etwa unter http://www.tradewire.de/ tus/tus533.php3. Schäfer in: Assmann/Schütze (Hrsg.) Handbuch des Kapitalanlagerechts, 3. Aufl. 2007, § 19 Finanztermingeschäfte, Rn. 26; Kienle in: Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.), Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 105 Wertpapierleihe und Wertpapierpensionsgeschäft Rn. 54.
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rie zwischen Long- und Short-Positionen. Bei einer Long-Position (etwa nach einem Kauf) ist die Kursentwicklung nach oben potentiell unbegrenzt, das Kursrisiko nach unten ist jedoch begrenzt. Bei einer Short-Position verhält es sich umgekehrt. Daher liegt folgende Asymmetrie zu Tage: Verluste bei einer Kaufposition verringern das verbleibende Verlustrisiko. Verluste bei einer Short-Position erhöhen das verbleibende Verlustrisiko.59 Um die möglichen Verluste zu minimieren bzw. um die Gewinne zu maximieren ist die wohl gängigste Strategie im Zusammenhang mit Leerverkäufen die sog. long-short-Strategie. Diese besteht bspw. im Kauf von Aktien („long“ in Aktien) unter Ausnutzung der Hebelwirkung und dem Leerverkauf von Firmenanleihen („short“ in bonds).60 Bei einer long-short-Strategie werden diejenigen Wertpapiere, die eine größere Rendite versprechen, gekauft und diejenigen mit der geringeren Rendite leer verkauft.61 Nutzen Leerverkäufer hingegen den CDS-Markt, so kehrt sich die beschriebene Asymmetrie um. Short sales von Anleihen sind durch den Kauf eines CDS mit einem begrenzten Risiko verbunden und bieten eine unbegrenzte Gewinnmöglichkeit, wohingegen der Verkauf von CDS begrenzte Gewinnmöglichkeiten bei unbegrenzten Verlustrisiken darstellt.62 Soros schlussfolgert daher, „dass Lehman Brothers, die American International Group (AIG) und andere Finanzinstitute durch sog. Bear Raids [Koordiniertes Vorgehen interessierter Investoren, um den Kurs eines Wertpapiers zu senken und so den Wert von Short-Positionen zu steigern, Anm. d. Verf.] vernichtet wurden, bei denen sich Leerverkäufe von Aktien und Käufe von CDS gegenseitig verstärkten.“63 Mit einem bear raid oder – neutraler – mit der Ankündigung eines größeren Marktangebots kann also der Markt durch ein Verhalten, das sich an der Annahme über die Marktentwicklung orientiert, beeinflusst werden.64 Auch mit den unterschiedlichen Tranchen der CDOs lässt sich die oben beschriebene long-short-Strategie gewinnbringend anwenden. Der Kauf von CDOs der Equitiy-Tranche65 (höchste Rendite) wird durch den Verkauf von 59 60 61 62 63 64 65
Soros (Fn. 48) S. 36 f. Vgl. auch Weygand (Fn. 54) S. 19 ff. Münchau (Fn. 46) S. 118 ff. Soros (Fn. 48) S. 37. Soros (Fn. 48) S. 39. Hank (Fn. 49) S. 128. Equity-Tranchen unterliegen regelmäßig keiner Bewertung durch die Ratingagenturen und stellen die riskanteste Tranche einer CDO dar. Die mittlere Tranche wird als Mezzanine-Tranche bezeichnet (mit mittlerer Rendite), die oberste Tranche als Senior-Tranche.
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CDOs der Mezzanine-Tranche abgesichert. Dieser Vorgehensweise liegt die Annahme zugrunde, dass im Falle auftretender Probleme für die CDOBranche alle Tranchen betroffen sind (Korrelation der Tranchen).66 Die Verluste mit den Wertpapieren auf der Equity-Tranche werden dann durch die Leerverkäufe auf der Mezzanine-Tranche (teilweise oder auch vollständig) aufgefangen, weil insoweit gerade auf fallende Kurse gesetzt wird.67 Fallen also Kredite aus, dann trägt die Equity-Tranche das größte Risiko. Der longshort-Investor verliert zunächst (weil er long in Equities ist). Da er zugleich short in Mezzanines ist, gleicht er den Verlust wieder aus. Wenn bei diesem Engagement die Rendite mittels der Hebelwirkung durch den Einsatz von Fremdkapital vergrößert wird, sind insgesamt durchaus Renditen von 20% und mehr möglich. Daneben bestehen zahlreiche weitere shortselling-Strategien. In einem grundsätzlichen Aufwärtstrend einer Aktie können sich kurzfristige Überhitzungen zeigen. Solche Überhitzungen können dann über sog. Countertrend-Widerstandslinien geshortet werden, mit Hilfe derer zyklische Zwischenhochs abzusehen sind. Aus berufenem Munde wird ferner das Erkennen sog. Stopkerzen (candlesticks) und die damit verbundene Möglichkeit, „Hochs“ leer zu verkaufen, als gängige Strategie des shortselling bezeichnet.68 Mit dieser Technik werden Trendwenden am Kapitalmarkt erkannt (auf der grafischen Basis von Kerzencharts).69 Ferner werden Leerverkäufe bei sog. Trendalternationen durchgeführt, wenn also ein nach einem vom vorhergehenden Kursgeschehen abgrenzbarer steiler Anstieg vorliegt und sich anschließend eine Konsolidierung des Kurses ausbildet. Immerhin werden in den Vereinigten Staaten die Anzahl leer verkaufter Wertpapiere regelmäßig veröffentlicht (etwa durch die Nasdaq, NYSE, Yahoo Finance), sodass insoweit Transparenz besteht. Für an deutschen Börsen ge-
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Diese auf den ersten Blick überraschende Annahme beruht wohl auf dem durch Ratingagenturen verwandten mathematischen Modell mark-to-model (im Gegensatz zu mark-to-market), wonach die Preisdifferenz zwischen einzelnen Tranchen fest steht, bis die Ratingagenturen eine neue Bewertung vornehmen. Die Grundsätze der Marktwirtschaft spielen dabei eigentlich keine Rolle, vgl. auch Münchau (Fn. 46) S. 137. Münchau (Fn. 46) S. 120. Weygand (Fn. 54) S. 37 ff. Im Börsenjargon werden unterschieden: „Shooting Star“: bearishes reversal am Ende eines Aufwärtstrends; „Doji“: plötzliche Pattsituation zwischen Bullen und Bären und „Hanging Man“: bullishes reversal am Endeeines Aufwärtstrends als letzter Kraftakt der Bullen.
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handelte Aktien existieren solche Veröffentlichungen nicht, es gibt aber seitens einzelner Broker Listen mit leer zu verkaufenden Wertpapieren. Nach gängiger Definition auch im hiesigen juristischen Schrifttum liegt ein Leerverkauf vor, wenn der Verkäufer Wertpapiere etc. im Kassa- oder im Termingeschäft verkauft, welche er nicht hat bzw. nicht besitzt,70 in der Absicht, sie später billiger erwerben zu können (hier sog. sachenrechtlicher Ansatz). Dieser sachenrechtliche Ansatz zeigt jedoch die eigentliche Relevanz von Leerverkäufen nicht auf. Ein short sale bemisst sich nicht entscheidend anhand der Frage der Eigentümerstellung bzw. des Besitzes des (leer) verkauften Wertes zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses. Richtigerweise liegt dann ein Leerverkauf vor, wenn unter Berücksichtigung der möglichen bisherigen Position in der Aktie aus dem Leerverkauf eine offene wertvariable Verbindlichkeit in der Aktie verbleibt (hier sog. schuldrechtlicher Ansatz).71 Diese wertvariable Verbindlichkeit stellt die short-Position dar. Aus der short-Position folgt die Partizipation des Leerverkäufers an den Wertveränderungen des Wertpapiers.72 Entscheidend ist also die schuldrechtliche Frage, ob der Verkäufer eines Wertpapiers für dieses mit seinem Verkäufer bereits einen festen Kaufpreis vereinbart hat (dann kein Leerverkauf) oder ob er sich nach getätigtem Verkauf erst noch am Markt mit einem Verkäufer auf einen Kaufpreis einigen muss (dann liegt ein Leerverkauf vor). Dieser für den Verkäufer selbst noch offene Kaufpreis, ist die für den Leerverkauf konstitutive wertvariable Verbindlichkeit. Die in § 433 Abs. 1 S. 1 BGB statuierte Pflicht des Verkäufers, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum daran zu verschaffen, ist unabhängig von der zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestehenden subjektiven Erfüllbarkeit.73 Bei einem Kaufvertrag über ein Wertpapier geht der Käufer eine wertkonstante Verbindlichkeit ein (Geld in Höhe des vereinbarten Kaufpreises) und erhält dafür eine wertveränderliche bzw. wertvariable Forderung (Wertpapier). Für den Verkäufer entsteht eine variable Position in Gestalt einer wertveränderlichen Verbindlichkeit im Wertpapier und eine wertkonstante Forderung.74 Der Verkäufer muss erst zum jeweiligen Erfül70
71
72 73
74
Vgl. etwa Ekkenga in: Schmidt/Hadding (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Handelsgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl. 2009, Effektengeschäft Rn. 66; Kienle (Fn. 58), § 105 Wertpapierleihe und Wertpapierpensionsgeschäft Rn. 54; Häuser/Welter in: Assmann/Schütze (Fn. 58), § 16 Rn. 159. Zutreffend Laurer Der Leerverkauf von Aktien: Abgrenzung, Formen und aufsichtsrechtliche Implikationen, Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, 2008, 980 (982). Laurer (Fn. 71) 980 (982). Die in praxi seltenen Fälle der objektiven Unmöglichkeit bleiben hier unberücksichtigt. Laurer (Fn. 71) 980 (982).
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lungszeitpunkt zur Übereignung des Wertpapiers in der Lage sein. In der Zeit zwischen Kaufvertrag und Erfüllung deckt sich der Leerverkäufer am Markt ein:
1.
Eindeckungsgeschäfte: Kauf oder Wertpapierleihe
a.
Eindeckung durch Kauf (coverbuy)
Der Verkäufer kann – als Alternative – nach Eingehung seiner wertveränderlichen Verbindlichkeit (short sale) einen Wertpapierkauf tätigen, um sich mit den durch ihn geschuldeten Wertpapieren einzudecken. Nach erfolgter Eindeckung ist der Leerverkäufer in der Lage, seine wertvariable Verbindlichkeit (short-Position) aus dem short sale zu erfüllen.75
b.
Eindeckung durch Wertpapierleihe (security lending)
Alternativ kann sich der Leerverkäufer mit einer Wertpapierleihe eindecken, d. h. mit einem Sachdarlehn (§§ 607 ff. BGB). Hierbei erfüllt er seinen short sale mittels der darlehensweise an ihn übereigneten Wertpapiere. Die Wertpapierleihe wird in der Praxis zumeist durch das wertpapierdepotführende Institut ausgeübt, die bei einem geeigneten Anbieter am Markt die betreffende Stückzahl der durch ihren Kunden leer verkauften Wertpapiere darlehensweise auf Rechnung des Kunden erlangt.76 Erst zum Zeitpunkt der Fälligkeit des Darlehensrückgabeanspruchs muss sich der Leerverkäufer am Markt mittels ei-
75 76
Vgl. auch Laurer (Fn. 71) 982. Der Darlehnsgeber wird etwa sog. „Leih“gebühren vereinbaren. Im einzelnen ist üblich, dass der Darlehnsnehmer an den Geber – ggf. neben einem Darlehnszins – Ausgleichszahlungen leistet für ausgekehrte Wertpapiererträge – je nach Wertpapiergattung – Dividenden-, Zins- und Tilgungszahlungen, ferner auch Bezugsrechtserlöse, „Gratisaktien“ bei Kapitalerhöhungen aus Gesellschaftsmitteln („Stockdividende“), Boni sowie Zahlungen aus sonstigen Nebenrechten, vgl. www. deifin.de/thema013b.html, zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2009. Das Institut CortalConsors S. A. berechnet für eine Wertpapierleihe pro Gattung und Position bei Eröffnung der Position 0,35% auf das Volumen der Wertpapierleihe, mindestens € 40,–, höchstens € 120,–, abrufbar unter www.cortalconsors.de. Ferner reduzieren sich durch eine Wertpapierleihe die Auslagen und Gebühren der Depotverwaltung, Versicherungen, Kupondienst etc., denn die darlehnsweise übereigneten Papiere sind auch buchhalterisch nicht mehr dem Darlehnsgeber zuzurechnen, verursachen künftig mithin auch keine weiteren Kosten.
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nes Wertpapierkaufs eindecken (short covering).77 Mit einer Wertpapierleihe verlängert der short seller den kassageschäftlichen Leerverkauf wirtschaftlich betrachtet zu einem Zeitgeschäft.78 Gegenüber der Eindeckungsalternative durch Kauf ist hier ein längeres Kreditengagement möglich, soweit der Leerverkäufer eine entsprechende vertragliche Vereinbarung mit Wertpapierdarlehnsgeber getroffen hat (auch wenn die Wertpapierleihe in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nur auf kurze Dauer erfolgt). Wertpapierleihsysteme werden von den Zentralverwahrern (DKV, Cedel, Euroclear, Clearstream Banking AG) im Rahmen des Effektengiros angeboten, aber auch von einzelnen Großbanken (etwa Poolsystem der Deutschen Bank AG).79 Short sale und Unterlegung mittels Wertpapierleihe werden innerhalb kürzester Zeit abgewickelt („reflexartige Arbeitsabläufe“80).81 Dies macht aus Anlegersicht gerade den Reiz der Leerverkäufe aus, weil so die Hebelwirkung über Fremdkapital ausgenutzt werden kann.82
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81
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Vgl. auch Schröder (Fn. 19) 3. Kap. E. Rn. 500. Vgl. Ekkenga in: Schmidt/Hadding (Fn. 70) Effektengeschäft Rn. 66. Hopt, in: Baumbach/Hopt, HGB 33. Aufl. 2008, V. Bankgeschäfte Rn. T/3. Bernau Milliardengewinne in Millisekunden, F. A. S. v. 9. 8. 2009, S. 41: „Manchmal entscheidet ein Meter Kabel über ein paar Milliarden“; Pitzke „US-Börsenaufsicht greift gegen Phantomhandel durch“, abrufbar unter www.spiegel.de/wirtschaft/ 0,1518,druck-566966,00.html, zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2009. Der short seller wendet sich an seine Hausbank (Kommissionshandelshaus, Broker etc.), mit dem Auftrag, für ihn die betreffenden Aktien an der Börse zu verkaufen und die Wertpapierleihe durchzuführen („Zum Öffnen verkaufe ich“, „open sell“, „short sale“). Das jeweilige Handelshaus wird beide Rechtsgeschäfte (Verkauf und Wertpapierdarlehn) im weiteren für seinen Kunden, den Leerverkäufer, ausführen. Finanzinstitute, die ihren Kunden die Möglichkeit der Wertpapierleihe anbieten (etwa DWS Investment GmbH, DeKaBank, Cominvest, Fidelity Investments, Citybank etc.), führen Leerverkaufslisten (short lists), welche die Namen sämtlicher Wertpapiere umfassen, die sich zum jeweiligen Zeitpunkt in einem sog. Pool (etwa bei einer Wertpapiersammelbank) befinden und die damit für eine Wertpapierleihe (und anschließenden Leerverkauf) zur Verfügung stehen. In solche Pools werden Wertpapiere eingebracht durch „verleih“willige Kunden desselben Handelshauses aber auch von diesem verbundenen Investmentgesellschaften, Banken, Versicherungen, Brokerhäuser oder Maklerfirmen, die bei angegliederten Depositenanstalten (central securities depository) über disponible Depotbestände verfügen. Ist die betreffende Aktie auf den Leerverkaufslisten aufgeführt, so werden Wertpapierleihe und short sale unmittelbar ausgeführt. Vgl. auch Laurer (Fn. 71), 984.
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2.
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Naked short sales und gedeckte Leerverkäufe
Es war zu sehen, dass die sachenrechtliche Position des Verkäufers eines Wertpapiers nicht konstitutiv für das Vorliegen eines short sale ist. Gleichwohl ist die Eigentümerstellung für die Unterscheidung der Erscheinungsformen von short sales signifikant:
a.
Naked short sale
Der Verkauf von Wertpapieren ohne dass der Verkäufer Eigentum an denselben hat, wird als naked short sale bezeichnet (naked short selling bzw. ungedeckter Leerverkauf). Der Leerverkäufer muss hierbei die an deutschen Wertpapierbörsen entsprechend den dortigen Geschäftsbedingungen zur Regulierung sowohl der Geldseite als auch der Stückelieferung (im Falle von Kassageschäften) geltende Frist von regelmäßig maximal zwei Werktagen nach dem Abschlusstag83 (T+2) dazu nutzen, sich die geschuldeten Wertpapiere zu beschaffen. Diesen Zeitraum überschreitende short sales können nur in Verbindung mit einer Wertpapierleihe getätigt werden. Bei einem naked short sale wird der Gegenwert der leerverkauften Aktie regelmäßig mit einem negativen Betrag in dem Depotbestand des Leerverkäufers verzeichnet. Ebenso regelmäßig muss der Leerverkäufer an den jeweiligen Broker, welcher den short sale durchführt, eine Sicherheitsleistung, die sog. Margin, leisten. Die Sicherheitsleistung beläuft sich zumeist nur auf einen Teilbetrag des Leerverkaufs, sodass sich eine Hebelwirkung ausnutzen lässt, weil deutlich mehr Kapital bewegt werden kann, als eingesetzt wurde.
b.
Gedeckter Leerverkauf
Hat der Verkäufer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses Eigentum an den Wertpapieren aus einem Wertpapierdarlehn erlangt84 (covered short sale bzw. gedeckter Leerverkauf) und übereignet diese Stücke zur Erfüllung des short sale, ist ein Verkauf „auf Kredit“ gegeben. Der Leerverkäufer muss die offene Verbindlichkeit aus dem Darlehnsvertrag durch einen eigenen Kauf tilgen. Ein solcher Verkauf „auf Kredit“ kann auch als naked short sale erfolgen, wenn 83
84
Park in: Park (Fn. 35), §§ 26, 49 BörsG Rn. 15; König in: Ebenroth/Boujong/Joost (Hrsg.) HGB, Bd. 2001, VIII. Finanzderivate und Terminhandel, BankR VIII Rn. 183. Vgl. BaFin „Häufige Fragen zu den Allgemeinverfügungen“, dort Nr. 2, http:// www.bafin.de/cln_109/nn_722552/SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Service/ Auslegungsentscheidungen/Wertpapieraufsicht/ae_080922_faq_leerv.html?_ nnn=true, zuletzt aufgerufen am 25. 1. 2010.
Finanzkrise, Wirtschaftsstrafrecht und Moral
3 11
die Eindeckung qua Wertpapierdarlehn erst nach Abschluss des short sale erfolgt.
III.
Risiken für die beteiligten Akteure bzw. für den Finanzmarkt?
1.
Risiken
Bei einem naked short sale und einem gedecktem short sale bestehen für die beteiligten Vertragsparteien strukturell dieselben Gefahren bzw. Risiken, teilweise freilich für unterschiedliche Akteure: – Bei einem naked short sale trägt der Leerverkäufer das Risiko eines steigenden Kurses und der Käufer das Risiko, dass es dem Leerverkäufer nicht gelingt, sich am Markt mit den geschuldeten Wertpapieren einzudecken. – Auch bei einem gedeckten short sale trägt der Leerverkäufer das Risiko des steigenden Kurses. Hingegen trägt der Wertpapierdarlehnsgeber das Risiko, dass sich der Leerverkäufer nicht am Markt eindecken kann. Im Zuge der aktuellen Finanzkrise wurde geltend gemacht, dass insbesondere naked short sales mit Blick auf das Finanzsystem gravierende Preisbewegungen85 entfachten und die Stabilität des Finanzsystems insgesamt gefährdet haben. Hinsichtlich der gedeckten Leerverkäufe wird diese Gefahr nicht gesehen. Vielmehr könnten diese zu mehr Rationalität an den Finanzmärkten beitragen.86 Jedenfalls hat die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) als Reaktion auf die hohe Volatilität an den Finanzmärkten – koordiniert durch den Ausschuss der europäischen Wertpapierregulierungsbehörden (CESR) – mit Allgemeinverfügung v. 19. 9. 200887 auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 S. 2, 3 WpHG naked short sales88 über Aktien von insgesamt elf Dax- bzw. 85
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Vgl. Ziouvas Das neue Recht gegen Kurs- und Marktpreismanipulation im 4. Finanzmarktförderungsgesetz, ZGR 2003, 113 133. Vgl. Nachweise bei Pitzke (Fn. 80), abrufbar unter www.spiegel.de/wirtschaft/ 0,1518,druck-566966,00.html, zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2009. Allgemeinverfügung der BaFin v. 19. 9. 2008, abrufbar unter http://www.bafin.de/ cln_109/nn_722758/SharedDocs/Aufsichtsrecht/DE/Verfuegungen/vf__080919__le erverk.html, zuletzt aufgerufen am 25. 1. 2010. Aus der Allgemeinverfügung v. 19. 9. 2008 geht nicht hervor, dass sich die Untersagung lediglich auf ungedeckte short sales bezieht; die BaFin hat dies jedoch im Nachgang klargestellt, vgl. etwa „Häufige Fragen zu den Allgemeinverfügungen“, dort
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M-Dax-notierten Kredit- und Finanzinstituten, Börsenbetreibern und Versicherungsunternehmen 89 verboten, die aufgrund ihrer gesamtwirtschaftlichen Bedeutung, ihres Systemrisikos, ihres Börsenwerts oder ihrer Streubesitzquote als besonders systemrelevant erscheinen.90 In concreto befürchtet die BaFin, dass naked short sales mit Aktien der betroffenen Institute Liquiditätsengpässe hervorrufen oder verstärken können, wem die Kapitalaufnahme dieser Institute erschwert würde.91 Überdies sollen Marktmanipulationen verhindert werden, etwa indem unter Verwendung von Medien Gerüchte92 verbreitet oder belastende Hinweise gegeben werden, nachdem zuvor short sales getätigt wurden und die bestehende Interessenlage nicht offengelegt wird. Naked short sales bergen für den Finanzmarkt offensichtlich ein größeres Risikopotential als gedeckte Leerverkäufe. Es können marktbezogen mehr Aktien verkauft werden als emittiert wurden bzw. als am Markt erhältlich sind.93 Dadurch kann ein sog. short squeeze (Leerverkaufsblase) entstehen.94 In Folge eines short squeeze wurde im Oktober 2008 die Volkswagen-Stammaktie – nach der Ankündigung der Porsche Holding SE vom 26. 10. 2008, weitere Volkswagen-Aktien erwerben zu wollen – zum 28. 10. 2008 (von ca. 240 auf 1005 € je Stammaktie) nach oben katapultiert.95 Zu diesem Zeitpunkt waren an der
89
90 91 92
93
94 95
Nr. 1 et passim, abrufbar unter http://www.bafin.de/cln_109/nn_722552/ SharedDocs/Veroeffentlichungen/DE/Service/Auslegungsentscheidungen/ Wertpapieraufsicht/ae_080922_faq_leerv.html?_nnn=true, zuletzt aufgerufen am 25. 1. 2010, sowie BaFinJournal 09/2008, S. 7, und Jahresbericht der BaFin 2008, S. 148. Erfasst sind Aktien der Aareal Bank AG, Allianz SE, AMB Generali Holding AG, Commerzbank AG, Deutsche Bank AG, Deutsche Börse AG, Deutsche Postbank AG, Hannover Rückversicherung AG, Hypo Real Estate Holding AG, MLP AG und Münchener RückversicherungsGesellschaft AG. BaFinJournal 09/2008, S. 7. Derzeitige Verlängerung der Untersagung bis 31. 1. 2010. So führte letztendlich das Gerücht, das Traditionshaus Bear Stearns Cos. habe Liquidationsprobleme, zu dessen wirtschaftlichen Untergang. Die SEC vermutet, dass dieses Gerücht durch professionelle Leerverkäufer gestreut wurde, vgl. Pitzke (Fn. 80), abrufbar unter www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,druck-566966,00.html, zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2009. Vgl. auch Nestler in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.) Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, S. 80 ff. (91, Fn. 36). Dazu auch Soros (Fn. 48) S. 27. Womit die Volkswagen AG kurzfristig zum wertvollsten Unternehmen der Welt wurde.
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Börse weniger als 5% VW-Aktien im free-float, mit der Folge, dass sich um die erhältlichen Aktien ein Wettrennen zahlreicher Leerverkäufer entfachte (und aus deren Sicht entfachen musste), die sich bei steigenden Kursen einzudecken hatten. Weiter tritt naked short selling dann gehäuft auf, wenn die Unterlegung mittels einer Wertpapierleihe – aufgrund von Engpässen – auf Schwierigkeiten stößt, wenn also die intendierte Absicherung (security lending) des Leerverkaufs nicht realisiert werden kann oder wenn die Kosten für eine Wertpapierleihe eines bestimmten Wertpapiers besonders hoch sind.96 Eine unter Manipulationsverdacht stehende Vorgehensweise, welche die Gefahren für den Finanzmarkt demonstriert, wird seitens der SEC in Bezug auf den Umgang mit hypothekenbesicherten Wertpapieren, den CDOs, Presseberichten zufolge derzeit namentlich in den Vereinigten Staaten verfolgt:97 Betroffen seien demnach u. a. die Institute Goldman Sachs, Deutsche Bank, Morgan Stanley sowie Tricadia Inc. Der Vorwurf geht dahin, die Institute hätten einerseits ihren Kunden selbst konstruierte CDOs verkauft und andererseits mittels Leerverkäufen auf fallende Preise sowie auf Ausfälle dieser CDOs in großem Maßstab spekuliert. Dabei richten sie die Ermittlungen wohl auch darauf, die Institute hätten bei der Zusammensetzung der aus mehreren Tranchen bestehenden CDOs besonders risikoreiche Hypotheken ausgewählt, die im Falle eines Zusammenbruchs zu besonders hohen Verlusten der eigenen Kunden führen. Dementsprechend hätten einige der etwa von Goldman Sachs (namentlich das Wertpapier Abacus) und Tricadia kreierten Wertpapiere nur wenige Monate nach ihrer Emission einen erheblichen Wertverlust hinnehmen müssen. Sollten die Vorwürfe zutreffen, hätten die betroffenen Institute mit dieser Vorgehensweise einen zweifachen Gewinn gemacht: zum einen mittels des Verkaufs der hypothekenbesicherten Wertpapiere, zum anderen durch die Spekulation auf die fallenden Kurse gerade dieser Papiere. Mittlerweile wurden aus Kreisen des Management von Goldman Sachs insoweit Interessenkonflikte eingeräumt.98 Es wird auch zu klären sein, ob den Leerverkäufen der CDOs Insiderinformationen zugrunde lagen, mithin eine Strafbarkeit wegen Insiderhandels in Betracht kommt. Systembezogen wird der Vorwurf ge-
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Vgl. SEC Naked Short Selling Antifraud Rule 17 CFR Part 240, Federal Register Vol. 73, No 202, 2008, S. 61667. Morgenson/Story Banks Bundled Bad Debt, Bet Against It and Won, The New York Times v. 23. 12. 2009, abrufbar unter http://www.nytimes.com/2009/12/24/ business/24trading.html?_r=1, zuletzt aufgerufen am 25. 1. 2010. Sorkin Goldman Acknowledges Conflicts with Clients, The New York Times v. 12. 1. 2010, abrufbar unter http://dealbook.blogs.nytimes.com/2010/01/12/goldmanexecutive-discloses-conflicts-. . ., zuletzt aufgerufen am 25. 1. 2010.
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äußert, die geschilderte Vorgehensweise habe zur Ausweitung der Finanzkrise beigetragen, weil die Institute durch die Gewinne mittels Leerverkäufen zur Kreation neuer CDOs animiert worden seien.99 Weiter wird Unternehmen vorgeworfen, in systematischer Weise Leerverkäufe der Aktien von Konkurrenzunternehmen ohne tatsächliche Verkaufsabsicht auszuführen, um deren Aktienkurs zu senken, indem der Markt (scheinbar) mit Aktien geflutet wird, was bis zur Insolvenz des betroffenen Unternehmens führen kann (abusive naked short selling).100 Dass diesen Vorgehensweise praktiziert wird, ist unbestritten, kontrovers beurteilt wird lediglich das Ausmaß.101 Die von dieser Praxis für den Finanzmarkt ausgehenden Gefahren sind offensichtlich. Investoren werden sich zurückhaltend geben, wenn am Markt eine Vielzahl von Wertpapieren dieses Unternehmens zum Verkauf anstehen102 und umgekehrt kann durch massive Leerverkäufe erreicht werden, dass auch Dritte ihre Wertpapiere veräußern in der Annahme, hinter den nicht also solchen erkannten (Leer-) Verkäufen stehe die Einschätzung, das Wertpapier sei überbewertet.103 Das Vertrauen in das betroffene Unternehmen schwindet. Die SEC sieht zudem ein systemisches Risiko für den Kapitalmarkt insgesamt.104 Mit Implementierung der „Naked“ Short Selling Antifraud Rule vom 14. 10. 2008 (§ 240.10 b-21) sowie der „Rule 204“ (§ 242.204) vom 27. 7. 2009 hat die SEC auf abusive naked short selling reagiert. Die Leerverkäufer müssen nun vor dem Verkauf leihbare Aktien ausfindig machen und die Transaktionen innerhalb von vier Tagen abwickeln, damit Missbrauch und zu hoher Verkaufsdruck vermieden werden. Abusive naked short selling unterscheidet sich von dem einfachen naked short sales in dem subjektiven Merkmal der fehlenden Erfüllungswilligkeit: „Although 99 100
101
102 103
104
Morgenson/Story (Fn. 97). SEC v. 17. 9. 2008 zur Erläuterung der verhängten Maßnahmen gegen naked short selling: [. . .] Naked short selling can allow manipulators to force prices down far lower than would be possible in legitimate short-selling conditions“, vgl. www.s ec.gov/news/press/2008/2008-204.htm, zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2009; vgl. auch Vogel in: Assmann/Schneider, Wertpapierhandelsgesetz, 5. Aufl. 2009, § 20 a Rn. 221; Schwark in: Schwark (Hrsg.), Kapitalmarktrechts-Kommentar, 3. Aufl. 2004, § 88 BörsG Rn. 8. Vgl. auch Emshwiller/Scannell, Blame the Stock Vault?, The Wall Street Journal v. 5. 7. 2007, S. C1; Gordon, New SEC Rules target „naked“ Short-Selling, The Washington Post v. 18. 9. 2008, S. D05 jew. m. w. N. SEC (Fn. 96), S. 61670. Altenhain Die Neuregelung der Markpreismanipulation durch das Vierte Finanzmarktförderungsgesetz, BB 2002, 1874 1877. SEC (Fn. 96), S. 61669.
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abusive „naked“ short selling is not defined in the federal securities laws, it refers generally to selling short without having stock available for delivery [objektives Merkmal = einfacher naked short sale] and intentionally failing to deliver stock within the standard threeday settlement cycle [subjektives Merkmal = abusive naked short sale].“105 Ersten Berichten zufolge wurde naked short selling insgesamt, d. h. über die Figur des abusive naked short selling hinaus, durch die Maßnahmen der SEC merklich reduziert.106 Um den mutmaßlichen Gefahren des short selling entgegenzuwirken galt in den Vereinigten Staaten lange Zeit die sog. uptick-rule, wonach short sales nur bei steigenden, nicht jedoch bei fallenden Kursen gestattet waren.107 Die uptick rule [formal korrekt: Rule 10 a-1] wurde im Jahre 1938 durch die SEC eingeführt, interessanterweise in Folge einer Erhebung der Wirkungen konzertierten short selling in 1937. Die heute als bear raid bezeichnete Vorgehensweise war demnach bereits in den 1930er Jahren eine gängige Praxis: „To correct inequities that occured on stock exchanges prior to 1934, the SEC implemented Rule 10 a-1 and 10 a-2. It was not unusal in those days to discover groups of speculators pooling their capital and selling short for the sole purpose of driving down the stock price of a particular security to a level where the stockholders would panic and unload their fully owned shares. This, in turn, caused even greater declines in value.“108 Rule 10 a-1, die uptick-rule, wurde durch Rule 201 Regulation SHO im Jahre 2007 aufgehoben, nachdem empirische Untersuchungen zur Effektivität der uptick rule durchgeführt worden waren. Dabei argumentierte die SEC, die uptick-rule habe negative Auswirkungen auf die Liquidität von Börsen und sei ferner nicht notwendig, um Manipulationen zu verhindern: „The general consensus from these analyses and the roundtable was that the Commission should remove price test restrictions because they modestly reduce liquidity and do not appear necessary to prevent manipulation. In addition, the empirical evidence did
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106 107
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17 CFR § 240.1b-5: Naked Short Selling Antifraud Rule sowie 17 CFR § 242.204: Rule 204. Vgl. Norris Goodbye to Naked Shorting, The New York Times v. 1. 5. 2009, S. B1. Die SEC definierte: „Rule 10 a-1(a) (1) provided that, subject to certain exceptions, a listed security may be sold short (A) at a price above the price at which the immediately proceeding sale was effected (plus tick), or (B) at the last sale price if it is higher than the last different price (zero-plus tick). Short sales were not permitted on minus ticks or zero-minus ticks, subject to narrow exceptions“, Amendments to Exchange Act Rule 10a-1 and Rules 201 and 200(g) of Regulations SHO. Byrne Financial panic and short selling, NJVoices; http://blog.nj.com, zuletzt aufgerufen am 25. 1. 2010.
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not provide strong support for extending a price test to either small or thinly-traded securities not currently subject to a price test.“109 Seit ihrer Aufhebung und insbesondere seit 2008 wurde und wird die Wiedereinführung der uptick rule zwar kontrovers diskutiert,110 ein abschließendes Meinungsbild liegt derzeit jedoch noch nicht vor. Auch wenn an dieser Stelle die Effektivität bzw. die konkrete Notwendigkeit der uptick-rule nicht verbindlich eingeschätzt werden können, ist doch jedenfalls gesichert, dass bear raids und abusive naked short selling durch eine solche Regelung ersichtlich erschwert würden.
2.
Stabilisierende Wirkung für den Finanzmarkt
Trotz der aufgezeigten systemischen Risiken wird Leerverkäufen insgesamt, naked short sales eingeschlossen, auch eine stabilisierende Wirkung für den Finanzmarkt zugeschrieben. So können short sales Arbitragegeschäfte in der Zeit sein, weil sie Angebot und Nachfrage zusammenführen (etwa in Form des sog. convertible bond arbitrage, wo Anleger versuchen, aus Ungereimtheiten zwischen dem Marktpreis der Wandelanleihe und jenem der unterliegenden Aktien einen Gewinn zu erzielen. Sind die Aktien im Vergleich mit der Wandelanleihe zu teuer, kauft der Anleger die Wandelanleihen und verkauft die Aktien leer111). Die short seller teilen dem Markt überdies mittelbar ihre Erwartungen mit. Leerverkäufe können als Instrument zur Kurssicherung eingesetzt werden und dazu beitragen, einen preiseffizienten Kapitalmarkt zu bilden. Ferner können Leeverkäufe die Liquidität einer Börse erhöhen, sodass die Transaktionspreise sich dem realen Marktpreis annähern, weil davon auszugehen ist, dass der Transaktionspreis umso eher dem realen Marktpreis entspricht, je höher die Liquidität einer Börse ist.112 Weiter können short sales 109 110
111
112
http://www.sec.gov/news/press/2007/2007-114.htm. Auch im Präsidentschaftswahlkampf wurde die Wiedereinführung der uptick-rule thematisiert und durch Senator McCain gefordert, Meckler The Wall Street Journal v. 18. 9. 2008, abrufbar unter http://online.wsj.com/article/SB122175692668652881. html, zuletzt aufgerufen am 25. 1. 2010. Stupp/Bahar Leerverkäufe als Sündenböcke der Finanzkrise, NZZ v. 10. 10. 2008, www.nzz.ch/finanzen/webtv/leerverkaeufe_als_suendenbock_der_finanzkrise_1: „Es ist unter Ökonomen kaum bestritten, dass die Baisse-Spekulation zu einem funktionierenden Markt gehört“, zuletzt aufgerufen am 25. 1. 2010. Vgl. dazu Möschel (Fn. 8) 129 (131); Press Release: SEC Takes Steps to Curtail Abusive Naked Short Sales and Increase Market Transparency, abrufbar unter www.sec.gov/news/press/2009/2009-172.htm, zuletzt aufgerufen am 31. 12. 2009;
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korrigierend auf überbewertete Unternehmen wirken. Professionelle short seller entscheiden über Leerverkäufe anhand der Unternehmenskennzahlen, namentlich in Verbindung mit dem Marktwert und den erwarteten Gewinnen. Geht man davon aus, dass überbewertete Unternehmen schädlich für eine Volkswirtschaft sein können, so dient der fallende Kurs eines solchen Unternehmens dessen realem Bild.113 Aus diesen Gründen wurde sogar bereits (oder noch) im Jahre 2001 gefordert, shortselling müsse sich zum „Volkssport“ entwickeln.114 Bei einem Verbot von Leerverkäufen besteht an den Börsen überdies eine starke Asymmetrie: jeder Investor kann Aktien kaufen (und somit darauf setzen, dass der Kurt steigt), aber nur ein kleiner Kreis, die Aktieninhaber, kann Verkäufe tätigen. Jedenfalls ist gesichert, dass Leerverkäufe eigentlich nur das Gegenstück zur allgemein akzeptierten Long-Strategie sind, bei der Wertpapiere gekauft werden in der Erwartung, man könne sie zu einem späteren Zeitpunkt zu einem höheren Preis verkaufen.
IV.
Sind Leerverkäufe strafbar?
Das vorstehend aufgezeigt Gefahrenpotential (sub III. 1.), welches von Leerverkäufen ausgehen kann, erfordert eine Beantwortung der Frage, ob bzw. unter welchen Umständen Leerverkäufe strafbar sein können. In den Blick zu nehmen sind die Straftatbestände Betrug, Verbot der Marktpreismanipulation und Verleiten zu Börsenspekulationsgeschäften.115
1.
Betrug, § 263 StGB
Short sales stellen typischerweise kein Betrugsproblem dar. § 263 StGB scheidet hinsichtlich eines gedeckten Leerverkaufs wie auch eines naked short sale regelmäßig aus. Es fehlt bereits an einer Täuschung. Allgemein wird „jede be-
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115
eher skeptisch Soros (Fn. 48), S. 39 f.: „So wie die Dinge liegen, sind die Uptick-Regel und die Maßnahme, Leerverkäufe nur dann zu erlauben, wenn sie durch geborgte Aktien gedeckt sind, nützliche und pragmatische Vorkehrungen, die ohne eindeutige theoretische Rechtfertigung gut zu funktionieren scheinen.“ Vgl. dazu ausführlich Asenio Sold Short. Uncovering Deception in the Markets, 2001. Leisinger „Short-Selling“ muss Volkssport werden, F. A. Z. v. 5. 11. 2001, abrufbar unter www.faz.net, zuletzt aufgerufen am 25. 1. 2010. Ich orientiere mich hier an den Ausführungen meines Beitrags für die FS Mehle (Fn. 50).
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liebige Handlung“, der ein Erklärungswert hinsichtlich „Tatsachen“ zukommt, als ausreichend für eine Täuschung angesehen.116 Das Verhalten muss geeignet sein, auf das intellektuelle Vorstellungsbild eines anderen einzuwirken.117 Der Betrugstatbestand ist ein Kommunikationsdelikt.118 Es bedarf dabei keiner ausdrücklichen Erklärung. „Unwahrheiten“ brauchen nicht expressis verbis zum Gegenstand mündlicher oder schriftlicher Erklärungen gemacht zu werden.119 Auch ein schlüssiges Verhalten kann auf das Vorstellungsbild eines anderen manipulativ einwirken und dieses verändern. Der Verkäufer auch eines Wertpapiers erklärt und verpflichtet sich, dem Käufer die Sache zu übergeben und zu übereignen. Damit erklärt der Verkäufer bei Vertragsschluss, er sei willens und in der Lage, seine kaufvertraglichen Pflichten zu erfüllen (Erfüllungswilligkeit und Erfüllungsfähigkeit).120 Er erklärt nicht, er sei Eigentümer einer Sache.121 Daraus folgt, dass eine Täuschung bei einem gedeckten Leerverkauf a priori ausscheidet, weil der Leerverkäufer hier Eigentümer (qua Übereignung auf der Grundlage der Wertpapierleihe) der durch ihn veräußerten Wertpapiere ist. Eine Täuschung liegt auch nicht darin begründet, dass der short seller auf fallende Kurse hofft, weil der Verkäufer bei einem Kaufvertrag weder einen bestimmten Zweck noch ein bestimmtes Motiv erklärt.122 Überdies scheidet eine Pflicht des Verkäufers zur Offenbarung seiner Motive aus. Auch in der Konstellation des einfachen naked short sale fehlt es an einer betrugsrelevanten Täuschung, weil mit Abschluss des Kaufvertrages nicht erklärt wird, zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses Eigentümer der Wertpapiere zu sein. Eine derartige Erklärung kann auch nicht qua Auslegung über die Verkehrsauffassung normativ zugerechnet werden.123 Wenn sich der Leerverkäufer nach Vertragsschluss am Markt eindeckt, ist er ersichtlich in der Lage, zu erfüllen. Eine Täuschung scheidet aus. 116
117
118 119 120 121
122 123
Schönke/Schröder-Cramer/Perron StGB, 27. Aufl. 2006, § 263 Rn. 6; LK-Tiedemann StGB, 11. Aufl. § 263 Rn. 7 m. w. N. SK-Hoyer Stand. 42. Lfg. § 263 Rn. 24; Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. § 263 Rn. 6; Sch/Sch-Cramer/Perron (Fn. 116), § 263 Rn. 6. LK-Tiedmann (Fn. 116), § 263 Rn. 4; MüKo-Hefendehl, StGB, Band IV, § 263 Rn. 76. BGHSt 47, 1, (3); Sch/Sch-Cramer/Perron (Fn. 116), § 263 Rn. 14/15. Sch/Sch-Cramer/Perron (Fn. 116), § 263 Rn. 16b. Lenzen Unerlaubte Eingriffe in die Börsenkursbildung, 2000, S. 209; Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht Besonderer Teil, 2006, Rn. 350; Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht, 2004, Rn. 85; etwas anders gilt freilich offensichtlich dann, wenn der Verkäufer wahrheitswidrig behauptet, Eigentümer zu sein. Zutreffend Zieschang in: Park (Fn. 35) § 263 StGB Rn. 132. Dazu Trüg/Habetha Zur Rechtsfigur des Betrugs durch schlüssiges Verhalten, JZ 2007, 878, 880.
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3 19
Anders ist dies bei der Konstellation des abusive naked short selling. Hier werden Leerverkäufe systematisch durchgeführt ohne tatsächlichen Verkaufswillen der short seller, mit dem Ziel, den jeweiligen Aktienkurs zu senken.124 Eine Täuschung ist in der tatsächlich nicht gegebenen Erfüllungswilligkeit zu sehen. Dem korrespondiert ein Irrtum auf Seiten des Käufers. Eine Vermögensverfügung liegt darin, dass sich der Käufer durch den Kaufvertrag zur Zahlung des vereinbarten Kaufpreises verpflichtet. Regelmäßig fehlt es jedoch an einem Vermögensschaden, es sei denn, der Käufer wäre vertraglich zur Vorleistung verpflichtet. Ist dies nicht der Fall, wurde also Erfüllung Zug-um-Zug vereinbart, so liegt eine Vermögensschädigung nicht vor, auch keine Vermögensgefährdung, weil der Käufer die Zahlung zurückbehalten, d. h. Erfüllung Zugum-Zug verlangen kann. Selbst dann, wenn im Wege des abusive naked short selling der Markt tatsächlich (nicht nur scheinbar, mangels Erfüllungswilligkeit) mit bestimmten Wertpapieren geflutet werden sollte, läge hierin kein Betrug, weil der Verkauf eines Wertpapiers nicht die Erklärung enthält, dass dessen Kurs konstant bleibt. Leerverkäufe stellen daher kein strukturelles Betrugsproblem dar.125 Es ist aber zu sehen, dass die Beeinflussung des Finanzmarktes durch Leerverkäufe genauer zu untersuchen ist. Immerhin erwähnte auch der Gesetzgeber des 4. FFG u. a. Leerverkäufe in manipulativer Absicht im Zusammenhang mit dem Verbot der Marktpreismanipulation durch „effektive“ Geschäfte, d. h. solche Transaktionen, die rechtlich verbindlich sind und wirtschaftlich zu einer Wertpapiertransaktion führen.126
2.
Verbot der Markmanipulation, §§ 38, 39, 20 a Abs. 1 WpHG
Das in § 20 a WpHG geregelte Verbot der Marktmanipulation wird durch die Regelung des § 39 Abs. 1 Nr. 1, 2 WpHG bußgeldrechtlich und durch § 38
124
125
126
Diese Fallgruppe hatte die SEC mit der „Naked Short Selling Antifraud Rule v. 14. 10. 2008 (§ 240.10b-21) im Blick, vgl. (Fn. 96), S. 61669: „[W]e are concerned about persons that sell short securities and deceive specified persons about their intention or ability to deliver the securities in time for settlement, or deceive their broker-dealer about their locate source or ownership of shares.“ Auf Einzelkonstellationen, die fernab der strukturellen Erscheinungsform des short sale liegen, wird hier nicht näher eingegangen (vgl. zu einer solchen Konstellation etwa Schröder (Fn. 19), 3. Kap. M. Rn. 670. BT-Drucks. 14/8017, S. 89.
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Abs. 2 WpHG strafrechtlich gestützt. Geschütztes Rechtsgut der Straf- und Ordnungswidrigkeitentatbestände ist das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Zuverlässigkeit und Wahrheit der Preisbildung an den Börsen.127 Eine Marktmanipulation im Sinne von § 20 a WpHG wird zu einer Straftat gem. § 38 Abs. 2 WpHG, wenn der Betroffene mittels einer in § 39 Abs. 1 Nr. 1, 2 oder Abs. 2 Nr. 11 WpHG dargestellten Handlung (zunächst nur bußgeldbewehrt) zusätzlich auf den Börsen- oder Marktpreis eines Finanzinstrumentes tatsächlich einwirkt,128 wenn sich also eine in § 20 a WpHG umschriebene Handlung auch in der Kursbildung niederschlägt. Die Nr. 1 des § 20 a Abs. 1 Satz 1 WpHG untersagt unrichtige oder irreführende Angaben des Betreffenden, mit dem Ziel, auf den Börsenkurs einzuwirken. Die Nr. 2 des Tatbestandes untersagt das irreführende Verhalten am Markt durch Geschäfte, Kaufoder Verkaufsaufträge. Der Auffangtatbestand der Nr. 3 verbietet sonstige Täuschungshandlungen, die geeignet sind, auf die Börsen- oder Marktpreisbildung eines Finanzinstrumentes einzuwirken. Der Leerverkäufer macht regelmäßig keine „unrichtigen oder irreführenden Angaben“, welche bewertungserheblich sind, auch nicht bei der Figur des abusive naked short selling.129 § 20 a Abs. 1 Nr. 1 WpHG scheidet daher aus. Leerverkäufe werden im Schrifttum teils unter Nr. 2 des § 20 a Abs. 1 Satz 1 WpHG erörtert,130 teils unter dessen Nr. 3.131 Die Nr. 2 erfasst tatsächliche Handelsaktivitäten, also alle Transaktionen mit Finanzinstrumenten (vgl. § 2 Abs. 2 b WpHG).132 Ein „falsches Signal“ ist gegeben, wenn es nicht den wahren Marktverhältnissen in Bezug auf das jeweilige Finanzinstrument entspricht. „Irreführend“ ist das Signal, wenn es geeignet ist, einen verständigen, börsenkundigen und mit dem Markt des betroffenen Finanzinstrumentes vertrauten Anleger zu täuschen. Für die Vollendung des Straftatbestandes genügt die Eignung, falsche oder irreführende Signale für das Angebot, die 127
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131 132
Schröder in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2008, X 2 Rn. 3; Möller Die Neuregelung der Kurs- und Marktpreismanipulation im Vierten Finanzmarktförderungsgesetz, WM 2002, 309 (311); Sorgenfrei in: Park (Fn. 35) §§ 20 a, 38 Abs. 1 Nr. 4, 39 WpHG Rn. 4. LK-Tiedemann (Fn. 116) Rn. 353; Schröder (Fn. 19) 3. Kap. B. Rn. 374. Es sind Konstellationen von Leerverkäufen denkbar, in denen zu Zwecken der Kursmanipulation entsprechende Angaben durch den Leerverkäufer gemacht werden. Es handelt sich in solchen Fällen jedoch nicht um die typenspezifische Konstellation des Leerverkaufs bzw. nicht um dessen typische Folgen. Worms in: Assmann/Schütze (Fn. 58) § 9 Rn. 132; Schröder (Fn. 19) 3. Kap. E. Rn. 499 ff. Vogel in: Assmann/Schneider (Fn. 100) § 20 a Rn. 221. Schröder (Fn. 19) 3. Kap. B. Rn. 378.
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Nachfrage oder den Börsen- oder Marktpreis von Finanzinstrumenten zu geben.133 Zu bedenken ist, dass Leerverkäufer eines gedeckten Leerverkaufs und eines einfachen (= non-abusive) naked short sale zwar auf sinkende Kurse hoffen, regelmäßig jedoch kein Geschäft vornehmen, welches auch nur geeignet wäre, „falsche oder irreführende“ Signale gem. Nr. 2 zu geben. Das einzige durch den short seller in der gängigen Form des short sale ausgesandte Signal ist der Verkauf von Wertpapieren. Insoweit gilt das zum Betrugstatbestand Gesagte entsprechend.134 Die Motivation des Verkäufers wird regelmäßig nicht Bestandteil seiner Erklärung. Sie kann daher weder ein „Signal“ noch eine Täuschung sein. Ein manipulatives Marktverhalten ist auch nicht darin zu sehen, für Dritte sei nicht ersichtlich, dass sich der short gehende Verkäufer am Markt wieder eindecken muss und auf sinkende Kurse hofft.135 Dabei handelt es sich lediglich um das Motiv des Verkäufers. Ferner trifft der Verkäufer keine Aussage über eine erwartete Kursentwicklung. Anders als bei dem strafbaren Scalping136 werden bei bei Leerverkäufen grundsätzlich keine täuschenden Anlageempfehlungen abgegeben.137 Selbst wenn Leerverkäufe – abgesehen von der Erscheinungsform des abusive naked short selling (dazu sogleich) – „bei großem Volumen und gezieltem Einsatz“ getätigt werden, liegt keine Marktmanipulation vor,138 auch nicht mit dem Hinweis, dass groß dimensionierte short sales auf die Referenzkurse einwirken können.
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Vogel in: Assmann/Schneider (Fn. 100) § 20 a Rn. 119; Schröder (Fn. 19) 3. Kap. E. Rn. 483. Zur Vergleichbarkeit der „Täuschung“ gem. Nr. 3 des § 20 a Abs. 1 Nr. 3 WpHG und § 263 StGB Altenhain (Fn. 103) BB 2002, 1874, 1877. Vgl. dazu Schröder (Fn. 19) 3. Kap. E. Rn. 501. Zum Scalping Weber Scalping – Erfindung und Folgen eines Insiderdelikts, NJW 2000, 562 ff.; Fleischer Scalping zwischen Insiderdelikt und Kurspreismanipulation, DB 2004, 51 ff.; Vogel Scalping als Kurs- und Marktpreismanipulation, NStZ 2004, 252 ff.; Gaede/Mühlbauer Wirtschaftsstrafrecht zwischen europäischem Primärrecht, Verfassungsrecht und der richtlinienkonformen Auslegung am Beispiel des Scalping, wistra 2005, 9 ff.; Pananis Kurs- und Marktpreismanipulation durch Scalping, NStZ 2004, 287 ff. Worms in: Assmann/Schütze (Fn. 58) § 9 Rn. 132. Zutreffend Worms in: Assmann/Schütze (Fn. 58), § 9 Rn. 132; Schröder (Fn. 19), 3. Kap. E. Rn. 502; skeptisch Altenhain (Fn. 103), BB 2002, 1874 (1877). Der Gesetzgeber des 4. FFG hatte im Entwurf einen § 4 a WpHG-E vorgesehen, der die Möglichkeit enthielt, Leerverkäufe bei drohender erheblicher Marktbeeinträchtigung zu untersagen sowie ferner eine Kennzeichnungspflicht von Leerverkäufen in § 9 Abs. 9 WpHG-E statuierte, vgl. BT-Drucks. 14/8017, S. 89.
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Anders liegen die Dinge bei abusive naked short selling. Diese sind gekennzeichnet durch systematische Leerverkäufe ohne tatsächlichen Verkaufswillen der Leerverkäufer (fehlende Erfüllungswilligkeit). Weil der Verkäufer (auch eines Wertpapiers) seine Erfüllungsfähigkeit und Erfüllungswilligkeit zum Zeitpunkt der Fälligkeit erklärt, ist bei fehlendem tatsächlichem Verkaufswillen eine Täuschung gegeben. Hier gibt der Leerverkäufer ein „irreführendes“ Signal ab.139 Konstitutiv für abusive naked short selling ist weiter das Ziel, den jeweiligen Kurs zu manipulieren. Die Konstellation des abusive naked short selling fällt damit unter § 20 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 WpHG. Auf den Auffangtatbestand der Nr. 3 der Vorschrift ist nicht abzustellen. Eine Straftat gem. § 38 Abs. 2 iVm §§ 39 Abs. 1 Nr. 1, 20 a WpHG liegt vor, wenn sich abusive naked short selling in der Kursbildung niederschlägt.
3.
Verleitung zu Börsenspekulationsgeschäften, §§ 49, 26 BörsG
Die §§ 49, 26 BörsG stellen das Verleiten einer Person zu Börsenspekulationsgeschäften unter Strafe, soweit das Opfer hinsichtlich des in Rede stehenden Geschäfts unerfahren ist und der Täter dies ausnutzt. Diese Strafnorm schützt das Vermögen von Personen, die in Börsenspekulationsgeschäften unerfahren sind.140 Weil dieser Tatbestand ein abstraktes Gefährdungsdelikt darstellt, liegt eine Strafbarkeit bereits vor, wenn der Verleitete mit dem Geschäft einen Gewinn erzielt. Zentrales Tatbestandsmerkmal des § 26 BörsG ist das Börsenspekulationsgeschäft. Voraussetzung für die Strafbarkeit ist, dass der Handelnde bei dem Abschluss von Börsentermingeschäften141 oder von Kassa-Geschäf-
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140
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Im deutschen Schrifttum soweit ersichtlich nur erörtert von Vogel in: Assmann/ Schneider (Fn. 100), § 20 a Rn. 221 und auch Vor § 20 a Rn. 36; in der Tendenz Worms in: Assmann/Schütze (Fn. 58) § 9 Rn. 132. Wehowsky in: Erbs/Kohlhaas (Hrsg.) Strafrechtliche Nebengesetze, 172. ErgLfg. Stand: Oktober 2008, § 49 Rn. 2; Schröder (Fn. 19) 5. Kap. B. Rn. 771; ders. in: Achenbach/Ransiek (Fn. 127), X 2 Rn. 204; Park, in: Park (Fn. 35) §§ 26, 49 BörsG Rn. 3. Börsentermingeschäfte verstanden als Verträge über Wertpapiere, vertretbare Waren oder Devisen nach gleichartigen Bedingungen, die von beiden Parteien erst zu einem bestimmten späteren Zeitpunkt zu erfüllen sind und eine Beziehung zu einem Terminmarkt haben, der es ermöglicht, jederzeit ein Gegengeschäft abzuschließen, BGHZ 92, 317 (320); zum Streitstand, ob ein short sale in Verbindung mit einer Wertpapierleihe ein Finanztermingeschäft oder ein Festgeschäft darstellt, näher Schäfer in: Assmann/Schütze (Fn. 58) § 19 Finanztermingeschäfte Rn. 24 ff. m. w. N.; dafür etwa König in: Ebenroth/Boujong/Joost (Fn. 83) BankR VIII
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ten142 von Anfang darauf abzielt, aus dem Unterschied zwischen dem zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses vereinbarten Preis und dem zur Lieferzeit vorhandenen Marktpreis einen Gewinn zu erzielen, und dadurch eine (zumindest abstrakte) Vermögensgefährdung des Verleiteten entsteht. Die Legaldefinition des Börsenspekulationsgeschäfts in § 26 Abs. 2 BörsG macht deutlich, dass Leerverkäufe aufgrund ihrer Gewinnträchtigkeit bei fallenden Kursen den durch den Gesetzgeber intendierten Spekulationscharakter aufweisen können.143 Im Falle von Leerverkäufen können sowohl gedeckte Verkäufe wie auch naked short sales – jeweils mit Blick auf das Risiko der Kurssteigerung bis zum Zeitpunkt der Eindeckung – als Börsenspekulationsgeschäft zu werten sein.144 Dies muss jedoch nicht der Fall sein.145 Namentlich bei dem Abschluss eines Leerverkaufs zu Zwecken der Absicherung, etwa im Rahmen einer Long-Short-Strategie, scheidet ein Spekulationscharakter aus. Für die Frage der Strafbarkeit gem. §§ 49, 26 BörsG im Zusammenhang mit einem short sale ist generell danach zu unterscheiden, ob die unerfahrene Person auf der Verkäufer- oder auf der Käuferseite steht. (1) Das Verleiten eines anderen zu einem Leerverkauf (unerfahrene Person ist Verkäufer) kann wegen des im short sale selbst liegenden unbegrenzten Risikos – bei Vorliegen der weiteren tatbestandsmäßigen Voraussetzungen – eine Strafbarkeit gem. §§ 49, 26 BörsG begründen. (2) Davon zu unterscheiden ist die Durchführung eines Leerverkaufs (etwa einer Option) an eine „unerfahrene“ Person (unerfahrene Person ist Käufer). Hier scheitert eine Strafbarkeit gem. §§ 49, 26 BörsG häufig am Tatbestandsmerkmal der „Unerfahrenheit“ des Verleiteten „in Börsenspekulationsgeschäften“ bzw. am Schutzzweck der Norm: Voraussetzung für die Unerfahrenheit ist, dass die verleitete Person aufgrund fehlender Einsicht die Tragweite des konkreten Spekulationsgeschäfts in seiner ganzen Bedeutung nicht verlässlich überblicken kann.146 Ob bei einem Leerverkauf die Voraussetzungen für die Unerfahrenheit auf Käuferseite gegeben sind, hängt nicht
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143 144
145 146
Rn. 184 f.; dagegen etwa Ekkenga in: Schmidt/Hadding (Fn. 70) Effektengeschäft Rn. 66 jeweils m. w. N. BGHZ 149, 294 ff. – Devisentrading; Hellmann/Beckemper (Fn. 121) Rn. 97; Wehowsky in: Erbs/Kohlhaas (Fn. 140), § 49 Rn. 4; Schröder (Fn. 19) 5. Kap. C. Rn. 813. Wehowsky in: Erbs/Kohlhaas (Fn. 140) § 49 Rn. 4; Schröder (Fn. 19) 5. Kap. C. Rn. 784. Schröder (Fn. 19) 5. Kap. D. Rn. 832 f.; ders. in: Achenbach/Ransiek (Fn. 127) X 2 Rn. 244, 266. So auch Wehowsky in: Erbs/Kohlhaas (Fn. 140), § 49 Rn. 4. BGH wistra 2002, 22 f.; vgl. auch BGH NStZ 2000, 36.
324
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vom Umstand des short sale selbst ab, auch wenn man mit der herrschenden Meinung beim durchschnittlichen Privatanleger allgemein von mangelnden Kenntnissen, mithin von Unerfahrenheit ausgeht.147 Hinsichtlich der Frage der Unerfahrenheit ist aber nicht darauf abzustellen, ob der Käufer erkennt oder erkennen kann, dass der Verkäufer einen short sale tätigt. Denn für den Käufer birgt der short sale keine marktspezifischen bzw. geschäftstypenspezifischen Risiken. Das Risiko des Käufers, dass der Verkäufer nicht erfüllen kann, weil er sich am Markt nicht eindecken konnte oder wollte, stellt lediglich dann eine Vermögensgefährdung dar, wenn der Käufer zur Vorleistung verpflichtet ist. Andernfalls kann er Erfüllung Zug-um-Zug verlangen, sodass eine Vermögensgefährdung ausscheidet, weil der Käufer die Zahlung des Kaufpreises verweigern wird. Hat der Käufer vorgeleistet, so besteht jedenfalls in der Konstellation des abusive naked short selling zwar eine Vermögensgefährdung konkreter Natur. Der abusive naked short seller hat aber nicht „unter Ausnutzung“ der „Unerfahrenheit“ des Käufers gehandelt. Vielmehr hat der abusive naked short seller beim Käufer Irrtum erregt, der sich nicht auf die Unerfahrenheit in Börsenspekulationsgeschäften bezieht, sondern auf die täuschungsbedingte Unkenntnis von der tatsächlich fehlenden Erfüllungswilligkeit des Verkäufers. Ein solcher Irrtum ist richtigerweise nicht vom Schutzzweck der Norm der Verleitung zu Börsenspekulationsgeschäften (§§ 49, 26 BörsG) umfasst.
V.
Zusammenfassung
Die Finanzkrise erfordert – über die kurzfristigen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen hinaus – hoheitliche Reaktionen. Die auf den Finanzmärkten tätigen Akteure konnten weitgehend ohne Ordnungsrahmen agieren. Dies hat zu einem mannigfachen Wildwuchs geführt, der am Ende die Allgemeinheit belastete. Die Finanzmärkte sind gekennzeichnet durch zu wenig Regulierung und zu wenig staatliche Kontrolle. Hält man also – zu Recht – mehr Regulierung und mehr staatliche Kontrolle für erforderlich, wird der Ruf nach einer Kriminalisierung problematische Verhaltensweisen schnell laut. Auch wenn dieser Ruf ernst genommen werden soll-
147
Wehowsky in: Erbs/Kohlhaas (Fn. 140) § 49 Rn. 7; Schröder in: Achenbach/Ransiek (Fn. 127) X 2 Rn. 254; Worms in: Assmann/Schütze (Fn. 58) § 9 Rn. 37, jeweils m. w. N.; differenzierend Park in: Park (Fn. 35) §§ 26, 49 BörsG Rn. 22 ff.
Finanzkrise, Wirtschaftsstrafrecht und Moral
3 25
te,148 ist zu bedenken, dass die Frage nach weiterer Kriminalisierung, d. h. konkret die Schaffung neuer bzw. die Ausweitung bestehender Straftatbestände erst am Ende der genauen Analyse der Finanzkrise stehen kann. Zum jetzigen Zeitpunkt jedenfalls, da die Finanzkrise noch nicht einmal überwunden, geschweige denn analysiert ist, gleicht dieser Ruf nach einer Ausweitung des Kapitalmarktstrafrechts einem „Stochern im Nebel“. Ob die „Finanzkrise“ mithin „das Wirtschaftsstrafrecht“ – in Form des Kapitalmarktstrafrechts – auf den Plan ruft bzw. rufen muss, ist eine noch offene Frage. Die vorstehende Untersuchung der Leerverkäufe sollte gezeigt haben, dass Leerverkäufe als komplexes Finanzinstrument auf für sich gesehen komplexen Finanzmärkten zu verstehen sind. Dies hatte bereits eine Betrachtung der Erscheinungsformen von Leerverkäufen, erst Recht aber die Darstellung der von short sales möglicherweise ausgehenden Risiken gezeigt. Hier war zu sehen, dass eigentlich alle Aspekte, die zu der Zuschreibung eines hohen Risikopotentials von short sales führen, von anderer Seite gerade als stabilisierende Funktion der Leerverkäufe für den Finanzmarkt verstanden werden. Solange diese Fragen derart offen sind und kontrovers beurteilt werden, erscheint der richtige Weg einer staatlichen Reaktion derjenige, den die BaFin mit ihrer Allgemeinverfügung vom 19. 9. 2008 beschritten hat, in dem die Aufsichtsbehörde zeitlich befristet nur eine bestimmte Erscheinungsform von Leerverkäufen, die naked short sales, und auch nur in Bezug auf bestimmte Institute untersagt hat, ohne dass dieses Verbot bußgeldrechtlich bzw. strafrechtlich flankiert wäre. Diese auf § 4 Abs. 1 WpHG gestützten Eingriffs- und Regulierungskompetenzen der BaFin sind als vergleichsweise schnell zu implementierende Reaktionen auf – wie gezeigt – unsicherem Terrain dem Strafrecht überlegen, zumal die von der Regulierung durch die BaFin abweichenden Reaktionen und Maßnahmen der Aufsichtsbehörden anderer durch die Finanzkrise betroffener Staaten zeigen, dass es, auch hier, den „Königsweg“ nicht zu geben scheint, die einzelnen Reaktionen daher zumindest teilweise Versuchscharakter haben.149 148
149
Zu Gefahren der Ausnutzung der Komplexität durch Kriminalität vgl. Schröder Die Komplexität internationaler Finanzmärkte – Einfallstor für Kriminalität, Kriminalistik 2009, 12 ff. (12). Vgl. Lüderssen in diesem Band, S. 211 ff. (235). „So lange die strafrechtsrelevanten normativen und empirischen ökonomischen Zusammenhänge, in denen sich die virtuellen Täter und Taten im Risikomanagement des Wirtschaftslebens bewegen, und die Wirkungen, die in den anvisierten Fällen von – im Namen des Gemeinwohls angedrohten und verhängten – Sanktionen ausgehen können, nicht einmal annähernd erforscht sind, bleibt die Anwendung des Strafrechts experimentell [. . .]“
326
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Soweit schließlich Fragen der „Moral“ in Rede stehen, war zunächst zu sehen, dass die Frage nach Moral oder ethischem Handeln an den Akteuren auf den Finanzmärkten vorbei geht. Moral bzw. Ethik sind keine dort angestrebten Bezugsgrößen. Gleichwohl sollten auch die erforderlichen staatlichen Reaktionen nicht von der Fehlvorstellung geleitet sein, man könne Moral auf den Finanzmärkten mittels Strafrecht implementieren. Für die Leerverkäufe, auch für deren besonders kritische Erscheinungsform der abusive naked short sales, erscheint das bestehende strafrechtliche Instrumentarium insbesondere durch den Straftatbestand des Verbots der Marktmanipulation nach heutigem Kenntnisstand als ausreichend.
Insiderwissen im Finanzmarkt
3 27
Insiderwissen im Finanzmarkt Insiderwissen im Finanzmarkt Klaus Leipold
Klaus Leipold Gliederung I. Definition Insiderwissen II. Europäische Vorgaben III. Geltendes Recht IV. Insiderhandel und die Pflicht zur Ad- Hoc- Publizität V. Schäden durch den Insiderhandel VI. Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Insiderhandelsverbots VII. Einfluss des Insiderhandelsverbots auf die Kursverläufe VIII. Strafrechtliche Prinzipien und Insiderhandelsverbot IX. Insiderwissen und die Wirtschaftskrise X. Fazit Insiderwissen ist in der immer komplexer und undurchsichtiger werdenden Finanzwelt ein allgegenwärtiges Phänomen. Naturgemäß strebt jeder Marktteilnehmer danach, bisher unbekannte Informationen zu erlangen, um diese zu seinem eigenen Vorteil auszunutzen. Vor allem die Führungskräfte eines Unternehmens kommen regelmäßig mit kursrelevanten Fakten in Kontakt und haben einen erhöhten Anreiz, diese auf dem Finanzmarkt zu „Geld zu machen“. Doch bedarf die Verwertung von überlegenem Sachwissen einer strafrechtlichen Sanktion?1 Der folgende Vortrag befasst sich damit, wie nach der momentan in Deutschland geltenden gesetzlichen Regelung mit der Verwertung von Insiderwissen umgegangen wird und ob dies vor dem Hintergrund der Bedeutung des Insiderhandelns für die Kapitalmärkte geboten ist. Vor allem soll dabei darauf eingegangen werden, welche Rolle Insiderwissen für die Kursentwicklung von an Börsen gehandelten Wertpapieren und in Zeiten einer weltweiten Wirtschaftskrise spielt.
1
Grundlegend zur allgemeinen Erforderlichkeit wirtschaftsstrafrechtlicher Sanktionen: Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts II 2007 S. 15 ff.
328
I.
Klaus Leipold
Definition Insiderwissen
Für eine Definition der Insiderinformation kann auf Art. 1 Nr. 1 der europäischen Richtlinie 2003/6/EG zurückgegriffen werden: „Insider-Information“ ist eine nicht öffentlich bekannte präzise Information, die direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten von Finanzinstrumenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente betrifft und die, wenn sie öffentlich bekannt würde, geeignet wäre, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs sich darauf beziehender derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen“. Insider ist demnach, wer von einer Information in diesem Sinne Kenntnis hat.
II.
Europäische Vorgaben
Aufgrund der Vorgaben der europäischen Gemeinschaft ist jeder Mitgliedsstaat dazu verpflichtet, gegen Insiderhandel vorzugehen. Entgegen eines weit verbreiteten Irrtums besteht aber keineswegs ein Zwang zur strafrechtlichen Sanktionierung. Es ist lediglich erforderlich, dass die Mitgliedstaaten durch gesetzliche Regelungen sicherstellen, dass „gegen die verantwortlichen Personen geeignete Verwaltungsmaßnahmen ergriffen oder im Verwaltungsverfahren zu erlassende Sanktionen verhängt werden können. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass diese Maßnahmen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sind“.2 Bezüglich einer darüber hinausgehenden strafrechtlichen Sanktionierung heißt es nur, dass das soeben gesagte „unbeschadet des Rechts der Mitgliedstaaten besteht, strafrechtliche Sanktionen zu verhängen“.2 Es besteht demnach keine Verpflichtung für den deutschen Gesetzgeber, gegen den Insiderhandel mit den Mitteln des Strafrechts vorzugehen.
III.
Geltendes Recht
Der deutsche Gesetzgeber hat sich dazu entschieden, den Insiderhandel gem. § 38 WpHG und sogar dessen Versuch nach § 38 III WpHG vollständig zu ver-
2
Art. 14 der Richtlinie 2003/6/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 28. 1. 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulationen (Marktmissbrauch).
Insiderwissen im Finanzmarkt
3 29
bieten und strafrechtlich mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren zu sanktionieren. Demnach geht das in Deutschland geltende Recht deutlich über die europäischen Vorgaben hinaus.3 Gem. § 14 WpHG wird jedermann vom Insiderhandelsverbot erfasst. Zudem sieht § 4 WpHG ein allgemeines Recht der Finanzdienstleistungsaufsicht vor, die Verbote zu überwachen und geeignete Maßnahmen zu deren effektiver Umsetzung zu ergreifen. Diese kann bereits aufgrund bloßer Anhaltspunkte – als Minus zum Anfangsverdacht im Sinne der StPO – wegen Insiderstraftaten ermitteln.4 Der Gesetzgeber verfolgt mit dem statuierten Verbot im Wesentlichen zwei Regelungszwecke: Vor allem soll die Funktionsfähigkeit der Börse gesichert und mittelbar dadurch der Anleger vor durch Insiderhandel hervorgerufenen Vermögensverlusten geschützt werden.5 Doch steht der Insiderhandel wirklich im klaren Widerspruch zu diesen Zielen?
IV.
Insiderhandel und die Pflicht zur Ad-Hoc-Publizität
Zentraler Gesichtspunkt im deutschen Regelungskonzept zur Verhinderung von Insiderhandel ist die gem. § 15 WpHG bestehende Pflicht der Unternehmen, kursrelevante Informationen unverzüglich an die Öffentlichkeit weiterzuleiten.6 Diese Ad- Hoc- Publizität stellt die Schnittstelle zwischen strafrechtlich sanktioniertem Insiderhandel und legalem Wertpapiergeschäft dar. Sind Informationen erst einmal öffentlich bekannt, kann es diesbezüglich keine Insider mehr geben.7 Insider aus der Führungsebene eines Unternehmens werden jedoch stets darüber informiert sein, wann der Pflicht zu Ad3 4
5
6
7
Vgl. Park Kapitalmarktrecht und Anlegerschutz NStZ 2007, 369, 372. Benner in Wabnitz/Janovsky Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts 2007 Kap. 9 Rn. 55. MünchKommAktG (im Erscheinen) Pananis § 38 WpHG Rn. 4 ff.; Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht 2004 S. 12 Rn. 28; BT- Drs. 793/ 93 v. 5. 11. 1993, S. 1; vgl. auch Park Schwerpunktbereich – Einführung in das Kapitalmarktstrafrecht JuS 2007, 621, 623. Hellmann/Beckemper Wirtschaftsstrafrecht 2004 S. 17 Rn. 71 ff.; Parmentier Ad-HocPublizität bei Börsengang und Aktienplatzierung NZG 2007, 407, 407 ff.; Widder Zur ad hoc Publizität infolge der Weitergabe von Insiderinformationen NZG 2006, 451, 451 ff. Benner in Wabnitz/Janovsky Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts 2007 Kap. 9 Rn. 83.
330
Klaus Leipold
Hoc- Publizität Folge geleistet wird. Sie können also die Bekanntmachung der „ehemaligen“ Insiderinformation abwarten, ihre Geschäfte unmittelbar danach an der Börse tätigen und somit legal von ihrem Wissensvorsprung profitieren. 8 Der Kleinanleger wird dagegen keine Möglichkeit haben, derart schnell auf kursrelevante Tatsachen zu reagieren. Auch die Pflicht zur Ad- Hoc- Publizität schafft es demnach nicht, den Zeitvorsprung des Insiders abzubauen. Gerade dieser Zeitvorsprung kennzeichnet jedoch das Insiderwissen und es wurde bereits vor der gesetzlichen Regelung in der Literatur diskutiert, wie dieser am Effektivsten beseitigt werden kann.9 Die gesetzliche Regelung kann zudem nicht für sich geltend machen, dass die Informationen sonst nicht veröffentlicht werden würden. Denn wie soll der Insider von seinem Informationsvorsprung profitieren, wenn die kursrelevanten Tatsachen nicht an die Öffentlichkeit dringen und die dadurch hervorgerufenen Wertpapiergeschäfte der Anleger die erhofften Kursbewegungen auslösen?
V.
Schäden durch den Insiderhandel
Der Schaden durch Insiderhandel für die Kleinanleger und die Funktionsfähigkeit der Börse wird insbesondere dadurch begründet, dass der Anleger aufgrund seines Informationsdefizits10 im Vergleich zum „Insider“ für sich nachteilige Geschäfte abschließt, da er den „wahren Wert“ einer Aktie nicht kennt. Die vermeintliche Schädigung soll dadurch entstehen, dass der Anleger ein Wertpapier bei einer bereits existierenden Insiderinformation, die eine Kurssteigerung erwarten lässt, zu billig verkauft bzw. im umgekehrten Fall dieses zu teuer ankauft. Dadurch ergeben sich für die Marktteilnehmer – abhängig von deren Insiderwissen – unterschiedliche Geschäftsrisiken. Insiderhandel könne also das Vertrauen der Anleger in die Börse erschüttern und damit die Kapitalbeschaffungsfunktion des Kapitalmarkts für Unternehmen gefährden.
8
9 10
Unterlassen eines Wertpapiergeschäfts kann von Insiderhandelsverbot nicht erfasst werden, vgl. Volk Strafrecht gegen Insider ZHR 142 (1978) 1, 15. Vgl. Volk Strafrecht gegen Insider? ZHR 142 (1978) 1, 5. Bedingt durch die Trennung von Eigentum und Kontrolle in der AG, vgl. Gabisch Der Insiderhandel – Eine institutionenökonomische Analyse 1999 S. 166 f.
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3 31
Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass es den „wahren Wert“ eines Wertpapiers nicht gibt11 und somit jeder An- und Verkauf von Wertpapieren an internationalen Börsen zu einem davon abweichenden Preis erfolgt. Neben Angebot und Nachfrage beeinflussen auch Spekulationen und andere schwer kalkulierbare Einflüsse von Außen in großem Umfang den Kursverlauf. Eine vollkommene Informationstransparenz wird es schon aufgrund der Unmöglichkeit einer zeitnahen Verwertung der unüberschaubaren Informationsflut auf den internationalen Börsenparketts nie geben und die Marktteilnehmer werden stets mit unterschiedlichen Erwartungen und vor allem Motivationen und Risikobereitschaften Geschäfte tätigen. In der Praxis ist daher die perfekte Chancengleichheit und Informationssymmetrie eine Illusion. Darüber hinaus sind neben den unternehmensinternen Insidern auch andere Akteure auf den internationalen Finanzmärkten mit einem Informationsvorsprung gegenüber den „normalen“ Anlegern ausgestattet. Diesbezüglich führt Klaus Volk vollkommen zutreffend aus: „Das Publikum sieht sich nun nicht nur von „geborenen“, sondern auch von „gekorenen Insidern“ legal geprellt – nämlich von all den Journalisten, Börsianern etc., die der bekanntgebenden Stelle näher stehen als der typische Anleger“.12 Wie aber soll das Vertrauen der Anleger in eine Chancengleichheit auf den internationalen Finanzmärkten durch ein strafrechtliches Insiderhandelsverbot gestärkt werden, wenn nicht nur Insider im klassischen Sinne, sondern auch professionelle Finanzexperten Informationsvorsprünge besitzen13 und gegen diese von staatlicher Seite nicht vorgegangen wird? Insiderhandel wird ferner von einigen Stimmen in der Literatur als „victimless crime“14 gesehen, da der Outsider in jedem Fall gekauft oder verkauft hätte. Ob auf dessen Marktseite bzw. -gegenseite ein Insider handelt, ist dabei rein zufällig. Ist aber kein Insider am Handel beteiligt, so kommt die Frage nach einem Schaden für die nicht- informierten Kapitalmarktteilnehmer erst gar nicht auf.15 Der Schaden entsteht demnach aus der Differenz zwischen „wahrem Wert“ und Aktienkurs, also aus der angenommenen und nicht messbaren „Fehlbewertung“ der Aktie an der Börse, die durch deren bereits erwähnte un11 12 13 14
15
Haouache Börsenaufsicht durch Strafrecht, Diss. Frankfurt am Main 1996 S. 39 f. Volk Strafrecht gegen Insider? ZHR 142 (1978) 1, 6. Park Kapitalmarktstrafrecht 2008 Vor § 12 WpHG Rn. 9. Manne Insider Trading and the Stock Market 1966 S. 61; Hopt Ökonomische Theorie und Insiderrecht, Die Aktiengesellschaft 1995, 353, 355; King/Roell Insider trading, Economics Policy 3, No. 6, April 1988, 163, 168. Schörner Gesetzliches Insiderhandelsverbot, Ökonomische Theorie und Insiderrecht 1991 S. 47.
332
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zulängliche Informationsverarbeitungsleistung entsteht.16 Aufgrund dessen und der Existenz nicht kalkulierbarer kursrelevanter Außeneinflüsse, sind Geschäfte auf den internationalen Wertpapiermärkten zum Teil hochspekulativ. Die Kernfrage ist zudem, ob die bloße Gewinnchance – im Gegensatz zu den bisherigen Grundsätzen im Strafrecht – geschützt werden soll. Der Anleger stellt eine individuelle Kosten- Nutzen Rechnung auf, die die zu erwartenden Risiken mit der möglichen Rendite abwägt. Verkauft er aufgrund seiner mangelnden Kenntnisse mit zu wenig Gewinn, so wird eine bloße Gewinnerwartung enttäuscht, deren Schutz ein Novum im Strafrecht darstellt. Und der Vermögensschaden durch den Kursverlust einer Aktie nach deren Erwerb entsteht ja nicht durch den Insiderhandel, sondern durch die negativen Tatsachen, die über ein Unternehmen bekannt werden. Die zeitlichen Vorteile von Unternehmensinsidern können (wie oben gezeigt) durch die Pflicht zur Ad- Hoc- Publizität nicht ausgeglichen werden. Es stellt sich daher die Frage, ob nicht letztlich eine Art „moralischer Schaden“ unter Strafe gestellt werden soll.
VI.
Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Insiderhandelsverbots
Signifikante Kurssprünge von an den Börsen gehandelten Wertpapieren können neben Insiderhandel zahlreiche weitere Ursachen haben. Dieser lässt sich allerdings – wenn überhaupt – nur aufgrund einer Beobachtung der Kursverläufe feststellen. Wie schwer der Zusammenhang zwischen unerklärlichen Kursveränderungen und Insiderhandel in der Praxis herzustellen ist, zeigt die Tatsache, dass es in den letzten Jahren kaum zu Verurteilungen wegen Verstößen gegen das Insiderhandelsverbot gekommen ist. In dem Zeitraum von 2006 bis 2008 kam es insgesamt nur zu 20 Verurteilungen bei insgesamt 255 von der Staatsanwaltschaft betriebenen Strafverfahren.17 Dies zeigt, dass es dem Gesetzgeber in jüngerer Zeit bei dem Erlass von strafrechtlichen Normen vielmehr um deren „symbolische Repräsentation einer 16
17
Rudolph Ökonomische Theorie und Insiderrecht, W. Ballwieser u. a. (Hrsg.), Bilanzrecht und Kapitalmarkt 1994 S. 1341; Noll Das neue Wertpapierhandelsgesetz – Eine ökonomische Analyse, WiSt 1997, 618, 619. Jahresbericht der BaFin 2008, S. 158 (abrufbar im Internet: http://www.bafin.de/ cln_152/nn_992916/SharedDocs/Downloads/DE/Service/Jahresberichte/2008/jb __2008__gesamt.html); vgl. auch MünchKommAktG (im Erscheinen)-Pananis § 38 WpHG Rn. 12 f.
Insiderwissen im Finanzmarkt
3 33
Wertordnung und Ideologie“18 geht, als um deren Durchsetzbarkeit in der Praxis.
VII.
Einfluss des Insiderhandelsverbots auf die Kursverläufe
Die renommierte Zeitung „Das Handelsblatt“ veröffentlicht wöchentlich im Rahmen der Rubrik „Insider-Barometer“19 die An- und Verkäufer der Topmanager von Aktien des eigenen Unternehmens. Dies ist ein seltener Versuch, die positiven Effekte des Insiderhandels zu nutzen und den Marktteilnehmern dadurch interessante Informationen über Wertpapiere zu liefern. Insiderhandel hat den Vorteil, dass Informationen sukzessive vor deren Veröffentlichung in den Kurs eines Wertpapiers einfließen. Es gibt daher keine derart drastischen Kurssprünge wie bei einer Ad-Hoc-Publizität,20 sondern der Kurs einer Aktie nähert sich schrittweise – und damit anlegerfreundlich21 – deren vermeintlich „tatsächlichen“ Wert an.
Abbildung 122 18 19
20 21
22
Park Kapitalmarktrecht und Anlegerschutz NStZ 2007, 369, 374. Beispielsweise am 7. 12. 2009: http://www.handelsblatt.com/finanzen/ insiderbarometer/insider-barometer-top-manager-misstrauen-der-rally;2495208. Carlton/Fischel The regulation of Insider Trading, Stanford Law Review 1983, 857, 868. Schneider Wider Insiderhandelsverbot und die Informationseffizienz des Kapitalmarkts, Der Betrieb 1993, 1429, 1431. Die Abbildung ist übernommen aus Rudolph Betriebswirtschaftliche Beurteilung des Insiderhandelsverbots, betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis (bFP) 1994, 114, 118.
334
Klaus Leipold
VIII.
Strafrechtliche Prinzipien und Insiderhandelsverbot
Die Sanktionierung des Insiderhandels ist im Lichte einer Tendenz zu sehen, dass das Wirtschaftsstrafrecht immer mehr – zum Teil hoch komplexe – Verhaltensweisen erfassen soll. Aufgrund der Vielgestaltigkeit ökonomischer Handlungsweisen ist dieses Ziel jedoch nur noch über generalklauselartige Tatbestände erreichbar. Das rechtsstaatlich so wichtige Bestimmtheitsgebot wird dabei zunehmend weniger beachtet.23 Auch das bedeutsame ultima ratio Prinzip24 des Strafrechts verliert an Bedeutung.25 Weder der Gesetzgeber, noch die Strafverfolgungsbehörden schenken diesem Grundsatz hinreichend Beachtung. Alternative Vorgehensweisen außerhalb des Strafrechts werden häufig nicht einmal in Erwägung gezogen. Zum Ausgleich der etwaigen durch Insiderhandel entstehenden Schäden kann nämlich das Zivilrecht mit Schadensersatz- und Gewinnabschöpfungsansprüchen viel bessere Dienste leisten. Es wäre ferner möglich, die Anspruchsdurchsetzung durch Instrumente wie eine Beweislastumkehr zu erleichtern. Zu oft versuchen sich die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte mittlerweile an einem direkten strafrechtlichen „Durchgriff“,26 ohne dabei die Grundsätze, Begrifflichkeiten und Vorgaben anderer Rechtsgebiete – insbesondere des Zivilrechts – zu beachten.27 In diesem Zusammenhang erscheint die Auslegung der Richtlinie 2003/6/EG durch den EuGH28 äußerst bedenklich. Demnach besteht bei Vorliegen der objektiven Tatbestandsmerkmale eines Insidergeschäfts eine Vermutung dafür, dass der Insider bei der Verwertung der Informationen vorsätzlich gehandelt und somit gegen das Insiderhandelsverbot verstoßen hat. Begründet wird dies zum einen mit dem Vertrauensverhältnis des Insiders zum Emittenten und der damit verbundenen besonderen Verantwortung und zum ande23
24
25
26
27 28
Dierlamm Das neue Insiderstrafrecht, NStZ 1996, 519, 522; vgl. auch Park Kapitalmarktrecht und Anlegerschutz, NStZ 2007, 369, 372 ff. „Subsidiarität und Akzessorietät, also Vorrang anderer Rechtsgebiete, vornehmlich des Zivilrechts und eine dementsprechende Bindung.“ in Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsstrafrechts II 2007 S. 37. Vgl. Volk Strafrecht gegen Insider? ZHR 142 (1978) 1, 13; Haouache Börsenaufsicht durch Strafrecht, Diss. Frankfurt am Main 1996 S. 75 ff. Vgl. zu diesem „Overkill“ Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsstrafrechts 1998 S. 1 ff. Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsstrafrechts II 2007 S. 28 f. EuGH Urt. v. 23. 12. 2009, Az.: C-45/08.
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3 35
ren mit der Zielsetzung der Prävention. Es wird lediglich in einem kurzen Satz darauf hingewiesen, dass die Unschuldsvermutung gewahrt bleibe, solange diese „Vermutung widerlegbar ist und die Verteidigungsrechte gewahrt bleiben“.29 In Wahrheit handelt es sich hierbei jedoch um eine unzulässige Beweislastumkehr zulasten des Beschuldigten. Elementare strafrechtliche Prinzipien werden hier auf Kosten der Beschuldigten vernachlässigt, um die Durchsetzbarkeit der Sanktionen gegen den Insiderhandel zu erleichtern. Der Gesetzgeber scheint immer mehr durch Strafrecht das Verhalten der Akteure lenken zu wollen, als nur deren Freiheit bestimmte Grenzen zu setzen. § 14 WpHG ist dafür ein typisches Beispiel, da es sich dabei um ein abstraktes Gefährdungsdelikt mit präventiver Ausrichtung handelt. Konkrete Schäden sind für die Kriminalisierung eines Verhaltens nicht mehr ausschlaggebend und die Strafbarkeit wird bereits in das Gefährdungsstadium verlagert.30 Auch der Rechtsgüterschutz kann ein Strafbarkeitserfordernis für Insiderhandel nicht begründen: Ein Vertrauensbruch des Insiders im Verhältnis zu seinem Arbeitgeber – dem Unternehmen – kann nicht zur Rechtfertigung einer strafrechtlichen Sanktionierung des Insiderhandels herangezogen werden, da diese Interessen bereits durch den Schutz von Betriebsgeheimnissen in § 17 UWG und § 404 AktG hinreichend beachtet werden.31 Die Schädigung von „Outsidern“ durch die Teilnahme von Insidern am Wertpapierhandel begegnet den bereits unter IV. erwähnten Bedenken. Auch die Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts kann so nicht geschützt werden, da auf diesem unmöglich eine Chancengleichheit herzustellen ist. Zudem ist doch die eigentliche Aufgabe des Strafrechts, individuelle Schuld zu sanktionieren und nicht ein Marktschutzrecht zu etablieren, das die Funktionsfähigkeit von für die Wirtschaft vermeintlich erforderlichen Subsystemen schützt.
IX.
Insiderwissen und die Wirtschaftskrise
In der weltweiten Wirtschaftskrise hat sich gezeigt, dass nicht die schon immer existierenden Wissensvorsprünge von „Insidern“ die zentrale Schwäche 29 30 31
EuGH Urt. v. 23. 12. 2009, Az.: C-45/08, Rn. 44. Haouache Börsenaufsicht durch Strafrecht, Diss. Frankfurt am Main 1996 S. 74 f. Mennicke Sanktionen gegen Insiderhandel, Diss. Göttingen 1996 S. 112 ff.
336
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der Finanzmärkte ist. Selbst Insider, die von den wirtschaftlichen Problemen bestimmter Unternehmen wussten, konnten die gesamte Dimension der Ereignisse nicht abschätzen. Dadurch wurden die Wertpapiere der betroffenen Unternehmen zu lange gehalten, eine sukzessive Kursanpassung verhindert und ein rapider Kursverfall war die Folge. Hätte es Insider gegeben, die ihre Informationen richtig eingeschätzt und ihren Wissensvorsprung auf den internationalen Märkten verwertet hätten, wäre die rasante Talfahrt der Aktienkurse zumindest abgemildert worden. Zudem drängt sich gerade im Zusammenhang mit der Entstehung der Finanzkrise die Frage auf, ob die breite Öffentlichkeit bekanntgewordene Insiderinformationen richtig bewerten und dementsprechend handeln kann. So haben im Vorfeld der Wirtschaftskrise anerkannte Ökonomen und international tätige Wirtschaftsorganisationen vor den riskanten Geschäften der Banken auf den internationalen Finanzmärkten und den damit verbundenen Gefahren gewarnt.32 Doch Niemand hat diese Aussagen ernst genommen, bis die Finanzwelt durch die Pleiten von „Lehman“ und Co. aufgerüttelt wurde. Kann die Verbreitung von Insiderinformationen den Anleger also wirklich vor dramatischen Kursverlusten schützen? Daran ist zu zweifeln, wenn man den Umgang der Anleger mit Informationen und deren „es wird schon gut gehen“- Mentalität betrachtet. Die Gier nach hohen Gewinnen lässt häufig die Vorsicht vergessen.
X.
Fazit
Dieser Vortrag soll aufzeigen, dass es vielleicht der bessere Weg ist, die Existenz von Insidern zu akzeptieren und deren Wissen zu nutzen. Moral hat bei diesen ökonomisch und rechtspolitisch geprägten Überlegungen außen vor zu bleiben, da diese keine klaren Kriterien für wünschenswertes Marktverhalten aufstellt. Letztendlich geht es doch darum, dass die weltweiten Kurse möglichst genau die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des jeweiligen Unternehmens wiedergeben. Wie so oft landet man bei der unendlichen Diskussion über die Vorteile einer Selbstregulierung der Märkte im Vergleich zu einem Eingriff des Gesetzgebers. Diese ordnungspolitische Diskussion ist gerade in den Zeiten der Finanzkrise topaktuell. 32
Vgl. stellvertretend Artikel auf der Internetseite der Konrad-Adenauer-Stiftung, Warum hat im Vorfeld der Krise niemand die potenzielle Gefahr erkannt? http://www.kas.de/wf/de/71.7071/.
Finanzmarktstabilisierung und Insolvenz
3 37
Finanzmarktstabilisierung und Insolvenz Finanzmarktstabilisierung und Insolvenz Daniel M. Krause
Daniel M. Krause Gliederung 1. Gesetzgeberische Aktivitäten 2. Implikationen der gesetzgeberischen Aktivitäten für das Wirtschaftsstrafrecht a) Späterer Eintritt der (strafbewehrten) Insolvenzantragspflicht b) Sozialisierung des Risikos des weiteren Vermögensverfalls c) Konsequenzen für die strafbare Insolvenzverschleppung (§ 15 a InsO) d) Behandlung von Altfällen e) Konsequenzen für das allgemeine Insolvenzstrafrecht (§§ 283 ff. StGB) 3. Neue Strafvorschriften für die Herbeiführung systemrelevanter Risiken ? Arcandor, Qimonda, Märklin: Mit der relativen Ruhe an der Insolvenzfront ist es vorbei. Nach einem stetigen Rücklauf seit 2004 stiegen Unternehmensinsolvenzen bereits im Jahr 2008 mit ca. 29.000 Fällen leicht an. Die Entwicklung seither ist alarmierend. Allein im ersten Halbjahr 2009 mussten 16.650 Unternehmen einen Insolvenzantrag stellen, ein Zuwachs um 14 %. Schätzungen von Euler Hermes gehen dahin, dass die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Jahr 2009 insgesamt auf ca. 35.000 ansteigen wird, im Jahr 2010 auf knapp 39.000.1 Der volkswirtschaftliche Schaden aufgrund von Insolvenzen belief sich im ersten Halbjahr 2009 auf 20,8 Milliarden Euro, ein Anstieg um 36% gegenüber demselben Zeitraum im Vorjahr. Allein die öffentliche Hand wurde hiervon in Höhe von 6,5 Milliarden Euro belastet.2 Die Gründe für die steigenden Insolvenzzahlen liegen nach wie vor in Finanzierungs- und Liquiditätsengpässen gepaart mit einer sehr schlechten Auftragslage bei den Unternehmen.
1.
Gesetzgeberische Aktivitäten
Der Gesetzgeber hat auf diese sich abzeichnende Entwicklung mit unterschiedlichen Notfalloperationen gleichenden Gesetzen und Verordnungen 1 2
Euler Hermes Insolvenzprognose 2010, S. 3 (Stand Mai 2009). Creditreform Insolvenzen, Neugründungen und Löschungen, 1. Halbjahr 2009, S. 4.
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reagiert und versucht, diese Entwicklung abzuschwächen und insbesondere Kreditinstitute vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch zu schützen. Innerhalb von nur einer Woche hat der Gesetzgeber im Oktober 2008 das Finanzmarktstabilisierungsgesetz3 verabschiedet. Das Gesetz enthält die Einrichtung des Finanzmarktstabilisierungsfonds zur Vornahme von Stützungsmaßnahmen für Kreditinstitute. Darüber hinaus wurden diverse Gesetze geändert, u. a. die gesetzliche Definition der Überschuldung als Insolvenzgrund nach § 19 Abs. 2 InsO. Diese sollte zunächst bis zum 31. 12. 2010 gelten. Im September 2009 hat der Gesetzgeber deren Geltungsdauer bis zum 31. 12. 2013 verlängert.4 Im April 2009 trat das sog. Rettungsübernahmegesetz5 in Kraft. Es ermöglicht Enteignungen bei den sog. systemrelevanten Finanzinstituten. Am 17. 7. 2009 ist schließlich das sog. „Bad-Bank-Gesetz“6 in Kraft getreten. Es ermöglicht Finanzinstituten, sog. bad banks zu gründen, auf diese Risikopositionen zu übertragen und dadurch unter Inanspruchnahme staatlicher Garantien ihre Bilanzen zu entlasten. Für die hier interessierenden Fragen ist dieses Gesetz von untergeordneter Bedeutung.
2.
Implikationen der gesetzgeberischen Aktivitäten für das Wirtschaftsstrafrecht
Welche Implikationen besitzen diese Gesetze für das Wirtschafts- und insbesondere das Insolvenzstrafrecht? In den Materialien der Gesetze werden solche Bezüge nirgendwo hergestellt. Das war auch schon bei der großen Reform des Insolvenzrechts 1999 nicht anders. Man gewinnt den Eindruck, dass das Strafrecht in diesem Bereich eine vom Gesetzgeber unbeachtete Sondermaterie darstellt, die ein gleichsam nachlaufendes Eigenleben führt.
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6
Gesetz vom 17. 10. 2008, BGBl. I S. 1982. Gesetz zur Erleichterung der Sanierung von Unternehmen vom 24. 9. 2009, BGBl. I S. 3151; dazu auch Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, Br-Drs. 16/13980. Gesetz zur Rettung von Unternehmen zur Stabilisierung des Finanzmarktes vom 7. 4. 2009, BGBl. I, S. 725. Gesetz zur Fortentwicklung der Finanzmarktstabilisierung vom 17. 7. 2009, BGBl. I, S. 1980.
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a)
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Späterer Eintritt der (strafbewehrten) Insolvenzantragspflicht
Jedoch ist die Notwendigkeit einer Standortbestimmung im Insolvenzstrafrecht unabweisbar. Insbesondere die Änderung der gesetzlichen Definition des Insolvenzgrundes der Überschuldung, § 19 Abs. 2 InsO, beschwört sie herauf. § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO lautet in der seit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz geltenden Fassung: „Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.“ Neu daran ist, dass die positive Fortführungsprognose die Überschuldung ausschließt und zwar unabhängig von der Vermögenslage des Schuldners.7 Die Änderung gründet auf der Erwartung des Gesetzgebers, dass infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise ein erhebliches Absinken des Wertes von Vermögenspositionen, insbesondere Finanzanlagen und Immobilien, zu erwarten war. Diese Entwicklung hätte bei Fortgeltung des bis zum 17. 10. 2008 geltenden Überschuldungsbegriffs dazu geführt, dass bei Unternehmen mit einer positiven Fortführungsprognose gleichwohl in vielen Fällen die Insolvenz zu beantragen gewesen wäre. Denn nach dem bis zum 17. 10. 2008 geltenden Überschuldungsbegriff spielte die Fortführungsprognose nur bei der Bewertung der Vermögensgegenstände eine Rolle (Fortführungs- versus Zerschlagungswerte). Deckten die Aktiva auch bei Ansatz von Fortführungswerten unter Einschluss der stillen Reserven und des „good will“8 die Verbindlichkeiten nicht ab, so war der Insolvenzgrund der Überschuldung gegeben. Dem beugt die Änderung des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO vor, da eine positive Fortführungsprognose eine Überschuldung nun unabhängig vom Vermögensstand ausschließt.9 Diese Änderung dürfte auch einer Vielzahl von mittelständischen Unternehmen zu gute kommen, die zwar weder in Finanzanlagen noch in Immobilien investiert sind, deren Vermögenslage sich jedoch nach altem Recht nur durch die Aktivierung immaterieller Vermögenswerte, insbe-
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Näher Schmitz wistra 2009, 369, 370 f.; Dahl NZI 2008, 719; Grube/Röhm wistra 2009, 81, 83; K. Schmidt DB 2008, 2467, 2469 f. Näher zur Bestimmung der Überschuldung Holzer ZIP 2008, 2108, 2110 m. N. Schmitz wistra 2009, 369, 371.
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sondere des Firmenwertes, als ausgeglichen darstellen ließ.10 Die sich hieraus ergebenden Unsicherheiten sind nun weggefallen. Ob und inwieweit durch die Gesetzesänderung ein noch gravierenderer Anstieg der Insolvenzen als eingangs erwähnt vermieden worden ist bzw. in Zukunft vermieden werden wird, ist Spekulation. Sicher ist hingegen, dass die Verschiebung auf dem Zeitstrahl die Insolvenzantragspflicht erst erheblich später eintreten lässt. Insoweit besteht verbreitet die Sorge, die Neuregelung könne Missbräuche im Sinn einer zu optimistischen Selbstdarstellung der Unternehmen fördern.11 Diesen entgegen zu wirken, obliegt der zivilgerichtlichen Rechtsprechung. Gesichert ist, dass die Fortführungsprognose auf einem plausiblen und aussagekräftigen Unternehmenskonzept beruhen muss. Gegenstand der Fortführungsprognose ist die objektive Überlebensfähigkeit des Unternehmens. Hierfür ist maßgeblich, ob eine dokumentierte Ertragsund Finanzplanung vorliegt12 und die überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass das Unternehmen mittelfristig Überschüsse erzielen wird, aus denen die gegenwärtigen und zukünftigen Verbindlichkeiten gedeckt werden können. Mit der Änderung verbunden ist eine massive Relativierung des Vermögens als Kriterium für die Insolvenzantragspflicht. Es darf im Übrigen mit Spannung erwartet werden, welche Wege das Verständnis der Fortführungsprognose in einer Zeit wie der unsrigen nehmen wird. Denn die Prognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung haben sich überwiegend als verfehlt erwiesen und die Zeitspannen für verlässliche wirtschaftliche Prognosen werden mit rasanter Geschwindigkeit immer kürzer. Das Insolvenzrecht wird sich dem im Hinblick auf die ihm inhärenten prognostischen Beurteilungen kaum verschließen können.
b)
Sozialisierung des Risikos des weiteren Vermögensverfalls
Unmittelbare Konsequenzen ergeben sich aus alldem für die Gläubiger. Auf sie werden die Risiken der weiteren Vermögensentwicklung des Schuldners verlagert. Gelingt die Fortführung nicht, so geht ein weiteres Abschmelzen der Vermögenswerte während der Fortführungsphase zu ihren Lasten. Frei-
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11 12
Näher zum Überschuldungsstatus nach altem Recht mit Nachweisen Wegner in: Achenbach/Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. (2008), S. 590 ff. Rokas ZinsO 2009, 18 ff. BGH GmbHR 1997, 1145, 1146; DZWiR 2007, 42.
Finanzmarktstabilisierung und Insolvenz
3 41
lich: ihnen kommen auch die Chancen einer Gesundung zugute. Doch haben sie auf diese Entwicklung anders als in der Insolvenz keinen Einfluss und die Perspektive einer geordneten Sanierung im Rahmen eines Insolvenzverfahrens ist ihnen genommen. Auch im Insolvenzrecht führt die Finanzmarktstabilisierung mithin zu einer Sozialisierung der Risiken.
c)
Konsequenzen für die strafbare Insolvenzverschleppung (§ 15 a InsO)
aa) Die Änderung des § 19 Abs. 2 InsO hat zwingende Konsequenzen für den strafrechtlichen Gläubigerschutz gegen Insolvenzverschleppungen nach § 15 a Abs. 4 und 5 InsO. Sie führt zu einer Verkürzung des strafrechtlichen Gläubigerschutzes. Denn insoweit gilt nach ganz überwiegender Auffassung eine strenge Akzessorietät; teilweise wird auch davon gesprochen, dass § 15 a InsO ein Blanketttatbestand sei, der auf die Legaldefinitionen der Insolvenzgründe in der InsO Bezug nehme.13 Dem ist im Ergebnis zuzustimmen: Es kann schwerlich das Unterlassen eines Insolvenzantrages pönalisiert sein, den zu stellen eine zivilrechtliche Verpflichtung nicht besteht.
bb) Damit hat es indes noch nicht sein Bewenden. Denn die Verschiebung der Strafbewehrung der Insolvenzverschleppung stellt auch die Frage nach dem strafwürdigen Kern der Insolvenzverschleppung in Überschuldungsfällen überhaupt. Diese Frage wird drängend im Hinblick auf die Zeit ab 1. 1. 2014, sofern dann tatsächlich der gegenwärtige Überschuldungsbegriff nicht mehr gelten sollte. Denn vieles spricht dafür, dass das Unterlassen eines Insolvenzantrages und die Fortführung eines Unternehmens mit positiver Fortführungsprognose in geordneten unternehmerischen Bahnen die Schwelle strafbaren Unrechts nicht erreicht, sondern vielmehr einen bloßen – möglicherweise auch zu ahndenden – Ordnungsverstoß darstellt. Dies legt insbesondere die vergleichsweise geringe Intensität der Rechtsgutsbeeinträchtigung nahe, die mit einem solchen Verhalten einhergeht. Diese wird daran messbar, dass der Gesetzgeber – mag das auch der besonderen Situation der Finanzkrise geschuldet sein – die Interessen der Gläubiger in derartigen Fäl13
Schmitz wistra 2009, 369, 372.
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len nach aktuell geltendem Recht nicht nur ihres strafrechtlichen Schutzes entkleidet, sondern nicht einmal Schutz durch das Insolvenzrecht gewährt und dadurch die Relativität der Gläubigerinteressen eindrücklich vor Augen führt.
d)
Behandlung von Altfällen
Auch die noch nicht gänzlich geklärte Behandlung von sog. Altfällen steht hiermit in Zusammenhang. Kommt der gegenwärtig geltende Überschuldungsbegriff des § 19 Abs. 2 InsO als milderes Gesetz auch in solchen Fällen zur Anwendung, die zeitlich vor dem 28. 10. 2008 liegen und lässt ggf. eine nach früherem Recht gegebene Strafbarkeit entfallen? Die wohl überwiegende Ansicht in der Literatur vertritt hierzu die Auffassung, dass es sich bei § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO infolge der Befristung um ein Zeitgesetz handelt. Es gelte § 2 Abs. 4 StGB – die Regelung erfasse ausschließlich Taten, die während ihres Geltungszeitraumes begangen werden.14 Ob diesem formalen Ansatz gefolgt werden kann, scheint bereits deshalb zweifelhaft, weil der Gesetzgeber im September 2009, also lange vor Ablauf der ursprünglichen Frist, die Geltungsdauer auf insgesamt über fünf Jahre und damit einen langen Zeitraum verlängert hat.15 Überdies regelt § 2 Abs. 4 StGB lediglich, dass ein milderes (Zeit)Gesetz auch dann noch anzuwenden ist, wenn es nach der Tat außer Kraft getreten ist. Eine rückbezogene Regelung bezüglich in der Vergangenheit liegender Sachverhalte enthält § 2 Abs. 4 StGB nicht.16 Eine (rückwirkende) Geltung von § 19 Abs. 2 InsO für vor dem Inkrafttreten des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes liegende Sachverhalte legt insbesondere der Gesetzeszweck nahe. Denn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes hatten die zu seinem Erlass führenden wirtschaftlichen Entwicklungen bereits seit Mitte 2007 eingesetzt und die Vermögenslage der Unternehmen nachhaltig geschwächt. Es liegt fern, dass der Gesetzgeber die Verantwortlichen bereits zum 28. 10. 2008 überschuldeter Unternehmen für die Zukunft zwar von der Pflicht zur Antragstellung befreien, sie aber für den bis dato unterlassenen Antrag strafrechtlich weiter haften lassen wollte. Das wäre mit Sinn und Zweck des Gesetzes schwerlich zu vereinbaren.
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Dannecker/Hagemeier in: Dannecker/Knierim/Hagemeier, Insolvenzstrafrecht, 2009, S. 29 f.; Adick HRRS 2009, 155, 157. Zum Verlust des Charakters als Zeitgesetz in Fällen langer Geltung BGHSt 6, 39. Zutreffend Schmitz wistra 2009, 369, 372.
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e)
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Konsequenzen für das allgemeine Insolvenzstrafrecht (§§ 283 ff. StGB)
Aus dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz ergeben sich auch bedeutsame Konsequenzen für das allgemeine Insolvenzstrafrecht im 24. Abschnitt des Strafgesetzbuches, insbesondere hinsichtlich des Bankrotts (§ 283 StGB). Diese Thematik ist in der Wissenschaft bislang nicht vertieft erörtert worden; sie drängt indes nach einer Lösung. Wegen Bankrotts macht sich strafbar, wer in der Krise, also u. a. nach eingetretener Überschuldung bestimmte Dispositionen über sein Vermögen vornimmt und dabei gegen die Grundsätze des ordnungsgemäßen Wirtschaftens verstößt. Strafbar sind hiernach in der sog. Krise also beispielsweise unvertretbar riskante Geschäfte, unwirtschaftliche Ausgaben oder das Beiseiteschaffen von Vermögensgegenständen. Der Bankrotttatbestand soll (strafrechtlichen) Gläubigerschutz dadurch gewährleisten, dass der Schuldner in der Krise unter Androhung einer Kriminalstrafe dazu angehalten wird, sein Vermögen im Interesse der Gläubiger zu erhalten und den Regeln der wirtschaftlichen Vernunft widersprechende Vermögensabflüsse zu vermeiden. In dieses Gefüge des allgemeinen strafrechtlichen Gläubigerschutzes diffundiert die Neuregelung des § 19 Abs. 2 InsO in unterschiedlicher Weise hinein.
aa) Dies gilt zunächst für das Krisenmerkmal der Überschuldung. Es erscheint keineswegs zwingend, dass das Verschieben der Insolvenzantragspflicht auf der Zeitachse nach hinten auch auf § 283 Abs. 1 StGB durchwirken müsste. Ginge man von einer solchen Folgewirkung aus, hätte dies zur Konsequenz, dass der Schuldner während der „Fortführungsphase“ in seinen Dispositionen frei bliebe, d. h. keinen (strafbewehrten) Verhaltensanforderungen unterworfen wäre. Er wäre also insbesondere nicht auf die Einhaltung der Regeln ordnungsgemäßer Wirtschaft verpflichtet. Dass der Gesetzgeber diese Konsequenzen bei Änderung des § 19 Abs. 2 InsO vor Augen gehabt hat und herbeiführen wollte, darf bezweifelt werden. Die Literatur ist wohl überwiegend der Ansicht, dass zwischen den Legaldefinitionen der §§ 17–19 InsO und dem strafrechtlichen Krisenbegriff der §§ 283 ff. StGB keine strenge Akzessorietät besteht. Den Legaldefinitionen komme lediglich eine indizielle, jedoch keine bindende Wirkung zu.17 17
Eingehend Achenbach in: Gedächtnisschrift für Schlüchter, S. 257, 263 ff.; Wegner in: Achenbach/Ransiek, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. (2008), S. 584;
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Freilich: Ein eigenständiger strafrechtlicher Krisenbegriff wurde bislang stets ausschließlich bezogen auf einen engeren strafrechtlichen Krisenbegriff erwogen, der die Bankrottstrafbarkeit später hätte eintreten lassen als die Insolvenzantragspflicht. Die nun eingetretene Gesetzeslage wirft die Frage in entgegengesetzter Richtung auf. Denn im Lichte des Normzwecks der Insolvenzdelikte, während der Krise effektiven Gläubigerschutz zu gewährleisten, erscheint es möglich und liegt vielleicht sogar nahe, an einen spezifisch bankrottstrafrechtlichen Überschuldungsbegriff dergestalt zu denken, dass die Fortführungsprognose (wie bis zum Inkrafttreten des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes) im allgemeinen Insolvenzstrafrecht nur darüber entscheidet, welche Bewertung anzuwenden ist. Die Folge wäre: Ein überschuldetes Unternehmen könnte sub spezie Bankrott (§ 283 StGB) in der Krise und damit zu ordnungsgemäßem Wirtschaften verpflichtet sein, ohne dass der Insolvenzgrund der Überschuldung vorläge und Insolvenzantrag gestellt werden müsste. Damit wäre bewirkt, dass der Schuldner während des ihm durch den Gesetzgeber nun zusätzlich eingeräumten Zeitraumes via Strafrecht zu wirtschaftlich vernünftigem Verhalten verpflichtet würde. Eine solche Auslegung favorisierte den Gläubigerschutz und böte eine gewisse Kompensation für die erwähnte Verlagerung der wirtschaftlichen Risiken auf die Gläubiger. Gleichwohl bestehen Zweifel, ob eine derart gravierende Divergenz zwischen der Auslegung des Begriffs Überschuldung im Insolvenzrecht einerseits und im Insolvenzstrafrecht andererseits den verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Normenklarheit und -bestimmtheit noch genügte. Mit einer solchen Auslegung ginge jedenfalls ein tiefgreifender Strukturwandel des Insolvenzstrafrechts einher. Denn es würden Verhaltensweisen im Vorfeld des Insolvenzverfahrens pönalisiert, die bislang straffrei bzw. nur dann strafbar sind, wenn durch sie die Insolvenz gerade ausgelöst wird (§ 283 Abs. 2 StGB).
bb) Die Änderung des § 19 Abs. 2 InsO wirkt im Insolvenzstrafrecht indes noch weiter. Denn geht man – wie die wohl überwiegende Ansicht – von einem eigenständigen wie auch immer gearteten strafrechtlichen Krisenbegriff aus, betreffen die Folgewirkungen der gesetzlichen Änderung auch den im Insolvenzstrafrecht zentralen Verhaltensmaßstab des ordnungsgemäßen Wirtschaftens.18
18
a. A. Bieneck in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. (2006), S. 2140; Reck GmbHR 1999, 267 ff.; unklar BGH v. 19. 4. 2007 – 5 StR 505/06. Eingehend Krause Ordnungsgemäßes Wirtschaften und erlaubtes Risiko, 1995.
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Zu diesem während der Krise eingreifenden Verhaltensmaßstab ist anerkannt, dass er im Lichte der durch den Kriseneintritt begründeten Gefahr für die Gläubigerinteressen auszulegen ist. Dem Schuldner bleiben während der Krise – vereinfacht – nur „gläubigerschonende“ Dispositionen gestattet. Insbesondere risikobehaftete Geschäfte und solche, bei denen dem Schuldnervermögen kein wirtschaftlich gleichwertiger Vermögenswert zufließt, stellen sich als Verstöße gegen die Anforderungen ordnungsgemäßer Wirtschaft dar und sind strafbar. In diese fein austarierte Verknüpfung von Kriseneintritt und gläubigerschonenden (strafbewehrten) Verhaltensanforderungen bricht die gesetzliche Änderung des § 19 Abs. 2 InsO mit einer neuen Kategorie ein. Denn mit der Anerkennung der positiven Fortführungsprognose als Ausschlussgrund für die Insolvenzantragspflicht kommt ein anderes und gerade nicht auf die Gläubigerinteressen ausgerichtetes Verhaltensprogramm ins Spiel, namentlich das des unternehmerischen Handelns. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Basis der Fortführungsprognose der Verhaltensrahmen des unternehmerischen Handelns ist. Dieses wird geprägt durch die Verfolgung unternehmerischer Interessen nach unternehmerischen Entscheidungskriterien, nicht aber durch die Orientierung an der Wahrung von Gläubigerinteressen bzw. durch ein primär gläubigerschonendes Vorgehen. Dass das unternehmerische Handeln mit dem Eingehen von Risiken verbunden und dem Unternehmer dabei ein breites unternehmerisches Ermessen eingeräumt ist, ist in der Rechtsprechung seit langem anerkannt.19 Deshalb bewegen sich beispielsweise auch gewagte Geschäfte und solche, die ohne unmittelbare Gegenleistung bleiben oder gar einen Verlust bringen, noch im Rahmen des unternehmerischen Ermessens. Sie sind unbedenklich, sofern sie sich nicht als in jeder Hinsicht unvertretbar darstellen. Ersichtlich besteht zwischen den dem Gläubigerschutz verpflichteten Anforderungen ordnungsgemäßer Wirtschaft und dem Verhaltensrahmen des unternehmerischen Handelns, auf dem die Fortführungsprognose gründet, nicht nur ein Zielkonflikt, sondern auch ein erheblich divergierender normativer Maßstab. Wie dieser Konflikt im Rahmen der einzelnen Tatbestandsalternativen des § 283 Abs. 1 StGB aufzulösen ist, liegt bislang völlig im Dunkeln. Vieles spricht dafür, im Interesse einer erfolgreichen Fortführung des Unternehmens die strengeren Anforderungen des ordnungsgemäßen Wirtschaftens in Insolvenznähe zu lockern und dem Schuldner in stärkerem Maße ein unternehmerisches Handeln in der Krise zu ermöglichen als bisher. Das 19
Im Einzelnen zu § 266: Fischer StGB, 56. Aufl. (2009), § 266 Rn. 42 m. N.
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gilt beispielsweise für die Entwicklung neuer Produkte oder die Erschließung neuer Geschäftsfelder unter Einsatz des schuldnerischen Vermögens, aber auch bei konzern-internen Cash-Transaktionen. Diese werden beim Bestehen einer positiven Fortführungsprognose anders zu beurteilen sein als bei einer negativen Prognose oder bei eingetretener oder drohender Zahlungsunfähigkeit.
3.
Neue Strafvorschriften für die Herbeiführung systemrelevanter Risiken ?
Die Finanzkrise hat neue Phänomene zutage treten lassen, die vielfach mit dem Begriff „too big to fail“ apostrophiert werden. Auf diese hat der Gesetzgeber durch das Rettungsübernahmegesetz reagiert, das in der Krise bei einem sog. systemrelevanten Finanzinstitut eine Enteignung ermöglicht. Die seinem Erlass zugrunde liegenden Fälle bedeuten die wohl tiefgreifendste Erschütterung des Systems des Insolvenzrechts und damit letztlich auch des Glaubens an eine effektive präventive Kraft des Insolvenzstrafrechts. Das Insolvenzrecht und das Aufsichtsrecht waren nicht imstande, das Phänomen des drohenden Zusammenbruchs systemrelevanter Unternehmen ohne Zusammenbruch des Gesamtsystems und den damit einhergehenden desaströsen Schäden zu lösen. Geschweige denn waren sie in der Lage, diese Entwicklungen zu verhindern. Seit die wirtschaftliche Lage der Hypo Real Estate AG und das Ausmaß ihrer Verpflichtungen zu Tage getreten sind, hat das vermeintliche Rechtsgut der allgemeinen Insolvenzdelikte, namentlich die Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft, eine vollkommen neue Dimension angenommen und an sich erstmals eine eigenständige Bedeutung erlangt. Freilich: das Insolvenzstrafrecht hatte dieser Entwicklung nichts entgegen zu setzen und es unterliegt auch grundlegendem Zweifel, ob das Strafrecht solchen Entwicklungen überhaupt etwas entgegen setzen kann. Es ist aufschlussreich, dass der Gesetzgeber hierauf nicht allein durch die Gewährung absichernder staatlicher Garantien reagiert, sondern auch das Mittel der Enteignung geschaffen hat. Hierbei handelt es sich nur vordergründig um eine Reaktion auf eine aus Sicht des Systems unvertretbare Risikoakkumulation. Bei genauer Betrachtung wird vielmehr weit ab des Strafrechts ein mutmaßlich wirkungsvolles Instrument zur Wiederherstellung von Schieflagen eingeführt, die unmittelbar mit der Bedeutung der Insolvenz im Wirt-
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schaftssystem verknüpft sind. In „normalen“ Zeiten besteht für einen Eigentümer ein Gleichgewicht. Dieses ist dadurch gekennzeichnet, dass er einerseits die Chancen des wirtschaftlichen Erfolges besitzt und diesen für sich vereinnahmen kann, andererseits aber auch die Risiken bis hin zum Totalverlust durch Insolvenz trägt. Wächst ein Unternehmen in eine Größenordnung, bei der sein Zusammenbruch durch das System nicht mehr verkraftet werden kann, ist der Staat um des Systemerhalts willen gezwungen, stützend einzugreifen. Diese Notwendigkeit aber verschiebt das beschriebene Gleichgewicht massiv. Denn der Eigentümer muss seine Dispositionen nicht mehr an der Vermeidung der Insolvenz orientieren, weil diese als reale Perspektive entfällt. Sie wird aus Gründen des Systemerhalts von Staats wegen verhindert. Das Rettungsübernahmegesetz stellt dieses Gleichgewicht wieder her, in dem es für den Eigentümer die Folge der Insolvenz, also den Totalverlust, herbeiführt und dabei gleichzeitig den Erhalt des Systems gewährleistet.20 Auf der gleichen Linie – nur deutlich früher ansetzend – liegen in die Zukunft gerichtete Überlegungen, Finanzinstitute zwangsweise aufzuspalten, wenn deren Zusammenbruch massive Risiken für das Gesamtsystem mit sich bringen würde. Dem Handelsblatt vom 19. 11. 2009 lässt sich entnehmen, dass in den USA ein entsprechender Gesetzentwurf vorliegt. Hiernach soll Finanzinstituten die Pflicht auferlegt werden, in „guten“ Zeiten regelmäßig nachzuweisen, dass sie im Fall ihres Zusammenbruchs kein Systemrisiko darstellen. Kann diese Feststellung nicht (mehr) getroffen werden, soll es der Aufsichtsbehörde möglich sein, die Abspaltung von Unternehmensteilen oder die Verkleinerung durchzusetzen. Dem Vernehmen nach wird auch im Bundesjustizministerium an einem ähnlichen Entwurf gearbeitet. Aus der Perspektive des Strafrechts scheinen derartige auf Ausnahmefälle mit Systemrelevanz beschränkte Instrumente gegenüber der Erfindung neuer, allgemeiner, der Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft vermeintlich dienender und notwendigerweise überaus komplizierter Straftatbestände allemal vorzugswürdig.
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Vgl. näher Wolfers, „Die Marktwirtschaft retten“ in: Handelsblatt Nr. 51, 13./14./ 15. 3. 2009.
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Compliance-Systeme und Vorfeldermittlungen Compliance-Systeme und Vorfeldermittlungen Ralf Neuhaus
Ralf Neuhaus I. Man könnte meinen, es sei eine Binsenweisheit, dass Unternehmen und ihre Organe in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht zu agieren haben, und es deshalb nicht der Einführung eines weiteren Anglizismus in die ohnehin arg unter Anglizismen leidende deutsche Sprache bedürfe. Doch der in der Wirtschaft mittlerweile etablierte Begriff „Compliance“ meint mehr als seine wörtliche Übersetzung1 und auch mehr als nur die „Einhaltung von Regeln“. Compliance steht vielmehr für die Summe der Maßnahmen, durch die ein Unternehmen sicherstellen will, dass die geltenden Regeln, zumal solche mit Gesetzescharakter, erstens eingehalten und zweitens Regelverstöße aufgedeckt werden.2 Aus soziologischem Blickwinkel findet ein solch rechtliches Risikomanagement seinen Grund in einer i. S. v. Luhmann „komplexeren“ Welt, in der zahlreiche klassische Interventionstechniken versagen, ja versagen müssen: Denn bis weit in das vergangene Jahrhundert hinein vollzogen sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen über viele Jahre und Jahrzehnte hinweg, so dass dem Recht und seinen Durchsetzungsmechanismen zumeist ausreichend Zeit blieb, sich dem jeweiligen Wandel anzupassen.3 Doch das hat sich grundlegend geändert. Auch wenn Begriffe wie „Globalisierung“ und „Risikogesellschaft“ mittlerweile abgegriffen erscheinen, so kann doch niemand ernsthaft bestreiten, dass die Welt – auch und gerade die der Wirtschaft – nicht nur tatsächlich, sondern auch rechtlich unübersichtlicher und komplizierter geworden ist. Das gilt namentlich für den Bereich des Strafrechts.4 Gerade im Wirtschaftsstrafrecht wurden in den letzten Jahren vermehrt abstrakte Gefährdungsdelikte zum Schutz vager Kollektivrechtsgüter eingeführt. Kuhlen sieht darin, wie ich meine zu Recht, eine der strafrechtlich bedeut-
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„To comply with“ bedeutet, „die Bedingung efüllen“, „sich in Übereinstimmung mit etwas befinden“. Vgl. etwa Bock ZIS 2009, 68, 68; Greeve, in: FS Arbeitsgemeinschaft Strafrecht DAV 2009 S. 512, 513; Hauschka NJW 2004, 257, 257; Mengel Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 1. Kölbel MSchrKrim 2008, S. 22, 27 f. Für das Ordnungswidrigkeitenrecht gilt nichts anderes.
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samsten Herausforderungen unserer Zeit.5 Jakobs spricht vom Übergang der Strafrechtsgesetzgebung zur Bekämpfungsgesetzgebung. 6 Und: Wie etwa Staatsanwälte oder Strafrichter ggf. die betrieblichen Aufsichtspflichten oder Tatbestände wie Untreue oder Vorteilsgewährung im Einzelfall konkretisieren werden, lässt sich oft auch für den Kundigsten nicht sicher vorhersagen.7 Es kommt hinzu: Die Flut8 neuer und zudem noch weit verstreuter Vorschriften steigert den Grad an Unübersichtlichkeit9 und erhöht die spezifischen Risiken, mag sich auch in der vernetzten Welt eines modernen Wirtschaftsunternehmens die Zurechenbarkeit von Gesetzesverletzungen tendenziell verflüchtigen.10 Das erwähnte, im Vergleich zur Wirtschaft deutlich geringere rechtliche Evolutionstempo und die damit verbundenen gesamtgesellschaftlichen Gefährdungen haben den Gesetzgeber veranlasst, in einigen Bereichen die an sich dem Staat obliegende strafrechtliche Kontrolle durch eine teilprivatisierte Kontrolle zu ersetzen. So schreiben z. B. §§ 9 GWG, 25 a KWG, 33 WpHG den angesprochenen Kredit-, Finanz- und Wertpapierdienstleistungsinstituten für die Ausübung ihrer Tätigkeit vielfältige Kontroll- und Organisationsmaßnahmen vor.11
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Kuhlen in: Eser/Hassemer/Burghardt (Hrsg.) Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende 1999, S. 57, 60 f. Jakobs in: Eser/Hassemer/Burghardt (Hrsg.) Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende 1999, S. 47, 51. Zutr. Kuhlen in: Maschmann (Hrsg.) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 11, 25. Zu dieser Entwicklung ausf. Dannecker in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts 3. Auf. 2008, § 1 Rn. 80 ff.; Grunst/Volk in: Volk (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch – Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen 2006, § 1 Rn. 38 ff. Exemplarisch Brüssow/Petri, Arbeitsstrafrecht 2008 mit Bspr. Neuhaus StraFo 2009, 530. Zutr. Wessing in: FS Volk 2009, S. 867, 869. Als weitere Beispiele seien genannt: § 64 VAG, § 53 BImSchG, §§ 21a bis c WHG, § 5 GPSiG, § 63a AMG, §§ 54, 55 KrWG bzw. AbfG und § 317 Abs. 4 HGB. Fehlt es an solch staatlich angeordneter Treuhänderschaft, so besteht keine Rechtspflicht, Compliance-Stellen einzurichten, denn Unternehmen sind nicht Garanten der staatlichen Rechtspflege; zutr. Kuhlen in: Maschmann (Hrsg. ) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 11, 30. Das schließt allerdings nicht aus, dass den „Compliance-Officer“ eine Garantenpflicht unabhängig davon treffen kann, ob das Unternehmen zur Errichtung einer Compliance-Stelle verpflichtet war oder nicht (vgl. BGH StV 2009, 687 mit Anm. Berndt). Compliance kann also Strafbarkeitsrisiken auch erhöhen. Jedoch ist der „Compliance-Officer“ kein mit öffentlichen Aufgaben betrautes Organ i. S. v. § 11 Abs. 1 Nr. 2 c) StGB.
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In diesem Sinne wirksame Compliance-Systeme wirken quasi bipolar: Einmal zielen sie in die Vergangenheit im Sinne eines reaktiven und konkreten Tätigwerdens. In strafprozessualer Diktion: Es geht um mögliche Eingriffe in Mitarbeiterrechte aufgrund von Verdacht. Zum anderen zielen sie in die Zukunft im Sinne eines prospektiven und generellen Tätigwerdens. Man könnte von Vorfeldermittlungen sprechen oder, in kriminalpolitischer Diktion, von „vorbeugender Bekämpfung von Straftaten“.12 Es geht um mögliche Eingriffe in Mitarbeiterrechte zur Abwehr und Verhütung von Gefahren, also um, wenn man es so nennen will, Gefahrerforschungseingriffe. Diese Vorkehrungen (teil-)privater Selbstkontrolle weisen aber geradezu notwendigerweise eine relative Schwäche rechtsstaatlicher Garantien auf, weil sie durch die realen oder vermeintlichen Interessen des Unternehmens direkt beeinflusst sind: Das Unternehmensinteresse bestimmt nämlich im Grundsatz, wie deliktsaufklärende und –vorbeugende Interventionen ausgestaltet werden und wem gegenüber sie durchsetzungsfähig sind.13 Infolge der Vorgänge bei LIDL,14 der TELEKOM15 und der DEUTSCHEN BAHN16 fasst nun aber allmählich der Gedanke Fuß, dass durch Compliance-Maßnahmen selbst gesetzliche Vorschriften verletzt werden können und sich Gesetzesverletzungen in diesem Zusammenhang keinesfalls mit Hinweisen auf Eigentumsschutz und Korruptionsbekämpfung rechtfertigen lassen, Compliance-Maßnahmen also ihrerseits „compliant“ sein müssen.17 Der repressiv ausgerichtete Teil 12
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Hoppe Vorfeldermittlungen im Spannungsverhältnis von Rechtsstaat und der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, S. 27. Kölbel MSchrKrim 2008, S. 22, 33 f. Zum Unternehmensinteresse zwischen Recht, Ökonomie und Ethik beeindruckend Salditt in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.) Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechliche und ethische Schranken 2009, S. 106 ff. Von LIDL beauftragte Detektive zeichneten in zahlreichen Filialen das Verhalten der Arbeitnehmer mit verdeckten Kameras und Mikrofonen auf; DIE ZEIT v. 29. 5. 2008. Telefonverbindungen, namentlich von Aufsichträten und Journalisten wurden systematisch aufgezeichnet und ausgewertet. TELEKOM-Chef Renè Obermann hat inzwischen eingeräumt, dass der Konzern 2005 und teilweise auch 2006 TelefonVerbindungsdaten missbräuchlich benutzt habe (ZEIT ONLINE v. 29. 5. 2008). In einer monströsen Bespitzelungsaktion wurden zum Zwecke der Korruptionsbekämpfung über Jahre hinweg heimlich die Personen- und Kontendaten von mehr als 170000 Mitarbeitern untersucht. Das berichteten die Sonderermittler Gerhard Baum und Herta Däubler-Gmelin, die vom Aufsichtsrat eingesetzt worden waren. Vier Vorstände mussten gehen, dazu der oberste Korruptionsbekämpfer Wolfgang Schaupensteiner; vgl. etwa ZEIT ONLINE v. 18. 4. 2009 sowie vom 14. 4. 2009. So pointiert Maschmann in: Maschmann (Hrsg. ) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 7, 9; vgl. auch Knierim StV 2009, 324, 325.
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von Compliance Systemen ist an sich nicht mein Thema. Ich werde aber aufgrund eines Wunsches der Veranstalter am Ende mit einigen Bemerkungen kurz auch auf dieses Thema zu sprechen kommen. II. Thema ist aber der präventiv ausgerichtete Teil von Compliance Systemen, nämlich der, den man, betriebe ihn der Staat, Vorfeldermittlugen nennen würde. Darunter vesteht man bekanntlich Informationserhebungsmaßnahmen, die der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten dienen.18 Kriminalpolitischer Grund für die Schaffung dieses Instrumentariums war, dass man es für geeignet und erforderlich hielt, um den gesamtgesellschaftlichen Gefahren zu begegnen, die von der sog. Organisierten Kriminalität ausgehen. Obwohl die Drohung mangels kriminalistischer Erforschung diffus war, wirkte sie doch als Angstmacher von hohen Graden wie ein Sesam-öffneDich für das Arsenal obrigkeitlicher Eingriffe im Namen von Gefahren- und Verbrechensaufklärung.19 Wir erinnern uns alle daran. Bei den bislang existierenden staatlichen Maßnahmen zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten handelt es sich ausnahmslos um Maßnahmen der Datenverarbeitung, nämlich Datenerhebung, -speicherung, -nutzung sowie – übermittlung und des Datenabgleichs.20 Im Wesentlichen geht es um verdeckt durchgeführte Maßnahmen, also um die Sammlung von Informationen, die gerade nicht auf der freiwilligen Auskunfterteilung der Betroffenen beruhen.21 18
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Hoppe Vorfeldermittlungen im Spannungsverhältnis von Rechtsstaat und der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, S. 27. Die Bekämpfung von Straftaten erfolgt insofern „vorbeugend“, als nicht mehr an das Vorliegen einer konkreten Gefahr oder eines Anfangsverdachts im Sinne der StPO angeknüpft wird. Die Eingriffssschwelle wird vielmehr zeitlich vorverlagert. Auf diese Weise wird das „Vorfeld“ der Gefahr bzw. des Verdachts zum Bereich staatlichen Handelns. Hassemer StV 1993, 664, 664; Neuhaus in: FG der Zeitschrift für die Anwaltspraxis zum 20jährigen Bestehen 2009, S. 54, 54. Hoppe Vorfeldermittlungen im Spannungsverhältnis von Rechtsstaat und der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, S. 26. Hoppe Vorfeldermittlungen im Spannungsverhältnis von Rechtsstaat und der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, S. 181. Im älteren Schrifttum wurden solche Vorfeldermittlungen aus rechtsstaatlichen Gründen für unzulässig gehalten (vgl. etwa Amelung/Schall JuS 1975, 569 ff.; Evers Privatsphäre und Ämter für Verfassungsschutz 1960, S. 70). Ausgangspunkt dieser Auffassung ist nicht nur das klassische Verständnis einer strikten Kompetenzverteilung zwischen den Behörden der Strafverfolgung, der Gefahrenabwehr und des Verfassungsschutzes, sondern auch der herkömmliche enge Gefahrenbegriff, dem im Gegensatz zum „modernen“ erweiterten Gefahrenbegriff nicht die These von der „Prädominanz der Präven-
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Ich will deshalb mein Augenmerk auf die unternehmensinternen heimlichen Überwachungsmaßnahmen zur Verhinderung von Straftaten richten, also die heimliche E-Mail- und Video-Kontrolle. Die sicherlich wichtigste Grenze für Kontrollmaßnahmen zieht das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das nicht nur vor permanater staatlicher Überwachung bewahrt, sondern auch vor unrechtmäßigen Kontrollen durch Private.22 Wann also ist private heimliche Kontrolle rechtmäßig? Insofern sind arbeits-, telekommunikations- und datenschutzrechtliche Vorschriften zu beachten. Die Klärung der damit zusammenhängenden Fragen ist wiederum für das Strafrecht bedeutsam. Schließlich stellt sich zusätzlich das Problem, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen staatlicher Befugnisse zu
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tion“ zugrunde liegt. Auch die Redlichkeitsvermutung des Grundgesetzes und die Unschuldsvermutung der Menschenrechtskonvention stünden, so die ablehnende Fraktion, der Möglichkeit von Ausforschungsbefugnissen im Vorfeld von Gefahr und Verdacht zwingend entgegen. Kurz: Die Freiheit des Bürgers, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, solange er nicht die Rechte anderer stört, stelle eine unüberwindliche verfassungsrechtliche Vorgabe dar. Das Bundesverfassungsgericht hat dieser Auffassung indessen eine Absage erteilt, indem es den jahrzehntelangen Streit auch um die materielle Verfassungsmäßigkeit von § 81b, 2. Alt. StPO durch seine Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des molekulargenetischen Gegenstücks der Regelung, also des § 81g StPO, der Sache nach mitentschied. Die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten ist demnach verfassungsrechtlich zulässig (BVerfG NJW 2001, 879, 880). Doch unterliegen staatliche Vorfeldermittlungen, wie alle staatlichen Maßnahmen, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie müssen daher zur Erreichung des Zieles („Gefahrerforschung“) geeignet, erforderlich und angemessen sein. Während Eignung und Erforderlichkeit von der wohl h. M. für weitestgehend unproblematisch gehalten werden, setzen die Bedenken auch der grundsätzlichen Befürworter von Vorfeldermittlungen bei der Angemessenheit ein. Weil das Vorfeld von Verdacht und Gefahr im Grunde nicht definierbar sei, fänden Vorfeldmaßnahmen aus ihrer begrifflichen Bestimmung heraus keine Grenzen. Außerdem drohten erhebliche Grundrechtsbeeinträchtigungen durch verdeckte Informationserhebungen im Vorfeld von Verdacht und Gefahr unterschiedslos jedermann. Das sind gewichtige Bedenken, und nicht zuletzt deshalb bedarf es klarer Kompensationen. Im Bereich staatlicher Vorfeldermittlungen sehen die Kompensationen so aus, dass zum einen die betroffenen Tatbestände begrenzt werden. Es ist davon die Rede, dass es nur um die Bekämpfung von „Straftaten mit erheblicher Bedeutung“ geht. Zum anderen erfolgt eine inhaltliche Einschränkung der Daten, die erhoben werden dürfen. Daten, die das Privatleben betreffen, sind demnach grds. tabu. Die Wirkung des Grundrechts beschränkt sich unter Privatpersonen auf dessen mittelbare Ausstrahlungen; näher zur mittelbaren Grundrechtsbindung Schnapp/Kaltenborn JuS 2000, 937, 939 ff. Zur Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Arbeitsrecht vgl. etwa BAG NZA 2008, 1187, 1189 f.
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Vorfeldermittlungen, namentlich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auf präventive Compliance-Maßnahmen durchschlagen.
1.
Mitbestimmungsrechtliche Aspekte der heimlichen Video-Kontrolle und Internetnutzung
Zentrale Frage des kollektiven Arbeitsrechts ist die der Mitbestimmung. Bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen, ergibt sich das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG. Die Videoüberwachung, gleichviel ob offen oder verdeckt, gilt insoweit als Paradefall.23 Bei der Kontrolle des E-Mail-Verkehrs bzw. der Nutzung des Internets durch die Mitarbeiter gilt nichts anderes: Spätestens mit der Installation einer Software, die dem Arbeitgeber die Überwachung seiner Arbeitnehmer ermöglicht, ist § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG betroffen.24 Auch wenn mit der Einrichtung beispielsweise der betriebliche Wertpapierhandel oder bestimmte Konten exponierter Mitarbeiter von Finanzdienstleistungsunternehmen automatisiert überwacht werden, besteht ein Mitbestimmungsrecht.25 Die Beachtung dieser betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen ist für den Arbeitgeber nicht nur deshalb von Interesse, weil ihre Missachtung zur Unverwertbarkeit der Erkenntnisse jedenfalls im arbeitsgerichtlichen Verfahren führen kann,26 sondern auch aus strafrechtlichen Gründen. Denn es liegt keinesfalls fern, das in den einschlägigen Tatbeständen (Ausspähen bzw. Abfangen von Daten gem. §§ 202 a, 202 b StGB und Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses gem. § 206 StGB) enthaltene Merkmal des „unbefugt(en)“ Agierens auch von der Einhaltung betriebsverfassungsrechtlicher Vorschriften abhängig zu machen.
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BAG NZA 2003, 1193; 2004, 1278 jew. m. w. N. Mengel Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 81. Vgl. etwa Borgmann NZA 2003, 352, 356. Maschmann in: Maschmann (Hrsg. ) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 149, 160 m. w. N.
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2.
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Die spezifischen Rechtsprobleme der heimlichen Kontrolle der Internetnutzung
Die heimliche Kontrolle der Internetnutzung durch den Arbeitgeber wirft höchst schwierige Fragen auf, jedenfalls dann, wenn der Arbeitgeber die private Nutzung des dienstlichen E-Mail-Accounts erlaubt. Denn dann wird er nach zurzeit noch h. M. Telekommunikationsanbieter,27 weil nach § 3 Nr. 6 TKG jeder, der geschäftsmäßig solche Dienste erbringt, zum Anbieter wird; und geschäftsmäßig handelt schon, wer derartige Dienste (nachhaltig) für Dritte anbietet.28 Auf die beim Arbeitgeber bei erlaubter Nutzung fehlende Gewinnerzielungsabsicht kommt es dieser – wie gesagt: herrschenden – Ansicht nach nicht an, weil kostenlose Dienste ebenfalls dem TKG unterliegen.29 Es mehren sich jedoch die Stimmen, die diese Wandlung des Arbeitgebers zum „Anbieter für Telekommunikationsdienste“ ablehnen: Insoweit werden systematische Argumente ins Feld geführt, vor allem wird bestritten, dass Arbeitnehmer „Dritte“ i. S. d. TKG seien.30 Die zukünftige Entwicklung der Auffassungen zu dieser Frage, namentlich die der Rechtsprechung, ist jedoch ungewiss. Die Verantwortlichen sind deshalb heute gut beraten, wenn sie davon ausgehen, dass der Arbeitgeber im Verhältnis zum Arbeitnehmer jedenfalls dann an das Fernmeldegeheimnis gem. § 88 TKG gebunden ist, wenn er die private Nutzung des dienstlichen E-Mail-Accounts erlaubt hat. Die zwingende Folge dieser Ansicht: Der Anwendungsbereich des § 206 StGB ist eröffnet. Die heimliche Überwachung kommt daher, wenn überhaupt, nur bei unerlaubter Internetnutzung in Betracht. Aber auch insoweit bestehen Grenzen, namentlich datenschutzrechtliche. Um zunächst eines klarzustellen: Das Verbot der Privatnutzung als solches ist mitbestimmungsfrei. Es leuchtet ein, dass der Arbeitgeber selbstständig über die Nutzung der Betriebsmittel entscheiden darf.31 Mitbestimmungspflichtig ist also, wie erwähnt, nur die Einführung und Anwendung der technischen 27
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Barton CR 2003, 839, 840; Dann/Gastell NJW 2008, 2945, 2946; Mengel BB 2004, 2014, 2016; Rodewald in: Maschmann (Hrsg.) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 31, 42; Vehslage AnwBl. 2001, 123, 124. Maschmann in: Maschmann (Hrsg. ) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 149, 163. Busse in: Besgen/Prinz (Hrsg.) Neue Medien und Arbeitsrecht 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 19 f. m. w. N. Hausmann/Krets NZA 2005, 259, 260 f.; vgl. auch Gramlich RDV 2001, 123, 124; Schimmelpfennig/Wenning DB 2006, 2290, 2293. Mengel Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 102.
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Kontrolleinrichtung. Besteht ein Verbot, im praktischen Alltag finden sich insoweit Klauseln wie „Die private Nutzung betrieblicher Kommunikationsmittel ist untersagt“, darf der Arbeitgeber die E-Mails grundsätzlich lesen, gleichviel, ob es sich um aus- oder eigehende Mails handelt.32 Eine Ausnahme gilt jedoch insbesondere für den E-Mail-Verkehr von Betriebsräten. Diese können sich zwar nicht auf § 203 StGB berufen, unterliegen aber der Schweigepflicht, wenn Arbeitnehmer sie zu ihrer Unterstützung in den vom Betriebsverfassungsgesetz vorgesehenen Fällen (§§ 82 Abs. 2 S. 3, 83 Abs. 1 S. 3 BetrVG) kontaktieren.33 Das den anderen Mitarbeitern gegenüber bestehende Recht auf heimliche Kontrolle bedeutet allerdings nicht ein Recht zu einer automatisierten Vollkontrolle. Denn diese würde gegen die hier anwendbaren34 datenschutzrechtlichen Gebote der Datenvermeidung und Datensparsamkeit verstoßen. Der Arbeitgeber ist also gem. § 3 a BDSG auf Stichproben beschränkt.35
3.
Die spezifischen Rechtsprobleme der heimlichen Videokontrolle
Die Videoüberwachung von Arbeitnehmern greift in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein, genauer: in das Recht am eigenen Bild. Zur heimlichen Überwachung, gleichviel, ob sie sich auf öffentlich zugängliche Räume – entscheidend ist hier die tatsächliche Nutzungmöglichkeit durch die Allgemeinheit – oder auf nicht öffentlich zugängliche Räume bezieht, wird die Auffassung vertreten, dass sie stets unzulässig sei.36 Die Vertreter dieser Auffassung bedienen sich eines argumentum a minore ad maius. Denn es ist anerkannt, dass für öffentlich zugängliche Räume eine Kennzeichnungspflicht besteht. Dann aber müsse dies erst recht für Räume ohne Publikumsverkehr zutreffen, denn die verdeckte Videokontrolle sei eingriffsintensiver als das offene Fil32
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Busse in: Besgen/Prinz (Hrsg.) Neue Medien und Arbeitsrecht 2. Aufl. 2009, § 10 Rn. 42. Maschmann in: Maschmann (Hrsg.) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 149, 162. Die automatisierte Datenverarbeitung durch natürliche oder juristische Personen des Privatrechts unterliegt nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BDSG den Regeln im ersten und dritten Abschnitt des BDSG. Maschmann in: Maschmann (Hrsg.) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 149, 162. Bayreuther NZA 2005, 1038, 1039; wohl auch Däubler NZA 2001, 874, 878.
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men. Die Rechtsprechung ist dieser Auffassung nicht gefolgt, wie ich meine, zu Recht, denn ohne heimliche Videoüberwachung wäre der Arbeitgeber weitestgehend schutzlos gestellt. Denn es liegt in der Natur der Sache, dass man heimlich begangenen Verfehlungen nur mit heimlichen Kontrollmaßnahmen beikommen kann.37 Aber es gelten verschärfte Anforderungen. Heimliche Aufnahmen sind nämlich nach der obergerichtlichen Rechtsprechung nur zulässig, wenn erstens der konkrete Verdacht einer strafbaren Handlung besteht, zweitens weniger einschneidende Maßnahmen, wie etwa die offene Videoüberwachung, entweder keinen Erfolg versprechen oder ausgeschöpft sind, man denke z. B. an Testkäufe, und drittens die verdeckte Videoüberwachung insgesamt nicht unverhältnismäßig ist.38 Unangemessen ist sie jedenfalls dann nicht, wenn sie allein den räumlichen Bereich, auf den sich der Verdacht erstreckt, betrifft und sie zeitlich begrenzt durchgeführt wird. Allerdings gilt auch hier: Der Intimbereich ist tabu.39 Man sieht: Heimliche Videographierung darf nicht wahllos erfolgen. Es bedarf vor allem eines Verdachts. Kurzum: Verdachts- oder gefahrenunabhängige Vorfeldermittlungen mögen dem Staat erlaubt sein. Ein Unternehmen darf sich solcher Mittel nicht bedienen. Dem entspricht es, dass Arbeitnehmer in der Praxis wohl nur sehr selten und erst recht nicht systematisch kontrolliert werden. So lehnen denn Rechtsprechung und die herrschende Lehre permanente Überprüfungen, womöglich allein aus Gründen der Abschreckung, entschieden ab.40 III. Zum Schluss noch einige Anmerkungen zur gleichsam repressiven Seite von Compliance-Maßnahmen, also den internen Ermittlungen. Die Problematik ist spätestens im Zusammenhang mit der Schmiergeldaffäre bei SIEMENS41 ins Bewusstsein gerückt, nachdem der Konzern eine us-amerikanische Anwaltskanzlei beauftragte, 42 die „breit angelegt und konse37
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Zutr. Maschmann in: Maschmann (Hrsg.) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 149, 158. BAG NZA 2003, 1193, 1194; 2008, 1187, 1189 ff.; Mengel Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 199. Maschmann in: Maschmann (Hrsg.) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 149, 159. Maschmann in: Maschmann (Hrsg.) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009, S. 149, 149 m. w. N. Beispielhaft BGHSt 52, 323 = StV 2009, 21 mit Anm. Rönnau StV 2009, 246 = NStZ 2009, 151 mit Anm. Knauer sowie Bspr.-Aufsatz Brüning/Wimmer ZIS 2009, 94; vgl. auch Wegner PStR 2008, 225; Gaede/Salinger HRRS 2008, 57 und Rönnau in: FS Tiedemann 2008, S. 713. Zur Motivation, namentlich der Rolle der U. S. Securities and Exchange Comission (SEC) vgl. Bittmann/Molkenbuhr wistra 2009, 373, 373 f., Hart-Hönig in: FS Arbeitsge-
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quent“43 Licht ins Dunkel bringen soll. Zu diesem Zweck finden „Interviews“ genannte Arbeitnehmerbefragungen statt. Es liegt auf der Hand, dass und welche unterschiedlichen Interessen hier aufeinander prallen; nur kurz: Interne Aufklärungsmaßnahmen unterliegen jedenfalls unmittelbar keiner Bindung an eine Verfahrensordnung, namentlich der StPO. Es gibt daher auch keine dem § 160 Abs. 2 StPO entsprechende Pflicht zur Objektivität. Es besteht, wie Thomas Knierim vor einigen Monaten in diesen Räumen zutreffend schilderte, in besonderem Maße die Gefahr von Nötigungen, erpressten und gekauften Geständnissen, von Mobbing und dergleichen.44 Ist es erst einmal soweit, dass externe Anwälte eingeschaltet worden sind, werden sie im Wissen darüber, dass die Staatsanwaltschaften halbherzige Ermittlungen nicht akzeptieren, nachdrücklich auf eine schonungslose Aufklärung der fraglichen Vorgänge im Unternehmen drängen. Allein diesem Anliegen verpflichtet, nehmen sie, was naheliegt, auf arbeits- und strafrechtliche Konsequenzen, die den jeweiligen Arbeitnehmer treffen könnten, nicht ohne Weiteres Rücksicht.45 1. Die Belehrungspflichten aus § 136 Abs. 1 S. 2 StPO gelten jedenfalls nicht unmittelbar, denn die unternehmensinterne Befragung stellt keine Vernehmung im Rechtssinne dar.46 Eine entsprechende Anwendung dürfte voraussetzen, dass es sich bei den internen Ermittlungen um quasi-staatliche handelt. Dafür sprechen gerade im konkreten Fall zwar gute Gründe, denn SIEMENS unterliegt den Regeln der Wertpapieraufsicht der U. S. Securities and Exchange Comission (SEC) und SIEMENS musste sich verpflichten, die im Auftrag des Unternehmens ermittelnden Anwälte gegenüber der SEC von
43
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45 46
meinschaft Strafrecht DAV 2009, S. 530, 531 ff.; Jahn StV 2009, 41, 41 f.; Wastl/Litzka/ Pusch NStZ 2009, 68, 68 f.; Wehnert in: FS E. Müller 2008; S. 729, 733 ff. Zum ungesicherten Zusammenhang zwischen Compliance-Kultur und Börsenwert eines Unternehmens vgl. Kölbel MSchrKrim 2009, 22, 29 und 35 m. w. N. So der neue Vorsitzende des Aufsichtsrats Gerd Cromme in einem Statement auf der Hauptversammlung am 25. 1. 2007 (zitiert nach Jahn StV 2009, 41, 42). Cromme gilt als „Saubermann“, weil er der Corporate-Governance-Kommission vorsitzt. Dieses Gremium, das 2001 von der Schröder-Regierung installiert wurde, befasst sich mit guter Unternehmensführung und Anstand in der Wirtschaft. Knierim auf dem 6. STRAFVERTEIDIGER-Symposion am 6./7. 2. 2009 an selber Stelle; vgl. StV 2009, 324, 325. So richtig Wessing in: FS Arbeitsgemeinschaft Strafrecht DAV 2009), S. 907, 925. Nach BGHSt 40, 211, 213 liegt nur dann eine Vernehmung vor, wenn der Befragende der Auskunftsperson in amtlicher Funktion gegenübertritt und in dieser Eigenschaft Auskunft verlangt; zu dieser Entscheidung vgl. auch Gollwitzer JR 1995, 469; Schlüchter/Radbruch NStZ 1995, 354; Sternberg-Lieben JZ 1995, 841; wider den formalen Vernehmungsbegriff ausf. Neuhaus KR 1995, 787 ff.
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der Schweigepflicht zu entbinden.47 Dennoch kann von einem allgemeinen Konsens i. d. S., dass belehrt werden muss, keineswegs gesprochen werden; im Gegenteil. Die überwiegende Auffassung geht dahin, dass eine den Anforderungen des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO entsprechende Belehrung nicht zwingend zu erfolgen habe. Die Belehrung wird lediglich unter Hinweis auf einen allgemeinen Fairnessgedanken empfohlen. 48 Des Weiteren: Die externen anwaltlichen Ermittler wurden vom Unternehmen beauftragt, so dass der befragte Mitarbeiter nicht etwa durch eine ihm gegenüber bestehende Schweigepflicht geschützt wird. Revisionsberichte oder Protokolle von Anhörungen unterliegen h. M. nach keinem Beschlagnahmeschutz. Aus diesem Grunde ist es in Wirtschaftsstrafverfahren üblich, dass sich die staatlichen Ermittler an die Revisionsabteilung der betroffenen Unternehmen wenden und die Vorlage und Herausgabe aller relevanten Berichte zum Ermittlungsgegenstand verlangen.49 Die wesentliche Frage ist also, gilt der Nemo-tenetur-Grundsatz auch im Privatrecht? Die h. M. lehnt das ab. Zumeist stellt sie dabei auf § 666 BGB ab. Diese Vorschrift gilt zwar direkt nur für den Auftrag, findet aber über § 675 BGB auf alle entgeltlichen Geschäftsbesorgungsverträge Anwendung, und damit h. M. nach auch auf den Arbeitsvertrag. Nebenpflicht eines Besorgers fremder Geschäfte ist es danach, dem Geschäftsherrn die erforderlichen Nachrichten zu geben, auf Verlangen über den Stand des Geschäfts Auskunft zu erteilen und nach der Ausführung des Auftrages Rechenschaft abzulegen.50 Doch es ist nicht recht einsehbar, warum der Beschuldigte in einem gegen ihn betriebenen Strafverfahren schweigen darf, nicht aber in einem dieselben Tatsachen betreffenden Zivilverfahren, obgleich die konkrete Möglichkeit besteht, dass gerade aufgrund dieser Aussage im Zivilverfahren später ein Straf47 48
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Ausf. z. B. Wastl/Litzka/Pusch NStZ 2009, 68, 70 f. Bittmann/Molkenbuhr wistra 2009, 373, 377; Wessing in: FS Arbeitsgemeinschaft Strafrecht DAV 2009), S. 907, 925; Wybitull DB 2009, 606, 610; a. A. Wastl/Litzka/ Pusch NStZ 2009, 68, 70 f.; sie gehen von einem Schweigerecht und einer korrespondierenden Belehrungspflicht aus. Wessing in: FS Arbeitsgemeinschaft Strafrecht DAV 2009), S. 907, 921 ff. m. w. N. Göpfert/Merten/Siegrist NJW 2008, 1703, 1704; Mengel/Ulrich NZA 2006, 240, 243. Die Anerkennung eines Auskunftsanspruches bedeutet aber noch nicht, dass eine arbeitsrechtliche Pflicht besteht, auch an den Interviews externer Anwälte mitzuwirken. Denn der Auskunftsanspruch wurzelt im persönlichen Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer; so Jahn StV 2009, 40, 45 unter Hinweis auf BGHZ 107, 104, 110. Gegen ihn Bittmann/Molkenbuhr wistra 2009, 373, 376, die der Ansicht sind, der persönliche Auskunftsanspruch könne gem. §§ 241 Abs. 2, 242 BGB an die externen Ermittler übertragen werden.
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verfahren eingeleitet wird – in dem er dann schweigen darf. Wenn es jedoch richtig ist, dass der Nemo-tenetur-Grundsatz seine Grundlage im Menschenwürdeprinzip findet,51 dann muss auch der Arbeitgeber den Arbeitnehmer entsprechend § 136 Abs. 1 S. 2 StPO bei repressiv motivierten Verhören belehren, und die Nicht-Kooperation, also die Ausübung des Schweigerechts, darf dann auch nicht sanktioniert werden. Andernfalls würden auch die zivilrechtlichen Beweislastregeln faktisch außer Kraft gesetzt. Man denke an § 619 a BGB, der die Beweislast in bewusster Abkehr von der allgemeinen Regel des § 280 Abs. 1 BGB dem Arbeitgeber auferlegt. Gäbe es eine unbedingte Antwortpflicht, dann könnte bereits jede Nicht-Kooperation mit der für den Arbeitnehmer empfindlichsten Sanktion belegt werden, nämlich einer verhaltensbedingten Kündigung, weil beharrlich gegen eine Auskunftspflicht verstoßen wurde. Diese zwangsläufige Konsequenz wäre unverhältnismäßig und wird, worauf Frank Maschmann, Direktor des Instituts für Unternehmensrecht der Uni Mannheim kürzlich richtig hinwies, auch in vergleichbaren Fällen nicht gezogen.52 So steht z. B. Rechtsanwälten in Aufsichtsverfahren ihrer Kammern ein Auskunftsverweigerungsrecht gem. § 56 Abs. 1 S. 2 BRAO zu. Und schließlich: Kooperiert der Arbeitnehmer trotz tatsachengestützter Verdachtsmomente nicht, bleibt es dem Arbeitgeber unbenommen, Polizei und Staatsanwaltschaft einzuschalten, die nach den Regeln der StPO zu agieren haben. Außerdem, und hier knüpfe ich an meine Ausführungen am Anfang meines Vortrages an, kann der Arbeitgeber dann versuchen, sich auf anderem Wege als durch Aussage seines Arbeitnehmers Informationen zu beschaffen. Denn besteht ein Verdacht, dann darf er unter grundsätzlicher Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verdeckte Videoaufnahmen betreiben oder den Internetgebrauch kontrollieren. 2. Geht man hingegen von einer Auskunftspflicht des befragten Mitarbeiters aus, kann und muss man über ein strafprozessuales Beweisverwertungsverbot in analoger Anwendung von § 97 Abs. 1 S. 3 InsO nachdenken. Die Regelung in der InsO geht dahin, dass der Gemeinschuldner gegenüber seinen Gläubigern offenbaren muss, wo sich verwertbares Eigentum befindet, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob er mit dem Beiseiteschaffen eine Insolvenzstraftat begangen hat (§ 97 Abs. 1 S. 2 InsO). Zu dieser Aussage kann er sogar mit Zwangsmitteln angehalten werden. Allerdings darf das, was er hierbei offenbart, in einem späteren Verfahren nicht gegen ihn verwendet werden. § 97 51 52
BGHSt 38, 214, 220. Darauf weist Maschmann in: Maschmann (Hrsg.) Corporate Compliance und Arbeitsrecht 2009), S. 149, 174 zutreffend hin.
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Abs. 1 S. 3 InsO ordnet hier ein absolutes Beweisverwertungsverbot an.53 Die entsprechende Anwendung könnte sich mit der Überlegung rechtfertigen lassen, dass § 97 Abs. 1 S. 3 InsO seine verfassungsechtliche Wurzel im allgemeinen Persönlichkeitsrecht findet, wie es das BVerfG in der bekannten Gemeinschuldner-Entscheidung54 konkretisiert hat.55 Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Aus der Wortwahl „verwenden“ in § 97 Abs. 1 InsO statt „verwerten“ im alten § 100 KO ergibt sich eindeutig, dass nach dem Willen des Gesetzgebers auch solche Tatsachen nicht verwertet werden dürfen, zu denen die Auskunft den Weg gewiesen hat; LG Stuttgart wistra 2000, 439 mit Anm. Richter. Nicht vom Beweisverwertungs- und Verwendungsverbot des § 97 InsO umfasst sind Geschäftsunterlagen, zu deren Führung eine gesetzliche Verpflichtung besteht, die Handelsbücher und Bilanzen. Zum Verwendungsverbot nach § 97 I InsO vgl. auch Hefendehl wistra 2003, 1 ff. BVerfG StV 1981, 213 mit Bspr.-Aufsatz Streck StV 1981, 362 ff. I. d. S. auch Bittmann/Molkenbuhr wistra 2009, 373, 378.
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Die Grenzen von Strafrecht und Moral
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Banker an die Laterne? Die Grenzen von Strafrecht und Moral Die Grenzen von Strafrecht und Moral Rainer Hank
Rainer Hank Gliederung I. Wo sind die Verantwortlichen? II. Warum das Strafrecht überfordert ist und instrumentalisiert wird a. Das Strafrecht ist gegenüber Marktrisiken blind b. Das Strafrecht eignet sich zur Verantwortungsdelegation c. Das Strafrecht schützt vor Ursachenforschung III. Warum auch die Moral überschätzt wird IV. Literatur
I. Der Film zur Finanzkrise, darauf hat der Tübinger Philosoph Chris Paret hingewiesen, ist nicht etwa Tom Tykwers Thriller über eine böse Bank („The International“), schon gar nicht Michael Moores unsäglicher „Kapitalismus. Eine Liebesgeschichte“, sondern die furiose Tragikomödie „Burn after reading“ (2008) mit George Clooney, Brad Pitt und Tilda Swinton. Die Diskrepanz zwischen einem Shakespeareschen Ende (die meisten Akteure sind tot) und der Tatsache, dass keine einzige Figur auftritt, die diese Katastrophe verantwortet, ist die verstörende Stärke dieses Films. Systematisch wird der Zuschauer um das individuelle Drama betrogen: Alles ist aus dem Lot, wir halten dauernd Ausschau nach Schuldigen – und was sehen wir: „Keine Bösewichte, lauter Wichte“ (Chris Paret). Am Ende wissen wir gar nichts, nur, dass sich „so etwas nicht mehr wiederholen darf.“ Haben wir nicht alle in der Finanzkrise dieselbe Erfahrung gemacht? Alles war „too big“ oder „too interconnected to fail.“ Dann kam das große Versagen. Aber die Schuldigen scheinen sich längst aus dem Staub gemacht zu haben. Wer ist es gewesen? Waren es die (besonders gern genommenen) Banker, waren es die Ratingagenturen, waren es die Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten oder waren es die Notenbanken, die versagt haben? Am Ende wollte es
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keiner gewesen sein. Waren deshalb womöglich alle schuld? Dann wäre neben „Burn after reading“ auch Agatha Christies „Mord im Orientexpress“ ein geeignetes Vorbild. Alle stecken unter einer Decke; alle hatten sie ein Motiv: Den amerikanische Staat trieb das sozialpolitische Ziel, jedermann ein Eigenheim zu ermöglichen („Ownership-Society“); private Banken entledigten sich ihrer Verantwortung, indem sie die Kreditforderungen zur Gänze verkauften; deutsche Staatsbanken witterten darin das große Geschäft, weil sie in ihrem angestammten Feld nur noch kleine Geschäfte machen konnten. Und die Anleger freuten sich über jeden Prozentpunkt höherer Rendite. Sie alle haben die Risiken ihres Handelns falsch eingeschätzt. Und das Finanzsystem krachte zusammen. Der Befund ist für Bürger eines liberalen Rechtsstaates schwer auszuhalten, ist es ihnen doch gerade nicht gestattet, „das System“ zum Sündenbock der Krise zu machen. Sei es Marktversagen, sei es Systemversagen: Es muss Verantwortliche geben. Immer sind es Menschen, die „versagen“, nie ein Abstraktum. Die Finanzkrise war kein „Tsunami“, auch wenn Bankenaufseher Jochen Sanio das Bild gerne verwendet hat. Doch Tsunamis macht die Natur, Finanzkrisen werden von Menschen gemacht, die Fehler begangen haben. Wollen wir uns also auf die nächste Finanzkrise besser vorbereiten, gilt es, individuelle Verantwortung klarer auszuweisen und Haftung zu stärken: Wer Risiken eingeht, sollte dafür auch gerade stehen. Es ist ein schwerer Fehler, dass dieser tragende Grundsatz der Marktwirtschaft, welchen die Gründerväter der Freiburger Schule des Ordo- oder Neoliberalismus uns eingeschärft haben, außer Mode gekommen ist. „Beschränkte“ Haftung ist zwar einerseits die Bedingung der Möglichkeit unternehmerischen Handels, birgt indessen stets die Gefahr, Risiken exzessiv einzugehen – denn den Schaden haben im Zweifel ja die anderen. Das darf sich nicht wiederholen. Die Erwartung, am Ende werde der Staat es schon richten, hat dazu geführt, dass es der Staat am Ende tatsächlich richten musste: Ein solcher Fall sich selbsterfüllender Prophezeiung sollte künftig verhindert werden. Eine Neujustierung des Grundsatzes wirtschaftlicher Haftung als Ausdruck von Gerechtigkeit ist freilich eine Sache des Zivilrechtes.
II. Die Öffentlichkeit hat sich die Sache längst einfach gemacht und die Finanzkrise an das Strafrecht überwiesen. Danach sind es die Banker, gerne auch
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„Boni-Banker“ genannt, die sich nicht nur falsch verhalten haben, sondern auch Schuld (im moralischen und im strafrechtlichen Sinn) auf sich geladen haben und jetzt vor den Richter gehören. Schützenhilfe bekommt die öffentliche Meinung zunehmend von Staatsanwälten, die mit dem beliebten Untreueparagraphen 266 im StGB ein geeignetes Vermögensdelikt gefunden zu haben glauben, um der Finanzkrise beizukommen. „Untreue“ ist die Wunderwaffe der Justiz, welche die Anwälte auch schon im Mannesmannprozess zur Anwendung brachten. Mit dem Vorwurf der Untreue wird unter anderem gegen die Ex-Chefs von IKB, BayernLB und LBBW ermittelt. Allemal wird den CEOs vorgeworfen, ihrer Pflicht zur Vermögensbetreuung nicht nachgekommen zu sein und stattdessen das Vermögen (oder Teile davon) ihres Instituts vernichtet zu haben. Aus prinzipiellen Erwägungen heraus – so stellt sich mir das Fazit dieser wichtigen Tagung dar – ist es äußerst fraglich, ob das Strafrecht zur Aufarbeitung der Finanzkrise taugt. Nicht fraglich, sondern längst gewiss ist indessen, dass die strafrechtliche Ermittlung einigen Akteuren als Ablenkungs- oder Entschuldungsmanöver gelegen kommt. Für diese Behauptungen seien einige Indizien genannt:
a. Das Strafrecht ist systematisch blind für Marktprozesse und die Natur von Marktrisiken. Nehmen wir das Beispiel LBBW. Dort werfen die Staatsanwälte den Ex-Vorständen vor, seit Ende 2006 pflichtwidrig Investitionen in dreistelliger Millionenhöhe in „hochriskante Finanzgeschäfte“ getätigt zu haben. Sie seien dabei ein „unkalkulierbares Risiko“ eingegangen. Mit diesem Verdacht aber könnte gegen alle Banker dieser Welt ermittelt werden. Denn es gehört zum Geschäftsmodell der Banken, Risiken einzugehen und möglicherweise zu scheitern. Und zum Risiko gehört schon rein begrifflich die Eigenschaft, schwer kalkulierbar zu sein. Oder an welcher Stelle geht das kalkulierbare in das unkalkulierbare Risiko über? Bankern das Hantieren mit unkalkulierbaren Risiken vorzuwerfen ist ungefähr so, als wollte man Fleischern das Töten von Tieren zu Last legen. Die Fehleinschätzung von Risiken war ja gerade der Kern, welcher die Krise ausgelöst hat. Im Nachhinein ist offenkundig, dass die Akteure diese Risiken besser nicht eingegangen wären, benötigte doch die LBBL eine Fünf-Milliarden-Euro-Kapitalspritze und einen Rettungsschirm von zwölf Milliarden. Und im Nachhinein ist auch nicht zu bezweifeln, dass die BayernLB mit 1,6 Milliarden Euro deutlich zuviel Geld
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für die Hypo Alpe Adria gezahlt hat. Denn heute ist man froh, den Laden für einen Euro an die Österreicher zu verscherbeln. Zu damaligen boomenden Entscheidungszeitpunkten hatte „der Markt“ – die Ratinagenturen, die Wirtschaftsprüfer, die sogenannten „Finanzmarktexperten“ etc. – aber andere Preisvorstellungen, über die sich die Vertragspartner offenbar im freien Austausch verständigt haben. Sie mögen kollektiv verblendet gewesen zu sein. Aber waren sie individuell schuld? Ganz offensichtlich hat das Strafrecht (wie auch ein großer Teil der Öffentlichkeit) keinen Begriff für die subjektive Theorie der Preise. Für das Strafgesetzbuch hat eine Bank oder ein Wertpapier einen objektiven Wert, festgestellt von Wirtschaftsprüfern und Due-Dillgence-Experten, an dem gemessen ein Käufer zu viel oder zu wenig zahlt. Dass Preise und ihr Kollateral (die Banken oder die Immobilien oder was auch immer) einer zyklisch sich wandelnden subjektiven Einschätzung unterliegen könnten, ist dem Strafrecht wesensfremd. Die subjektive Theorie der Preise weiß hingegen, dass es unerheblich ist für den Preis, wie viel „Substanz“, „Kapital“, Arbeit oder sonstige Herstellungskosten in einem Gut oder einer Dienstleistung stecken. Entscheidend ist einzig und allein, was das Gut oder die Dienstleistung den Menschen wert ist. Dass es unterschiedliche Präferenzen und Einschätzungen gibt, dass diese im Lauf der Zeit sich wandeln, ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass Tausch überhaupt zustande komm: Es sind somit subjektive Wertzuordnungen für ein und dasselbe Gut, die den Tausch erst attraktiv machen und die Diskrepanz zwischen dem Gesamtnutzen vor und nach dem Tausch hervorbringen. Das ist der Treiber aller Märkte. „Welche Güter knapp sind oder welche Dinge Güter sind, oder wie knapp oder wie wertvoll sie sind, dass ist gerade einer der Umstände, die der Wettbewerb entdecken soll“, schreibt Friedrich von Hayek in seinem Klassiker über den „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“. In der subjektiven Theorie der Preise kann man sich somit unter „Untreue“ herzlich wenig vorstellen. Denn „Untreue“ setzt ja gerade eine juristische Person mit „objektivem Wert“ voraus, der von bösen Subjekten gemindert und geplündert werden kann. In Wirklichkeit reicht es völlig aus, dass ein „Deal“ gemäß rechtsstaatlichen Regeln zustande kommt, mithin Vertragsfreiheit und Privateigentum respektiert wurden. Über den Preis einigen sich die Vertragspartner in freien Verhandlungen. Das ist dann der „richtige“, wenn man so will, sogar der „gerechte“ Preis. Vollkommende Transparenz der Vertragspartner ist im Übrigen ebenfalls nicht erforderlich, gehört es doch gerade zum Wesen von Marktprozessen, dass die Akteure über unterschiedliche Informationen ver-
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fügen, die sie für ihre Tauschentscheidungen zugrunde legen und nutzen und weshalb der eine sich für Kauf, der andere für Verkauf entscheidet. Wenn es aber stimmt, dass die menschliche Natur dem steten Wechsel von Übertreibung und Untertreibung unterliegt, dann werden Güter eben auch kollektiv im Lauf dieses Zyklus als „zu wertvoll“ oder „zu wertlos“ über den Tresen geschoben. Verführerisch ist nämlich stets, dass in Zeiten hoher Risikoneigung die großzügige Vergabe von Krediten auch die Preise an den Gütermärkten steigen lässt, mithin auch der Wert des Pfandes (Kollateral) wächst, was wiederum die Sorge vor einem Ausfall des Kredits mindert und das Risiko „kalkulierbar“ erscheinen lässt. Es ist auch hier eine selbsterfüllende Prophetie, die die menschliche Neigung nährt: Die Sorglosigkeit besorgt sich ihren Grund schon selbst. Zumindest so lange, wie es gut geht. Erst wenn der Markt sich dreht (psychologisch gesprochen: Unsicherheit in die Welt hinein rieselt), ändern sich die Einschätzungen. Dann muss der Wert des Pfandes abgeschrieben werden und Kredite werden faul, weil die Sicherheiten nicht mehr in Relation zum Verschuldungsgrad stehen. Im Nachhinein erscheint das Verhalten in der Vergangenheit dann nur noch als Unvernunft. Warum sich an einem bestimmten Punkt der Zyklus von boom zu bust wendet, dies zu ergründen, ist eine der Hauptherausforderungen der Finanzkrisenursachenanalyse und auch noch nicht ansatzweise geleistet. Eines freilich ist gewiss: Staatsanwälte und Strafverteidiger braucht es dafür nicht. Derselbe Münchner Staatsanwalt, der der BayernLB vorwirft, 2007 die Hypo Group Alpe Adria zu teuer gekauft zu haben (in Österreich dachte man damals, die Bank sei „unter Preis“ verscherbelt worden, und das Land Kärnten richtete deshalb einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein), sollte vorsichtshalber jetzt schon ermitteln, ob die Bank jetzt (auch noch unter dem Druck der Krise) womöglich zu billig veräußert wurde. Spätestens, wenn Österreich die Bank in ein paar Jahren mit Gewinn verkauft, wird er „seinen Beweis“ dafür erhalten, dass jener jetzt gezahlte eine Euro den Untreuesachverhalt des StGB erfüllt. Dann müssen abermals ein paar Ex-Vorstände vor Gericht. Nun ist natürlich auch das Strafrecht nicht so dumm, ex post Schuld feststellen zu wollen. Man müsste den Tätern zumindest einen Vorsatz zur Schädigung zum damaligen Zeitpunkt nachweisen können. Oder man müsste beweisen, dass sie damals schon Informationen über den „wahren“ Preis hatten, von welchem sie wissentlich abgewichen sind. Doch genau dies wird schwer gelingen: Denn woher sollten die Banker dieses Geheimwissen haben, wenn die zeitgenössischen Marktteilnehmer (Rating, Prüfer etc.) es nicht hatten? Wenn Staatsanwälte meinen, es gäbe dieses Wissen, dann sollen sie künftig
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selbst den Job machen. Sie verdienen dann auf jeden Fall besser. Mehr noch: Warum sollten Banker Geld veruntreut haben, eine Straftat, aus der sie dann aber keinen subjektiven Nutzen zu ziehen wussten. Was hätten sie davon gehabt? Persönliche Bereicherung – was ein guter Grund wäre – wird ihnen in keinem Fall vorgeworfen.
b. Wenngleich das Strafrecht zur Aufarbeitung der Finanzkrise nicht taugt, so ist doch nicht zu unübersehen, dass es vielen Beteiligten nützt, das Strafrecht ins Spiel zu bringen. Am ehesten den Eigentümern, die die eigene Verantwortung für Aufsicht und Kontrolle überspielen und die Schuld an die ExVorstände delegieren wollen. Das Spiel kann für sie nur einen guten Ausgang haben. Denn entweder kommt das Gericht zu einem Schuldspruch des operativen Personals. Dann sind die Kontrolleure fein raus und können sagen, gegen kriminelle Energie sei kein Kraut gewachsen. Oder es kommt nicht zum Schuldspruch. Dann sind sie erst recht fein raus, denn dann sind auch die Kontrolleure mit entschuldigt. Es ist gewiss kein Zufall, dass sich die meisten bisherigen strafrechtlichen Ermittlungen in Deutschland auf Landesbanken, also auf Staatsunternehmen kaprizieren. Hier gehört es mittlerweile zum Allgemeinwissen, dass diese Institute nach dem Wegfall von Gewährträgerhaftung und Anstaltslast sich auf Geheiß ihrer Eigentümer (Länder und Sparkassen) noch einmal mit Kapital vollgesogen und dieses renditeträchtig angelegt haben (CDO, MBA etc.) Weil im „Kerngeschäft“ mit Sparkassen für die Eigentümer zu wenig heraus sprang, wurden die Top-Manager in riskante und größenwahnsinnige Abenteuer getrieben, die diese gewiss gerne unternahmen. Die strafrechtliche Fokussierung auf Ex-Manager kann somit ablenken vom fehlenden Geschäftsmodell der Landesbanken und macht aus dem strukturellen Landesbankdesaster eine Frage individueller Schuld. Man muss dann schon nicht zugeben, dass Landesbanken selbst „überflüssig sind wie ein Kropf“ (Wernhard Möschel). Mit anderen Worten: Die staatlichen Eigentümer der Landesbanken haben von den bei ihnen angestellten Bankern genau jene Geschäfte gefordert, die sie ihnen heute zur Last legen. Die Politik macht sich auf diese Weise gemein mit dem gesunden Volksempfinden. Das bringt öffentliche Anerkennung: Banker sind denkbar schlecht angesehen. Politiker erheischen Zustimmung für ihre „schonungslose“ Aufklärung und lenken zugleich von der eigenen (nicht strafrechtlich fassbaren)
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Verantwortung ab. Das Strafrecht wird dann instrumentalisiert, ist nicht mehr Ultima Ratio, sondern Ausdruck des Ressentiments. Dabei ist es zwar nicht strafrechtlich, jedoch politökonomisch durchaus angebracht zu sagen, die Politik haben die Steuern der Bürger „veruntreut“ und zuviel Geld ausgegeben: den Allmachtsträumen der Politiker war das riskante Engagement den hohen Preis offenbar wert. Insofern ist die subjektive Preistheorie bestätigt. Aber war das auch im Sinne der Präferenzen der Bürger? Was haben sie davon? Sie haben jetzt vor allem den Schaden. Dem finanzpolitischen Größenwahn deutscher Landespolitiker (jedes Land hat eine eigene Landesbank, die global operieren „muss“) rückt man besser mit der Principal-AgentTheorie als mit dem Strafrecht zuleibe: Die Politiker als Agenten des Principals „Bürger“ haben ihre eigenen Interessen verfolgt – auf Kosten der Bürger. Und der Bürger musste zahlen. Einen Tatbestand der „Haushaltsuntreue“, mit dem man gegen Politiker vorgehen könnte, kennt das Gesetz nicht. Will der Bürger solches Verhalten bestrafen, ist die Wahlurne dafür der angemessene Ort und nicht der Gerichtssaal (oder der Laternenpfahl). Die Frage ist allerdings, ob er eine Partei findet, die mit seinem Portemonnaie schonender umgeht.
c. Die Überweisung der Krisenbewältigung an das Strafrecht lenkt ab von der Notwendigkeit, die Finanzkrise zu analysieren und zu verstehen. Nicht nur die Strafrechtler, sondern auch die Ökonomen sollten sich das nicht gefallen lassen. Wer (vermeintlich) Schuldige gefunden hat, braucht schon nicht mehr nach Ursachen zu fahnden. Das ist fatal und begünstigt die Gefahr, dass wir das nächste Mal genau so unvorbereitet in die nächste Krise schlittern wie zuletzt. Es nährt die Illusion, dass, wenn die individuell Schuldigen („schwarze Schafe“) dingfest gemacht wurden, die Aufarbeitungstruppe ihre Schuldigkeit getan hat. „This Time is different“ (Kenneth Rogoff/Carmen Reinhart) rufen sie danach alle wieder munter und merken nicht, wie sehr sie dem Gesetz der ewigen Wiederkehr des Gleichen unterliegen.
III. Bekommt man also womöglich die Finanzkrise besser mit der Moral als mit dem Strafrecht zu fassen? So denken viele und fordern ein neues Wertebe-
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wusstsein, den „ehrbaren Kaufmann“, ein Zurück zu „Maß und Mitte“ und vieles mehr, um die Gier zu bezähmen und die Exzesse auszumerzen. Ich bin auch hier skeptisch. Die Herausbildung der sogenannten Wirtschaftsethik (die meist nicht viel mehr als Gesinnungsethik ist), ist ihrerseits Resultat der Verengung der Ökonomie. Sie ist, wie der Schweizer Publizist Roger Köppel schreibt, das traurige Produkt einer geistigen Verarmung der Wirtschaftswissenschaften. In dem Maße, wie sich die Ökonomie zu einer Art Unterabteilung der Mathematik entwickelte mit all ihrer irregeleiteten Modellund Formelgläubigkeit, ging an den Universitäten ein Bewusstsein für die Grundfragen marktwirtschaftlicher Ordnungen verloren. Als Surrogat trat die Wirtschaftsethik auf den Plan: gut gemeint, aber selten hilfreich. Denn es ist menschlich, Fehler zu machen, Risiken falsch einzuschätzen, mal zu großzügig, mal zu ängstlich zu sein. „Animal spirits“ nannte John Maynard Keynes diese Triebe der Unter- oder Übertreibung. Ist das Schuld? Nein, weder moralisch, noch strafrechtlich. Es ist die Conditio Humana. Das freilich heißt nicht, dass es unser Schicksal ist, die Conditio Humana fatalistisch anzuerkennen. Seit der schottischen Aufklärung wissen wir, dass die Marktwirtschaft selbst ein ethisches System ist, welches seinen Teilnehmer bestimmte Regeln, Fähigkeiten und Orientierungen abverlangt. In ihnen verwirklichen sich entscheidende Forderungen des westlichen Wertekanons: Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, aber auch Empathie, die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und ihren Bedürfnissen zu entsprechen (Roger Köppel). Weil die Regeln der Marktwirtschaft selbst ethischen Standards entsprechen, braucht der Markt keine von außen kommende Wirtschaftsethik. Die Marktwirtschaft befeuert nicht die Gier, sondern sie setzt ihr Grenzen. Wo der Wettbewerb funktioniert, hat jedermann die Chance, am Markt zu reüssieren. Das ist nicht nur ein ökonomisches Prinzip der Effizienz, es ist auch ein moralisches Prinzip der Fairness, welches Egoismus zulässt und in Altruismus wendet (Adam Smith und das berühmte Beispiel des Bäckers). Weil wir also die Unberechenbarkeit der Animal Spirits kennen, kommt den Menschen zugleich die Freiheit zu, diese Triebe zu kontrollieren und ihnen nicht zügellosen Lauf zu lassen. Das ist der Vorteil einer reflexiven, nicht fest gestellten Natur des Menschen, welche fähig ist zur Selbstdisziplin. Weil Odysseus seine Verführbarkeit kannte, hat er sich die Ohren mit Wachs verstopft. Er hat nicht die Reise abgeblasen: List ist erfolgreicher als Risikoscheu. Übertragen auf die Märkte heißt dies: Akteure sind in der Lage, das institutionelle Design der Märkte so zu ändern, dass dieses die Animal Spirits dis-
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zipliniert. Die nächste Krise wird dann zwar nicht verhindert, aber sie wird milder und nicht vergleichbar schockartig auftreten. Hoffentlich: „Market Design“ darf zwar nicht als Engineering missverstanden und überschätzt werden. Es bietet jedoch die Chance, Rahmenbedingungen so zu setzen, dass die übertriebene Risikoneigung begrenzt wird. Dazu nur wenige Beispiele: Wo Haftungsregeln ernst genommen werden (s. o.) lässt die Neigung zu verantwortungslosem Handeln (moral hazard) nach. Wo Eigenkapitalanforderungen für Finanzinstitute als Gegengewicht zur Kreditvergabe verpflichtend sind, werden Übertreibungen und Risikoexzesse zu teuer. Und wenn Ratingagenturen künftig im Auftrag und auf Rechnung des Kunden und nicht im Auftrag der Finanzindustrie handeln, werden sie die Interessen des Anlegers vertreten. Allerdings müssen dann auch die Anleger dafür die Kosten zu übernehmen bereit sein. Und: Keine Welt ist gefeit vor Regulierungsarbitrage, Akteuren also, die das noch so gute Design unterlaufen. Das alles ist besser als Wirtschaftsethik oder Strafrecht. Denn Märkte, deren Design einer freiheitlichen Ordnung Ausdruck verleihen, sind gerade nicht auf den moralisch guten Menschen angewiesen. In einer guten Ordnung kann auch der schlechte Mensch keinen Schaden anrichten, wie der schottische Aufklärer Adam Ferguson wusste: Marktwirtschaft, schreibt er, sei jenes Arrangement „under which bad men can do least harm“.
IV. Literatur: Akerlof, George A./Shiller, Robert J. Animal Spirits. Wie die Wirtschaft wirklich funktioniert. Frankfurt (2009). Hank, Rainer Der amerikanische Virus. Wie verhindern wir den nächsten Crash? München (2009). Köppel, Roger Wirtschaftsethik ist das traurige Nebenprodukt einer geistigen Verarmung der Wirtschaftswissenschaften, Weltwoche 16/2009 (14. 4. 2009). Reinhart, Carmen M. und Rogoff, Kenneth S. This Time is different. Eight Centuries of Financial Folly, Princeton (2009).
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Die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral Die Finanzkrise, das Wirtschaftsstrafrecht und die Moral Lorenz Schulz
Lorenz Schulz Die Finanzkrise und das Strafrecht – Positionen und Perspektiven. Eine Nachlese der Diskussion. I. Das vom Institute for Law and Finance der Goethe Universität Frankfurt/Main in Fortsetzung der Vorjahrestagung veranstaltete Symposion versammelte wieder zahlreiche Fachleute aus Wirtschaft und Recht, insbesondere Strafrecht. Moderiert wurde es von Klaus Lüderssen, Eberhard Kempf und Klaus Volk. Die von den Letztgenannten begründete Initiative „Economics, Criminal Law, and Ethics“ (ECLE), aus der diese Tagungen hervorgegangen sind, verbindet die Begriffe Ökonomie, Strafrecht und Ethik.1 Der im Akronym von ECLE enthaltene Vorrang der Ökonomie enthält noch keine programmatische Festlegung. Über einige, auf diesen drei Feldern beobachtbare, einer Bewertung vorgängige Ausgangspunkte dürfte man allerdings leicht Einigkeit erzielen: – Die in den letzten Jahrzehnten bereits weitgehende Ökonomisierung von Gesellschaft und Kultur erreicht inzwischen durch die eminente Dynamik der Globalisierung ein Ausmaß, das nicht leicht zu begreifen ist. – Ebenfalls seit einigen Jahrzehnten expandiert das Strafrecht, das Wirtschaftsstrafrecht eingeschlossen.2 Darin liegt ein globales Phänomen, mag die Ausweitung des Normenbestands in einzelnen Ländern auch variieren bis hin zu Extremen wie im Vereinigten Königreich, wo unter Tony Blair tausende von Straftatbeständen geschaffen wurden.
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Vgl. dazu Lüderssen S. 211 ff. Für das deutsche Wirtschaftsstrafrecht vgl. den Überblick bei Lüderssen Regulierung, Selbstregulierung und Wirtschaftsstrafrecht, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hrsg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, 241, 250 ff.
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– Schließlich scheint nicht nur der Stellenwert des Ethos gewachsen zu sein, sondern auch des Ethischen, mit dem im Gegensatz zum Ethos grenzüberschreitende Universalität einhergeht. Das bezeugt beispielsweise der Umstand, dass eine Vorstandsvergütung längst nicht mehr ausschließlich ökonomisch und länderspezifisch, sondern auch ethisch diskutiert wird. Das spiegelt sich im gewachsenen Bewusstsein dafür, dass sich eine Gesellschaft über Strukturen der Verantwortung normativ verständigt. Das gewachsene Bewusstsein dafür ist der gegenwärtigen Finanzkrise geschuldet, die eine Wiederaufnahme elementarer Fragen der Verteilungsgerechtigkeit bis hin zu einer bereits für obsolet gehaltenen Kapitalismuskritik bewirkt hat. Das zeigt im Detail nicht nur die genannte Diskussion um eine faire Managervergütung, das zeigen im größeren Zusammenhang die unter dem Stichwort Compliance geführte Diskussion um dynamisierte Formen der Rechtstreue und im Großen schließlich das weltweit zunehmende Streben nach einer verstärkten Regulierung der Finanzmärkte.3 Dass sich die Finanzkrise seit der Tagung im November 2009 zur Wirtschafts- und zuletzt sogar zur Staatenkrise ausgewachsen hat, verleiht den Ergebnissen der Tagung besondere Bedeutung. Die Diskussion während der Tagung schloss zunächst an die Vorträge an und war im Wesentlichen mit zwei Fragekomplexen befasst: 1. Die Finanzkrise und ihr Verständnis („Ökonomische Grundlagen des Wirtschaftsstrafrechts im Wandel“) 2. Die strafrechtlichen Reaktionen („Untreue. Altes und Neues“/ „Neue betriebswirtschaftliche Phänomene und Wirtschaftsstrafrecht“) Zunächst war es der Gegenstand der Tagung, die Finanzkrise, mit der dem Ökonomischen eine überragende Bedeutung zukam. Für die Diskussion war indes ein epistemischer Vorrang des Ökonomischen noch bestimmender. Es zeigte sich schnell, dass das wirtschaftswissenschaftliche Verständnis der Krise eine Vorentscheidung dafür liefert, wie das Recht und namentlich das weithin akzessorische Wirtschaftstrafrecht auf diese reagiert. Das führte für den Verlauf der Diskussion zu Überschneidungen. Sie legen es nahe, die Diskussion nicht schlicht chronologisch, sondern zugleich problemorientiert nachzuzeichnen. Auf der Vorgängertagung hatte Hassemer ein einprägsames Bild von der Rolle des Strafrechts eingeführt, das damals immer wieder erwähnt und auch bei 3
Zum Überblick über die Vorschläge s. Lüderssen, [Zwischenbilanz] S. 211 ff., [nach Fn. 53].
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der Nachfolgetagung aufgegriffen wurde. Demnach soll das Strafrecht nicht als Schiedsrichter, sondern als Linienrichter fungieren.4 Wie schon damals in der Diskussion angemerkt wurde, ist das Bild nicht nur hilfreich, sondern auch klärungsbedürftig.5 Zieht man es neuerlich heran, dann lässt der subkutan bestehende epistemische Vorrang ein Szenario zu, das im Fußball gemeinhin nicht vorkommt. Demnach fragt sich der Schiedsrichter nicht, ob das Handeln eines Spielers ein Foul ist, sondern hegt Zweifel über die Definition eines Fouls. Das ist zumindest irritierend für einen Linienrichter, der ansonsten von einer unzweifelhaften Systemvernunft ausgehen darf, über die er nach Hassemer nicht zu befinden hat.6 Die Irritation, die durch interdisziplinäre Bezüge zwischen dem Begreifen des Subsystems Wirtschaft und des Rechts (hier: der strafrechtlichen Reaktionen) ausgelöst werden kann, wird in systemtheoretischer Perspektive beschwichtigt. Das ist berechtigt für den Normalfall. Die Frage, ob dies auch für den Krisenfall gilt, kann hier nur gestellt, nicht beantwortet werden. Festzuhalten ist jedenfalls, dass sich bei der Bestimmung des Standorts des Wirtschaftsstrafrechts im Kontext von Wirtschaft und Ethik interdisziplinäre und die Teilgebiete des Rechts betreffende, für den zweiten Tagungsteil charakteristische intradisziplinäre Fragen überlagern.
II. Dies wurde, nach den einführenden Beiträgen von Wandt, Beer und Lüderssen, bereits mit dem ersten, von den Veranstaltern mit Recht an den Beginn gelegten Vortrag von Vaubel deutlich. Wenn die Krise, wie darin und wie es nachfolgend in der Diskussion von Vaubel vehement verteidigt wurde, „nur“ dem menschlichen Versagen in einer intakten Marktwirtschaft geschuldet, mithin ein nicht absehbarer Betriebsunfall des Systems Markt war, so wären damit für eine individual-strafrechtliche Zurechnung von Schäden spezifische und im Ergebnis engste Grenzen abgesteckt. Das veranschaulicht Vaubels Vergleich mit einem vom Piloten verschuldeten Flugzeugabsturz, bei dem der Pilot den Schaden naturgemäß nicht will und zu vermeiden versucht. Seine Haftung kann, mit anderen Worten, nur auf Fahrlässigkeit beruhen. Vaubels in der 4
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Hassemer Die Basis des Wirtschaftsstrafrechts, in: Kempf/Lüderssen/Volk (Hg.), Die Handlungsfreiheit des Unternehmers – wirtschaftliche Perspektiven, strafrechtliche und ethische Schranken, 2009, 29 ff., 40. Kriminalpolitische Optionen (Diskussionsbericht von Trendelenburg), aaO. 222 (Beitrag Kayser). Hassemer aaO. 33 f.
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Diskussion wiederholter Vergleich der Krise mit dem Hochwasser der Elbe von 2002 demonstriert es noch mehr: Kein Bürgermeister müsse wegen Unerheblichkeit der Eintrittswahrscheinlichkeit dafür haften, dass sich ein Deich als zu niedrig erweist. Es wäre der Fall eines Tatumstandsirrtums nach § 16 StGB. Demnach ließe sich die Krise auf ein schlichtes Marktversagen und nicht auf das Verhalten individueller Personen zurückführen. Alle Akteure des Marktes hätten die Risiken am Finanzmarkt gleichermaßen unterschätzt, das Risikoverhalten der Bankmanager sei auch nicht durch erfolgsbezogene Boni verzerrt worden. Im Ergebnis hätte das von anderen „Kasino-Kapitalismus“ genannte System der beschränkten Haftung nicht strukturell zur Eingehung überhöhter Risiken beigetragen. Ausgehend von Vaubels These, bliebe dem Strafrecht allenfalls die Rolle eines Linienrichters, der nur dann die Fahne hisst, wenn der Ball die Grenzen des Spielfelds überschreitet oder eine Abseitslinie missachtet wird. Demnach wäre bereits das Aufnehmen eines Ermittlungsverfahrens in besonderem Maß begründungspflichtig, wie es durchaus dem klassischen Programm des Tatverdachts entspricht, das allerdings durch vage Tatbestände wie dem der Untreue im Kernstrafrecht und zahlreichen, in einer Reihe von Vorträgen im strafrechtlichen Teil der Tagung thematisierten Tatbeständen leicht verwässert wird. Systemische, von Vaubel als naturwüchsig vorgestellte Risiken können nicht Sache der strafrechtlichen Individualzurechnung sein. Aber was ist, wenn die zwei anderen, im Vortrag vorgestellten Schulen wirtschaftswissenschaftlicher Erklärung7 im Recht wären. Bei der Tagung wurde diese Frage nur wenig virulent, weil eine Schule nicht vertreten war. Sie geht mit der These einher, dass mit der Krise die Untauglichkeit der Marktwirtschaft selbst zum Ausdruck gelangt. Für eine lebhafte, ja spannende Diskussion genügte jedoch, dass die mit der zweiten Schule verknüpfte These Anhänger fand, wonach die Marktwirtschaft als auf Dauer leistungsfähigstes Wirtschaftssystem gelegentlich versagen kann. Dieser These folgte die längere Stellungnahme von Schmidt, die im vorliegenden Band als gemeinsam mit Clemens verfasster Beitrag aufgenommen wurde, so dass für Details darauf verwiesen werden kann. Der Umstand, dass der Chef von Lehman´s ein autistisches Regime führen konnte, war für Schmidt nicht nur ein Beispiel menschlichen Versagens, sondern auch eines strukturellen Mangels des Finanzmarktes. Unter diesem Vorzeichen sind die Voraussetzungen strafrechtlicher Zurechnung neu zu bestimmen. Diese Aufgabe unternahm nicht Schmidt, der sich 7
Vaubel S. 19 ff.
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von strafrechtlichen Interventionen zur Aufarbeitung der Krise wenig Produktives erwartete.8 Naheliegenderweise waren es Strafrechtler, die dieser Aufgabe nachgingen. Im verfassungsrechtlichen Vortrag von Hermes waren es zwei Aspekte, die für diese Frage herangezogen werden können. Zunächst stellt Hermes den Markt als rechtlich konstituiert vor, um zugleich die Überholtheit der klassischen Dualität von Gesellschaft (Markt) und Staat und als deren Folge einen schwachen Staat zu konstatieren. Offen blieb in der Diskussion nicht nur, was „konstituiert“ bedeute, uneins war man sich auch, ob der von Hermes schließlich zurückgewiesene Einwand, dass das staatliche Management nach Ausbruch der Krise gewiss nicht die Sprache eines schwachen Staates spreche (Schmidt), wirklich zutreffe.9 Der zweite Aspekt betraf die Frage nach der Rolle des Strafrechts nicht nur mittelbar. Dabei erwies sich die Stellungnahme von Hermes zum Strafrecht als komplex. Während er zum Einen die verfassungsrechtlichen Kautelen für das Strafrecht betonte, die einer Zurechnung enge Grenzen setzen würden, redete er zum Anderen dem Tatbestand der Untreue als offenen („klugen“) Tatbestand das Wort, was in der Diskussion Kempf als Abgesang auf die Akzessorietät der Untreue bewertete. Für die weiteren Vorträge im ersten Abschnitt blieb in der Diskussion kaum Zeit und in der Sache auch kein substantieller Bedarf. Suchanek hatte dargelegt, dass sich das unternehmerische Eigeninteresse wirtschaftsethisch einbinden lasse, wenn man Verantwortung als anreizkompatibel vorstelle. Mit Seiner Formulierung der Goldenen Regel: „Investiere in Solidarität zum wechselseitigen Vorteil“ provozierte er keinen Widerspruch. Spindler zeichnete in seinem Beitrag „Gemeinwohlorientierte Unternehmensinteressen und Kapitalgesellschaften“ die Karriere der Gemeinwohlbindung im Aktienrecht nach. Für die strafrechtliche Zurechnung maßgeblich war insbesondere sein Votum für eine Akzessorietät der Untreue zum Aktienrecht. 8
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Dafür ließe sich an Schmidts zur Vorgängertagung erfolgte Stellungnahme zur Rolle des Strafrechts aus finanzökonomischer Sicht erinnern. Aus ihr geht hervor, aus dieser Sicht die innerrechtlich substantielle Differenz zwischen Ordnungswidrigkeiten und Strafrecht nur folgenorientiert zu rekonstruieren ist und dass – nicht zuletzt deshalb – die Praxis der Verfolgung im Vordergrund steht. Es sind in erster Linie die Unwägbarkeiten der Verfolgungspraxis, die zur erwähnten Skepsis führen; vgl. ders. in: aaO. 93 ff. Hätte man die Gelegenheit, würde man die Diskutanten nach der zwischenzeitlichen Radikalisierung der Krise noch einmal um ihr Wort bitten. Für sie dürfte die für Nov. 2011 geplante Nachfolgetagung sorgen.
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Forstmoser hatte in seinem Vortrag die erstaunliche Entwicklung von einer gerade auf dem europäischen Festland ungewöhnlichen, uneingeschränkten Befürwortung des Shareholder-value in der Schweiz zu einer Renaissance des Stakeholder-value – des Interesses der Mitarbeiter, der Gläubiger und der Kunden eines Unternehmens sowie eines generellen Gemeinwohls – nachgezeichnet und stieß mit einem Votum für eine auf verallgemeinerbare Modelle beruhenden Rückkehr zur Gemeinwohlorientierung von Unternehmen auf allgemeine Zustimmung. Im Mittelpunkt der Diskussion standen Fragen und Beiträge, die an Vaubels Vortrag anknüpften. Peltzer ging davon aus, dass den einflussreichen Akteuren des Marktes die Logik des Subprimemarktes bekannt sein musste. Hellwig legte, um die Komplexität der Probleme der Finanzaufsicht zu illustrieren, auf den Umstand sein Augenmerk, dass die Aufsicht mit ihrer Forderung nach Regulierung ins Leere gelaufen wäre. Schließlich sei bei der Prüfung von Derivaten die Möglichkeit des Zusammenbruchs nicht berücksichtigt worden. Dem folgte Säcker mit dem Hinweis, dass die BaFin seit 2000 von den Gefahren wusste und seit 2002 im Ergebnis folgenlos vor ihnen warnte. Das offensichtliche Aufsichtsverschulden des Staates entlaste indes andere nicht in ihrer Verantwortung. Vaubel beharrte, auf einen Einwurf Spindlers antwortend, darauf, dass die Unkenntnis der Größe der Gefahr nicht „irrational“ gewesen wäre (mit dem genannten Vergleich einer Naturkatastrophe). Forsthammer hob hervor, dass ein zu hohes Vertrauen in mathematische Modelle vorgeherrscht habe und votierte, insbesondere mit Blick auf das fehlende Eigenkapital bei Lehman´s, dafür, dass bei der Ausgabe von strukturierten Produkten 20% davon selbst zu halten seien. Suchanek votierte mit Lüderssen dafür, dass das Gemeinwohl in das unternehmerische Handeln nicht exegen, sondern endogen implementiert werden müsse.
III. Die Behandlung der strafrechtlichen Reaktionen betraf im ersten Schritt die Untreue („Untreue. Altes und Neues“), im zweiten spezifische wirtschaftsstrafrechtliche Tatbestände, die sich mehrheitlich im Nebenstrafrecht finden („Neue betriebswirtschaftliche Phänomene und Wirtschaftsstrafrecht“). Der Tatbestand der Untreue hatte bereits bei der Vorgängertagung eine erhebliche Rolle gespielt, wie das auf ihn bezogene Referat von Schiller gezeigt
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hatte.10 Insofern stand er mit gutem Recht nun im Zentrum der Tagung, zumal er Dreh- und Angelpunkt des Versuchs der Strafverfolgungsbehörden, die Finanzkrise strafrechtlich aufzuarbeiten. Wenngleich es nicht zu vermeiden war, dass in der Diskussion auf höchstrichterliche Leitentscheidungen zur Untreue, namentlich auf „Mannesmann“ und „Siemens/ENEL“ Bezug genommen wurde (von von Nestler gegenüber Fischer), so standen diese Bezüge nicht im engeren Zusammenhang mit der Finanzkrise. Zunächst ging es in den Vorträgen von Säcker und Deiters um die Sorglosigkeit von Verwaltungsorganen. Ähnlich wie Lutter in bekannten Stellungnahmen, sah Säcker im großflächigen Erwerb von Kreditderivaten durch Banken ein pflichtwidriges Handeln. Banken hätten Derivate allenfalls zur Absicherung bestehender Kreditrisiken erwerben dürfen, nicht aber, um mit diesen Papieren selbst zu spekulieren. Insbesondere sei gegen die höchstrichterlich gesicherte Pflicht zum effektiven Risikomanagement (BGHZ 75, 120, 132 ff. „Herstatt“) verstoßen worden. Das Ergebnis, dass eine Bank keine Spielbank sein dürfe, wurde von Deiters geradezu umgekehrt, wie Deiters in der Diskussion ausdrücklich bestätigte. Demnach sei nicht der Spielbankbetrieb strafbar, sondern nur die Verletzung von Regularien einer Spielbank. Wenn Bankmanager durch die riskanten Geschäfte ihre Bonuszahlungen erhöhen konnten, läge darin noch kein Indiz für vorsätzliches Handeln. Dazu kommt, dass der Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen Pflichtverletzung und Schaden auch bei fehlender Informationsbeschaffung im Hinblick auf die Risiken der angekauften Wertpapiere dann entfällt, wenn in dubio pro reo nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Anschaffung auch bei hinreichender Information erfolgt wäre. So kam Deiters, obwohl mit Säcker im Ausgangspunkt der Akzessorietät der Untreue zum Gesellschaftsrecht einig, zu einer völlig unterschiedlichen Diagnose. Im Vortrag zur objektiven Zurechnung bei der Untreue von Arzt ging es um die Frage, wann von einem Handeln „für“ und wann von einem Handeln „gegen“ die juristische Person gesprochen werden könne. Dafür beschäftigte er sich vor allem mit der genannten Siemens-Entscheidung. Arzt sprach sich dafür aus, den wirtschaftlichen Begriff des Vermögens nur bei Delikten gegen 10
Ders. Selbstregulierungskompetenz versus justizielle Auslegungskompetenz, in: aaO. 171–180. Vgl. hierzu auch das 7. Kolloquium des „Strafverteidiger“ von 2009, in dessen Zentrum neben den Korruptionstatbeständen der Fall Siemens/ENEL sowie die Entwicklung zu Compliance stand; s. meinen Tagungsbericht, StV 2009, 332–336 („Globalisierungstendenzen im deutschen Wirtschaftsstrafrecht“).
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juristische Personen (sprich: Unternehmen) der Berechnung des Schadens zugrunde zu legen. Schließlich wies er auf die Gefahr hin, dass Compliance, die im Wesentlichen den Einkünften von Anwälten u. a. diene, die staatliche Überwachung befördere. Auch Fischer, der sich zu Beginn für die These Säckers und gegen Vaubels Naturalisierung der Krise aussprach, erläuterte in erster Linie Aspekte der Siemens-Entscheidung. Für ihn ist ein Managerhandeln dann pflichtwidrig gem. § 266 StGB, wenn mit ihm die Begehung von Straftaten verbunden wäre. Schwarze Kassen einzurichten, sei auch dann ein Fall der Untreue, wenn mit ihnen letztlich legale Zwecke des Unternehmens verfolgt werden sollen, da es allein auf die Entziehung von Vermögenswerten ankomme. Den Einwand, § 266 schütze dann nicht das Vermögen, sondern die Dispositionsfähigkeit, wies er in der Diskussion vehement damit zurück, dass nach dem Siemens-Judikat nicht die Dispositionsfreiheit alleine geschützt sei. In dem Vortrag zur Ausdehnung der außerstrafrechtlichen Pflichtenkataloge stellte Dierlamm heraus, dass es bei der Beurteilung der Pflichtwidrigkeit stets auf die hinreichende Schwere der Vermögensbetreuungspflicht ankomme. Sie sei, wie er detailreich darlegte, bei vielen Compliance-Regeln zweifelhaft. Schmidt analysierte aus ökonomischer Perspektive die Berechnung des Schadens bei der Untreue durch den Bundesgerichtshof im Fall eines Schneeballsystems. Der Zeitpunkt der Einzahlung, den der BGH wähle, sei möglich, aber gegenüber Berechnungen nach einem späteren Zeitpunkt wenig überzeugend. Die Diskussion zur Untreue leitete Kempf damit ein, dass sich das Strafrecht auch dann nicht zurückziehen dürfe, wenn ein Verhalten ubiquitär sei. Die Diskussion blieb allerdings überwiegend ohne konkreten Bezug zur Finanzkrise. Nestler schloss sich – namentlich im Hinblick auf Schwarze Kassen wie im Fall Siemens – Schmidts Analyse der Schadensberechnung an, während Fischer darauf verwies, dass bei einem Schneeballsystem gar keine Anlage intendiert sei, so dass das Abstellen auf den ersten Zeitpunkt angemessen sei. Lüderssen votierte, unter Verweis auf das nationalsozialistische Erbe der „Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken“, für die Restriktion der Untreue durch den – von Deiters dann zurückgewiesenen – „Täterschaftszusammenhang“, der zum „Pflichtwidrigkeitszusammenhang“ hinzutreten müsse. Volk wiederum rekonstruierte die Mannesmann-Entscheidung damit, dass bereits das Wissen um die konkrete Vermögensgefährdung zur Annahme einer Pflichtwidrigkeit führe – was Fischer zurückwies. Weiterhin schloss sich Fischer der These Dierlamms an, dass nur substantielle Verstöße gegen Compli-
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ance-Regeln zu einer Untreue führen könnten (und Gegenteiliges in eine Entscheidung des 5. Senats v. 17. 7. 2009, in der im Weg eines obiter dictum die Strafbarkeit eines Compliance-Beauftragten grundsätzlich bejaht wurde, nur aus „Panik mache und Mandatsakquise“ nicht hineingelesen werden sollte).11 Dierlamms genereller Kritik an der Untreue-Rechtsprechung – Konturenlosigkeit und Abkehr von der Restriktion des subjektiven Tatbestands („Kanther“) wies er hingegen zurück. Arzt analysierte schließlich die Expansion des Wirtschaftsstrafrecht als Folge des Erwerbssinnes US-amerikanischer Kanzleien. Rönnau wies die These von Deiters als unterkomplex zurück. Bei den Banken wäre es geboten, zwischen regulären Geschäftsbanken, Sparkassen und Landesbanken zu unterscheiden. Im Fall der IKB und der norddeutschen Landesbank (HSH) ginge es um Defizite des – von Säcker als Voraussetzung eingeforderten – Risikomanagements. Zugleich wies der die von Lüderssen geforderte Abschaffung des Treubruchtatbestands zurück. Davon habe bereits wegen erheblicher Strafbarkeitslücken der AE-Kreis Abstand genommen. Die Behandlung der Untreue im Rechtsvergleich ging von der Frage aus, ob die Lösung nach dem – restriktiveren – Missbrauchskonzept dem Modell eines Treubruchtatbestands überlegen, der sich namentlich in Deutschland durchgesetzt habe. Dafür wurden von Luigi Foffani die Beispiele Italien, Spanien und Frankreich analysiert, während Zerbes eine Bestandsaufnahme für Österreich und die Schweiz sowie für den als liberal geltenden skandinavischen Rechtskreis und einige osteuropäische Rechtsordnungen (Polen, Ungarn) lieferte. Im Mittelpunkt stand der Vergleich mit Österreich, das beim Untreuetatbestand (§ 153 öStGB) die Missbrauchslösung vorzieht, was Zerbes an den Leitentscheidungen von Mannesmann und Siemens exemplifizierte. Im Ergebnis sprach auch sie sich für eine wirtschaftszivilrechtliche Akzessorietät der Untreue aus. Foffani analysierte das italienische Verfahren gegen Parmalat und zeigte namentlich am Beispiel Frankreichs, dass ein enger Untreuetatbestand durch eine weite nebenstrafrechtliche Lösung für Sonderbereiche des Wirtschaftens auf ein praktisch vergleichbares Ergebnis hinauslaufen kann. So enthalte der Code de Commerce nach einer Novellierung einen jetzt weit gefassten gesellschaftsrechtlichen Missbrauchstatbestand, wonach bei Vorliegen einer Bereicherungsabsicht die Verletzung des Gesellschaftsinteresses keinen Schaden mehr voraussetze. 11
Vgl. auch Fischer am Ende seines Beitrags, S. 190 ff.
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In der Diskussion zum Rechtsvergleich blieb die französische Praxis allerdings unklar. Während nach Einschätzung von Kempf in der Praxis die französische mit der deutschen Untreuestrafbarkeit konvergiere und nach Rönnau im Hinblick auf den eingeführten Sondertatbestand sogar eine „gigantische Ausdehnung“ stattfinde, beobachtete Lelier-Fischer eine restriktivere Praxis in Frankreich, die durch eine Verlagerung ins Ordnungswidrigkeitenrecht gekennzeichnet sei. Für die Rechtslage in Spanien und der Schweiz stellte Kempf am Beispiel der Fälle der Übernahme von Hispaniola durch Santander und von Bestechungsvorwürfen gegen ABB in der Schweiz, wo jeweils mangels Strafantrag kein Ermittlungsverfahren aufgenommen wurde, das Strafantragserfordernis als praktisch elementares Scharnier heraus. Für den in den Vorträgen nicht behandelten englischen Rechtskreis diagnostizierte Rönnau im Hinblick auf den Fraud Act eine Strafbarkeit bereits bei abstrakter Gefährdung durch das Merkmal der „dishonesty“ und ein Leerlaufen der vorausgesetzten Bereicherungsabsicht. In dem, im vorliegenden Band nicht abgedruckten, Vortrag von Pohlmann, dem damaligen Chief-Compliance-Officer der Siemens AG, wurde zum Abschluss des ersten Konferenztages von den bemerkenswerten Erfolgen der Firma Siemens bei der Aufarbeitung ihres Korruptionsskandals berichtet. Dank eines Anwaltsheeres der US-amerikanischen Kanzlei Debevoise sei es gelungen, das volle Ausmaß der Korruption im Unternehmen ans Licht zu bringen. Eine neue Compliance-Kultur hätte Siemens weitestgehend von den alten Sünden gereinigt, und mit nennenswerten Umsatzeinbußen sei für Siemens nach dem Verzicht auf Schmiergeldzahlungen weltweit nicht zu rechnen.
IV. Der letzte Abschnitt der Tagung galt unmittelbar der strafrechtlichen Aufarbeitung der Finanzkrise. Es ging um die Bewertung „neuer“ betriebswirtschaftlicher Phänomene. Dabei ist, wie Fischer schon in seinem Beitrag anmerkte, Zurückhaltung geboten, sofern damit die Suggestion einer neuen strafrechtliche Reaktion einher gehen sollte.12 So galt nicht jeder Vortrag einem neuen Phänomen, wie das Thema von Leipolds Beitrag, „Insiderwissen im Finanzmarkt“, zeigte. Da das Gros der Vorträge sich aber mit den neuen Fi-
12
Fischer S. 190 ff. bei Fn. 10.
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nanzinstrumenten auseinandersetzte, die mit der Finanzkrise intern verbunden sind, hatte man als Zuhörer genug damit zu tun, diesen und der an sie anknüpfenden, immens dichten Diskussion zu folgen. Diesen Reigen eröffnete Sorgenfrei, der über Geschäfte außerhalb der Bilanzen, konkret: über die so genannten Zweckgesellschaften berichtete, ohne deren Gründung es die Finanzkrise nicht gegeben hätte.13 Sie entsprangen einem creative accounting, das auf die Umgehung der Bilanzvorschriften und vornehmlich der mit ihnen verknüpften Eigenkapitaleinlage gerichtet war. Dass auch die Landesbanken diesen Weg beschritten, ist eine besondere Pointe der Krise, die zumindest im Fall der HSH gegenwärtig die Staatsanwaltschaft beschäftigt.14 Schmidt hatte unlängst schon für die Gründung solcher Zweckgesellschaften nach dem Strafrecht gerufen.15 Sorgenfrei listete nicht nur das gesamte Ensemble der Motive für ihre Gründung auf, sondern setzte sich auch mit den einschlägigen Straftatbeständen, § 331 Abs. 1 HGB und § 400 AktG auseinander. Sie seien, so Kempf in der Diskussion, zweifelhaft im Hinblick auf die Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG), sofern mit ihnen an umfangreiche internationale Rechnungslegungsvorschriften (seit 2004: IAS/IFRS) angeknüpft werde,16 für die alleine Fachleute überhaupt Verständnis aufbrächten. Sorgenfrei trat diesem Zweifel bei mit dem Hinweis auf das „hochkritische“ Lamfussy-Verfahren zur EU-Anerkennung bei § 331 a HGB. Im Hinblick auf die Komplexität der Bilanzierung steuerte Hart-Hönig anhand eines Falles, in dem einem Unternehmen fehlende Rückstellungen vorgeworfen wurden, ein Problem der forensischen Praxis bei. Die Staatsanwaltschaft hätte sich auf die Stellungnahme eines vom Unternehmen ursprünglich beauftragten Wirtschaftsprüfers gestützt, der in den Augen der Verteidigung eine inkompetente, weil die Differenz von deutschen und internationalen Rechnungslegungsvorschriften nicht berücksichtigende Prüfung vorgelegt habe. Wenn ein Mandant nun nicht die Mittel habe, ein teures Gegengutachten in Auftrag zu geben, sei er der Kompetenz und den Unwägbarkeiten der Diensthermeneutik weitgehend ausgeliefert.
13
14
15 16
Alleine Landesbanken investierten mehr als 100 Milliarden Euro in den Kauf so genannter Mortgage Based Securities (MBS-Papiere), die fast ausschließlich (zu ca. 97%) in Zweckgesellschaften ausgelagert wurden, um den Nachteil der Bank nicht bilanzieren zu müssen; vgl. Gillmeister in diesem Band. Die laufenden Ermittlungen gegen den vormaligen Vorstandsvorsitzenden der Bayerischen LB betreffen eine Konstellation, die mit der Finanzkrise nicht unmittelbar zu tun hat. Die ZEIT v. 11. 1. 2009; kritisch Lüderssen FAZ, 15. 1. 2009. Vgl. Sorgenfrei S. 263 ff. bei Fn. 23.
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Mit der im Nachhinein geradezu fantastisch anmutenden Möglichkeit der Wertschöpfung im Wege von Wertpapieren, die durch – faktisch beim Immobilienkäufer nicht realisierbare – Hypotheken unterlegt sein müssen (Mortgage Backed Securities – MBS), nahm die Finanzkrise ihren Anfang. In so genannten CDO´s (Collateralized Dept Obligations), gelegentlich „Schrottanleihen“ genannt, umgewandelt, wurden sie quasi wie Geld, das allerdings nicht mehr von den Notenbanken ausgegeben wird, handelbar, gestützt durch ein wohlwollendes Rating von drei US-amerikanischen Rating Agenturen, ohne deren Attest in den USA die Verkehrsfähigkeit ausgeschlossen ist, wie Kempf in der Diskussion anmerkte. Wolf ergänzte zudem, dass die CDOs nicht auf Vollstreckung ausgelegt waren. Gillmeister verglich diese Papiere anschaulich mit einer Lyoner, in Österreich gelegentlich Extrawurst genannten Wurst, bei der weder Verkäufer noch Kunde wissen (und bei Lichte besehen wissen wollen), was in ihr enthalten ist. Entscheidend ist, dass sich die Wurst gut verkauft. In der Diskussion wurde nicht ein radikales Verbot solcher Papiere gefordert, sondern nach Möglichkeiten der Kontrolle solcher Wertschöpfung gefragt (Volk u. a.). Gegenüber einer Erweiterung der Aufsicht zeigten sich vor allem Praktiker skeptisch, weil die Aufsicht nur neuerlich einem Missbrauch ausgesetzt sei (so Wolf und Sorgenfrei). Gilmeister genügte eine moderate Regulierung, nach der, um in seinem Bild zu bleiben, ein Kunde darüber aufgeklärt wird, dass er eine Lyoner kauft. Fischer wandte dagegen ein, dass das Bild nicht für Großrisiken passe; die Crux läge in den Details einer Täuschungshandlung, d. h. im Maß der erforderlichen Offenheit. Während er zu einer hohen Aufklärungspflicht neigte, fragte Gilmeister, ob denn auch schützenswert sei, wer hochskeptisch eine Anlageentscheidung treffe. Rönnau ergänzte, dass § 263 StGB schon wegen fehlender Kausalität der Täuschung leerlaufe. Kirsch erinnerte daran, dass es auch Anwälte waren, die die fraglichen Produkte erstellten. Trüg war es aufgegeben, mit dem so genannten Leerkauf (short selling) ein weiteres neues Phänomen vorzustellen und strafrechtlich zu würdigen. Trüg erinnerte dafür mit der Krise des holländischen Tulpenhandels an eine der ersten großen Finanzmarktkrisen. Von der Definition des Leerverkaufs nahm er die sinnvolle Währungsabsicherung aus und konzentrierte sich auf das den so genannten nackten Leerverkauf (naked short sale), bei dem kein Eigentum am Wertpapier erworben wird und mit dem beispielsweise wie bei der gescheiterten Übernahme VWs durch Porsche mehr Aktien als vorhanden gehandelt werden können (abusive naked short selling). Hier werde zwar in der Regel über die Erfüllungswilligkeit getäuscht, allerdings entstehe kein Schaden. Bei einem abusive naked short selling könne jedenfalls eine Marktmani-
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pulation gem. § 20 a Nr. 2 WpHG vorliegen und möglicherweise eine „Unerfahrenheit“ des Käufers gem. §§ 49, 26 BörsG ausgenutzt werden. Jahn verwies für die Frage der Unerfahrenheit auf die hilfreichen Einsichten der Viktimodogmatik. Für ihn schied, das Bild Gillmeisters aufgreifend, die Möglichkeit aus, dass der Käufer einer Lyoner je erfahren sein könne. Gillmeister selbst ergänzte dazu, dass die von § 263 StGB durchaus berücksichtigte Opfersicht für die Staatsanwaltschaft prozessual nicht einholbar sei. Heine schließlich trug den Schweizer Umgang mit der dort geforderten Arglist beim Betrug bei. Demnach gehe es um zumutbare Diligenz, die je nach Berufskreis unterschiedlich gehandhabt werde. Mag auch die Frage des Insiderhandels nicht unmittelbar mit der Finanzkrise zusammenhängen, so wirft seine Kriminalisierung doch Fragen ähnlicher Art auf. Nicht zuletzt die rege Diskussion zum Referat von Leipold, das von Beukelmann vorgetragen wurde, demonstrierte, dass die Veranstalter das Thema mit Bedacht eingeschlossen hatten. Nach Leipold sei es ein Novum, dass das Strafrecht damit Gewinnerwartungen schütze, zugleich werde mit dieser Norm ein illegitimer Moralschutz betrieben, was in einer minimalen Verurteilungsquote zum Ausdruck gelange. Gegen eine Absage an Moralschutz durch Strafrecht per se wandte sich Suchanek. Schulz wiederum hielt das kriminologische Argument der minimalen Verurteilungsquote für unzureichend, weil der Verweis auf 20 Verurteilungen bei insgesamt im Zeitraum 2006 bis 2008 betriebenen Strafverfahren die gerade im Wirtschaftsstrafrecht hohe Quote von Opportunitätseinstellungen nicht berücksichtige. Die Zustimmung zur dogmatischen Analyse war demgegenüber breit. Volk hielt die Praxis einer Kurspflege für ohne Weiteres statthaft und vermisste in der Rechtsprechung auch den Bezug auf ein Rechtsgut. Semantik offen sei auch der Begriff der Information. Peltzer, der an die Unbefangenheit der Nutzung von Insiderwissen noch in den 60er Jahren erinnerte, erblickte, was im angloamerikanischen Verständnis unzweifelhaft sei, in der Chancengleichheit an der Börse das Rechtsgut des Tatbestands. Rechtsvergleichend merkte Foffani an, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine erstaunliche Harmonisierung des Tatbestands stattgefunden habe. Erhebliche Divergenzen bestünden allerdings in der Sanktionierung, die von ordnungsrechtlichen Sanktionen in Spanien bis zur Strafdrohung von 12 Jahren Freiheitsstrafe in Italien reiche. Strittig blieb die Bewertung der EU-Vorgaben für die Kriminalisierung des Insiderhandels, an die Schmitz erinnerte. Während Böse hervorhob, dass internationale Normen eine geronnene Verkehrsanschauung zum Ausdruck brächten, wurde von Sorgenfrei daran erinnert, dass die EU-Vorgabe keine zwangsläufig strafrechtliche Sanktionierung bedeutet habe.
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Das Thema des Vortrags von Krause war eine Regelung des Finanzmarktstabilierungsgesetzes vom Okt. 2008, mit der die Legaldefinition der Überschuldung als Insolvenzgrund gem. § 19 Abs. 2 InsO geändert wurde. Damit schließt nun eine positive Fortführungsprognose des Schuldners eine Überschuldung unabhängig von seiner Vermögenslage aus.17 Bei den strafrechtlichen Folgen der Novelle wandte sich Krause gegen die These, dass es sich bei der Novelle um ein Zeitgesetz handele. Die Befristung sei schon deshalb zweifelhaft, weil der Gesetzgeber bereits 2009 die ursprüngliche Frist um fünf Jahre verlängert hätte. Schließlich lotete er die Frage aus, ob die Novelle auf den strafrechtlichen Begriff der Krise in § 283 Abs. 1 StGB zurückwirke, wozu Krause vor dem Hintergrund einer grundsätzlich bestehenden Zivilrechtsakzessorietät des Strafrechts und des Bestimmtheitsgebots tendierte. In der Diskussion fragte Rönnau nach der Behandlung der Altfälle. Soweit es sich wegen der Verlängerung tatsächlich nicht mehr um ein Zeitgesetz handle, müsse in dubio mitius (§ 2 Abs. 3 StGB) gelten und § 19 Abs. 2 InsO wäre das mildere Gesetz. Achenbach trat Krause im Wesentlichen bei. Den Reigen der Behandlung neuer Phänomene beschloss Neuhaus, der über den Zusammenhang von Compliance Systemen und Vorfeldermittlungen referierte. Neuhaus begann mit dem soziologischen Umstand, dass die früher bei der Normsetzung gegebene Zeit zur Implementation heute vor dem Hintergrund des immer schnelleren Wandels nicht mehr gegeben sei. Compliance reagiere auf diesen Wandel und sei neben einer retrospektiven Ausrichtung vor allem prospektiv als Maßnahme zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten angelegt. Dieser Unterschied liefere auch eine Richtschnur für die Antwort auf die Probleme des nemo tenetur-Grundsatzes und der Pflicht zur Belehrung. Die Skandale der jüngsten Vergangenheit, von Lidl bis zur Deutschen Bahn, hätten gezeigt, dass Compliance selbst compliant sein müsse. Die lebhafte Diskussion schloss zunächst naheliegenderweise an den Fall Siemens an. So sei, wie Volk und Knauer ausführten, die von Siemens angebotene „Amnestie“ für den Fall kooperativen Verhaltens zweifelhaft. Schon Neuhaus hatte kritisch gefragt, ob die Nicht-Kooperation überhaupt einen Kündigungsgrund liefern könne. Knauer berichtete dazu, dass diese Frage bei einer uneinheitlichen Rechtsprechung in der Praxis zumeist im Weg eines ar17
Eine „Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich.“
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beitsgerichtlichen Vergleichs erledigt werde. Nach Taschke sei der Angestellte in repressiver Hinsicht verpflichtet, gegenüber dem Finanzamt Angaben über einen Korruptionssachverhalt zu machen. Dieners ging so weit, Compliance, mit der staatliche Kontrolle privatisiert werde, für ein taugliches Modell nur in repressivem Belang zu halten.
V. Den Schlusspunkt der Tagung markierte der Vortrag von Hank zur Frage der „Wachsende Kontrolldichte auf den Finanzmärkten: Mehr oder weniger Strafrecht? Was ist wünschenswert?“. Hank warnte, die drei Begriffe von ECLE aufgreifend, vor drei Illusionen: 1. Der Illusion des Strafrechts, das eine objektive Preis-/Werttheorie voraussetze, die der Markt nicht habe. 2. Der Illusion der Ethik, die von einer weltfremden Wirtschaftsethik ausgehe, die nicht mehr als eine traurige Frucht der Wirtschaftswissenschaften sei. 3. Der Illusion der Ökonomie, die in der Tradition der Schottischen Aufklärung den Markt als moralische Anstalt vorstelle. Dem Strafrecht als Instrument der Aufarbeitung der Wirtschaftskrise wurde damit eine eindeutige Absage erteilt. Das führte in der Diskussion dazu, dass Fischer kritisch von einer „Kernschmelze des Journalismus“ sprach. Es sei wohlfeil, die Moral und damit zugleich das Strafrecht zu desavouieren. Tatsächlich gehe es nur darum, das bestehende Strafrecht anzuwenden. Dem trat Hank damit entgegen, dass jedenfalls er selbst gegen eine Moralisierung der Phänomene gefeit sei. Eine Engführung von Strafrecht und Moral behindere eher die Aufklärung der Ursachen der Krise, weil sich beschuldigte Akteure des Marktes auf ihr Recht zu schweigen berufen würden. Lüderssen erhoffte sich abschließend, darin gewiss einig mit zahlreichen Tagungsteilnehmern, von außerstrafrechtlichen Regulierungsansätzen bessere Ergebnisse bei der Aufarbeitung der jüngsten und der Verhütung weiterer Finanzkrisen.
Teilnehmer des 2. ECLE Symposium 20 & 21. November 2009
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Teilnehmer des 2. ECLE Symposium 20. & 21. November 2009 Teilnehmer des 2. ECLE Symposium 20 & 21. November 2009 Teilnehmer des 2. ECLE Symposium 20 & 21. November 2009 Achenbach, Professor Dr. Hans Ackermann, Professor Dr. Beat Ahlbrecht, Dr. Heiko Arzt, Professor Dr. Gunther
Universität Osnabrück Universität Luzern Wessing Rechtsanwälte Universtiät Bern
Bähr, Dr. Erich-G. Beer, Staatssekretärin, Nicola Berndt, Dr. Markus Beukelmann, Dr. Stephan Biskamp, Elard Böse, Professor Dr. Martin Busch, Oberstaatsanwalt, Ulrich
RA Frankfurt am Main Hessisches Minesterium der Justiz VBB Rechtsanwälte Lohberger&Leipold Rechtsanwälte RA Frankfurt am Main Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Staatsanwaltschaft München
Cramer, Dr. Donald J.
RA München
Deiters, Professor Dr. Mark Deiters, Professor Dr. Mark Dieners, Dr. Peter Dierlamm, Dr. Alfred Dörr, Dr. Felix Dreher, Professor Dr. Meinrad Durth, Dr. Hanno
Westfälische Wilhelms-Universität Münster Universität Münster, Institut für Kriminalwissenschaften Clifford Chance Rechtsanwälte Dierlamm RA Frankfurt am Main Johannes Gutenberg-Universität Mainz kipper & durth
Euler, Hans Wolfgang
RA Frankfurt am Main
Fischer, Dr. Jürgen Fischer, Professor Dr. Thomas Foffani, Professor Dr. Luigi Forstmoser, Professor Dr. Peter
RA Frankfurt am Main Richter am Bundesgerichtshof Università di Modena e Reggio Emilia Universität Zürich
Gaede, Dr. Karsten Gillmeister, Dr. Ferdinand Gräfin von Galen, Dr. Margarete Greeve, Dr. Gina
Bucerius Law School RA Freiburg/Br. Rechtsanwaltskammer Berlin MGR
Hamm, Professor Dr. Rainer Hammerstein, Dominik Hank, Dr. Rainer
Rechtsanwälte Prof. Dr. Hamm und Partner RA Freiburg Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
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Teilnehmer des 2. ECLE Symposium
Hart-König, Dr. Kai Haucke-D Aiello, Angelica Heine, Professor Dr. Günter Hellmann, Professor Dr. Uwe Hellwig, Professor Dr. Hans-Jürgen Hermann, Dr. Ulrich Hermes, Professor Dr. Georg Hugger, Dr. Heiner
RA Wiesbaden Kanzlei Haucke-D Aiello und Koll Universität Bern Universität Potsdam Hengeler Mueller Wolters Kluwer Deutschland GmbH Goethe-Universität Frankfurt am Main Clifford Chance
Kämpfer, Dr. Simone Kasiske, Dr Peter
Krause, Dr. Daniel Kuhlen, Professor Dr. Lothar
RAin Düsseldorf Ludwigs-Maximilians-Universität München Jones Day RAin Heidelberg RAin Heidelberg Kempf & Dannenfeldt Bundesministerium der Justiz Rechtsanwälte Prof. Dr. Hamm und Partner Ufer-Amelung Rechtsanwälte Rechtsanwälte Prof. Dr. Hamm und Partner Rechtsanwälte Eisenberg, Dr. König & Dr. Schork Krause Lammer Wattenberg Rechtsanwälte Universität Mannheim
Leipold, Dr. Klaus Lelieur-Fischer, Dr. Juliette LL.M Lindemann, Dr. Michael Livonius, Dr. Barbara Lüderssen, Professor Dr. Klaus Lütkenhaus, Dr. Alfried
LOHBERGER & LEIPOLD Rechtsanwälte Université de Rouen Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Livonius Rechtsanwälte Goethe-Universität Frankfurter Sparkasse
Malek, Dr. Klaus Marsch-Barner, Professor Dr. Reinhard Menner, Dr. Stefan Merkel, Dr. Helmut Michalke, Dr. Regina Möllmann, Oberstaatsanwalt, Ralf Mühlhoff, Oberstaatsanwalt, Uwe Mülbert, Professor Dr. Peter O. Müller, Dr. Werner
Endriss und Kollegen Linklaters LLP Clifford Chance Dredner Bank AG Rechtsanwälte Prof. Dr. Hamm und Partner Staatsanwaltschaft Düsseldorf Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf Johannes Gutenberg-Universität Mainz Baker & Mc. Kenzie
Natale, Wolfgang Neuhaus, Dr. Ralf Neumann, Professor Dr. Ulfrid
Staatsanwaltschaft München mnh-rechtsanwälte Goethe-Universität Frankfurt am Main
Kayßer, Dr. Marijon Keller, Alexander Kelnhofer, Dr. Evelyn Kempf, Eberhard Kirchner, Dr. Heino Kirsch, Dr. Stefan Knauer, Dr. Christoph Köberer, Dr. Wolfgang König, Dr. Stefan
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Oetjen, Kerstin
RAin Freiburg
Park, Professor Dr. Tido Peltzer, Dr. Martin Pohlmann, Dr. Andreas
Spieker & Jaeger RA Frankfurt am Main Siemens AG
Radtke, Professor Dr. Henning Rahmsdorf, Dr. Detlev Ränsch, Dr. Ulrich Richter, Oberstaatsanwalt Dr. Hans Rönnau, Professor Dr. Thomas Roth, André Rotsch, Professor Dr. Thomas Rutkowsky, Dr. Stefan
Leibniz Universität Hannover Deutsche Bank AG Baker & McKenzie Staatsanwaltschaft Stuttgart Bucerius Law School Commerzbank AG Universität Augsburg Fuhrmann Wallenfels
Säcker, Professor Dr. Franz Jürgen Salditt, Professor Dr. Franz Saliger, Professor Dr. Frank Sättele, Alexander Schilling, Dr. Hellen Schmidt, Professor Dr. Reinhard H.
Schmitz, Professor Dr. Roland Schöpfel, Michael Schulz, Professor Dr. Lorenz Sorgenfrei, Ulrich Spindler, Professor Dr. Gerald Suchanek, Professor Dr. Andreas Sünner, Dr. Eckart
Freie Universität Berlin RA Neuwied Bucerius Law School Ignor & Partner GbR Kempf & Dannenfeldt Rechtsanwälte Goethe-Universität Frankfurt am Main, Lehrstuhl für Internationales Bank- und Finanzwesen Universität Osnabrück Baker & McKenzie Goethe-Universität Frankfurt am Main Kanzlei Ulrich Sorgenfrei Universität Göttingen Wittenberg Zentrum für Globale Ethik BASF SE
Theile, Professor Dr. Hans LL.M Trendelenburg, Cornelius Trüg, Dr. Gerson
Universität Konstanz Goethe-Universität Frankfurt am Main RA Freiburg/Br.
Vaubel, Professor Dr. Roland Verjans, Renate Volk, Professor Dr. Klaus
Universität Mannheim VBB Rechtsanwälte Universität München, Lehrstuhl für Strafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Strafprozessrecht
Wandt, Professor Dr. Manfred
Goethe-Universität Frankfurt am Main, FB Rechtswissenschaft Krause Lammer Wattenberg Rechtsanwälte Generalstaatsanwaltschaft München Commerzbank AG
Wattenberg, Andreas Wimmer, Renate Wolf, Annika
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Teilnehmer des 2. ECLE Symposium
Wolters, Professor Dr. Gereon
Ruhr-Universität Bochum
Zerbes, Dr. Ingeborg
Institut für Strafrecht der Universität Wien