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German Pages 248 [249] Year 2011
Die Erscheinung Jesu
Europäische Hochschulschriften Publications Universitaires Européennes European University Studies
Reihe XXIII Theologie Série XXIII Series XXIII Théologie Theology
Bd./Vol. 922
PETER LANG
Frankfurt am Main · Berlin · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Wien
Young-in Kim
Die Erscheinung Jesu Eine rezeptionsorientierte Untersuchung der Erscheinungserzählungen in den synoptischen Evangelien
PETER LANG
Internationaler Verlag der Wissenschaften
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Wuppertal, Kirchl. Hochschule, Diss. 2009
Ba 4 ISSN 0721-3409 ISBN 978-3-631-61803-5 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2011 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.de
Für meine Kinder Yu-kyung Yu-shin Eun-soh
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde – unter dem Titel „Die Erscheinung Jesu“ – im Sommersemester 2009 an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung fand eine geringfügige Überarbeitung statt. Diese Arbeit hätte nicht ohne vielfältige Hilfe geschrieben werden können. An erster Stelle danke ich meinem Doktorvater, Hern Prof. Dr. Andreas Lindemann. Er hat immer geduldig und väterlich betreut und war auch stets bereit, sich wohlwollend, interessiert und kritisch auf meine Gedankengänge einzulassen. Es war für mich ein großes Glück, bei ihm lernen und promovieren zu dürfen. Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. François Vouga danke ich für sein Zweitgutachten. Ebenso danke ich dem Herausgeber Dr. Hermann Ühlein für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe „Theologie“ der Europäischen Hochschulschriften. Herzlichen Dank auch an Herrn Prof. Kim, Hee-sung (Hana Bible Institute) und dem Herrn Rev. Lee, Hyung-ro in der Manryhyun Kirche (KEHC) für ihren Druckkostenzuschuss. Besonders möchte ich Herrn Ulrich Jung danken, denn ich habe nicht nur bei der Korrektur meiner Arbeit, sondern vor allem während des Aufenthalts meiner Familie in Deutschland viel Hilfe von ihm erhalten. Zu danken ist auch Herrn Volker Sündermann-Gorland und Herrn Altpräses Linnemann, die meinen Text sprachlich und stilistisch korrigiert haben. Auch den Mitgliedern der koreanischen Gemeinde in Paderboren (KEHC) gebührt Dank für ihre Liebe und Gebet. Danken möchte ich auch den Kolleginnen und Kollegen in Bethel, die mit mir in den Häusern Marie Schmalenbach, Waldesruhe und Triangel zusammengearbeitet haben. Durch das Leben in Bethel habe ich auch die Praxis christlicher Liebe erfahren dürfen, denn ich habe hier gelernt, dass Menschen, egal wie beeinträchtigt, harmonisch zusammenleben können. In diesem Sinne ist Bethel wirklich das Haus Gottes. Mein Dank gilt auch meinem Bruder Young-sei Kim für seine Liebe und vielfältige Unterstützung. Und großer Dank gilt natürlich auch meiner Frau Ilrye Lee, die mich in der arbeitsintensiven Zeit immer mit großer Liebe und Geduld unterstützt hat. Und Dank gebührt auch Frau Kyung-za Hutchinson (Kim), die wie eine Mutter das Leben meiner Familie während unserer Zeit in Deutschland liebevoll begleitet hat.
Ich widme die Arbeit an meinen Kindern Yu-kyung, Yu-shin und Eun-soh, die wegen meines Studiums - viel länger als von mir erwartet - im Ausland leben mussten.
Soli Deo Gloria Seoul, im Mai 2011 Kim, Young-in
IX
Inhaltsverzeichnis Einleitung
1
I. Annäherung an Thema und Anliegen
1
II. Vorgehen und methodischer Ansatz A. Der traditionelle Versuch: Synoptische Lektüre B. Ein neuer Versuch: Rezeptionstheorie 1. Rezeptionsgeschichte und Rezeptionsästhetik 2. Erzählkommunikation zwischen Autor und Leser 3. Erzählstruktur a) Minimalstruktur b) Zeitstruktur
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III. Aufbau der Arbeit
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Erster Teil: Die sekundären Erscheinungsberichte als Rezeptionsprozess des offenen Markusschlusses
14
I. Prätext A. Annäherung B. Das Problem des Markusschlusses 1. Ist der Markusschluss unvollständig? 2. Der echte Markusschluss ist umgestellt Worden 3. Mk 16,8 ist der originale Markusschluss, aber das Evangelium endet offen C. Die Jünger in der markinischen Narrative 1. Das Jüngerunverständnis als Hauptthema der markinschen Narrative 2. Wer sind die Jünger? 3. Die Jünger in der episodischen Erzählung a) Positive Konnotation der Jüngerrolle b) Negative Konnotation der Jüngerrolle c) Ihre episodische Rolle D. Fazit
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II. Metatext A. Der rezeptionstheoretische Ansatz
40 42
21 41 23 26 30 31 34 36 38
X
Inhaltsverzeichnis
1. Rezeptionsästhetik 2. Rezeptionsgeschichte B. Die Geographie der Rezeption 1. Die drei Erscheinungsberichte a) Die Erscheinungen und ihre Augenzeugen (1) Erscheinung vor Maria Magdalena (2) Die Erscheinung vor zweien von ihnen (3) Die Erscheinung vor den Elf b) Die Formulierung der Reaktion und das Verhalten der Empfänger (1) oi`` metV auvtou/ genome,noij als Empfänger (2) oi`` loipoi, als Empfänger (3) oi`` e[ndeka als Empfänger 2. Beauftragungsbericht a) Beauftragung b) Auftragsinhalt c) Verheißung der Gaben 3. Der Himmelfahrtsbericht 4. Bezeugung in der Missionspraxis C. Textanalyse 1. Ab- und Angrenzung 2. Erstes Manifest: Erscheinungsberichte a) Erster Bericht: Erscheinung vor Maria Magdalena b) Zweiter Bericht: Die Erscheinung vor zweien von ihnen c) Dritter Bericht: Die Erscheinung vor den Elf 3. Zweites Manifest: Rehabilitierung der Jünger a) Die Sendungsrede (1) euvagge,lion (2) ba,ptisma (3) shmei/a b) Himmelfahrt c) Missionstätigkeit der Jünger D. Fazit
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III. Rückblick und Ertrag
83
Zweiter Teil: Die Erscheinung Jesu in der dih,ghsij des Lukas
85
I. dih,ghsij des Lukas A. Annäherung
85 85
Inhaltsverzeichnis
B. Die dih,ghsij des Lukas als Weiterführung der bisherigen Erzählweise 1. Kommunikation in der dih,ghsij 2. Wer erzählt und wer liest die dih,ghsij? a) Historischer Autor vs. Historischer Leser b) Realer Autor vs. Realer Leser c) Impliziter Autor vs. Impliziter Leser d) Fiktiver Erzähler vs. Fiktiver Leser e) Erzählte sendende Figur vs. Erzählte empfangende Figur C. Fazit II. Die Erscheinungserzählung A. Die implizite Struktur der lukanischen dih,ghsij 1. Jerusalem als geographisches Grundkonzept der Makrostruktur a) Reisemotiv und geographisches Konzept b) Jerusalem als geographisches Zentrum 2. Die Emmausepisode als Zentrum der Erscheinungserzählung a) Abgrenzung der Rahmenerzählung in der Mikrostruktur b) Die Emmausepisode als Integration der Erzähleinheiten B. Erzähltextanalyse 1. Die Ouvertüre der Erscheinungserzählung a) Ab- und Angrenzung b) Die Frauen am Grab: Lk 24,1-10a c) Die Grabepisode des Petrus : Lk 24,10b-12 2. Die Erscheinungserzählung a) Abgrenzung der Erzähleinheiten b) Episode eins: die Erscheinung vor den Emmausjünger (1) Erscheinung vor zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus: Lk 24,13-33a (2) Der Topos Jerusalem in der Emmauserzählung: Lk 24,13-14; Lk 24,33a (3) Das Weggespräch (i) Die anaphorische Raffung: Lk 24,17-24 (ii) Die Belehrung durch den Auferstandenen auf dem Weg: Lk 24,25-27 (4) Das Gastmahl Lk 24,28-32 (i) Die Bitte um das Zusammenbleiben (ii) Das Brotbrechen am Tisch (iii) Raffungsdialog über die Erfahrung c) Episode zwei: die Erscheinung vor Simon (1) Erzählorientierung: Lk 24,33b
XI
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XII
Inhaltsverzeichnis
(2) Die Erscheinung vor Simon in einem beweglichen-freien Satz: Lk 24,34 (3) Der synergetische Raffungseffekt in der Emmauserfahrung: Lk 24,35 d) Episode drei: Die Erscheinung vor den Elf und anderen in Jerusalem (1) Erzählorientierung: Lk 24,36-38 (2) Die Beweisführung des Auferstandenen: Lk 24,39-43 (3) Die zweite Belehrung durch den Auferstandenen: Lk 24,44-45 (4) Beauftragung zur Weltmission durch den Auferstandenen: Lk 24,46-49 3. Das Ende der Erscheinungserzählung und der ganzen Narrative a) Die Himmelfahrt als Ende der Erscheinungsepisode: Lk 24,50-52a b) Koda: Lk 24,52b-53 C. Fazit
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III. Rückblick und Ertrag
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Dritter Teil: Die Erscheinungserzählungen in der matthäischen “inclusive story”
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I. Das Matthäusevangelium als inclusive story A. ‚Inclusive story’ als Aufforderung zum Perspektivwechsel B. Was Matthäus in seiner Narrative inkludiert 1. Die Erzählsituation des impliziten Autors a) Annäherung b) Das Erzählsituationsmodell von Franz K. Stanzel (1) Die auktoriale Erzählsituation (2) Die Ich-Erzählsituation (3) Die personale Erzählsituation c) Die Erzählsituation bei Matthäus (1) Person (2) Modus (3) Perspektive 2. Zeitperspektive a) Problem b) Die Zeit des Erzählens (1) Erzählzeit vs. Erzählte Zeit (2) Analepse vs. Prolepse c) Die Zeitperspektive der matthäischen Erzählung (1) Wer sieht?
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Inhaltsverzeichnis
XIII
(2) Die zeitlichen Signalwörter in der matthäischen Erzählung (3) Die Zeitperspektive der matthäischen Narrative 3. Der Lebenszusammenhang des impliziten Lesers a) Die Polemik gegen die jüdische Führung (1) Gegen ihre gesamte religiöse und politische Autorität (2) Und gegen die Pharisäer b) Das Verhältnis zwischen evkklhsi,a und sunagwgh, c) Der Missionsdiskurs C. Fazit
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II. Erscheinungserzählung A. Ausdehnung der Ostererzählung 1. Ab- und Angrenzung 2. Die Grabwächterepisode als Adhäsion der matthäischen Erscheinungserzählung a) Die innere inhaltliche Einheit (1) Orientierung: Mt 27,62-66 (2) Komplikation: Mt 28,1a.2-4 und Mt 28,11b (3) Evaluation: Mt 28,12-14 (4) Auflösung: Mt 28,15a (5) Koda: Mt 28,15b b) Äußere literarische Parallelität als Verbindungselement (1) Mt 27,57-60 vs. Mt 27,62-66 (2) Mt 28,2-4 vs. Mt 28,8 (3) Mt 28,11a vs. Mt 28,11b (4) Mt 28,15 vs. Mt 28,20 c) Fazit B. Erzähltextanalyse 1. Die Ouvertüre zur Erscheinungserzählung a) Die Erzählorientierung der Grabwächterepisode (1) Vorbereitung des Schauplatzes: Mt 27,62 (2) Der Dialog: Mt 27,63-65 (i) Die Rede der Hohenpriester und Pharisäer: Mt 27,63-64 (ii) Die Pilatusrede: Mt 27,65 (3) Die Folge: Mt 27,66 b) Am leeren Grab (1) Szenische Vorbereitung: Mt 28,1-3 (i) Chronologischer Hintergrund: Abend oder Morgen? (ii) Das Ereignis (2) Die eingebettete Komplikation in der Grabwächterepisode: Mt 28,4 (3) Die Engelsrede : Mt 28,5-7
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XIV
Inhaltsverzeichnis
2. Die erste Erscheinung vor den Frauen in Jerusalem: Mt 28,8-10 a) Der szenische Hintergrund: Mt 28,8-9 b) Die erste Rede des Auferstandenen: Mt 28,10 3. Der Ausgang der eingebetteten Grabwächterepisode: Mt 28,11-15 a) Der szenische Hintergrund: Mt 28,11-12 b) Die Rede der Hohenpriester und Ältesten: Mt 28,13-14 c) Die Folgen: Mt 28,15 4. Die zweite Erscheinung von den Elf in Galiläa: Mt 28,16-20 a) Der szenische Hintergrund: Mt 28,16-18a b) Die zweite Rede des Auferstandenen: Mt 28,18b-20 (1) Das Vollmachtwort: Mt 28,18b (2) Sendungswort: Mt 28,19-20a (3) Das Verheißungswort: Mt 28,20b C. Fazit
194 195 196 197 198 198 199 201 201 204 204 205 206 207
III. Rückblick und Ertrag
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Schlussfolgerungen
212
Literaturverzeichnis
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1
Einleitung I. Annäherung an Thema und Anliegen Als siebtes und letztes Wunder1 des Johannesevangeliums (11,1-44) wird die Auferweckung des Lazarus berichtet; Jesus erweckt den schon seit vier Tagen Begrabenen, dessen Zustand drastisch beschrieben wird. Im Vergleich zu den synoptischen Totenauferweckungserzählungen (Mk 5,41; Lk 7,14) ist vor allem der blockartig2 eingefügte Dialog zwischen Jesus und Martha auffällig (Joh 11,21-27):3 Martha sagte nun zu Jesus: „Herr, wärest du hier gewesen, so wäre mein Bruder nicht gestorben. Und jetzt weiß ich: Alles, um was du Gott bitten wirst, wird Gott dir geben.“ Jesus sagt zu ihr: „Dein Bruder wird auferstehen.“ Martha sagt zu ihm: „Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am jüngsten Tage.“ Jesus sprach zu ihr: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt; und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben. Glaubst du das?“ Sie sagt zu ihm: „Ja, Herr, ich habe den Glauben gewonnen, dass du der Christus, der Sohn Gottes bist, der in die Welt kommen soll.“ Auf den ersten Blick wirkt der Dialog wie ein typischer Katechismus, der in regelhafter Frage- und Antwortform angelegt ist. Folgerichtig endet er tatsächlich mit einem Glaubens-bekenntnis4: su. ei= o` cristo.j o` ui`o.j tou/ qeou/ o` eivj 1 2
3
4
Vgl.: Die Semeiaquelle, in Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes (1-10), 134142. Die Einfügung unterbricht den Erzählzusammenhang und besitzt auch einen anderen Erzählstil. Siehe Jörg Frey, Die johanneische Eschatologie III, 407 und Ruben Zimmerman, Narrative Hermeneutics of John 11, in Craig R. Koester and Reimund Bieringer (Ed.), The Resurrection of Jesus in the Gospel of John, 75-101. Übersetzung nach der Züricher Bibel. Zur Exegese dieser Perikope siehe Jürgen Becker, Das Evangelium nach Johannes (11-21), 341-364; Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, 172-181, Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, 510-538. Vgl. Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 306.
2
Einleitung
to.n ko,smon evrco,menoj. Infolgedessen geht es im Dialog auch gar nicht um die konkrete Auferweckung des toten Lazarus, sondern um die generelle Aussage, dass der Gläubige zum ewigen Leben erweckt werden wird, also um die eschatologische Erwartung der allgemeinen Auferstehung am jüngsten Tag (evn th/| avnasta,sei evn th/| evsca,th| h`me,ra|). Wenn sich Jesus hier im „Ich-bin-Wort“ (evgw, eivmi h` avna,stasij kai. h` zwh,)5 ausdrücklich als Auferstehung und Leben bezeichnet, wird zugleich auch jeglicher Zweifel an seiner später berichteten Auferstehung ausgeschlossen, denn Jesus präsentiert sich in Selbstprädikation als Basis und Voraussetzung für den Glauben an die allgemeine endzeitliche Totenauferstehung und das ewige Leben bei Gott.6 Einer ganz ähnlichen Gedankenführung begegnet man auch in 1 Kor 15,7 wo sich Paulus mit den korinthischen Enthusiasten auseinandersetzt.8 Der Erörterungsanlass, wie 1 Kor 15,12 explizit zeigt, war, dass es in der Gemeinde einige gab, die die Auferstehung der Toten leugneten (avna,stasij nekrw/n ouvk e;stin). Um sie zu überzeugen, betont Paulus zunächst die Tatsache der Auferstehung Jesu. So beginnt seine Argumentation mit der Erinnerung an den in Korinth überlieferten Traditionsprozess und einer Aufzählung von Erscheinungszeugen, wobei er eine alte kirchliche Glaubensformel zitiert (1 Kor 15,3b-5(7))9. Wie im Gespräch zwischen Jesus und Martha im Johannesevangelium, ist auch hier die Auferstehung Jesu der Ausgangspunkt eines eschatologischen Prozesses, in dem der Gläubige in Christus die endzeitliche Totenauferweckung erwartet.10 Angesichts beiden Perikopen gewinnt man allerdings den Eindruck, dass die Frage der Umstände der Auferstehung Jesu dort völlig außer Betracht gelassen wird. Doch für Paulus ist die Verkündigung, dass Christus von den Toten auferweckt ist (1 Kor 15,12), die Prämisse seiner Beweisführung; und auch für Johannes ist die Aussage, dass Jesus die Auferstehung und das Leben ist (Joh 5 6 7
8
9 10
Man vergleiche hiermit das evgw, eivmi-Wort in Ex 3,14(LXX). Vgl. Hartwig Thyen, Das Johannesevangelium, 523-527; Ulrich Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, 178f. Zur Exegese der Perikope vgl. Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 15,1-16,24), 3-421; Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief, 324-373. Für weitere Literatur siehe Joël Delobel, The Corinthians’s (un-) belief in the resurrection, in: R. Bieringer, V. Koperski & B. Lataire (Ed.), Resurrection in the New Testament, BEThL 165, 343- 355, hier 343, Anm. 2. Siehe „Auferstehungsleugnung und – spiritualisierung“ in: Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 1,1-6,11), 57-60; Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief, 9-14 u. besonders 261-311. Vgl. Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief, 328-330; siehe auch Henk Jan De Jonge, Visonary experience and the historical origins of Christianity, 35-53. Vgl. Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther (1 Kor 15,1-16,24), 9-19 und Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief, 324f.
Einleitung
3
11,25), Grundlage des Glaubens. Trotzdem sind die urchristlichen Texte, die von seiner Auferstehung bzw. Erscheinung berichten, sehr heterogen.11 In den neutestamentlichen Schriften begegnet man Aussagen in narrativer Form oder traditionellen Glaubensformeln. Die erste Form findet sich lediglich am Ende der Evangelien, während die zweite als ein intertextuelles Spiel in den narrativen Evangelientexten und paulinischen Briefen erscheint.12 Im Glaubensbekenntnis, das wohl von Anfang an formelhaft überliefert worden ist,13 ist die Überlieferung der Auferstehung bzw. Erscheinung Jesu nur wenig variiert worden,14 was sowohl für die Evangelien als auch für die paulinische Korrespondenz gilt. Jedoch berichten die narrativen Texte die Auferstehung bzw. die Erscheinungen Jesu am jeweiligen Evangelienende sehr unterschiedlich. Einerseits kann das vor allem an der Verstehensschwierigkeit des Urphänomens liegen, mit dem man konfrontiert wird, und andererseits an dessen unterschiedlicher Rezeption, obwohl Jesu Auferstehung seit den christlichen Anfängen als Bedeutungshorizont der Erwartung der allgemeinen Totenauferweckung generell anerkannt worden ist. Paulus behandelt das Thema der Auferstehung im 1 Korintherbrief, in einer längeren Passage sehr sorgfältig und ausführlich, indem er es an das Ende seines Briefes an hervorgehobener Stelle platziert.15 Johannes stellt nicht nur Martha durch den Mund Jesu auf der textinternen Ebene die Frage pisteu,eij tou/to;16 zugleich wird auf der textexternen Ebene auch der Leser bzw. Hörer gefragt. Damals wie heute ist die Thematik für die christliche Gemeinde und den christlichen Leser aktuell und essentiell,17 da die Frage nach der Auferstehung Jesu 11 12
13
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François Vouga, Geschichte des frühen Christentums, 25-28, bezeichnet dies als „die ursprüngliche Vielfalt“. Beispielweise: „In Wahrheit wurde der Herr erweckt und erschien dem Simon“ (Lk 24,33) oder „Er erschien dem Kephas, dann den Zwölf“ (1 Kor 15,5) bzw. „Wir haben den Herrn gesehen“ (Joh 20,25). Siehe auch Otto Michel, Der Abschluss des Matthäusevangeliums (ursprünglich in: EvTh 19, 1950, 16-26), wiederabgedruckt in; Joachim Lange (Hg.), Das Matthäus Evangelium, 119-133, hier 120f. Anderer Auffassung sind: Martin Hengel, Das Begräbnis Jesu bei Paulus, Friedrich Avemarie u. Hermann Lichtenberger, Auferstehung. Resurrection, 119-183, sie meinen, dass man auch im verkürzten und formelhaften kerygmatischen Bekenntnis einen erzählenden Bericht sehen könnte. Sie wird auch als „Osterruf“ bezeichnet. Zu weiteren Beispielen der Sterbens- und Auferstehungsformel im NT siehe Martin Hengel, Das Begräbnis Jesu bei Paulus, 127, Anm. 36. Vgl. Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief , 8f. Vgl. Joh 11,26. Es scheint, als ob die Diskussion um die Auferstehung Jesu Christi seit dem zweiten Weltkrieg intermittierend verliefe, und in jüngster Zeit hat sich die Debatte wieder leb-
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Einleitung
aufs Tiefste die Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis des Glaubens berührt. So erweckt Paulus die Aufmerksamkeit seiner Adressaten, indem er sie mit der Thematik sehr unvermittelt konfrontiert; und so fordert Johannes nicht nur von Martha, sondern auch vom Hörer, dass sie als Antwort offen bekennen: „Ja, Herr, ich glaube“. Vor diesem Hintergrund untersuchen wir nun die narrativen Texte über die Auferstehung bzw. die Erscheinungen Jesu. Wie und auf welch unterschiedliche Weise wird von der Prämisse des urchristlichen Glaubens erzählt? Welche Bedeutung hatte das Ereignis damals und wie interpretieren wir es für uns heute?
II. Vorgehen und methodischer Ansatz A. Der traditionelle Versuch: Synoptische Lektüre Um die Auferstehung bzw. Erscheinungen Jesu zu untersuchen, wenden wir nun unseren Blick auf die narrativen urchristlichen Texte, also besonders die ersten drei Evangelien, die davon erzählen. Sie tun dies aber nicht einheitlich, obwohl die drei eng miteinander verwandt sind und darum „synoptische Evangelien“ genannt werden. Deshalb gehen wir in der vorliegenden Arbeit zunächst vom synoptischen Lesen aus, da man so für unsere Thematik zu zahlreichen wichtigen Einsichten gelangen kann, wie die neutestamentliche Forschung gezeigt hat. Durch Zusammenschau und vergleichendes Lesen werden die Ähnlichkeit, Eigenheit oder Verschiedenheit in Tradition und Redaktion der synoptischen Evangelien aufgezeigt.18 Wir setzen dabei die sogenannte Zweiquellentheorie (Mk-Priorität und Q-Hypothese) voraus, die besagt, dass Markus das älteste
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haft entwickelt. Siehe Jürgen Becker, Die Auferstehung Jesu Christi nach dem Neuen Testament, 1; vgl. Stefan Alkier, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments; Franz Zerlinger, Der biblische Auferstehungsglaube; Friedrich Avemarie u. Hermann Lichtenberger (Hg.), Auferstehung. Resurrection; R. Bieringer, V. Koperski & B. Lataire (Ed.), Resurrection in the New Testament; HansJoachim Eckstein/ Michael Welker (Hg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung; Stephen Davis u.a. (Ed.), The Resurrection; Craig R. Koester and Reimund Bieringer (Ed.), The Resurrection of Jesus in the Gospel of John. Vgl. Petr Pokorný u. Ulrich Heckel, Einleitung in das Neue Testament, 321-328; Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 185-215; Hans Conzelmann u. Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 66-75 u.116-119.
Einleitung
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Evangelium ist. Matthäus und Lukas benutzten es für ihre Werke als primäre Quelle und daneben gibt es noch eine zweite Quelle, die als „Q“ bezeichnet wird, die allerdings nicht mehr als solche erhalten geblieben ist.19
B. Ein neuer Versuch: Rezeptionstheorie Für die oben skizzierte Grundlage empfiehlt es sich auch, Martin Hengel zu beachten, der die Korrelation20 zwischen narrativem Text und formelhaftem Glaubensbekenntnis in den neutestamentlichen Schriften so bestimmt: 21 „Das Evangelium als Erzählung des Heilsgeschehens stand von Anfang an in notwendiger Parallelität zum Evangelium als Kerygma, ja es war im Grunde ein ganz wesentlicher Teil der Evangeliumsverkündigung.“ Zwar versteht er beide in ihrer sich ergänzenden Funktion als Einheit, aber, wie er selbst schon in Klammern vermerkt: „Die erzählte (und damit immer zugleich interpretierte) Jesustradition unter Einschluss der Passions- und Auferstehungsberichte, ja mit diesen als Klimax“, kann als ein erzählender und produktiver Prozess ganz anders sein, weil es nun um eine Interpretationskraft und eine epische Freiheit geht, welche jeder Mensch sui generis besitzt.22 Die Forderung von Jürgen Becker nach Orientierungsvielfalt gilt mit Recht nicht nur für die Diskussion um die Auferstehung bzw. Erscheinung Jesu, sondern auch für die neutestamentliche Forschung im Allgemeinen:23 „[N]ach ihrer Beachtung der Eingebundenheit der neutestamentlichen Aussagen in die antike Welt, nach ihrem methodischen Umgang mit den urchristlichen Texten und dem zugrunde liegenden eigenen Textverständnis (dabei vor allem ihrem Urteil zum Verhältnis von erzählter Welt und historischer Wirklichkeit), nach ihrer Beachtung der Interdependenzen zwischen den urchristlichen Texten in Bezug auf deren 19
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21 22 23
Vgl. auch Anm. 18. Zur Debatte um die Zwei-Quelle Hypothese siehe David L. Dungan (Ed.), The Interrelations of the Gospels; zur aktuellen Diskussion siehe auch Andreas Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992-2000 (I), 182-227, hier 190-202. Bei Martin Hengel, Das Begräbnis Jesu bei Paulus, 127, wird die Korrelation als „erzählende“ Evangelienschreibung und „verkündigtes“ Evangelium der Paulusbriefe bezeichnet. Martin Hengel, Das Begräbnis Jesu bei Paulus, 127. Insofern zielt die Ansicht von Martin Hengel auf ein Gesamtbild oder den Kernbereich des Evangeliums, wenn er von Einheit spricht. Vgl. Martin Hengel, ebd. Vgl. Jürgen Becker, Die Auferstehung Jesu Christi nach dem Neuen Testament, 1; vgl. auch „Die Methodische Frage“ in ders., Jesus von Nazaret, 1-20; siehe weiterhin „Methodendiskussion und Darstellung“ in Andreas Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992-2000 (I), 182-186.
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Einleitung Entstehungsverhältnisse, nach der Wahrnehmung der innerchristlichen Dialogsituation, in der sich die neutestamentlichen Autoren befinden, und den Zielen, die sie kommunikativ verfolgen, nach der Kenntnisnahme, welches eigene Profil die Texte besitzen, und ob und wie sie Einzelaspekte des Gesamtthemas aufrollen oder vernachlässigen, nach den fundamentaltheologischen Vorgaben und Zielen, die die heutigen Autoren prägen, wieweit sie solche Positionen offen legen oder im Stillen wirken lassen und welcher Forschungsertrag endlich als Gesamtergebnis angeboten wird.“
Dieser Orientierungsaufforderung kommt besondere Bedeutung zu, weil es erforderlich erscheint, die bislang überwiegend einseitige Textbeobachtung zu überwinden. Diachrone oder synchrone Betrachtungen sollten sich nicht länger ausschließen, denn es ist vielmehr zu erwarten, dass die Tendenz zur Kombination oder zum Zusammenspiel ihrer Methodik in der Synoptikerauslegung deutlich zunehmen wird.24 Darum möchte auch ich versuchen, eine neue angemessene Methodik zu finden, wobei Synchronie und Diachronie in vielfacher Hinsicht nicht alternativ, sondern als sich gegenseitig ergänzend berücksichtigt werden,25 um eine bislang unbeachtete Forschungslücke zu schließen.
1. Rezeptionsgeschichte und Rezeptionsästhetik Ausganspunkt der folgenden Untersuchung ist vor allem ein methodisches Phänomen, das „Rezeption“ genannt wird. Die in der Literaturwissenschaft relativ neu entdeckte und heute schon weit entwickelte Rezeptionstheorie befasst sich speziell mit der indifferenten Funktion des Lesers. Die Literaturwissenschaft hat sich bisher überwiegend auf Autor und Text konzentriert, obwohl der Leser natürlich als Rezeptionssubjekt ihnen schon immer gegenüber gestanden hat. Jetzt wird aber in der Rezeptionstheorie die Rolle und Funktion des Lesers/der Rezeption vehement betont und ins Zentrum gerückt.26 Bemerkenswert ist dabei, dass der Begriff „Rezeption“ zwei Dimensionen aufweist, die sich in der Frage nach Rolle und Funktion des Lesers grundsätzlich voneinander unterscheiden:27 Rezeptionsgeschichte und Rezeptionsästhetik. Anders gefragt: Wo entsteht ein Kommunikationsverhältnis zwischen Autor und Leser im Text? 24
25
26 27
Vgl. Camille Focant (Ed.), The Synoptic Gospels. Source Criticism and New Literary Criticism; dazu auch Andreas Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992-2000 (I), 182-184. Zum Spannungsverhältnis zwischen Diachronie und Synchronie in der theologischen Methodik vgl. Hans Conzelmann u. Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 115f. Vgl. dazu den Abschnitt „Metatext“, S. 40f. dieser Arbeit. Vgl. dazu den Abschnitt „ Der rezeptionstheoretische Ansatz“, S. 42f. dieser Arbeit.
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Während bei der Rezeptionsgeschichte das Interesse am Leser auf der textexternen Ebene liegt, beschäftigt sich die Rezeptionsästhetik mit dem Interesse am Leser auf der textinternen Ebene.28 Bei den Synoptischen Evangelien findet man ein derartiges Phänomen besonders beim längeren Schluss des Markusevangeliums und dem Anfang des Lukasevangeliums, wo ein Leser gleichzeitig als produktiver Leser und Autor auf das unerwartete und unbefriedigende Vorgängerwerk reagiert hat.29 Die Rezeption hat also einen historischen Horizont, in dem die Leseraktion als komplexer Prozess - empirisch, gesellschaftlich und geschichtlich - erscheint.30 Dies gilt nicht nur für das Proömium des Lukasevangeliums, wo nicht behauptet werden kann, dass sich die Kommunikationssituation ausschließlich auf der textexternen Ebene bewegt. Vielmehr bedeutet das für Lukas, da er sein Werk selbst als „Erzählung (dih,ghsij)“ beurteilt, dass eine Kommunikation durch den schriftlich fixierten Erzähltext entsteht.31 Somit wird das Kommunikationsverhältnis zwischen Autor und Leser auf der textinternen Ebene besonders aus einer ästhetischen Perspektive betrachtet, um das Autorbewusstsein gegenüber dem intendierten Leser zu verstehen und zu interpretieren.32
2. Erzählkommunikation zwischen Autor und Leser Wie wir oben angedeutet haben, hält der Autor anscheinend einen Monolog in seinem Text, da er ohne Partner zu sein scheint. Tatsächlich aber führt er einen Dialog mit seinem Leser, indem er eine Kommunikation durch den schriftlich fixierten Erzähltext anregt. Diese Kommunikationssituation, das Erzählkommunikationsverhältnis zwischen Autor und seinem Leser durch den Erzähltext ist sehr komplex33 und lässt sich symmetrisch darstellen.34 Wie Diachronie und Synchronie stehen auch Rezeptionsgeschichte und -ästhetik einander ambivalent gegenüber. So fragt man bei der Erzählkommunikation, ob sie im textexternen oder textinternen Bereich anzusiedeln ist. Eine Kommunikation im textexternen Bereich ist indirekt, weil in dieser Kommunikationssituation natürlich ein zeitlicher und räumlicher Abstand gegeben ist, wenn von den Kommunikationspart28 29
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A.a.O. Vgl. den Abschnitt „Das Problem des Markusevangeliums“, S. 16-20 dieser Arbeit; vgl. auch das Proömium des Lukasevangeliums (Lk 1,1-4) und den Abschnitt „Die dih,ghsij des Lukas als Weiterführung der bisherigen Erzählweise“, S.88f. dieser Arbeit. Vgl. hierzu den Abschnitt „Rezeptionsgeschichte“, S. 44-45 dieser Arbeit. Vgl. den Abschnitt „Kommunikation in der dih,ghsij “, S. 89-92 dieser Arbeit. Vgl. den Abschnitt „Rezeptionsästhetik“, S. 43f. dieser Arbeit. Vgl. unten S. 89-92 den Abschnitt „Kommunikation in der dih,ghsij “ dieser Arbeit. Siehe beispielweise das Schema auf S. 91 dieser Arbeit.
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nern als historischer Autor/Leser und realer Autor/Leser gesprochen wird.35 Hingegen ist die Kommunikation im textinternen Bereich zwar implizit, aber direkt, weil sich das ganze Bewusstsein des Autors, das zum Leser hintendiert, darin befindet. So vollzieht sich in diesem Fall die Kommunikation implizit in der Erzählwelt. In der Erzählwelt nutzt der Autor implizit im Höchstmaß alle Möglichkeiten,36 um mit seinem Leser in einen Dialog zu treten, um sich ihm so verständlich zu machen.37 Dementsprechend wird der Leser also in dieser Kommunikationssituation als abstrakter Leser, intendierter Leser, sowie impliziter Leser bezeichnet.38 Da der Leser auf diese Art und Weise vielfältig im erzählten Text inkludiert ist,39 ist es für uns unerlässlich, die bisher dominierende Betrachtungsweise, die sich auf den produktionsorientierten Prozess konzentriert hat, zu korrigieren,40 indem wir unseren Blick dem rezeptionsorientierten Prozess zuwenden, der sich nicht nur um den Autor und seinen Text, sondern zusätzlich um den Leser und seine Aktivität bemüht.41 Zu diesem Zweck müssen wir von einer möglichen Vielfalt der Kommunikationsverhältnisse zwischen Autor und Leser auf der textexternen und textinternen Ebene ausgehen.
3. Erzählstruktur Parallel zu dem, was wir oben zum methodischen Ansatz skizziert haben, nehmen wir in der folgenden Untersuchung an, dass das Evangelium als Ganzes eine Erzählung ist. Darum müssen wir uns künftig mit der empirischen und zeitlichen Erzählstruktur beschäftigen. Zunächst wollen wir aber besonders das Verständnis der Minimalstruktur vertiefen, weil sie als Episode beispielhaft ist. Sie gehört zwar als „subplot“ in einen größeren narrativen Zusammenhang, aber sie
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Der erste Leser sowie der potentielle Leser gehören auch zu dieser Kategorie. Vgl. dazu den Abschnitt „Wer erzählt die dih,ghsij und wer liest sie?“, S. 92-96 dieser Arbeit. Und besonders auch die Abschnitte „Historischer Autor vs. Historischer Leser“ und „Realer Autor vs. Realer Leser“, S. 92f. dieser Arbeit. Beispielweise in der Erzählsituation der point of view, sowie der Lebenszusammenhang des impliziten Lesers. Siehe „Was Matthäus in seiner Narrative inkludiert“, S. 152-181 dieser Arbeit. Vgl. den Abschnitt „Die Erzählsituation des impliziten Autors“, S. 152f. dieser Arbeit. So versteht man unter diesem Begriff auch den „Adressaten“. Vgl. auch den Abschnitt „Impliziter Autor vs. Impliziter Leser“, S. 94f. dieser Arbeit. Für die Inklusion, speziell die Inklusion des Lesers im erzählten Text siehe den Abschnitt „Was Matthäus in seiner Narrative inkludiert“, S. 152-181 dieser Arbeit. Vgl. den Abschnitt „‘inclusive story‘ als Aufforderung zum Perspektivwechsel“, S. 149151 dieser Arbeit und das dortige Schema. A.a.O.
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ist durch ihr eigenes Thema in einer relativ geschlossenen Struktur als „eigenständige Einheit“ konzipiert.42 a) Minimalstruktur Der Autor kommuniziert als Erzähler mit seinem Leser bzw. Hörer durch den erzählten Text. Eine Erzählung ist aber dadurch bestimmt, dass Ereignisse chronologisch aufeinander folgen.43 Daher erscheint es für eine Erzählung unerlässlich zu sein, dass die Reihenfolge der Sätze im Erzähltext auch mit der chronologischen Reihenfolge der dargestellten Ereignisse übereinstimmt. 44 Diesen Sachverhalt haben William Labov und Joshua Walletzky in ihrer soziolinguistischen Studie diagnostiziert. 45 Aber nach dem Soziolinguistiker William Labov besteht der Kern einer Erzählung einerseits aus narrativen Teilsätzen (narrativ clauses), die an eine strenge Temporalabfolge gebunden sind, aber andererseits auch aus einem freien Satz (free clause), der sich innerhalb der Erzählfolge frei bewegen kann, weil ihn keine temporale Verknüpfung einschränkt.46 Als Beispiel einer Minimal-Erzählung betrachten wir drei Teilsätze aus dem Prolog des Markusevangeliums (1,1-15):47 42
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Zum Begriff der Episode, siehe Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 110f. Zur Gliederung und Verknüpfung mehrsträngiger Erzählungen vgl. Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, 43-73. So unterscheiden sich „story“ und „plot“ im englischen Sprachraum: story ist die einfache chronologische Abfolge der Begebenheit, nämlich „a narrative of events arranged in their timesequene“; Plot ist hingegen ein Ordnungsprinzip, in der die gestellte Geschehensfolge ausgewählt und geordnet wird, nämlich „the chain of events in a story and the principle which knits it together.“ Die englische Definition von Edward Forster wird von Eberhard Lämmert zustimmend zitiert. Siehe ders., Bauformen des Erzählens, 25. Vgl. Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, 25; vgl. auch Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 145f. Vgl. William Labov und Joshua Walletzky, Erzählanalyse: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung, in Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik, 78126 und William Labov, Der Niederschlag von Erfahrungen in der Syntax von Erzählung, in Norbert Dittmar u. Bert-Olaf Rieck (Hg.), William Labov: Sprache im sozialen Kontext, 287-328; zur Verwertung und Übertragung seiner Erzählanalyse in die Literaturwissenschaft siehe Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 145-149. Siehe William Labov, Der Niederschlag von Erfahrungen in der Syntax von Erzählung, 293-295 auch ders., Erzählanalyse: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung, 98102. Vgl. Dieter Lührmann, Das Markusevangelium, 31-44; Wilfried Eckey, Das Markusevangelium, 54-68; auch Hans Conzelmann u. Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 315. Anders Mk 1,1-13 als Prolog siehe Petr Pokorný u. Ulrich Heckel, Einleitung in das Neue Testament, 367.
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a Jesus kam aus Nazareth in Galiläa (V.9a) b Jesus wurde von Johannes im Jordan getauft (V.9b) c Johannes wurde ausgeliefert (V.14) Die Erzählung besteht aus drei Teilsätzen, von denen aber nur zwei narrative Teilsätze sind. Die Sätze b und c verweisen darauf, dass sie die strenge temporale Abfolge einhalten. Wenn der Satz b jedoch dem Satz c folgte, wäre es nicht mehr möglich, den ursprünglichen Sinn zu verstehen.48 Hingegen zeigt der Satz a keine temporale Verknüpfung und könnte also hinter b oder c platziert werden. Er kann sich deshalb semantisch innerhalb der Minimalstruktur bewegen, ohne die temporale Ordnung zu (zer)stören, weshalb man einen derartigen Satz als freien Satz bezeichnet. Nach Auffassung von William Labov kann man auch feststellen, dass eine aus narrativen Teilsätzen bestehende Erzählung grundsätzlich eine typische Strukturierung besitzt. Diese bezeichnet er als die Minimalstruktur einer Erzählung. Obwohl das tatsächliche Erzählverhalten angesichts der möglichen Komplexität der Minimalstruktur immer variiert, erzählt ein Erzähler - nach seiner empirischen Analyse - bewusst so: 49
Nach seinem Schema wird eine Erzählung normalerweise mit einer Orientierung eröffnet,50die für die Zuhörer eine referentielle Funktion hat. In dieser Phase informiert der Erzähler vor allem über Personen, Ort, Zeit und Handlungssituation. Danach führt die Erzählströmung zum Hauptteil der Narrative, nämlich der Komplikation. Sie besteht manchmal sogar aus mehreren einfachen Erzählzyklen mit zahlreichen Komplikationsteilen. In dieser Phase wird die 48
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So bleibt bei Lukas unklar, von wem Jesus getauft wurde. Denn im Blick auf die Taufe Jesu ist die temporale Abfolge entgegen dem Markusbericht umgekehrt: a. Johannes der Täufer wurde ins Gefängnis eingeschlossen (Lk 3,20), b. Jesus wurde getauft (Lk 3,21). Vgl. William Labov und Joshua Walletzky, Erzählanalyse, 111-125 und ders., Der Niederschlag von Erfahrungen in der Syntax von Erzählung, 296-303; Vgl. Auch den Anschnitt „Die innere inhaltliche Einheit“, S. 184-186 dieser Arbeit. Vgl. William Labov und Joshua Walletzky, Erzählanalyse, 111f.
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Komplikation in der Regel mit einem Resultat abgeschlossen. Darauf folgt eine Evaluationsphase. Unter dem Begriff der Evaluation versteht man Folgendes:51 „Erzählungen werden gewöhnlich in Reaktionen auf einen bestimmten Stimulus von außen und zum Ausdruck irgendwelcher persönlicher Interessen erzählt.“ Obwohl in vielen Erzählungen der Evaluationsteil mit dem Resultat der Komplikation verschmilzt, hebt sich die Evaluation als ein Erzählteil von relativer Wichtigkeit innerhalb der Narrative hervor. Schließlich löst ein Erzähler alles auf, indem die von ihm entwickelte Komplikation durch die Evaluation durchschaubar gemacht wird. Nun weist die Koda den Zuhörer auf das Erzählungsende hin, indem sie ihn aus der Vergangenheit in seine Gegenwart zurückholt. b) Zeitstruktur Wie wir oben gesehen haben, kann ein Erzähler gemäß der Minimalstruktur, in der die Ereignisse chronologisch aufeinanderfolgen, seine Erfahrung auch schematisch rekapitulieren. Aber die narrative Struktur besteht normalerweise nicht nur aus narrativen Teilsätzen, sondern auch aus beweglichen freien Sätzen. Darum müssen diese auf alle möglichen Positionen hin überprüft werden, um ihren Sinn richtig zu interpretieren.52 Allerdings können sie sich jedoch in der Minimalstruktur nur eingeschränkt bewegen, nämlich innerhalb einer bestimmten temporalen Grenze. Hier ist es eher die Mikrostruktur, in der die verschiedenen zeitlichen Aspekte und die kausale Kontinuität addiert und integriert werden. Allerdings müssen wir in der Untersuchung auch die Makrostruktur der Erzählung beachten, in der ebenfalls verschiedene zeitliche Aspekte und die kausale Kontinuität addiert und integriert erscheinen. Zu achten ist auch auf eine Zeitumstellung des Geschehens in mehreren Handlungssträngen, die nicht durch eine einfache temporale Abfolge, sondern durch narrative Anachronie verknüpft sind.53 Dies geschieht, indem wir zwischen „der Zeit des Erzählten“ und „der Zeit der Erzählung“ differenzieren.54
III. Aufbau der Arbeit Um die Vielfältigkeit der Auferstehungs- und Erscheinungsüberlieferung in den Anfängen des Christentums zu erforschen und um untersuchen zu können, inwieweit die Prämisse des urchristlichen Glaubens variiert werden konnte, analysieren wir in der vorliegenden Arbeit die Erscheinungserzählungen der Synopti51 52 53 54
Vgl. William Labov und Joshua Walletzky, Erzählanalyse, 114. Vgl. William Labov und Joshua Walletzky, Erzählanalyse, 122-125. Vgl. den Abschnitt „Analepse vs. Prolepse“, S. 162-163 dieser Arbeit. Vgl. den Abschnitt „Erzählzeit vs. Erzählte Zeit“, S. 161f dieser Arbeit.
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ker. Aber in ihren Evangelien wird die Auferstehung im eigentlichen Sinne gerade nicht erzählt! In der Arbeit versuchen wir, speziell anhand der rezeptionsorientierten Betrachtungsweise, literarische Besonderheiten, die das jeweilige Evangelium prägen, zu finden und zu charakterisieren. Dabei übersehen wir nicht die notwendige methodische Aufforderung nach Spannung und Harmonie von Diachronie und Synchronie. Nach dieser Einleitung werden die Erscheinungserzählungen im Markus-, Lukas- und Matthäusevangelium nacheinander behandelt, wodurch sich die Arbeit in drei Teile gliedert. In jedem nähern wir uns deshalb dem Text mit einem spezifischen Anliegen, wobei eine entsprechende neue Methode probiert wird, wodurch wir jeweils auch zu besonderen Schlussfolgerungen gelangen. In allen Teilen gibt es zudem eine Methodendebatte, in der der neue Ansatz mit dem alten in Beziehung gesetzt wird. Der neue Zugang soll das Rezeptionsphänomen in den synoptischen Evangelien deutlich sichtbar werden lassen. In erster Linie widmet sich der erste Teil den Erscheinungsberichten im sogenannten längeren Schluss des zweiten Evangeliums (Mk 16,9-20), obwohl Markus sein Evangelium mit 16, 8 zu beenden scheint. Zwar ist er von sekundärer Bedeutung und wird daher in Studien zum Evangelium häufig isoliert behandelt, aber mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte erscheint er in einem neuen Licht, da er als Resultat eines Rezeptionsprozesses verstanden werden muss. Deshalb betrachten wir zunächst das rätselhafte Markusende und seinen längeren Schluss. In diesem Teil betrachten wir allerdings aber vor allem das Jüngerbild im gesamten Narrativzusammenhang, weil uns nämlich die Jüngerthematik ein hermeneutischer Schlüssel zu sein scheint, mit dem sich das ganze Evangelium erschließen lässt. Anschließend untersuchen wir die vielfältigen Berichte über die Erscheinung Jesu im längeren Schluss. Insbesondere geht es um einen Vergleich mit anderen Auferstehungs- bzw. Erscheinungserzählungen innerhalb und außerhalb der kanonischen Evangelien. Im zweiten und dritten Teil der Arbeit geht es methodisch vor allem um Rezeptionsästhetik. Während die Rezeptionsgeschichte mit dem historischen Leser und seinem Rezeptionsprozess zu tun hat, bedeutet Rezeptionsästhetik, dass man den ästhetischen Aspekt des Textes untersucht. Wir konzentrieren uns dann auf die durch einen erzählten Text hergestellte Kommunikation auf der textinternen Ebene, weil wir über die Kommunikation zwischen dem real-historischen Autor und real-historischen Lesern nicht viel wissen können. Aus diesem Grund machen wir insbesondere bei Lukas auf die im Proömium (Lk 1,1-4) erwähnte Selbstbezeichnung seines Werkes aufmerksam. Dort bezeichnet er nicht nur sein Werk, sondern auch die Werke seiner Vorgänger als Erzählung (dih,ghsij).55 55
Vgl. Lk 1,1.
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Daher beleuchten wir zunächst, dabei dem Selbsthinweis folgend, was Lukas damit meint, um sodann aus dieser Perspektive seine Erscheinungserzählung zu interpretieren. Der Ausgangspunkt für die Untersuchung im dritten Teil ist, dass Matthäus in der Jesusgeschichte seine eigene Geschichte inkludiert dargestellt hat. Das wird besonders dort deutlich, wo er sich in der Auferstehungs- bzw. Erscheinungserzählung über das leere Grab Jesu mit der jüdischen Führung intensiv auseinandersetzt. Dabei geht es um den Vorwurf, dass die Jünger die Leiche Jesu gestohlen hätten. Das Stichwort sh,meron (heute) in kai. diefhmi,sqh o` lo,goj ou-toj para. VIoudai,oij me,cri th/j sh,meron (Mt 28,15b) zeigt, dass Matthäus es als eine offenkundig gegenwärtige Problematik versteht.56 So verstehen wir speziell im Anschluss an Ulrich Luz das Matthäusevangelium als eine ‚inclusive story‘,57 wo nicht nur verschiedene zeitliche und räumliche Perspektiven in verschiedenen Erzählsituationen, sondern auch der implizite gegenwärtige Lebenszusammenhang inkludiert dargestellt werden. Daher ist es sinnvoll und notwendig, dass man zuerst ausmacht, was Matthäus in seiner Narrative inkludiert hat, bevor man seine Erscheinungserzählung interpretiert. Im Schlussteil rekapitulieren wir die Arbeitsergebnisse mit Blick auf den heutigen Bedeutungshorizont nochmals und reflektieren, was wir ausgehend von der rezeptionsorientierten Betrachtungsweise in der Auslegung und Interpretation der narrativen Texte über die Auferstehung- bzw. die Erscheinungen Jesu neu gewonnen haben und was dies zur aktuellen Diskussion beitragen könnte.
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Vgl. Mt 28,15. Vgl. den Abschnitt „‚inclusive story’ als Aufforderung zum Perspektivenwechsel“, S. 149-151 dieser Arbeit.
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Erster Teil:Die sekundären Erscheinungsbericherichte als Rezeptionsprozess des offenen Markusschlusses
I. Prätext A. Annäherung Da sich das Problem der fehlenden Erscheinungserzählung bei Markus1 mit dem rätselhaften Evangelienende vereint, behandeln wir zunächst diese Schwierigkeit. Abgesehen davon, dass beim Markusevangelium neun verschiedene Schlussversionen in insgesamt 1700 Handschriften unterschieden werden können,2 zeigt sich die Schwierigkeit allein schon durch sein überraschenden Schlusssatz kai. ouvdeni. ouvde.n ei=pan\ evfobou/nto ga,r, der heute aus textkritischen Gründen generell als Textende anerkannt wird.3 Da die Jesusgeschichte somit ohne eine explizite Auferstehungs- bzw. Erscheinungserzählung abrupt endet, bleibt sie dem Leser rätselhaft und er fragt sich, ob und wie sich die Auferstehung ereignet hat.4 1 2 3
4
Hier wird Markus als ein impliziter Autor behandelt. Siehe dazu den Abschnitt „Impliziter Autor vs. Impliziter Leser“, S. 94f. dieser Arbeit. Vgl. Michael W. Holmes, To Be Continued…The Many Endings of the Gospel of Mark, 12-23 u. 48-50. B und א. Siehe auch Kurt Aland und Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments, Deutsche Bibelgesellschaft, besonders 295f.; Dieter Lührmann, Das Markusevangelium, 268-270; vgl. auch Camille Focant, La canonicité de la finale longue (Mc 16,9-20) vers la recinnaissance d’ un double texte canonique?, in ders., Marc, un évangile étonnant, BEThL 194, 371-381; ferner Jörg Frey, Zu Text und Sinn des Freer-Logion, 13-34. Beispielsweise Norman R. Petersen, When is the End not the End? Literary Reflections on the Ending of Mark’s Narrative, 151-166; Andreas Lindemann, Die Osterbotschaft des Markus, 298-317; ders. und Hans Conzelmann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 318; J. Lee Magness, Sense and Absence: Structure and Suspension in the Ending of Mark’s Gospel, Atlanta, 1986; James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, bietet einen Überblick über die umfangreiche Forschungsgeschichte, 1-46; Paul. L. Danove, The Ending of Mark’s Story: A Methodological Study, New York u. Köln, 1993; Michael
als Rezeptionsprozess des offenen Markusschlusses
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Warum wird davon nicht erzählt, wenn das textkritisch anerkannte Markusende in Mk 16,8 der vom Autor intendierte Schluss ist? Diese Leserfrage ist zu erwarten, weil der Erzähler die Auferstehung des Protagonisten Jesus im Erzählverlauf doch selbst mehrmals vorausgedeutet hat5 und sie dem Leser schließlich in der letzten Szene durch die Figurenrede des jungen Mannes,6 der mit einem glänzenden weißen Gewand bekleidet im Grabe Jesu sitzt, abermals angedeutet wird. Trotzdem berichtet die markinische Ostererzählung auffälligerweise nur die Auffindung des leeren Grabes und endet abrupt, ohne die aufgebaute Lesererwartung zu befriedigen. Dies dürfte besonders für den Leser verstörend gewesen sein, der die Überlieferungen der urchristlichen Tradition oder den vollständigeren Schluss anderer Evangelien kennt. Ein solch offener Schluss könnte möglicherweise ein Gefühl der Unvollständigkeit bewirken, da eine Geschichte der Auferstehung und Erscheinungen Jesu als angemessener Schluss erwartet wird. Obschon es auch in der antiken Literatur Texte gibt, die ebenfalls mit dem sogenannten „final-ga,r“7 enden, ist die inhaltliche Unterbrechung und Diskontinuität von Mk 16,8 immer noch unverständlich geblieben. Daher regte der abrupte Schluss - besonders seine inhaltliche und narrative Diskontinuität - die neutestamentliche Wissenschaft zu vielen Deutungen und Lösungsvorschlägen an. Dahinter verbirgt sich aber primär die Frage, ob das Evangelium inhaltlich in der vorliegenden Gestalt tatsächlich so enden kann? Kann dieser Schluss überhaupt mit der gesamten Narrative harmonieren?8 Es bleibt weiterhin ein Streitpunkt, ob der letzte Satz den von Markus intendierten Schlusspunkt ausdrückt oder den Text lediglich beendet. Darum stellen wir im nächsten Abschnitt Überlegungen zum Schluss an, bevor wir unser Interesse auf die Erscheinungserzählung im markinischen Metatext richten, um das Verhältnis zwischen ihm und den Prätext verständlich zu machen.
5 6 7 8
W. Holmes, To Be Continued…The Many Endings of the Gospel of Mark, 12-23 u. 1820; N. Clayton Croy, The Multilation of Mark’s Gospel, Nashville, 2003. Vgl. die dreimalige Leidens- und Auferstehungsankündigung Jesu (Mk 8,31-38; 9,31-37; 10,32-45) sowie Mk 14,28 und 16,7. Vgl. Mk 16,5-7. Siehe den Abschnitt „Der echte Markusschluss ist umgestellt worden“, S. 18-20 dieser Arbeit. Vgl. Norman Petersen, When is the End not the End?, Interpretation 34:2, 151-166, er erklärt die Problematik der Narrative durch Beziehung von „expectation and satisfaction“.
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Erster Teil: Die sekundären Erscheinungsberichte
B. Das Problem des Markusschlusses Beim Markusschluss unterscheidet man hauptsächlich zwischen zwei Interpretations-möglichkeiten, je nachdem, ob möglicherweise ein weiterer Schluss vorhanden ist oder nicht. Die Meinungen, sowohl die, dass er verloren gegangen, oder dass er literarisch verborgen worden sei, stimmen im Wesentlichen aber darin überein, dass das jetzige Ende nicht der intendierte Schluss ist. Darum muss man dann die Aufmerksamkeit auf Texte außerhalb des Markusevangelium richten (Eta Linnemann)9 oder in ihm suchen (Walter Schmithals),10 um die Narrative weiter laufen zu lassen, um so den intendierten Schluss oder seinen fehlenden Inhalt zu finden. Außerdem skizzieren wir noch einen ganz anderen methodischen Ansatz, der Mk 16,8 als den originalen Schluss ansieht.
1. Ist der Markusschluss unvollständig? Schon im 19. Jahrhundert haben die Herausgeber des griechischen Neuen Testaments (zum Beispiel Johann Jakob Griesbach in seiner zweiten Edition des griechischen Neuen Testaments im Jahr 1803 und Westcott und Hort, die Herausgeber der Erstausgabe des „Greek New Testament“ im Jahr 1881) gesehen, dass der sogenannte längere Schluss, Mk 16,9-20, nicht der Originalschluss sei, der Originalschluss muss also wohl verloren gegangen sein.11 Johann Jakob Griesbach, als einer der bekanntesten Vertreter der Matthäusprioritätstheorie, meinte deshalb, der verlorene Schluss müsse inhaltlich mit Mt 28,9-20 verwandt sein.12 In diesem Zusammenhang muss auch die Theorie von Eta Linnemann diskutiert werden.13 Wie zahlreiche andere Neutestamentler, hat auch sie in ihrem Aufsatz mit dem provozierenden Titel „Der (wiedergefundene) Markusschluß“ die Behauptung aufgestellt, Mk 16,8 sei zwar nicht der ursprüngliche Evangeliumsschluss, denn der Originalschluss sei verloren gegangen, aber er könne jedoch rekonstruiert werden. Sie tut dies anhand von Indizien aus dem Ende des Mat-
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Eta Linnemann, Der (wiedergefundene) Markusschluß, 253-287. Walter Schmithals, Der Markusschluß, die Verklärungsgeschichte und die Aussendung der Zwölf, 379-411. Vgl. J. Lee Magness, Sense and Absence, 1f.; James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 7-10; Robert Oliver Kevin, The Lost Ending of the Gospel according to Mark, 101. Vgl. James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 7. Eta Linnemann, Der (wiedergefundene) Markusschluß, 253-287.
als Rezeptionsprozess des offenen Markusschlusses
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thäusevangeliums und dem längeren Markusschluss.14 Der eigentliche Schluss ist für sie schließlich in Mt 28,16f und Mk 16,15-20 zu entdecken. In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass es heute, trotz der notwendigen Anerkennung des textkritischen Befunds,15 eine erneute Diskussion gibt. Jetzt geht es speziell um die funktionelle und pragmatische Frage nach der Konjunktion ga,r am Textende. In Analogie zu anderen zeitgenössischen griechischen Texten wird gefragt, ob ein Satz oder Absatz mit der postpositiven Konjunktion ga,r enden kann? Und die Diskussion spitzt sich natürlich beider Annahme zu, dass das Evangelium so enden soll. Obwohl schon im Jahr 1972 P.W. van Horst in seinem Aufsatz eine Antwort gegeben hat,16 kommt die Debatte um das letzte Wort in Mk 16,8, das als „final-ga,r“ verstanden wird, nicht zur Ruhe. Kürzlich hat N. Clayton Croy, der von der Unabgeschlossenheit des Markusevangeliums überzeugt ist, vorgeschlagen, die Frage aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.17 Nach seiner Analyse der TLG-Database kommt das „final-ga,r“ zwar in keiner offiziellen oder dialogischen Verwendung vor, aber es ist eine Überredungsformulierung.18 Also drückt der Text eigentlich kein ei14
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Eta Linnemann, Der (wiedergefundene) Markusschluß, 286f.; vgl. auch Gary Trompf, The First Resurrection Appearance and the Ending of Mark’s Gospel, 308-330, besonders 316-320 und seine Aussage: „The suggestion that Mt 28,9-10 provides the clue to the lost ending of Mark is thus extremely attractive.“ Ganz anders argumentiert Kurt Aland, der Linnenanns These heftig kritisiert, in ders., Der wiedergefundene Markusschluß?, 1-13. Er macht besonders auf die textkritischen Probleme ihrer Exegese aufmerksam; siehe ferner auch Walter Schmithals, Der Markusschluß, die Verklärungsgeschichte und die Aussendung der Zwölf, 379-411. Vgl. Kurt Aland, Der wiedergefundene Markusschluss ?, 1-13; ders. und Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments, 295f.; Dieter Lührmann, Das Markusevangelium, 268270. Vgl. P.W. van der Horst, Can a Book End with a Ga,r CB, A Note on Mark XVI.8, JTS 23, 1972, 121-124, besonders 123, wo er in Anlehnung an den Plotinforscher Richard Harder behauptet, dass ein Buch auch mit ga,r enden kann. Sein Ansatz geht zunächst von einer ganz allgemeinen Ansicht aus: „If a sentence can end with ga,r, a book can end with such a sentence.“ Er hat an den Beispielen im Wörterbuch zum Neuen Testament Kritik geübt, indem er zeigt, dass die von Walter Bauer vorgelegten Beispiele zwar mit dem Markusschluss verwandt, aber nicht zutreffend sind. Dagegen zitiert er als zutreffendes Beispiel den 32. Traktat von Plotin (Enneade V. 5), der als ein Buch mit ga,r endet. N. Clayton Croy, The Multilation of Mark’s Gospel, Abingdon Press, Nashville, 2003 besonders 47-50. Der Kern seines Fragens beim „final-ga,r“ ist nicht: „Kann ein Satz so enden ?“, sondern: „Welche Sätze enden mit ga,r?“ Mit dieser Fragestellung untersucht er zahlreiche antike Beispielsätze in Hinsicht auf den funktionellen und pragmatischen Gebrauch, indem er die statistische Datei von TLG benutzt; vgl. auch Kelly R. Iverson, A Further Word on Final Ga,r (Mark 16:8), CBQ 68, 2006, 79-93, besonders 80-81. Vgl. N. Clayton Croy, The Multilation of Mark’s Gospel, 47-50.
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Erster Teil: Die sekundären Erscheinungsberichte
gentliches Ende aus, da er auf eine einzulösende Erwartung verweist. Daraus resultiert seine These, dass der Markusschluss nicht als Ende verstanden werden darf, weil das „final-ga,r“ als Beweis der Textverstümmelung dient.19 In einer methodischen Auseinandersetzung kritisiert jedoch Kelly R. Iverson diese Interpretation, wegen ihrer Ungenauigkeit in der Verwendung von TLG-Database,20 um so das Argument zurückzuweisen. Seine These lautet, man dürfte nicht von solch extremen Beispielen als Norm ausgehen, nämlich „the usage of final ga,r [...] can be utilized with equal force to support the case for mutilated text or the intentional, abrupt Ending.“21 In dieser Auseinandersetzung kann also m.E. keine abschließende Lösung der Problematik erreicht werden, weil man bei Beachtung der statistischen Quantität der Beispiele von ga,r in der antiken Literatur nicht in der Lage ist, verbindliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Aber zumindest verdeutlicht die Beobachtung, dass die Möglichkeit eines Fortschreitens des Markustextes gegeben ist.
2. Der echte Markusschluss ist umgestellt worden Zum Markusschluss gibt es noch eine ganz andere These. Im Unterschied zur Auffassung, dass er verloren sei, akzeptiert man unter Einfluss einer starken textkritischen Prägung, Mk 16,8 als das echte Textende, jedoch versteht man es gleichwohl nicht als den intendierten Schluss. Denn es ist zu fragen, besonders wegen der inhaltlichen Unterbrechung der Narrative, ob der so triumphal begonnene Anfang dermaßen still, bestürzt und abrupt enden kann. Ist solch ein Ende ohne Erfüllung der Ankündigungen und Versprechen denkbar? Wie die vielen Schlussvarianten der verschiedenen Textüberlieferungen eindrucksvoll demonstrieren,22 ist zu vermuten, dass die Erzählung fortschreiten muss, wobei erwartet wird, dass eine Erscheinungsgeschichte Jesu erzählt wird, in der der auferstandene Gekreuzigte wieder mit seinen Jüngern zusammentrifft. Daher kann man auch in Einklang mit der Figurenrede der Narrative wie Norman Pertersen behaupten: „Es ist aber noch nicht das Ende.“23 Also muss es noch etwas geben, was Markus als eigentlichen Schluss intendiert hat.
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Ebd. Kelly R. Iverson, A Further Word on Final Ga,r (Mark 16:8), 87-94. Kelly R. Iverson, A Further Word on Final Ga,r (Mark 16:8), 93. Vgl. die anderen synoptischen Evangelien, die textkritischen Varianten des Markussschlusses sowie die neutestamentlichen Apokryphen zum Beispiel EpAp, Ev Petr sowie Lib Barth. Mk 13,7: „avllV ou;pw to. te,loj”; vgl. auch Norman R. Petersen, When is he End not the End?, 151-166.
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Walter Schmithals ist einer der bekanntesten Vertreter dieser Position. Nach seiner Auffassung kann der Verfasser die Geschichte nicht so zu Ende gebracht haben, weil ein Finale ohne Erscheinung Jesu gegen das Glaubensbekenntnis verstieße (besonders 1 Kor 15,5), das dem Leser zur Zeit der Textentstehung bekannt war.24 Aufgrund dieses Arguments besteht für ihn deshalb kein Zweifel, dass ein angemessener Markusschluss die Erscheinung Jesu vor Petrus und sodann vor den Zwölf umfassen muss, weil Markus selbst darauf in Mk 14,28 und 16,7 ausdrücklich hingewiesen hat und die Narrative deshalb dahin fortschreiten müsste.25 Darum deutet er die Verklärungsgeschichte (Mk 9,2-8) und die Aussendung (Mk 3,13-19) als nachösterliche Erscheinungserzählungen, also als wahren Abschluss der markinischen Narrative.26 So bezieht er die merkwürdige Zeitangabe meta. h`me,raj e]x (Mk 9,2) in der Verklärungsgeschichte27 auf den Zeitraum nach der Auffindung des leeren Grabes durch die Frauen bis zur ersten Erscheinung vor Petrus. Für ihn läuft die Erzählsequenz demnach auf die Verklärungsgeschichte zu und mit ihr rekonstruiert auch er, analog zu Eta Linnemann, einen ursprünglichen Schluss, den Markus nicht als solchen erzählt, ob24 25 26 27
Walter Schmithals, Der Markusschluß, die Verklärungsgeschichte und die Aussendung der Zwölf, 379-411, hier 381. Walter Schmithals, Der Markusschluß, die Verklärungsgeschichte und die Aussendung der Zwölf, 384. Walter Schmithals, Der Markusschluß, die Verklärungsgeschichte und die Aussendung der Zwölf, 384ff und 401ff und passim. Vgl. Walter Schmithals, Der Markusschluß, die Verklärungsgeschichte und die Aussendung der Zwölf, 386f. Die Interpretation für h`me,raj e]x ist aber noch immer umstritten. Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 278-281, hat die Perikope als eine ursprüngliche Auferstehungsgeschichte verstanden, die als Gattung „Legende“ bestimmt wird. Er verbindet ihre Zeitangabe mit dem Petrusbekenntnis (Mk 8,29), da er die Perikope so verstanden hat: „Vielmehr ist sie[Jesu Verklärung] wohl erst von Mk vorgenommen, damit sie als himmlische Bestätigung des Petrus-Bekenntnises und als Weissagung der Auferstehung in bildhafter Form (vgl. 8,31) dient“. Ähnlich Stephan C. Barton, The Transfiguration of Christ, in Friedrich Avemarie u. Hermann Lichtenberger (Hg.), Auferstehung: Resurrection, 231-246, hier 235; so auch Markus Öhler, Die Verklärung (Mk 9:1-8), NovTest 38, 197-217, 203; Cilliers Breytenbach, Nachfolge und Zukunftserwartung nach Markus, 239, er hält es für eine semitische literarische Wendung, in der ein epiphanales Geschehen symbolisiert wird; so auch Rudolf Pesch, Das Markusevangelium (8,27-16,20), 70-72; Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus (8,27-16,20), 30, er interpretiert wie Schmithals den Tag als den Tag der Auferstehung am siebten Tag; ferner David S. du Toit, Der abwesende Herr: Strategien im Markusevangelium zur Bewältigung der Abwesenheit des Auferstanden, 341f., besonders Anm. 57, er behauptet, dass die temporale Adverbialphrase keine chronologische Information enthalte, sondern nur einen intertextuellen Bezug auf Ex 24,9-18 besitzt, aber gleichwohl eine Verknüpfungsfunktion ausübe (nämlich Mk 8,27-9,1 und 9,2-9).
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wohl er die Erscheinung Jesu gut kannte. Deshalb stellt er die Erscheinung Jesu vor Petrus und den Zwölfen im Einklang mit der Verklärungsgeschichte und der Berufung der Zwölf auf dem Berg dar.28 Seine These lautet, der echte Schluss ist innerhalb der Narrative umgestellt worden. Lassen wir aber hier die Berufungsgeschichte außer Betracht, so ist die Spekulation von Walter Schmithals über die Verklärungsgeschichte als Ostererzählung eigentlich schon länger bekannt, weil dies schon früher in einer formgeschichtlichen Studie in Betracht gezogen wurde, wie Rudolf Bultmann in seinem Buch „Die Geschichte der synoptischen Tradition“ festgestellt hat: 29 „Daß diese Legende eine ursprüngliche Auferstehungsgeschichte ist, ist längst erkannt worden.“30 Trotzdem ist sein Ansatz von Interesse, da es in ihm um die Frage nach der Erzählreihenfolge geht. So findet man ganz abgesehen von der Gestaltung einen literarischen Bruch im unerwarteten und plötzlichen Schluss in Mk 16,8. Daher muss gefragt werden, ob die von Walter Schmithals genannten Episoden, insbesondere die Verklärungsepisode, als proleptisch verstanden werden können, welche im jetzigen Erzählverlauf auf eine zukünftige Erzählperspektive hinweisen. Oder dienen sie als Koda, auf welche der Erzählverlauf zurückkehrt, um damit zu enden.31 Demnach scheint die markinische Narrative zwar der Form nach vollendet zu sein und dennoch soll sie inhaltlich weitergehen. Wie oben gezeigt, kann festgestellt werden, dass der Leser das vorliegende Textende nicht als richtig abgeschlossenes Ende verstehen soll, denn das vom Autor intendierte Ende steht nicht am Textende, sondern ist anderswo eingearbeitet worden, weshalb der Leser suchen muss. Wenn dies richtig wäre, bliebe immer noch das Problem, warum Markus seine Narrative so versetzt strukturiert hat, indem er die Erscheinungserzählung vorverlagert.32 Das verlangt nach einer Antwort! 28 29
30 31
32
Walter Schmithals, Der Markusschluß, die Verklärungsgeschichte und die Aussendung der Zwölf, 408f. Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 278. In neueren Studien zu Form und Gattung im Neuen Testament wird die Verklärungsgeschichte unter „Vision“ und „Audition“ kategorisiert. Siehe Klaus Berger, Form und Gattungen im Neuen Testament, 338-347. Vgl. auch Gerd Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 104f; ders. und Annette Merz, Der Historische Jesus, 268, sie kategorisieren sie unter „Epiphanien“. Hans Conzelmann, Grundriss der Theologie des Neuen Tetaments, 148, er hält sie nicht für eine ursprüngliche Ostergeschichte. In der Erzählung gibt es eine Basiszeitstruktur, woran sich der Erzählverlauf orientiert, wobei sie mit Hilfe von Zeitangaben Bezug auf „früher“ oder „später“ Erzähltes nehmen kann. In der Verklärungsepisode geht es deshalb um ihre Zeitstruktur, wird die Erzählung mit ihr beendet oder kann sie noch fortschreiten. Vgl. Markus Öhler, Die Verklärung (Mk 9:1-8), 197-217, hier 201.
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3. Mk 16,8 ist der originale Markusschluss, das Evangelium endet offen Es gibt auch die Auffassung, dass Mk 16,8 der intendierte Endpunkt ist. So hat ihn unlängst J. Lee Magness als „openund suspended ending“ betrachtet und verlangt daher vom Leser:33 „ [...] even when that ending is not realized in the text, the readers sense the intendes ending from the assumed shape of absent ending.“ Diese Ansicht hat auch schon Julius Wellhausen im Jahr 1903 vertreten.34 Während er jedoch in seinem Markuskommentar behauptet, dass Mk 16,8 der intendierte Evangeliumsschluss sei, ohne dass weiterer Erklärungsbedarf bestünde,35 schlägt aber J. Lee Magness eine Deutung des offenen Schluss vor,36 indem er sich mit der modernen Literaturwissenschaft auseinandersetzt und das Markusende mit antiker Literatur vergleicht.37 Nach seiner Auffassung endet zwar der Narrativtext, aber der intendierte Schluss ist ausdrücklich abwesend, weshalb die Narrativströmung irgendwo und irgendwie weiterlaufen muss. Darüber hinaus deutet auch er die Verklärungsepisode als einen suggestiven Zugang zum wahren Markusschluss, wobei er sie als „postresurrection narrative“ bestimmt.38 Mir scheint, dass seine Auffassung mit der von Walter Schmithals übereinstimmt, auch wenn er mit einem anderen Ansatz beginnt. In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich für uns deshalb, einer Einsicht von Paul L. Danove zu folgen, der sich nicht mit dem produktiven Aspekt des Autors, sondern mit dem des rezeptiven Lesers beschäftigt, um einen Neuansatz
33 34 35 36 37 38
J. Lee Magness, Sense and Absense: Structure and Suspension in the Ending of Mark’s Gospel, 107f. Vgl. Julius Wellhausen, Das Evangelium Marci (in mit einer Einleitung von Martin Hengel nachdruckten Ausgabe), 136f. Vgl. Julius Wellhausen, Das Evangelium Marci, 456f. Am Kommentarende behauptet er lakonisch: „Mit 16,8 endet das Evangelium Marci. [...] Es fehlt nichts [...]“. Vgl. auch Petr Pokorný u. Ulrich Heckel, Einleitung in das Neue Testament, 428f. Vgl. J. Lee Magness, Sense and Absense, 15-24 u. 25-47. J. Lee Magness, Sense and Absense, 102-105. Abgesehen von der Erscheinungserzählung vermutet auch er, dass es möglicherweise noch einen weiteren Schluss gibt, indem er die apokalyptische Rede Jesu (MK 13) als forshadow betrachtet, da ihre Ereignisse in der Erzählwelt noch nicht eingetreten sind. Vgl. auch Norman R. Petersen, When ist he End not the End?, 166: „ [...] the predictions of Mark 13 are related to the predictions about the meeting in Galilee (14:28; 16:7) because they refer to the only unplotted events in Mark’s narrative world.“ Siehe auch François Vouga, Une théologie du Nouveau Testament, 242f.; David S. du Toit, Der abwesende Herr, 409f; Peter Müller, “Wer ist dieser?”, 168.
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zu finden. 39 In seiner methodischen Untersuchung zum Markusende äußert er seine Position schon ausdrücklich in der Einleitung:40 „[…] the narrative has been constructed to demand a literal interpretation of the ending (the message was not delivered).“ Und er fordert weiterhin:41 „the literal interpretation which does not admit to narrative resolution but establishes textual grounds for resolving the narrative outside of the story world and in the life of the reader.” Im Vergleich zu den vorhergehenden Erörterungen entdeckt man hier eine ganz andersartige Einsicht. Um das Schlussrätsel aufzulösen beruft sich Paul L. Danove insbesondere auf den Leser und dessen Rezeption. Auf dieser Basis geht er davon aus, dass das Augenmerk nicht auf andere Stellen der Narrative oder Schriften außerhalb des Markustextes gerichtet werden darf, sondern auf Mk 16,8 fixiert bleiben muss.42 So bemüht er sich, zu zeigen, dass die Makro- und MikroErzählschemata des Evangeliums auf den Schlusspunkt in Mk 16,8 ausgerichtet sind und der Text dies auch selbst bezeugt.43 Aufgrund seiner Beobachtungen ist Mk 16,1-8 für ihn der vollständige Evangeliumsepilog,44 der deshalb auch als intendierter Schluss akzeptiert wird. In dieser Perspektive kann das Rätsel des letzten Satzes - die Panik und Flucht sowie das Schweigen der Frauen (evfobou/nto, e;fugon, ouvdeni. ouvde.n ei=pan)45 - als ein Grundmotiv der Erzählung verstanden werden. Die Emotion der Frauen wird nicht als ehrfürchtige Reaktion angesichts einer Angelophanie bzw. Epiphanie dargestellt,46 sondern ihr Versagen und ihre Ungläubigkeit werden sehr negativ beurteilt.47 Doch das ist Autorintention, denn er hat die Absicht, 39
40 41 42 43 44
45 46 47
Vgl. Paul L. Danove, The End of Mark’s Story, New York u. Köln, 1993; Zur Kritik an seiner Arbeit siehe Andreas Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992-2000, 406f. Vgl. Paul, L. Danove, The End of Mark’s Story, 1. Vgl. Paul, L. Danove, The End of Mark’s Story, 1; vgl. auch 208f. Vgl. Paul, L. Danove, The End of Mark’s Story, 203-210. Vgl. Paul, L. Danove, The End of Mark’s Story, 132-166. Vgl. auch Helmut Merklein, Mk 16,1-8 als Epilog des Makusevangelium, in Camille Focant (ed.), The Synoptic Gospels. Source Criticism and the new literary Criticism, BEThL 110, 209-238; siehe auch das schon vom Titel her programmatische Buch von David S. du Toit, Der abwesende Herr: Strategien im Markusevangelium zur Bewältigung der Abwesenheit des Auferstanden. Besonders 391-398, er verzichtet aber auch nicht auf die Spannung zur Verklärungsgeschichte. Vgl. Mk 16,8. Beispielweise Rudolf Pesch, Das Markusevangelium (8,27-16,20), 535f. Paul, L. Danove, The End of Mark’s Story, 206-208; Lud-ger Schenke, Das Markusevangelium, 352f; Helmut Merklein, Mk 16,1-1-8 als Epilog des Markusevangelium, 217 u. 223f: „Im durativen Imperfekt (evfobou/nto) formuliert, ist sie wohl als die Fortdauer der Haltung zu verstehen, [...]Entsprechend ist dann das „Niemandem-etwas-Sagen“ die
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die letzte Evangeliumsszene, in der das leere Grab und die Panik der Frauen dargestellt werden, für den Leser ausdrücklich als unangenehme Szene erscheinen zu lassen, von der er seinen Blick sofort abwenden möchte. Das Schweigen der Frauen lässt sich auch nicht durch eine andere Szene bzw. einen anderen Text der Narrative erklären, sondern gerade nur durch den vorliegenden Text soll ein Verständnis eröffnet werden. So wird der Leser direkt mit der negativen Begrifflichkeit der letzten Szene konfrontiert, um sich darin selbst zu reflektieren.48 Und dementsprechend soll der Leser durch seinen reflektieren Leseakt die Jüngerschaft als Thema wahrnehmen, die markinische Narrative kann dann als „a failed story“ bzw. Scheitern der Jünger gelesen werden.49 Deshalb können wir sogar behaupten, dass Markus paradoxerweise nicht über ein ideales Jüngermodell verfügt, was ein Leser normalerweise erwartete, sondern mit seinem Leser unmittelbar darüber kommunizieren möchte, indem er durch die bewusste Unvollkommenheit bzw. Offenheit seiner Narrative bei ihm Fragen provoziert.
C. Die Jünger in der markinischen Narrative Wie wir oben angedeutet haben, erweist sich der Jüngerbegriff bzw. die Jüngerschaft in der markinischen Narrative als ein Schlüssel für das Rätsel des Schlus-
48
49
bleibend gültige Feststellung (ei=pan: komplexiver Aorist) der schon hinter der Fluchtbewegung [kai. evxelqou/sai e;fugon avpo. tou/ mnhmei,ou] stehenden Reaktion auf das leere Grab.“ Ähnlich Norman R. Petersen, When ist he End not the End?, 153. Anders Peter Müller, Wer ist dieser?, 168f: „[...] die Frauen und die Jünger bekommen einen neuen Auftrag, und 13,10; 14,9 weisen daraufhin, dass die Verkündigung Jesu tatsächlich weitergegangen ist.“ So auch J. Lee Magness, Sense and Absence, 116: „Fear and silence are emphasized in the text; but they signify what the doctrine of good continuance demands-faith, following, and proclamation.“ Vgl. Paul, L. Danove, The End of Mark’s Story, 208-210; J. Lee Magness, Sense and Absence: Structure and Suspension in the Ending of Mark’s Gospel, 115; vgl. auch Robert M. Fowler, Let the reader understand, 154; Hans Conzelmann u. Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 318: „Offenbar sollen die Leser des MK den Frauen am Grabe gleichgestellt werden.“ Vgl. Paul, L. Danove, The End of Mark’s Story, 208-222; vgl. auch Morna D. Hooker, The Gosepel according to St Mark, 20 u. 392; Ludger Schenke, Das Markusevangelium, 350: „Das MKEv endet mit dem Scheitern der Jünger [...] jetzt werden sie sie aufgefordert, dem vorausgehenden Jesus erneut nachzufolgen.“; Vgl. auch Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium. Eine narrative Analyse, 1-26; Robert C. Tannehill, Die Jünger im Markusevangelium-die Funktion einer Erzählfigur (original: The Disciples in Mark, JR 57, 1977, 377-401), in Ferdinand Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung, 39-66, SBS 118/119, 39-66.
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ses. Somit kann man die Narrative tatsächlich sowohl als eine Jesusgeschichte als auch - wenn man so will - als eine Jüngergeschichte ansehen.50 In der Narrative spielen die Jünger neben Jesus die Rolle einer Haupterzählfigur, denn sie sind seine wichtigsten Interaktionspartner,51 durch welche die Erzählung strukturiert und entfaltet wird. Und tatsächlich beginnt die eigentliche Jesusgeschichte erst nach Vorstellung beider Hauptfiguren!52 Deshalb werden wir nun untersuchen, welche Rolle und Funktion die Jünger besitzen, und ob und inwieweit die Jüngerfrage das Schlussrätsel lösen kann.
1. Das Jüngerunverständnis als Hauptthema der markinschen Narrative Die zwei Säulen des Handlungsschemas der Narrative - Jesus und seine Jünger werden konzipiert, indem sie konträr charakterisiert werden. Dementsprechend fragt der Erzähler durch den Mund der Erzählfiguren, vor allem durch den der Jünger, ständig wer Jesus ist, obwohl er an strategischen Stellen seiner Erzählung die definitive Antwort bewusst schon längst gegeben hat.53 Außerdem geht die Narrative von Anfang an von einem Konsens mit dem Leser über seine Be50 51 52
53
Vgl. auch den Abschnitt „Was Matthäus in seiner Narrative inkludiert“, 152-181 dieser Arbeit. Vgl. Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 6. Es ist sehr umstritten, wo man den Prolog der markinnischen Narrative abgrenzen soll. Siehe Frank J. Matera, The Prolog as the Interpretative Key to Mark’s Gospel, 3-20. In Anlehnung an R.H Lightfoot versteht er Mk 1,1-13 als Prolog. Anders P. J Sankey, Promise and Fulfilment: Reader-Response to Mark 1.1-15, 3-18, für ihn reicht der Prolog bis Mk 1,15, da der Vers den Auftritt Jesu in Galiläa vorbereitet. Aber wenn wir die Studie von William Labov und Joshua Walletzky, Erzählanalyse: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung, 78-126. berücksichtigten, könnten wir den Evangeliumsprolog auch bis Mk 1,20 ausdehnen, da bis dorthin Erzählorientierung geboten wird, um die Erzählung besser verstehbar zu machen. Es ist deshalb zu beachten, dass erst nach der Jüngerberufung die erste Episode Jesu in der Synagoge in Kapernaum am Sabbat durch die Verwendung der dritten Person Plural „sie“ (Jesus + Jünger) reibungslos erzählt werden kann. Vgl Mk 1,21: kai. eivsporeu,ontai eivj Kafarnaou,m\ kai. euvqu.j toi/j sa,bbasin eivselqw.n eivj th.n sunagwgh.n evdi,dasken. Zum Begriff des Erzählschemas vgl. den Abschnitt „Vorgehen und methodischer Ansatz “, S. 4-11 dieser Arbeit, besonders den Unterpunkt „Minimalstruktur“, S. 15-19, dort auch weitere Literatur. Beispielweise Mk 1,11. 24 und 8,29; 9,7 sowie 15,39; 16,6. Zur Christologie im Markusevangelium siehe auch Peter Müller, “Wer ist dieser?”, und auch Cilliers Breytenbach, Grundzüge markinischer Gottessohn Christologie, in ders. und Henning Pausel (Hg.), Anfänge der Christologie. Festschrift für Ferdinand Hahn zum 65. Geburtstag, 169-184; ferner Adela Yarbro Collins, Mark and his readers: The Son of God among Greeks and Romans, 85-100.
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deutung aus. Wie wir bei Markus sehen, wird Jesus vom Erzählanfang bis zum Ende als Gottessohn, der Gottes Anspruch und Vollmacht durchsetzt, dargestellt. Der Leser ist deshalb auf der textexternen Ebene schon von Anfang an über die Identität Jesu informiert, weshalb die Geschichte im Hinblick auf seine Person eigentlich problemlos ist. Bei der Jüngerdarstellung gewinnt man hingegen einen ganz anderen Eindruck, denn sie schwankt ständig zwischen positiven und negativen Urteilen. Die Jünger in der Erzählwelt sind im Unterschied zum Leser oft verständnislos, ja häufig sogar unfähig, Jesus treffend zu identifizieren.54 Ihre Geschichte scheint sogar überwiegend negativ dargestellt zu werden. Es ist aber nicht neu, diese einseitige Jüngerdarstellung festzustellen, da bereits William Wrede unter dem Aspekt des Messiasgeheimnisses das Jüngerverhalten untersucht hat.55 Seiner Meinung nach verharren die Jünger vor der Auferstehung Jesu in Verständnislosigkeit.56 In Auseinandersetzung mit William Wrede hat Hans Jürgen Ebeling aber darauf bestanden, das Jüngerverhalten nicht so einseitig zu beurteilen. Darum schlägt er vor, zwischen dem „paränetischen“ und dem „strengen Unverständnismotiv“ zu unterscheiden:57 Interessant an seinem Analyseansatz ist, dass er beim paränetischen Jüngerunverständnis versucht, sich auf die Reflexion des Lesers oder Hörers des Evangeliums zu berufen.58 Von der psychischen Leserreflexion behauptet er, dass durch die Darstellungsspannung zwischen Jesus und seinen Jüngern beim Leser Fragen entstehen, was die Kommunikationsabsicht des Erzählers ist, die er gerade durch seine paradoxe Erzählweise verwirklicht. Je stärker die Geschichte Jesu Identität konkretisiert, desto stärker soll der Leser in Verwirrung geraten, da sich die Jünger im Erzählverlauf von einem Verständnis Jesu immer weiter entfernen,59 obwohl sie in der Erzählwelt gerade neben ihm stehen und direkt kommunizieren können. In diesem Zusammenhang muss sich der Leser immer wieder bemühen, durch seinen Leseakt den Dialog mit dem Erzähler zu suchen, um dessen Erzählintention besser zu verstehen, indem er den Jüngercharakter problematisiert. Insofern 54 55 56 57
58 59
Zum Beispiel Mk 4,13; 7,18; 8,33; 14,50. William Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, 235. Vgl. auch Jürgen Roloff, Das Markusevangelium als Geschichtsdarstellung, 73-93, hier 84f. Hans Jürgen Ebeling, Das Messiasgeheimnis und die Botschaft des Marcus-Evangelisten, 158-171; zu den verschiedenen Auslegungstypen des Jüngerverständnisses siehe HansJosef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 1-3: er unterscheidet zum Beispiel zwischen einem historischen, polemischen und paränetischen Auslegungstypus. Hans Jürgen Ebeling, Das Messiasgeheimnis und die Botschaft des Marcus-Evangelisten, 146-171, besonders 155, 160, 168-170. Vgl. 14,50 und auch 16,8.
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ist die Jüngerthematik als Schlüssel der ganzen Markusnarrative zu verstehen, was dann besonders auch für das Schlussrätsel gilt. Aus diesem Grunde darf die Jüngerthematik nun nicht mehr allein beim Unverständnis-motiv in einzelnen Szenen bzw. Perikopen der Narrative berücksichtigt werden, sondern sie ist grundsätzlich zu beachten, um die eigentliche Intention des Evangeliums zu verstehen.60
2. Wer sind die Jünger?61 Für uns ist es daher notwendig, zu versuchen, die Jünger in der Narrative genau zu identifizieren, weil die Jüngerthematik für Markus einen Schwerpunkt bildet, vorzugsweise wenn sie in seiner Erzählkonzeption in Konflikten62 auftreten. Aber es ist nicht so einfach, die Frage zu beantworten, wer sie sind. Denn Jesu Jünger (oi` maqhtai,, Markus verwendet immer die Pluralform) erscheinen nicht als eine homogene Gruppe, die man problemlos identifizieren könnte. Anders ist es bei den Zwölf (dw,deka),63 die man durch ihre Gruppengröße und Eigennamen einfacher erkennen kann. Die Jünger erscheinen mal als einzelne Person wie Simon Petrus, mal als eine kleine repräsentative Dreier- oder Vierergruppe, mal als die Zwölf und dann sogar als große Volksmenge.64 Im Hinblick auf diese Uneinheitlichkeit hat Elizabeth Struthers Malbon in ihrer Studie so unterschie60
61
62
63 64
Vgl. Hans Jürgen Ebeling, Das Messiasgeheimnis und die Botschaft des MarcusEvangelisten, besonders 146-179; Rudolf Pesch, Das Markusevangelium (1,1-8,26) , 275; Ernest Best, The Role of Disciples in Mark, 377-401, besonders 378; vgl. auch ders., Mark: The Gospel as Story, 44-54 und 83-92; Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 1-26; ferner Robert C. Tannehill, Die Jünger im Markusevangelium, 39-66; Paul. L. Danove, The Ending of Mark’s Story, 210-221. Analog zu anderen Jüngern wie zum Beispiel den Jüngern des Täufers Johannes oder denen der Pharisäer (oi` maqhtai. VIwa,nnou kai. oi` tw/n Farisai,wn) werden seine Jünger (oi` maqhtai. auvtou/) als die Jünger Jesu bestimmt. Zum Konflikt als Handlungsschema im Markusevangelium siehe Jack Dean Kingsbury, Conflict in Mark: Jesus, Authorities, Disciples, 1989, Fortress, Augsburg; ders (Ed.), Gospel Interpretation: narrative - critical & social- scientific approaches, in der Einleitung; David Rhoads, Joanna Dewey, Donald Michie, Mark as Story. An introduction to the Narrative of a Gospel, 21999, Fortress, Minneapolis; Morna D. Hooker, The Gospel According to Saint Mark, 21. Vgl. D.-A., Koch, Art. Zwölferkreis, 4RGG 8, 1956-1958. Vgl. Elizabeth Struthers Malbon, Disciples / Crowds / Whoever: Markan Characters and Readers, 104-130; vgl. auch Ernest Best, The Role of the Disciple in Mark, 377-401 und ferner Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 1-26.
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den:65 „It would appear that following, while central to discipleship, is not limitied to ‚disciple‘. The category of ‚followers‘ overlaps with the categories of ‚the disciple‘ and ‚crowd‘”. Ihrer Unterscheidung zufolge gibt es zwischen den Jüngern und der Volksmenge allerdings keinen bedeutenden Unterschied, weil Jesus nicht nur die Jünger, sondern auch die Volksmenge zur Nachfolge beruft, wobei alle ihre Verpflichtungen nicht erfüllen können.66 Ihre Vermutung beruht besonders auf der Verwendungsweise des Verbs avkolouqe,w.67 Bei Markus gilt es allerdings als terminus technicus des Nachfolgebefehls und zwar sowohl für die Jünger als auch die Volksmenge.68 Aber ihre Interpretation ist dennoch sehr willkürlich, weil sie jede Verwendung von avkolouqe,w als unmittelbaren Ausdruck des Nachfolgebefehls versteht. Mit dieser Ansicht gerät sie m.E. jedoch in Interpretationsschwierigkeiten,69 denn sie versteht auch in Mk 7,1470 und 8,3471 avkolouqe,w als Nachfolgebefehl, obgleich in Mk 7,14 nicht eine Berufung der Volksmenge, sondern, in Analogie zu Mk 4,1-3, eine Vorbereitung für ihre öffentliche Belehrung gemeint ist .72 Und insbesondere in Mk 8,34 geht es nicht um eine Jüngerberufung, sondern um eine Belehrung der Jüngerschaft, die sie als Nachfolger Jesu benötigt. In der Belehrung ist die Nachfolge nur eine Bedingung, denn sie steht in einer Reihe mit Selbstverleugnung und Kreuzaufnahme.73
65 66
67 68 69 70 71
72 73
Elizabeth Struthers Malbon, Disciples / Crowds / Whoever, 109. Elizabeth Struthers Malbon, Disciples/Crowds/Whoever, passim. Anders Ernest Best, The Role of the Disciple in Mark, 390-393, er verweist auf eine qualitative Differenz zwischen den Jüngern und der Volksmenge. So sagt er zusammenfassend: “The disciples are not a part of the ‘crowd’ but a separate group, although originally drawn from the crowd.“ So auch C. H. Turner, Marcan usage: notes, critical and exegetical, on the second gospel, 223-240, hier 238-240. Vgl. Elizabeth Struthers Malbon Disciples / Crowds / Whoever: Markan Characters and Readers, 109 und passim. Vgl. Elizabeth Struthers Malbon, Disciples / Crowds / Whoever: Markan Characters and Readers, passim. Besonders 105-110. Vgl. Elizabeth Struthers Malbon, Disciples / Crowds / Whoever: Markan Characters and Readers, 106 Vgl. Mk 7,14: kai. proskalesa,menoj pa,lin to.n o;clon e;legen auvtoi/j\ avkou,sate, mou pa,ntej kai. su,nete. Vgl. Mk 8,34: kai. proskalesa,menoj to.n o;clon su.n toi/j maqhtai/j auvtou/ ei=pen auvtoi/j\ ei; tij qe,lei ovpi,sw mou avkolouqei/n( avparnhsa,sqw e`auto.n kai. avra,tw to.n stauro.n auvtou/ kai. avkolouqei,tw moi. Vgl. Rudolf Pesch, Das Markusevangelium (1,1-8,26), 228 u. 378 und auch Wilfried Eckey, Das Markusevangelium, 231. Vgl. Cilliers Breytenbach, Nachfolge und Zukunftserwar tung nach Markus, 219-238, besonders 220.
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Das Wort wird von ihr in Mk 14,5474 und Mk 11,975 unangemessen beurteilt,76 weil es dort in einem negativen Wortsinn benutzt wird. Deshalb wäre nach der Erläuterung von E. Struthers auch Levi nur ein Nachfolger Jesu, der wie Bartimäus aus der Volksmenge stammt.77 Es kann aber auch ein Irrtum sein, dass man Levi mit Bartimäus vergleicht, sodass er nicht als einer der Jünger Jesu, sondern als einer, der plötzlich aus der Volksmenge auftaucht, charakterisiert wird. Hier muss man vor allem beachten, wo Levis Berufungsepisode im Erzählzusammenhang lokalisiert ist. Sie befindet sich zwischen der Berufungsepisode der Hauptjünger (Petrus, Andreas, Jakobus sowie Johannes) und dem Einsetzen der dw,deka. Darauf weist der Erzähler schon bewusst deshalb hin, um Levi sowohl von der Volksmenge als auch von Bartimäus, der Jesus spontan und freiwillig auf dem Weg folgt, zu unterscheiden. Dabei muss man vor allem berücksichtigen, dass Markus das Wort oi` maqhtai zum ersten Mal nach der Berufungsepisode des Levi in Mk 2,15 benutzt. Selbstverständlich gilt der Ausdruck nun als die Jüngerbezeichnung und ist als Pluralform natürlich erst nach der einer mehrfachen Berufung möglich, wie es Markus bei der Berufung von Simon und Andreas in Mk 1,16-18, Jakobus und Johannes in Mk 1,1920 sowie Levi in Mk 2,14 darstellt. Somit unterscheidet sich die Jüngerberufung bei Markus möglicherweise grundsätzlich von anderen Berufungen. Allerdings ist zu beachten, dass Levi nicht auf der Namensliste der dw,deka steht, obwohl seine Berufung nach dem Muster der Jüngerberufung erfolgt ist, das bei den vier Hauptjüngern vorliegt, die sich in der Auswahl der dw,deka befinden.78 Darin liegt eventuell eine Absicht, der Autor möchte sich für seine Erzählung Ausdrucksfreiheit und Flexibilität sichern. Oi` maqhtai. kann ein Äquivalent zu dw,deka sein, das fast gleichgewichtig gegenüber „den Zwölf“ steht, hat aber eine andere Qualität, was Umfang und Charakter angeht. So kann Markus beide Begriffe in seiner Erzählstrategie nach ihrem erstmaligen Gebrauch, je nach Bedarf abwechselnd verwenden. Für ihn ist das Wort oi` maqhtai. mögli74 75 76 77
78
Vgl. Mk 14,54a: kai. o` Pe,troj avpo. makro,qen hvkolou,qhsen auvtw/| e[wj e;sw eivj th.n auvlh.n tou/ avrciere,wj. Vgl. Mk 11,9a: ai. oi` proa,gontej kai. oi` avkolouqou/ntej e;krazon. Vgl. Elizabeth Struthers Malbon, Disciples/Crowds / Whoever: Markan Characters and Readers, 110. Elizabeth Struthers Malbon, Disciples/Crowds/Whoever: Markan Characters and Readers, 106f: „Perhaps Levi, like Bartimaeus, is to be understood as emerging from the crowd as a representative of the crowd or at least of the potential of the crowd.” Beim Matthäusevangelium steht die Berufungsepisode des Zöllners (o` telw,nhj) in Einklang mit der Berufungsepisode Levis im Markusevangeliums. Aber anders als bei Markus ist die Angabe, der Zöllner, bei Matthäus in der Namensliste der dw,deka seinem Namen hinzugefügt (Mt 10,1-4).
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cherweise geeigneter als dw,deka, weil es keine fixierte und begrenzte Größe beschreibt, darum kann er es in vielen Episoden mit unterschiedlichen Themen und Inhalten seiner erfindungsreichen Erzählung verwenden. So kann behauptet werden, dass er mit der Verwendung von oi` maqhtai. gegenüber dw,deka eine Darstellungsbereicherung anstrebt.79 Tatsächlich kann man wegen ihrer Unbestimmtheit der Identität oi` maqhtai. vielfältig untergruppieren: beispielsweise können eine einzelne Person wie Simon Petrus oder Levi, aber auch bis zu drei, vier, zwölf, oder noch mehr Personen gemeint sein. Aber von außen lässt sich oi` maqhtai als figuratives Objekt ausdrücklich unterscheiden und somit identifizieren. So gestaltet Markus damit die Episoden in seiner Narrative farbenreich und flexibel. Deshalb dient oi` maqhtai als ein Äquivalent zu dw,deka, und er entfaltet seine Erzählung, entweder durch eine eng oder offene Begrenzung des Begriffsumfangs von oi` maqhtai.80 Aus diesem Grunde gestaltet er von Anfang an ganz bewusst stufenweise die einzelnen Jüngerberufungsepisoden vor der vollständigen Aufstellung „der Zwölf“, indem er auch die Berufungsepisode von Levi dazwischen einfügt, ohne jedoch seinen Namen in die Liste der Zwölf einzutragen. In dieser Darstellungsspannung kann man zwar die Jünger nicht direkt mit den Zwölfen identifizieren, aber wenigstens für eine wichtige und äquivalente Gruppe halten. Auf der textinternen Erzählebene lässt sich die Darstellung der Jünger als konkrete Gruppe nicht nur mit anderen Jüngern, wie zum Beispiel den Jünger des Täufers oder denen der Pharisäer, sondern auch mit anderen Charakteren vergleichen. Aber die spontanen und freiwilligen Nachfolger Jesu, die ihm einfach auf dem Wege folgen, und die Frauen, die ihm seit seinem Auftreten in Galiläa nachfolgen, sowie weitere, die ihm dienen, gehören deshalb nicht zu oi` maqhtai,, die Markus in seiner Thematik darstellen möchte. Auf der textexternen Ebene lassen sich oi` maqhtai, aber auch mit den „Lesejüngern“ identifizieren, die erst jetzt lesen und mit dem Erzähler kommunizieren möchten.81 Schließlich kann man sagen, dass oi` maqhtai, in der Erzählung eine leben79
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Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 1. Siehe auch die Literaturangabe in Anm. 1; vgl. auch Ernest Best, The role of the disciples in Mark, 377-401, er versteht maqhth,j aufgrund der Verwendungsflexibilität als redaktionell, dw,deka hingegen als traditionell, sieht aber keinen großen semantischen Unterschied innerhalb der Narrative; ferner Robert M. Fowler, Let the reader understand: reader-response criticism and the gospel of Mark, 260: „[…] role of the disciples in Mark, is created as much or more by the palimpsests of Mark as by Mark itself. “ Vgl. C. H. Turner, Marcan usage: notes, critical and exegetical, on the second gospel, 235-237; vgl. auch Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 1. Dabei müssen wir einen methodischen Paradigmenwechsel, der sich heutzutage in den Markusstudien vollzogen hat, berücksichtigen. Denn der Leser und sein Leseakt werden heute als ein wichtiger Untersuchungsfaktor angesehen, weil der Autor in seinem literarischen Werk den Leser als ein Objekt seiner Kommunikationsabsicht ansieht. Deswe-
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digere und flexiblere Rolle spielt als dw,deka, die man als fixierte Größe verstehen muss. Im Hinblick auf die Jünger muss deshalb vor allem berücksichtigt werden, dass es hier nicht bloß um die Erinnerung an historische Personen, sondern um Erzählfiguren geht, die als Charaktere einer Erzählung agieren.82
3. Die Jünger in der episodischen Erzählung In seiner Studie zum Charakter der Erzählung hat Cilliers Breytenbach einmal erwähnt, dass das Markusevangelium die episodische Erzählung eines Erzählers sei.83 Wenn eine Erzählung aber „episodisch“ ist, kann das bedeuten, dass sie eher weniger einer strengen Kausalität folgt oder der Erzähllogik verpflichtet ist. Denn die Erzählung besitzt zwar insgesamt eine thematische Einheit, diese erscheint jedoch lediglich in Form kleiner geschlossener Erzähleinheiten, die nur relativ lose verbunden sind.84 In dieser Perspektive kann auch behauptet werden, dass Erzählfiguren, die in Einzelepisoden auftreten, ebenfalls lediglich episodische Rollen spielen können. Episodische Charaktere können deshalb von der Kausalität oder Kontinuität der Gesamtnarrative relativ unabhängig sein. Es ist eine schon länger bekannte Tatsache, dass in Markusstudien hauptsächlich die negative Rolle der Jünger beachtet wird.85 Doch es gilt die Möglichkeit zu beachten, dass Charaktere einer episodischen Erzählung, auch nur eine episodische
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gen hat er ihn in seinem Erzählen immer vor Augen und dieser Aspekt spielt eine relevante Rolle. Daher ist die Rezeption im Leseakt ein Basiselement des Textverständnisses, denn die auf verschiedene Weise in die Erzählung einbezogene Leserrolle kann die Erzählströmung deshalb oft mitlenken. Vgl. den Abschnitt „Kommunikation in der dih,ghsij“, S. 100-103 und das dortige Schema. Vgl. Cilliers Breytenbach, Nachfolge und Zukunfterwar-tung nach Markus, er hat einen methodischen Paradigmenwechsel in neueren Markusstudien bemerkt, nämlich von der Diachronie zur Synchronie. In seiner Dissertation präsentiert er uns Markus als Erzähler und das Evangelium als episodische Erzählung; ders., Das Markusevangelium als episodische Erzählung, 137-169. Vgl. auch die umfangreichen Untersuchungen zur Synchronie des Markusevangeliums: Ferdinand Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums; David Rhoads, Joanna Dewey, Donald Michie, Mark as Story; Jack D Kingsbury, ders. (Ed.), Gospel Interpretation: narrative - critical & social- scientific approaches, 63-122. Zur Begrifflichkeit der Episode siehe Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München, 110f und Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, besonders 43-70. Vgl. William Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, 235; Hans Jürgen Ebeling, 158-171; siehe auch Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 1-3.
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Rolle, d.h. eine variierte Rolle spielen können. Die bisherige Interpretationstendenz soll dies bestätigen.86 Selbstverständlich muss man einräumen, dass die Jünger überwiegend negativ koloriert erscheinen,87 gleichwohl könnte sich dahinter ein positives oder sogar ideales Jüngerbild in der markinischen Narrative verbergen. Darum richten einige aktuelle Untersuchungen ihre Aufmerksamkeit auch auf ein positives Jüngerbild und betonen ihre Doppelrolle,88 um die einseitige Sichtweise zu korrigieren. Pierre-Yves Brandt, der sich mit der Identität Jesu und seiner Jünger beschäftigt hat, entdeckt dieses doppeldeutige Porträt in der ganzen Narrative,89 aber man kann sogar in Einzelepisoden beide Aspekte wahrnehmen.90 Jedoch ist das verständlich, weil Erzählfiguren in einer episodischen Erzählung vielfältigste Rollen spielen können. Im Folgenden wollen wir deshalb zunächst die konträren Jüngerrollen, die sich zwischen Extremen bewegen, betrachten.
a) Positive Konnotation der Jüngerrolle Obgleich die Jünger in der markinischen Narrative oft negativ koloriert zu sein scheinen,91 kann man trotzdem viele positive Momente entdecken, die nicht nur 86
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Vgl. William Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums; Hans Jürgen Ebeling, Das Messiasgeheimnis und die Botschaft des Marcus-Evangelisten; vgl. auch Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 1-26. Siehe den Abschnitt „Das Jüngerunverständnis als Hauptthema der markinschen Narrative“, S. 24f. dieser Arbeit. Vgl. Larry W. Hurtado, Following Jesus in the Gospel of Mark- and Beyond, in Richard N. Longenecker (ed.), Patterns of discipleship in the New Testament, 9-29, besonders 18-23; Pierre-Yves Brandt, L’identité de Jésus et l’identité de son disciple. Le récit de la transfiguration comme clef de lecture de l’Evangile de Marc, besonders 280-288. Pierre-Yves Brandt, L’identité de Jésus et l’identité de son disciple. Le récit de la transfiguration comme clef de lecture de l’Evangile de Marc, 287f. Pierre-Yves Brandt, L’identité de Jésus et l’identité de son disciple. Le récit de la transfiguration comme clef de lecture de l’Evangile de Marc, ebd: „[…] on constate, il est vrai, que certains épisodes sont en eux-mêmes marqués par la conjunction de connotations positives et négatives des disciples.“ Vgl. auch T. J. Weeden, The Heresy that Necessitted Mark’s Gospel, 145-158; ders., Mark: Tradition in Conflict, Philadelphia, 1971; Ernest Best, The role of the disciples in Mark; Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 126; Elizabeth Struthers Malbon, Disciples / Crowds / Whoever, 104-130; ferner Larry W. Hurtado, Following Jesus in the Gospel of Mark-and Beyond, 9-29; Pierre-Yves
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Erster Teil: Die sekundären Erscheinungsberichte
punktuell vorliegen. So hat Ernest Best einmal den größten Teil der Narrative, in der die Jünger eine Rolle spielen, als positive Darstellung beurteilt:92 „The total structure of the second half of the gospel supports a positive evaluation of the role of the disciples. Jesus und the disciples move together to Jerusalem.“ Wie auch Pierre-Yves Brandt in seinem Anhang zeigt,93 sind positive und negative Jüngerdarstellungen bis zum Erzählende gleichmäßig verteilt. Das positive Bild, das gerade für die markinische Jüngerthematik relevant ist, können wir besonders in ihrer Berufungsszene beobachten.94 Denn anders als Matthäus und Lukas hebt Markus die Jünger schon am Erzählanfang hervor, denn da er keine Vorgeschichte Jesu bietet, wird der Leser sofort mit der Jüngerdarstellung konfrontiert. Dadurch wird ihm sogleich angedeutet, dass die Jüngergeschichte ein entscheidendes Thema bilden wird. Bei Markus beginnt die eigentliche Geschichte Jesu sogar erst nach der Berufung der vier Hauptjünger. Wären die ersten Adressaten des Evangeliums nicht bloß Leser, sondern Hörer,95 so würde eine solche Darstellung eine verstärkte Aufmerksamkeit bewirken, weil Jesus erst nach der Vorstellung aller Protagonisten in der Öffentlichkeit wirkt. Ihre erste gemeinsame Episode beginnt nun in Kapernaum (kai. eivsporeu,ontai eivj Kafarnaou,m).96 Es entspricht seiner Erzählabsicht, dass er diese wichtige Information in der Anfangsphase der Erzählung exponiert, um seinem Hörer/Leser die erzählte Geschichte besser verständlich zu machen, da ein Erzähler in der Regel am Erzählanfang seinem Le-
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96
Brandt, L’identité de Jésus et l’identité de son disciple. Le récit de la transfiguration comme clef de lecture de l’Evangile de Marc, 280-288. Ernest Best, The Role of the Disciple in Mark, 394. Ähnlich Jack Dean Kingsbury, Conflict in Mark: Jesus, Authorities, Disciples, 9 und Pierre-Yves Brandt, L’identité de Jésus et l’identité de son disciple, 288, er hält die Darstellung bis zum 4. Kapitel für positiv; vgl. auch Robert C. Tannehill, Die Jünger im Markusevangelium – die Funktion einer Erzählfigur, 37-66, 57, für ihn erstreckt sich die positive Darstellung sogar bis Mk 6,30! Vgl. Pierre-Yves Brandt, L’identité de Jésus et l’identité de son disciple. Le récit de la transfiguration comme clef de lecture de l’Evangile de Marc, 338-342. Vgl. W. Hurtado, Following Jesus in the Gospel of Mark-and Beyond, 21; Pierre-Yves Brandt, L’identité de Jésus et l’identité de son disciple, 289. Vgl. Mary Ann Tolbert, How the Gospel of Mark builds Character, 71-82, hier 74; Monar Hooker, The Gospel According to Saint Mark, 15f; sowie ferner die an der Rezeptionsperspektive orientierten Beiträge, besonders von B. B Scott und Margaret E. Dean, wo das Evangelium “from the standpoint of hearing” verstanden wird, in David R. Bauer/ Mark Allan Powell (Ed.), Treasures New and Old. Recent Contributions to Matthean Studies (SBL Symposium Series 1), Atlanta, 1996. Vgl. C. H. Turner, Marcan usage: notes, critical and exegetical, on the second gospel, 223-240, besonders 223-237.
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ser/Hörer eine Orientierungsinformation bietet. In der Erzählorientierung kann man deutlich wahrnehmen, dass das Bild der Jünger als Nachfolger Jesu überhaupt nicht abwertend, sondern ideal ist.97 Der Leser kann deshalb nur Positives entdecken: nach der Berufung durch Jesus lassen die Jünger sofort alles liegen, um ihm nachzufolgen. Diese Erzählweise, ohne weitere Erläuterung, ist ganz konträr zu Lukas, der darzustellen scheint, dass die Jünger ihm möglicherweise erst nach einer Reihe von Wundern folgen.98 Allein schon dadurch wirkt ihre Nachfolge bei Markus überraschend. Und ihr Lehrer Jesus tritt in den weiteren Episoden, die der Berufung folgen, für seine Jünger ein:99 Nach der Berufung Levi isst Jesus mit den Sündern und Zöllnern. Als die Schriftgelehrten und Pharisäer seinen Jüngern den Vorwurf machen, nicht zu fasten (Mk 2,15-22, besonders V. 18), verteidigt er sie. Er rechtfertigt auch ihr Handeln, als sie am Sabbat während einer Wanderung Ähren pflückten (Mk 2,23-28), indem er auf David und seine Begleiter verweist. Sie sind nun seine Familie,100 weil sie mit Jesus zusammen sind (Mk 3,20-35).101 In dieser Szenenfolge taucht kein negatives Urteil bzw. Unverständnismotiv auf. Daher können wir zum Jüngerverhalten sagen, dass es idealisiert gezeichnet wird. Indem der Erzähler sie positiv modelliert, ermöglicht er es dem Leser, sich an ihnen zu orientieren. So informiert der Erzähler den Leser in einem Kommentar über die Jüngerrolle, bevor er mit dw,deka die Jüngerberufung abschließt. Jünger Jesu sind bei Markus diejenigen, die ständig mit ihm zusammen sind:102 Mit dieser Rollendefinition wird auf der Erzählebene eine Spannung in der Jüngergeschichte aufgebaut, weil der Erzähler dem Leser einen Maßstab gibt, mit dem er prüfen kann, inwieweit sie im weiteren Erzählverlauf ihre grundlegende Bestimmung erfüllen. In diesem Sinne ist die Problematik der Geschichte eine bereits gelöste, soweit sie die Person Jesu betrifft, aber noch eine ungelöste, was die Jünger betrifft, weil die anfangs positiv gezeichnete Jüngeridentität im weiteren Erzählverlauf einer extrem negativen Konnotation weicht.
97 98 99 100 101 102
Vgl. Ludger Schenke, Das Markusevangelium, 44 Beispielweise Lk 4,31-37 und 4,38-39 sowie Lk 4,40-41. Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 1-26 und besonders 8. Vgl. Wilfried Eckey, Das Markusevangelium 43. Die primäre Aufgabe der dw,deka als Jünger ist es, mit Jesus zusammen zu sein. Vgl. 3,13: kai. evpoi,hsen dw,deka Îou]j kai. avposto,louj wvno,masenÐ i[na w=sin metV auvtou ktl. Vgl. Mk 3,14f: i[na w=sin metV auvtou/ kai. i[na avposte,llh| auvtou.j khru,ssein ktl. und auch Mk 3,34: kai. peribleya,menoj tou.j peri. auvto.n ku,klw| kaqhme,nouj ktl.
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Erster Teil: Die sekundären Erscheinungsberichte
b) Negative Konnotation der Jüngerrolle Im Unterschied zu ihrer Grundbestimmung am Erzählanfang, sind die Jünger hingegen am Ende der Erzählung nicht mehr mit Jesus zusammen, sondern geflohen. Sie konnten das positive Jüngerbild,103 das in der Figurenrede Jesu in der Erzählmitte deutlich dargestellt wird, nicht verwirklichen: Sie trugen nicht das Kreuz, sie folgten Jesus nicht bis in den Tod und begruben ihn noch nicht einmal. Dagegen kann sich der Leser rückblickend eventuell daran erinnern, dass die Jünger des Täufers Johannes nach dem grausamen Tod ihres Lehrers kamen, um ihn zu begraben.104 So müssten die Täuferjünger für die Jünger Jesu eigentlich ein verbindliches Vorbild sein, wodurch ihre Rolle wiederum negativ konnotiert wird. Tatsächlich übernehmen ganz andere Personen die Aufgaben der Jünger: das Kreuz Jesu trug Simon von Kyrene;105 bis zum Tod folgten ihm die Frauen;106 in ein Grab legte ihn Josef von Arimathäa.107 Sie sind alle Substitut-Figuren, welche die Jünger in den jeweiligen Handlungen vertreten, die eigentlich für das Jüngersein konstitutiv wären. Deswegen gehören sie in der Narrative nicht zu den Jüngern,108 was wiederum deren negative Konnotation bewirkt und verstärkt. 103
104 105
106 107 108
Vgl. Mk 8,34b: ei; tij qe,lei ovpi,sw mou avkolouqei/n( avparnhsa,sqw e`auto.n kai. avra,tw to.n stauro.n auvtou/ kai. avkolouqei,tw moi. Zu den drei notwendigen Bedingungen der Jüngerschaft im Konditionsansatz siehe Cilliers Breytenbach, Nachfolge und Zukunftserwartung nach Markus, 220f. Vgl. Mk 6,29: kai. avkou,santej oi` maqhtai. auvtou/ h=lqon kai.…h=lqon kai. h=ran to. ptw/ma auvtou/ kai. e;qhkan auvto. evn mnhmei,w|. Vgl. Mk 15,21. Hier gibt es ein Wortspiel mit dem Namens Simon. Denn Simon von Cyrene trägt das Kreuz, obwohl Simon Petrus beim Christusbekenntnis und weiteren Jüngeraufforderungen eine repräsentative Rolle gespielt und beansprucht hat. Vgl. auch Dennis R. Macdonald, The Homeric Epics and the Gospel of Mark, 22-23; siehe auch Eduard Schweizer, Das Evangelium nach Markus, 199f. Vgl. Mk 15,40-41. Vgl. Mk 15,42-46. Analog zur Darstellung der Frauen, schildert Markus auch Josef von Arimathäa nur ganz knapp, wobei er ihn nicht als Jünger bezeichnet, was hingegen Matthäus und Johannes tun (Vgl. Mt 27,57 und Joh 19,38). Obgleich Lukas ihn nicht eindeutig als Jünger Jesu benennt, nimmt seine Beschreibung viel Raum ein. Das kann man von seinem Proömium her verstehen, denn wie er dort erwähnt (vgl. Lk 1,1-4), wollte er die ganze Geschichte Jesu nach dem Motto, von Anfang an (a;nwqen) und genau nacheinander (avkribw/j kaqexh/j) beschreiben. So vermeidet er das plötzliche Auftreten der Frauen am Erzählende, denn sonst hätte er schreiben müssen: „Die Frauen waren die ganze Zeit dabei, wie es Markus tut: h=san de. kai. gunai/kej … ai] o[te h=n evn th/| Galilai,a| hvkolou,qoun auvtw/| kai. dihko,noun auvtw/| ktl. (Mk 15,40-41). Daher erwähnt Lukas die Frauen ganz am Anfang speziell hinsichtlich der Finanzierung (Lk 8,2-3) und versucht
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Wo beginnt aber der Übergang zum negativen Urteil? Nach dem von Hans-Josef Klauck vorgeschlagenen Paradigma ist ein Tadel und Verständnisproblem, also eine negative Konnotation, bereits ganz früh erwähnt, nämlich schon am Erzählanfang (respektiv Mk 1,38 und Mk 1,36f).109 Jedoch ist das eine unsichere Vermutung, wie er selbst durch ein Fragezeichen in seiner Tabelle einräumt. Im Allgemeinen nimmt man wahr, dass die negative Jüngerschilderung mit der Lehre im Sämannsgleichnis beginnt,110 womit Jesus seinen Jüngern einen scharfen Tadel zukommen lässt (Mk 4,13).111 Die Saat, die auf den Fels fällt, lässt sich so deuten, dass damit auch die Jünger gemeint sind.112 So weist Mary Ann Tolbert aufgrund der Charakterdarstellung in der antiken Literatur darauf hin, dass der Charakter eine Rolle und Funktion im Edukationsmodell gewinnt, wenn er negativ dargestellt wird. In diesem Kontext deutet der Beiname „Petrus“ angesichts der Saatmetaphorik etwas Negatives an, denn der Name (Mk 3,16, pe,troj) bedeutet „Stein“.113 Anders ist es bei Matthäus, der den Namen Petrus als den Felsen (pe,tra) versteht, auf dem Jesus seine Ekklesia erbauen wird (Mt 16,18). Darüber hinaus vermutet man auch, dass die markinische Narrative schon mit Mk 3,16 erstmals negativ urteilt.114 Außerdem kann man sagen, dass Markus in der Szene der Auswahl der Zwölf eine besondere Erzählstrategie verfolgt, die darin gipfelt, dass er exponiert darstellt, dass nicht nur die Hauptjünger, die von Jesus Beinamen bekommen, sondern auch Judas Iskariot, dessen spätere Rolle proleptisch erwähnt wird, im weiteren Er-
109 110
111 112
113
114
auch Josef von Arimathäa ausführlich vorzustellen (Lk 23,50-51). Für die lukanische Erzählstrategie in Relation zum Proömium siehe den Abschnitt „dih,ghsij des Lukas“, S. 85f dieser Arbeit. Vgl. Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 14f. Vgl. Pierre-Yves Brandt, L’identité de Jésus et l’identité de son disciple, 281f u. siehe seinen Anhang; Jack Dean Kingsbury, Conflict in Mark: Jesus, Authorities, Disciples, 96; Mary Ann Tolbert, Sowing the Gospel: Mark’s World in literary-historical Perspektive, 181 u. 295 u. 298; Mary Ann Tolbert, How the Gospel of Mark builds Character, 71-82, 74-77; auch Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 14f. Vgl. Mk 4,13: kai. le,gei auvtoi/j\ ouvk oi;date th.n parabolh.n tau,thn( kai. pw/j pa,saj ta.j parabola.j gnw,sesqeÈ Vgl. Mary Ann Tolbert, Sowing the Gospel: Mark’s World in literary-historical Perspective, 181, 295, 298 und Mary Ann Tolbert, How the Gospel of Mark builds Character, 71-82, 74-77. Vgl. A.a.O. ähnlich David Rhoads, Joanna Dewey, Donald Michie, Mark as Story, 125, wenn sie Petrus nicht “Peter”, sondern “Rock” nennen; ferner Dennis R. Macdonald, The Homeric Epics and the Gospel of Mark, 22-24. Vgl. Mary Ann Tolbert, How the Gospel of Mark builds Character, 71-82 u. 74-77.
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zählverlauf eine bedeutende Rolle spielt und zwar eine gänzlich negative. Der Leser ist angesichts der zu erwartenden Komplikationen gespannt.115 Wir können zwar einerseits das Positive im Jüngerporträt nicht übersehen, andererseits aber müssen wir doch feststellen, dass das Negative in der markinischen Narrative überwiegt und sich bis zum Ende durchhält. Tatsächlich sind die Jünger nach dem Abendmahl am ersten Tag der ungesäuerten Brote (th/| prw,th| h`me,ra| tw/n avzu,mwn)116 ohne Ausnahme verschwunden.117 Nach ihrer schändlichen Flucht gelangen sie lediglich indirekt durch eine Erwähnung in der Figurenrede des Jünglings im Grabe Jesu auf die Bühne zurück.118 c) Ihre episodische Rolle In einer Erzählung und besonders in einer episodischen Erzählung gibt es viele verschiedene Akteure, die entweder ganz kurz als Statisten in einer kleinen Episode auftreten oder als Protagonisten von Anfang bis Ende der Erzählung eine Rolle spielen, indem sie die Erzählströmung beeinflussen. In der markinischen Narrative spielen die Jünger Jesu als Interaktionspartner des Protagonisten Jesus eine bedeutende Rolle. Sie treten nicht nur in fast jedem kleinen Episodenstück auf, sondern ihre Rolle ist mit dem ganzen Handlungsablauf der Erzählung verwoben, was der Leser erkennen muss, um sie zu verstehen. Einerseits wird in vielen Markusstudien die Jüngerrolle wegen des Unverständnismotivs negativ verstanden, andererseits ist aber nicht zu übersehen, dass man dennoch viele positive Aspekte finden kann. Wenn man daher trotz der überwiegend negativen Jüngerrolle berücksichtigt, dass Markus nicht nur ein negatives, sondern daneben gleichwohl auch ausdrücklich ein positives Porträt darstellt, dann könnte bei einer erneuten Interpretation die Jüngerrolle in einem neuen Licht erscheinen.Versteht man das zweite Evangelium, wie es oft geschieht, bloß als eine 115
116 117 118
Zu den verschiedenen Techniken und Effekten, die im antiken Roman Spannung erzeugen siehe Thomas Hägg, Narrative Technique in Ancient Greek Romances. Studies of Chariton, Xenophon Ephesius, and Achilles Tatius, Almqvist & Wiksells Boktryckeri Aktiebolag, Uppsala, 1971, 322-327. Besonders 322: „The way in which the romance author often begins and ends the different units of the narrative with summary statements, pro- and retrospective, is thus related to the archaic mode of composition („ring composition”), though, of course, with Herodotus and other later prose writers as intermediaries.“ Vgl. Mk 14,12. Vgl. Mk 14, 50; 51-52; 71-72. Vgl. Mk 16, 7: avlla. u`pa,gete ei;pate toi/j maqhtai/j auvtou/ kai. tw/| Pe,trw| ktl. In der Figurenrede ist auffällig, dass der Erzähler den Leser an die Flucht der Jünger und des Petrus erinnert, indem er sie gemäß dem Erzählereignis durch den Mund des Jünglings erwähnen lässt.
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episodische Erzählung, dann spielten die Jünger freilich lediglich episodische Rollen, die entweder negativ oder positiv geschildert werden. Ihre Rollenverteilung sei nun graphisch dargestellt, allerdings ohne Berücksichtigung einer Bewertung. Q u a n tita tiv e r E r z ä h lv e r la u f
R o lle n w e c h s e l der Jünger
16 15 54
2 9- 3 1
14
33
1 0, 11 1 8- 2 1
13
27
4 0, 4 1 37
5 0- 5 2
4 3- 4 5
7 0, 7 1
54
68
1
12 11
29
30
1 2, 1 3
7
5, 6
8
4
P o s itiv
3 5- 3 8
2 9- 3 1
30
38
5
1 7, 1 8 4 9- 5 2
13 16
19
2 1
1 6- 2 0
20
3 2- 3 5
3 2- 3 8
3
1 4- 2 8
40
2 6 3 2 3 5- 3 9
31
4
11 - 1 6 1 3- 1 9
50
1 8, 1 9
5 34
60
2
24
6
1
37
70
1 3, 1 4
9
7 34
41
10
28
10
0
0
10
Q u a lita tiv e B e w e r tu n g o h n e S tä r k u n g
20
30
40
50
60
70
N e g a tiv
Wie die Grafik zeigt, sind negative wie positive Jüngerrollen an sich in der Narrative quantitativ gleichmäßig verteilt. Auffällig ist natürlich, dass sich ihre Rolle im fortschreitenden Erzählverlauf allmählich vom Positiven zum Negativen wandelt. Allerdings ist dieser Wandel vom Erzähler schon am Erzählanfang geplant, aber für den Leser ist es offenbar überraschender, wenn sich ihre Rolle zum Negativen verändert. Das ist möglicherweise eine kommunikative Erzählerabsicht, worüber mit dem Leser ein Dialog geführt werden soll. Wie viele bisherige Interpretationen gezeigt haben, welche die überwiegend negative Jüngerrolle zu erläutern versuchen, bewirkt diese Erzähltechnik eine Verschärfung der Erzähleraussage, die dem Leser wohl Entscheidendes mitteilen will. Wie die Grafik zeigt, wird die Erzählung beschleunigt, indem sich die negative Bewertung zum Ende hin stark verschärft, denn das positive Jüngerporträt verschwindet nach der Mitte der Erzählung, da der Zug ins Negative unaufhaltsam zu sein scheint. Allerdings lässt sich positiv bewerten, dass der Erzähler am Erzählende, nämlich in Mk 14,28 und 16,7 eine Versöhnung und ein Wiedersehen zwischen Jesus und seinen Jüngern andeutet. Doch dabei ist zu beachten,
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dass sie in diesem Fall nicht als handelnde Personen, sondern lediglich in der Figurenrede auftreten. Damit exponiert der Erzähler jedoch, dass er die Jünger auf der Bühne nicht mehr auftreten lassen möchte. Für ihn könnte es möglicherweise zu schwierig sein, die schon zu sehr ins Negative gehende Erzählströmung bzw. -logik rückgängig zu machen, indem er die Jünger erneut positiv darstellt, da es zwangsläufig zu sein scheint, dass sie schließlich auf solch negative Weise in den Hintergrund treten werden. Aus diesen Gründen kann der Leser ab Mk 14,53 bzw. 14,72 ihnen in der Erzählung nicht mehr explizit begegnen. Demnach könnte der Erzähler die Auferstehungsszene, in der die Jünger Jesu rehabilitiert würden und somit ihre Rolle wechselten, nicht schildern. In dieser Erzählstrategie der Charakterbehandlung erkennen wir, dass Markus mit dem positiven Jüngerporträt am Erzählanfang, ein Idealbild darstellen möchte. Dieses Bild und sein Nutzen bleiben erhalten, auch wenn er durch seine spätere negative Darstellung einen bestimmten Effekt erzielen möchte.119 Erschienen die Jünger vom Anfang bis zum Ende nur negativ konnotiert, so ließe sich der Sachverhalt zweifellos so interpretieren, dass Markus einen historischen Gegner attackiert, sei es die damalige Gemeindeführung oder Häresieauswirkungen, wie T. J. Weeden vermutet.120 Aber die Jünger spielen offenkundig eine Doppelrolle, so wie ein Charakter in einer episodischen Erzählung eine episodische Rolle spielen kann. Aber nach seiner Erzählstrategie wandelt sich ihre Rolle im fortschreitenden Erzählverlauf allmählich vom Positiven zum Negativen, wie wir in der Grafik deutlich sehen konnten.
D. Fazit In der markinischen Narrative gibt es doppelte Handlungen, die sich zwischen extremen Polen bewegen, wie ihr erster und letzter Satz demonstrieren: avrch. tou/ euvaggeli,ou VIhsou/ Cristou/ (Mk 1,1) und kai. ouvdeni. ouvde.n ei=pan\ evfobou/nto ga,r (Mk 16,8). Also geht es in ihr nicht nur um die Person Jesu, sondern auch um seine Jünger. Für Jesus wird die Frage, wer er ist, schon direkt am Anfang beantwortet, aber die Frage nach den Jüngern und ihrer Rolle wird bis zum Ende nicht eindeutig beantwortet.121 Das ist jedoch von Markus so intendiert, denn die Handlung bleibt eigentlich bis zum Ende offen, was das Jüngerverständnis angeht. Denn einerseits kann der Autor die Auferstehung Jesu, die 119 120 121
Siehe auch die Schlussfolgerung von Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 26. T. J. Weeden, The Heresy that Necessitated Mark’s Gospel, 145-158. Ich verstehe die Frauen am Grab aber nicht als Jünger Jesu! Siehe „Wer sind die Jünger?“, S. 26-30 dieser Arbeit.
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einen logischen Abschluss bildete, nicht direkt erzählen, ohne die intendierte Jüngerrolle ändern zu müssen. Andererseits muss aber gewährleistet sein, dass der Leser, der mit dem abrupten und unerwarteten Schluss konfrontiert wird, die Narrative dennoch richtig versteht. Daraus resultiert nun eine große Diskontinuität in der ganzen Narrative und ein Bruch mit der frühchristlichen Auferstehungstradition, auch wenn sie in Mk 9,2-9 und 14,28 sowie 16,7 ausdrücklich angedeutet ist. Daher können wir offensichtlich eine Interpretationsproblematik des echten Markusschlusses im Verhältnis zur Auferstehungs- bzw. Erscheinungserzählung im später hinzugefügten Schluss beobachten, was die vielfältigen Lesarten belegen. In diesem Kontext ist es deshalb unerlässlich, ernsthaft die Möglichkeit zu erwägen, den längeren Schluss der markinischen Narrative zuzurechnen. Die Meinungen stehen sich bei der Frage, ob das Evangelium wirklich mit dem Vers in Mk 16,8 endet, konträr gegenüber, obwohl es textkritisch allgemein als Ende anerkannt wird. Darum suchen Neutestamentler, die meinen, das jetzige Ende sei unvollständig, den echten Markusschluss entweder innerhalb oder außerhalb des Evangeliums, aber sie stimmen in wesentlichen Punkten nicht überein. Wegen der sehr heterogenen Ansätze lässt sich allerdings vermuten, dass die Diskussion noch lange weitergehen wird. Aber es ist einsichtig, dass die Vollkommenheit und Geschlossenheit einer Narrative nur durch sie selbst dargestellt werden kann. Darum müssen wir den Blick vom endlosen Gespräch über den echten Schluss zum Handlungsschema der Narrative wenden, worin der Autor seine Intention verwirklicht. Sie besitzt offenbar ein Doppelthema: Jesus und seine Jünger. Wie oben gesagt, ist die Handlung Jesu explizit, konsequent und geschlossen. Hingegen ist die der Jünger implizit, sie schwankt und ist vor allem offen. Darum muss man sich bemühen, die vielfältigen Jüngercharaktere zu verstehen. Wie lässt der Autor sie als handelnde Charaktere auftreten. Anders als Jesus sind sie nicht einseitig moduliert und eigentlich sind sie immer noch unterwegs auf dem Weg zur Jüngerschaft. Daher muss der Leser die Autorintention aufgreifen, da der Autor durch den Jüngercharakter mit ihm kommunizieren möchte. In diesem Sinne sind die Jünger sowohl „Requisiten“ für die Kommunikation im Erzähltext als auch im Sammelbericht.122 Hier ist vor allem zu bemerken, dass am Ende der Narrative Markus seine Leser mit der offenbaren Tatsache der Feigheit und Unzulänglichkeit der Jünger ausdrücklich konfrontiert. Obwohl die positiven wie negativen Aspekte der Jünger quantitativ insgesamt gleich gestreut sind, gibt es eine qualitative Rangordnung, nämlich einen Trend vom Positiven zum Negativen. Doch 122
Zur Kommunikationsfunktion in den Sammelberichten siehe Takashi Onuki, Sammelbericht als Kommunikation, 1997.
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ist dies allerdings eine Erzähltechnik oder Strategie des Autors, wie sie auch in antiken Romanen häufig angewendet wurde. Der Autor will so den Leser interpretierend in seine Narrative einbinden, um ihn nicht zu überraschen oder gar zu schockieren. So macht es die Intention des Markus notwendig, dass die Auferstehungsbzw. Erscheinungsszene, in der die Jünger plötzlich wieder positiv konnotiert werden müssten, nicht erscheint, um nicht in einen Gegensatz zum Konzept der doppelten Handlung mit Extrempositionen zu geraten, indem sich die Handlung in einer Wiederholung ringförmig schlösse. Darum darf Markus die Auferstehung nur proleptisch andeuten. Im Folgenden werden wir die Auferstehung bzw. die Erscheinungen Jesu im längeren Schluss des zweiten Evangeliums (LS) betrachten und zwar speziell unter dem produktiven Rezeptionsaspekt, weil Markus keine Auferstehungsbzw. Erscheinungsszene als Abschluss seiner Narrative geplant hat.
II. Metatext Im vorigen Abschnitt wurde eine Interpretationsmöglichkeit des rätselhaften Evangeliumschlusses untersucht, die das Jüngerverhalten ins Zentrum stellt. Das neue und einzigartige Unternehmen einer christlichen Literatur durch Markus erfüllte aber möglicherweise nicht den Erwartungshorizont des Lesers.123 Halten wir die zwei Quellen-Hypothese für richtig,124 also die Priorität des Markusevangeliums, so ist es denkbar, dass seine ersten Leser aufgrund der überwiegend negativen Jüngerdarstellung und des abrupten Schlusses der ersten Jesusgeschichte in der christlicher Literatur vielfach ablehnend reagiert haben. 123
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Ein Begriff, den Hans Robert Jauß vom Sozialwissenschafler Karl Mannheim übernommen hat; vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in ders., Literaturgeschichte als Provokation, 144-207, 201, Anm. 134 und 177. Nach Jauß kann die Möglichkeit zur Objektivierung des Erwartungshorizont aus drei voraussetzbaren Faktoren gewonnen werden: „[…] erstens aus bekannten Normen oder der immanenten Poetik der Gattung, zweitens aus der impliziten Beziehung zu bekannten Werken der literarhistorischen Umgebung und drittens aus dem Gegensatz von Fiktion und Wirklichkeit, poetischer und praktischer Funktion der Sprache, der für den reflektierenden Leser ein neues Werk sowohl im engeren Horizont seiner literarischen Erwartung als auch im weiteren Horizont seiner Lebenserfahrung wahrnehmen kann.“ Vgl. den Abschnitt „Vorgehen und methodischer Ansatz“, S. 4-11 dieser Arbeit, besonders den Abschnitt „Der traditionelle Versuch: Synoptische Lektüre“, S. 4f. und die Anm. 18.
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Wie wir gesehen haben, zeigt uns die Tatsache, dass viele Varianten des sekundären Schlusses existieren, die die Versöhnung zwischen Jesus und seinen Jüngern in der Auferstehungserzählung berichten, dass einige der ersten Leser darauf als produktive Leser reagiert haben. Hierzu bemerkt Hans Robert Jauß, der Pionier der Rezeptionsforschung in Deutschland, im Hinblick auf die Rezeptions- bzw. Wirkungsgeschichte: 125 „Der Widerstand, den das neue Werk der Erwartung seines ersten Publikums entgegensetzt, kann so groß sein, dass es eines langen Prozesses der Rezeption bedarf, um das im ersten Horizont Unerwartete und Unverfügbare einzuholen.“ So bedarf gerade die markinische Narrative auch der Rezeption durch ihre Leser, wenn sie deren Erwartungshorizont nicht erfüllen kann. Im Folgenden wenden wir uns zunächst der Rezeptionstheorie zu,126die als literatur-theoretischer Ansatz seit etwa Ende der 1960er Jahre im deutschen und englischen Sprachraum gleichzeitig entstanden ist. Sie konzentriert sich auf die Leserrolle und wird häufig auch als reader-response criticism oder New Criticism bezeichnet. Darum werden wir rezeptionstheoretische Ansätze im Hinblick auf die Rezeptionsforschung knapp darstellen, um das Verhältnis zwischen dem Markusevangelium und dem angefügten Schluss im Rezeptionsprozess bewerten zu können, bevor wir in medias res zur Analyse der Auferstehungserzählung gehen. Primär gilt unser theoretisches Interesse an der Rezeptionstheorie jedoch nicht ihrer Modernität oder Vielfältigkeit, sondern der Ermöglichung des Verstehens des Kommunikationsprozesses zwischen Autor und Leser.127
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Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, 193; vgl. auch Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 47. Vgl. den Abschnitt „Vorgehen und methodischer Ansatz“, S. 4-11 dieser Arbeit besonders den Abschnitt „Ein neuer Versuch: Rezeptionstheorie“, S. 8-20 und die dortige Literatur; und Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, 193; vgl. auch Heinz Antor, Rezeptionsästhetik, in Ansgar Nünning (Hg.), Grundbegriffe der Literaturtheorie, SB347, 2004; J. B. Metzler, Stuttgart u. Weimar, 229-232, hier 229f.; ferner Achim Barsch, Rezeptionsforschung, in Ansgar Nünning (Hg.), Grundbegriffe der Literaturtheorie, 232-235. Vgl. Gunter Grimm, Rezeptionsgeschichte, in dem von Dieter Krywalski herausgegebenen Handlexikon zur Literaturwissenschaft, 10 und hier 22: „In der gegenwärtigen Rezeptionsforschung unterscheidet Klein im wesentlichen sechs Richtungen: 1. den erkenntnistheoretischen Ansatz (Phänomenologie, Hermeneutik); 2. den homolog deskribierenden oder ableitenden Ansatz (Strukturalismus, russischer Formalismus, historisch-materialistische und dialektsche Verfahrensweisen); 3. den theoretischen und empirisch literatursoziologischen Ansatz (Leser-Leser-Generationenforschung); 5. den kommunikationstheoretischen Ansatz (bzw. semiotischen Ansatz); 6. den sozialwissenschaftlichen Ansatz der Massen-Kommunikation.“.
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A. Der rezeptionstheoretische Ansatz Seit dem ersten Auftauchen des Wortes „Rezeption“ scheint es nun überall zum ‚Zauberwort’ geworden zu sein, das entweder eigenständig oder als Kompositum benutzt wird. Als ein neuer hermeneutischer Ansatz entwickelt die Rezeptionstheorie nun vor allem die Leserrolle, die bisher weitgehend unbeachtet blieb, zu einem wichtigen Interpretationsfaktor in der Literaturwissenschaft. Da sich ein Text immer mit einer Kommunikationsabsicht des Autors an seinen Leser wendet und daher in einem gewissen Sinne für ihn „gestrickt“ wird, geht man von der Frage nach dem Werk selbst zum Leser und dessen Lektüre über. So muss der Leser und seine Tätigkeit als Gegenstand befragt werden, um seine Rezeption bzw. Reaktion erläutern zu können.128 Die Frage nach der Leserrolle wird also zentral. Da ein Autor ja naturgemäß vor seinem Kunstwerk steht, steht gleichzeitig auch der Leser davor. Folglich ist der Leser in den Prozess der literarischen Kommunikation eingebunden und wird zum wesentlichen Element bei der Analyse eines literarischen Werks.129 In der neu entdeckten Bedeutung der Leserrolle kann der Leser nicht nur als Rezipient, sondern auch als Vermittler für die Verbreitung eines Werkes angesehen werden, wenn man unter „Rezeption“ in der Literatur nicht nur das bloße Lesen, sondern damit auch ein Beziehungsgeflecht meint. So lassen sich der Rolle des Lesers für ein Werk grob zwei Funktionen zuschreiben, die sich entweder auf die textinterne oder auf die textexterne Ebene beziehen. Die Leserrolle auf beiden Ebenen resultiert hauptsächlich aus dem Kommunikationsverhältnis zwischen Autor und Leser.130 Daher entwickelt die Rezeptionsforschung je nach Interesse am Leser eine grundsätzliche Zweiteilung des Feldes:131
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Vgl. Heinz Antor, Rezeptionsästhetik, 230; vgl. Auch Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte, in Rainer Warnig (Hg.), Rezeptionsästhetik, 228-252; vgl. auch, Wolfgang Iser, Der Lesevorgang, in Rainer Warnig (Hg.), Rezeptionsästhetik, 251-276. Vgl. Hubert Zapf, Rezeptionsgeschichte, in Ansgar Nünni-ng (Hg.), Grundbegriffe der Literaturtheorie, 235-237, hier 235. Siehe das Kommunikationsmodell im Abschnitt „Kommunikation in der dih,ghsij“, S. 89-92 dieser Arbeit; vgl. auch das Kommunikationsmodell des Erzählwerks in Cordula Kahrmann, Gunter Reiß und Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 47. Vgl. Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 43-52. Dort verdeutlicht sie die Grenzen der Rezeptionstheorie von Hans Robert Jauß.
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1. Rezeptionsästhetik Versteht man unter Rezeption die Wirkung von literarischen Werken auf den Leser, so handelt es sich um das Dialogverhältnis zwischen Autor und Leser. Wie oben angedeutet, ist eine derartige Kommunikation rezeptionsästhetisch auf der textinternen Ebene lokalisiert. 132 Also gehört zur Rezeptionsästhetik, wo besonders das Verhältnis zwischen Autor und Leser auf textinterner Ebene untersucht wird, der implizite Leser und parallel dazu der implizite Autor. Da der implizite Leser als Rezipientenbewusstsein auf der textinternen Ebene eingeordnet wird, unterscheidet er sich vom realen Leser auf der textexternen Ebene, der im eigentlichen Sinne nur Rezipient eines literarischen Werks ist.133 Das neue Interesse am impliziten Leser setzt deshalb zunächst die Frage nach dem impliziten Autor voraus. Der implizite Autor unterscheidet sich freilich als Autorbewusstsein auch vom realen Autor. Denn im impliziten Autor stellt sich nur eine Seite des realen Autors dar, der nur auf der textinternen Ebene im Ganzen mit einer bestimmten Intention identifiziert wird. Da das sogenannte Autorbewusstsein auf der textinternen Ebene einen impliziten Leser intendiert, geht es hierbei hauptsächlich um eine textzentrierte Interpretation 134, um durch die adäquat Rezipierenden die kommunikative Intention des produzierenden Autorbewusstseins zu rekonstruieren.135Demgemäß ist dann das Objekt der Rezeptionsästhetik für das Textverständnis das Bewusstsein auf der textinternen Ebene und auch dessen Rezeption als entsprechende Reaktion, weil der
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Vgl. Heinz Antor, Rezeptionsästhetik, 230; vgl. auch Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte, in: Rainer Warnig (Hg.), Rezeptionsästhetik, 228-252; auch Wolfgang Iser, Der Lesevorgang, in: Rainer Warnig (Hg.), Rezeptionsästhetik , 251-276. Vgl. das Kommunikationsmodell in dieser Arbeit im Abschnitt „Kommunikation in der dih,ghsij“, S. 89-92, dabei besonders die Graphik; siehe auch das Kommunikationsmodell des Erzählwerk von Cordula Kahrmann, Gunter Reiß und Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 47. Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 41f, sie folgt hier dem Vortrag von Victor Lange „Das Interesse am Leser“. Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 44.
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Text auf solche Weise produziert wird.136 Darum liegt hier der Akzent auf dem impliziten Leser als Wechselbezug zum impliziten Autor. In diesem Zusammenhang lässt sich das Interesse am Rätsel des Markusschlusses bzw. der verstörenden Jüngerhandlungen unter dieser Kategorie subsumieren, während sich das Interesse am angefügten längeren Schluss der Rezeptionsgeschichte unterordnet, wo sich der Rezeptionsprozess aus der produktiven Rezeption des realen Lesers ergibt. Beispielsweise geht es dann um137 Reproduktion, Adaption, Assimilation und kritische Beurteilung. Denn unter dem Begriff „Literarische Rezeption“ versteht man auch das Phänomen der Werkverbreitung durch den realen Leser, der sich auf der textexternen Ebene befindet. Hingegen versucht man in der Rezeptionsästhetik eher, durch die verschiedenen Lesarten den Text richtig zu verstehen und zu interpretieren.
2. Rezeptionsgeschichte Wie wir gesehen haben, versteht man unter Rezeptionsästhetik primär das Verhältnis zwischen impliziten Autor und seinem impliziten Leser bzw. dem Textadressaten. Die Rezeptionsgeschichte betrachtet hingegen den Gesamtzusammenhang des Kommunikationsprozesses, weil Rezeption nicht auf Einzelphänome reduzierbar ist,138 sondern aus der komplexen Leserreaktion auf den Text besteht, die formale und inhaltliche Kritik, Unverständnis und sogar ablehnende affektive Äußerungen umfassen kann.139 So hat der Leser, nämlich der reale Leser, unter diesem Aspekt mit einer empirischen und gesellschaftlichen Funktion und mit den realen Voraussetzungen und Folgen von Rezeption zu tun. 140 Man kann also sagen, dass ein Text in verschiedenen historischen Horizonten rezipiert wird und deshalb Veränderungen ausgesetzt sein dürfte. Nach dem Kommunikationsmodell von Paul Celan wird eine Autorintention als Stimulus formuliert, worauf der Leser antwortet. Unter diesem Aspekt des Verlaufs eines Rezeptionsprozesses bzw. dem Stimulationsvorgang und seiner Rezeption lässt sich der auf den realen Leser nämlich den Leser auf der textex136 137 138 139
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Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 44f. Vgl. Gunter Grimm, Rezeptionsgeschichte, 22. . Vgl. Paul Celan, Text und Rezeption, 7. Vgl. Paul Celan, Text und Rezeption, 28: „Die Wirkung des Textes auf die Mehrzahl der Leser ist als eine Art Schock zu bezeichnen. Die Ungewöhnlichkeit des Textes, letztlich begründet in der Abweichung der Metapher von der Sprachnorm, bewirkt eine Überraschung beim Leser, welche sich in seiner Reaktion auf den Text mit Unverständnis, formaler und inhaltlicher Kritik und (in einem weiteren Schritt) mit affektiver Ablehnung koppelt.“ Vgl. Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 43 u. 46.
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terne Ebene einwirkende Text in diesem Modell rezipiert/produziert darstellen.141
Wie schon oben angedeutet, wirkt ein neu geschaffener Text, der für den Leser ungewöhnlich oder fremd ist, als Stimulus, was es nahelegt, sich mit der Rezeptionsfrage zu beschäftigen. Als Beispiel nehmen wir das obige Diagramm: der Leser reagiert auf Text 1 (Prätext), gemäß seiner Erwartung in Form einer gesteuerten selektiven Kombination, woraus Text 2 (Metatext) resultiert.142 Dabei kann man deutlich erkennen, dass der Leser als Autor oder der Autor umgekehrt als Leser durch Aufnahme und Weiterverarbeitung des Textes der produktiven Rezeption dient. Rein theoretisch kann dieser Prozess endlos weitergehen, denn der Widerstand des ersten Lesers gegen das ungewöhnliche und fremde Werk kann so groß sein, dass es eines langen Rezeptionsprozesses bedarf, um den Erwartungshorizont zu befriedigen.143
B. Die Geographie der Rezeption Nunmehr wenden wir uns den zwölf Versen von Mk 16,9-20 zu, dem sogenannten Längeren Markusschluss (LS). Nachdem die Frage seiner Authentizität geklärt wurde, besonders nachdem Teile des Kodex Vaticanus durch Andreas Birsch (zwischen 1788 und 1801) publiziert worden sind, werden die zwölf Ver-
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Vgl. Paul Celan, Text und Rezeption, 28. Vgl. Paul Celan, Text und Rezeption, 8f. Vgl. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, 193; vgl. auch Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 47.
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se oder ihr Autor in Markusstudien kaum noch berücksichtigt.144 Für uns ist es aber wichtig, nicht die langweilige Debatte um ihre Authentizität erneut aufzunehmen, sondern nach der literarischen Einheit an sich und ihrer Rezeption zu fragen. Wie verhält sich der LS zu Markus? James A. Kelhoffer hat das Ergebnis der Studie von August Klostermann treffend beurteilt:145 „Klostermann calls attention to the importance of the LE’s literary dependence for explaning the origin of the passage.” So wird es wichtig, dass man beim LS nicht nur auf die literarische Dependenz/Rezeption von anderen Prätexten, sondern auch auf dessen Geschlossenheit aufmerksam macht. Wie schon erwähnt, ergibt sich ein Rezeptionsprozess aus der Rezeptionskommunikation, in der der reale Autor mit dem realen Leser mittels eines Textes kommuniziert. Auch bei der markinischen Narrative ist es durchaus vorstellbar, dass sie beim Leser nicht nur auf rezeptionsästhetischer, sondern auch auf rezeptionsgeschichtlicher Ebene wirksam war. Dementsprechend können wir unter rezeptionsgeschichtlichen Aspekt eine deutliche produktive Rezeption der markinischen Narrative durch den realen Leser feststellen, da die Handschriften des Markusschlusses speziell als ein Beispiel einer Tenazität überliefert worden sind.146 Daraus können wir entnehmen, dass ein realer Leser als produktiver Leser bzw. als Autor darauf reagiert hat, ohne dass er sich einfach der Kompetenz des impliziten Autors untergeordnet hat. Daher gehen wir zunächst für die Rezeptionsgeschichte von der Annahme verschiedener literarischer Rezeptionen im LS aus. Denn in der Tat gibt es bisher keine Übereinstimmungen für die literarische Abhängigkeiten im LS,147 wenn man rasch literarische Abhängigkeiten in ihm erkennen kann. So scheint es nach wie vor schwierig zu sein, die Rezeptionsgeographie, also Erscheinung, Beziehung, sowie Chronologie, zu erhellen. Wie das oben gezeigte Kommunikationsmodell der Rezeption zeigt, spielt die Chronologie eine zentrale Rolle, weil ein Text auch eine Historie hat, womit eine bestimmte Reihenfolge gegeben ist. Wenn wir die Forderung von Hans Ro-
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Siehe die Forschungsgeschichte von James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 1-46, besonders 7. 20; vgl. auch die Beurteilung seiner Studie von Andreas Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992-2000 (I), 369-423, hier 407-409. James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 15; vgl. auch August Klostermann, Das Markusevangelium nach seinem Quellenwerthe für die evangelische Geschichte, Göttingen, 1867. Vgl. Kurt Aland und Barbara Aland, Der Text des Neuen Testaments, 295f. So hat James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 46, nach relativ ausführlicher Darstellung der Forschungsgeschichte behaupt er zusammenfassend: “[…] there is no consensus about the possible literary relationship of LE to Mark and the other NT Gospels.“
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bert Jauß nochmals berücksichtigen wollten,148 die Rekonstruktion des Erwartungshorizonts sei nur aus den Texten selbst möglich, so muss man bei ihr nicht zuletzt die offenen oder versteckten Textsignale genau untersuchen. Aus diesem Grund kommt es unserer Untersuchung entgegen, dass der Verfasser des LS nicht unkonkretisierbare mündliche Traditionen, sondern schriftlich fixierte Texte rezipiert hat. Joseph Hug und James A. Kelhoffer, die sich intensiv mit dem LS befasst haben, stimmen darin überein, dass der Verfasser geschriebene Texte benutzt hat, abgesehen davon welche konkreten Textvorlagen es waren.149 Darum werden wir zunächst die möglichen schriftlichen Vorlagen sammeln, die in ihm rezipiert zu sein scheinen. Im LS erkennt man leicht viele Motive, die schon als Erscheinungserzählung innerhalb oder außerhalb der kanonischen Evangelien bekannt sind. Und man kann alle vom Autor benutzten Ausdrücke fast wortwörtlich, von ganz einfachen Partikeln bis hin zum technischen Ausdruck, wiederfinden. Sie lassen sich mit anderen Evangelienschlüssen oder später apokryph gewordener150 frühchristlichen Literatur vergleichen.151 Es sind oft dieselben oder ganz ähnliche Worte, mit denen man eine Rezeptionskorrelation eruieren kann, um so die Entstehung der Erscheinungsbeschreibungen im LS zu erklären. Trotzdem hat ein produktiver Leser als Autor die Freiheit der Poetizität, d.h. in der Rezeptionsgeschichte kann es nicht nur ausschließlich um wörtliche Übereinstimmung gehen. Aus diesem Grunde konzentriert sich unser Interesse darauf, inwieweit die Darstellungen, Merkmale oder Poetizität den synoptischen Evangelien gleichen. Wenn sie sich allerdings unterscheiden, werden wir auch auf frühchristliche apokryphe Schriften zurückgreifen. Unsere Leitfrage lautet: Erscheint etwas als fremd oder bekannt? Unsere Rekonstruktion der Rezeptionsgeographie kann
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Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, 144207; so interpretiert auch Mandy Funke, Rezeptionstheorie Rezeptionsästhetik, 54f., den Charakter des Erwartungshorizonts. James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 48, siehe insbesondere Anm. 2. Zur Begrifflichkeit dieser Schriften siehe Hans-Josef Klauck, Apokryphe Evangelien, 7-10; siehe auch den Titel und die neue Diskussion von Dieter Lührmann, Die apokryph gewordenen Evangelien. Studien zu neuen Texten und zu neuen Fragen, NT Sup.112, 2004. So James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 51-122; ähnlich Joseph Hug, La Finale de l’évangile de Marc (Mc 16, 9-20), 39-150; Gerhard Hartmann, Der Aufbau des Markusevangeliums mit einem Anhang, 175-263; zur Rezeption der synoptischen Überlieferung bei den Apostolischen Vätern siehe Helmut Köster, Synoptische Überlieferung bei den Apostolischen Vätern, 1957 und ders., Apocryphal and canonical Gospels, 105-130, besonders 108-110.
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durch den Vergleich nur gewinnen. Wir werden im Folgenden allerdings eher kontextbezogene Ausdrücke berücksichtigen als zusammenhanglose Partikel.152 Der LS scheint inhaltlich und thematisch auf den ersten Blick zweigeteilt zu sein (Mk 16,9-14 und 16,15-20), etwas detaillierter lassen sich aber sogar acht Teile unterscheiden.153 Wir wollen hier zunächst die typische Auferstehungsformation in ihren drei Phasen,154 nämlich Erscheinung – Belehrung / Beauftragung - Himmelfahrt (16,9-14; 15-18; 19-20), betrachten und die entsprechenden Ausdrücke sammeln und bewerten, die sodann die Untersuchungsbasis bilden werden.
1. Die drei Erscheinungsberichte155 Es liegt nahe, zu betrachten, wie die drei Sammelberichte über Jesu Erscheinungen im LS durch die zeitlichen adverbialen Partikel verknüpft sind (16,9: prw/ton; 16,12: meta. de. tau/ta; 16,14: u[steron). Erscheinungen ereignen sich vor Maria Magdalena, vor „zweien von ihnen“ sowie vor den Elf. Hier müssen wir uns Gedanken zur Reaktion der Berichtsempfänger machen, die in diesem Fall sicherlich anders ausfällt als in den anderen Evangelien. Dabei stehen zwei Gesichtspunkte im Zentrum der Untersuchung: Erstens die Darstellung der Erscheinung und ihrer Augenzeugen und zweitens die Darstellung von Reaktion und Haltung der Berichtsempfänger. a) Die Erscheinungen und ihre Augenzeugen (1) Erscheinung vor Maria Magdalena Hier ist vor allem die Formulierung zu beachten, mit der Maria Magdalena156 und die vor ihr geschehene Erscheinung dargestellt wird. Wie schon erwähnt, 152
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Es ist m.E. nicht sehr sinnvoll, einfach ohne Kontext oder kontextbezogene Nutzung ein Wort oder eine Partikel zu vergleichen, indem man sich nur für dessen bloßes Auftauchen oder Häufigkeit interessiert. Gerhard Hartmann, Der Aufbau des Markusevangeliums mit einem Anhang: Untersuchungen zur Echtheit des Markusschlusses, 203f; Joseph Hug, La Finale de l’évangile de Marc (Mc 16,9-20), 33-37; James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 177f. Vgl. John E. Alsup, The Post-Resurrection Appearance Stories of the Gospel-Tradition, 28; und auch C. H. Dodd, The Appearance of the Risen Christ: An Essay in FormCriticism of the Gospels, in D. E. Nineham (Ed.), Studies on the Gospels, 17f. Zum Begriffunterschied siehe Bernhard Asmuth, Schilderung, in Wofgang Haubrichs (Hg.), Erzählforschung 3, 307-336, er erläutert „Schilderung“ als Malwort im Vergleich zu den Stichwörtern „Bericht und Erzählung“ bzw. „Beschreibung und Schilderung“, welche in Einklang mit den englischen Stichwörtern „telling“ und „ showing“ stehen; vgl. auch Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 70.
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richten wir unsere Aufmerksamkeit nicht so sehr auf die Exaktheit der sekundären Wortbenutzung im LS,157 sondern eher auf das mögliche Rezeptionspotenzial mit Blick auf eine kontextbezogene Betrachtungsweise. Denn eine Rezeptionskorrelation ergibt sich bei Untersuchung einer literarischen Beziehung nicht nur allein aus der Übereinstimmung eines winzigen Wortes, sondern bereits ein offenes oder verstecktes Textsignal kann die Bedingungen erfüllen, die man im Rezeptionsprozess beachten muss.158 So ist im ersten Erscheinungsbericht der Name Mari,a h` Magdalhnh. und ihre parenthetische Näherbestimmung neben den erscheinungstechnischen Ausdrücken als Rezeptionskette auffällig. Wir wollen unsere Betrachtung auf die Erscheinungsformulierung beschränken, zumal Maria Magdalena ausdrücklich als erste Zeugin auftritt: Mk 16,9: avnasta.j de. prwi> prw,th| sabba,tou evfa,nh prw/ton Mari,a| th/| Magdalhnh/| ( parV h-j evkbeblh,kei e`pta. daimo,niaÅ Mk 16,11: kavkei/noi avkou,santej o[ti zh/| kai. evqea,qh u`pV auvth/j hvpi,sthsan Die namentliche Erwähnung Marias findet sich in allen Evangelien.159 Zwar spielt ihr Name bei der Auffindung des leeren Grabes überall eine dominante 156 157
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Vgl. Erika Mohri, Maria Magdalena. Frauenbilder in Evangelientexten des 1. bis 3. Jahrhunderts, besonders 117-128. Beispielsweise stellt James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 70, nach Betrachtung des Namens zu dessen Exaktheit dies fest: „The Wording Mari,a h` Magdalhnh. is consistent in Mark, Matthew and John, but not in Luke“, weil der Wortlaut nicht Mari,a h` Magdalhnh. , wie in Mk 16,9, sondern h` Magdalhnh Mari,a lautet (vgl. Lk 8,2b: Mari,a h` kaloume,nh Magdalhnh,). Sollte nur eine exakte Wiederholung als literarischen Rezeption verstanden werden können, wäre dies als zu enge Bestimmung zu charakterisieren, weil es in der Rezeption des Rezipienten nicht nur um die poetische Freiheit und einen hinzugefügten Kommentar geht, sondern auch um die Imitation von Motiv, Darstellungsart und Gedanken. Vgl. Mk 15,47; 16,1.9; Mt 27,56.57; 28,1; Lk 8,2; 24,10; Joh 19,25; 20,1; 20,11; ferner EvPetr 50; LibBarth 8,1f. (Zählung nach Jean-Daniel Kaestli, L’ évagile de Bathélemy, 1993, Brepols, Imprimé, 194-195), wo neun heilige Frauen (Marie de Magdala, et Marie de Jacques, celle qu’il avait sauvée de Satan, et Salomé la tentatrice, et Marie celle qui sert, et Marthe sa sœur et Suzanne la femme de Chouza, l’intendant d’ Hérode, qui s’était éloignée du lit conjugal, et Bérénice, celle dont l’écoulement de sang avait cessé à Capharnaoum, et Lia la veuve, celle dont Dieu avait ressuscité de fils d’entre les morts, et la femme pécheresse à qui le Sauveur avait dit : „Tes nombreux péchés te sont
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Rolle,160 doch außer im Johannesevangelium steht sie in keiner Beziehung zur Auferstehung bzw. Erscheinung Jesu.161 Denn wir lesen in Joh 20,1 und Joh 20,11-18, dass Maria Magdalena nicht nur die erste (prw/ton) Besucherin am leeren Grabe war, sondern der Auferstandene ist ihr auch zuerst erschienen (prw/ton).162 An der zugefügten Beschreibung lässt sich zudem erkennen, dass der Autor des LS stark von Lukas beeinflusst ist. Obwohl James A. Kelhoffer das bezweifelt, weil hier die Namensnennung mit der lukanischen Verwendung nicht wörtlich übereinstimmt,163 kann doch die enge Parallelität mit Lk 8,2b (avfV h-j daimo,nia e`pta. evxelhlu,qei) nicht ignoriert werden.164 Weiterhin müssen wir auf jeden Fall die beschreibenden Auferstehungs- und Erscheinungsbegriffe beachten: avnasta.j, evfa,nh und zh/| . Wie schon der Prätext gezeigt hat,165 bedeutet das Verb avni,sthmi in der Regel gerade nicht eine Auferweckung oder Auferstehung Toter.166 Im kontextbezogenen Sonderfall wird das Wort jedoch für eine Auferweckung bzw. Auferstehung Toter verwendet und das gilt sogar nicht nur für die christliche Literatur,167 denn avni,sthmi ist dafür neben evgei,rw seit LXX schon terminus technicus.168 Obschon keine exakte
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pardonnés, va en paix!“) auf dem Gang zum Grab Jesu sind; vgl. auch Hans-Josef Klauk, Apokryphe Evangelien, 136f. Anders EpAp 9, (20): „[…] drei Frauen: Sara, Martha und Maria Magdalena (äthiopisch)/ ‹drei›Frauen: Maria, die zu Martha Gehörige, und Maria ‹Magd›alena (koptisch)…“. Übersetzung von Hugo Duensing, Epistula Apostolorum, in Hans Lietzmann (Hg.), Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen, Bonn, 1925, 8f.. Beispielweise fragt nur sie von allen sieben Frauen, die sich mit den Jüngern nach der Auferstehung Jesu versammelten. Vgl. Die Sophia Jesu Christi ferner Hans-Josef Klauck, Apokryphe Evangelien, 191-198. Anders in LibBarth, hier gibt der Auferstandene seiner Mutter Maria eine Botschaft für die Jünger; siehe auch Hans-Josef Klauck, Apokryphe Evangelien, 136f. Vgl. Joseph Hug, La Finale de l’évangile de Marc (Mc 16,9-20), 21; James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 69. Anders LibBarth 9,1-9,5, wo Maria Magdalena auch als erste Zeugin der Auferstehung Jesu genannt wird und sogar vom Auferstandenen einen Missionsbefehl erhält. Vgl. auch Jean-Daniel Kaestli, L’ évagile de Bathélemy, 198-200; siehe auch Hans-Josef Klauck, Die erzählerische Rolle der Jünger im Markusevangelium, 136f. James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 70f. James A. Kelhoffer, Miracle and Mission ,142 und auch 180f. Vgl. Hinsichtlich der Handlung Jesu Mk 1,35: „kai. prwi> e;nnuca li,an avnasta.j evxh/lqen ktl“; ferner Mk 7,24; Mk 10,1. Vgl. J. Kremer, Art. avnasta.j, EWNT I, 210-221. Vgl. J. Kremer, Art. avnasta.j, EWNT I, 212. Joseph Hug, La Finale de l’évangile de Marc (Mc 16,9-20), 44: „Ils [avni,sthmi und evgei,rw] l’étaient déjá dans la LXX, mais avec dominante de avni,sthmi“. Siehe besonders Anm. 1, wo er dafür als Beleg hinweist.
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Übereinstimmung des Verbs in der grammatikalischen Form (avnasta.j: Aorist Partizip, Aktiv) für die Auferstehung Jesu in den christlichen kanonischen Schriften vorliegt, 169 räumt man aber ein, dass es eine Wortverwendung bereits sowohl in der Urgemeinde als auch frühchristlichen Literatur gab,170 beispielsweise in der vorpaulinischen Formulierung in 1 Thess 4,14: „eiv ga.r pisteu,omen o[ti VIhsou/j avpe,qanen kai. avne,sth ( ktl“ und auch in den Brief des Ignatius von Antiochien an die Smyrnäer 2:171„[…] kai avlhqw/j e;paqen, w`j kai avlhqw/j avvne,sthsen e`auto,n, ktl“. Dasselbe Wort avnasta.j, wie im LS, nämlich in der Form Aorist Partizip, findet man dann erst wieder beim Märtyrer Justin, der zur Bezeichnung der Auferstehung die partizipiale Form vom 25 mal gebrauchten avni,sthmi 10 mal benutzt hat.172 Davon sind für uns drei von Interesse: Dial 63,1; Dial 138,1; 1 Apol 63,16.173 Im eigentlichen Sinne bedeutet das Verb fai,nw scheinen, leuchten, aber es ist auch ein Erscheinungsausdruck. Die passive Form fai,nomai kommt nicht zuletzt häufig in den synoptischen Evangelien vor, aber außer in Mk 16,9 wird sie nicht für die Erscheinung Jesu verwendet, obgleich sie im semantischen Kontext schon Ausdruck eines Epiphaniegeschehens ist.174 Für die Erscheinung 169 170
171
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174
Vgl. James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 67f. Im Auferstehungskontext kommen avni,sthmi und evgei,rw ohne Unterschied in der christlichen Literatur im ersten und zweiten Jahrhundert häufig vor, siehe James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 54. Anderer Auffassung ist Joseph Hug, La Finale de l’évangile de Marc, 40-45, er meint, es gebe bei der Verwendung von evgei,rw und avni,sthmi einen zeitlichen Abstand. Siehe 44f, wo er behauptet: „Des indices font pencher pour l’ antériorité de evgei,rw utilisé dans plusiers textes anciens (1 Co 15,4; Lc 24, 34; Mt 27, 53), wobei er avnasta.j im LS für einen terminus technicus aus einer alten Tradition hält, der ne s’est pas développeé à patir de avvne,sth comm evgerqei,j à partir de hvge,rqh. Vgl. den Text und die Übersetzung von Henning Paulsen (Andreas Lindemann), in Die Apostolischen Väter. Grieschisch-deutsche Parallelausgabe, 224-235, hier 226f.: „Und er hat wahrhaftig gelitten, wie er sich auch wahrhaftig selbst auferweckt hat[…]“. Für die Belege in den Schriften von Justin siehe Joseph Hug, La Finale de l’évangile de Marc, 43. Beispielweise Dial 63,1: meta tau/ta avnasta.j avnelh,luqen eivj to,vn ouvran,on und die Übersetzung von Philipp Hauser, Justinus. Dialog mit dem Juden Tryphon, in O. Bardenhewer u.a. (Hg.) Bibliothek der Kirchenväter, Joskösel, 101: „[…]dass er sodann auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist!“ siehe auch James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 54, besonders Anm. 16. Eigentlich hat fai,nomai die Bedeutung: scheinen, erscheinen, sich sehen lassen. Als Erscheinung eines unirdischen Wesens beschreibt es in den synoptischen Evangelien: die Erscheinung des Gottesengels (Mt 1,20; 2,13.19), das Erscheinen des Elija (Lk 9,8) und die Parusieerscheinungen des wiederkommenden Menschensohnes (Mt 24,27.30) siehe P.-G. Müller, Art. fai,nw, EWNT III, 983-986, hier 984f.
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Erster Teil: Die sekundären Erscheinungsberichte
Jesu taucht dasselbe Wort evfa,nh wie im LS anderswo nur zweimal auf, nämlich beim Märtyrer Justin und bei Melito von Sardes, zwei Schriftstellern des zweiten Jahrhunderts.175 In Form und Inhalt zeigt Justin eine enge Parallelität mit Mk 16,9 in Dial 138,1: evn h-| evfa,nh o` Cristo.j h`mw/n avpo. tw/n nekrw/n avnasta.j während bei Melito das Wort in einem anderen Kontext benutzt wird.176 Zuletzt betrachten wir zh/. Allerdings hat das Verb za,w in seiner Grundbedeutung im Grunde genommen keine Verbindung zur Auferstehung. Nur kontextuell, wenn z.B. Lukas es benutzt, um einen Status quo des Auferstandenen darzustellen,177 erscheint eine Auferstehungsbedeutung. Da sich das Wort außer im lukanischen Doppelwerk178 und der Johannesoffenbarung179 nicht auf die Auferstehung bezieht, stellt James A. Kelhoffer aufgrund seiner Sicht der christlichen Literatur des ersten und zweiten Jahrhunderts fest:180 „the only plausible source for zh/ is Luke-Acts and possibly Revelation.“ (2) Die Erscheinung vor zweien von ihnen Die Zeitangabe meta. de. tau/ta leitet den zweiten Erscheinungsbericht ein. Hier handelt es sich um zwei Personen „von ihnen“ (dusi.n evx auvtw/n), die als Augenzeugen und Berichterstatter auftreten. Sie werden im Gegensatz zu Maria Magdalena nicht namentlich genannt, jedoch ist eine knappe Notiz hinzufügt, sie sind nach einem Dorf unterwegs (poreuome,noij eivj avgro,n). Für uns ist es jetzt allerdings interessant, dass der Autor des LS versucht, durch eine eingeschobene Erklärung die Erscheinung Jesu anders als im ersten Bericht zu beschreiben, indem er die Gestalt des Auferstandenen schildert: Mk 16,12: meta. de. tau/ta dusi.n evx auvtw/n peripatou/sin evfanerw,qh evn e`te,ra| morfh/| poreuome,noij eivj avgro,n\ Der Auferstandene erscheint nun „zweien von ihnen“ (dusi.n evx auvtw/n). Diese Passage stimmt mit dem Anfang der Emmausepisode (Lk 24,13: kai. ivdou. du,o evx auvtw/n ktl) exakt überein. Auch die Handlung, die die parenthetische Notiz nennt, ist identisch. Die zwei wandern, nur ihr Zielort ist verschieden: eivj 175 176
177 178 179 180
Vgl. Joseph Hug, La Finale de l’évangile de Marc, 50f.; James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 55f. Vgl. Melito, Frag VIIIb, 41-45: „…o]j kai. toi/j evn a[|dou nekroi/j evfa,nh kai. toi/j evn ko,smw| brotoi/j, ktl“. Griechis cher Text nach Méliton de Sardes, Sur la Pâque et Fragments, in Sources Chrétiennes, Les Éditions du Cerf, Paris, 1966. Beispielsweise Lk 24,23: „[…] oi] le,gousin auvto.n zh/|n“ und Apg 1,3: „[…]oi-j kai. pare,sthsen e`auto.n zw/nta meta. to. paqei/n auvto.n evn polloi/j tekmhri,oij ktl.“ Vgl. Lk 24,5; Lk 24,33; Apg 1,3; Apg 2,8; Apg 25,19. Vgl. Offb 2,8; Offb 13,14; Offb 20,4-5. Vgl. James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 54.
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avgro,n beim LS und eivj kw,mhn bei Lukas. Für uns ist es jedenfalls wichtig, nicht auf die statistische Häufigkeit des Ausdrucks dusi.n evx auvtw/n (Genitivus partitivus), der sich überall zusammenhanglos gestreut findet, zu achten, sondern eher darauf, wie und wo mit der Wendung die Idee der Auferstehung bzw. Erscheinung ausgedrückt wird. Mit evfanerw,qh evn e`te,ra| morfh/| schildert der Autor des LS die zweite Erscheinung. Als Synonym von avpokalu,ptw hat fanero,w entsprechend der Grundbedeutung schon im paulinischen Gebrauch die Bedeutung offenbar machen, sichtbar werden und erscheinen.181 Jedoch wird das Wort in Verbindung mit der Erscheinung Jesu nur einmal in den neutestamentlichen Schriften verwendet, und zwar in Joh 21,14: „tou/to h;dh tri,ton evfanerw,qh VIhsou/j toi/j maqhtai/j evgerqei.j evk nekrw/n“. Die Formulierung findet man außerhalb der kanonischen Schriften lediglich noch im Barnabasbrief 15,9:182 „[…] o`` VIhso``ou/j avnesth evk nekrw/n fanerwqei.j avne,bh eivj ouvranou,j“. Auffallend ist auch, dass der Auferstandene mit evn e`te,ra| morfh/| beschrieben wird. Der Ausdruck taucht nur hier und noch zweimal in der präpaulinischen Tradition (Phil 2,6.7) auf, denn morfh, wird sonst nie in den neutestamentlichen Schriften verwendet. In der späteren patristischen Literatur taucht es allerdings im Zusammenhang sowohl mit der körperlichen Erscheinungsform, als auch der göttlichen Gestaltung häufig auf.183 So ist es vorstellbar, dass der Autor des LS einen Metakommunikationsbedarf zur Identifikation des Auferstandenen, wie in Lk 24,13-33a und Joh 20,14-18,184 durch den eigenen Ausdruck (evn e`te,ra| morfh/)| interpretiert. Wir vermuten daher, dass es sich bei dieser LS Passage aufgrund des übereinstimmenden Wortlauts und des verwandten Gedankens, um eine Epitome der Emmausepisode handelt. (3) Die Erscheinung vor den Elf Die letzte und dritte Erscheinung Jesu geschieht vor einer Gruppe und zwar den Elf, wobei der Autor, anderen die Erscheinung nun nicht mehr berichten muss, 181
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Vgl. Röm 1,17 (dikaiosu,nh ga.r qeou/ evn auvtw/| avpok- alu,ptetai evk pi,stewj eivj pi,stin ktl) und Röm 3,21 (Nuni. de. cwri.j no,mou dikaiosu,nh qeou/ pefane,rwtai ktl) ferner siehe P.-G. Müller, Art. fanero,w, EWNT III, 988-991. Zu Text u. Übersetzung vgl. Andreas Lindemann u. Henning Paulsen, Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe, 26-75, hier 64-65: „[…]Jesus von den Toten auferstanden und erschienen und in die Himmel aufgestiegen ist.“ Vgl. morfh/| in G. W. H. Lampe (Hg.), A Patristic Greek Lexicon, Oxford University Press, Oxford, 1961, 884f. Insbesondere de ressurrectione mortuorum von Methodius Oylmpius: Meth res I, 25 (…i[n v e;kastoj h``mw/n kai kata. th.n morfh/| o`` auvto.j ktl) und Meth res I, 49 (…ou;te eivj th.n tw/n avgge,lwn ou;te eivj th.n tw/n e`te,rwn morfh,). Bei Lukas wird der Auferstandene den zwei Jüngern erst nach dem Brotbrechen offenbar, und auch bei Johannes erkennt Maria Magdalena ihn erst als er ihren Namen nennt.
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Erster Teil: Die sekundären Erscheinungsberichte
weil e[ndeka als pluraler Augenzeuge eine Objektivität repräsentiert und als Führungsgruppe Autorität besitzt. Außerdem kann der Leser leicht die Elf (e[ndeka) mit den Hörern der beiden früheren Berichte identifizieren, oder zumindest annehmen, dass sie mit denen zusammen waren, die die Auferstehung Jesu nicht glaubten. Das Motiv des Unglaubens, diesmal durch die Ermahnung des Auferstandenen gegenüber den Elfen, ist jedesmal in dem parallel strukturierten Ausdruck hervorgehoben (Mk 16,11; Mk 16,13; hier Mk 16,14). Wir registrieren hier auch zuerst das handelnde Subjekt und die Situation, in der es sich befindet, sowie die Auferstehungsformulierung: Mk 16,14: u[steron avnakeime,noij auvtoi/j toi/j e[ndeka evfanerw,qh … o[ti toi/j qeasame,noij auvto.n evghgerme,non ouvk evpi,steusan Erst jetzt wird die Empfängergruppe, die bislang mal als „diejenigen, die mit ihm gewesen waren“ (Mk 16,10: toi/j metV auvtou/ genome,noij) mal als „die übrigen“ (Mk 16,13: toi/j loipoi/j) grob umrissen wurde, genauer bestimmt (toi/j e[ndeka). Wenn sich der Leser jetzt an das Scheitern des Judas Iskariot im markinischen Prätext und dessen Tod (Mt 27,3-5 und Apg 1,15-19) erinnert, ist die Zahl von elf (e[ndeka) statt von zwölf (dw,deka) nicht wichtig. Relevant ist vielmehr die Situation, in der sie sich befinden, als ihnen der Auferstandene erscheint. In der Passage werden die Verben evghgerme,non und evfanerw,qh zur Erscheinungsbeschreibung verwendet. Anders als bei der ersten und zweiten Erscheinung, wo der Autor des LS jeweils spezifische Verben ausgewählt hat, wiederholt er bei der dritten das zweite Verb. Wie schon erwähnt, ist evgei,rw wie avni,sthmi über seine allgemeine Bedeutung hinaus seit LXX ein oft verwendeter terminus technicus für eine Totenauferweckung .185 Beim Prätext fällt auf, dass Markus für die Auferstehung Jesu zuerst avni,sthmi, später jedoch evgei,rw benutzt. Es ist aber nicht sicher, ob er es bewusst getan hat. Der Autor folgt jedoch der Reihenfolge seines Prätextes, indem er mit evgei,rw den Auferstandenen selbst seine Auferstehung berichten lässt. Man kann natürlich auch im ältesten Glau-
185
Vgl. J. Kremer, Art. evgei,rw, EWNT I, 899f. Ferner Otfried Hofius, „Am dritten Tage auferstanden von den Toten.“ Erwägungen zum Passiv EGEIRESQA in christlogischen Aussagen des Neuen Testaments, in R. Bieringer u.a (Ed.), Resurrection in the New Testament. FS. J. Lambrecht, BEThL 165, 93-106, er fordert, dass das Verbum als Passivum divinum des Osterereignisses verstanden werden muss.
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bensbekenntnis186 sehen, dass dort dasselbe Wort benutzt wird. Doch es ist immer noch unsicher, ob evgei,rw zur älteren Traditionsphase gehört, wie Joseph Hug meint,187 weil es dafür erst zahlreiche Belege in der patristischen Literatur gibt.188 b) Die Formulierung der Reaktion und das Verhalten der Empfänger Durch die sich wiederholende Struktur wird die „Unglaubensthematik“ ausdrücklich hervorgehoben (Mk 16,11; Mk 16,13; Mk 16,14),189 denn alle Empfänger reagieren skeptisch auf den Auferstehungsbericht. Die Thematik wird nicht bloß indirekt, sondern auch direkt vermittelt, besonders indem der Auferstandene selbst vor den Elf nochmals darüber spricht. Beim dritten und letzten Fall sind die Augenzeugen gleichzeitig die Empfänger, welche daher keine mittelbare Mitteilung benötigten. Aus der wiederholten Darstellung von Haltung und Reaktion der Berichtsempfänger kann man allerdings folgern, dass für den Erzähler der Unglaube ein zentrales Motiv ist. Somit handelt es sich hier um die Handlung der drei Empfängergruppen nämlich toi/j metV auvtou/ genome,noij, toi/j loipoi/j und toi/j e[ndeka. Für uns ist es wichtig, mit wem wir sie identifizieren und in welcher Situation sie sich befinden, als sie den Erscheinungsbericht hörten oder den Auferstandenen selbst sahen. (1) oi`` metV auvtou/ genome,noi als Empfänger In Mk 16,10-11 berichtet Maria Magdalena toi/j metV auvtou/ genome,noij die Auferstehung Jesu, aber man glaubt ihr nicht. Abgesehen vom wiederholten Unglaubensmotiv der Empfänger im weiteren Verlauf ist vor allem auffällig, dass der Autor des LS die gegenwärtige Situation und den psychischen Zustand „derjenigen, die mit Jesus gewesen waren“,190 schildert. So wird die Darstellung der ersten Hörer ein wichtiger Faktor, den wir beachten sollten: Mk 16,10: evkei,nh poreuqei/sa avph,ggeilen toi/j metV auvtou/ genome,noij penqou/si kai. klai,ousin
186
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So wie in 1 Kor 15, 3b-5: o[ti Cristo.j avpe,qanen u`pe.r tw/n a`martiw/n h`mw/n kata. ta.j grafa.j … kai. o[ti evgh,gertai th/| tri,th| h`me,ra| kata. ta.j grafa,j kai. o[ti w;fqh Khfa/| ei=ta toi/j dw,deka. Siehe Anm. 47. Vgl. evgei,rw in G. W. H. Lampe (Hg.), A Patristic Greek Lexicon, 398. Beispielweise Ign.Trall. 9.2; Polyc.ep.5.2; Ath.dial.Trin 3.28; Cyr.inc.unigen etc. (zitiert nach Lampe). Vgl. Gerhard Hartmann, Der Aufbau des Markusevangeliums mit einem Anhang, 179; Joseph Hug, La Finale de l’évangile de Marc, 71-78. Θ identifiziert sie schon mit toi/j maqhtai/j auvtou.
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Erster Teil: Die sekundären Erscheinungsberichte
Als erste Hörer der Botschaft stellt uns der Autor des LS diejenigen vor, „die mit ihm gewesen waren.“ Für Markus ist die Formulierung als Jüngerbezeichnung im weiteren Sinne nicht fremd,191 aber wie schon angemerkt, ist der eigentliche Bedeutungsumfang und die Identifikation unsicher. Für den damaligen Leser aber waren die Bezeichnung und die Autorintention hinreichend verständlich, wenn er den Prätext sorgfältig gelesen hat. Wichtig ist nun aber die Information über den psychischen Zustand der Jünger: penqou/si kai. klai,ousin. Nur an dieser Stelle gibt es in den kanonischen Evangelien überhaupt diesen doppelten Ausdruck für die Trauer der Jünger,192 in die sie nach dem grausamen Tod Jesu gefallen sind. Allein in Joh 20,11.15 und in Lk 24,17 kann man es auch ein wenig verspüren. Doch außerhalb der kanonischen Evangelien findet man sogar eine wörtliche Übereinstimmung mit dem Ausdruck. So belegt das Petrusevangelium VII,27:193 evpi. de. tou,toij pasin evnhsteu,omen kai. evkaqeizo,meqa penqou/ntej kai. klai,oustej nukto.j kai. h``me,raj e[wj tou/ sabba,tou. Das Motiv der tiefen Trauer im Zeitraum zwischen Tod und Auferstehung taucht in den urchristlichen Schriften über Auferstehung und Erscheinung Jesu am Ende des ersten Jahrhunderts häufig auf.194 Als Hintergrund verweist Joseph Hug auf das Logion Mt 9,15 (kai. ei=pen auvtoi/j o` VIhsou/j …penqei/n…kai. to,te nhsteu,sousin) parr.195
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Eigentlich sind die Jünger bei Markus dazu berufen, um mit Jesus zusammen zu sein. Vgl. Mk 3,14: kai. evpoi,hsen dw,deka (…i[na w=sin metV auvtou/ ktl. So kann man den Ausdruck mit den Zwölfen identifizieren, wie es ein Abschreiber der Handschrift Θ getan hat. Und auch bei Markus ist die Formulierung nicht selten: Mk 2, 25; Mk 5,40; ferner Joseph Hug, La Finale de l’évangile de Marc, 67f und James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 73 u.186. Hierzu kann man auf Lk 6,25b hinweisen, wo der doppelte Ausdruck (penqh,sete kai. klau,sete) vorkommt. Jedoch liegt die hier verwendete Formulierung durch den Kontext nahe, wie James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 73, mit Recht vermutet. Zählung und Zitation nach M. G. Mara, Évangile de Pierre, in Sources Chrétiennes, Les Éditions du Cerf, 52-53. Vgl auch EvPetr XIV, 59: h`mei/j de. oi`` dw,deka maqhtai tou/ Kuri,ou evklai,omen kai. evlupou,meqa kai. e[kastoj lupou,menoj dia. to. Sumba.n avphllavgh eivj to.n oi=kon autou/. Ferner EpAp 9,(20) : „[…] indem sie weinten und trauerten über das, was geschehen war […]“ und 10,(21) : „Und wie sie aber trauerten und weinten, erschien ihnen der Herr und sprach zu ihnen[…]“. Vgl. Joseph Hug, La Finale de l’évangile de Marc, 68f.; James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 186f. A.a.O. Vgl. auch das von Hieronymus zitierte EvHeb, in De viris illustribus 2, wo dargestellt wird, dass der Herrenbruder Jakobus aus Trauer fastet. EvPetr 7,25-27: „because of all these things we were fasting and sat mourning and weeping night and day until the Sabbath“.
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(2) oi`` loipoi, als Empfänger Es ist zu bemerken, dass der Autor des LS im zweiten Bericht den Ausdruck loipoi, für die Empfänger wählt. Abgesehen von der Wortherkunft ist die Formulierung nach der Erzähllogik am Anfang des zweiten Berichts sehr passend: zweien von ihnen (duo, evx auvtw/n) am Berichtsanfang und die anderen/übrigen (loipoi,) am Ende. Allerdings stellt sich die Frage, mit wem man die übrigen im Makrotext identifizieren soll, ob mit den ersten Empfängern, die trauerten und weinten, oder mit den dritten, nämlich den Elf. Der Kodex Θ versteht sie schon als die Jünger Jesu: Mk 16,13: kavkei/noi avpelqo,ntej avph,ggeilan toi/j loipoi/j Es bleibt hier zudem unbestimmt, wie groß der übrige Jüngerkreis ist. Aber er erhält den Erscheinungsbericht von zweien von ihnen. Für den Leser ähnelt die Darstellung der Emmausepisode, auch wenn sie massiv verkürzt wirkt, weil ein Zusammenhang durch loipoi, bewirkt wird. Wir lesen im dritten Evangelium, dass Lukas den Begriff die „übrigen“ verwendet, um die Emmausepisode vorzubereiten: kai. u`postre,yasai avpo. tou/ mnhmei,ou avph,ggeilan tau/ta pa,nta toi/j e[ndeka kai. pa/sin toi/j loipoi/j (Lk 24,9).196 Während er mit dem Wort loipoi, diejenigen, die ausschließlich von den Elf übriggeblieben sind, benennt,197 verwendet es der Autor des LS so, dass loipoi, die e[ndeka einschließt. (3) oi`` e[ndeka als Empfänger In der letzten Beschreibung der Hörerreaktion und -haltung ist auffällig, dass die Elf eine doppelte Funktion haben, da sie als Augenzeugen und ausdrücklich als unmittelbare Empfänger dargestellt werden. Wenn der Auferstandene die Elf direkt tadelt, als er vor ihnen erscheint, zeigt der Autor damit, dass die Elf sowohl mit den ersten Berichtsempfängern nämlich, „diejenigen, die mit Jesus 196
197
Anders Röm 9,27: : Hsai prw,th| sabba,tou) schließt die Geschichte der Auferstehung Jesu im LS auf natürliche Weise an die vorausgehende Zeitangabe an, die sich mit Mk 16,2a (kai. li,an prwi> th/| mia/| tw/n sabba,twn) in Verbindung bringen lässt. So handelt es sich nach Darstellung des Autors noch um denselben Tag, an dem das Grab Jesu leer aufgefunden wurde, wie es auch alle anderen Evangelien berichten. An den wiederholt verwendeten temporalen Partikeln, die den Bericht gliedern (16,9: prw/ton; 16,12: meta. de. tau/ta; 16,14: u[steron), ist vor allem faszinierend, zu sehen, wie sich der Autor mit dem Problem der Protophanie auseinandersetzt, das in der frühchristlichen Überlieferung unterschiedlich beurteilt worden ist.242 Mit „prw/ton“ stellt der Autor dem Leser ohne Zögern Maria Magdalena als Empfängerin der Protophanie vor. Aber es lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, ob sie in der Zeit des LS schon als erste Augenzeugin des Auferstandenen anerkannt war. Doch so wird immerhin deutlich, dass der Autor durch einen Querverweis bzw. durch Vergleichslesen der Evangelien die Auferstehung und die Erscheinungen Jesu aus dem vierten Evangelium thematisiert.243 Dabei setzt er wahrscheinlich voraus, dass sein Inhalt seinen Lesern bereits bekannt ist. Darüber hinaus fordert er auch die Zustimmung zu seiner Aussage. Interessant ist, dass Maria Magdalena Empfängerin der Protophanie ist, was doch Lukas widerspricht. Damit zeigt sich, die Freiheit des LS Autors im Umgang mit anderen Prätexten. Lukas berichtet wegen seines theologischen Programms die Emmausepisode zwar zuerst, doch er will zugleich die Möglichkeit der Protophanie Petri nicht einfach missachten. Daher berichtet er von ihr in einem beweglichen freien Satz, demnach ist es für ihn immer noch schwierig gewesen, seine Version durchzusetzen, da im alten Glaubensbekenntnis Petrus der erste Auferstehungszeuge ist. Hingegen wird beim LS ein anderes Phänomen sichtbar, denn die Konkurrenz um die Protophanie bleibt in der Zeit des LS in einem erträglichen Rahmen,244 weil der Autor die Erscheinungen Jesu explizit 242 243
244
Vgl. Rudolf Pesch, Das Markusevangelium (8,27-16,20), 550. Zur Kenntnis der anderen Evangelien vom Autor des LS vgl. James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 137-150; und auch Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 8,27-16,8), 352: „Der Text setzt die Kenntnis des lukanischen Doppelwerks und Joh 20 voraus.“ Anders Rudolf Pesch, Das Markusevangelium (8,27-16,20), 550, er vermutet, dass wegen der Schwachheit der Zeugenfunktion der Frauen Maria Magdalena im Rahmen einer Erscheinungskette auftritt. Aber LS berichtet in chronologischer Reihenfolge. Das heißt, dass das Problem der Protophanie zur Zeit des LS möglicherweise einigermaßen gelöst worden war. Zur weiteren Diskussion der Historizität der Protophanie siehe Gerd Theißen/Annette Merz, Der historische Jesus, 433-435, sie stellen abschließend fest:
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Erster Teil: Die sekundären Erscheinungsberichte
chronologisch berichten konnte, indem er Joh 20 als erste Christophanieerzählung rezipiert hat. Darum ist es für uns wichtig, Art und Weise seiner Rezeption zu verstehen, nämlich als ein Querverweis bzw. Vergleichslesen anderer Evangelien, weil der Autor als rezipierender Leser ein solches Lesen voraussetzt. Man kann das Phänomen auch in der Näherbestimmung Maria Magdalenas entdecken. Der Autor verwendet wiederum das Vergleichslesen, indem er auf eine Lukasstelle, nämlich 8,2 hinweist, wo gesagt wird, dass Jesus aus ihr sieben Dämonen ausgetrieben hat, um so indirekt die Zuverlässigkeit und Genauigkeit seiner Aussage zu erhöhen. In diesem Zusammenhang ist es denkbar, dass der Autor seinen Leser implizit auffordert, andere Evangelien mitzulesen, um Lücken aufzufüllen und fehlende Informationen zu ergänzen. Aufs Ganze gesehen ist sein Bericht nicht neu, aber er zeigt deutlich, worauf sein Interesse gerichtet ist. Daher beginnt der Erscheinungsbericht vor Maria Magdalena mit prw/ton, womit sie ausdrücklich zur ersten Zeugin der Erscheinung wird (vgl. Joh 20,11-18). So kann gesagt werden, dass der Autor im Horizont der Rezeptionserwartung Informationen über die Auferstehung und die Erscheinungen Jesu in anderen Evangelien sammelt und sie seinem Prätext hinzufügt, wodurch er zeigt, dass er nachträglich als „zweite Hand“ schreibt. So lässt sich nun auch verstehen, warum im LS keine deutliche Lokalität der jeweiligen Szene angegeben wird,245 obwohl im Berichtsverlauf viele Schauplätze genannt werden könnten. Der Leser muss sich also wiederum anderen Evangelien zuwenden, da der Erzähler überhaupt nicht erwähnt, wo der Auferstandene Maria Magdalena erschien,246 und wo sich die „mit ihm Gewesenen“ befanden,247 die trauerten und weinten.248 Das gilt auch für das Motiv des Unglaubens. Es spielt bei den Augenzeugen, also sowohl bei Maria Magdalena, als auch im zweiten Erscheinungsbericht, überhaupt keine Rolle. Nur bei den Empfängern findet man das Motiv, nämlich bei den Hörern, denen von der Erscheinung berichtet wurde, die sie aber nicht glaubten. Doch dennoch ist hier nicht gemeint, dass Maria Magdalena bzw. „die zwei von ihnen“ gleichzeitig den Auferstandenen unproblematisch erkennen und ihm glauben konnten, als er ihnen erschien. Vielmehr stellt der Autor zunächst einmal auch ihr Nicht-Erkennen dar, wie in Joh 20,14-16 bzw. Lk 24,15-16. So
245
246 247 248
„Es ist wahrscheinlicher, dass eine ursprüngliche Tradition von einer Protophanie vor Maria Magdalena unterdrückt wurde, als dass sie erst nachträglich entstanden wäre.“ Außer Mk 16,12: „meta. de. tau/ta dusi.n evx auvtw/n…evn e`te,ra| morfh/| poreuome,noij eivj avgro,n“. Aber die Ortsangabe lässt sich erst durch ein Vergleichslesen von Lk 24,13 konkretisieren. Vgl. Joh 20,11-18. Vgl. Lk 24,33. Vgl. Joh 16,20.
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gelangt Maria Magdalena bei Johannes erst nach der dramatischen namentlichen Anrede durch den Auferstandenen zur Erkenntnis.249 Und auch die Emmausjünger bei Lukas konnten den Mitwanderer erst als Jesus identifizieren, als er beim Gastmahl das Brot brach.250 So kann man sagen, dass der Autor des LS seine Leser dazu einlädt, durch Vergleichslesen bzw. implizite Querverweise zu verstehen, was hier eigentlich geschieht, indem er weitere Prätexte hinzuzieht wie es der Autor selbst getan hat. 251 b) Zweiter Bericht: Die Erscheinung vor zweien von ihnen Wie auch Lukas, schildert der Autor des LS die Erscheinung Jesu an einem bestimmten Tag. So gibt es im Berichtsverlauf zwar kleine Ortwechsel, aber keinen bedeutenden Zeitwechsel, da alle Ereignisse am selben Tag geschehen. Allerdings kommen einige temporale Partikel vor, zum Beispiel prw/ton, meta. de. tau/ta, u[steron,, doch sie werden nur für die zeitliche Gliederung desselben Tages verwendet.252 Wichtig ist hingegen die Ereignisreihenfolge, wie bei prw/ton, wo es um die Protophanie geht. So zeigt der Autor mit meta. de. tau/ta lediglich, dass die Erscheinung vor dusi.n evx auvtw/n der ersten ohne konkreten zeitlichen Abstand folgt. Im LS lässt sich vermuten, dass häufig Ortswechsel vorkommen, aber es werden keine genaueren Lokalitäten der entsprechenden Ereignisse genannt. Darum sagt der Autor auch im zweiten Bericht nicht, wohin die „zwei“ nun wandern, auch wenn er auf eivj avgro,n als Ziel hinweist. Außerdem bleiben die Wanderer anonym. Mit einer derartig vagen Information kann man freilich nicht sicher erkennen,253 dass der Auferstandene vor zwei Jüngern (dusi.n evx auvtw/n) erschienen ist. Jedoch kann der Leser die fehlende Information, wenn er mehr wissen möchte, als der Autor jetzt verrät, durch einen Querverweis ergänzen, indem er sich anderen Evangelien zuwendet. Dafür bietet der Autor seinem Leser einige Verbindungselemente an, die ihm helfen könnten. Wie zum Beispiel folgende Stichworte: dusi.n evx auvtw/n, eivj avgro,n, evn e`te,ra| morfh/| (vgl. Lk 24,13249 250 251
252 253
Vgl. Joh 20,16a: le,gei auvth/| VIhsou/j\ Maria,m. Vgl. Lk 24,31. Siehe den lukanischen Prolog (Lk 1,1-3) und den zweiten johanneischen Epilog (Joh 21,24-25), wo beide Autoren voraussetzen, dass sie selbst als Leser ihre Prätexte gelesen haben. Anders als bei Lukas (Lk 24,1.29) kann man nicht erkennen, ob es nachmittags oder abends passiert. Vgl. Bas van Iersel, Markus, 258. Er versteht es ähnlich: „Die Elf sehen Jesus, als sie beim Mahl sitzen, aber im übrigen bleibt wiederum dunkel, wo der Tisch steht, das bedeutet, dass der Leser sich das, was erzählt wird, nur schwer vorstellen kann.“ Aber er bietet keine genaueren Bestimmungen.
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16).254 Das deutet wohl schon die Emmausepisode der lukanischen Erzählung an und daraus entnimmt der Leser, dass ihn der Autor einlädt, mit ihm die lukanische Erzählung zu lesen. Anders gesagt, der Autor deckt so seine Rezeption des dritten Evangeliums auf.255 Im Einklang mit dem ersten Bericht wird das Motiv des Unglaubens nochmals wiederholt und so verstärkt. Es ist jedoch bekannt, dass in der Ostererzählung die Ungläubigkeit der Augenzeugen gegenüber dem Numinosen schon thematisiert worden ist, was gerade Johannes ausführlich geschildert hat.256 Der Autor bereitet in dieser thematischen Wiederholung den letzten Erscheinungsbericht vor, wobei er beabsichtigt, die Aufmerksamkeit zuletzt auf die Elf zu richten. Indessen gilt der Tadel, den der Auferstandene später wegen der Ungläubigkeit (Mk 16,14) ausspricht, nicht allein den Elf. Vielmehr trifft er ohne Ausnahme alle: „diejenigen, die mit ihm gewesen waren“, die „Übrigen“ sowie „die Elf“, weil sie nicht glaubten was sie hörten, Jesus ist erschienen und lebt. c) Dritter Bericht: Die Erscheinung vor den Elf Mit u[steron beginnt der dritte und letzte Erscheinungsbericht. Die Neutestamentler sind hinsichtlich seiner Bedeutung geteilter Meinung,257 da die temporale Partikel u[steron zwei Bedeutungsaspekte hat: es wird ein zeitlicher Abstand zum zweiten Erscheinungsereignis angezeigt. Also folgt die Erscheinung vor den Elf der Erscheinung vor „den zweien“ zeitlich „später oder danach.“ Im Interesse der Protophanie zeigt die temporale Partikel u[steron jedoch auch, dass der Auferstandene selbst nun zum dritten und letzten Mal den Elf erscheint, was dann „zuletzt oder endgültig“ genannt wird.
254
255 256 257
Vgl. Ernst Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, 361f, er meint, dass das Wort nicht nur auf die johanneische, sondern auch auf die lukanische Ostererzählung hinweist: „Die Wendung scheint auf V.9 zurückzugreifen; „[…] Der Maria erschien Er als Gärtner, den zwei Jüngern als Wanderer.“ Vgl. Ernst Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, 361. Vgl. Joh 20,24-25; auch Lk 24,36-37 und Mt 28,17. Vgl. Ulrich Wilkens, Art. u[steroj ktl, ThWNT VIII, 590-600, besonders, 593f., er stellt fest, das Wort „[…] wird durchgehend im zeitlichen Sinne, und zwar seltener komparativisch in der Bedeutung später, nachher als superlativisch im Sinn von zuletzt, schließlich gebraucht“; vgl. auch Friedrich Blass/ Albert Debrunner (von Friedrich Rehkopf bearbeitet), Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, § 62.;Ulrich Wilkens, Art. u[steroj ktl, ThWNT VIII, 594, er kategorisiert u[steron in Mk 16,14 unter einem superlativischen Gebrauch. Ähnlich R. Pesch, Das Markusevangelium (8,2716,20), 552; Joachim Gnilka Das Evangelium nach Markus (8,27-16,20), 355. Gegen Walter Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 1692 f., behauptet er, dass das Wort eine komparativische Bedeutung habe.
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Beim Bericht fällt auf, dass der Autor beim Unglaubensmotiv auf den ersten und zweiten Bericht zurückverweist: o[ti toi/j qeasame,noij auvto.n evghgerme,non ouvk evpi,steusan. Mit diesem analeptischen Hinweis verfolgt er die Absicht, die drei Erscheinungsberichte als geschlossene Einheit zu strukturieren und den Unglauben erneut hervorzuheben. Daraus ergibt sich eine Begründung des Autors, warum er durch den Mund Jesu die Elf wegen ihres Unglaubens (th.n avpisti,an) und ihrer Hartherzigkeit (sklhrokardi,an) tadelt (wvnei,disen). Dem Leser des Markusprätextes ist dies nicht fremd,258 weil in ihm der Jüngertadel bereits häufig exponiert dargestellt wurde. So kann der Leser auch nun vermuten, dass es den Tadel des Auferstandenen auch bei der Erscheinung vor Maria Magdalena oder vor den zweien gegeben hat, obwohl er im Metatext nicht erwähnt wird, doch der Jüngertadel aus der Emmausepisode in Lk 24,25 ist sicherlich bekannt gewesen.259 Gemäß seiner Beschreibungstechnik platziert der Autor des LS wie schon im vorherigen Bericht einige Verbindungselemente für das Vergleichslesen, um dem Leser weitere Informationen zugänglich zu machen und Verständnishilfen anzubieten. In diesem Fall signalisiert avnakeime,noij als Participium conjunctum dem Leser bereits, sich anderen Prätexten, nämlich anderen Evangelien zuzuwenden. Nach dem Querverweis kann er das Fehlende durch Elemente ersetzen, die anderswo vorkommen. Hier verweist er auf Lukas und zwar auf Lk 24,33260 und 24,41-42261 sowie auf die Aussage des Petrus in Apg 10,41,262 wo er als Versammlungsort die Lokalität (Jerusalem) und als Aktivität der Jünger die Handlung (Mahl) verrät. Dadurch lässt sich eine Leserirritation vermeiden.
3. Zweites Manifest: Rehabilitierung der Jünger Da es im zweiten Manifest des Autors des LS um Dinge geht, die etwas außerhalb der Erscheinungsthematik liegen, könnten sie den Leser befremden, wie zum Beispiel „in neuen Zungen zu reden“ und „Schlangen aufzuheben“ sowie „Giftiges zu trinken“. Zum Einen wird durch das erste Manifest die Lesererwartung, eine Auferstehungs- und Erscheinungsgeschichte am Ende der Geschichte, erfüllt, zum Anderen kommt das zweite Manifest wiederum angesichts solcher 258 259 260 261 262
Vgl. Mk 4,40: ou;pw e;cete pi,stinÈ und Mk 8,17: pepwrwme,nhn e;cete th.n kardi,an u`mw/nÈ Vgl. Lk 24,25: w= avno,htoi kai. bradei/j th/| kardi,a| tou/ pisteu,ein ktl . Vgl. Lk 24,33: u`pe,streyan eivj VIerousalh.m kai. eu-ron hvqroisme,nouj tou.j e[ndeka kai. tou.j su.n auvtoi/j. Vgl. Lk 24,41: e;cete, ti brw,simon evnqa,de und auch Lk 24,42 : evpe,dwkan auvtw/| ivcqu,oj ovptou/ me,roj. Vgl. Apg 10,41: h`mi/n oi[tinej sunefa,gomen kai. sunepi,omen auvtw/| meta. to. avnasth/nai auvto.n evk nekrw/n.
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Erster Teil: Die sekundären Erscheinungsberichte
Erwartungen mit dem Schluss des Markusprätextes in Berührung. Erst jetzt begegnet Jesus den Jüngern richtig. Im Prätext sind alle Jünger nach Jesu Festnahme verschwunden263 und nur in der Figurenrede erscheinen sie noch indirekt auf der Bühne.264 Trotz der proleptischen Rede Jesu auf dem Ölberg265 und der Ankündigung des Mannes im Grabe Jesu266 geht die Erwartung nicht in Erfüllung. Die Elf sind zwar im dritten Erscheinungsbericht des LS mit dem Auferstandenen zusammen, aber sie verpassen ihre Chance, sich mit Jesus zu versöhnen, wodurch sie rehabilitiert worden wären. Denn im dritten Erscheinungsbericht betont der Autor ausdrücklich ihren Unglauben, weshalb sie repräsentativ getadelt werden. Erst in der Sendungsrede Jesu erfolgt ihre Rehabilitation. Der Metatext endet nicht mit dem Scheitern der Jünger wie der Prätext, obwohl sie vom Auferstandenen wegen ihres Unglaubens getadelt werden, sondern geht weiter, indem der Autor den Auferstandenen nochmals zu ihnen sprechen lässt. Somit werden die Jünger durch die Sendungsrede rehabilitiert und erneut beauftragt. Beim Lesen erinnert sich der Leser natürlich sofort an die Jüngerberufung und Beauftragung in Mk 3,13-15 und 6,7-13. Aber man kann auch vermuten, dass die Jünger nicht bloß rehabilitiert werden, sondern erst jetzt ihren endgültigen Status als „Jünger Jesu“ gewinnen, nämlich als Zeugen. Während sie früher mit evxousi,a im Prätext ausgesandt wurden, gehen sie nun durch Wunderzeichen neu beglaubigt in die ganze Welt. a) Die Sendungsrede Die Sendungsrede des Auferstandenen enthält drei wichtige Stichworte: euvagge,lion, ba,ptisma, shmei/on. Wie wir in den Erscheinungsberichten gesehen haben, hat der Autor des LS Bekanntes integriert, jedoch auch Neues eingefügt. Doch war es seinem Leser vielleicht nicht so fremd wie uns, denn für ihn konnte es bekannt gewesen ein, weil spürbar ist, dass die Darstellung nicht nur den Markusprätext, sondern auch andere Ausdrücke frühchristlicher Sichtweise rezeptiv reflektiert. Im Folgenden werden wir vor allem auf das „Fremde“ eingehen. (1) euvagge,lion In dieser Passage steht die Evangeliumsverkündigung (khru,xate to. euvagge,lion, Mk 16,15) in Imperativform ausdrücklich im Zentrum. Das Motiv in der Sendungsrede des Auferstandenen ist freilich nicht fremd. Außer in den paulinischen Briefen ist der Gebrauch von to. euvagge,lion bei Markus bedeutend.267 263 264 265 266 267
Vgl. Mk 14,50 und 51-52. Auch Mk 14,54-72. Vgl. Mk 16,7. Vgl. Mk 14,28. Vgl. Mk 16,7. Vgl. Georg Strecker, Art. euvagge,lion, EWNT II, 176-186.
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Abgesehen von der Debatte, was der Genitivus subjectivus und Genitivus objectivus in der Genitivverbindung von to. euvagge,lion im Markusprätext wirklich bedeutet, ist auch der Gesamtinhalt der Narrative wichtig. Denn ihr zufolge gibt es eine Möglichkeit, dass sich to. euvagge,lion im Bezug auf den Verkündigungsinhalt chronologisch in der Zeit des Vor- und Nachostern unterscheiden lässt.269 In diesem Zusammenhang kann man deshalb auch hinsichtlich des Inhalts der Evangeliumsverkündigung und angesichts des Prätextes wiederum fragen, ob das vom Autor des LS verwendete Stichwort to. euvagge,lion mit der Evangeliumsverkündigung des irdischen Jesus (khru,sswn to. euvagge,lion tou/ qeou/, Mk 1,14) in inhaltlicher Kontinuität steht. Anders als in der Debatte, die nach inhaltlicher Kontinuität des Evangeliums zwischen Mk 1,14f. und 13,10 bzw. 14,9 lediglich innerhalb des Markusprätextes fragt, gibt es im Metatext dafür noch ein weiteres Kriterium. Hier hört man, dass die Jünger im Rahmen der Evangeliumsverkündigung auch den Taufbefehl erhalten haben. Wie Markus, der die eschatologische Botschaft aus mündlichen Aussagen Jesu zitiert (Mk 1,15), um den Evangeliumsinhalt darzustellen, kann man über Mk 16,16 auch auf die damalige Sitte, wie man mit dem Evangelium umging, schließen.270 So ist der Hinweis wichtig, dass in der Evangeliumsverkündigung des frühen Christentums die Missionspraxis eng mit der Taufe verbunden ist.271Zum anderen kann das auch darauf aufmerksam machen, dass der Verkündigungsbefehl des Auferstandenen nicht nur zum überlieferten Evangeli268 269
270 271
Beispielweise avrch. tou/ euvaggeli,ou VIhsou/ Cristou ktl in Mk 1,1. Vgl. Jens Dechow, Gottessohn und Herrschaft Gottes. Der Theozentrismus des Markusevangeliums, 268-288; und auch David S. du Toit, Der abwesende Herr, 276-283. Dort geht es um die Frage nach der inhaltlichen Kontinuität, welche zwischen der Evangeliumsverkündigung in Mk 1,14f. und in Mk 13,10 und Mk 14,9, welche von Markus in analeptischer Verwendung geschildert werden. Zur Thematik behauptet Jens Dechow, Gottessohn und Herrschaft Gottes, 280: „[…] die Verkündigung der Anhänger Jesu […] Diese hat nicht mehr die eschatologische Botschaft Jesu zu ihrem Inhalt, sondern die Person Jesu.“ David S. du Toit, Der abwesende Herr, 279f, er stellt jedoch eine Differenz zwischen vor- und nachösterlischer Verwendung des Evangeliums bei Markus fest: „Die Verkündigung des Evangeliums in der Zeit der Abwesenheit Jesu besteht also dem Markusevangelium zufolge nach Ostern weiterhin in der Ansage der Nähe des Gottesreiches und dessen Herbeiführung durch das baldige Kommen des Menschensohns (Mk 1,15; 8,38f.; 13,24.27.30), also in der Verkündigung des Evangeliums, wie Jesus es verkündigt hat.“ Zur Kritik an Jens Dechow, siehe besonders die Anm. 64. Vgl. Ernst Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, 362. 1 Kor 1,17wir jedoch eingeräumt: „ouv ga.r avpe,steile,n me Cristo.j bapti,zein avlla. euvaggeli,zesqai ktl“. Mit Recht behauptet Hans Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, 51: „Die Erklärung V. 17a wertet nicht die Taufe ab, sondern bestimmt den persönlichen Auftrag“. In der matthäischen Beauftragungsszene in Mt 28,19, werden die Weltmission und der Taufbefehl schon als Auftragsinhalt dargestellt.
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umsinhalt gehört, sondern in ihm auch die Person Jesus selbst gegenwärtig ist. Daher kann man feststellen, dass das verwendete Wort to. euvagge,lion als terminus technicus schon die Rede über Jesus bedeutet. Darüber hinaus werden wir unten noch vertiefen, was to. euvagge,lion im Zusammenhang mit ba,ptisma besagt. (2) ba,ptisma Wie der vorangegangene Abschnitt angedeutet hat, ist to. euvagge,lion von ba,ptisma in den Anfängen der Kirche überhaupt nicht trennbar. Auch hier wird die Taufe mit dem Glauben (pi,stij) eng verbunden dargestellt, wo sie im zweiteiligen antithetischen partizipialen Konstrukt (o`` pisteu,saj und o` de. avpisth,saj) als ein entscheidendes Kriterium für das eschatologische Heil fungiert.272 Doch wird für das Verbum finitum (pisteu,ein) nicht explizit das Objekt bestimmt, was man eigentlich glauben sollte, doch das erklärt sich durch den voranstehenden Satz. Da der Verkündigungsbefehl direkt mit der Rede über die Taufe paraphrastisch verknüpft erscheint, kann sich das Verb pisteu,ein hinsichtlich seines Objekts in erster Linie auf to. euvagge,lion beziehen.273 Und auch im Hinblick auf die grundlegende Konzeption des LS, lässt sich eine Antwort auf die Frage nach dem Objekt des Verbs unschwer finden. Im LS bemüht sich der Autor besonders um das Thema „Glauben“, wobei er sich auf die Auferstehung konzentriert. Was o` pisteu,saj glaubt, zielt deshalb auf die Auferstehung Jesu. Infolgedessen fordert die mit dem Glauben eng verbundene Taufe als notwendige Vorbedingung des menschlichen Heils, dass man an das Evangelium, insbesondere die Auferstehung Jesu, glaubt. In diesem Lichte kann die Taufe auch als ein christliches Ritual verstanden werden, in welchem man einerseits exterior die Annahme des Evangeliums öffentlich macht, und in welchem andererseits der Glaube des Evangeliums interior versiegelt wird.274 Da als Beweis bzw. Beglaubigung den Gläubigen ausdrücklich Zeichen folgen sollen, beweisen diese ihre Legitimität. (3) shmei/a Der vorgestellte Wunderkatalog, der den Gläubigen kennzeichnet, ist von zwei bekannten Zeichen, die der irdische Jesus selbst vollbracht hat, gerahmt (evn tw/| ovno,mati, mou daimo,nia evkbalou/sin, evpi. avrrw,stouj cei/raj evpiqh,sousin kai. kalw/j e[xousin). Während die bekannten Zeichen Taten sind, welche von seinen Jüngern weitergeführt werden sollen - bereits der irdische Jesus hat ihnen bei der 272 273 274
Vgl. Joh 3,17f; 5, 34; 10,9. So Walter Schmithals, Das Evangelium nach Markus, ÖTK 2/2, 743: „Rettung und Gericht hängen vom GLAUBEN ab, nämlich vom Glauben an das Evangelium.“ Vgl. Rudolf Pesch, Das Markusevangelium (8,27-16,20), 553; Vgl. auch Ernst Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, 362f.. und Walter Schmithals, Das Evangelium nach Markus, 743.
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Sendung die Vollmacht für Dämonenaustreibung und Krankenheilung gegeben275 - gelten die anderen, relativ fremden, eher als Zeichen der Jünger bei ihrer Missionstätigkeit. So kann man zwar ungefähr analoge Stellen in den synoptischen Evangelien finden,276 aber es gibt keine direkte Parallele, wie wir oben in der Rezeptionsgeographie gesehen haben. Ein solches Muster findet man vielmehr erst in den apokryphen Acta.277 Schließlich lassen sich insgesamt fünf Arten von Wunderzeichen nennen, die durchgängig zur Missionstätigkeit der Jünger gehören. Wir wollen aber nicht auf die beiden bekannten Zeichen und die „Rede mit neuen Zungen“278 eingehen, sondern lieber auf die relativ fremden, nämlich o;feij avrou/sin (Schlangen aufzunehmen ohne Verwundung) und ka'n qana,simo,n ti pi,wsin ouv mh. auvtou.j bla,yh (unbeschadetem Genuss tödlichen Trankes), weil diese Wunder im NT nicht dargestellt werden und deshalb Hinweise für die Verfassungszeit des LS geben können. Wir haben schon in der Rezeptionsgeographie gesehen, dass Analogien zu diesen Wunderzeichen schon vor dem LS bekannt waren, weshalb es möglich ist, dass er auf vielfältige Weise beeinflusst worden ist. Nicht auf der textinternen, sondern auf der textexternen Ebene stellt sich bei diesen Wunderzeichen die pragmatische Frage, ob sie im Rahmen der Missionstätigkeit von den Jüngern selbst vollbracht wurden, oder ob sie die Tatsache andeuten sollen, dass solche Fähigkeiten aufgrund der Christenverfolgung nötig wurden, um den Glaubenden vor der Todesdrohung Mut und Trost zu geben, weil sie mit Gift oder Schlangen konfrontiert wurden. In der Akte des Johannes in Rom sehen wir 275 276
277 278
Vgl. Mk 6,7-13; Mt 10,1-8. Wie zum Beispiel hinsichtlich der Schlange in Lk 10,19 und im anderen Kontext in Joh 3,14; vgl. auch Walter Schmithals, Das Evangelium nach Markus, 745: „Ungefährdet ‚etwa Giftiges trinken’ ist (theologisch gesehen) eine Dublette zu dem vorausgehenden Motiv.“ Insbesondere die apokryphen Acta einschließlich Apg vgl. Apg 28,3-7 und auch Papias nach Eusebius von Caesaria, HisEcc III 39, 9f. Vgl Apg 2,1-4; nach Auffassung von Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus (8,27-16-20), 356, bezieht sich das Reden in neuen Zungen nicht auf Glossolalie oder Reden in Engelszungen, sondern auf das Pfingstereignis, wo die Jünger in vielen Sprachen redeten. Anders Rudolf Pesch, Das Markusevangelium (8,27-16,20), 554, er meint, dass im Reden „in (neuen) Sprachen“ das ekstatische Phänomen der Glossolalie in den urchristlichen Gemeinden erschienen ist (Apg 2,4; 1 Kor 12-14). Hingegen behauptet Wilfried Eckey, Das Markusevangelium, 411, dass beide Aspekte möglich sind: nämlich dass sie nicht nur auf ekstatische Zungenrede (Apg 10,46; 19,6; 1 Kor 14,2), sondern auch auf die Evangeliumspredigt in vielen Sprachen zu beziehen ist. Vgl. auch Walter Schmithals, Das Evangelium nach Markus, 744f., er verbindet es mit der Sprache des Geistes (Glossolalie) und der Verheißung in Joel 3, 1f., welche sich nun unmittelbar erfüllt.
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möglicherweise ein Beispiel für das erste, denn der Apostel Johannes hat vor dem Kaiser Domitian folgenlos tödliches Gift getrunken, um die Wahrheit des Evangeliums zu beweisen. In Historia Ecclesiastica berichtet Eusebius von Caesaria allerdings nicht, unter welchen Umständen Justus Barsabbas tödliches Gift trinken sollte.279 So muss man sich auch im ersten Fall fragen, weswegen der Apostel Johannes vor dem Kaiser steht und warum darüber nicht berichtet wird. Obschon in den ersten drei Jahrhunderten die Gläubigen als Wundertäter bezeichnet werden,280 und Wunder in den Anfängen des Christentums als „ein sehr wichtiges Mittel der Mission und Propaganda“281 eine bedeutende Rolle spielten, sind diese Wunderzeichen doch sehr selten. Die aufopferungsvolle Missionspraxis der frühen Kirche bemühte sich hauptsächlich um Krankenheilung und Dämonenaustreibung,282 unabhängig davon ob sie sich inner- oder außerhalb der Gemeinde ereigneten.283 Die beiden „fremden“ Wunderzeichen stimmen mit den beiden anderen insofern überein, als sie sich auf etwas Tödliches beziehen, und daher eine Lebensbedrohung verkörpern. So hat Tertullian in Scorpiace die Geschichte Pauli, in der sich eine Giftschlange an seine Hand hängte (e;cidna avpo. th/j qe,rmhj evxelqou/sa kaqh/yen th/j ceiro.j auvtou/, Apg 28,3) rezipierend interpretiert, indem er während der Christenverfolgung den Glauben als Abwehr (praesidium) gegen
279 280 281 282
283
Vgl. Eusebius von Caesaria, HisEcc III 39, 9f. Siehe James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, Kap. 5 (245-339) besonders den Untertitel „Believers as Miracle-Workers“. Adolf von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 95. Für ausführliche frühchristliche Literatur siehe James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, Kap. 5 (245-339); vgl. auch Adolf von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 129-170, wo sich die Missionspredigt in Wort und speziell in „Das Evangelium vom Heiland und von der Heilung“ und „Der Kampf gegen die Herrschaft der Dämonen“ gliedern. So auch Bernd Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter, 316-375, er pointiert Dämonenaustreibung und Krankenheilungen auf Befehl des auferstandenen Christus unter dem Titel „Frühchristliches Wundercharismatikertum in der Nachfolge Jesu“; Ferdinand Hahn, Das Verständnis der Mission im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn, 1963. Vgl. Bernd Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter, 348, er behauptet, „es geht also nicht um missionspropagandistische Wundertaten an außerhalb der Gemeinde stehenden Personen, sondern um innergemeindliche Krankenfürsorge.“ Aber James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 325f., ist dagegen, indem er an Irenaeus (Adv Haer II 32,4) erinnernd erklärt: „On the contraty, Irenaeus indicates that some believers became Christian and incorporate into the church after being exorcised by believers.“.
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den Biss einer Viper zum Ausdruck brachte.284 shmei/a folgen den Glaubenden nicht nur dann, wenn sie in Verkündigung und Mission wirken, sondern sind auch unter Umständen gültig, in denen sie Leid und Verfolgung ertragen müssen, was mit dem Gift von Skorpionen oder Schlangen vergleichbar ist. So wird das Autorvorhaben in der Formulierung qana,simo,n ti deutlich, da er allgemein-verständliche Wörter für Gift wie fa,rmakon oder ivo,j vermeidet.285 Im antiken griechischen Gebrauch heißt sowohl Schlangengift als auch anderes tierisches Gift ivo,j,286 es ist Gift von verschiedenen Schlangenarten und Skorpionen.287 Wenn ivo,j direkt nach „Schlangen anzufassen“ folgte, wäre es eine bloße Doppelung. Für das Wort fa,rmakon gibt es eine mögliche Begründung. Da fa,rmakon die Doppelbedeutung von Gift und Arznei hatte, wird die konkrete Bedeutung durch Beifügung eines entsprechenden Adjektivs bezeichnet.288 Und fa,rmakon wurde oft als eine Kunst der Giftmischung oder Zauberei verstanden, darum konnte es vom Autor nicht benutzt werden, da er ein Wort benötigte, das sich auf „tödlich“ bezieht.289 So kann gesagt werden, dass etwas Tödliches trinken (qana,simo,n ti pi,wsin) eine inhaltliche Dublette zum vorausgehenden Motiv der Schlange (o;feij avrou/sin) ist.290 Das kann einerseits den Triumph der Gemeinde über das Böse in Einklang mit Lk 10,19 bedeuten, wie häufig in den Kommentaren behauptet wird. Doch andererseits können die beiden Zeichen den Gläubigen, die wegen ihrer Missionstätigkeit mit der Bedrohung durch den Tod leben mussten, Trost und Mut geben, im Glauben die Umstände zu bewältigen. 284
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Tertullian, Scorpiace, 1: „nobis fides praesidium“. Anschließend sprich er von den Glaubenden, die besonders unter der heißen Zeit leidend durchhalten sollen: „et uno modo armantur et certo tempore subornantur nec alio quam ardoris“. Und schließlich bezeichnet er dies als Christenverfolgung: „Hoc apud Christianos persecutio est“. Den Text zitiert aus Quinti Septimi Florentis Tertulliani Opera Par I, in Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Vol 20, F. Tempsky u. G. Freytag, Prag u.a., 1890. James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 419, fragt auch: “The second exegetical question in Mark 16:18b concerns the meaning of drinking “anything deadly (qana,simo,n ti). Rather than using one of the more typical Greek words for „poison“ (for example, ivo,j, fa,rmakon, etc.).” Vgl. Alphones A. Barb, Art. Gift, RAC X, 1213. Vgl. Alphones A. Barb, Art. Gift, RAC X ,1214f. Vgl. Alphones A. Barb, Art. Gift, RAC X, 1212f. Auch fa,rmakon wurde in der Bedeutung von Zaubermittel verwendet, siehe die dortigen Angaben. So wurde es im NT im Allgemeinen als Zauberei verstanden, gelegentlich auch als Heilmittel gegen Gift (1232). Vgl. auch in Ignatius Eph 20,2, er bezeichnet das Abendmahl als fa,rmakon avqanasi,as. Vgl. Alphones A. Barb, Art. Gift, RAC, 1212. So benutzt auch Aristoteles, wenn er insbesondere etwa eine kleine Menge auf tödlich beziehen möchte, nicht fa,rmaka sondern qavvnathfo,ra. Ähnlich Walter Schmithals, Das Evangelium nach Markus, 745.
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Tatsächlich ist der benutzte Ausdruck „Schlangen anzufassen oder aufzuheben“ in der Bedeutung viel schwächer als die Formulierung in Lk 10,19, wo es heißt, „auf Schlangen und Skorpione zu treten“. Schließlich kann man deshalb sagen, dass sich die beiden hier als bekannt und als fremd kategorisierten shmei/a jeweils in ihrem Charakter unterscheiden. Nämlich die beiden relativ fremden Wunderzeichen wirken in einer Notsituation der Missionstätigkeit abwehrend, da lebensrettend291 anders als die anderen drei bekannten, die die Gläubigen in ihrer Missionssituation begleiten. b) Himmelfahrt Mit dem Satz meta. to. lalh/sai auvtoi/j beendet der Autor die Sendungsrede und schafft zugleich einen Übergang zum Himmelfahrtsbericht. Tatsächlich steht die einzige direkte Rede im ganzen LS am Ende, wo nur der Auferstandene spricht. Hier ist es bemerkenswert, dass der Autor bewusst den Auferstandenen, der gerade im Begriff ist, in den Himmel aufgenommen zu werden, ku,rioj nennt.292 Und er knüpft an den nächsten Bericht an, der erzählt, dass o` ku,rioj mit den von ihm ausgesendeten Jüngern zusammenwirkt (tou/ kuri,ou sunergou/ntoj, Mk 16,20). In den credo-ähnlichen Formulierungen des Märtyrers Justin, wo die Himmelfahrt Jesu oft erwähnt wird,293 können wir feststellen, dass die Himmelfahrt nun neben seiner Auferstehung in der Erscheinungserzählung im frühen Christentum als ein besonderer Typus gilt und einen eigenen Platz einnimmt. In diesem Zusammenhang kann behauptet werden, dass diese vom Autor des LS berichtete Passage auch auf diesen Prozess einging und stark vom lukanischen Konzept beeinflusst wurde. Das können wir aus der vom Autor des LS für Jesus verwendeten Titulatur entnehmen. Anders als Lukas, der für den Auferstandenen nur Pronomina in der Darstellung der Himmelfahrt wiederholend benutzt, verwendet der Autor des LS den Titel ku,rioj. Das zeigt, dass er die Erhöhung Jesu bereits rezipiert hat, wobei sich die Tatsache verrät, dass die sessio ad dexteram in seinem Bewusstsein schon fest verankert ist. In der Aussendungsrede des LS befindet sich der Himmelfahrtsbericht programmatisch in der Mitte, nämlich zwischen Ankündigung und Erfüllung. Wie 291
292 293
Vgl. James A. Kelhoffer, Miracle and Mission, 372f. Da es beim dortigen Beispiel um eine domestizierte Schlange geht, ist die Berichtsabsicht unpassend, denn es ist kein Wunderzeichen und hat auch nichts mit Todesangst zu tun. So Kelhoffer, a.a.O, 402, er erklärt zudem nicht, aus welchem Grund man Schlangen züchtet. Vgl. dazu Ferdinand Hahn, Kyrios als Hoheitstitel, 67-132. Für die Belege siehe Gerhard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu, 109-111; auch Arie W. Zwiep, Assumptus est in caelum, in Friedrich Avemarie u. Hermann Lichtenberger (Hg.), Auferstehung-Resurrection, 321-349, dort 326-328.
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in der lukanischen Erscheinungserzählung, wo die Himmelfahrt zwischen der Verheißung des Auferstandenen und ihrer Erfüllung steht, um so beide konsequenterweise zu verbinden, zeigt auch hier die Himmelfahrt, dass die Ankündigung des Auferstandenen nun durch seine Jünger tatsächlich verwirklicht werden wird. c) Missionstätigkeit der Jünger Entsprechend der Ankündigung des Auferstandenen in Mk 16,15 gehen nun die Jünger hinaus, um to. euvagge,lion zu verkündigen. Und shmei/a folgen ihnen, wie es der Auferstandene in Mk 16,17f. ihnen verheißen hat. Damit formuliert der Autor den endgültigen Schluss des LS einschließlich seines Markusprätextes. Schließlich endet die Geschichte Jesu nun entsprechend dem Lesererwartungshorizonts nicht mehr am Kreuz der Passion, sondern mit der Auferstehung sowie der Himmelfahrt in Herrlichkeit. Und auch die Jünger verharren nicht mehr länger in ihrem Scheitern oder Unglauben, sondern vielmehr verwirklichen sie in ihrer Missionstätigkeit, in der das Wort des Auferstandenen (to.n lo,gon) durch die Wunderzeichen bewiesen und erfüllt wird (bebaiou/ntoj dia. tw/n evpakolouqou,ntwn shmei,wn), ihre wahre Bestimmung. Sie sind nun nicht mehr vom Auferstandenen getrennt, sondern im Wirken mit ihrem erhöhten Herrn (tou/ kuri,ou sunergou/ntoj) eng verbunden.
D. Fazit Um den letzten zwölf Versen des kanonisch gewordenen zweiten Evangeliums, nämlich dem sogenannten Längeren Markusschluss (LS) näherzukommen, sind wir davon ausgegangen, dass es angesichts der Rezeptionsgeschichte spürbar ist, dass er eine Reaktion eines real-historischen Lesers ist, denn bei der markinischen Narrative ist diese Betrachtungsweise des Rezeptionsprozesses wegen ihres abrupten und unerwarteten Schlusses naheliegend. Somit dient der Markustext (Mk 16,1-8) selbstverständlich als primärer Prätext für den LS, weil ein Markusleser mit einer entsprechenden Erwartungshaltung von Markus stimuliert, als produktiver Leser tätig war. In diesem Sinne lässt sich der LS umgekehrt als Metatext von Markus verstehen. In der Rezeptionsgeographie des LS können wir vielfältige Rezeptionsphänomene beobachten. So wie sich eine Rezeptionsgeschichte darstellt, lässt sich ein Rezeptionsprozess endlos weiterführen, indem ein Leser als produktiver Leser einen Text rezipiert und weiterverarbeitet. So werden viele Darstellungen und Motive der synoptischen Rezeption bei den Apostolischen Vätern wahrge-
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nommen,294 und auch der Autor des LS hat nicht nur Texte aus den synoptischen Evangelien, sondern auch noch weitere Texte verwendet. Bei der Geographie der Rezeption beim LS ist auch die Tatsache zu berücksichtigen, dass man trotz möglicher mündlicher Überlieferung die einzelnen Darstellungen eher auf eine schriftliche Tradition beziehen muss, wie James A. Kelhoffer zutreffend bemerkt. Ablehnen muss man aber seine Behauptung, dass der Autor des LS im Rahmen der Imitation die frühen traditionellen Materialien wortwörtlich übernommen hat. Der Autor des LS präsentiert dem Leser seiner Art gemäß stark zusammenfassende Berichte, wobei der Leser mit Bekanntem und Fremdem konfrontiert wird. Durch seine Berichtstechnik erhöht der Autor einerseits die Authentizität, andererseits integriert er Informationen durch Querverweise und Vergleichslesen, um seine Intention zu verwirklichen. Damit zeigt er, wie er andere Prätexte gelesen hat und empfiehlt somit seinem Leser, sie ebenso mitzulesen, wenn beim Lesen Fragen aufkommen oder Erklärungen notwendig werden. So deuten Stichwörter als Verbindungselemente dem Leser schon den Prätext an, wo die Geschichte detaillierter geschildert zu finden ist. Folglich kann der Leser durch die vom Autor empfohlene Weise Lücken und fehlende Information auffüllen und ergänzen. Im Erscheinungsbericht begegnet der Leser Maria Magdalena als der Empfängerin der Protophanie. Der bewusst dargestellten Chronologie zufolge thematisiert der Autor des LS möglicherweise das Problem der Protophanie als Reflexion der damaligen Anschauung. In diesem Fall wird Petrus zum dritten Erscheinungsempfänger, unabhängig von seinem Rang im Glaubensbekenntnis. Somit kann man vielleicht vermuten, dass der Autor die Glaubensformel nicht chronologisch, sondern repräsentativ295 meint, wie in seinen Erscheinungsberichten die „Elf“ wegen ihres Unglaubens zuletzt repräsentativ getadelt wurden. Auch in der Sendungsrede stößt man auf Bekanntes und Fremdes. Der Darstellungstechnik des Autors zufolge werden unbekanntere Elemente wie „Schlange aufzunehmen ohne Verwundung“ sowie „unbeschadetem Genuß tödlichen Trankes“ neben Bekanntes zum Beispiel „Dämonenaustreibung“ und „Krankenheilung“ sowie „in neuen Zungen reden“ gestellt und unter dem Sammelbegriff „Wunderzeichen“ subsumiert. Auffällig an den unbekannten Zeichen ist, dass 294 295
Vgl. Helmut Köster, Synoptische Überlieferung bei den apostolischen Vätern, 108-110. In der formula (kai. o[ti w;fqh Khfa/|( ei=ta toi/j dw,deka, 1 Kor 15,5) erscheint Petrus zwar zuerst, danach die „Zwölf“. Paulus hat aber weniger stark chronologisch gegliedert. Und wenn die formula, die von der Erscheinung vor Petrus und „den Zwölf“ spricht, ursprünglich sein sollte, dürfte dort kai, statt ei=ta gestanden haben. Siehe Andreas Lindemann, Der Erste Korintherbrief, 329 und 332f.; vgl. auch Wofgang Schrage, Der Erste Brief an die Korinther, EKK VII/4, 52 und dort Anm. 179.
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sie ein Gefühl von Tod und Bedrohung hervorrufen, anders als die bekannten Zeichen, die auf den irdischen Jesus in der synoptischen Tradition verweisen. So kann man vermuten, dass die beiden unbekannten Zeichen die damalige Missionssituation reflektieren, wie schon Tertullian die Geschichte „ohne Verwundung Pauli beim Schlangenbiss“ der Apg in seinem Werk Scorpiace hinsichtlich der Christenverfolgung rezipierend interpretiert. In diesem Sinne lässt sich die Verheißung des Auferstandenen, die als Semeia den Glaubenden folgen, nun doppelt charakterisieren: die bekannten Zeichen sind die, die in Kontinuität zum irdischen Jesus stehen und von den Jüngern Jesu in der Missionssituation weitergeführt werden sollen. Bei den unbekannten geht es um die Verheißung, dass der Gläubige beispielsweise in einer Notsituation der Missionstätigkeit, wo er mit der Todesbedrohung konfrontiert wird, geschützt ist. Dadurch erlangt er Trost und Mut, um die Umstände bewältigen zu können. Beim LS sehen wir daher deutlich, dass die zwei Manifeste des Autors darauf abzielen, den Erwartungshorizont des Lesers zu erfüllen, indem er den Markusprätext ergänzt: der LS nimmt die dreimalige Verheißung der Auferstehung Jesu aus der textinternen Ebene auf und verwirklicht sie, indem er seinen Metatext, der vielfältige Erscheinungsberichte enthält, anfügt. Die Jünger sind nun nicht länger von Jesus getrennt, sondern bleiben mit ihm in der Evangeliumsverkündigung, in ihrer Taufpraxis und in den nachfolgenden Semeia dauerhaft vereint, weil der erhöhte Herr zugegen ist. Damit sind sie zugleich auch gerechtfertigt worden.
III. Rückblick und Ertrag Den damaligen und auch den heutigen Leser zwingt der Originalschluss von Markus zum Nachdenken, da scheinbar etwas fehlt, was besser ergänzt werden sollte, besonders wenn die anderen Evangelien gut bekannt sind, die Auferstehungs- bzw. Erscheinungserzählungen als Auflösung bieten, auch wenn Mk 16,8 der intendierte Originalschluss gewesen ist. Markus blieb in seiner Art des Erzählens konsequent, so dass es viele Nachfolger gab, welche eine Ergänzung der Geschichte Jesu unternahmen, indem sie seine Narrative rezipierten. Zwar konzipiert Markus eine doppelte Struktur, in der die Jüngerthematik in die Geschichte Jesu mündet, um den Leser besonders mit der letzten Szene zu überraschen, aber der Autor des LS als ein produktiver Leser meint, dass die markinische Narrative dem Erwartungshorizont nicht genügen kann. Markus scheitert gerade im Hinblick auf den Aspekt, um den er sich in seiner Narrative sehr bemüht hat: Jesus und seine Jünger.
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Obschon Markus bereits eine Analogie der Auferstehung bzw. Erscheinung Jesu in der Verklärungsgeschichte und in der letzten Auferstehungsankündigung der Passionsgeschichte implizit dargestellt hat, wobei beides auf der textinternen Ebene nicht explizit auftaucht, um seine Jüngerthematik am Ende der Narrative zu betonen, wünscht der Leser aber dagegen auf der textinternen Ebene eine Konkretisierung. Die Erscheinungsszene, in der die Jünger Jesus wieder begegnen, soll sie rehabilitieren. Vom markinischen Konzept wird der unerfüllte Wunsch des real-historischen Lesers stimuliert und in einen Rezeptionsprozess hineingezogen. Am LS ist auffallend, dass man die vielfältigen Rezeptionserscheinungen, die sich nicht nur auf die frühe Tradition, sondern auch auf die Situation der Entstehungszeit des LS beziehen, deutlich erkennen kann. Das Phänomen ist möglicherweise dadurch zu erklären, dass der Autor alles, was ihm an Informationen über die Auferstehung bzw. die Erscheinungen in schriftlicher Form zugänglich war, mit den vorhandenen Prätexten vergleichslesen konnte. Deshalb musste er kein neues Evangelium zu schreiben, um wie Matthäus oder Lukas die Auferstehung bzw. die Erscheinungen Jesu ausführlich zu schildern, weil ihm die Prätexte schon zur Verfügung standen. Daher exzerpiert er sie in Form von Verbindungselementen, welche darauf verweisen, wo etwas detailliert dargestellt ist und welche inhaltliche Zusammenhänge bestehen. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Unternehmung des Autors des LS nicht eigenständig, sondern eine von anderen Prätexten abhängige Rezeption ist. Somit ist der LS als Metatext zu verstehen, der trotz seiner Freiheiten ein abhängiges Element seines Prätextes bleibt. Doch ist beim LS bemerkenswert, dass die Semeia in der Sendungsrede sehr komplex wirken, da sie sich einerseits aus der Rezeption traditioneller Evangeliumswunder, und andererseits aus der reflektierten Rezeption der eigenen Gegenwart speisen. Deshalb sind die durch den Mund des Auferstandenen dargestellten Verheißungen von doppelter Bedeutung: es gibt ursprünglich vom irdischen Jesus stammende Semeia und neue, die die Jünger in ihrer Missionstätigkeit in Verfolgungsgefahren retten. Beide Zeichenarten sind nun durch die Sendungsrede des Auferstanden, die die Jünger rehabilitiert und wiederum aussendet, integriert und bestätigt worden. Dementsprechend erweisen sich die den Glaubenden nachfolgenden Wunderzeichen als überzeugender Beweis dafür, dass der erhöhte Herr mit ihnen in der Mission der ganzen Welt zusammenwirkt.Im Blick auf die Rezeptionsgeschichte ist der LS die produktive Rezeption eines historischen Lesers und gleichwohl eine negative Rezeption, weil der Autor schreibt, was Markus im eigentlichem Sinne nicht schreiben wollte.
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Zweiter Teil: Die Erscheinung Jesu in der dih,ghsij des Lukas I. dih,ghsij des Lukas A. Annäherung Bei Lukas1 ist die Erscheinung Jesu ein zentrales Thema, weil sie als Brücke die traditionelle Jesusüberlieferung mit der frühen Kirche verbindet. Daher können wir behaupten, dass sie, angesichts der Einheit und Kontinuität des lukanischen Doppelwerks,2 Endpunkt der Geschichte Jesu und Ausgangspunkt der Apostelgeschichte ist. So lässt sich die Überlegung und Bemühung von Lukas besonders im Schlusskapitel seines Evangeliums wahrnehmen, da er dort versucht die verschiedenen Erscheinungserzählungen, die wegen ihrer örtlichen und zeitlichen Differenzen3 schwer zu kombinieren sind, in eine komplexe Einheit zu integrieren. Dies kann man besonders an zahlreichen inhaltlichen Überlappungen des Schlusses mit dem ersten Kapitel der Apostelgeschichte beobachten.4 Hier ist 1
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In der Exegese wird der Name Lukas häufig sowohl für das Evangelium als auch dessen Verfasser benutzt. Hier ist aber nicht der historische Verfasser gemeint, sondern der implizite bzw. abstrakte Autor von Luke-Acts, der nur einen Bezug auf einen Aspekt des Adressatenbewusstseins bzw. impliziten Lesers (wie z.B.: Theophilus in Lk 1,3; Apg 1,1) besitzt. Zur weiteren Diskussion siehe den Abschnitt „Wer erzählt und wer liest die dih,ghsij?“, S. 92-96 dieser Arbeit. Vgl. Henry J. Cadbury, The making of Luke-Acts, 1968 (eigentlich 1927 in N.Y); Robert Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, Literary Interpretation: Volume I: The Gospel according to Luke, Philadelphia, 1986; Joel B. Green, The Gospel of Luke, NIC, 1997; zum letzten umfassenden Konsens über die Einheit und Kontinuität vgl. auch J. Verheyden (ed.), The Unity of Luke-Acts, BEThL 142, 1999; J. Verheynden, The Unity of Luke-Acts, in ders., a.a.O., 3-56. Vgl. Rudolf Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 314; Joachim Wanke, Die Emmauserzählung. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung zu Lk 24,13-35. Erfurter Theologische Studien 31, Leipzig, 1973. Vgl. Paul Schubert, The Structure and Significance of Luke 24, 165-186; Odette Mainville, De Jesus à l`Eglise: Etude redactionnelle de Luc 24, 193: „La lecture de Lc 24...dans le développement de l’ intrigue et sa fonction spécifique dans la mise en place des bases essentielles à la continuité théologique, éthique et missionnaire entre les deux liveres.” Vgl. auch die Aussage von Robert Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, 277f: „Luke 24 and Acts 1, which partly overlap, bridge the important transition from the story of Jesus to the story of his witness”; Joel B. Green, The Gospel of Luke, 832: „Luke24 and Acts 1 provide the transition in the Lukan narrative from the story of Jesus to the story of his witness.”
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erkennbar, dass die Erscheinungserzählungen als Verbindungselement eine bedeutende Rolle spielen, um beide Bücher zu vereinigen.5 Diese Feststellung erweitert unser Untersuchungsfeld. Daher müssen wir die Erscheinungserzählungen möglichst vielseitig untersuchen, um zu sehen, wie sie mit der Mikro- bzw. Makrostruktur der Narrative verknüpft sind. Zwar gehören sie einer Episode an und sind so von der Gesamtnarrative deutlich abgegrenzt, aber dennoch müssen sie auch als Teil des Ganzen betrachtet werden.6 Angesichts der Komplexität der Erscheinungsberichte, besonders der Emmauserzählung, urteilte bereits Rudolf Bultmann: 7 „Die ursprünglichen Osterereignisse sind also so gut wie ganz durch die Legende überdeckt worden.“ Nun müssen wir aber zunächst darauf aufmerksam machen, dass Lukas selbst im Proömium seines Doppelwerks (Lk 1,1-4)8 unübersehbar einen Hinweis auf sein Werk bietet. Er bezeichnet hier die Vorgängerunternehmen (polloi. evpecei,rhsan) als dih,ghsij. Zwar bezeichnet der Begriff keine bestimmte literarische Gattung,10 aber Lukas gibt uns damit doch eine Information über den Charakter und die Darstellungsweise seiner Schrift.11 Darum müssen wir dies besonders beachten, weil ein Autor durch seine Vorbemerkung nicht nur Form und Inhalt seines Erzählwerks exponiert, sondern so auch eine Leseanleitung gibt. Für uns weist deshalb schon die selbstgewählte Bezeichnung - quasi eine Gattungsspezifikation - auf die Gestaltung seiner Überlegung hin. In dieser Hinsicht ist für die Wahl der methodischen Ausrichtung die Fragestellung von Wolfgang Stegemann entscheidend. In seiner Studie „Zwischen 5
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Vgl. Paul Schubert, The Structure and Significance of Luke 24; Odette Mainville, De Jesus à l`Eglise: Etude redactionnelle de Luc 24; siehe auch Jürgen Becker, Die Auferstehung Jesu Christi nach dem Neuen Testament, 42f. u. 46f. Vgl. den Abschnitt „Erzählstruktur“, S. 8-11 dieser Arbeit sowie Cilliers Breytenbach, Das Markusevangelium als episodische Erzählung, 144, besonders Anm. 44; ferner vgl. auch Michael Titzmann, Strukturale Textanalyse, München, 1977. Rudolf Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 314; vgl. auch Hans Dieter Betz, Ursprung und Wesen christlichen Glaubens nach der Emmauslegende (Lk 24:1332), 35-49, besonders 36. Zur Einsicht, die das Proömium in Lk 1,1-4 als Einleitung des lukanischen Doppelwerks versteht, s. Günter Klein, Lukas 1,1-4 als theologisches Programm, 170-203; Richard J. Dillon, Previewing Luke’s Project from His Prolog, 205-227; Loveday Alexander, Luke’s Preface the Context of Greek Preaface-Writing, 48-74. Vgl. Lk 1,1. Vgl. Michael Wolter, Das Lukasevangelium, 61-62. Vgl. Erich Klostermann, Das Lukas Evangelium, 1; Hans Conzelmann/Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 338; Robert Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, 9-12; Joel B. Green, The Gospel of Luke, 1-6; auch Michael Wolter, Das Lukasevangelium, 61: „[E]r gibt damit schon hier Auskunft über den literarischen Charakter und den Inhalt seiner Schrift.“
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Synagoge und Obrigkeit“ hat er die Forderung aufgestellt, dass man methodisch entweder nach „der Welt des Erzählers Lukas“ oder nach „der von ihm erzählten Welt“ fragen soll.12 Ist die Welt des Erzählers Lukas Betrachtungsgegenstand, so bedeutet das, anhand der diachronen Methode, das Augenmerk auf sozialhistorische Gegebenheiten zu richten. Wird andererseits die von Lukas erzählte Welt als Untersuchungsgegenstand gewählt, heißt das, mit Hilfe der synchronen Methode, nämlich der literarischen Methodik aufzuzeigen, wie erzählt wird und was der eigentliche Erzählinhalt ist.13 Neben diesen alternativen Ansätzen gibt es noch einen dritten, welcher beide zu integrieren versucht,14 und diese Vorgehensweise wird auch hier für die Analyse der lukanischen Erscheinungserzählung benutzt. In der Untersuchung gehen wir deshalb vor allem von der ästhetischen Rezeption aus und berücksichtigen besonders, dass der Autor mit seinem Leser auf der textinternen Ebene kommuniziert. Dabei setzen wir voraus, dass die erzählte Welt auf der textinternen Ebene auch die reale Welt widerspiegelt, wobei man die zeitgenössischen Menschen lebendig erfährt und so durch „die von Lukas erzählte Welt“ die sozialen und historischen Normen seiner Umwelt rekonstruieren kann.15 Doch man muss gleichzeitig berücksichtigen, dass die erzählte Welt im Grunde genommen eine durch die Literarisierung des Erzählers reduzierte oder vergrößerte Welt ist, beispielsweise eine Miniature16 oder Karikatur. In der erzählten Welt kann ein „unwichtiger“ Sachverhalt ausgelassen werden, bzw. ein wichtiger besonders nachdrücklich und charakteristisch dargestellt werden. 12
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Vgl. Wolfgang Stegemann, Zwischen Synagoge und Obrigkeit: Zur historischen Situation der lukanischen Christen, FRLANT 152, 12. Zur seiner Fragestellung und Kritik siehe Andreas Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1984-1991, ThR 59, 252-284, hier 255; vgl. auch die methodische Frage von Günter Wasserberg, Aus Israels Mitte – Heil für die Welt, 31. Nach Wiederholung derselben Frage macht er sich auf den Weg nach „der von Lukas erzählten Welt.“ Vgl. Hans Conzelmann/Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 115126. Besonders die Diskussion um einen diachronisch bzw. synchronisch methodischen Ansatz innerhalb des Themas „ das Evangelium als Erzählung“; ferner vgl. auch Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie. Die Erzählanalyse fächert sich in zwei fundamental gegensätzliche Fragen auf: „Wie“ und „Was“ bzw. „Erzählen“ und „das Erzählte.“ Vgl. den Abschnitt „Ein neuer Versuch: Rezeptionstheorie“, S. 5-11 dieser Arbeit und auch Samuel Byrskog, Story as History - History as Story, WUNT 123, 2000. Zur Kritik an ihm siehe Andreas Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 19922000, 184-186. Vgl. Wolfgang Iser, Der implizite Leser, München, 8. Vgl. François Vouga, Die Parabeln Jesu und die Fabeln Äsops, WuD 26, 149-164, er wendet die „literarische Erzählminiature“ als Form an.
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Wir wissen nur das, was der Autor erzählt, mehr aber nicht. Und wir werden uns auf die „von Lukas erzählte Welt“ konzentrieren, unter Beachtung seines gattungsspezifischen Hinweises, nämlich dih,ghsij, so wie er es von uns erwartet.
B. Die dih,ghsij des Lukas als Weiterführung der bisherigen Erzählweise Der Charakter der lukanischen dih,ghsij lässt sich anschaulich an seinem berühmten Proömium, das es sonst in den Evangelien nicht gibt, exponieren. Anders gesagt, der Charakter der dih,ghsij, der sich im Proömium darstellt, resultiert möglicherweise aus der Unzufriedenheit mit der gerade neu entstandenen christlichen Literatur seiner Vorgänger. Daraus lässt sich folgern, dass das Neue in der lukanischen Unternehmung darin bestand, die christliche Literatur durch die Kategorisierung dih,ghsij weiterzuführen. Zugleich sollte auch die Kommunikation in der christlichen Überlieferung, die wegen der zeitlichen und örtlichen Distanz immer komplizierter wurde, zuverlässig kanalisiert werden. Im Proömium bündelt Lukas generalisiert die Unternehmen seiner Vorgänger unter dem in der hellenistischen Literatur gängigen Terminus dih,ghsij, und eben nicht wie euvaggei,on17 bei Markus. Bei ihm weiß man nicht genau, ob euvaggei,on den ganzen Inhalt seiner Jesusgeschichte bedeutet oder ob es nur die Jesusverkündigung meint, welche die Bedeutung einfach vom griechischen Wort ableitet. Hier bezeichnet also euvaggei,on weder ein Kennzeichen christlicher Literatur noch einen Begriff hellenistischer Literatur.18 So lässt sich angesichts seiner Ausdruckswahl vermuten, dass Lukas nicht nur die damalige Christengemeinde, sondern auch einen potentiellen hellenistischen Leserkreis vor Augen hatte. Darum beginnt seine dih,ghsij mit einem kunstvollen Proömium, was hellenistischer Sitte entspricht.19 In ihm ist aber auch seine Unzufriedenheit mit den Vorgängerwerken deutlich herauszulesen. Das kommt in erster Linie darin zum Ausdruck, dass er überhaupt ein Vorwort voranstellt, womit er verdeutlichen will, dass eine dih,ghsij einen solchen Anfang haben müsse. Schon darin zeigt sich ein Unterschied zu den Vorgängern. Es war aber dennoch nicht seine Absicht, ein völlig neues Genre christlicher Literatur zu schaffen, denn er 17
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Vgl. Mk 1,1. Bei Lukas ist es sehr auffällig, dass „euvaggei,on“ niemals vorkommt, obwohl er häufig „euvaggeli,zw“ verwendet. Vgl. Georg Strecker, Art., euvaggeli,zw und euvaggei,on, EWNT II, 173-176 u. 176-186. Zu euvaggei,on als Buchbezeichung oder literarische Gattung siehe oben S. 60 dieser Arbeit Anm. 207. und die dort erwähnte Literatur. Vgl. Hans Conzelmann/Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 345.
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beabsichtigte vielmehr eine Weiterführung, um die Überlieferung im Einklang mit der neu entstandenen frühchristlichen Literatur20 in Form und Inhalt zu ergänzen.
1. Kommunikation in der dih,ghsij Im Proömium macht Lukas deutlich, dass ein Autor durch eine dih,ghsij besser mit dem Leser kommunizieren kann. Dementsprechend begegnen wir an ihrem Anfang im Proömium sofort sowohl dem „Ich“ ( e;doxe kavmoi., Lk 1,3) als Selbstbezeichnung des Autors, als auch dem Leser „Theophilus“(Qeo,filoj, Lk 1,3). Damit soll möglicherweise die Rolle der dih,ghsij als Kommunikationsmittel betont werden, indem der Autor während des Erzählverlaufs mit seinem Leser ständig in Verbindung bleibt, um ihn richtig zu begleiten, damit Missverständnisse seiner Erzählabsicht vermieden werden.21 Das kann er ja vielleicht vom dramatischen und abrupten Ende der markinischen Erzählung gelernt haben, die die Auferstehung Jesu zwar andeutet, aber den Leser sich selbst überlässt, um den Sinn des Textes zu verstehen und zu interpretieren. Ein solcher Schluss könnte zu Leserirritationen führen. Folglich schildert Lukas, anders als Markus, am Ende seiner Narrative eine relativ lange und ausführliche Erscheinungserzählung, um Missverständnisse oder gar ein völliges Unverständnis des Lesers zu vermeiden. Denn diese Gefahr wird umso größer, wenn die Kommunikation nicht mehr mündlich, sondern schriftlich verläuft, weil die auf einem schriftlich fixierten Erzähltext basierende Kommunikation a priori einer zeitlichen und örtlichen Trennung unterliegt.22 Denn weil es der schriftlichen Kommunikations- im Gegensatz zur mündlichen Kommunikationssituation an Erwiderungsmöglichkeiten (Feedback) mangelt, die korrigierend eingreifen könnten,23 muss der Autor explizit oder implizit in seiner dih,ghsij auftreten, um den Kommunikationsmangel zu ersetzen. Nun ist die Leserrolle nicht mehr passiv und willkürlich, sondern aktiv und notwendig, weil er von Anfang an in den produktiven Prozess des Autors einbezogen wurde.24
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Richard J. Dillon, Previewing Luke’s Project from His Prolog (Luke 1:1-4), 205-227, hier 208. Unter dieser Perspektive informiert Lukas seinen Leser über den Ansatz seiner dih,ghsij im Proömium (Lk 1,1-4): e;doxe kavmoi. parhkolouqhko,ti a;nwqen pa/sin avkribw/j kaqexh/j soi gra,yai“ und „i[na evpignw/|j peri. w-n kathch,qhj lo,gwn th.n avsfa,leian. Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 36-39; vgl. auch Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 16-22. A.a.O. Vgl. Jane P. Tompkins (Ed.), Reader-Response Criticism. From Formalism to PostStructuralism, Baltimore, 21981; Wofgang Iser, Der Implizite Leser, 58-59.
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Dies Phänomen können wir im Proömium gut beobachten, wo Lukas sich selbst als erste Person Singular (e;doxe kavmoi) darstellt und seinen Leser einbezieht,25 indem er mit ihm einen Dialog anknüpft, um seine Erzählabsicht zu verdeutlichen. Auffällig ist aber, dass expliziter Autor und Leser nur in den beiden Proömien auftauchen, aber in der weiteren dih,ghsij unsichtbar werden, wodurch sie nur noch implizit fortleben. Zu fragen ist also, wie die Kommunikationspartner der dih,ghsij kommunizieren. Wie oben schon angedeutet, handelt es sich bei der lukanischen dih,ghsij um eine „Erzählkommunikation“,26 die sich durch den schriftlich fixierten Erzähltext ergibt, wobei die Funktion des Sprechers mit dem Autor und die des Hörers mit dem Leser belegt wird.27 Aus diesem Grunde tritt ein Autor, der eine reale und historische Person ist, als Erzähler eingebettet im Erzähltext auf, wie wir es in Lk 1,3 (e;doxe kavmoi.) beobachten können. Der im Erzähltext immanente Erzähler wird nunmehr als Sender ein Basiselement der Erzählkommunikation,28 um den Kommunikationseffekt zu steigern. Hingegen wird der Hörer, der jetzt ein konkreter Leser des Erzähltextes ist, zum Rezipienten.29 Er kann dies einerseits zur Zeit des Autors, andererseits aber auch zu späterer Zeit sein. Bezeichnen wir ihn als einen Adressaten, bedeutet das, dass er der intendierte Empfänger des Erzähltextes ist,30 wie wir in der Anrede im Proömium (Qeo,filoj in Lk 1,3; Apg 1,1) sehen können. Nunmehr können wir mittels der Erzähltheorie das Kommunikationsverhältnis zwischen dem Autor und seinem Leser genauer bestimmen,31 es ist nämlich nicht nur ein direktes, da es sich in insgesamt fünf Kommunikationsniveaus unterteilen lässt.
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Vgl. Lk 1,3: kavmoi…kra,tiste Qeo,file. Vgl. Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/ Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 39. Vgl. Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/ Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 37-43; Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 16-26. Vgl. Elisabeth Gülich, Ansätze zu einer kommunikationsorientierten Erzähltextanalyse, in Wolfgang Haubrich (Hg.), Erzählforschung Band1, 226-256. Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 40. A.a.O. Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/ Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 39-43. Die beiden Kommunikationsperspektiven von Autor und Leser hat Cordula Kahrmann je nach Betrachtungsweise treffend bezeichnet: „produktions- und rezeptionsorientierte Betrachtungsweise“.
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Zunächst zeigt das Schema32 deutlich, dass stufenweise viele verschiedene Kommunikationsniveaus in der durch den Erzähltext generierten Erzählkommunikation möglich sind. Auffällig ist natürlich, dass der direkte Zugang zwischen dem Autor und seinem Leser, außer im Kommunikationsniveau N1, unterbrochen ist. Die Kommunikation beider besteht indirekt durch den Erzähltext und unmittelbar aus zwei Verläufen, nämlich der „textexternen und textinternen Ebene“. Wie das Schema zeigt, erscheint der Kommunikationsverlauf mit dem Leser nicht explizit, weil es hier um den Umfang der Kommunikation geht, wie weit dehnt sich also das Autorbewusstsein im Kommunikationsniveau aus, das sich zugleich immer auf die Leserreflexion bezieht. D.h., bei der durch den Erzähltext hergestellten Erzählkommunikation kommunizieren Autor und Leser im textinternen Bereich aktiver. In dieser Weise lassen sich in der Erscheinungser-
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Vgl. Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/ Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 43-47; Hannelore Link, Rezeptionsforschung 25-29; vgl. auch Georg Fischer, Wege in die Bibel Leitfaden zur Auslegung, 106-110; Takashi Oniki, Sammelbericht als Kommunikation, 83-85; Mary Ann Tolbert, Sowing the Gospel, 90-98. Das von Kahrmann u.a. und Fischer angebotene Diagramm der Erzählkommunikation, das ursprünglich von W. Schmid stammt, berücksichtigt leider nicht den Rückkommunikationsverlauf, obwohl die duale Kommunikation zwischen Sender und Empfänger akzeptiert wird. Hingegen hat Link das Kommunikationsniveau auf vier Ebenen verkürzt. Bei ihr gibt es keinen Unterschied zwischen historischer und realer Ebene, womit für sie beide identisch sind.
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zählung im textinternen Bereich, in dem der Autor mit seinem Leser kommuniziert, Rückschlüsse ziehen. Im nächsten Abschnitt werde ich mit Blick auf das Kommunikationsniveau das Verhältnis zwischen Autor und Leser detaillierter diskutieren.
2. Wer erzählt und wer liest die dih,ghsij? Die Fragen „wer erzählt?“ und „wer liest?“ sind die grundlegenden Fragen der Textanalyse im Bezug auf Autor- und Leserschaft.33 Wie das obige Schema gezeigt hat, ist das Verhältnis zwischen Autor und Leser aber nicht ganz einfach. Dort erscheint das Verhältnis je nach dem Kommunikationsniveau symmetrisch. Von dieser Tatsache ausgehend, lässt sich die präzise Benutzung des Terminus für das Verhältnis zwischen Autor und Leser allgemein in Anspruch nehmen. Demnach werden wir bei der weiteren Untersuchung mit Hilfe der Erzählkommunikation, das symmetrische Verhältnis zwischen Autor und Leser, das besonders das lukanische Proömium des ersten Bandes prägt, untersuchen. a) Historischer Autor vs. Historischer Leser Die Vorstellung, dass ein historischer Autor und ein historischer Leser (N5) existieren, ist eine selbstverständliche Voraussetzung für die Erzählkommunikation. Wie wir eben im Schema sehen konnten, befindet sich das Konzept „historischer Autor und historischer Leser“ in seinem Außenbereich. Wollen wir Lukas, nach christlicher Tradition Autor des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte, beschreiben, so ist er von Geburt Grieche, genauer Makedonier, der landestypische Kleidung trägt und präzise Kenntnisse der Region, insbesondere über die römischen Institutionen besitzt, wie F. Bovon in seinem Kommentar annimmt.34 Jedoch ist die aus dem Erzähltext gewonnene Information über den historischen Autor Lukas, sekundär,35obwohl „seine im historischen Kontext 33
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Peter Müller/Heidrun Dierk/Anita Müller-Friese, Verstehen lernen. Eine Arbeitsbuch zur Hermeneutik, 34-37, hier 37: „Für den Verstehensprozess kann man sich in diesen Beziehungsfeld auf je ein Element konzentrieren und vor allem nach dem Autor, dem Text oder den Lesenden fragen.“ Oda Wischmeyer, Hermeneutik des Neues Testament, NET6, 2004, 53f: betont das klassische hermeneutische Dreieck von Verfasser, Situation und Adressat; Thomas Söding, Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neues Testament, 29: „Das gilt grundlegend für die Relation zwischen dem Autor und den Adressaten[...]“. Vgl. F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas (1,1 - 9,50), 22f.; vgl. auch Joshep Fitzmyer, The Gospel According to Luke (I-IX), 36f. Die christliche Tradition hat dem Verfasser des dritten Evangeliums und der Apostelgeschichte den Namen Lukas - sowohl als Verfasser- als auch Werksname - verliehen,
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situierte Bewusstseinslage Bedingung und Anlass für die Konzeption und Produktion des Erzählwerks ist.“36 Seinen historischen Leser, wenn wir Theophilus als historische Person verstehen möchten, können wir aber ebenfalls im Erzähltext nicht direkt kennen lernen, obwohl er im Proömium namentlich genannt wird. Vielmehr erweitert der Begriff „historischer Leser“ nach diesem Konzept die mögliche Leserschaft, denn unter diese Kategorie fallen sodann alle potentiellen Leser, die einschließlich Theophilus „heutige“ Leser sind. Hier ist es nicht relevant, ob Lukas und Theophilus makedonische oder jüdische Kleidung tragen, denn die Basisvoraussetzung für die weitere erzählkommunikative Entwicklung ist, dass beide nur eine historische Person sind, ohne dass sie mit der Verfasserschaft oder der Leserschaft des Erzählwerks zu tun haben. Im Bezug auf die Verfasser- bzw. Leserschaft erscheinen beide erst auf dem Platz „realer Autor und realer Leser“. b) Realer Autor vs. Realer Leser Unter der Kategorie „realer Autor und realer Leser“ ist der Autor bzw. Leser nun als Autor bzw. Leser im eigentlichen Sinne tätig. Erst jetzt spielt der Autor angesichts der „produktivorientierten Seite“ als Verfasser eine Rolle und auch der Leser spielt angesichts der „rezeptionsorientierten Seite“ ebenso seine Rolle. Nunmehr können wir Lukas als „realen Autor“ bezeichnen, der für seine Verfassertätigkeit die christliche Tradition gesammelt und redigiert hat. Das Proömium zeigt zuerst, dass er als realer Autor seine Vorgängerwerke rezeptiv gelesen hat. Darüber hinaus ist feststellbar, dass er zwar auch ein „rezeptiver Leser“ war, aber vor allem dürfte Lukas ein „produktiver Leser“37 gewesen sein, weil er nicht nur die Evangelien seiner Vorgänger gelesen, sondern auch eine Weiterführung christlicher Literatur versucht hat. Ein realer Leser nimmt durch den Lektüreakt Verbindung mit dem Autor auf. In diesem Sinne sei Theophilus ein realer Leser,38 der einfach erwartet, et-
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obwohl er sich nirgends im Werk findet. Aus diesem Grund scheint die Verbindung von Lukas mit seinem Doppelwerk sekundär zu sein. Dazu vgl. auch F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas (1,1-9,50), 22f.; Joshep Fitzmyer, The Gospel According to Luke (IIX), 36f. Vgl. Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/ Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse , 48f. Vgl. Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 86-88. Ein Leser fungiert hier im Bezug auf die Kontinuität der Rezeption gleichzeitig als Autor. Hier ist es nicht wichtig, ob Theophilus eine historisch-reale Person ist, weil er einer der potentiellen Leser ist, der abgesehen von der genauen zeitlichen und räumlichen Bestimmung immerhin irgendwo in der real-historischen Welt existieren kann.
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was lesen zu können. Die Kommunikation auf dieser Ebene (N4) besteht aber zusätzlich aus dem textexternen Bereich, in dem sich das Autorbewusstsein nicht wahrnehmen lässt. Daher gehört hier der Leser immer noch, einschließlich Theophilus, zum potentiellen, erweiterten Leserkreis im Rezeptionsprozess des lukanischen Doppelwerks.39 In diesem Bereich kann man die historische Ebene mit der realen Ebene integrieren, wie in dem von Hannelore Link vorgestellten Modell, „historisch-realer Autor bzw. Leser“40, weil in beiden Bereichen die Kommunikationsabsicht des Autors und die Reflexion des Lesers zwar nicht unmittelbar, aber indirekt kommunikativ sind. c) Impliziter Autor vs. Impliziter Leser Nunmehr wird die Kommunikation zwischen dem real-historischen Autor und dem real-historischen Leser durch den Erzähltext hergestellt. Da sich die Erzählkommunikation in diesem Niveau (N3) im textinternen Bereich vollzieht, lässt sich hier die Gesamtheit des Autorbewusstseins zum intendierten Leser, als „abstrakten Leser-Adressat“, durch die Funktion, Gestalt und Verwirklichung des Textes darstellen.41 In diesem Zusammenhang ist der implizite Leser nicht mehr ein potenziell erweiterter Leser,42 sondern der „abstrakte Leser-Adressat“. Somit ist die Frage nach der Identifikation des impliziten Autors und seines impliziten Lesers ein primäres Ziel der Erzählanalyse, obschon die bisherige Forschung darauf kaum aufmerksam gemacht hat.43 Wie das Wort „implizit“ andeutet, erscheinen weder Autor noch Leser auf diesem Kommunikationsniveau explizit im Erzähltext. Somit wissen wir wenig über die Kommunikation zwischen dem realen Autor und den realen Lesern, 39 40 41
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Wie zum Beispiel B. Dehandschutter, Readers of Luke in the second century the Valentinian Gnostics, in J. Verheyden (Ed.), Luke und his Readers, 49-60. Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 25. Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/ Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 51f. Die im Kommunikationsniveau N3 häufig auftauchenden Begriffe werden durch den folgenden Satz gut erklärt: „Der abstrakte Adressat ist das Korrelat zum abstrakten Autor und damit keine ausformulierte Figur des Textes, sondern implizite Projektion einer intendierten Rezeption des Gesamttextes.“ Vgl. Wolfgang Iser, Der implizite Leser, 8f: „Der implizite Leser meint den im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens und nicht eine Typologie möglicher Leser.“Siehe auch Gerald Prince, To the study of the narratee, in Jane P. Tompkins(ed.), Reader-Response Criticism. From Formalism to Post-Structuralism, John Hopkins University, Baltimore and London, 21981, 7-25. Hier 9: “ […] consequently the narratee of novel cannot be automatically identified with the reader[…]”. Vgl. Hannelore Link, Rezeptionsforschung , 40; vgl. auch Günther Wasserberg, Aus Israels Mitte-Heil für die Welt, 41f.
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aber die Kommunikation zwischen dem impliziten Autor und den impliziten Lesern können wir durch die ästhetische Rezeption vielseitig wahrnehmen. Jedoch ist es auffällig, dass in beiden lukanischen Proömien die Autorselbstbezeichnung „Ich“ und der Lesername „Theophilos“ explizit auftreten. Aber sie verschwinden sofort nach dem Vorwort und tauchen im weiteren Erzählverlauf niemals wieder auf.44 Daher sind beide, trotz ihres temporären Auftritts, als „impliziter Autor“ und „impliziter Leser“45 zu bezeichnen. d) Fiktiver Erzähler vs. Fiktiver Leser Ein „impliziter Autor“ und ein „impliziter Leser“ in Bezug auf die Gesamtheit des Autorbewusstseins befinden sich implizit auf der textinternen Ebene, während ein fiktiver Erzähler als erzählende Figur den impliziten Autor und Leser vertritt, die als erzählte Figuren in der erzählten Welt explizit auftreten. Zum Beispiel lassen sich das „Ich“ und „Theophilus“, wie sie im Proömium des lukanischen Doppelwerks als Erzählfiguren explizit genannt werden, möglicherweise als eine Form von „Fiktiver Erzähler“ und „Fiktiver Leser“ deuten. Dort erscheint besonders das Ich zwar als „Ich-Erzähler“, was aber im Erzähllauf „für die Funktion der Herstellung der erzählten Welt“46 keine Bedeutung mehr besitzt. Der lukanische Erzähler47 bleibt in der dargestellten Erzählwelt nur noch ein „Er-Erzähler“. Die Typologie des fiktiven Lesers in Analogie zur Typologie des Erzählers48 lässt sich ebenfalls nirgendwo beobachten. Somit wird deutlich, dass es im lukanischen Doppelwerk die Kommunikation zwischen „fiktivem Erzähler und fiktivem Leser“ (N2) nicht gibt. e) Erzählte sendende Figur vs. Erzählte empfangende Figur Die Kommunikation zwischen erzählten Figuren entsteht im unteren Erzählkommunikationsniveau (N1), dabei geht es um die Figurenkommunikation, in der, wie immer in einer realen Kommunikationssituation, die Sender- bzw. Empfängerrollen der Figuren nicht nur variabel, sondern sogar austauschbar
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Vgl. Lk 1,1-3 und auch Apg 1,1-2. Für das Kriterium und die Identifikation des impliziten lukanischen Leserkreises einschließlich der „Gottesfürchtigen“ siehe die Studie von Günther Wasserberg, Aus Israels Mitte-Heil für die Welt, 42-62. Cordula Kahrmann/Gunter Reiß/ Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse , 52f. Hier geht es um die Frage, „wer sieht und spricht.“ Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 68-107; vgl. auch Gérard Genette, Die Erzählung, 151-188. Hannelore Link, Rezeptionsforschung, 41.
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sind.49 In dieses Konzept gehört nicht nur die Figurenrede, in der die Erzählfiguren ihre Aussage explizit machen, sondern auch die Metakommunikation, wie zum Beispiel ein Blick, eine Geste, eine Gebärde oder Haltung. 50 Folglich kann man sagen, dass alle dargestellten Kommunikationsformen Elemente der erzählten Welt sind,51 die so das Geschehen vergegenwärtigen.
C. Fazit Angesichts seiner Vorgängerunternehmen bezeichnet Lukas nicht nur das eigene Erzählwerk, sondern auch das ihrige als dih,ghsij. Mit dieser Bezeichnung bewirkt er eine Innovation, eine Art Weiterführung in der frühchristlichen Literatur. Er schafft damit einen neuen Zugang durch eine Kommunikationsform, durch die sich ohne zeitliche und räumliche Trennung christliche Überlieferung vergegenwärtigen lässt. So gesehen handelt es sich bei der lukanischen dih,ghsij zunächst um einen schriftlich fixierten Erzähltext, durch den Lukas als Autor mit seinem intendierten Leser, nämlich seinem Adressaten Theophilus kommuniziert. Daher lässt sich die Annäherung an die von Lukas erzählte Welt auf die textinterne Ebene beschränken, auf der die ästhetische Rezeption stattfindet. Nach der Erzähltheorie, besonders als Kommunikationstheorie, ist die erzählte Welt eine erfahrene Welt, die in dem durch einen Erzähltext hergestellten Verhältnis zwischen Autor und Leser existiert. Das Verhältnis kann je nach Kommunikationskorrelation multidimensional gestreut sein. Demnach ist es auffällig, dass die lukanische dih,ghsij vom impliziten Autor Lukas erzählt, der den real-historischen Autor in der textinternen Ebene vertritt. Seine dih,ghsij zielt nicht auf unbestimmte potentielle Leser, sondern auf den intendierten Leser, nämlich den „abstrakten Adressaten“, der auf der textinternen Ebene implizit bleibt, um mit ihm kommunizieren zu können. Somit geht es hier um Rezeptionsästhetik. Im nächsten Abschnitt werden wir sehen, wie die Erscheinung Jesu im Licht der vieldimensionalen Bedeutung von Autor und Leser in der diegese dargestellt wird,52 nämlich im imaginär-freien kommunikativen Raum,53 in dem der implizite Autor seinem impliziten Leser begegnet 49 50 51 52
Cordula Kahrmann/ Gunter Reiß/ Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 45. Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Erzähltextanalyse, 14. Cordula Kahrmann/ Gunter Reiß/ Manfred Schluchter, Erzähltextanalyse, 45. Hier soll die diegesis, die Platon in seinem Dialog Der Staat (III, 393 f.) im Vergleich zur Mimesis erwähnt, vom Terminus diegese (diégèse) unterschieden werden. Der Begriff diegese ist ganz allgemein seit 1972 von Gérard Genette in die literaturwissenschaftliche Erzähltheorie als ‚das raumzeitliche Universum der Erzählung’ übernommen
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II. Die Erscheinungserzählungen Im Schlusskapitel des ersten Bandes seines Doppelwerks schildert Lukas dem Leser drei verschiedene Erscheinungsepisoden, nämlich die vor den zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus, wobei nebenbei auch die Erscheinung vor Simon exponiert wird, sowie die Erscheinung „vor den Elf und anderen“ in Jerusalem. Die Berichte unterscheiden sich zwar voneinander, sind aber dennoch eng verbunden. Auffällig ist dabei, dass die Rahmenerzählung, zum Beispiel die Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes als Erzählanfang und die Erzählung von der Himmelfahrt Jesu als Erzählende mit der Erscheinungserzählung unmittelbar verknüpft erscheint. In der Tat werden in der antiken Literatur häufig solche Beispiele beobachtet wie in der Erscheinungserzählung.54 Ebenso endet sie mit der Himmelfahrt des Auferweckten als Erzählende oder Auflösung.55 Daher ist es sinnvoll, die Erscheinungserzählungen angesichts ihrer erzählerischen Bezüge in Verbindung mit der Rahmenerzählung, nämlich mit der Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes und der Himmelfahrtserzählung zu analysieren. Um die Rezeption auf der textinternen Ebene möglichst vielseitig und genau zu untersuchen, ist es zunächst nötig, einerseits zu fragen, was der Erzähler erzählt und andererseits, auf welche Weise er erzählt. Oder: zu fragen ist nach dem Erzählten. Somit werden wir im Folgenden die implizite Erzählstruktur sowohl auf der Makroebene als auch auf der Mikroebene in der lukanischen dih,ghsij untersuchen.
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worden. Dagegen ist die diegesis bei Lukas sehr umfangreich und generell, sie umfasst nämlich sowohl das Erzählen als auch das Erzählte; vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 2-25, besonders Anm. 4, 23f. Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 17-19. Vgl. Georg Strecker, Art., Entrückung, RAC V, 467: „Mit der himmlischen Entrückung im uranischen Kult verbindet sich die Vorstellung vom leeren Grab bzw. das Fehlen einer Grabtradition.“ Vgl. auch F. R. Walton, Art. Entrückung, RGG3 II, 499f; Gerhard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu. Untersuchungen zu den Himmelfahrts- und Erhöhungstexten bei Lukas, 51-74. Georg Strecker, Entrückung, 470: „Dem Nebeneinander von himmlischer Entrückung und dem Nachweis des Grabes entspricht, dass auch uranische und chthonische Verehrung zusammengefasst werden konnten.“
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A. Die implizite Struktur der lukanischen dih,ghsij 1. Jerusalem als geographisches Grundkonzept der Makrostruktur a) Reisemotiv und geographisches Konzept Mit der Ansicht, dass eine geographische Vorstellung als Grundstruktur der lukanischen Narrative fungiert, stimmen nicht alle Studien überein.56 Grundlage der These ist der sogenannte lukanische „Reisebericht“57, der in der Forschung aber nach wie vor umstritten und folglich immer noch rätselhaft ist.58 Seine Problematik resultiert vor allem aus geographischen Ungenauigkeiten, Missverständnissen sowie Auslassungen.59 Im Reisebericht findet man keine kontinuierliche Bewegung von Ort zu Ort, und man weiß nicht einmal genau, wo der Bericht über Reise Jesu endet.60 Über die geographische Kenntnis Palästinas bei 56
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Vgl. Ernst Lohmeyer, (eigentlich Galiläa und Jerusalem in den Evangelien, FRLANT 34, Göttingen 1936), in Georg Braumann (Hg.), Das Lukas-Evangelium, WdF 280, 712; C. C. McCown, Geographie der Evangelien; Fiktion, Tatsache und Wahrheit (eigentlich Gospel Geography, JBL 60, 1941), in Georg Braumann (Hg.), a.a.O., 13-42; Hans Conzelmann, Zur Lukasanalyse, in G. Braumann (Hg.), a.a.O., 43-63; ders., Die Mitte der Zeit, BHTh 17, Tübingen, 61977; Wm. C. Robinson, Jr., The Way of The Lord, Basel (Dissertation), 1962; Robert Morgentaler, Die lukanische Geschichtsschreibung als Zeuge. Gestalt und Gehalt der Kunst des Lukas, Zürich, 1949; David P. Moessner, Lord of the Banquet. The literary and theological Significance of the lukan Travel Narrative, Harrisburg u.a., 1989; vgl. auch Hans Conzelmann/Andreas Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 339f; John S. Kloppenborig, City and Wasteland, 145-158, 145f. Im englischen Sprachraum nennt man diesen „Reisebericht“ häufig „central section“ (also Mittelteil oder Mittelabschnitt). Vgl. Heinrich Baarlink, Die zyklische Struktur von Lukas 9.43b-19.28, 481-506; Armin Daniel Baum, Lukas als Historiker der letzten Jesusreise, Wuppertal u. Zürich, 1993; Adelbert Denaux, The Delineation of the lukan travel narrative within the overall structure of the gospel of luke, in Camille Focant (Ed.), The synoptic gospel. Source criticism and the new literary criticism, BEThl 110, 357-392; Reinhard von Bendemann, Zwischen DOXA und STAUROS, BZNW 101, Berlin u. New York, 2001; siehe ferner auch Hans Klein, Das Lukasevangelium, KEK, 1. Auflage, 102006, 358-360, dort auch weitere Literatur (!). Beispielweise Lk 17,11(...dia. me,son Samarei,aj kai. Galilai,aj). Zur Problematik der lukanische Geographie s. C.C. McCown, Geographie der Evangelien, 28-34 und Robert Morgentaler, Die lukanische Geschichtsschreibung als Zeuge, 159-163 und auch 170f. Zentrum der Diskussion ist die Frage, wann und wo der Bericht über die Reise Jesu endet. Denn in der neutestamentlichen Wissenschaft stimmt man zwar darin, dass die Reise nach Jerusalem mit Lk 9,51 beginnt, aber für das Reiseende gibt es viele verschiedene Vorschläge. Siehe weiter Reinhard von Bendemann, Zwischen DOXA und
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Lukas gibt es extrem widersprüchliche Äußerungen: C. McCown notiert zur Lokalisierung der Antrittspredigt Jesu in Nazareth:61„Lukas 4,29 nennt einen „Felsabhang des Berges, auf dem ihre Stadt gebaut war. Das kann eigentlich nur jemand schreiben, der Nazareth niemals gesehen hat.“ Hingegen behauptet B. Pixner aus archäologischer Perspektive, dass Lukas die Geographie Palästinas gut kenne, weil er in der Einzugsszene Jesu in Jerusalem deutlich macht, dass man die Stadt vom Ölberg aus nicht sehen kann (Lk 19,41).62 Aber für uns ist es eigentlich unwichtig, ob Lukas gute geographische Kenntnisse besaß, denn vielmehr dienen ihm geographische Vorstellungen in seiner dih,ghsij als Darstellungsmittel seiner Erzählordnung. Im Hinblick auf den Effekt und die Rolle der Geographie bei Lukas urteilt C.C. McCown sehr deutlich:63 „Er benutzt sie [geographische Angaben], um den Effekt seines Berichts zu erhöhen und nicht, weil sie irgendeine konkrete Bedeutung für ihn hatten.“ Ähnlich ist die Auffassung von E. Lohmeyer, obwohl er zumindest Galiläa als Anfang und Jerusalem als Ende und Höhepunkt bewertet. Er erklärt: „Lk erzählt die Geschichte Jesu so, dass alle Gegenden Israels den Schauplatz der Wirksamkeit Jesu gleichmäßig bilden.“ 64 Dann stellt sich aber die Frage, ob es eventuell gar keine geographische Differenzierung bei Lukas gibt? Hat die Geographie für ihn also gar keine konkrete Bedeutung oder gibt es ein Kriterium für seine deutlich geschilderte geographische diegese? Dazu finden wir eine Antwort bei Hans Conzelmann. In seinem Buch „Die Mitte der Zeit“ hat er die geographische Orientierung bei Lukas so eingeordnet: „Die Lokalisierung des Täufers wird so merkwürdig schwebend. Lukas kann ihn weder mit Judäa noch mit Galiläa zusammenbringen. Denn das sind beides (!) Arbeitsgebiete Jesu.“ 65 Darauf fährt er fort: 66„Jetzt ist der Weg für die Geschichte Jesu frei.“ In diesem Satz können wir deutlich feststellen, dass er für die Periodisierung der Heilsgeschichte nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich einen konkreten Hintergrund benennen möchte, wobei er den lukanischen geo-
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STAUROS, 65-70, unter dem Titel „Das ungelöste Problem des Endes eines mit Lk 9,51 eröffneten ‚Reiseberichts“. C.C. McCown, Geographie der Evangelien, 13-42, hier 32. B. Pixner, Wege des Messias. Städte und Urkirche, 372-375. C. C. McCown, Geographie der Evangelien, 33. Ernst Lohmeyer, Galiläa und Jerusalem bei Lukas, 11; dementsprechend sieht Reinhard von Bendemann, Zwischen DOXA und STAUROS, 71f, auch, dass für Lukas Galiläa nicht das ‚Galiläa der Heiden‘ von Mt 4,15, sondern Teil des ganzen jüdischen Landes ist. So behauptet er auch, dass sich ein Samaria-Abschnitt‘ bzw. eine ‚Samaria-Reise‘ nicht rekonstruieren lasse. Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 15. Ebd.
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graphischen Topos bewertet. Indessen hat Wm. C. Robinson, der die Geschichte und Eschatologie des Lukasevangeliums in Auseinandersetzung mit Hans Conzelmann untersucht hat, das geographische Konzept des Lukas auch im Licht von Lk 23,5b (...kaqV o[lhj th/j VIoudai,aj( kai. avrxa,menoj avpo. th/j Galilai,aj e[wj w-de) bzw. Apg 10,37b gelesen, indem er drei Regionen unterscheidet (Judäa, Galiläa, und Jerusalem).67Wie bei Conzelmann, scheint auch für ihn „the geographical pattern“ immer einen geographischen Zusammenhang mit der Heilsgeschichte herzustellen.68 Deshalb ist der geographische Charakter für ihn progressiv, nämlich von Galiläa nach Jerusalem entsprechend dem Wirken Jesu.69 Schließlich zieht er zusammenfassend den Rückschluss, dass „the Way“ (o`do,j) ein wichtiges Motiv der lukanischen Theologie der Heilgeschichte bildet, indem er das geographische Konzept auf den sogenannten „lukanischen Reisebericht“70 bezieht.71 Der „lukanische Reisebericht“ spielt in der These von Robert Morgentaler eine wichtige Rolle. Er meint, dass bei Lukas die Geographie als Kompositionselement ganz im Vordergrund stehe.72 Anders als Hans Conzelmann und Wm. C. Robinson, die angesichts des Reiseberichts die Anfangsszene in Jerusalem ignoriert haben, hat er auf die Tempelszene in Jerusalem am Erzählanfang und Ende aufmerksam gemacht.73 Darüber hinaus behauptet er, dass Jerusalem im Zentrum der Topographie der lukanischen Narrative steht.74 In einer umsichtigen Vorgehensweise schildere Lukas nur eine einmalige Reise Jesu nach Jerusalem, obwohl er mehrere Reisen dorthin kenne, damit die zentrierte Topographie Jerusalems nicht geschmälert würde.75 Der Reisebericht ist für ihn somit das Verbindungselement, welches beide Jerusalemszenen verbindet.76 67 68 69 70
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Wm. C. Robinson, Jr., The Way of The Lord, 43-45. Hier meint e[wj w-de Jerusalem als Ziel. Wm. C. Robinson, Jr., The Way of The Lord, 45-61. A.a.O. Zur Diskussion über den „lukanischen Reisebericht“ in der letzten Zeit siehe W. Radl, Zu Umfang, Form und Funktion des Reiseberichts, in R. Bieringer/G. Van Belle/J. Verheyden (ed.), Luke and his Readers, FS A. Denaux, BEThL 182, 2005, 173-191. Wm. C. Robinson, The Way of The Lord, 61-69. Robert Morgentaler, Die lukanische Geschichtsschreibung als Zeuge, 159-163. Robert Morgentaler, Die lukanische Geschichtsschreibung als Zeuge, 163-168. Ebd. Robert Morgentaler, Die lukanische Geschichtsschreibung als Zeuge, 170f: „[...] mit dem Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner: in ihm zieht ja ein Mann von Jerusalem nach Jericho hinunter. So steht man im 10. Kapitel schon ganz unter dem Begriff „Jerusalem“, um sich 17,11 wiederum in Galiläa zu befinden. Es zeichnen sich hier vermutlich bereits mehrere Reisen Jesu nach Jerusalem ab.“ Robert Morgentaler, Die lukanische Geschichtsschreibung als Zeuge, 168f; vgl. auch W. Radl, Zu Umfang, Form und Funktion des Reiseberichts, 173-191.
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b) Jerusalem als geographisches Zentrum Tatsächlich ist Lukas der Evangelist, der die Stadt am häufigsten in seiner Erzählung erwähnt77 und damit sein Konzept exponiert. In Jerusalem, genauer im Tempel, beginnt und endet seine Geschichte, indem er eine kunstvolle RingKomposition bildet, wodurch seine Leser aus der Vogelperspektive78 die Stadt überblicken können (Vgl. Lk 1,9 und Lk 24, 53). Warum aber hat Jerusalem eine entscheidende Rolle? Bei Lukas ist Jerusalem einerseits der Ort der Auferstehung und der Erscheinungen, welche die Geschichte Jesu mit den Anfängen der Kirche verbindet, wie die literarische Kontinuität von Lk 24 und Apg 1 zeigt, und andererseits ist Jerusalem das kultische, religiöse und politische Zentrum Israels. In diesem Zusammenhang enthüllt er ganz bewusst seine geographische Vorstellung durch eine rückblickende Figurenrede: „Denn dies ist überhaupt nicht in einem Winkel geschehen (Apg 26,26)“79. Somit soll auch die Geschichte Jesu nicht abseits, sondern in der Mitte Israels (Jerusalem) wie in der Mitte der Welt (Rom) erzählt werden (Vgl. Apg 23,11). So erscheint Jerusalem topographisch zentriert. In der geographischen diegese verfolgt Lukas deshalb das Ziel, die Hauptbühne allmählich zu verlegen: von einem Winkel Galiläas oder Judäas nach Jerusalem, dem Zentrum jüdischer Religion und weiter nach Rom, der Hauptstadt des römischen Imperiums. Jesus, die Hauptfigur des ersten Buchs, wendet sein Angesicht nach Jerusalem, um dorthin zu marschieren (Lk 9,51), und auch Paulus, Hauptfigur des zweiten Buchs, predigt und lehrt mit aller Freimütigkeit über Jesus Christus in Rom (Apg 28,31). Das bedeutet, dass bei Lukas als roter Faden ein „Wegmotiv“ vorliegt, nämlich der „Weg“ (o`do,j) nach Jerusalem und Rom.80 Für uns empfiehlt es sich deshalb, uns nicht darauf zu konzentrieren, wo der, mit Lk 9,51 beginnende Reisebericht Jesu endet, ob in 19,1081 oder 19,2782 oder auch 19,40/41,83 sondern wo der Protagonist Jesus sein Ziel erreicht: Jerusalem! 77 78 79 80 81
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Vgl. L. Hartman, Art. ~Ieroso,luma bzw. VIerousalh,m, EWNT II, 432-439. Zur filmtechnischen Perspektive vgl. Reinhold Zwick, Montage im Markusevangelium. Studien zur narrativen Organisation der ältesten Jesuserzählung, SBB 18, 1989, 91-98. Vgl. Apg 26,26: ouv ga,r evstin evn gwni,a| pepragme,non tou/to. Vgl. Apg 21,11: w`j ga.r diemartu,rw ta. peri. evmou/ eivj VIerousalh,m( ou[tw se dei/ kai. eivj ~Rw,mhn marturh/sai. Vertreter dieser Position sind H. Marshall, E. Mayer, J. Roloff und G. Petzke. Zu ihrem Kriterium siehe Reinhard von Bendemann, Zwischen DOXA und STAUROS, 66 und dort Anm. 6. Dafür sind manche Neutestamentler. Siehe Reinhard von Bendemann, Zwischen DOXA und STAUROS, sein Kriterium, 66f. und dort Anm. 7. Vgl. Wm. C. Robinson, The Way of The Lord, 22f und Robert Morgentaler, Die lukanische Geschichtsschreibung als Zeuge, 170f.
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Obwohl sich Reichweite und Ausdehnung des Reiseberichts im Erzählten maximal bis Apg 2 ausdehnen lässt,84 beginnt und endet die lukanische Jesusgeschichte angesichts der Kontinuität und Einheit des Doppelwerks in Jerusalem. Nun können wir die geographische diegese, die Jerusalem als Zentrum des geographischen Topos versteht, so darstellen:85
2. Die Emmausepisode als Zentrum der Erscheinungserzählungen a) Abgrenzung der Rahmenerzählung in der Mikrostruktur Die lukanische Narrative erreicht ihren Höhepunkt mit Jesu Kreuzestod in der Passionsgeschichte. Mit dem tragischen Ende des Protagonisten wird eine Abstiegskurve eingeleitet. Die Passionsgeschichte endet still mit der Grablegungserzählung (Lk 23,50-56). Unübersehbar ist aber, dass das letzte Kapitel (Lk 24,1-53) des ersten Bandes des Doppelwerks durch seine sorgfältig ausgewählte Thematik akkurat strukturiert ist und so eine literarische Einheit und Geschlossenheit erreicht.86 Im letzten Kapitel geht es um die Auferstehung Jesu, die der Erzähler Lukas im Erzählverlauf schon angedeutet hat.87 Die Szene beginnt damit, dass die Frauen, die Jesus von Anfang an aus Galiläa folgten (vgl. Lk 23,49.55), am ersten Tag nach dem Sabbat (th/| mia/| tw/n sabba,twn) in der Dämmerung (o;rqrou baqe,wj) das Grab Jesu besuchen, was der Markus-Version folgt. 84
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Vgl. Reinhard von Bendemann, Zwischen DOXA und STAUROS, 69: „Insbesondere der Plural der Tage der‚ avna,lhmyij‘, in Lk 9,51 hat vereinzelten Lösungsvorschlägen Nahrung gegeben, die eine mit Lk 9,51 initiierte ‚Phase‘ noch über das 19. Kapitel hinausreichen lassen, bis hin zu einer maximalen Erstreckung bis Apg2.“ Vgl. hierzu auch die Überschrift und das Gesamtver-ständnis des Doppelwerks von Günter Wasser, Aus Israels Mitte – Heil für die Welt, BZNW 92, Berlin, 1998. Vgl. Paul Schubert, The Structure and Significance of Luke 24, in Walther Eltester (Hg.), Neutestamentliche Studien für Rudolf Bultmann, BZNW 21, 21957, 165-186; Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 26-47; Joshep A. Fitzmyer, The Gospel according to Luke (X-XXIV), 1532f. Vgl. Lk 9,22; 13,32; 18,31-34.
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Nach der traditionellen Perikopeneinteilung ist Lk 24,1 der Erzählanfang der Ostergeschichte. Aber darüber ist sich die Forschung nicht einig,88 obwohl der Erzähler Lukas durch sein literarisches Kolorit die Erzähleinheit exponieren möchte. Darum sieht Paul Schubert den Erzählanfang in seiner Studie über Struktur und Bedeutung von Lukas 24 zweifellos schon in Lk 23,55.89 Er begründet seine Ansicht mit der These, dass es unmöglich sei, mit der Auffindung des leeren Grabes einzusetzen, ohne zu erzählen, wo es sich befindet. Nach der Erzähllogik scheint seine Ansicht plausibel zu sein, denn sonst entstünde die Leserfrage, wo das Grab zu finden sei. Nach dieser Überlegung kann die Geschichte von der Auffindung des leeren Grabes nur so folgerichtig erzählt werden. Aber das gehört eigentlich nicht zu Lukas, da die Berücksichtigung einer glatten Erzählströmung auf Markus zurückgeht. Nach Auffassung von Karl Löning90 dehnt sich die Ostergeschichte bis zum Auftritt des Ratsherrn Josef von Arimathäa (23,50) aus.91 Mit Bezug auf Lk 24,1 als ungeeigneten Erzählanfang gibt er die Renominalisierung der Frauen als Begründung an (vgl. Lk 24,1; 23,55) und außerdem die anaphorische Wendung für die Salben (23,56a).92 Zudem verweist er darauf, dass die Sabbatruhe (23,56b) zu den Expositionselementen der Osterzählung gehört.93 Im Hinblick auf die 88
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Vgl. Paul Schubert, The Structure and Significance of Luke 24, 165-186; Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 26-47. Die beiden Neutestamentler bemerken zwar die literarische Einheit von Lk 24, aber sie schließen gleichzeitig die Grablegungsepisode (bei P. Schubert Lk 23,55-56; bei K. Löning Lk 23,50-56) an die Auffindung des leeren Grabes (Lk 24, 1-11) an. Hierzu vgl. auch Joseph A. Fitzmyer, The Gospel according to Luke (X-XXIV), 1532f, wo die Auffindung des leeren Grabes als erste Episode der fünfteiligen lukanischen Auferstehungserzählung (Lk 23,56b-24,12) angesehen wird; Anton Büchele, Der Tod Jesu im Lukasevangelium, 61: „Die Grablegungsgeschichte des Lk ist weniger auf die eigentliche Passion Jesu hingeordnet, als vielmehr auf die Erzählung vom leeren Grab des Ostermorgens (Lk 24, 1ff). Sie hat also vor allem schon verweisende Funktion!“. Paul Schubert, The Structure and Significance of Luke 24, 167: „Luke also beginns his ‘conclusion’ of gospel with the story of the empty tomb (23,55-24,11).“ Vgl. Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas. Er geht in seinem Kommentar von zwei wichtigen Voraussetzungen aus: erstens soll das lukanische Doppelwerk in seiner Ganzheit nur als Erzählung verstanden werden, zweitens gelten das Proömium (Lk 1,14) und vor allem die Ostergeschichte (Lk 23, 50-24, 52) als die Schlüsseltexte des Evangeliums. In diesem Zusammenhang kommentiert er zuallererst die Ostergeschichte. Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas 31, er zögert nicht zu behaupten: „Lk 24,1 ist kein erzählerischer Anfang“; an derselben Stelle fährt er aber so weiter: „Der erzählerische Anfang der lukanischen Ostergeschichten ist der Auftritt des Ratsherrn (bouleuth.j) Josef (23,50)“. Ebd. Ebd.
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Zweiter Teil: Die Erscheinung Jesu
Renominalisierung ist seine Argumentation aber nicht sehr überzeugend, weil die Frauen, die seit Lk 8,2f94 als wichtige Erzählfiguren dargestellt werden, auch schon in 23,49 auftreten. Sie bleiben in der Vorstellung des Erzählers, um anstatt der Jünger, die knapp vor dem Verhör Jesu aus der Erzählung verschwunden sind, am Grab Jesu zu erscheinen. Daher benutzt Lukas die Ortsangabe Galiläa (vgl. Lk 23,49 und 55), um die Verbindung mit den Frauen zu verdeutlichen, anders als Markus, wo nur durch die Namen (vgl. Mk15,40 und 16,1)95 Bezüge hergestellt werden können. Der Erzählanfang, ohne Nominalisierung bzw. ohne genügende Information in Lk 24,1 lässt sich auch mit dem lukanischen Erzählstil erklären, da er die Spannungsauflösung bis zuletzt aufschiebt, wie zum Beispiel in der Berufungsepisode Petri in Lk 5,1-11.96 Die Frauennamen nennt er deshalb ebenfalls erst am Erzählende. Im Falle der Salbung ist es ebenso. Sie ist eben nur der äußere Anlass für den Gang der Frauen zum Grab. Zwar bringen sie wohlriechendes Öl mit, aber für die weitere Szene hat es keine Bedeutung. Wir brauchen nicht zu verstehen, warum man zur Ehrung einen Toten balsamiert, denn es ist lediglich ein erzählerisches Requisit, um die Erzähllogik zu verstärken und zu begründen, warum die Frauen das Grab besuchen. Um den genauen Erzählanfang zu bestimmen, müssen wir deshalb nicht die Referenzanweisungen oder Requisiten berücksichtigen, die zur Entwicklung und Entfaltung der Erzählung nötig sind, sondern müssen die bewusste Erzählerintention und Erzählkohärenz der Erzählstrategie beachten. Bei den Weggesprächen der Jünger, auf dem Gang nach Emmaus, offenbart der Erzähler sein Verständnis der Geschichte Jesu durch die Figurenrede, metadiegetische Anwendung und Analepse bzw. Rückwendung,97 obwohl er als impliziter Autor immer hinter der Erzählung verborgen bleibt. Er rekapituliert für 94
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Hier ist der Ausdruck für die Konstellation der Frauen zu den Zwölf zu beachten: „kai. oi` dw,deka su.n auvtw/|( kai. gunai/ke,j“ (Lk 8,1f). Die Nichtübereinstimmung der Namenliste der Frauen lässt sich durch Beeinflussung zweier Traditionen erklären. Siehe Richard J. Dillon, From Eye-Witness to Minister of the Word, 3, besonders Anm. 7. Die Episode beginnt mit dem relativ unbekannten Namen Simon und den namenlosen Fischern. Dann fragt der Leser, wer er überhaupt ist. Die so spannend beginnende Episode ist später im Erzählvorgang aufgelöst, indem der Erzähler Lukas den Namen Simon zu Petrus verändert und die Namen der Fischer verrät. Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 32-39: Mit der Frage „In welcher Reihenfolge?“ beschäftigt man sich mit der Abfolge eines Geschehens in der Zeit und der Abfolge seiner Darstellung in den unterschiedlichen Erzählungsteilen; vgl. auch den Abschnitt „Analepse vs. Prolepse“, S.162-163 dieser Arbeit und die dort genannte Literatur.
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seine Leser explizit die Passions- und Ostergeschichte: „und wie ihn unsere Hohenpriester und Obersten zum Todesurteil ausgeliefert und ihn gekreuzigt haben“ (Lk 24,20);98 „Doch auch bei all dem ist es heute der dritte Tag, seitdem dies geschehen ist (Lk 24,21b)99 Aber auch einige Frauen von uns haben uns erschreckt, als sie am frühen Morgen zum Grab gekommen sind, [...]“ (Lk 24,22f).100 Aus dieser Figurenrede können wir offensichtlich entnehmen, wo die Ostergeschichte beginnt. Wie man schon in Lk 24, 21b bemerkt, hat Lukas durch die repetitive Wendung der scharfen Gegensatzpartikel, nämlich der Adjunktion avlla, (Lk 24,21b und 24, 22) den Kontrast drastisch ausgedrückt. Mit der Zeiterwähnung „tri,thn tau,thn h`me,ran“ macht der Erzähler darauf aufmerksam, dass die Auferstehungserzählung innerhalb einer bestimmten und definitiven Zeit spielt, 101 was eine Geschlossenheit und Kohärenz102 des Erzählens bewirkt, da sie so von den Ereignissen des letzten Tages separiert ist. Die Auferstehungserzählung erstreckt sich über das ganze Kapitel 24, und Lukas berichtet, dass sich ihre Ereignisse alle an einem Tag abgespielt haben. Nun wechselt die Erzählströmung von der Passionserzählung mit dem frühen Morgen zur Auferstehungserzählung. Deshalb müssen wir Lk 24,1 als den Erzählanfang der Ostergeschichte verstehen, wodurch sie deutlich von Lk 23,53 abgegrenzt ist. b) Die Emmausepisode als Integration der Erzähleinheiten Angesichts der Einheit und Kontinuität des lukanischen Doppelwerks ist die Bedeutung und Position des Schlusskapitels des ersten Buches, das die wichtigen Themen, wie die Auffindung des leeren Grabes, Auferstehung und Erscheinungen Jesu, sowie die Himmelfahrt Christi enthält, herausragend. So dienen die Themen auch als literarische Brücke, um Evangelium und Apostelgeschichte zu verbinden.103 Überdies fällt auf, dass sich die Emmausepisode durch ihre bunte 98
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Vgl. B. Joel Green, The Gospel of Luke, 838. Im Vergleich zu der Prophetie Jesu in Lk 9,22 (kai. avpodokimasqh/nai avpo. tw/n presbute,rwn kai. avrciere,wn kai. grammate,wn kai. avpoktanqh/nai ktl.) wird hier (kai. oi` avrcierei/j kai. oi` a;rcontej h`mw/n eivj kri,ma qana,tou kai. evstau,rwsan auvto,n) nach der lukanischen Erzählweise konkret geschildert. Zur lukanischen Erzählweise, die den Spannungsbogen erst spät auflöst siehe weiter Wilfried Eckey, Das Lukas Evangelium (11,1-24,53) 971, er meint, dass das Verb „kreuzigen (stauro,w)“ Leiden und Töten in Passionssummarien bezeichnet. avlla, ge kai. su.n pa/sin tou,toij tri,thn tau,thn h`me,ran a;gei avfV ou- tau/ta evge,neto. avlla. kai. gunai/ke,j tinej evx h`mw/n evxe,sthsan h`ma/j(geno,menai ovrqrinai. evpi. to. mnhmei/on ktl. Vgl. Lk 9,22; 13,32; 18,31-34; 24,7.21.46; und auch vgl. 24,13. 29.33. Vgl. 24,1.13.29.33.36. In der Apostelgeschichte sind die Auferstehung Jesu und seine Erscheinung als ihr Beweis, die immer auf das Ereignis in Lk 24,13-49 zurückgehen, die Mitte der Verkündi-
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Thematik, ihre Länge und literarische Vollkommenheit von den beiden anderen Erscheinungsepisoden stark abhebt. Die überwiegende Zahl der Ausleger ist der Überzeugung, dass die verschiedenen Motive, die auf vielfältige urchristliche Traditionen zurückgehen, ein einheitliches Ganzes bilden.104 Darüber hinaus spielt die Episode wegen ihrer zahlreichen Motive und Themen im ganzen 24. Kap. und auch in den weiteren Erscheinungserzählungen eine dominierende Rolle. In der Tat scheint die zweite Erscheinungsepisode, nämlich die Erscheinung vor Simon, bloß das Ende der Emmauserzählung darzustellen (vgl. Lk 24,3435), indem sie vom Erzähler, dem Erlebnis der zwei Apostel kontrastiert wird. Zudem ist es eine extradiegetische Erzählung, die eigentlich nur den Osterruf rekapituliert.105 Die dritte und letzte Erscheinungsepisode knüpft übergangslos an das Ende der zweiten an (vgl. Lk 24,36).106 Durch die Rede der Figuren, die mit dem noch unerkannten Wanderer Jesus, Gespräche in der Dialogszene der Emmauserzählung (vgl. Lk 24,19-24) führen, werden einerseits Ereignisse des Erzählverlaufs rekapituliert und andererseits weitergehende Anspielungen auf zukünftiges Geschehen (vgl. Lk 24,26b),107 gemacht. Weit zurückliegende Ereignisse fasst Lukas mit einer essentiellen Raffung kurz zusammen. Wenn sie weniger weit zurückliegen und deswegen mit
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gung und Apostelpredigt. Apostel bedeutet sogar nichts anderes als Augenzeuge zu sein, also den Auferstandenen gesehen zu haben. Aus diesem Grunde benötigt der Erzähler für Paulus, dem Protagonisten der zweiten Hälfte der Apostelgeschichte, der eben nicht zur Augenzeugengruppe der Erscheinung Jesu in Lk 24,13-49 gehört hat, eine persönliche Erscheinung Jesu. Somit ist in der lukanischen Narrative sein Apostelsamt auf Grund der Erscheinung Jesu vor ihm problemlos zu akzeptieren, obwohl er nicht mit dem Irdischen zusammen gewesen ist. Vgl. auch Paul Schubert, The Structure and Significance of Luke 24; Robert C. Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts, 277 Anm. 1; Odette Mainville, De Jésus à ľ Étude rédactionnelle de Luc 24, 192-211. Vgl. Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, in: Friedrich Avemarie u. Hermann Lichtenberger (Hg.), Auferstehung-Resurrection, 96-117; John Gillman, The Emmaus story in Luke-Acts revised, in J. Lambrecht (Hg.), Resurrection in the New Testament, BEThL 165, 165-188; Benoît Standaert, Raconter la résurrection, in J. Lambrecht (ed.), a.a.O., 73-91; vgl. auch Paul Schubert, The Structure and Significance of Luke 24, 165-186; J. Wanke, Die Emmauserzählung, 13-35; B. P. Robinson, The place of the Emmaus story in Luke-Acts, 481-497; Joseph Fitzmyer, The Gospel According to Luke The Gospel according to Luke (X-XXIV), 1533-1543. Vgl. Lk 24,34-35. Vgl. Rudolf Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition , 314. Vgl. Benoît Standaert, Raconter la résurrection, 73-91, hier 198; Arie W. Zwiep, The ascension of the Messiah in Lukan Christology, NTS Vol 87, 151f; Robert C. Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts, 284; Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 993; Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 189, besonders Anm. 2.
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der aktuellen Geschichte kontextuell direkt verbunden sind, resümiert er sie in einer relativ ausführlichen Raffung, indem er sie als perspektivische Darstellung ausmalt. Somit steht die Emmauserzählung als Angelpunkt im Zentrum. Mit dieser Darstellungsweise strukturiert Lukas ein literarisches Netzwerk, das mit dem gesamten Werk und dem Schlusskapitel des Evangeliums verwoben ist. Damit erschließt sich dem Leser implizit die Bedeutung und Zentrumsstellung der Emmauserzählung. Sie ist nicht nur mit der Makrostruktur oder GlobalNetwork,108 sondern auch mit dem Kapitel 24 als Mikrostruktur oder LokalNetwork109verflochten. Wenn wir uns hier auf die Mikrostruktur konzentrieren, durch die das Schlusskapitel mit der Emmauserzählung verbunden ist, können wir die Erzählkorrelation, d.h. wie der Erzähler die Erzähleinheiten durch Referenz, Rekapitulation und Ausdehnung verknüpft, im folgenden Schema wiedergeben:
Die Darstellung verdeutlicht, dass sich die Emmauserzählung als programmatische Verkörperung der Erzählstrategie in der Mitte von Kapitel 24 befindet, und dass sie rückblickend und vorausdeutend in bestimmter Intention und Stra-
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Für den globalen intertextuellen Konnex vgl. John Gillman, The Emmaus Story in LukeActs revised, in: Festschrift J. Lambrecht(Hg.), a.a.O., 165-188, er konzentriert sich auf „the intertextuality between the Emmaus story and other Lukan passges“. Hierzu schlägt er folgende Perikopen vor: die Speisung der Fünftausend und das letzte Mahl (Lk 9,1017; 22,14-20), der äthiopische Kämmerer (Apg 8,26-40), die Zuverlässigkeit gegenüber Theophilus im Vorwort (Lk 1,1-4), die Auflösung der Apg: Paulus in Rom(Apg 28,1731). Für den lokalen inneren Konnex vgl. Benoît Standaert, Raconter la résurrection, in: Festschrift J. Lambrecht(ed.), a.a.O., 73-91, hier 198.
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tegie mit anderen Erzähleinheiten110 des Schlusskapitels verwoben ist. Man kann auch feststellen, dass Lukas jede Erzähleinheit, die er als Erzählstoff verwendet um seine Erzählung zu entwickeln, sorgfältig ausgewählt und unterschiedlich behandelt hat. Wie das Schema zeigt, ist es auffällig, dass die Grabepisode von Petrus (Lk 24,12) als eine unabhängige Erzähleinheit erscheint, die zur Episode der Frauen am Grab (24,1-10) parallel verläuft.111 Wie wir unten sehen werden, handelt es sich bei beiden Grabepisoden um die Auffindung und Bestätigung des leeren Grabes. Auf diese Weise erhält auch die Erscheinung vor Simon bzw. Petrus112 einen eigenen Charakter, durch den sie sich von anderen unterscheidet.113 Nun können wir die implizite Erzählstruktur der Erscheinungserzählung rekonstruieren: die Graberzählung, die sich in zwei Untereinheiten gliedert, nämlich „die Frauen am Grab“ und „Petrus am Grab“, gilt als Erzähleingang der Erscheinungserzählungen, deren Erzählende die Himmelfahrt ist. Dazwischen liegt die Emmauserzählung, welche die zwei sich anschließenden Erscheinungserzählungen programmatisch einleitet. Mit dieser Erkenntnis analysieren wir im Folgenden die Erscheinung Jesu in der lukanischen dih,ghsij.
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Vgl. Gehard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu, Untersuchung zu der Himmelfahrt und Erhöhungstexten bei Lukas, 47-150, er beobachtet hinsichtlich der Himmelfahrt Jesu, dass sich die Auferstehungserzählung grob in drei kleinere Erzählungen gliedern lässt. Sie beginnt mit der Graberzählung (Lk 24,1-12), dann folgt die Emmauserzählung (Lk 24,13-35) und schließlich die Himmelfahrt Jesu (Lk 24,36-53), die sich inhaltlich wiederum in drei Abschnitte gliedern lässt: Erkennungsszene (Lk 24,36-43), Jüngerbelehrung (Lk 24,44-49) und Abschied (Lk 24,50-53). Hingegen findet Joseph Fitzmyer sogar fünf Episoden, The Gospel According to Luke (X-XXIV), 1536: Grabepisode (Lk 23,56b-24,12), Emmausepisode (Lk 24,13-35), Erscheinung vor den Elf und anderen in Jerusalem (Lk 24,36- 43), Auftrag (Lk 24,44-49) und Himmelfahrt (Lk 24,50-53); vgl. auch Odette Mainville, De Jesus à l`Eglise: Etude redactionnelle de Luc 24, 192-211, sie gliedert in sechs Erzähleinheiten (unité), indem sie „La démarche de Pierre au tombeau“ (Lk 24, 12) als Erzähleinheit separiert. Vgl. Odette Mainville, De Jesus à l`Eglise, 192-211, hier 197f; Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 35: „Die drei Handlungsschritte (laufen-sehen-staunend davon gehen) variieren lediglich die entsprechenden Handlungselemente der Auffindung des leeren Grabes durch die Frauen.“ Vgl. Lk 5,8; Lk 6,14; Lk 22,31-34. Siehe den Abschnitt „Episode zwei: die Erscheinung vor Simon“, S. 131-134 dieser Arbeit.
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B. Erzähltextanalyse 1. Die Ouvertüre der Erscheinungserzählung In der urchristlichen Literatur war es bahnbrechend, dass die von Markus geschaffene Geschichte Jesu nicht einfach mit der Grablegung, sondern mit der Auffindung des leeren Grabes endete.114Lukas, der die Bedeutung und Funktion des leeren Grabes wahrgenommen hat, geht jetzt noch einen Schritt weiter, indem er die Erscheinung Jesu anschließt. Daher scheint sich die Graberzählung an der Markus-Version zu orientieren, aber dennoch kann man viele Abweichungen bemerken. Lukas schaltet literarische Requisiten ein, um die Grab- mit der Erscheinungserzählung zu verknüpfen, weshalb die Grab- als Vorbereitung der Erscheinungserzählung gelten muss. a) Ab- und Angrenzung Bei der Graberzählung ist auffallend, dass sie durch das Stichwort „to. mnhmei/on“ von der folgenden Episode deutlich separiert wird. Was man Graberzählung nennt, wird durch das Wort „to. mnhmei/on“ als literarische Klammer115 am Anfang und Ende der Erzählung (Lk 24,1 und 24,12) eingerahmt. Somit gliedert sie sich grob in zwei Subepisoden: die Auffindung des leeren Grabes durch die Frauen (Lk 24,1-10) und Petrus am Grabe zur Bestätigung ihrer Aussage (Lk 24,11-12). Die mit dem ersten Tag nach dem Sabbat (th/| mia/| tw/n sabba,twn), in der Morgendämmerung (o;rqrou baqe,wj), beginnende erste Grabepisode endet mit Lk 24,10.116 Dort benennt der Erzähler die bislang namenlos gebliebenen Frauen (vgl. Lk 24, 1.2.3.4.5.8.9). Indem er die Identifikation der handelnden Personen bis zuletzt zurückhält, konstruiert er einen Spannungsbogen, was typisch für die lukanische Erzählweise ist.117 Er nimmt hier eine auffällige Innovation vor, da die Frauen, die bei Markus schweigen, (ouvdeni. ouvde.n, Mk 16,8), in seiner Erzäh114 115 116 117
Eine mit dem leeren Grab beginnende Auferweckungserzählung lässt sich auch in der antiken Literatur häufig beobachten. Siehe Anm. 56. Vgl. Rainer Dillmann u. César Mora Paz, Das Lukas-Evangelium, 416; B. Joel Green, The Gospel of Luke, 836. Zum textkritischen Problem siehe Joseph Fitzmyer, The Gospel according to Luke (XXXIV), 1546. Zur nachtragenden Erläuterung, Rekapitulation und Ausdehnung bei Lukas vgl. Hans Klein, Lukasstudien, 71f; für die Osterperikope vgl. besonders auch Richard. J. Dillon, From Eye-Witness to Ministers of the Word. Tradition and Composition in Luke 24, 5967 und 109-10; Joachim Wanke, Die Emmauserzählung, 79-81; Frans Neirynck, John and the Synoptics: Empty Tomb Stories, NTS 30, 161-187, hier 173.
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lung das Ereignis sofort mitteilen (tau/ta pa,nta toi/j e[ndeka kai. pa/sin toi/j loipoi/j),118 womit zugleich die erste Grabepisode endet. Bei der Grabepisode des Petrus, am Ende der Graberzählung, wird oft textkritisch gefragt,119 inwieweit sie ursprünglich sei. Doch Kohärenz und Immanenz des Textes zeigen, dass die Episode wohl ursprünglich sein dürfte: in erster Linie geht es hier um das Geschehen, das im Kontext mit „to. mnhmei/on“ beschrieben wird. Dementsprechend spielt die Ortsangabe „evpi. to. mnh/ma“ in der Rahmenerzählung der Graberzählung eine wichtige Rolle, wie beispielsweise Lk 24,1.2.9 und 12 zeigen. Durch das Stichwort „to. mnhmei/on“ gewinnt die Graberzählung literarische Kohärenz und gestaltet zugleich eine Inklusio. Die Darstellung der Handlungsschritte des Petrus (avnasta.j, qauma,zwn, to. gegono,j) gilt ebenso als lukanische Erzählweise wie die Auffindung des leeren Grabes durch die Frauen.120 Die Petrusepisode bestätigt der Erzähler nochmals ganz bewusst durch die Figurenrede der Emmausepisode (Lk 24,24). Daraus können wir entnehmen, dass sie mit der gesamten Graberzählung glatt harmoniert und nicht isoliert existiert haben kann. Schließlich enden beide Grabepisoden mit einem Zweifel, womit sie auf das Markusende anspielen und die Erscheinungserzählung vorbereiten. b) Die Frauen am Grab: Lk 24,1-10a Lukas, der sich am Anfang seiner Narrative durch ein Vorwort um eine Differenz zu Markus bemühte, führt nun in der Auferstehungserzählung, der Klimax seiner Narrative, eine grundsätzliche Innovation ein. Der Leser wird abrupt mit der Erscheinung von zwei Männern (a;ndrej du,o) konfrontiert, weil er die 118 119
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Vgl. Lk 24,9. Vgl. Walter Radl, Das Lukas-Evangelium, 14f.; und Anton Dauer, Beobachtung zur literarischen Arbeitstechnik des Lukas, 9-12. Der Vers Lk 24,12 dient als Ausgangspunkt seiner Argumentation. Zur Kritik an ihm siehe Andreas Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1984-1991, ThR 59, 252-284, hier 257. Vgl. Walter Radl, Das Lukas-Evangelium, 14f., „Lukanismen“; Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 35; vgl. auch Joachim Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, 143: „Lk. 24,12 weist lukanischen Sprachgebrauch auf: wie avnasta.j. [...] gehört qauma,zein zu den von Lukas bevorzugten Worten [...] Lk. 24,12 ist ur-sprünglicher Lukastext.“ Nach der Erzähllogik sind die zwei Männer Engelsmetaphern. Auch bei Markus ist der neani,skoj nichts anders als ein Engel. Vgl. auch die explizite Wortverwendung in Lk 24,4 (a;ndrej du,o) und 24,23 (a;ggeloj). In Lk 24,4 handelt es sich deshalb nicht um Menschen, sondern um göttliche Wesen; siehe auch Richard. J. Dillon, From EyeWitness to Ministers of the Word, 22-26, er versteht a;ndrej du,o in Analogie zu den beiden himmlischen Gestalten der Verklärungsepisode, in der Jesu Wesen offenbart wird.
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wunderbare Graböffnung bei Markus nicht in seinen Erzähltext übernimmt,122 was die Engelsbotschaft abermals akzentuiert. In der Tat steht die Botschaft im Zentrum der ersten Graberzählung, wodurch die Erzählerintention erhellt wird: durch das Stichwort mnhsqh/nai das die Engelsbotschaft einrahmt, während das Verschwinden von sw/ma tou/ kuri,ou VIhsou/ bzw. die Tatsache, dass das Grab leer ist, relativiert wird.123 Entsprechend der Erzählorientierung zum Erzählanfang wird hier über die Zeit (th/| de. mia/| tw/n sabba,twn o;rqrou baqe,wj), den Ort (evpi. to. mnh/ma) sowie handelnde Personen (vgl. 23,55; ferner 23,49; 24,1) informiert.124 Dann geht die Erzählströmung zur monologischen Engelsszene über. In Lk 24,5b (ti, zhtei/te to.n zw/nta meta. tw/n nekrw/n) geht es deutlich um eine rhetorische Frage, die in der Engelsrede gestellt wird. Der implizite Autor stellt so seinen impliziten Lesern eine Frage, indem er das Schweigen bricht, um die Aufmerksamkeit auf die folgende Erzählung zu lenken. Bei Markus erscheint eine ähnliche rhetorische Frage. Aber Lukas will hier, im Gegensatz zu diesem, der mit dem Aorist Passiv „hvge,rqh“ (Mk 16,6) die Auferstehung Jesu als historisch und göttliche Handlung 122
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Zwar setzt auch bei Lukas das Felsengrab eigentlich eine wunderbare Öffnung voraus (vgl. Lk 23,53 und 24,2), aber er übergeht es, damit die Bedeutung der Botschaft nicht geschmälert wird. Möglicherweise nimmt er auch an, dass seine Leser die wunderbare Öffnung bei Markus gut kennen und so seine Leerstelle ausfüllen. Anders B. Joel Green, The Gospel of Luke, 837 und Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 970. Beide Exegeten meinen, dass es hier um das Kontrastpaar „eu-ron “ und „ouvc eu-ron “ geht. So meint B. Joel Green, The Gospel of Luke, 837: „for he wants to move quickly to the pivotal discovery of an empty tomb.“ Vgl. Paul Schubert, 334f; Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas (11-24), 493; Richard. J. Dillon, From Eye-Witness to Ministers of the Word, 31f, er setzt im Vergleich zu Mk auf den Übergang vom leeren Grab zur Auferstehungstatsache einen Akzent: „Their common impulse to correct Mk is understandable since that phrase[ouvk e;stin w-de] following after hvge,rqh (Mk) would strike anyone as banal, whereas ouvk e;stin w-de in prior position furnishes the smoother progress of thought a minori as maius, from the marvelous to the unsuspected. Mk’s sentence proceeds from the marvelous to the obvious, hence speaks the kind of flawed rhetoric that Mt and Lk would both be moved to correct, each with his own new wording.” Dazu vgl. auch die Interpretationskorrelation zwischen ouvk e;stin w-de und hvge,rqh in Mk 16,6 Andreas Lindemann, Die Osterbotschaft des Markus, 305f: „Die Tendenz ist also nicht: Das Grab ist leer, also ist Jesus auferstanden; sondern sie ist gerade entgegengesetzt: Jesus ist auf erweckt er ist nicht hier - das Grab ist leer.“ Weiterhin: „Der Hinweis auf das leere Grab tritt zum Bekenntnis hinzu, setzt es also voraus, und ist nicht dessen Grundlage“; vgl. auch ders., Jesus als Christus bei Paulus und Lukas, 429-461, hier 446-447. Dementsprechend wird die Handlung der Frauen in der ersten Grabepisode als Erzählsituationsorientierung der Rahmenerzählung passiv dargestellt.
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darstellen möchte, auf eine Gegenwärtigkeit der Auferstehung aufmerksam machen, indem er das Partizip Präsens Aktiv „to.n zw/nta“ verwendet. Der programmatische Wortlaut deutet schon die nächste Szene an, nämlich die Erscheinung Jesu als Lebender und eine weitere dynamische Entwicklung.125 Denn die Verwendung des Aorists kann das weitere Geschehen kaum spüren lassen, weil so lediglich die Tatsache akzentuiert wird, dass Jesus wirklich auferstanden ist. Die mit der kommunikativen Frage eingeleitete Monologszene schließt sich nunmehr an die Verkündigung an, die vom Stichwort mnhsqh/nai gerahmt wird. In diesem Echo der Erinnerung konzentriert der Erzähler den Kern seiner Botschaft von to.n ui`o.n tou/ avnqrw,pou o[ti dei/ paradoqh/nai eivj cei/raj avnqrw,pwn a`martwlw/n kai. staurwqh/nai kai. th/| tri,th| h`me,ra| avnasth/nai.126 Auffallend in der Monologszene der Engel ist aber, dass die Frauen die Botschaft, die doch mit der Leidensankündigung Jesu harmoniert, nicht mit ihrer Erinnerung verknüpfen können, weil sie nicht dabei gewesen sind, als Jesus die quasi heimliche Leidensankündigung ausgesprochen hat.127 Der Erzähler zeigt so aber seine Kommunikationsabsicht, indem er schon am Szenenanfang die kommunikative Frage stellt. Daraus lässt sich schließen, dass der Autor mit dem Imperativ mnh,sqhte nicht eigentlich die Frauen, sondern den Leser auffordert, sich der Kernbotschaft seiner dih,ghsij zu erinnern. Auffällig ist auch, dass bei Lukas im weiteren Erzählprozess nicht mehr Galiläa der Ort ist, wo der Auferstandene erscheint, sondern Jerusalem. So verlagert er bewusst den Schwerpunkt von Galiläa nach Jerusalem. Durch diesen Wechsel deutet jedoch Lukas, der möglicherweise schon bei Mk 16,7 avlla. u`pa,gete ei;pate toi/j maqhtai/j auvtou/ kai. tw/| Pe,trw|… die Einsicht gewonnen hat, dass er für seine Inszenierung zwei Szenen, nämlich die Reaktion der Jünger und die Sonderstellung des Petrus benötigt, die Grabepisode des Petrus an. 125
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Vgl. Odette Mainville, De Jesus à l` Eglise, 195: „Mais le récit comporte une création lucanienne très importante, l’ expression clé: le Vivant. Expression reintroduite, … dans le récit d’Emmaus (v 23),…qui reprend les éléments essentiels du récit du tombeau(comme nous le verrons plus loin, vv 22-4)…en ouverture du second livre, dans une phrase récapitultive. `C’est aussi à eux qu’il s’est présenté vivant après avoir souffert’ (Ac 1.3).” Diese Verkündigung, die mit der dreimaligen Leidensankündigung harmoniert, wird im Bezug auf den Gotteswillen (dei/) im weiteren Erzählverlauf noch zweimal erzählt. Vgl. Lk 24,26 (ouvci. tau/ta e;dei paqei/n to.n cristo.n kai. eivselqei/n eivj th.n do,xan auvtou/È); Lk 24,44 (…o[ti dei/ plhrwqh/nai pa,nta ta. gegramme,na evn tw/| no,mw| Mwu?se,wj kai. toi/j profh,taij kai. yalmoi/j peri. evmou/). Siehe auch Richard. J. Dillon, From Eye-Witness to Ministers of the Word, 24 und auch Anm.72. Vgl. die Erzählsituationsorientierung der Leidensverkündigung in Lk 9,18 und 18,31 evge,neto evn tw/| ei=nai auvto.n proseuco,menon kata. mo,naj sunh/san auvtw/| oi` maqhtai, ktl und Paralabw.n de. tou.j dw,deka ei=pen pro.j auvtou,j ktl.
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Anders als in der verstörenden Wendung bei Markus informieren die Frauen bei Lukas sofort die „Elf“ (toi/j e[ndeka) und die „übrigen“ (pa/sin toi/j loipoi/j). Der Leser, der Markus bereits kennt, wartet nun interessiert auf die weitere Geschichte, weil bei Markus die Frauen, vom Engel beauftragt, den Jünger (toi/j maqhtai/j) und Petrus (tw/| Pe,trw|) alles mitzuteilen, ihren Auftrag missachten. Schließlich endet die Episode der Auffindung des leeren Grabes, die am ersten Tag nach Sabbat (th/| mia/| tw/n sabba,twn) mit noch namenlosen Frauen beginnt, damit, dass Lukas gemäß seiner Erzähltechnik die Spannung auflöst, indem er die Frauennamen nennt (h=san de).128 c) Die Grabepisode des Petrus : Lk 24,10b-12 Die mit der Mitteilung der Frauen an die Apostel in Lk 24,10b (e;legon pro.j tou.j avposto,louj tau/ta) beginnende Episode stellt zwei Reflexionen in einer durchgehenden Erzählströmung dar. Und genau genommen ist die Reflexion der Apostel und Petri nicht wesentlich voneinander unterschieden.129 Aber in Lk 24,12, wo Lukas für den weiteren Erzählzusammenhang mit der Erscheinungserzählung eine wichtige Erzählstrategie verfolgt, handelt es sich freilich um die Authentizität des Textes, 130 wie oben schon angedeutet. Jedoch wies die Textimmanenz unmittelbar darauf hin, dass Lk 24,12 den Text von 24,22f voraussetzt und sich darauf bezieht. Dies wird von Frans Neirynck in Anlehnung an Richard J. Dillon als „Lucan technique of cross reference“ mit Recht erwähnt.131 Es ist aber auch die Numerusänderung des Subjekts zu beachten: in Lk 24,12 steht Petrus allein bzw. der Singular, aber in Lk 24,22ff erscheint der Plural. Zum Numerus behauptet Joachim Jeremias, dass es sich bloß um einen
128
129 130
131
Vgl. Lk 24,10a: h=san de. h` Magdalhnh. Mari,a kai. VIwa,nna kai. Mari,a h` VIakw,bou kai. ai` loipai. su.n auvtai/j. Hier vergrößert sich auch gemäß der lukanischen Spannungstechnik die Anzahl der Frauen, die am Grab waren. Anders Hans Klein, Lukasstudien, 72, er meint, dass die Namenliste sekundär ist. Vgl. Lk 24,11 (kai. evfa,nhsan evnw,pion auvtw/n w`sei. lh/roj ta. r`h,mata tau/ta kai. hvpi,stoun auvtai/j) und Lk 24,12b(kai. avph/lqen pro.j e`auto.n qauma,zwn to. gegono,j). Vgl. Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 966; Anton Dauer, Beobachtung zur literarischen Arbeitstechnik des Lukas, 9; Walter Radl, Das Lukas-Evangelium, 14f: Das Bekanntwerden des Papyrus 75 hat die Forschungssituation verändert, „der etwa isoliert stehende V.12 ist lange Zeit als eine sekundäre Kurzfassung von Joh 20,3-10 betrachtet worden.“ Aus dieser Tatsache kann man zwar die gemeinsame Traditionsgeschichte entnehmen, aber man darf nicht behaupten, gerade deswegen sei der Text sekundär. Ferner Robert Morgenthaler, Lukas und Quintillian. Rhetorik als Erzählkunst, 305f. Vgl. Frans Neirynck, John and the Synoptices: Empty Tomb Stories, NTS 30, 161-187, hier 173; vgl. auch Richard. J. Dillon, From Eye-Witness to Ministers of the Word, 65.
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rhetorischen Plural handelt.132 Aber das könnte man auch durch seine Erzählweise erklären, da Lukas im Nachhinein häufig ergänzt und entdeckt, was er vorher noch nicht oder kaum erwähnt hat. Durch Rekapitulation und Erweiterung erhält er die Spannung, indem er neue Räume in seiner Erzählwelt eröffnet. Wichtig ist aber, dass der Erzähler Petrus ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen möchte, abgesehen davon wer noch mit ihm zur apostolischen Bestätigung zum Grab gegangen sein mag.133 Sicherlich geht es in dieser Szene darum, dass Petrus in Analogie zu Mk 16,7134 wieder auf der Bühne erscheint, die er in der Passionsgeschichte (vgl. Lk 22,62) weinend verlassen hat. Nun beginnt Lukas mit seiner Rehabilitierung.135 Darum kontrastiert der Erzähler seine Handlung mit dem Verhalten der anderen Apostel und stellt seine Überlegenheit und Repräsentanz ausdrücklich dar. In diesem Sinne kann man sagen, dass der Erzähler die wichtige Rolle des Petrus, sowohl für die Erscheinungserzählung als auch die Apostelgeschichte, vorbereitet.136 Darum dient auch Petrus als Verbindungselement des lukanischen Doppelwerks. Vergleichbar ist die Handlung des Petrus freilich mit der der Frauen, die auch ins Grab hineingegangenen waren und den Leichnam Jesu nicht fanden. In dieser Doppelung fungiert der Gang des Petrus als Bestätigung des leeren Grabes, als Zeugnis der Tatsache, dass es wirklich leer gewesen ist. Dies verdeutlicht Lukas durch die präzise Bewegungsdarstellung (paraku,yaj ble,pei), indem er mit der näheren Perspektive die Distanz zum Gegenstand reduziert. Hier kann der kompetente Leser die Erzählerintention einigermaßen verstehen, auch warum auch Petrus das leere Grab aufsuchen muss. Es ist freilich 132
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Joachim Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, 144: „Die Häufung der Lukanismen zwingt zu dem Schluss, dass Lk 24,12 ursprünglicher Lukastext ist. Für die Ursprünglichkeit von Lk 24,12 spricht schließlich auch der Rückbezug auf diesen Vers in V. 24 (mit generalisierendem Plural tivvnej).“ Vgl. Frans Neirynck, John and the Synoptices, 161-187, hier 165. avlla. u`pa,gete ei;pate toi/j maqhtai/j auvtou/ kai. tw/| Pe,trw| ktl. Erst in der Erscheinungepisode des Simon (Lk 24, 34) wird Petrus vollkommen rehabilitiert. Siehe „Die Erscheinung vor Simon“, 131-134 dieser Arbeit. Einschließlich der wichtigen Rolle des Petrus in den weiteren Szenen, nämlich der Emmauserzählung und dem Erzählanfang der Apostelgeschichte. Odette Mainville, De Jesus à l`Eglise, 198, sie versteht mit Recht die Funktion des Textes so: „Cette brève mention de la démarche de Pierre est très opportune: d’ une part, elle conclut le récit du tombeau vide en attestant de la véracité des propos des femmes; d’ autre part, elle permet l’enchaînement sans ombrage de la suite des récit, et cele, jusque dans le deuxième volume de son ouvrage. Cette astuce narrative aura d’ailleurs son pendant à la fin du récit d’ Emmaüs dans la mention tout aussi brève de la christophanie a Pierre (vv.3335).“ Vergleiche auch Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 35.
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schwer, den Glauben an die Auferstehung Jesu, lediglich durch die Tatsache, dass das Grab offen und leer ist, zu erlangen, weshalb Petrus verwundert137 nach Hause geht,138 obwohl er das Grab sorgfältig betrachtet hat.
2. Die Erscheinungserzählungen Nachdem er die Grabepisoden der Erscheinungserzählung als Ouvertüre vorangestellt hat, führt Lukas nun seine drei Erscheinungsepisoden auf, die erzählerisch glatt verknüpft sind: die Erscheinung vor zwei Jünger auf dem Weg nach Emmaus, die Erscheinung vor Simon und abschließend die Erscheinung in Jerusalem vor den Elf und denjenigen, die mit ihnen zusammen waren. Viele Exegeten halten sie für einheitlich.139 Es scheint aber immer noch besonders schwer zu sein, die zweite Erscheinungsepisode, nämlich die Erscheinung vor Simon von der Emmauserzählung abzusondern, obwohl wir oben unter dem Titel Integration der Erzähleinheiten im Hinblick auf die Thematik der Erscheinung die drei Episoden als eine Erzähleinheit betrachtet haben. Der Erzählanfang der Erscheinung vor Simon hängt scheinbar mit dem Erzähl-ende der Erscheinung vor den zwei Aposteln auf dem Weg nach Emmaus zusammen. Also geht es um die mögliche Aufteilung der Erzähleinheit in drei Erscheinungserzählungen und die Einheit der Emmauserzählung. Daher nehmen wir zunächst die Emmauserzählung als Ausgangspunkt für Abgrenzungskriterien der Erzähleinheiten. a) Abgrenzung der Erzähleinheiten Bisher wird die lukanische Erscheinungserzählung, je nach Aspekt und Thema entweder zusammengesetzt oder geteilt. In seiner Arbeit über die Himmelfahrt Christi hat Gerhard Lohfink feststellt, dass es grob gesehen drei Erzählungen im Kapitel 24 gibt: Grab-, Emmaus- und Himmelfahrtserzählung.140 Seiner Meinung nach gehört die Erscheinung in Jerusalem vor den Elf und den anderen 137 138 139
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Vgl. B. Joel Green, The Gospel of Luke, 836: „Peter’s amazement [...], but it is not jet faith or even comprehension.“ Vgl. Joseph Fitzyer, The Gospel According to Luke, 1548. Vgl. Paul Schubert, The Structure and Significance of Luke 24, 174f; B. Joel Green, The Gospel of Luke, 840-851; Rainer Dillmann u. César Mora Paz, Das Lukas-Evangelium, 419-427; Joseph A. Fizmyer, The Gospel according to Luke, 1553-1569; I. Howard Marshall, The Gospel of Luke, 88-900; Robert C. Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, 279-293; Joachim Wanke, Die Emmauserzählung, 43-54; Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 40f; Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas, 499f; Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, 116. Vgl. Gerhard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu, 147-150.
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selbstverständlich als Erzählanfang zur Himmelfahrtserzählung.141 Für ihn treten die Bedeutung und der Topos des Berichts über die Erscheinung vor Simon sofort in den Hintergrund. Wie Gerhard Lohfink halten auch die meisten anderen Exegeten die zweite Erscheinungsepisode nicht für eine eigenständige Erzähleinheit, sondern eher für das Erzählende der Emmauserzählung. Dann können die Erscheinungserzählungen in nur zwei Einheiten gegliedert werden: Erscheinung auf dem Weg nach Emmaus und in Jerusalem. Es fällt natürlich auf, dass die Erscheinung vor Simon nicht erzählt wird, da sie nur durch eine indirekte Figurenrede erwähnt wird. Und deswegen ist zu fragen, ob Lukas vielleicht detailliertere Informationen fehlen oder ob er sich für diese Erscheinung überhaupt nicht interessiert? Oder stört sie seinen Erzählduktus und er sieht sich nur gezwungen sie zu berücksichtigen, weil sie eine feste Verbindung zum frühkirchlichen Glaubensbekenntnis besitzt?142 Das werden wir später genauer behandeln. Darum müssen wir jetzt sorgfältig beachten, dass die Erscheinung vor Simon wegen ihrer Wichtigkeit separat von der Emmauserzählung betrachtet werden muss, obwohl sie mit der Emmauserzählung als ihr Erzählende geschickt verknüpft zu sein scheint. Die Absonderung der Erscheinung vor Simon wird auch in anderen Studien vertreten.143 Jedoch wird deutlich, dass sie oft immer noch nicht für eine eigenständige Episode gehalten wird, die in der geschlossenen Struktur ein eigenes Thema und einen eigenen Inhalt bean-sprucht. Wenn wir sie deshalb als Erzähleinheit betrachten möchten, fragen wir nach dem zutreffenden Kriterium für ihre Rahmenerzählung, wodurch sie sich abgrenzen lässt. Die Erscheinungsepisode vor Simon steht zwischen der ersten Erscheinungsepisode bzw. der Emmauserzählung, in der man zweifellos den mit Lk 141 142
143
A.a.O. Vgl. besonders 1Kor 15,3 und siehe auch Hans Conzelmann, Grundriss der Theologie des Neuen Testaments, 178-181; zur Verbindung der Erscheinung Simons mit einer ursprünglichen Tradition bzw. einem alten Glaubensbekenntnis siehe Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 982f; Joachim Jeremias, Die Sprache des Lukasevangeliums, 319; Hans Klein, Lukasstudien, 14, er vermutet, dass die von Lukas benutzte Glaubensformel eine Spur der paulinischen Tradition sei. Wie zum Beispiel, Joachim Wanke, Die Emmauserzählung. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung zu Lk 24,13-35, er betrachtet Lk 24,33-35 als den Erzählungsabschluss; ähnlich Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 40f, er hält die Perikope für eine Zwischenszene; Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas, 499f; Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, 116; Odette Mainville, De Jésus à l’ Église: Étude rédactionnelle de Luc 24, 201-203. Sie separieren zwar die Erscheinung vor Simon von der Emmauserzählung, aber geben kein Abgrenzungskriterium an.
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24,13 beginnenden Erzählanfang erkennen kann,144 wobei die Episode noch eine Spannung aufbaut, indem sie durch die Benutzung der Zeitangabe „an diesem Tag“ eine Verknüpfung zum Geschehen am Grab, am Ostermorgen herstellt, sowie zur dritten Erscheinungsepisode bzw. der Erscheinung vor den Elf und anderen in Jerusalem, dessen Erzählanfang man problemlos in Lk 24,36 sehen kann. Außerdem lässt sich das Erzählende im Licht des Erzählanfangs der Apostelgeschichte, das mit dem Erzählende des dritten Evangeliums mit den Worten Jesu inhaltlich und thematisch überlappt,145 abgrenzen. In Apg 1,9 wird deutlich, wo die thematische und inhaltliche Begrenzung der Erscheinung und der Himmelfahrt Jesu liegt, indem Lukas als Übergang die letzte Szene des ersten Bandes rekapituliert. So schreibt er: „nachdem er das gesprochen hatte, wurde er aufgehoben, während sie schauten...“ (kai. tau/ta eivpw.n blepo,ntwn auvtw/n evph,rqh ktl). Hier stellt er ganz bewusst fest, dass die Himmelfahrtsepisode damit einsetzt, dass Jesus ein letztes Wort gesprochen hat. Mit diesem mitgeteilten Erzählerhinweis am Anfang des zweiten Bands des Doppelwerks kann man das Erzählende der dritten Erscheinungsepisode auch bis zum letzen Wort Jesu in Lk 24,49 abgrenzen. Deshalb kommt es jetzt darauf an, zu bestimmen, wo das Erzählende der ersten Erscheinungsepisode liegt. Jedoch ist es schwieriger, das Kriterium für das exakte Erzählende als für den Erzählanfang herauszufinden. Karl Löning, der die Emmausepisode als die zweite Episode der erzählerischen Struktur des Osterzyklus klassifiziert hat, meint, dass der Auflösungspunkt des Motivs „unerkannt – erkannt“ und „Augen Haltens – Augen Öffnens“ das Ende der Episode sei, weil die Handlung der Emmausepisode zwischen diesen Polen verläuft.146 Daher versteht er Lk 24,32 als Ende der Emmausepisode. Hingegen bestimmen die meisten Neutestamentler den Umfang der Emmausepi144
145 146
Durch neue Personen, Zeit- und Ortangaben am Erzähl-Anfangs (Lk 24,13) grenzt sich die Emmausepisode von der vorherigen Graberzählung sichtbar ab. Weil der Erzähler den Neuanfang betonen will, setzt er bewusst auch „kai. ivdou“ und nicht einfach „evge,neto de.“ ein. Siehe Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 36. Vgl. Lk 24,46-49 und Apg 1,4-8. Siehe Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 36. Dort erklärt er es mit dem Terminus „ Disäquilibrium-Äquilibrium“. Er meint, dass die mit der „reist mit“ – unerkannt beginnende Emmausepisode in der Szene (Lk 24,30-32) mit der Aufhebung des Disäquilibriums, nämlich der „Augenöffnung“, endet. Zur Kritik an dieser Position siehe Gerd Theißen, Annette Merz, Der historische Jesus, 423f: „[...]denn das Wiedererkennen Jesu ist nicht die eigentliche Pointe der Erzählung[...]“; vgl. auch Joel B. Green, The Gospel of Luke, 840-841, sie erweist „Jesus Is Alive“ als den Kerninhalt mit Hilfe des umgekehrten Parallelismus; Odette Mainville, De Jesus a lʼ Eglise: Etude redactionnelle de Luc 24, 198-201.
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sode als Lk 24,13-35, einschließlich Lk 24,33-35 wie schon oben angedeutet.147 Wie in letzter Zeit Karl Löning sondert auch Odette Mainville, mittels der redaktionsgeschichtlichen Methode Lk 24,33-35 als „la christophanie à Pierre“ ab.148 Wie sie aber meint, ist es für die Erscheinung Jesu vor Simon im Licht der Kontinuität der Erscheinungserzählung unerlässlich, die Emmausepisode mit der folgenden Erscheinung zu verbinden.149 Zwar hält sie die Erscheinung vor Simon für eine unabhängige Erzähleinheit, aber die literarische Abgrenzung müsste mit dem zutreffenden Kriterium noch präziser zu bestimmen sein. Joachim Wanke hat in seiner redaktionsgeschichtlichen Studie den kunstvollen kompositorischen Aufbau der Emmauserzählung in Anschluss an X. LéonDufour hervorgehoben.150 Nach der von X. Léon-Dufour entdeckten Chiasmusstruktur151 besitzt die Emmausepisode ihre Kernbotschaft in der Strukturmitte und gewinnt dadurch nicht nur einen Überblick, sondern macht auch den Umfang der ersten Erscheinungsepisode erkennbar. Joachim Wanke versucht mutatis mutandis mit einer Satzumstellung (beispielsweise, die Stellung von Lk 24,22-27), auch die Dialogszene Lk 24,17-30, die X. Léon-Dufour einfach übergeht, als eine chiastische Struktur zu erklären. Allerdings relativiert er die Bedeutung, indem er feststellt: „...solche Beobachtungen zur Struktur können höchstens zeigen, dass einer Erzähleinheit ein durchgehendes Kompositionsprinzip zugrunde liegt.“152 Anhand dieser Einsicht können wir die Struktur rekonstruieren, die Motive und Rahmen der Emmauserzählung deutlich aufzeigt:
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Vgl. M. Frenschkowski, Offenbarung und Epiphanie Bd. 2. Die verborgene Epiphanie in Spätantike und frühem Christentum, 225; vgl. auch Rainer Dillmann, César Mora Paz, Das Lukas-Evangelium, 419f.. Die beiden halten Lk 24,33-35 für den abschließenden Teil der Emmausepisode, die Karl Löning als Zwischenszene separiert hat. Vgl. Odette Mainville, De Jesus à l`Eglise: Etude redactionnelle de Luc 24, 192-211. Odette Mainville, De Jesus à l`Eglise: Etude redactionnelle de Luc 24,194:„ la christophanie à Pierre (vv. 35-5) homologue les dires des disciples d´ Emmaüs et crée l´ouverture nécessaire à la suite des révélations. Vgl. Joachim Wanke, Die Emmauserzählung, 16ff; und auch Joel B. Green, The Gospel of Luke, 842. Zu einem knappen Überblick zum Chiasmus in der Antike vgl. John W. Welch (Ed.), Chiasmus in antiquity, 1999 (Erstpublikation 1981), besonders für den im Neuen Testament. – ders., Chiasmus in the New Testament, a.a.O., 211-249. Trotz seiner Einsicht in die Struktur, die die Kohärenz und Immanenz des Textes aufzeigt, hat Joachim Wanke, Die Emmauserzählung, 17, die Erscheinungserzählung von der Emmauserzählung für nicht abtrennbar gehalten.
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V13 evn auvth/| th/| h`me,ra| poreuo,menoi avpo. VIerousalh,m V14 w`mi,loun pro.j avllh,louj V15 VIhsou/j evggi,saj suneporeu,eto auvtoi/j V16 oi` de.. ovfqalmoi. auvtw/n evkratou/nto tou/ mh. evpignw/nai auvto,nÅ VV 17-27 Weggespräch VV 28-30 Gastmahl V31a auvtw/n de. dihnoi,cqhsan oi` ovfqalmoi. kai. evpe,gnwsan auvto,n\ V31b auvto.j a;fantoj evge,neto avpV auvtw/nÅ V32 ei=pan pro.j avllh,louj V33a auvth/| th/| w[ra| u`pe,,streyan eivj VIerousalh.m Mit Hilfe der Chiasmusstruktur kann man zunächst gut erkennen, dass die Ortsangabe VIerousalh,m (Lk 24,13a und 24,33a) mit den ergänzten Zeitangaben evn auvth/| th/| h`me,ra (Lk 24,13a) und auvth/| th/| w[ra (Lk 24,33a) für das Erzählen als doppeltes Inklusions-Paar eine wichtige Rolle spielt und so die erste Erscheinungsepisode einrahmt.153Damit grenzt sie sich von der zweiten Episode eindeutig ab. Die beiden Szenen von Weggespräch und Gastmahl als Kern in der Mitte der Struktur sind darin eingebettet.154 Lukas zeigt mit seiner Struktur sehr bewusst, dass die Emmauserzählung, die mit dem Aufbruch in Jerusalem beginnt, mit der Rückkehr dorthin endet, obwohl er sie später mit der Erscheinung vor Simon und der vor den Elf und anderen in Jerusalem nahtlos verknüpft. Auch die Figurenkommunikation in Lk 24,33-35, in der die Emmausjünger keine aktive Rolle mehr spielen,155 weist auf die inhaltliche Unterbrechung deutlich hin, indem die Erscheinung vor Simon erzählt wird.156 Daher sind die ersten beiden Episoden voneinander separiert: die 153
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Vgl. auch Joel B. Green, The Gospel of Luke, 842. Zwar macht sie auf das gleiche „ inverted parallelism“ in der Perikope aufmerksam, aber sie betrachtet Lk 24,33a nicht als Ende der ersten Episode, sondern Lk 24,35, da sie die Szene „The Journey to Jerusalem” noch bis Lk 24,33-35 ausdehnt. Vgl. Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 973f.; Robert Morgenthaler, Lukas und Quintillian, 306f; Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, 96; G. Schneider, Gerhard Schneider, Das Evangelium nach Lukas, 496f; Robert C. Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, 279-293. Vgl. Bernhard Asmuth, Schilderung, 307-336. Hier (Lk 24,34) kann man auch eine in der Textkritik grundlegende Frage stellen, um die Erzählung besser zu verstehen: wer berichtet von der Erscheinung vor Simon in der Erzählwelt. Sind es die Emmausjünger (le,gontej) oder die Elf und die mit ihnen waren (le,gontaj), weil gemäß der Lesart D und Origenes der Nominativ „le,gontej“ statt des Akkusativs „le,gontej“ lesbar ist. An Wellhausen orientieren sich Erich Klostermann,
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Erscheinung vor zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24,13-33a) und die Erscheinung vor Simon (Lk 24,33b-35). b) Episode eins: die Erscheinung vor den Emmausjüngern (1) Erscheinung vor zwei Jüngern auf dem Weg nach Emmaus: Lk 24,13-33a Nach dem lukanischen Programm für die Erscheinung Jesu ist die Emmausepisode zeitlich innerhalb eines Tages157 und geographisch in Jerusalem bzw. dessen Umgebung158 lokalisiert. Wie die obige Struktur zeigt, will Lukas programmatisch die Aktualität und Funktion der Erscheinung des Auferstandenen zeigen, indem er verschiedene Motive in seine Erzählung integriert. So kann man zahlreiche Motive finden,159 aus denen die emotionale Verbundenheit und das sorgfältige Interesse des Lukas hervorscheinen, mit denen er seine Erzählung gestaltet. Für ihr richtiges Verständnis ist es deshalb nötig, wichtige und unwichtige Motive zu unterscheiden. Auffallend ist, wie der obige Chiasmus zeigt, dass zwei Grundtöne der Handlung als zentrale Motive in der Episodenmitte platziert sind: das Gespräch mit einem noch unbekannten Wanderer auf dem Weg (Lk 24,13-27) und das Gastmahl in Emmaus (Lk 24, 28-30). Dabei ist das Motiv „Reise aus und nach Jerusalem“, das Erzählanfang und Ende bestimmt, nicht zu übersehen. Deshalb werden wir uns im nächsten Abschnitt bemühen, die Emmausepisode möglichst genau zu interpretieren: Wie werden ihre diversen Motive integriert und welche Rolle spielen sie auf der gesamten Lokalerzählebene? Paul Schubert hat hinsichtlich des literarischen Topos der Emmausepisode so geur-
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Das Lukasevangelium, 238f, und Walter Grundmann, Das Evangelium nach Lukas, 447f, besonders Anm. 26, zu „le,gontej“. Vgl. Lk 24,13.22.29.33; vgl. auch 24,1.36. Vgl. Lk 24,13.28.33. Vgl. B. P. Robinson, The Place of the Emmaus Story in Luke-Acts, 481-497, er hat für die Frage der Kontinuität und Einheit des lukanischen Doppelwerks die Emmausepisode untersucht und aus ihr einige wichtige Motive extrahiert: Journey, Fulfilment of Prophecy, Recognition und Hospitality; John Gillman, The Emmaus story in Luke-Acts revised, 163-188, der die Perikope auch im Licht des lukanischen Doppelwerks als „the centerpiece of Luke 24 and ... to Luke’s two-volume“ betrachtet, und wählt in Hinblick auf theologische und pastorale Reflektionen einige Motive aus: Journey, Hospitality, Christology, Eucharist, Evangelizing, Faith as Sight und letztlich Telling and Listening to the Story; Joseph Fitzmyer, The Gospel According to Luke (X-XXIV), 1557-1559: Geographical, Revelatory, Christological as Fulfilling OT prophecy, Eucharistic; Joel B. Green, The Gospel of Luke, 843, sieht darin The Journey, Hospitality and Table Fellowship, Scriptual Fulfilment.
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teilt:160 „The length, the vividness and the details of the Emmaus story (vv 1335) furnish a first indication that this account dominates the whole of Luke 24.” (2) Der Topos Jerusalem in der Emmauserzählung: Lk 24,13-14; Lk 24,33a So wie diese Episoden häufig als „Emmauserzählung“ bezeichnet werden, eröffnet Lukas die Erzählung mit dem Ortsnamen „Emmaus“ (VEmmaou/j), der schon seit langem von historischem Interesse ist.161 Aber wir konzentrieren uns hier darauf, wie der geographische Topos in der Erzählung verwendet wird und welche Rolle er in der erzählten Welt spielt. Die Lokalität von Emmaus mit dem Zusatz, „sechzig Stadien von Jerusalem entfernt“ (eivj kw,mhn avpe,cousan stadi,ouj exh,konta avpo. VIerousalh,m, Lk 24,13) war immer umstritten, weil man mit dieser geographischen Bestimmung keinen Ort identifizieren kann.162 Somit lässt sich fragen, ob es seiner literarischen Technik geschuldet ist, wenn Lukas eine ungefähre Ortsentfernung gibt, wie zum Beispiel Lk 22,41163 oder in Apg 1,12.164 Dieser Aspekt verdeutlicht, dass er andeuten will, dass das Dorf Emmaus von Jerusalem 60 Stadien bzw. ca. 11 km entfernt, also zwei Wegstunden entfernt, zu lokalisieren ist. Diese Erzählweise passt gut zu seinem Zweck, dass an einem Tag, als dem definitiven Tag, alle Episoden (wie zum Beispiel Auffindung des leeren Grabes, Betrachtung und Bestätigung des leeren Grabes von Petrus, Erscheinung auf dem Weg nach Emmaus und Jerusalem sowie Himmelfahrt Jesu) geschehen. Somit darf Emmaus nicht zu weit entfernt von Jerusalem liegen, sodass die Jünger am selben Tag zu Fuß hin und zurück wandern können. Anders könnte Lukas seine Erzähllogik 160
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Paul Schubert, The Structure and Significance of Luke 24, 168; vgl. auch Robert C. Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, 277f; Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, 96; John Gillman, The Emmaus story in Luke-Acts revised, 165; Benoît Standaert, Raconter la résurrection, 81. Vgl. Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, 100f; Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 975f; Joshep Fitzmyer, The Gospel according to Luke (X-XXIV), 1561f; Zur Kritik am übermäßigen Interesse an der Historizität im Erzählten siehe Andreas Lindemann, Wunder und Wirklichkeit, 179-200, Er macht mit Recht darauf aufmerksam, dass das übermäßige Interesse an Personen- und Ortsnamen im Erzählten als hermeneutischer Rückschritt zu bewerten ist (191). Vgl. Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 975f, er vermutet deshalb, dass die Lokalisierung von Emmaus durch zwei Aussagen von Lukas möglich ist, nämlich der Bezeichnung kw,mhn und der Entfernung avpe,cousan stadi,ouj e`xh,konta avpo. VIerousalh,m .Er bestimmt deshalb das heutige Quonij (Kalonije =Colonia) als Emmaus, in dem Vespasian nach dem Jüdischen Krieg 800 Veteranen angesiedelt hat; vgl. auch den Exkurs „Zur Frage der Lokalisierung von Emmaus“ von Joachim Wanke, Die Emmauserzählung, 37-42. kai. auvto.j avpespa,sqh avp auvtw/n w`sei. li,qou bolh,n ktl. o[ evstin evggu.j VIerousalh.m sabba,tou e;con o`do,n.
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nicht verwirklichen, da alle Geschehen auf einen Tag verlegt sind. Es ist für ihn wichtig, dass die beiden Jünger wieder nach Jerusalem zurückkehren, weil er sich auf diesen Topos konzentriert.165 Es wäre für seine Intention problematisch, wenn sich die beiden Jünger als Beispielpersonen166 außerhalb Jerusalems aufhielten. Denn seine Erzählwelt pointiert von Anfang Jerusalem: der Anfang der Narrative beginnt mit der Szene, dass Zacharias im Jerusalemer Tempel betet (Lk 1,5ff); die Narrative endet damit, dass die Jünger „allezeit“ im Tempel sind und Gott preisen (Lk 24,53). Der Protagonist Jesus verfolgt trotz aller widrigen Umstände sein Anliegen, nach Jerusalem zu gehen (Lk 9,51);167 weshalb der sogenannte „Reisebericht“ den Mittelteil („central section“) der Narrative bildet.168 In diesem Zusammenhang scheint es widersinnig zu sein, dass die du,o evx auvtw/n gerade an diesem Tage Jerusalem verließen. Lukas deutet seinem Leser aber so die katastrophale Situation des Jüngerkreises an, da nicht nur Petrus, sondern noch zwei weitere Jünger nach Hause zurückkehren. Jesu Anhänger verlassen Jerusalem nach seinem tragischen Kreuzestod enttäuscht und resigniert. Deshalb muss die beginnende Katastrophe aufgefangen werden, so wie es Lukas in der Emmausepisode darstellt, denn die Jünger kehren nach ihrer Erscheinungserfahrung sofort wieder nach Jerusalem zurück. So ist nun auch Simon bzw. Petrus wieder zurückgekehrt (Lk 24,12b). Warum wird Jerusalem bei Lukas so betont? Angesichts der Weiterführung der Erzählung für die hellenistische Leserwelt zielt das lukanische Narrativkonzept immer auf die religiösen und politischen Zentren. Demnach ist es für ihn wichtig, zu zeigen, dass der Ursprung des Christentums keiner galiläischen Sekte entsprang, sondern in der Mitte Israels entstanden ist. Darum wurde zur Wahrung des Erzählkonzeptes die Erscheinung in Jerusalem lokalisiert, obwohl Markus sie für Galiläa angekündigt hat (Mk 16,7). So kann man sagen, dass das Motiv „aus Jerusalem (avpo. VIerousalh,m)“ und „nach Jerusalem (eivj VIerousalh.m)“ nicht nur als Erzählorientierung der Emmausepisode fungiert, welche sie öffnet und schließt, sondern ihr grundlegendes Strukturmotiv ist. 165
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Im Vergleich zu den anderen Evangelien - zum Beispiel 12 mal bei Mt und 10 mal bei Mk - kommt Jerusalem erheblich häufiger im lukanischen Doppelwerk vor, im Evangelium 32 und der Apostelgeschichte 61 mal. Vgl. Es handelt sich hier um „du,o evx auvtw/n“. Sie werden nicht zuletzt in Lk 24,9 erwähnt. Vgl. auch Lk 18,31 (ivdou. avnabai,nomen eivj VIerousalh,m ktl); Lk 19,11b (dia. to. evggu.j ei=nai VIerousalh.m auvto.n); Lk 19,28b (evporeu,eto e;mprosqen avnabai,nwn eivj ~Ieroso,luma). Vgl. den Abschnitt „Jerusalem als geographisches Grundkonzept in der Makrostruktur“, S. 98-102 dieser Arbeit und die dortige Literatur (!).
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Das ist ein wichtiger Analyseschlüssel. In dieser Episode erscheint der Auferstandene deshalb in erster Linie als derjenige, der seine Jünger nach Jerusalem führt, wie er es auch in seinem irdischen Leben getan hat. So stellt Lukas die Kontinuität der Funktion des Auferstandenen und des Jesus von Nazareth her. Folglich müssen wir feststellen, dass das von Lukas geschaffene Reisemotiv sich auf die zielorientierte Reise nach Jerusalem bezieht.169 (3) Das Weggespräch In der Emmausepisode, mit ihren einheitlich verschmolzenen Motiven, finden wir zwei Hauptszenen: Weggespräch und Gastmahl,170 die beide mit einer Erzählsituationsschilderung eingeleitet werden. Lukas entwickelt seine Erzählung in einem ersten Schritt, indem er mit kai. evge,neto einsetzt, wobei sich die Dialogsituation beider Jünger mit „w`mi,loun“ wiederholt. In dieser Einleitung (Lk 24,14-16) lässt er alle Erzählfiguren, die bis zum Ende der Erzählung mitspielen, zugleich auftreten. Durch den Kontrast zwischen den noch nicht namentlich genannten Jüngern und dem mit Namen ausdrücklich vorgestellten auvto.j VIhsou/j wird der Leser in Spannung versetzt, denn er weiß schon – im Gegensatz zu den beiden – wer der Mitwanderer ist.172 Das Motiv des Nicht-Erkennens, das im Erzählverlauf aufgelöst wird, verbindet beide Szenen und hält sich bis zum Erzählende durch. So werden die beiden Szenen parallel geschildert. Die „verschlossen gehaltenen“ Augen der Jünger173 werden allmählich auf dem Weg 169
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Anders B. P. Robinson, The Place of the Emmaus Story in Luke-Acts, 481-497, hier 481, meint er eher das alltägliche christliche Leben in dem die Christen Christus geduldig folgen. So verbindet er es sogar mit einer Parousiewarnung. Ähnlich John Gillman, The Emmaus story in Luke-Acts revisited, 165-188, hier 185, er bezeichnet er das Reisemotiv als Reflexionsmotiv: “to reflect on their [readers] own life journey”. Vgl. Die anaphorische Raffung in Lk 24,35; vgl. auch Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 977-983; Robert C. Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts 279-293; Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, 105-115. Hier stellt Lukas ganz raffiniert die Erscheinung Jesu mit den Handlungscharakteristika dar, die Jesus in der letzten Passionsszene benutzt hat (Lk 23, 46). Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 100: „Ironische Kommunikation verdoppelt das Kommunikat zweier Gesprächspartner in eine explizite und eine implizite Botschaft.“ Vgl. auch Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 37: „Das Prinzip der Ironie, durch das der Autor seinen Leser als den Allesschon-Wissenden zum Beobachter der Noch-nicht-Wissenden macht, ist kein unverbindlicher Scherz. Literarische Ironie beruht auf einem Einverständnis zwischen Autor und Leser[...]“; vgl. auch Robert C. Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts, 282284; Richard J. Dillon, From Eye-Witness to Minister of the Word, 104f. Beim Verbum kratei/n handelt es sich zunächst um das Imperfekt Passiv. Joachim Wanke, Die Erzählung, 35 und I. Howard Marschall, The Gospel of Luke, 893, verstehen es gemeinsam als Passiva Divina; gegen Robert C. Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts, 281f, und Joshep Fitzmyer, The Gospel according to Luke (X-XXIV),
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nach Emmaus durch Jesu Schriftauslegung und sein Brotbrechen im Hause geöffnet. (i) Die anaphorische Raffung: Lk 24,17-24 Indem Jesus nach dem Thema (ti,nej) des Dialogs fragt,174 kommt er nun evn tw/| o`milei/n auvtou.j dazwischen. Besonders auffällig ist, dass Lukas mit diesem „Frage- und Antwort Modell“175 nicht nur die Kommunikation zwischen den Erzählfiguren auf einer tieferen textinternen Ebene, sondern auch die Kommunikation zwischen Autor und Leser auf der textexternen Ebene deriviert. Denn der Autor knüpft auch mit seinem Leser durch diese leserorientierte Frage implizit ein Gespräch an. Somit müssen wir auch die Kommunikation auf der textexternen Ebene als Bestandteil der Erzählkommunikation beachten.176 Jetzt übernimmt sogleich der nun namentlich genannte Kleopas177 die Initiative im Dialog, die er als Repräsentant einer Figurenrede ausführt, da er die vergangenen Ereignisse rekapituliert. Bei ihm geht es allerdings um ta. peri. VIhsou/ tou/ Nazarhnou/. Durch die Figurenrede spricht Lukas retrospektiv über Worte und Werke des Irdischen. Damit lenkt er den Leserblick nochmals auf das bereits erzählte Schicksal, indem er angesichts der Niedergeschlagenheit der Jünger die Verantwortung für den Kreuzestod Jesu178 und die Auffindung des leeren Grabes betont. Durch seine anaphorisch geraffte Erzählweise179 integriert Lukas die zeitlich verschobenen Erzähleinheiten und zentriert damit die jetzt erzählte Episode. Hier stellt man offenkundig zwei Tatsachen fest: erstens bestätigt Lu-
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1563, sie vermuten, dass die Jünger in einen geistlichen Blindheitszustand geraten sind, denn es fehlt ihnen das wahre Verständnis des Todes Jesu; vgl. auch Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, 104, sie behauptet, dass die Augenschließung in Apg 28 in Analogie zum Verstockungsauftrag Jesajas, zu verstehen ist, wobei die Verwendung vom Jes 6,9 (LXX) mit kammuei/n „die Augen schließen“ übereinstimmt. Vgl. Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 36: „Der unbekannte Dritte mischt sich mit einer Frage in das Gespräch ein, deren Formulierung die redenden Jünger als Aristoteles-Schüler karikiert, als ‚Peripatetiker‘ („ was sind das für Worte, die ihr einander zuwerft peripatou/ntej?).“ Christoph G. Müller, Leserorientierte Frage im Erzählwerk des Lukas, 28-47, hier 33; Vgl. auch Richard J. Dillon, From Eye-Witness to Ministers of the Word, 111. Christoph G. Müller, Leserorientierte Fragen im Erzählwerk des Lukas, 28-47. Es gibt heftige Debatten um die Identifikation des Namens Kleopa/j. Siehe Hans Klein, Lukasstudien, 894; Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, 105f; Joshep Fitzmyer, The Gospel according to Luke (X-XXIV), 1563. Hier konkretisiert Lukas gemäß seinem Erzählstil ai` cei/rej avnqrw,pwn a`martwlw/n in Lk 24,7 als die Hohenpriester und unsere Vorsteher (oi` avrcierei/j kai. oi` a;rcontej). Vgl. Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 36, er bezeichnet den Erzählstil als „anaphorisch-summarisch“.
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kas die vorliegende Struktur der Graberzählung, die aus der Frauen- und der Petrusepisode am Grab besteht. Zweitens, einschließlich der nun verlaufenden Episode ereignet sich die vorher erzählte Grabepisode am ersten Wochentag, nämlich am dritten Tag nach dem Tode Jesu, wie er mehrmals vorausgedeutet hat. In der lukanischen Narrative liegt gerade an dieser Stelle ein erzählstrategischer Wendepunkt vor. Denn der Autor, der bisher implizit geblieben ist und das Lesereinverständnis stillschweigend vorausgesetzt hat, tritt nun in der Kleopasrede mit der Bezeichnung Jesu als Prophet und Hoffnung Israels durch die erzählten Figuren in den Vordergrund der Erzählkommunikation (avnh.r profh,thj dunato.j evn e;rgw| kai. lo,gw| evnanti,on tou/ qeou/ kai. panto.j tou/ laou/ 180und h`mei/j de. hvlpi,zomen o[ti auvto,j evstin o` me,llwn lutrou/sqai to.n VIsrah,l). Dabei zielt der Autor auf zweierlei: einerseits will er den Verständnisstatus des Lesers abfragen und andererseits die richtige Antwort zurückhalten, um die Leserspannung zu erhöhen. (ii) Die Belehrung durch den Auferstandenen auf dem Weg: Lk 24,25-27 In dieser Szene ereignet sich ein wichtiger Rollenwechsel zwischen den Emmausjüngern und Jesus. Der Auferstandene, der bis jetzt als Mitwanderer, gar als Fremder (paroiko,j)181 am Rande der Jüngerunterredung stand, indem er nur Fragen stellte, übernimmt nunmehr die Initiative im Gespräch. Der Auferstandene, der sich mit einer einleitenden Fragestellung, durch die der implizite Autor in seiner Kommunikationsabsicht mit dem Leser seine Erzählungsintention explizit erkennen lässt, in den Dialog einmischt, beantwortet die selbst gestellte Frage und lehrt sogar wie ein Lehrer.182 Daher kann man sagen, dass die Dialogszene als pädagogischer Lehrprozess erscheint, ähnlich stellt Lukas auch die Bekehrungsepisode des Äthiopiers in Apg 8,26-40 dar.183 In der mit Jesu hartem Tadel184 beginnenden Erzählfigurenrede weckt der Autor die Aufmerksamkeit der Jünger und zugleich die des Lesers. Damit erreicht das Weggespräch den Höhepunkt der Erzählung, nämlich die Belehrung durch Jesus. Nunmehr lehrt der Auferstandene in Kontinuität zur Funktion des 180
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Vgl. den Wortlaut dunato.j evn lo,goij kai. e;rgoij ktl in Apg 7,22. Auf diesem Figurenkommunikationsniveau geht es um den mächtigen Propheten Mose; siehe Joel B. Green, The Gospel of Luke, 846; Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, 105f; Joachim Wanke, Die Emmauserzählung, 138; Walter Grundmann, Das Evangelium nach Lukas, 445. Lk 24,18. Vgl. H. –F. Weiß, Art. dida,skw u. dida,skaloj, EWNT I, 764-769. Zur Ähnlichkeit der Struktur, des Motivs und der pädagogischen Perspektive siehe Richard J. Dillon, From Eye-Witness to Minister of the Word, 111; Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 35; Robert C. Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, 279. Vgl. w= avno,htoi kai. bradei/j; vgl. auch Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 979.
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irdischen Nazareth-Jesus als Lehrer und korrigiert das ungenügende Jüngerverständnis, nachdem sie schon zuletzt seine prophetischen Worte vor dem Einzug in Jerusalem nicht richtig verstanden hatten, weil sie vor ihnen verborgen waren.185 Aber in dieser proleptischen Redeweise186 gibt es einen maßgeblichen erzählstrategischen Entwurf des Lukas. Im Unterschied zur letzten Leidensankündigung in Mk 10,33-34 hat Lukas kai. auvtoi. ouvde.n tou,twn sunh/kan kai. h=n to. r`h/ma tou/to kekrumme,non avpV auvtw/n kai. ouvk evgi,nwskon ta. lego,mena187 hinzugefügt. Hierin liegt eine erzählerische Strategie. Wenn er aufgrund der Erzählstrategie die angefügte Bemerkung, dass er damit seine Leser über den Verstehensstatus der Jünger informiert, bis zum Schluss nicht auflöst und die Erzählung enden lässt, verstößt das gegen seine Weiterführungsabsicht christlicher Literatur. Aus diesem Grunde müssen die „verschlossen gehaltenen Augen“ der Jünger irgendwann vor dem Erzählende geöffnet werden und Jesus muss ihnen die verborgenen Worte enthüllen und erklären. Hat er es in seinem irdischen Leben nicht geschafft, so macht er es jetzt als Auferstandener, indem er eine rhetorische Frage stellt, welche konsequenterweise nur mit „Ja“ beantwortet werden kann. Die Korrektur des Auferstandenen pointiert zweierlei: erstens bezeichnet er sich selbst ausdrücklich als „cristo.j“ bzw. Messias, obwohl die zwei Jünger den Titular „profh,thj“ verwendet haben; zweitens verbindet er Christus mit der Notwendigkeit (e;dei), dass er vor seiner Herrlichkeit tau/ta leiden (paqei/n) musste.189 In diesem Ausdruck in der Vergangenheitsform des Stichworts dei/ betont Lukas auch die Tatsache, dass Jesus aus Nazareth nicht nur derjenige ist, der früher sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung geweissagt hatte, sondern auch der, welcher selbst als Christus schon seine Weissagung erfüllt 185 186 187 188
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Vgl. Lk 18,31-34. Vgl. David S. du Toit, Prolepsis als Prophetie, 165-189. Lk 18,34. Nach dem Erzählvorgang meint dies (tau/ta) die von den Jünger gerade ausführlich rekapitulierte Episode nämlich das Leiden, den Tod und das leere Grab Jesu. Im Hinblick auf den Verstehenshorizont der Jünger sollte dies gerade nicht durchaus geschehen und darum wirkt bei ihnen so traurig (skuqrwpoi,). Zur Notwendigkeit des Leidens Christi siehe Richard J. Dillon, From Eye-Witness to Minister of the Word, 24, 111-114 ; Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 49 u. 56f.; Walter Grundmann, Das Evangelium nach Lukas, 189. Da Lukas im Vergleich zu Markus, der das Stichwort dei/ nur einmal in den Passionssummarien benutzt hat, das dei/ im Leidenszusammenhang sechsmal verwendet, lässt dies wohl eine spezifisch lukanische Tendenz vermuten. Siehe Wanke, 91-93, er vermutet auch, dass die „Verbindung von paqei/n und (to.n) to.n Cristo.n“ auf griechischsprechende judenchristliche Gemeinden zurückgeht.
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hat.191 Darauf interpretiert der Auferstandene zur Begründung aus allen Schriften das, was über ihn geschrieben steht. Hier geht es aber natürlich um verallgemeinernde Schriftauslegung, nicht um genaue Bibelzitate.192 (4) Das Gastmahl Lk 24,28-32 In der Gastmahlszene, die an die vorhergehende Szene glatt anschließt, sind drei Handlungen erkennbar: Bitte um Zusammenbleiben V.28-30; Brotbrechen im Hause V.30-31; Raffungsdialog über die Erfahrung V.32. (i) Die Bitte um das Zusammenbleiben Am Szenenanfang wird die Leserspannung noch einmal gesteigert, da der immer noch unerkannt gebliebene Jesus von den Jüngern Abschied nehmen will. Jedoch löst sich dies sofort auf, indem der Erzähler darstellt, dass die Jünger, die schon ihr Reiseziel erreicht haben, mit dem doppelten Hinweis auf die Zeitangabe193 ihn bitten, mit ihnen zusammen zu bleiben. Und er ging hinein, um bei ihnen zu bleiben. An dieser Stelle wechselt die Wegszene plötzlich zur Gastmahlszene. (ii) Das Brotbrechen am Tisch Aber im Hause ist Jesus am Tisch plötzlich nicht mehr länger ein Gast, sondern der Gastgeber. So nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach es und gab es ihnen. Die Frage, was der Erzähler mit dieser festen Handlungsreihenfolge Jesu
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Vgl. Paul Schubert, The Structure and significance of Luke 24, 176, er behauptet, als Kern der lukanischen Theologie liege der Weissagungsbeweis nicht nur dem ganzem Kapitel 24, strukturell und inhaltlich Höhepunkt des Evangeliums, sondern auch dem ganzen lukanischen Doppelwerk zugrunde: [„...] Luke’ proof-from-prophecy theology is the heart of his concern in chapter 24[…] Luke’s central theological idea throughout the two-volume work [...].“ Wie Günther Wasserberg, Aus Israels Mitte Heil für die Welt, 197, in Anlehnung an Joseph A. Fitzmyer, Luke (X-XXIV), 1565, meint, macht Lukas hier seinen Leser auf ein Lektüre- und Interpretationsmodell für das AT aufmerksam. So schreibt Fitzmyer, ebd: „yet refrains from specifying the passages in OT prophetic writings that he [Lukas] has in mind. He thus becomes the model for much of later Christian global reading of the OT as praeparatio evangelica “. Zum Beispiel findet sich die Rezeption dieser Lektüreart auch noch in Apg 8, 26-40; vgl. auch. Hans Conzelmann, Grundriss der Theologie des Neuen Testaments, 91: „In Lk 24,26f. 44f. wird ein hermeneutischer Zirkel sichtbar: Man versteht das Schicksal des Christus aus dem Alten Testament, wo es geweissagt ist, deutet aber das Alte Testament seinerseits von der Auferstehung Christi her.“ Siehe auch: Peter Stuhlmacher, Jes 53 in den Evangelien und in der Apostelgeschichte, in B. Janowski (Hg.), Der leidende Gottesknecht. Jesaja 53 und seine Wirkungsgeschichte, FAT 14, 93-106, besonders 97. 100f. Vgl Lk 24,29. Logischerweise nötigt die von den Jünger betonte Verdoppelung der Zeitangabe (pro.j e`spe,ran evsti.n kai. ke,kliken h;dh h` h`me,ra) den Mitwanderer, bei ihnen zu bleiben.
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beabsichtigt,194 ist schwierig. Aber man muss die Handlung in Verbindung mit der „Augenöffnung“ der Jünger betrachten,195 die der Erzähler so schildert, dass die Augen der Jünger beim Essen, insbesondere angesichts dieser Handlungsreihenfolge mit dem Brot geöffnet werden. Da die Jünger im Erklärungszusammenhang des Erzählens Jesus wiedererkennen können, müssen wir die feste Handlungsreihenfolge mit der Augenöffnung verbinden und deshalb ist die Augenöffnungsszene ohne diese Handlung nicht erklärbar.196 194
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In der Funktion der Offenbarung dieser Szene nimmt Joel B. Green, The Gospel of Luke, 849f., Bezug auf das Speisungswunder in Lk 9,16. So schreibt sie: „Importantly, that earlier meal had a revelatory function[…]Afterward, Peter acknowledge that Jesus is the Messiah“; Hans Klein, Das Lukasevangelium, 733, sieht zwar auch einen Bezug auf die Speisung der 5000, aber er interpretiert den Charakter der Szene als Abendmahl. Ähnlich Richard J. Dillon, From Eye-Witnesses to Ministers of the World, 149f., er vermutet, dass „eucharistic and Eastertraditions“ im Zusammenhang mit dem Speisungswunder eine mögliche Grundlage der Mahlszene ist. Joseph Fitzyer, The Gospel According to Luke,1568 und Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 981, sehen eine Anspielung auf die beiden Grundhandlungen mit dem Brot in der Abendmahls- und Speisungswunderzene; François Vouga, Une théologie du Nouveau Testament, 268, äußert sich über la fraction du pain so: „Le lieu symbolique du passage de l’ absence du Jésus présence de l’ Absent“. So bezieht sich la fraction du pain für ihn im Vergleich zum Wortlaut der Abendmahlsszene in Lk 22,19 auf das Abendmahl; Andreas Lindemann, Einheit und Vielfalt im lukanischen Doppelwerk, in Joshep Verheyden (Ed.), The Unity of Luke-Acts, BEThL 142, 223-253, ordnet unter dem Titel „Abendmahl und Gemeinschaftsmahl im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte“ so ein, dass die Wiedererkennungsszene Lk 24,30 nicht an das Abendmahl (Eucharistie) Lk 22, sondern an das Speisungswunder Lk 9 anknüpft. Darüber hinaus meint er auch, wenn Lukas vom Brotbrechen in der Apostelgeschichte rede, so denke er immer an die Kontinuität jener Mahlgemeinschaft, die „in der Speisungserzählung symbolisch vorabgebildet worden war“; ähnlich Robert C. Tannehill, The Narrative Unity of Luke-Acts, 289f., er behaupt, da er das Emmausmahl eher für verwandt mit dem Abendmahl hält: „The memory of Jesus presiding at the meal and breaking the bread turns such meals into symbol of continuity in fellow with Jesus[...]Breaking of bread is a repeated phrase in Acts used to designate the believer’s fellowship meals (Acts2:42, 46; 20:7, 11)“. Vgl. David P. Moessner, Lord of the Banquet, 183-185; David Michael Crump, Jesus the Intercessor, 106f., meint allerdings, bedingt durch sein Thema „Prayer”, Jesus sei erkannt worden, als er betete; Richard J. Dillon, From Eye-Witnesses to Ministers of the World, 105-106; John Gillman, The Emmaus story in Luke-Acts revised, 169 : „To be emphasized is that the recognition of Jesus in the Emmaus story takes place not at the blessing but at the breaking of the bread (24,35)“. Gegen Hans Klein, Das Lukasevangelium, 733: „Nicht an der Art, wie er das Brot brach, als an den Worten, nicht an seiner Stimme. Der Schleier von ihren Augen wird weggenommen. Es geschieht Offenbarung, die nicht konkretisiert werden kann.“ Versteht man unter Erzählung die arrangierten Ereignisse der Narrative in ihrer chronologischen Reihenfolge, so muss man zugleich die bewussten Autorhandlungen im Hin-
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Abgesehen vom möglichen Interpretationscharakter des Mahls197 ist die Szene ausdrücklich als einfaches Gastmahl198 inszeniert: ein fremder Mitwanderer, den die Jünger unterwegs kennenlernten, wird zum Abendessen eingeladen und beim Essen wird er plötzlich zum Hausvater.199 Hier kommt es darauf an, dass der Erzähler die Handlung Jesu präzise und nach einer festen Reihenfolge geschildert hat. In dieser Figurendarstellung200 geht es für Lukas um die Metakommunikation, durch die der Erzähler ohne Rede und Erklärung mit seinem Leser kommuniziert.201 Die Figurendarstellung in der Metakommunikation des Erzählers müssen wir nicht zuletzt hier wahrnehmen. In der Tat kennzeichnet diese Figurendarstellung in vier Bewegungen einer festen Reihenfolge – labei/n, euvlogei,n/euvcaristei,n, kataklaei,n/klaei,n und (evpi) dido,nai – in der lukanischen Narrative niemand anderen als Jesus.202 Es ist auch deutlich, dass der Erzähler den Auferstandenen nicht mit der personalen Sache, Stimme oder Gestalt,203 sondern mit der dargestellten, gewohnten und spezifischen Handlung identifizieren möchte. In diesem Zusammenhang konnten die Erzählfiguren in der erzählten Welt Jesus als Auferstandenen hinsichtlich der Handlungskontinuität des irdischen Jesu sofort wiedererkennen und zugleich fungiert diese Figurendarstellung für den Leser als Metakommunikati-
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blick auf den Kausalzusammenhang der Ereignisse beachten. Siehe auch Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 108-111, besonders 108f. Siehe das Zitat von E. M. Forster. Hier stellt sich natürlich die Frage, worauf sich die Mahlszene angesichts der Kontinuität und Einheit des lukanischen Doppelwerks beziehen soll? Auf das Abendmahl oder das bloße Essen? Oder ein Gemeinschaftsmahl? Vgl. auch Anm. 87. Vgl. David P. Moessner, Lord of the banquet, 184. Für den Erzähler ist es egal, ob die Rolle des Hausvaters von Jesus selbst oder auf Wunsch der Jünger übernommen wird. Vgl. Wolfgang Iser, Der Implizite Leser, 32f. Angeblich kann man nicht sicher entscheiden, ob die Emmausjünger beim Speisungswunder oder beim Abendmahl dabei waren. Aber tatsächlich wird diese Handlungssequenz in der lukanischen Erzählwelt immer mit Jesus identifiziert. Deshalb muss man auch beachten, dass Lukas die Handlung des Paulus (labei/n, euvcaristei,n,klaei,n, klaei,n) bei der Mahlszene in Apg 27,35f anders darstellt, da er bewusst nach dem Wort klaei,n nicht dido,nai, sondern evsqi,ein und proslamba,nesqai benutzt, um die Verwechselung mit einer Handlung Jesu zu vermeiden. Vgl. Dieter Zeller, Erscheinungen Verstorbener im griechisch-römischen Bereich, 1-19, hier 9, er bietet eine Totenerscheinungserzählung (qauma,sia) von Phlegon von Tralleis (2.Jh.n.Chr): „Die Mutter reagiert zunächst erschrocken und ungläubig, späht aber dann doch ins Gastgemach und glaubt, die Kleider und die Art des Aussehens[ihrer Tochter]zu erkennen; vgl. auch Joh 20,16 und A. Oepke, Art. Auferstehung II (des Menschen), RAC I, 930-938.
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on. Deshalb sind die einzelnen Elemente, die als Handlungsrequisiten im Erzählten dargestellt werden, für die Identifikation der Person Jesu nebensächlich.204 So ist es m.E. unwichtig, in welchem Moment der Handlungsreihenfolge Jesu die Augen der Jünger geöffnet werden, ob im Augenblick des Lobpreisens oder Brotbrechens. (iii) Raffungsdialog über die Erfahrung Die Episode, in welcher der Auferstandene durch die kontinuierliche Handlungsabfolge in der Erzählung identifiziert wird, gelangt nun langsam ans Ende. Auffallend ist, dass Lukas im Raffungsdialog nur das zusammenfasst, was auf dem Wege geschehen war, und die soeben geschehene Wiedererkennungsszene beim Gastmahl nicht erwähnt.205 Eine Erklärung dafür ist wohl darin zu suchen, dass er einen synergetischen Effekt beabsichtigt. D.h. die Belehrung bzw. die Schriftauslegung Jesu auf dem Weg ist zur Wiedererkennung Jesu von der Bedeutung her äquivalent.206 Darum hat er in Analogie zu dihnoi,cqhsan oi` ovfqalmoi. bei der Mahlszene ganz bewusst dih,noigen ta.j grafa,j im Raffungsdialog wieder verwendet. So sprechen die Jünger zueinander retrospektiv, ihr Herz brannte, als Jesus ihnen auf dem Weg die Schriften auslegte.207 In der so dargestellten Wahrnehmungssequenz der Erkennung Jesu in der Emmauser-
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Gegen John Gillman, The Emmaus story in Luke-Acts revised, 163-188, hier 16ff, er meint in Verbindung mit dem Speisungswunder Lk 9,10-22, dass Brot und Fisch als „powerful symbol“ in der Emmauserzählung eine Rolle spielen. Einmal in der Mahlszene Lk 24,30 (a;rtoj) und sodann bei der Erscheinung vor den Elf und anderen in Lk 24,42 (ivcqu,j); Andreas Lindemann, Einheit und Vielfalt im lukanischen Doppelwerk, 223-253, geht davon aus, dass das Emmausmahl aufgrund des fehlenden Kelchs keinen Abendmahlsbezug hat. Deshalb kann man es als Gemeindemahl verstehen und deswegen schildert Lukas den weiteren Vorgang absichtlich ohne Kelch. So bezeichnet er zum Beispiel bloßes Brotbrechen als Gemeindemahl, um die Singularität des Abendmahls zu betonen, obwohl man selbstverständlich beim Essen auch einen Kelch benutzt. Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 34: Hier führt der Erzähler seinen Leser „[…]in der Chronologie der Ereignisse nur wenigen Stunden vom gegenwärtigen Augenblick in der erzählten Geschichte zurück und umfaßt überdies nur einen kleinen Zeitraum von erzählter Zeit.“ Robert C. Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, 295: „The summary of the Emmaus scene in v.35 gives the conversation on the road equal importance with the recognition at the meal (note also the reminder of the conversation at the end of the meal scene in v. 32)“ Diese Erzählabsicht verrät Lukas sofort durch den summarischen Bericht der Emmausjünger in der Jerusalemszene (Lk 24, 35), wo es sich um die Erscheinung vor Simon handelt. Vgl. auch Robert C. Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, 295.
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zählung – mit den Ohren hören, mit den Augen sehen und mit dem Herzen fühlen – bezeugt Lukas die Zuverlässigkeit der Auferstehung.208 Schließlich kommt die erste Erscheinungsepisode mit der kunstvollen Harmonisierung mit dem Erzählanfang in Lk 24,13 an ihr Ende, wo erzählt wird, dass die Emmausjünger auvth/| th/| w[ra| upe,streyan eivj VIerousalh.m zurückkehren.209 Damit wird die Intention von Lukas gegenüber Markus deutlich, der sich an Galiläa orientiert.210 Denn für Lukas ist Jerusalem der Ort, wo nicht nur die Geschichte Jesu spielt, sondern auch die der der Kirche beginnen soll. So kehren die Jünger nach Jerusalem zurück, was zugleich die Jerusalemer Erscheinung vorbereitet. c) Episode zwei: die Erscheinung vor Simon Im Vergleich zur ersten und dritten Erscheinungsepisode ist die zweite Erscheinungsepisode, die Erscheinung vor Simon, die sich grob dreiteilen lässt, relativ kurz und strukturell einfach: der erste Teil ist die Einleitung (V.33b); der zweite Teil, der die Erscheinung in Form der dritten Person berichtet (V.34), steht mit dem dritten Teil, der das Erlebnis der Emmausjünger anaphorisch rekapituliert, parallel (V.35). (1) Erzählorientierung:211 Lk 24,33b Auffallend ist vor allem, dass der Erzähler hier die Erscheinung vor Simon bzw. Petrus nicht erzählt, sondern sie nur indirekt berichtet, indem sie zitiert erscheint.212 So könnte man vermuten, dass bei Lukas die Erscheinung vor Simon
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Versteht man mit Schwermer (Anm. 173) die Blindheit der Emmausjünger als „einen Ausdruck der Verstockung“, so lässt sich die hier von Lukas dargestellte Wahrnehmungssequenz am Ende des Evangeliums gut mit der Reaktion der römischen Juden auf die Paulusrede am Ende der Apostelgeschichte vergleichen, wobei Paulus das Verstockungswort aus Jes 6,9f (...mh,pote i;dwsin toi/j ovfqalmoi/j kai. toi/j wvsi.n avkou,swsin kai. th/| kardi,a| sunw/sin kai. evpistre,ywsin( kai. iva,somai auvtou,jÅ) zitiert. Zum Verstockungswort und seiner lukanischen Rezeption siehe ferner Günter Wasserberg, Aus Israels Mitte – Heil für die Welt, 98-112. Die hier eingesetzte Zeit- und Ortsangabe darf nicht für einen neuen Erzählanfang, sondern muss als das Erzählende verstanden werden, wie in Lk 1,23; 1,56; 2,45; 24,12; Apg 1,12a; 12,17; 16,40. Vgl. auch Richard J. Dillon, From Eye-Witness to Minister of the Word, 93. Vgl. Mk 16,7; und auch Mt 28,7.10.16. Zum verwendeten Begriff der „Orientierung“ siehe den Abschnitt „Minimalstruktur“ unter dem Titel „Vorgehen und methodischer Ansatz“, S. 4-11 dieser Arbeit und die dortige Literatur (!). Mit Recht fragen manche Exegeten an dieser Stelle, warum Lukas die Erscheinung vor Petrus nicht erzählt. Vgl. Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Em-
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nicht in Galiläa stattfindet wie bei Matthäus und Johannes, denn eine dortige Erscheinung wiederspräche seiner Erzählabsicht, weil er die Geschichte Jesu im Zentrum Israels verankern will.213 Aus diesem Grunde hat er die Erscheinungsepisode bewusst nicht direkt, sondern lediglich indirekt berichtet: „o;ntwj hvge,rqh o` ku,rioj kai. w;fqh Si,mwni“. Das stimmt gut mit dem Osterbekenntnis in den frühchristlichen Anfängen überein.214 Da man der vereinfachten Glaubensformel überhaupt keine Zeit- und Ortsinformationen entnehmen kann, ist es für Lukas aber möglicherweise praktisch, mit dieser Formel seine dih,ghsij zu strukturieren, um die Erscheinung vor Simon zwar zu erwähnen, ohne sie jedoch detailliert zu erzählen. Daher erfahren wir aus der lukanischen Erzählung nicht, wo und wann sich die Erscheinung vor Simon ereignet hat, weil der Erzähler sie, seiner Intention gemäß in seinen Erzählvorgang einschiebt. So hat Lukas möglicherweise die Erscheinung Jesu vor Petrus in Aufnahme der Glaubensformel geschildert, um Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit der Tradition wegen seiner Innovation zu vermeiden. Schließlich wird die Erscheinungsepisode des Simon, die extradiegetisch, nämlich außerhalb der lukanischen diegese passiert, indirekt in Jerusalem erzählt. (2) Die Erscheinung vor Simon in einem beweglichen- freien Satz215: Lk 24,34 Wie wir oben bereits angedeutet haben, werden wir untersuchen, wie und auf welche Weise die Erscheinungsepisode vor Petrus durch die Emmausepisode einheitlich gebildet wird. Wie die Liste der Erscheinungszeugen in der vorpaulinischen Tradition von 1 Kor 15,3-7 zeigt, gab es möglicherweise in den frühchristlichen Anfängen das Phänomen der Protophanie,216 das fest mit Petrus verbunden war. Deswegen wollte Lukas nicht das Risiko eingehen die bekannte Erscheinungsgeschichte vor Simon, die natürlich mit Orts- und Zeitangaben verknüpft ist, zu modifizieren. In diesem Zusammenhang dient die von Lukas adoptierte Glaubensformel, die keine chronologische und geographische Angabe hat, als ein beweglicher freier Satz. In der Tat ist sie von der am Erzählanfang angegebenen Zeit- und Ortangabe unabhängig, weil es sich hier nicht darum
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mausjünger, 116; Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium 982; Joel B. Green, The Gospel of Luke 850; Richard J. Dillon, From Eye-Witness to Minister of the Word, 98f. Vgl. die sich an Campenhausen anlehnende Vermutung von Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, 116. Im Einklang mit 1Kor 15,5 versteht man die Erscheinung vor Petrus als alte Bekenntnistradition. Für den hier verwendeten Begriff des „beweglichen-freien Satzes“ siehe den Abschnitt „Minimalstruktur“ unter dem Titel „Vorgehen zum methodischen Ansatz“, S. 4-11 dieser Arbeit und die dortige Literatur (!). Vgl. Joh 20,11-18 u. Mk 16,9-11. Vgl. auch den obigen Abschnitt „Erster Bericht: Erscheinung vor Maria Magdalena“, S. 69-71 dieser Arbeit.
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handelt, wann die Erscheinung vor Simon wirklich geschehen ist, sondern nur, dass sie berichtet (le,gontaj) wird.217 Somit muss man, wenn man wissen will, wann das Ereignis in der lukanischen Erzählfolge geschehen kann, alle potentiellen Satzpositionen befragen, indem man die Semantik untersucht. Daher kann der bewegliche freie Satz, der in Berichtsform „die Erscheinung vor Simon“ enthält, im Erzählverlauf zurückgehen, solange keine „Veränderung in der temporalen Abfolge der ursprünglichen semantischen Interpretation“218 entsteht. Tatsächlich beschränkt sich der Satz „w;fqh Si,mwni“ chronologisch auf „hvge,rqh o` ku,rioj“. Nach der Semantik der Erscheinungserzählung ist es deshalb legitim, sich darauf zu beschränken, dass Petrus zuletzt das leere Grab Jesu besucht, untersucht und bestätigt hat. D.h. die temporale Grenze219 des Berichts über die Erscheinung Jesu vor Simon ist völlig unabhängig von der Erscheinungsepisode der Emmausjünger. Damit kann die Erscheinung vor Simon bzw. Petrus, die in einem beweglichen-freien Satz ausgedrückt ist, irgendwo nach Lk 24,12 platziert werden, ohne die ursprünglichen Semantik von Lukas zu verändern. Schließlich kann der Erzähler mit der Anwendung des beweglichen-freien Satzes als Glaubensformel der Auseinandersetzung mit der Tradition ausweichen. Wie oben schon gesagt, assoziierte der Leser auf der textexternen Ebene möglicherweise den Bericht über die Erscheinung vor Simon (kai. w;fqh Si,mwni) mit dem alten Osterbekenntnis im 1Kor 15,5a (kai. o[ti w;fqh Khfa), und richtet seine Aufmerksamkeit darauf. Aber die Namenennung „Si,mwn“ fungiert für den Leser als ein ästhetisches Signal, das anzeigt, dass es in der Erzählwelt um die persönliche Erfahrung des Petrus geht, wie zum Beispiel Lk 4,38-39 und 5,1-11 sowie 22,31-33, wo nicht Petrus, sondern Simon genannt wird. In diesem Zusammenhang handelt es sich hier wiederum um eine persönliche Erfahrung des Petrus, nämlich um seine Rehabilitation, wie bei Petrus am 217
218 219
Bei diesem Partizipialsatz le,gontaj (Akk.)gibt es auch ein textkritisches Problem und damit verbunden eine andere Interpretationsmöglichkeit. Beim Subjekt der Aussage o;ntwj hvge,rqh o` ku,rioj kai. w;fqh Si,mwni lässt sich fragen, wer das ausspricht, ob die versammelten Elf und loipoiv, oder die Emmausjünger. Denn die Lesart D Or liest le,gontej (Nom.). In diesem Fall berichten die Emmausjünger selbst ihre eigene Erfahrung wie in Lk 24, 35 und dieser Bericht gehört freilich zu einem Erzählteil der ersten Erscheinungsepisode. Demzufolge ist Simon hier nicht mehr Simon Petrus, sondern der Simeon, Sohn von Kleopas, welcher der Nachfolger des Herrenbruders Jakobus in der Jerusalemgemeinde war. Vgl. Walter Grundmann, Das Evangelium nach Lukas, 447f; Erich Klostermann, Das Lukasevangelium, 238f; I. Howard Marschall, The Gospel of Luke, 899f; Zu den Personen Kleopas und Simeon siehe auch Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 977. William Labov und Joshua Walletzky, Erzählanalyse, 104. Vgl. William Labov und Joshua Walletzky, Erzählanalyse,102-104.
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Zweiter Teil: Die Erscheinung Jesu
Grab (Lk 24,12).220 Damit bereitet Lukas die Grundlage der repräsentativen Rolle des Petrus im zweiten Buch vor. (3) Der synergetische Raffungseffekt in der Emmauserfahrung: Lk 24,35 Der Erzähler schließt ganz bewusst den summarischen Bericht an die Glaubensformel an, womit er der Petruserscheinung stillschweigend den ersten Rang verleiht,221 obschon er in der Tat die Emmauserzählung, seiner Intention entsprechend, zuerst geschildert hat. Mit dieser Erzählweise rahmt er nicht nur die Erscheinung vor den Emmausjüngern, sondern auch die Erscheinung vor Simon ein. Damit steht die Emmausepisode als Äquivalent der Erscheinung vor Simon gegenüber.222 Nun wird der Leser vermuten, besonders durch die ausführlich geschilderte Emmausepisode und durch die an den Erscheinungsbericht über Simon angehängte Raffung, dass die nicht erzählte Erscheinung vor Simon Petrus der Emmausepisode ähnelte. In diesem Erzählzusammenhang resümiert der Erzähler durch den Mund der Emmausjünger den Episodenhöhepunkt, also zweierlei: ta. evn th/| o`dw/| und w`j evgnw,sqh auvtoi/j evn th/| kla,sei tou/ a;rtou.223 So ist die Erscheinung Jesu vor Simon jetzt im Kontext des lukanischen Erscheinungsprogramms, in Bezug auf Zeit und Ort verankert. Und ihre Verschmelzung mit der lukanischen Erzählwelt lässt die Emmausepisode glaubhaft erscheinen. d) Episode drei: Die Erscheinung vor den Elf und anderen in Jerusalem Die lukanische Erscheinungserzählung steigert sich nun, da sich die Zahl der Augenzeugen zur Gruppe vergrößert. Wie es Lukas in seinem Erscheinungsprogramm beabsichtigt, weist die dritte Erscheinungs- zwar Ähnlichkeiten mit der Emmausepisode auf, aber ihr Charakter und Gewicht sind anders, denn der Er220 221
222
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Hier geht es eher um eine stellvertretende Rolle des Petrus. In Anlehnung an Campenhausen betrachtet Schwemer die Szene des wunderbaren Fischzugs als erste Erscheinungsszene, die Lukas in Lk 24,35 jedoch nicht erzählt. Darüber hinaus hält sie Petrus für den ersten Auferstehungszeugen. Siehe Anna Maria Schwemer, Der Auferstandene und die Emmausjünger, 116. In dieser Raffung bewirkt Lukas noch einmal einen synergetischen Effekt wie in Lk 24,32. Hier schaltet er die anaphorische Raffung der Erscheinungserfahrung der Emmausjünger in den Erscheinungsbericht der Elf und loipoiv ein. Vgl. auch Robert C. Tannehill, 295; Odette Mainville, De Jésus à l’ Église, 201f. Das Brotbrechen ist hier eine Denotation für ein Mahl, darum wird eine Bewegung anstatt der gesamten Handlung für ein Mahl (evn th/| kla,sei tou/ a;rtou) wie in Lk 24,30 gebraucht. So ist in gleicher Weise in Lk 24,41f das Fischessen eine Konnotation des Brotbrechens. In diesem Zusammenhang erklärt der Erzähler später in Apg 10,41: oi[tinej sunefa,gomen kai. sunepi,omen auvtw/| meta. to. avnasth/nai auvto.n evk nekrw/n. Vgl. auch Andreas, Lindemann, Jesus als Christus bei Paulus und Lukas, 429-461, hier 448.
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zähler konzentriert sich nun massiv auf einen Auferstehungsbeweis. Diesen führt er einerseits direkt, indem sich der Auferstandene körperlich zeigt und sogar etwas isst, und andererseits indirekt, indem die Jünger belehrt werden, da ihnen nochmals die Schriften ausgelegt werden. Abschließend erfolgt die Missionsbeauftragung. Dass Christus wirklich auferstanden und ihnen erschienen ist, soll nicht länger mehr persönliche Erfahrung und Überzeugung einzelner bleiben, sondern vielmehr soll dies nun zur Bekehrung und Sündenvergebung allen Völkern verkündigt werden. Die dritte Erscheinungsepisode lässt sich grob in vier Abschnitte gliedern: Erzählorientierung (Lk 24,36-38); Beweisführung des Auferstandenen (Lk 24,3943); Belehrung durch ihn (Lk 24,44-45) und Missionsauftrag (Lk 24,47-49). (1) Erzählorientierung: Lk 24,36-38 In Form des genitivus absolutus (tau/ta de. auvtw/n lalou,ntwn) schließt die dritte Erscheinungsepisode an die vorausgehende Zeit- und Ortsangabe fließend an, die sich mit Lk 24,33 (auvth/| th/| w[ra| u`pe,streyan eivj ~Ierousalh,m) verbinden lässt. Immer noch handelt es sich um denselben dritten Tag und denselben Ort, Jerusalem. Durch die anaphorische Anwendung224 gelingt es dem Erzähler Kohärenz und Kontinuität zur vorangegangenen Episode herzustellen. Der Auferstandene, der plötzlich in der Mitte (evn me,sw|) der „Elf und anderer“ auftritt, bewirkt trotz seines Friedensgrußes225 Schrecken und Furcht, denn sie meinen einen Geist (pneu/ma)226 zu sehen. Tatsächlich hat sich der Erzähler bisher nicht auf die Authentizität und den Beweis der Erscheinung des Auferstandenen konzentriert, weil sie ja möglicherweise zur Kommunikationsprämisse gehört, wo der Erzähler sich mit dem Leser im Voraus implizit im Einverständnis befindet. Daher kann der Leser es einerseits problemlos akzeptieren, dass der Erzähler die erste und zweite Erscheinungsepisode in einem geisterhaften Kolorit ausmalt.227 Aber andererseits kann der Leser aufgrund der Erzählweise vermuten, dass in der lukanischen Erscheinungserzählung noch etwas verborgen ist, was der Erzähler mitteilen möchte, wenn er als allwissender Erzähler die Jüngermeinung so darstellt: „evdo,koun pneu/ma qewrei/n“. In der Tat 224 225 226
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Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 41. Zum textkritischen Problem und zur Texttradition siehe Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 984f. Statt pneu/ma liest zwar die D Lesart fa,vntasma in Lk 24,37, aber da es sich um den Beweis des Auferstandenen handelt, möchte Lukas das Wort fa,vntasma gewiss vermeiden, da es von der Nuance her besonders eine Geistererscheinung kennzeichnet. Anders Mk 6,49; Mt 14,26; vgl. auch Walter Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch, 1701. Wie zum Beispiel in Lk 24,31 und Lk 24,36. In der Erzählwelt verschwindet der Auferstandene vor den Augen der Emmausjünger plötzlich und erscheint in der Mitte der Jünger in Jerusalem ebenso unversehens.
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Zweiter Teil: Die Erscheinung Jesu
muss Lukas die geisterhafte Erscheinung des Auferstandenen in seiner Erzählung überwinden. So gewinnt er an dieser Stelle die Erzähllegitimation, um sich mit dem Thema der Beweisführung für die Authentizität der Auferstehung Jesu noch einmal zu beschäftigen.228 Lukas möchte so überzeugend darstellen, dass Jesus wirklich - körperlich und geistlich - auferstanden ist, was auch seinem Motto im Proömium entspricht.229 Die Beweisführung setzt wiederum wie in Lk 24, 25 mit einem Tadel durch den Auferstandenen ein (ti, tetaragme,noi evste, kai. dia. ti, dialogismoi. avnabai,nousin evn tai/j kardi,aij u`mw/nÈ). (2) Die Beweisführung des Auferstandenen: Lk 24,39-43 Nun betont der Erzähler die Realität der Auferstehung, indem er darstellt, wie der Auferstandene an die Jünger appelliert, die Spuren an seinen Händen und Füßen nicht nur zu betrachten (i;dete), sondern sogar zu betasten (yhlafh,sate,). Auffallend ist, dass Lukas mit den Händen und Füßen die Kreuzigung Jesu detailliert konkretisiert230 und so den Auferstandenen mit dem Gekreuzigten identifiziert. Da die Jünger trotz der Demonstration der Körperlichkeit - Hände und Füße des Auferstandenen - den Auferstandenen weiterhin als Geist ansehen (o[ti pneu/ma sa,rka kai. ovste,a ouvk e;cei) erlangen sie noch nicht den Glauben an die Auferstehung, was der Erzähler dadurch ausdrückt, indem er avpo. th/j cara/j ergänzt. Diese Ergänzung231 vertieft den apologetischen Beweisvorgang des Erzählers. Endlich fragt der Auferstandene nach etwas Essbarem und isst demonstrativ ein Stück eines gebratenen Fisches (ivcqu,oj ovptou/ me,roj)232 vor den Jüngern (evnw,pion auvtw/n). Hier kommt plötzlich nicht Brot, sondern ein gebratener Fisch vor.233 Um darauf eine Antwort zu finden, könnte man folgende Lösung anbie228 229 230
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232 233
Hier liegt von Anfang an eine starke apologetische Tendenz vor. Siehe Hans Klein, Das Lukasevangelium 736; Walter Grundmann, Das Evangelium nach Lukas, 449. Vgl. Lk 1,3: e;doxe kavmoi. parhkolouqhko,ti a;nwqen pa/sin avkribw/j kaqexh/j soi gra,yai. Vgl. Lk 23,33; 24,7.20. Mit dem Close-Up (Vergrößerung) reduziert der Erzähler den Blickwinkel des Lesers auf die Hände und Füße, um ihm die Gegenstände der Erzählwelt nahe zu bringen. Siehe „Nähe-Distanz-Relation“ in der filmischen Einstellung von Knut Hickethier, Film- und Fernsehanalyse, 57-61; vgl. auch Reinhold Zwick, Montage im Markusevangelium. Studien zur narrativen Organisation der ältesten Jesuserzählung, SBB 18, 91-98. Mit dem Einschub schaltet der implizite Erzähler einen Kommunikationskanal für den impliziten Leser ein. Er hat wohl eine Rückfrage des Lesers im Kopf: Endet damit die Beweisführung des Auferstandenen schon wirklich? Ist damit wirklich alles gesagt? Folglich muss das Erzählen weitergehen. Vgl. Tob 6,6; Mk 5,43; dazu siehe Rudolf Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 229. Dass man fragt, woher der Fisch kommt, liegt nicht im Erzählerinteresse. Vgl. Hans Klein, Das Lukasevangelium, 737. Wie er kann man freilich fragen und antwor-
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ten: Für den Erzähler sei es zu trivial, die Szene so darzustellen, dass der Auferstandene wiederum Brot isst, wie in der ersten Erscheinungsepisode. So könnte er einen gebratenen Fisch als Pendant wählen.234 Doch zeigt damit der Erzähler unmittelbar und endgültig die Tatsache, dass der Auferstandene lebendig und gegenwärtig war, und nicht als ein Geist erscheint, der weder Fleisch noch Knochen hat und nicht essen kann.235 (3) Die zweite Belehrung durch den Auferstanden: Lk 24,44-45 Nachdem der Erzähler durch die sinnliche Wahrnehmung, wie Betrachtung und Berührung sowie Hören die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu gezeigt hat, vollzieht er nun einen Beweis anhand der Schriften, um ein geistiges Verständnis (to.n nou/n) der Jünger zu erwecken. Er markiert deutlich den Wechsel des apologetischen Mittels mit der einleitenden Form ei==pen de. pro.j auvtou,j. Darum geht es nun wiederum um den Auferstehungsbeweis.236 Hier ist aber zu beachten: dem Auferstandenen richtig zu begegnen und ihn richtig zu erkennen bedeutet für Lukas ihn in den Schriften zu finden und aus ihnen zu verstehen.237 Aus diesem Grunde schildert er nicht nur in der Emmausepisode, sondern auch in der dritten Erscheinungsepisode wiederum die Schriftauslegung. Wie schon vorher bedeutet sie eine wirkliche und gegenwärtige Begegnung, genauso wie man den Auferstandenen sieht, hört, und seine Hände und Füße berührt, oder mit ihm etwas isst.238
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ten:„Woher sie[die Jünger] ihn[den gebratenen Fisch] haben, ist unwichtig[...] Warum aber nicht Brot?“. Diese selbstgeszellte Frage beantwortet er aber nicht. Vgl. auch die johanneische Erscheinungsszene, Joh 21,12-14, in der nicht nur Fisch, sondern auch Brot vorkommt. In der lukanischen Narrative sind Fisch und Brot wechselseitig alternativ und äquivalent, wie Lk 9,16 und 11,11 zeigen. Anders John Gillman, The Emmaus Story in Luke-Acts revised, 168f, er meint im intertextuellen Vergleich zum Speisungswunder (Lk 9,1017), dass hier der Fisch (ivcqu,j) als “powerful symbol” für die Koinoia zwischen Jesus und den Jüngern (Lk 24,42) fungiert. Zum Fisch als Symbol für Eucharisie und Taufe siehe Reiner Dillman u.a., Lukasevangelium, 429. Vgl. Tob12,19: ouvk e;fagon ouvde. e;pion avlla. o[rasin u`mei/j evqewrei/te; vgl. auch Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 229, besonders Anm. 2. Sowohl Gerd Petzke, Das Sondergut des Evangeliums nach Lukas, 205, als auch Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 990, meinen, dass die Beweisführung mit dem Fischmahl des Auferstandenen endgültig beendet sei. Aber dagegen ist zu beachten, dass beim lukanischen Erscheinungsprogramm die Schriftauslegung bzw. Belehrung des Auferstandenen als Beweis am Episodenende erscheint (z.B. in Lk 24,27 und Lk 24,44-45). Vgl. auch Robert C. Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, 293; Richard J. Dillon, From Eye-Witness to Minister of the Word, 198-199. Wie in Apg 8, 26-40. Vgl. Apg 10,40-42; siehe auch Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 988.
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Nun führt der Erzähler durch die Figurenperspektive des Protagonisten Jesus239 vom gegenwärtigen Augenblick der Jünger in der erzählten Geschichte zurück240 in das Leben und in die Lehre Jesu. Was der irdische Jesus die Jünger gelehrt und mit seinem Leben gezeigt hat, ist nichts anderes als die Schrifterfüllung241 durch ihn selbst. Im Einklang mit Lk 24, 32 schließt der Erzähler mit dem Ausdruck to,te dih,noixen auvtw/n to.n nou/n tou/ sunie,nai ta.j grafa,j die apologetische Beweisführung des Auferstandenen. (4) Beauftragung zur Weltmission durch den Auferstandenen: Lk 24,46-49 Bisher hat der Erzähler durch den Mund des Auferstandenen den Hinweis auf ihn selbst gegeben, der schriftgemäß erfüllt werden soll, indem er mit der Einleitungsform „ei=pen de. pro.j auvtou,j“ in Lk 24,44 beginnt. Parallel dazu (kai. ei=pen auvtoi/j) paraphrasiert er es nun. Der Auferstandene steht jetzt in der Gegenwart der erzählten Zeit,242 indem der Erzähler durch die Figurenperspektive die Chronologie der Erzählung darstellt. So blickt er einerseits zurück auf die durch die Schriften belegte Vergangenheit, die in der Geschichte Jesu geschehen ist,243 und andererseits sieht er eine erfüllte Zukunft, die durch die Geschichte der Kirche entsteht.244 In dieser narrativen Anachronie,245 nämlich die Auswechselung der chronologischen Ordnung von Erzählzeit in der Figurenrede ist auffallend, dass Lukas den Kerninhalt der Verkündigung in den drei Infinitiven (paqei/n, avnasth/nai, khrucqh/nai) zum Ausdruck gebracht hat, während aber die beiden ersten Infini-
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Hier hängt der Wahrnehmungshorizont vom Protagonisten Jesus ab. Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 34. Man beachte die Vergangenheitsform von evla,lhsa; vgl. auch Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 147. Zur Vorbereitung eines häufigen Psalmenzitats für die Beweisführung in seinem zweiten Buch wird die vorher von Lukas zweigeteilte Schrift, nämlich Gesetz und Propheten (Lk 24,27) nun dreifach gegliedert. Vgl. Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium, 990. Robert C. Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, 294, er behauptet, Lk 24,44-49 sei als Schlüssel für die Plots in review und preview zu verstehen. Vgl. Lk 24,46. Vgl. Lk 24,47. Unterteilt man die chronologisch aufeinander folgenden Ereignisse: A, B, C, erscheint hier eine Umstellung (Anachronie) der chronologischen Ordnung: B (Erzählte Gegenwart) – A (Erfüllte Vergangenheit) – C (Erfüllende Zukunft). Vgl. auch unten den Abschnitt „Analepse vs. Prolepse“, S. 162-163 dieser Arbeit; ferner Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 32-39; vgl. auch Gérard Genette, Die Erzählung, 22-31.
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tive, deren Subjekt durch Jesus besetzt ist, schon erfüllt sind, ist der letzte Infinitiv, dessen Subjekt jetzt den Jüngern vorbehalten ist, noch zu erfüllen.246 Das ist einerseits die Verheißung Jesu, andererseits in den Schriften so geschrieben (ou[twj ge,graptai). Die Jünger Jesu sind hierfür die Zeugen (ma,rturej),247 daher sollen sie nicht nur die Leiden und Auferstehung Christi von den Toten am dritten Tage, sondern auch die Sündenvergebung (meta,noian eivj a;fesin a`martiw/n)248 in seinem Namen allen Völkern (eivj pa,nta ta. e;qnh) von Jerusalem aus verkündigen.249 Mit dem hier nach Lk 24,33 aufgetauchten Ortsnamen Jerusalem wird wiederum ausdrücklich gezeigt, dass die Emmausepisode als lukanisches Erscheinungsprogramm in Verbindung mit den anderen Erscheinungsepisoden steht. Wie die Emmausepisode gezeigt hat, wären die Jünger Jesu sowie Petrus nicht nach Jerusalem zurückgekehrt und hätten sie sich in Jerusalem nicht gesammelt, so würde die Erzählung ihre Erzähllogik verlieren. In diesem Sinne ist der Auferstandene derjenige, der seine Jünger nach Jerusalem zurückschickt und dort sammelt und ihnen nun befiehlt (kaqi,sate), dort (evn th/| po,lei)250 zu bleiben, bis sie mit der Kraft aus der Höhe (du,namin evx u[youj) bekleidet werden. Hier entwirft der Erzähler vorab bewusst die Szene des Pfingstwunders in Jerusalem.251
3. Das Ende der Erscheinungserzählung und der ganzen Narrative Die dreiteilige Erscheinungserzählung kommt langsam zum Ende. Der Abschlussteil des ersten Buches besteht aus zwei Subteilen. Zunächst kümmert sich der Erzähler um das Ende der Erscheinungserzählung (Lk 24,50-52a) und danach um das Ende der gesamten Narrative (Lk 24,52b-53). Man muss vor allem darauf aufmerksam machen, dass die Entrückung des Auferstandenen (Lk
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Hier gibt es eine lukanische Schrifthermeneutik und Logik: da auch die Jüngeraufgabe in den Schriften angelegt ist, zeigt dies gleichzeitig, dass auch dies erfüllt werden soll, so wie sich die Geschichte Jesu erfüllt hat. Mit der Anrede in der zweiten Person („du“) appelliert der Erzähler auch an die Solidarität des Lesers. Vgl. Hans Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 90ff. und 210-216. Da zeigt sich das Schema des zweiten Buchs. Vgl. besonders Apg 1,8: im Verlauf der Erzählung breitet sich die Mission von Jerusalem ausgehend über Samaria in die Welt aus (gemeint ist Rom als Zielpunkt). Jerusalem. Apg 2,1-13
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Zweiter Teil: Die Erscheinung Jesu
24,51b) und die Jüngerreaktion (24, 52a) als Motivpaar252 miteinander korrespondieren, obwohl sich daraus textkritische Probleme ergeben.253 a) Die Himmelfahrt als Ende der Erscheinungsepisode: Lk 24,50-52a Für Lukas, der nicht nur die drei Erscheinungsepisoden ausführlich geschildert hat, sondern auch gegenüber anderen Erscheinungsmöglichkeiten Jesu offen war,254 ist es ganz und gar nicht ungewöhnlich, dass er die Himmelfahrtsszene 252
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Bei Lukas fungieren kai. avnefe,reto eivj to.n ouvrano,n und proskunh,santej auvto.n als besondere Motive, die er auf diesen Zeitpunkt verschiebt. Siehe Gerhard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu, 171-174. Zur textgeschichtlichen Debatte um die Authentizität von Lk 24,50-53 siehe Andrews George Mekkattukunnel, The Priestly Blessing of the Risen Christ. An ExegeticalTheological Analysis of Luke 24,50-53, 40-48 und auch A. W. Zwiep, The Text of the Ascension Narratives (Luke 24.50-3; Acts 1.1-2, 9-11), NTS 42, 219-244; Joshep Fitzmyer, The Gospel according to Luke (X-XXIV), 1590. Die wichtige Frage ist, ob die Formulierung kai. avnefe,reto eivj to.n ouvrano,n und proskunh,santej auvto.n eine Addition (P75) gegen die gnostische Christologie ist, wo die körperliche Entrückung des Auferstandenen im Vordergrund steht, oder ob sie eine Omission (Westen non-interpolation) zur Abschwächung von Apg 1,3 ist, wo der Erscheinungszeitraum Jesu vierzig Tage umfasst. Wichtig ist aber, dass man mit der Bezeugung von P75, Lukas Absicht berücksichtigen muss. Im Proömium seines zweites Buchs (Apg 1,1-3) und in Apg 1,1-9 rekapituliert er die Vorgeschichte, insbesondere die Entrückung Jesu. Dort stellt er die Hinaufnahme Jesu abermals dar, die raffinierte Parallelstruktur der Endszene des ersten und der Anfangsszene des zweiten Buches zeigt, dass er die doppelte Entrückungsdarstellung bewusst konzipiert hat. Vgl. Gerhard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu,167-210; Hee-Sung Kim, Die Geisttaufe des Messias. Eine kompositionsgeschichtliche Untersuchung zu einem Leitmotiv des lukanischen Doppelwerks, 95-97; A. W. Zwiep, The Text of the Ascension Narratives (Luke 24.50-3; Acts 1.1-2, 9-11), 242; Robert C. Tannehill, The narrative unity of Luke-Acts, 296f. So wie Hans Conzelmann in seinem Kommentar, Die Apostelgeschichte, 25, den 40tägigen Aufenthalt Jesu für rätselhaft gehalten hat, ist es schwierig, der lukanischen Intention zu folgen. Dennoch können wir der lukanischen Erzählweise einige Information entnehmen: 1. Für Lukas, der im Vergleich zu den anderen Evangelisten, relativ vielfältige Erscheinungsepisoden dargestellt hat, ist der Ausdruck „vierzig Tage“ gerechtfertigt, weil ihm offenbar bewusst ist, dass es noch weitere Erscheinungstraditionen im Urchristentum gab; 2. könnte er damit die Kontinuität zwischen der Zeit Jesu und der Zeit der Kirche gestalten. Wäre der Auferstandene mit seinem Jüngerkreis vierzig Tage lang zusammen gewesen, so betrüge die „Vakuumzeit“, in der die Jünger ohne Jesus oder den Heiligen Geist allein hätten ausdauern müssen, nur zehn Tage. Tatsächlich schreitet die erzählte Zeit bei Lukas von der Himmelfahrtszene bis zur Szene der Geistausgießung überhaupt nicht fort. Es gibt nur Zeitdehnung und Zeitsprünge. Es gibt keinen expliziten Zeitwechsel, sondern nur einen Ortswechsel (Apg 1,1-26). Erst in Apg 2,1 gibt er eine neue Zeitangabe (th.n h`me,ran th/j
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darstellt.255 Sonst müsste die Existenz des Auferstandenen256 in seiner Erzählung irgendwo erklärt werden, weil ja der Leser natürlich fragen kann, wie lange der Auferstandene mit seinen Jünger zusammen blieb und wo er sich jetzt befindet. So würde das Periodisierungsschema (Auferstehung – Erscheinung – Himmelfahrt - Herabkunft des Heiligen Geistes) ohne Himmelfahrt des Auferstandenen unterbrochen und zerstört. Nun bereitet der Erzähler die Entrückungsszene vor, indem er den Ort, wo der Auferstandene mit seinen Jüngern zusammen war, verlässt. So führt die Erzählung den Auferstandenen und seine Jünger aus dem Haus hinaus bis nach Bethanien,257 wo die Entrückung für den Leser gut vorstellbar ist. Schließlich entfernt sich der Auferstandene von seinen Jüngern (die,sth avp auvtw/n), indem er sie segnet (evn tw/| euvlogei/n auvto.n auvtou.j).258 Nun endet die Erscheinungserzäh-
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penthkosth/j). Dadurch entsteht der Einwand, dass die Sendung der Verheißung Jesu schon am Tag nach der Himmelfahrt erfolgt. Somit kann man feststellen, dass für Lukas angesichts der Kontinuität und Einheit des Doppelwerks die Auferstehung – die Erscheinung – die Himmelfahrt – die Herabkunft des Heiligen Geistes ohne zeitliches Vakuum nebeneinander stehen. Dementsprechend hat er das Schlusskapitel so konzipiert, dass die drei Ereignisse, nämlich die Auferstehung und Erscheinung Jesu sowie dessen Himmelfahrt an einem Tag stattfinden. Vgl. Gerhard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu, 51-72; Wilfried Eckey, Die Apostelgeschichte. Der Weg des Evangeliums von Jerusalem nach Rom, 57-61; Joshep Fitzmyer, The Gospel according to Luke (X-XXIV), 1588; Eugen Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese. Band1. Traum, Mythos, Märchen, Sage und Legende, 403. Vgl. Joseph A. Fitzmyer, Luke the Theologian: aspects of his Teaching, 213-222, er fragt nach Belegen für die Aussage Jesu in Lk 23,43 (...sh,meron metV evmou/ e;sh| evn tw/| paradei,sw|Å) nach „Postmortem Phase of Christ’s existence and activity“ nicht nur in der Erscheinungserzählung, sondern auch im ganzen lukanischen Werk, Vgl. Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 46. Bethanien ist für Jesus der Endpunkt seiner irdischen Reise, von wo aus seine Jünger gleichzeitig ihre Reise für die Weltmission beginnen sollen. Die Debatte um die unterschiedlichen Entrückungsorte Bethanien in Lk 24,50 und der Ölberg in Apg 1,12 - ist überflüssig, denn Bethanien liegt im Gebiet des Ölbergs im Osten Jerusalems, siehe Joachim Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, 68-70. Vgl. auch Gerhard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu, 164-167, er versteht es als literarisches Äquivalent, sodass sich Lukas überhaupt nicht widerspricht. Über die Segnung Jesu kann man in Anlehnung an Gerhard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu, 167, sagen, dass Lukas sie auf Grund seiner redaktionellen Intention an den Erzählungsschluss legt, weil er im Unterschied zu Mk10,13-16 die Segnungsszene der Kinder durch Jesu ausgelassen hat. Aber wie Odette Mainville, De Jésus à l’ Église, 207-209, feststellt, ist der Charakter der Segnung Jesu - prophetisch oder priesterlich - immer noch umstritten. Gerhard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu, 167-169, erkennt eher einen prophetischen Charakter. Aber Andrews George Mekkattukunnel, The Priestly Blessing of the Risen Christ; Gerhard Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu, 169, Anm. 14 und Ulrich
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lung damit, dass der Auferstandene in den Himmel hinaufgetragen wird.259 Dann werfen sich die Jünger in Proskynese nieder (proskunh,santej).260 Jetzt ist der Ort des Auferstandenen nicht länger mehr irdisch, sondern himmlisch.261 b) Koda: Lk 24,52b-53 Der Anfang der Narrative stellte die Stadt Jerusalem und ihren Tempel gewissermaßen aus der Vogelperspektive dar, nun schließt sie harmonisch, indem Stadt und Tempel wiederum erwähnt werden. Der Erzähler, der schon durch das Entschwinden des Protagonisten das Ende der Erzählung angekündigt hat, bestätigt die Bedeutung Jerusalems nochmals, indem er die Jünger dorthin zurückkehren lässt. Der doppelte Ortstopos, nämlich Jerusalem und Tempel, harmonieren mit der Anfangsszene und zeigen dem Leser, dass sich die Erzählung im Auflösungsteil befindet.
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Heckel, Der Segen im NT, 77-93, verstehen den Segen des Auferstandenen in Lk 24,50f für einen priesterlichen Abschiedssegen. Wie im Petrusevangelium, XIII, 55: „[...] Denn er ist auferstanden und dorthin gegangen, von wo er gesendet worden ist.“ Übersetzung von Christina Mauer in in dies; u. Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Neuetestamentliche Apokryphen, I Evangelien, 180-188, hier 188, Odette Mainville interpretiert so: „Le récit d’ascension,[...] mais constitue plutôt l’étape préalable à l’ascesion à la seigneurie, laquelle est effectivement représentée par la session à la droite de Dieu.“ Für Lukas scheint dies aber zu weit zu gehen. Vgl. Joshep Fitzmyer, The Gospel according to Luke The Gospel according to Luke (X-XXIV), 1588f.; Erst als die Jünger, nicht nur durch den körperlichen Beweis, sondern auch durch die Schriftbelehrung die Überzeugung und den Glauben an die Auferstehung Jesu erringen, werfen sie sich anbetend vor ihm nieder. Durch die Proskynese löst der Erzähler alle Spannungen der Erzählung auf. Jetzt bezweifelt niemand mehr in der Erzählwelt, wer Jesus ist. Betont ist die Szene auch dadurch, da niemals Huldigungen und Anbetungen gegenüber dem irdischen Jesus geschahen. Vgl. J. M. Nützel, Art. proskune,w, EWNT III, 419-423. Es ist jetzt offensichtlich, dass der gegenwärtige Ort Jesu der Himmel ist, wie Lukas in seinem zweiten Buch durch den Märtyrertod des Stephanus (Apg 7,55-56) und die Erscheinung vor Saul (Apg 9,3) deutlich zeigt. Deshalb bedeutet die Entrückung des Auferstandenen nicht seine Abwesenheit, sondern seine andersartige Anwesenheit. Vgl. Karl Löning, Das Geschichtswerk des Lukas, 46; Joshep Fitzmyer, The Gospel according to Luke (X-XXIV), 1588f.: „hereafter he will be present to them not visibly perceptible form, but in the breaking of the bread (v.35) and through what my Father has promised(v.49; Acts 1:4-5;2:31).“; vgl. auch A.W. Zwiep, The Ascension of the Messiah in Lukan Christology, 165: „The post-resurrection appearance described in the Gospel and Acts are all appearance already exalted Lord ‘from glory’ or ‘from heaven’ in which Christ temporary condescended to human conditions.”
in der dih,ghsij des Lukas
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Der Erzähler offenbart, indem die Jünger dem Auferstandenen niederkniend huldigen (auvtoi. proskunh,santej auvto.n), dass sie endlich den Auferstandenen und alles, was er gelehrt hat, verstanden haben. So verdeutlicht ihre Rückkehr nach Jerusalem (u`pe,streyan eivj VIerousalh.m) auch ihr Vertrauen und ihren Glauben, denn sie sind nun bereit, den Missionsauftrag zu erfüllen. So können sie jetzt meta. cara/j mega,lhj zurückkehren im Unterschied zur vorangegangenen Szenerie der Verwirrung. Indem sie allezeit Gott im Tempel preisen, warten sie auf die Verheißung des Auferstandenen. Wie aus der Perspektive eines Luftbilds zieht der Erzähler die Aufmerksamkeit des Lesers vom Fokus des Erzählten ab, denn er wechselt die Lokalität der Erzählung. Nun erwartet der Leser eine zweite Narrative, die der Erzähler schon implizit und explizit angedeutet hat und die sich ebenfalls von Jerusalem aus dynamisch entfalten wird.
C. Fazit Schon die rhetorische Frage und Figurenrede der Engelsbotschaft am leeren Grab Jesu lässt die lukanische Absicht deutlich werden. Der Erzähler kommuniziert so nicht nur mit den handelnden Personen der textinternen, sondern auch mit dem Leser der textexternen Ebene. Die Form Partizip Präsens Aktiv (zw/nta), die umgekehrte Satzstellung gegenüber der Markus-Version (uvk e;stin w-de( avlla. hvge,rqh) sowie die Veränderung des zukünftigen Erscheinungsorts (mnh,sqhte mnh,sqhte w`j evla,lhsen u`mi/n e;ti w'n evn th/| Galilai,a|) sind programmatisch, denn Lukas zielt auf einen Transit, weg vom leeren Grab - hin zur Erscheinung. Deshalb schildert er bewusst komplexe und lebendige Erscheinungsepisoden. Zwar beginnt Lukas seine Erzählung im Dialog mit Markus, doch er beseitigt die Frage, die der Leser des Markus stellen soll, wie die Engelsbotschaft die Jünger Jesu überhaupt erreicht hat. Darum erzählt Lukas, dass die Frauen die Botschaft ohne Vorzögerung berichten. Trotz der stellvertretenden Untersuchung und Bestätigung des Petrus bleibt aber das leere Grab für ihn und andere in Analogie zum Ende der Markus-Version immer noch wie ein „Geschwätz“ und „verwunderlich“. Darum gehen die Beispielpersonen - sowohl Petrus als auch die Emmausjünger - nach Hause.263 262
263
Vgl. Hans Conzelmann, Art. cai,rw, ThWNT IX, 350-366. Die Jünger sind nicht mehr enttäuscht und traurig wie auf dem Weg nach Emmaus (eigentlich eine Flucht aus Jerusalem), denn Angst und Furcht ihrer Jerusalemer Verlassenheit sind vorüber, da sie mit großer Freude zurückkehren. Zu den Frauen vgl. auch. B. Joel Green, The Gospel of Luke, 838: „These woman have failed to grasp Jesus’ message about the resurrection and, thus, not taken with appropri-
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Zweiter Teil: Die Erscheinung Jesu
Lukas macht insbesondere in seinen Erscheinungserzählungen Jerusalem zum geographischen Zentrum, darum tilgt er konsequent Verweise auf Galiläa. Darum erscheint der Auferstandene bei ihm nur in Jerusalem und dessen Umgebung, denn er hat die wichtige Aufgabe, nach seinem Tod die Jünger in Jerusalem zu sammeln.264 Darum hat er ihnen dementsprechend befohlen: kaqi,sate evn th/| po,lei. Wegen der zentrierten Ausrichtung findet die Erscheinung Jesu vor Simon, die im Einklang mit dem alten kirchlichen Bekenntnis steht, im lukanischen Erscheinungsprogramm in Jerusalem statt. Denn die ohne Zeit- und Ortsangabe tradierte Glaubensformel lässt sich relativ leicht in jeden Kontext der lukanischen Erzählung integrieren. Die Erscheinungsepisode der Emmausjünger und die vor den „Elf und weiteren“ in Jerusalem als Rahmenerzählung umschließen die Erscheinungsepisode Simons. Im lukanischen Erscheinungsprogramm fällt besonders auf, dass der Auferstehungsbeweis vom Auferstandenen selbst geführt wird: Zuerst wird ein physischer und physiologischer Beweis gegeben, da der Auferstandene seinen Jünger nicht nur seine konkrete Körperlichkeit durch die Wundmale demonstriert, sondern auch vor ihnen etwas isst. Aber erst der zweite, die Schriftauslegung und Belehrung Jesu, gilt als eigentlicher Beweis, der den ersten zudem bewahrheitet. In Kontinuität zur Rolle des Irdischen belehrt der Auferstandene selbst noch einmal seine Jünger und offenbart seine Messianität durch die Schriftverheißungen. Daher bildet für Lukas die erfüllte Schriftverheißung den wichtigsten und endgültigen Auferstehungsbeweis. Im lukanischen Erscheinungsprogramm ist deutlich zu erkennen, dass die Emmausepisode die zentrale Rolle spielt. Sie integriert die Vor- und Nachgeschichte im Makrotext durch Analepsis und Prolepsis mittels einer literarischen Raffungstechnik und bewirkt so eine enge Verbindung mit der Grab- und Entrückungsepisode. Die Emmausepisode dient als Zentrum der Erscheinungserzählungen, da Lukas alle Geschehnisse, nämlich die Auffindung des leeren Grabes, die Erscheinung sowie die Entrückung an einem Tag geschehen lässt. So entwickelt sich die Narrative mit der Rückkehrszene der Emmausjünger nach Jerusalem rapid, in welche die Erscheinung vor Simon bündig eingebettet ist. Und damit endet der Erzähler bei gleichzeitiger Vorbereitung auf die Erscheinung vor den „Elf und den anderen“ in Jerusalem. Der Erzählzusammenhang zeigt möglicherweise eine Konsequenz oder eine Steigerung der Erzählung.265 Aber er ist
264 265
ate gravity the power of God.“ Anders Sabine Biberstein, Verschwiegene Jüngerinnen – vergessene Zeuginnen. Gebrochene Konzepte im Lukasevangelium, NTOA 38, 1998. So hat Lukas ganz bewusst das sogenannte Reflexionszitat von Zch 13,7 in Mk 14,27 in seinem Kontext ignoriert. Vgl. Andreas Lindemann, Jesus als Christus bei Lukas und Paulus, 447.
in der dih,ghsij des Lukas
145
dennoch eher additiv, weil die Episoden nicht durch einen strengen Kausalzusammenhang,266 sondern durch ihren episodischen Stil verknüpft werden.267
III. Rückblick und Ertrag Um die Erscheinungserzählungen bei Lukas zu untersuchen orientierten wir uns anfangs daran, dass er sein Werk als dih,ghsij bezeichnet hat. So haben wir, seinem gattungsspezifischen Hinweis entsprechend, versucht herauszufinden, was er damit beabsichtigt und welche Bedeutung dies für seinen schriftlich fixierten Text hat. Denn er hat schon im Proömium, seinem Vorwort, gesagt, was er damit bezweckt und wie er darum vorgehen will. Nach dem Proömium setzt Lukas die Existenz einer christlichen Literatur voraus und bezeichnet sie ohne Zögern als dih,ghsij. Dann exponiert er aber vor allem seine Unzufriedenheit mit dem Unternehmen seiner Vorgänger. Ihm missfiel möglicherweise das abrupte Ende des Markusevangeliums, denn dessen offener Schluss kann beim Leser Irritation und Unverständnis bewirken. Darum soll nun erneut eine christliche dih,ghsij von Anfang an (a;nwqen), genau (avkribw/j) und ordentlich (kaqexh/j) geschrieben werden, wie es sein Proömium einfordert. In diesem Zusammenhang stellten wir fest, dass Lukas eine wechselseitige Kommunikation im schriftlich fixierten Text als wichtig erachtet hat. Als impliziter Autor kann er jederzeit mit seinem Leser durch seinen Erzähltext kommunizieren, bald durch seine eigene Stimme als Erzählerkommentar, bald durch die Erzählfiguren in der Erzählrede. Und so kann die christliche Tradition unabhängig von der örtlichen und zeitlichen Distanz in der dih,ghsij präsent sein. Somit richtet sich unsere Betrachtung primär auf die von Lukas erzählte Welt und wir haben versucht, die von ihm dargestellte Erzählwelt und die Normen seiner Umwelt zu verstehen, die in die Erzählung verschmolzen erscheinen und in ihr dennoch reflektiert werden. Der Topos Jerusalem spielt in der impliziten Struktur des Erzählten eine bedeutende Rolle. Wie wir bereits feststellten, ist der Auferstandene derjenige, der, wie auch in seinem irdischen Leben, in die Mitte Israels gestellt ist, und dadurch gewinnt die lukanische Narrative ihre Kontinuität und Einheit. War für Jesus Jerusalem der Endpunkt seiner Reise und seines Wirkens, so ist es jetzt für seine 266 267
Schon am Anfang der dritten Episode stellt sich eine Frage hinsichtlich der Erzählkonsequenz. Vgl. Hans Klein, Das Lukasevangelium, 736. Dementsprechend bezeichnet Michael Wolter, Das Lukasevangelium, 16, die lukanische Jesusgeschichte als „episodische Erzählung“.
146
Zweiter Teil: Die Erscheinung Jesu
Jünger Ausgangspunkt der Urgemeinde und kommenden Weltmission. Damit ist die Hauptlokalität der Geschichte Jesu nicht die Peripherie, sondern das Zentrum. Sie steht nicht in Verbindung mit einer galiläischen Sekte, sondern stammt aus der Mitte Israels und löst seine alten Verheißungen ein. Wie wir gesehen haben, gibt es in der lukanischen dih,ghsij eine implizite Kommunikation, die durch ein vom impliziten Autor gesendetes Signal erzeugt wird. Auch in der Erscheinungserzählung bezieht Lukas, der bei der Lektüre für den Leser immer implizit anwesend ist, den Leser in seine Intention ein, entweder durch eine rhetorische Frage oder einen Tadel. Auf diese Erzählweise orientiert sich der Leser selbst, was die Erscheinungen Jesu in der lukanischen Narrative bedeutet und wie er sie verstehen sollen, indem er die erzählte Welt miterlebt. Für die Erzählung ist charakteristisch, dass der Auferstandene in mehreren Dimensionen geschildert wird: Die Augen nehmen ihn beim gemeinsamen Essen wahr, was die Körperlichkeit betont. Im Herzen bzw. in der Vernunft offenbart er sich durch die Schriftbelehrung. Damit kann sich der real-historische Leser, der sich möglicherweise in Analogie zum Sitz im Leben der Gemeindepraxis in den Anfängen des Christentums befindet, die Lehre und die Gemeinschaft beim Brotbrechen als Verbindungselement zum Auferstandenen vorstellen.268 Das sind auch der Moment und der Ort, wo man ihm begegnen kann. Schließlich kann man sagen, dass Lukas versucht, in einer dih,ghsij die Geschichte Jesu besser verständlich zu machen, als es bei Markus der Fall war. So schweigen die Frauen, die am Grab Jesu waren, nicht mehr und die Erscheinung Jesu wird vielfältig und ausführlich geschildert. So wirbt Lukas, der eine Weiterführung der christlichen Literatur durch eine hellenistischer Sitte entsprechende dih,ghsij geschaffen hat, für die Geschichte Jesu nicht nur in der hellenistischen Welt, sondern mit aller Freimütigkeit auch in der inneren christlichen Gemeinde.
268
Vgl. Apg 2,42: „h=san de. proskarterou/ntej th/| didach/| tw/n avposto,lwn kai. th/| koinwni,a|( th/| kla,sei tou/ a;rtou kai. tai/j proseucai/jÅ“
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Dritter Teil:Die Erscheinungserzählungen in der matthäischen “inclusive story” I. Das Matthäusevangelium als inclusive story Anders als sein Prätext Markus erzählt Matthäus wie auch Lukas von der Auferstehung bzw. den Erscheinungen Jesu. Der Auferstandene begegnet seinen Jüngern auf einem Berg in Galiläa (Mt 28,16: eivj th.n Galilai,an eivj to. o;roj) und erteilt ihnen den Auftrag zur Weltmission. In Mt 28,8 zeigt der Ausdruck meta. fo,bou, dass Matthäus weiß, wo und wie die markinische Narrative endete.1 Aber zugleich wird seine Absicht deutlich, die Geschichte Jesu nicht so abrupt zu beenden. Gegenüber Markus findet man bei ihm deshalb eine andersartige Darstellung: kai. cara/j mega,lhj e;dramon avpaggei/lai toi/j maqhtai/j auvtou/. Damit exponiert er seine Intention, die Kontinuität der Jesusgeschichte im Hinblick auf die Erscheinungen zu gewährleisten, die Erzählung führt darum von der Grabepisode weiter zur Erscheinungserzählung. Jedoch ist die Tendenz am Ende seiner Narrative auch ganz anders als bei Lukas, der auch auf das rätselhafte Markusende reagiert hat, indem er ausführliche Erscheinungserzählungen und Christi Himmelfahrt zu einer Einheit geformt hat. Bei Matthäus wird die Erscheinung Jesu zwar zweimal geschildert, doch jedes Mal geschieht dies nur relativ knapp: zuerst vor den Frauen am leeren Grab in Jerusalem (Mt 28,9-10) und sodann vor den Jüngern auf dem Berg (Mt 28,1620). In der Erzählrede, am Ende seiner Erzählung, findet man auch einen Grund für die gedrängte Schilderung. Bei Matthäus tritt der Auferstandene nicht glänzender auf als der vom Himmel herabgestiegene Engel, eine spektakuläre Epiphanie ist also nicht intendiert. Und beide Erscheinungsszenen beanspruchen sogar weniger Erzählzeit als die Szenen der Grabbewachung und Wächterbestechung. Zur Kürze der Erscheinungsdarstellung notierte schon Otto Michel:2 „Die eigentlichen Ostererzählungen vermeiden es, die Erscheinung Jesu im hellenistischen Sinn epiphanieartig auszugestalten.“ Nach ihm erzählt Matthäus die Erscheinung Jesu außerordentlich schlicht und nüchtern, wodurch seine Erzählung als Analogie zum
1 2
Vgl. Mk 16,8 besonders evfobou/nto ga,r. Otto Michel, Der Abschluss des Matthäusevangeliums (ursprünglich: EvTh 19, 1950, 16-26), 119-133, hier 120.
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Dritter Teil: Die Erscheinungs Erzählungen
knapp formulierten Osterruf zu verstehen ist, den man in den christlichen Anfängen vernehmen konnte.3 Ergänzend zu Otto Michel muss man aber darauf aufmerksam machen, dass es in den frühchristlichen Anfängen auch noch eine ganz andere Tendenz gab, diese schilderte die Auferstehung bzw. die Erscheinungen im Verlauf der Zeit immer ausführlicher und bunter, was man nicht nur in den kanonischen, sondern vor allem in den apokryphen Evangelien4 deutlich sehen kann. Vor allem gibt es für Matthäus noch etwas, das er offenkundig nicht nur in den Erscheinungserzählungen, sondern gerade auch im Ganzen seiner Narrative inkludieren möchte, wie man im letzten Kapitel beobachten kann: sein Interesse zielt auf Gerüchte über das leere Grab. So reflektiert der explizite Erzählerkommentar „me,cri th/j sh,meron“ in Mt 28,15 auf ein aktuelles Autorinteresse, ihm geht es um polemische Apologetik gegenüber der jüdischen Führung. Das wird auch schon früher andeutet und bis zum Erzählende nicht auflöst, um es dann abermals in der Episode des leeren Grabes zu thematisieren. Deshalb bleibt die Erscheinung Jesu bei Matthäus zugunsten der Inklusion relativ schlicht. Im Hinblick auf diese, dem Matthäusevangelium zugrunde liegende Tendenz wird man Ulrich Luz Recht geben müssen, wenn er es als „Jesusgeschichte“ versteht, die allerdings eine „inklusive Geschichte“ ist.5 Für uns ist es deswegen unerlässlich, zunächst zu untersuchen, inwiefern und wie der Begriff „inclusive story“ auf die Narrative anwendbar ist. Dabei richte ich meine Aufmerksamkeit besonders auf ihr Ende, also die Erscheinungserzählung.
3
4 5
Otto Michel, Der Abschluss des Matthäusevangeliums, 120f. Beispielweise „In Wahrheit wurde der Herr erweckt und erschien dem Simon“ (Luk. 24,33) oder „er erschien dem Kephas, dann den zwölf“ (1 Kor. 15,5) bzw. „wir haben den Herrn gesehen“ (Joh. 20,25). Zum Begriff vgl. Dieter Lührmann, Die apokryph gewordenen Evangelien. Siehe ferner auch den Abschnitt „Die Geographie der Rezeption“, S. 45-67 dieser Arbeit. Ulrich Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, 7, 20 besonders Anm. 17 und 79. Zu seiner Ansicht, dass das Matthäusevangelium als ‚inclusive story’ zu verstehen ist, siehe weiter ders., Art., Matthäusevangelium, 4RGG 5, 916-920, besonders 917f.; ders., Art., Geschichte/Geschichts-schreibung/Geschichtsphilosophie, TRE 12, 595-604, hier 597f.; David B. Howell, Matthew’s inclusive Story. A Study in the Narrative Rhetoric of the First Gospel; ferner Janice Capel Anderson, Matthew’s Narrative Web; Jeannine K. Brown, Direct Engagement of the Reader in Matthew’s Discourses: Rhetorical Techniques and Scholarly Consensus, NTS 51, 19-35.
in der matthäischen “inclusive story”
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A. ‚Inclusive story’ als Aufforderung zum Perspektivenwechsel Als „Zwischenergebnis“,6 das auch seinen damals noch nicht abgeschlossenen großen Matthäuskommentar einleitet, hat Ulrich Luz 1993 eine Jesusgeschichte veröffentlicht, die das Evangelium so charakterisiert:7 „[D]as Matthäusevangelium (und das Johannesevangelium auch!) sind ‚inklusive Geschichten’ in dem Sinn, als in der erzählten Geschichte vom vergangenen Jesus die Erfahrungen der Leser/innen in der Gegenwart eingeschlossen sind. Beide Jesusgeschichten haben eine Offenheit zur Gegenwart hin, die man als ‚Transparenz’ charakterisieren könnte. Anders gesagt: In beiden Jesusgeschichten sind Jesus und seine Jünger einerseits, die Leser/innen andererseits in gewisser Weise ‚gleichzeitig’“.
Hier wird ausdrücklich betont, dass die Jesusgeschichte nicht allein die Geschichte Jesu ist, denn in ihr wird nicht nur die Geschichte der Jünger, sondern auch die der Leser, möglicherweise die der matthäischen Gemeinde inkludiert, potentiell natürlich auch die gegenwärtige Gemeinde. Auch David B. Howell geht in seiner Studie ‚Matthew’s inclusive story’ vor allem von der Frage aus, was die inklusive Natur des Matthäusevangelium bedeutet, wobei er seine Antwort schon früh andeutet:8 „[…]as questions concerning how readers of the gospel are to appropriate and involve themselves in the story and teaching of the gospel. Who is ‘included’ in the Matthew’s story and how are they ‘included’?” Nach seiner Überlegung muss ‚inclusive’ als ein anderer Ausdruck für reader-response verstanden werden, darum interessiert er sich für den Leser innerhalb und außerhalb des Erzähltextes und bezieht sich deswegen auf dessen Inklusion, um die Narrative besser zu verstehen. Reader-response bedeutet demnach Rezeptionsanalyse. Um seine Frage zu beantworten, untersucht David B. Howell mit Hilfe dieser Begrifflichkeit den impliziten Autor und die impliziten Leser, sowie die narrative Zeitstruktur des Evangeliums. Deshalb versucht er, die matthäische Jesusgeschichte nicht aus der Autor-, sondern aus der Leserperspektive zu betrachten, da er als Kommunikationspartner dem Autor im gesam-
6 7 8
Vgl. Andreas Lindemann, Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992-2000 (V), 174-216, hier 174. Ulrich Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, 20. David B. Howell, Matthew’s inclusive Story, 17.
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Dritter Teil: Die Erscheinungs Erzählungen
ten Produktionsprozess gegenüber steht. Unter dem Begriff der ‚inclusive story’ versteht man deshalb die Rezeption durch den Leser.9 Den Perspektivenwechsel verdeutlicht das folgende Diagramm:10
Im Diagramm kann man deutlich zwei Perspektiven erkennen, die einander gegenübergestellt sind: der produktionsorientierte Autoraspekt und der rezeptionsorientierte Leseraspekt, sowie den Text, der als Kommunikationsmedium dazwischen liegt. Beide Perspektiven ergänzen sich wechselseitig, um die durch einen schriftlich fixierten Erzähltext ermöglichte Kommunikation zwischen dem Autor bzw. Erzähler und dem Leser bzw. Hörer zu verstehen und zu analysieren. Denn Autor, Leser und Text fungieren als Basiselemente der Kommunikation, die man auch als das „hermeneutische Dreieck“ bezeichnet.11 Darum ist es nötig, vor allem die beiden Beziehungsfelder einschließlich des Textes zu verstehen. Jedoch wird in der bisherigen Betrachtung der produktionsorientierte Aspekt überbewertet, obwohl eine rezeptionsorientierte Betrachtung ein notwendiges Äquivalent wäre, um durch eine ausbalancierte Herangehensweise die Kommunikation zwischen Autor und Leser angemessen zu verstehen. Die rezeptionsorientierte Betrachtungsweise ist zwar relativ neu, jedoch wird sie in der Literatur-
9 10 11
Vgl. auch Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1-7), 42-47. Vgl. Cordula Kahrmann u.a., Erzähltextanalyse, 39. Für die drei Beziehungsfelder des hermeneutischen Schlüssels siehe auch den Abschnitt „Kommunikation in der dih,ghsij“, S. 89-92 dieser Arbeit.
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analyse immer wichtiger,12 weshalb auch wir die Bedeutung der Rezipienten verstärkt beachten sollten. Wie wir im Abschnitt über den markinischen Erscheinungsbericht konstatiert haben, gibt es bei der Leserrezeption zwei grundsätzlich verschiedene Aspekte. In der ‚inclusive story’ geht es nach dem Verständnis von Ulrich Luz und David B. Howell, wie oben angedeutet, eher um die ästhetische Rezeption auf der textinternen Ebene. In diesem Fall wird die Kommunikationsabsicht des Erzählers in seinem Werk erzählend vergegenwärtigt und insofern spielt die ästhetische Leserrezeption eine wesentliche Rolle. Die eigentliche Leserrolle im literarischen Text ist zwar unter den Literaturwissenschaftlern umstritten,13 aber der Aktcharakter des Lesens wird immerhin immer hervorgehoben. Es darf aber nicht übersehen werden, dass der Autor seine Intention gegenüber der Rezeption durch den Leser durch den Werkaufbau darstellt, wie zum Beispiel durch eine bestimmte Entwicklung, Charaktere, Konflikte und Ideen.14 Beim Betrachten der Narrative ist es für uns daher wichtig, die Ausgangssituation des Autors zu berücksichtigen, weil Matthäus nicht nur auf der Seite der Produktionstätigkeit in seinen Text integriert ist, zum Beispiel durch seine Lebens- und Schreibbedingungen und wie er Traditionen und literarische Formen verarbeitet. Denn er macht auch auf die Leseraktivität, die der Leser dem Text gegenüber entwickelt, aufmerksam, wie das obige Diagramm zeigt. So lautet nun die entscheidende Frage, wie der Leser bzw. Adressat die Kommunikation des Autors, die zu einem dynamischen Hin und Her zwischen implizitem Autor und implizitem Leser auf der textinternen Ebene führt, darstellt und inwiefern die ästhetischen Aspekte des Lesers in die Produktion des Autors inkludiert werden und so die Strömung der Narrative mitlenken. Für uns ist es nun klar, dass die Interpretationsmöglichkeiten eher in der sprachlichen Formung und erzählerischer Gestaltung einer kommunikativen Narrative liegen, die sich auf den Leser richtet. Auf diese Weise verstehen wir im Folgenden das Matthäusevangelium als eine inclusive story, die rezeptionsorientiert ausgerichtet ist. Daher versuchen wir zunächst festzustellen, ob und inwieweit diese Kommunikationsabsicht literarisch in der Narrative erscheint. 12
13 14
So ist literaturwissenschaftlich eine Unterscheidung zwischen dem historischen Autor und dem implizierten Autor bzw. Erzähler oder Leser notwendig. Vgl. Thomas Eicher u. Volker Wiemann, Arbeitsbuch: Literaturwissenschaft, 83f. siehe auch Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 68f; vgl. auch den Abschnitt „Wer erzählt die dih,ghsij und wer sie liest?“, S. 92-96 dieser Arbeit. Zum Begriff des Lesers vgl. Janice Capel Anderson, Matthew’s Narrative Web, sie erläutert Gemeinsamkeit und Unterschiedlichkeit der Aspekte des impliziten Lesers, 25-33. Vgl. Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens, 28-32
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Dritter Teil: Die Erscheinungs Erzählungen
B. Was Matthäus in seiner Narrative inkludiert Im vorangegangen Abschnitt habe ich zu zeigen versucht, dass bei der Betrachtung der inclusive story des Matthäus berücksichtigt werden muss, dass der Autor in seinem Produktionsprozess schon bewusst mit einer Leserkooperation rechnet. Also muss man die einseitige Betrachtungsweise des produktionsorientierten Aspekts durch einen rezeptionsorientierten Aspekt überwinden. Wie der erwähnte Ausgangspunkt von Ulrich Luz und David B. Howell andeutet, handelt es sich also bei der inclusive story des Matthäus besonders um die ästhetische Rezeption, die nicht nur auf eine Wechselwirkung zwischen Autor und Leser, sondern auch mittels der fiktionale Rede auf die Kommunikation zwischen dem Erzähler und dem implizierten Leser auf der textinternen Ebene fokussiert ist, wie man im Diagramm sehen konnte. In diesem Sinne bedeutet inclusive story nun vor allem, dass nicht nur der implizite Autor, sondern ebenso der implizite Leser inkludiert wird. Demgemäß kommunizieren beide Kommunikationspartner in der Erzählwelt, die vom Autor erzählend vergegenwärtigt wird, unmittelbar miteinander. So versucht der Erzähler, der als ein impliziter Autor in der Erzählung auftritt, mit seiner bestimmten Erzählstrategie seinem impliziten Leser etwas verständlich zu machen, als ob er als Gegenüber mit ihm spräche. So gerät der implizite Leser Schritt für Schritt in die Erzählwelt, wo seine inneren Augen und Ohren dem Erzähler ständig folgen.
1. Die Erzählsituation15 des impliziten Autors a) Annäherung In einer Erzählung kann man ein Subjekt des Erzählens bemerken, das zwar nicht mit dem real historischen Autor identisch ist, aber mehr oder weniger als Mittlerinstanz in der innerliterarischen Kommunikation präsent ist.16So lässt sich das Erzählsubjekt in der verschriftlichten Kommunikationssituation als Gestaltungsmöglichkeit vom Ich oder Du präsentieren.17 Wie wir schon in der dih,ghsij 15
16 17
Der Begriff „Erzählsituation (ES)“ wurde 1955 von Franz K. Stanzel als Erzählmodell entwickelt und vorgeschlagen, er wird heutzutage in der Literaturwissenschaft ohne Anführungszeichen benutzt. Siehe Franz K. Stanzel, Typische Formen des Romans, und ders., Theorie des Erzählens, ferner auch ders., Unterwegs. Erzähltheorie für Leser; vgl. auch Thomas Eicher u. Volker Wiemann, Arbeitsbuch: Literaturwissenschaft, 89-102. Etwas kritisch hierzu sind: Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 89-95; etwa anders Gérard Genette, Die Erzählung, 269-278. Vgl. Thomas Eicher u. Volker Wiemann, Arbeitsbuch: Literaturwissenschaft, 90. Vgl. Thomas Eicher u. Volker Wiemann, Arbeitsbuch: Literaturwissenschaft , 91.
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des Lukas gesehen haben, treten das erzählende Ich und das Du im Proömium explizit auf, welche aber sodann im weiteren Erzählverlauf implizit verborgen bleiben und in der Erzählung nicht länger direkt vorkommen. Darum verschiebt sich die Erzählerstimme von der ersten zur dritten Person. Und es ist einleuchtend, dass ein Autor seinen Erzählstil je nach Mitteilbarkeit des Erzählens variieren kann. Nähern sich Erzähler und erzählte Welt einander an, so tritt der Autor als Erzählfigur auf (Ich-Bezug, Ich-Erzählform oder fiktiver Ich-Du-Text); entfernt er sich aber durch Erzählkommentare und Reflexionen mehr und mehr vom Erzählvorgang, so tritt er schließlich hinter die Erzählfiguren zurück (Er-Bezug, Er-Erzählform oder fiktiver Er-Text).18 In diesem Zusammenhang müssen wir uns deshalb Gedanken über die verschiedenen Erzählformen machen. Eine Geschichte wird zum Beispiel in der Ich-Form ganz anders erzählt als in der ErForm, wobei die Differenz sehr groß sein kann. Vor diesem Hintergrund betont Franz K. Stanzel, dass die Bestimmung der Erzählsituation nicht nur der Ausgangspunkt für eine vergleichende Analyse, sondern auch die Interpretationsbasis sei.19 Hier wird man ihm Recht geben müssen, weil verschiedene Erzählstile oder -formen, ganz unterschiedliche Wirkungen auf den Leser bzw. Hörer ausüben. Im Folgenden skizzieren wir deshalb zunächst Stanzels Modell, bevor wir die Erzählsituation des Matthäus bestimmen. b) Das Erzählsituationsmodell von Franz K. Stanzel Nach Franz K. Stanzel gibt es drei typische Formen der Erzählsituation (ES),20 deren jeweiligen Konstituenten Modus, Person und Perspektive sind. Um diese Basiselemente zu erklären, werden sie oft in Form einer binären Opposition dargestellt.21 Beim Modus steht ein Erzähler einem Reflektor wie einer Person gegenüber. Daraus resultiert die Frage, wo der Seinsbereich des Erzählers ist, also die Frage von Identität oder Nichtidentität der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren. So hängen alle Konstituenten nicht nur eng miteinander zusammen, aber in dieser Struktur spielt die Frage „Wer erzählt?“ immer die entscheidende Rolle. Dementsprechend soll man auch bei der Perspektive den Standpunkt des Erzäh18 19 20 21
Vgl. Franz K. Stanzel, Typische Formen des Romans, 16f; Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 91. Franz K. Stanzel, Typische Formen des Romans, 6 und ders., Unterwegs. Erzähltheorie für Leser, 23. Siehe Anm. 15. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 74.
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Dritter Teil: Die Erscheinungs Erzählungen
lers (point of view)22 erfragen, um Außen- und Innenperspektive zu unterscheiden. Außenperspektive liegt vor, wenn die Erzählerperspektive nicht zur dargestellten Welt der Charaktere gehört, weil er von außen auf ihre Welt schaut. Hingegen befindet sich der Erzähler bei der Innenperspektive als handelnde oder beobachtende Figur in der dargestellten Welt und beobachtet als Reflektor von einem Standpunkt innerhalb dieser Welt.23 Wie ich schon angedeutet habe, lässt sich die typische Erzählsituation deshalb mittels binärer Pole (Ich-Bezug und Er-Bezug) konstituieren, weil es sich um Identität oder Differenz der Seinsbereiche von Erzähler und Figuren handelt, sowie um die innere und äußere Erzählperspektive.24 Auf dieser Basis wird vor allem berücksichtigt, ob der Erzähler existentiell auf der Seite der Charaktere seiner Erzählung steht oder nicht. Wenn er nicht mit ihnen an der Wirklichkeit der Erzählwelt teilnimmt, bleibt er getrennt und betrachtet alles lediglich aus einer Außenperspektive.25 Folglich ergeben sich aus der Kombination der drei Faktoren (Person, Modus, Perspektive) drei grundlegend verschiedene Erzählsituationen. (1) Die auktoriale Erzählsituation Bei der auktorialen Erzählsituation26 beobachtet man in erster Linie das Auftreten eines allwissenden Erzählers (omniscience), der die Umwelt seiner Figuren nicht durch deren Augen, sondern dominierend durch seine Außenperspektive wahrnimmt. Seine Distanz macht sich deshalb durch den erzählenden Gebrauch der dritten Person und das Vorherrschen des epischen Präteritums bemerkbar.27 Die Erzählweise suggeriert, dass ein zeitlicher Abstand zwischen erzählter Zeit und dem Geschehen existiert. Demgemäß gehört die auktoriale Erzählsituation zur berichtenden Erzählweise als Grundform des Erzählens und so erscheinen in 22
23 24 25 26
27
Für den englischen Ausdruck „point of view“ hat man in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft bislang keine treffende Entsprechung gefunden. So verwendet man abwechselnd Standpunkt, Blickpunkt, Perspektive oder Erzählwinkel. Es empfiehlt sich daher, den englischen Originalausdruck zu verwenden. Siehe Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 21f. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 72f. Franz K. Stanzel, Die typischen Erzählsituation, in ders., Unterwegs. Erzähltheorie, 113126. A.a.O. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 16: „Für die auktoriale ES ist charakteristisch, dass der Erzähler außerhalb der Welt der Charaktere steht; seine Welt ist durch eine ontische Grenzen von jener der Charaktere getrennt. Der Vermittlungsvorgang erfolgt daher aus der Position der Außenperspektive, was weitreichende Konsequenzen für die Interpretation des so Erzählten im Vergleich zu einer Ich-Erzählung hat.“ Vgl. auch Thomas Eicher u. Volker Wiemann, Arbeitsbuch: Literaturwissenschaft, 93f.; Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 89-95.
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ihr häufig Kommentare, Erklärungen, Beschreibungen und Bemerkungen sowie Reflexionen, um den Leser vom Erzählten zu überzeugen.28 (2) Die Ich-Erzählsituation In dieser Erzählweise gehört der Erzähler zur erzählten Welt, da er das Geschehen miterlebt oder es wie eine Erzählfigur beobachtet, die sich in ihr befindet.29 So ist die Ich-Erzählsituation dadurch charakterisiert, dass der Seinsbereich von Erzähler und Erzählfiguren identisch ist. Der Ich-Erzähler steht im Wechselgespräch mit den anderen handelnden Personen, indem er seine Gedanken und Gefühle ausdrückt. Durch diese radikale Innenperspektive ist er völlig in seine Erzählwelt eingebunden und im Gegensatz zum umfassenden Blick der auktorialen Situation verfügt diese Erzählform nur einen relativ eingeschränkten Zugang zur Erzählwelt.30 (3) Die personale Erzählsituation31 Anders als in der auktorialen kann man in der personalen Erzählsituation die Abwesenheit des Autors deutlich wahrnehmen. Denn weil der Erzähler hinter die Erzählfigur zurücktritt, beteiligt er sich nicht durch Kommentare oder Einmischungen, sondern durch Reflexion der Personen an der dargestellten Welt.32 So kann man in dieser Erzählsituation einen persönlichen Erzähler erkennen, der zwar explizit den Autor in der erzählten Welt vertritt, der aber eben nicht selbst erzählt. Hier liegt eine szenische Erzählweise zugrunde. „Damit wird diese Person zur persona, zur Rollenmaske, die der Leser anlegt“,33 und dementsprechend wird sie häufig Reflektor genannt. c) Die Erzählsituation bei Matthäus Stanzels These postuliert, dass Erzählstil und -form in einer Erzählung nicht mehr bloß als Ausdrucksmittel, sondern als entscheidende Elemente im Produktionsprozess zu verstehen sind. Daher betont er ausdrücklich, dass die Bestimmung der Erzählsituation für die Textanalyse unbedingt notwendig ist. Seine 28 29 30 31
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Franz K. Stanzel, Typische Formen des Romans, 16. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 15f. Vgl. Thomas Eicher u. Volker Wiemann, Arbeitsbuch: Literaturwissenschaft, 95f. Franz K. Stanzel, Typische Formen des Romans, 16: „In einer personalen ES (Erzähl Situation) schließlich tritt an die Stelle des vermittelnden Erzählers ein Reflektor: Eine Romanfigur, die denkt, fühlt, wahrnimmt, aber nicht wie ein Erzähler zum Leser spricht. Hier blickt der Leser mit den Augen dieser Reflektorfigur auf die anderen Charaktere der Erzählung. Daraus entsteht der Eindruck der Unmittelbarkeit der Darstellung, weil in diesem Fall nicht erzählt wird. Die Überlagerung der Mittelbarkeit durch die Illusion der Unmittelbarkeit ist demnach das auszeichnende Merkmal der personalen ES.“ Vgl. Thomas Eicher u. Volker Wiemann, Arbeitsbuch: Literaturwissenschaft, 94f. Franz K. Stanzel, Typische Forme des Romans, 17.
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drei Modelle haben sich in der Literaturwissenschaft durchgesetzt,34 und insofern könnten sie auch für uns eine nützliche Hilfe sein, um die Erzählsituation in der Narrative des Matthäus zu bestimmen und zu interpretieren. Denn bei Anwendung seines Erzählmodells auf die verschiedenen Arten des matthäischen Erzählens, gelangt man zu sehr unterschiedlichen Sichtweisen des Textes. (1) Person In der matthäischen Erzählung begegnet der Leser zunächst einer Stimme, die die Jesusgeschichte erzählt. Über diese Erzählerstimme hinaus stellt sich die Frage nach der Anwesenheit des Erzählers und Identität der Seinsbereiche. Wo befindet sich also der Erzähler in der Narrative? – denn man kann seine Stimme nicht mit der von Erzählfiguren identifizieren. So weiß der Leser zwar, dass eine Person als Erzähler die Jesusgeschichte erzählt, aber nicht, wem die Stimme gehört.35 Demnach gehört der Erzähler nicht zur erzählten Welt, womit er von der Wirklichkeit der fiktiven Erzählwelt unabhängig ist. Durch diese Nicht-Identität der Seinsbereiche gewinnt der matthäische Erzähler Freiheit gegenüber der zeitlichen und räumlichen Ordnung der Erzählung36: Er wagt es, den Umfang seiner diegesis weit zu spannen, denn er kann sowohl von der gene,sij VIhsou/ Cristou/ als auch von e[wj th/j suntelei,aj tou/ aivw/noj sprechen. Er kann trotz extremer Schauplatz-wechsel (Wüste, Dach des Tempels in Jerusalem, ein sehr hoher Berg) problemlos bei Jesus und dem Teufel anwesend sein, wie wir in der Versuchungsgeschichte (Mt 4,1-11) sehen; und er kann auch das letzte Gebet Jesu vor seiner Kreuzigung (Mt 26, 36-46) belauschen und mitteilen. Der matthäische Erzähler erzählt immer mit der Stimme der dritten Person. Ein impliziter Erzähler ist im Prinzip jedoch variabel, aber der matthäische verschiebt seine Stimme nicht von der dritten Person auf die erste oder umgekehrt, wie der lukanische Erzähler, der zwar seine Absicht und Zuverlässigkeit im Vorwort im Ich-Stil herausstellt, aber dann zum Er-Stil wechselt.39
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Vgl. Anm. 15. Mt 9,9-10 versteht man oft als Schlüsseltext für die Verfasserfrage, weil im Vergleich zu Mk 2,13-14 eine Ersetzung des Namens Levis durch Matthäus erscheint. Zur Sinnlosigkeit dieser Vermutung siehe Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1-7), 104f. Für diese Ansicht siehe besonders Kenneth L. Waters, Mattthew 27:52-53 as apocalyptic apostrophe: temporal spatial collapse in the gospel of Matthew, 489-515. Vgl. Mt 1,1 und 1,18. Vgl. Mt 28,20. Vgl. Lk 1,1-4; Apg 21,1; siehe ferner auch den johanneischen Nachtrag Joh 21,24-25: kai. oi;damen o[ti avlhqh.j auvtou/ h` marturi,a evsti,n…oi=mai to.n ko,smon cwrh/sai ta. grafo,mena bibli,a.
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(2) Modus40 Da die sogenannte Erzählsituation aus der Kombination dreier Faktoren (Person, Modus, Perspektive) besteht, ist es konsequent, dass der zweite Faktor Modus zwischen dem ersten und dritten steht. Jedoch handelt es sich beim Modus speziell um die Mitteilbarkeit des Erzählens. Dabei fragt man nach der vielfältigen Relation und Wechselwirkung zwischen dem Erzähler bzw. Reflektor und dem Leser.41 Nach Franz K. Stanzel besteht die Erzählsituation aus zwei Grundformen, Bericht und Darstellung bzw. berichtender Erzählung und szenischer Darstellung.42 In der matthäischen Narrative findet man allerdings beide Grundformen! Zum Beispiel informiert der Erzähler über die Genealogie Jesu (Mt 1,1-17) in einer knappen Zusammenfassung, um dem Leser der Jesusgeschichte eine Orientierung zu geben,43 somit nimmt er das Geschehen aus einer zeitlichen und räumlichen Distanz wahr. Die berichtende Erzählung zielt hauptsächlich auf eine sachliche Informationsvermittlung. In der szenischen Darstellung kann der Leser das Geschehen hingegen miterleben, weil es für ihn als gegenwärtig dargestellt wird. Er fühlt sich so, als ob er sich auch auf dem Schauplatz befände. In der matthäischen Narrative spielt auch die szenische Darstellung eine entscheidende Rolle.44 Hier begegnet der Leser nicht nur einer Reflektorfigur, die das Geschehen mit eigenen Gedanken und Gefühlen gewissermaßen spiegelt, allerdings ohne die Geschichte direkt zu erzählen, sondern es gibt auch einen persönlichen Er40 41 42
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Etwa anders: Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 47-67. Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 71. Man prüft auch beim Modus die Grundform des Erzählens, gehört sie zur „berichtenden Erzählung“ oder „szenischen Darstellung“, analog zum englischen Begriffspaar „telling“ oder „showing“. Siehe Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, 70; Typische Formen des Romans, 11f. Dabei verzichtet er darauf, dass man genauer zu unterscheiden versucht, etwa zwischen Bericht, Beschreibung, Bild, Szene und Gespräch. Siehe ferner Matias Martinez und Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, 47-49. Vgl. beispielweise Mt 4,23-25; 10,35; 13,34; 19,1-2. Vgl. beispielsweise Mt 2,4-6; 3,14-15; 4,3-10 (dazwischen liegt ein extremer Schauplatzwechsel); Mt 5,1-8,1 (Figurenrede bzw. sog. Bergpredigt); Mt 8,6-10; 8,19-22 (doch wechseln auch die Charaktere ); Mt 8,25-27; 8,29-32 (eher erzählerlisch); Mt 9,11-15 (dazu noch Gesprächspartnerwechsel); Mt 9,28-30; Mt 10,1-11,1 (Figurenrede bzw. sog. Sendungsrede); Mt 11,3-6; 12,2-8; 12,10-13; 12,38-50 (eher Figurenrede und Szenenwechsel); Mt 13,1-53 (auch überwiegende Figurenrede bzw. sog. Gleichnis; Mt 13,27-30 (in der metadiegetischen Rede); Mt 13,36-52 (eher Figurenrede)); vgl. auch Mt 13,54-57; 14,8-9; 14,15-18; 14,27-30; 26,8-13; 26,17-18; 26,21-25; 26,31-35; 26,4950.27,11; 27,21-25; 27,63-65.
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zähler, der seine Leser durch Kommentare, Zwischenreden sowie Einmengungen explizit führt. In diesem Kontext haben die Reflexions- bzw. Erfüllungszitate, die für Matthäus besonders charakteristisch sind, die Funktion eines Erzählkommentars, den der implizite Erzähler verwendet, um die Zuverlässigkeit seines Berichts zu erweisen. Und er signalisiert offenkundig dem Leser mit seiner Zwischenrede kai. evge,neto o[te evte,lesen o` VIhsou/j ta.j parabola.j tau,taj (Mt 13,53a) und ouvde. evto,lmhse,n tij avpV evkei,nhj th/j h`me,raj evperwth/sai auvto.n ouvke,ti“ (Mt 22,46b) sowie kai. evge,neto o[te evte,lesen o` VIhsou/j pa,ntaj tou.j lo,gouj tou,touj“ (Mt 26,1a), dass solche Gleichnisse, Fragen und Reden im weiterem Erzählverlauf nicht mehr geführt werden, und die Sache vom Erzähler daher auch nicht mehr thematisiert zu werden braucht. Auch häufige verbale Repetitionen, die sich auf bestimmte Personen beziehen, verdeutlichten seine Absicht und dadurch charakterisiert er die Erzählfiguren seiner Erzählwelt.45 Diese Textsignale bieten dem Leser Verständnishilfen. Folglich kann man deutlich sehen, dass die matthäische Narrative je nach Mitteilbarkeit hauptsächlich in beiden Grundformen erzählt wird, indem also nicht nur ein Reflektor auftritt, der denkt, fühlt, wahrnimmt und indirekt erzählt, da auch der Erzähler selbst auf der Bühne erscheint, um zum Leser zu sprechen, damit sein Erzählvorgang konkretisiert wird. (3) Perspektive Im weiteren Sinne umfasst der Begriff der Perspektive oder point of view die Weltanschauung und alle Ansichten und Werte des impliziten Autors in der von ihm dargestellten Welt. Zusätzlich wird er durch die Opposition von Innen- und Außenperspektive differenziert. Im Gegensatz zur Innenperspektive, wo nur eigene Erfahrung und Beobachtung sowie Gedanken oder Gefühle mitgeteilt werden, existiert der Bericht mit der Außenperspektive zur Zeit des Erzählens bereits. So zeigt sich der Erzähler als ein allwissender Erzähler (omnisciens),46 der sich der Erzählwelt von außen nähert.
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Vgl. Janice Capel Anderson, Matthew’s Narrative Web. Diese Repetitionen fungieren in der erzählten Welt wie ein Etikett oder Attribut. Siehe S.207: „They briefly characterize, economically highlighting, identifying and fixing an important aspect of a character in the mind of the implied reader.” Bei einem teilwissenden Erzähler ist diese Fähigkeit natürlich eingeschränkt. Vgl. David Rhoads, Joanna Dewey u. Donald Michie, Mark as Story, 39-40, sie unterscheiden beim „allwissender Erzähler“ zwischen “objective omniscience”, “limited omniscience” und “unlimited omniscience.” Solange „objective omniscience“ und „limited omniscience” jeweils in der Verwendung der dritten Person „tells only what can be seen und heard” und „tells thoughts and feelings, but only those in the mind of the protagonist”, gehören diese Erzähltypen nach Stanzels Kategorien zur personalen Erzählsituation.
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Der matthäische Erzähler kann unter anderem die Gedanken der Charaktere47 lesen und offenbart sogar, wie Gott zu Jesus steht: Er liebt ihn und hat Wohlgefallen an ihm gefunden.48 Durch diesen Hinweis soll dem Leser möglicherweise die Sicherheit vermittelt werden, dass Jesus als der von Gott geliebte Sohn in der Erzähwelt nicht endgültig scheitern kann. Demgegenüber bemerkt er auch, dass die Beurteilung der jüdischen Führung ständig negativ ausfällt, was durch die ständige Repetition verstärkt wird.49 Somit soll der implizite Leser mittels dieser Erzählstrategie der jüdischen Führung entfremdet werden, nach und nach soll Distanz bewirkt werden Nach Stanzels Modell. kann man die matthäische Erzählsituation zusammenfassend als auktoriale Erzählsituation bezeichnen, worin der implizite Erzähler außerhalb der erzählten Welt steht, er ist also nicht mit den Seinsbereichen der Charaktere identisch. Daher ist er als allwissender Erzähler über alles Mitteilenswerte informiert und erzählt die Geschichte sowohl aus der Innen- als auch aus Außenperspektive, indem er nicht nur als Reflektor, sondern auch als Erzähler in die erzählte Geschichte eintritt.
2. Zeitperspektive a) Problem Obwohl die Darstellung der Auferstehung bzw. der Erscheinungen Jesu am Erzählende einen Höhepunkt der Narrative darstellt, ist ihr Charakter doch eher nüchtern und schlicht. In der Binnenerzählung werden die Erscheinungen Jesu sogar schlichter als die des Engels geschildert. Aber der Leser gelangt kurz vor dem Erzählende bzw. der Ostererzählung zur dramatischen Todesszene Jesu (Mt 27,50-54), die einen weiteren Höhepunkt der Narrative bildet. Aufgrund der Komplexität der Darstellung, da der Erzähler gleichzeitig viele verschiedene Perspektiven dramatisch integriert, bleibt der Kreuzestod jedoch immer ein sprachlich und inhaltlich schwierig zu verstehender Text. Am schwierigsten ist vielleicht vor allem die rätselhafte Notiz „nach seiner Auferstehung“ (meta. th.n e;gersin auvtou/) neben einer Reihe weiterer Elemente: das Zerreißen des Vorhangs im Tempel (to. katape,tasma tou/ naou/ evsci,sqh), das Erdbeben (h` gh/ evsei,sqh) und als seine Folge (ai` pe,trai evsci,sqhsan kai. ta. mnhmei/a avnew,|cqhsan) die Auferweckung der Leiber der entschlafenen Heiligen (polla. 47 48 49
Beispielsweise: Mt 1,20; 9,3-4; 12,14-15; 12,25. Vgl. Mt 3,17b: ou-to,j evstin o` ui`o,j mou o` avgaphto,j( evn w-| euvdo,khsaÅ Vgl. Mt 2,12-22; 3,7; 9,3-4; 12,34. In der erzählten Welt fungieren Repetitionen als ein Etikett. Zu ihrer Funktion siehe Janice Capel Anderson, Matthew’s Narrative Web, 207.
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sw,mata tw/n kekoimhme,nwn a`gi,wn hvge,rqhsan) sowie ihr Erscheinen in der heiligen Stadt (eivsh/lqon eivj th.n a`gi,an po,lin kai. evnefani,sqhsan polloi/j).50 Hier drängt sich die Frage auf, wie der Tod Jesu mit der Auferweckung der Heiligen zusammenhängt, die der Erzähler entgegen urchristlicher Vorstellung darstellt,51 denn besonders Paulus betont die Tatsache der Auferweckung Christi Jesu als des Erstlings der Entschlafenen (avparch. tw/n kekoimhme,nwn), die zukünftige allgemeine Totenauferstehung erfolgt erst nach der Auferstehung Jesu. Kann Jesus dennoch als der Erstling der Auferstehung gelten? Obwohl dazwischen offensichtlich die Erwähnung „meta. th.n e;gersin auvtou/“ eingeschaltet ist, ist es für uns immer fraglich, wieso er an dieser Stelle die Auferweckung der Toten erwähnt, bevor er die Auferstehung Jesu erzählt hat. Darum vermutet man, dass V. 53 als eine korrigierende Glosse aus der späteren Korrektur eingefügt wurde, demnach wäre der Vers an eine gänzlich umpassende Stelle gerutscht.52 Aber eine derartige Vermutung ist ein schwacher Einwand, weil man so nur die produktionsorientierte Perspektive berücksichtigt, um die Interpretationsproblematik zu vermeiden, 53 wie es Ulrich Luz - wie auch andere Kommentatoren - tut.54 In der Tat gibt es bei dieser Überlegung keinen Platz für die Leserrolle, denn der Leser ist an dieser Stelle plötzlich von der Kommunikation ausgeschlossen. Es wäre nicht länger eine inclusive story, wenn man behauptet, dass ein Textteil eine nachträgliche und unglückliche Ergänzung wäre. Darum müssen wir die Komplexität der dramatischen Todesszene Jesu anders betrachten. Wir sind dazu aufgefordert, auch in dieser Szene einem Betrachtungswechsel nachzukommen, um so den Charakter der der matthäischen Narrative zugrundeliegenden inclusive story zu beachten, damit wir die Autorintention angemessen verstehen können. Daher müssen wir uns gerade an der schwierigsten Stelle mit der rezeptionsorientierten Betrachtungsweise beschäftigen. Wie lässt sich diese Szene auf der erzählten Ebene richtig interpretieren, unter der Annahme, dass der Erzähler seine Erzählung mit der Absicht verfasst hat, sich seinen Lesern verständlich zu machen.
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Vgl. Mt 27,51-53. Vgl. 1Kor 15,20-24. Vgl. Ulrich Luck, Das Evangelium nach Matthäus, 309; W. D. Davies und Dale C. Allison, The Gospel according to Saint Matthew (Mt 19-28), 634; Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26-28), 367; auch Ronald L. Troxel, Matthew 27.51-4 Reconsidered: It`s Role in the Passion Narrative, Meaning and Origin, 37f. A.a.O. A.a.O.
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b) Die Zeit des Erzählens In der Todesszene Jesu (Mt 27,50-54) geht es besonders um eine chronologische Geschehensumstellung, in der Matthäus eine Aufhebung der Zeit verwirklicht hat, da er die in seiner Erzählung noch nicht geschehene Auferstehung Jesu in der Stunde seines Todes bereits erzählt und sogar eine Auferstehung der Toten an dieser Stelle erwähnt. Hier erkennt der Leser selbstverständlich, dass diese Szene in der Erzählung zu früh kommt, da sie in der Diegese später erscheinen müsste.55 Eine derartige Dissonanz in einer Geschichte ist ein häufig wahrzunehmendes Erzählphänomen, das als „narrative Anachronie“ bezeichnet wird. Aber die Todesszene in der matthäischen Erzählung wirkt sehr eigentümlich und bleibt folglich rätselhaft. Aus diesem Grund werden wir des Weiteren angesichts unseres Interesses eine grundlegende Zeitkonzeption in der Erzähltheorie skizzieren, um die rätselhafte Szene später nochmals genauer zu betrachten, damit wir die besondere Chronologie des matthäischen Erzählens besser verstehen können. (1) Erzählzeit vs. Erzählte Zeit Betrachtet man Erzählen als ein zeitliches Phänomen, so muss man zwischen der Zeit des Geschehens und der Zeit der Erzählung unterscheiden. Um dieses Verhältnis systematisch zu erfassen, hat Günter Müller erstmals das Phänomen der „zweierlei Zeit“, in Analogie zur Unterscheidung zwischen ‚Erzähltem’ und ‚Erzählen’ formuliert.56 Darüber hinaus ergibt sich das Begriffspaar „erzählte Zeit vs. Erzählzeit“. Diesen Unterschied kann man auch im 27. Kapitel, wo Matthäus den längsten Tag seiner Narrative schildert, deutlich wahrnehmen. Die Erzählung beginnt am Morgen (prwi