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German Pages 230 [232] Year 2017
Michael Petery Die Betreuung Schwerkranker und Sterbender in Bayerischen Jüdischen Gemeinden heute
Studies in Spiritual Care
Edited by Simon Peng-Keller, Eckhard Frick, Christina Puchalski, John Swinton
Volume 3
Michael Petery
Die Betreuung Schwer kranker und Sterbender in Bayerischen Jüdischen Gemeinden heute
ISBN 978-3-11-054346-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054533-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054347-6 ISSN 2511-8838 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Danksagung
XI
Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung 1 . Der historische Zusammenhang 1 . Zielsetzung und Fragestellung der vorliegenden Arbeit Theorie . .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. ..
. .. .. .. ..
4
und Grundlagenteil 6 Begriffsklärungen 6 6 Der Gottesname Bikkur Cholim ()ביקור חולים 6 Chewra kaddischa ()ֶחְב ָרא ַק ִדיָשא 7 7 Goses ()גּוּשּשּ Kaddisch ()קדיש 8 Mizwa ()מצוה 8 8 Tahara ()ָטֳה ָרה Liberal – konservativ – orthodox 9 Aktueller Forschungsstand 10 Die jüdische Einwanderung und die Situation der jüdischen 10 Gemeinden Die Situation der jüdischen Einwanderer 17 Konsequenzen für den Umgang mit jüdischen Migranten 24 in der Gesundheitsfürsorge und Pflege Begleitung jüdischer Schwerkranker und Sterbender in einführenden Darstellungen für Nichtjuden 26 Benjamin David Soussan () Gisa Zeiß () Andrea Zielke-Nadkarni () Georg Schwikart () Tom Kučera () Birgit Heller () Fazit Konzepte der jüdischen Theologie und Ethik 38 Definitionen von Spiritualität im Umfeld von Palliative Care Jüdische Spiritualität des Handelns 41 Jüdische Spiritual Care 46 Das Ende des Lebens aus der Sicht der jüdischen Medizinethik 48
38
VI
Inhalt
.
Zusammenfassung
Design . . .. ..
55 und methodische Konzeption der Untersuchung Angaben zum Forscher 55 Das Studiendesign 55 56 Methodische Orientierung Auswahl der Interviewpartner und Beschreibung des Sampling 58 Anonymität der Teilnehmer 59 Die Datenerhebung 60 64 Die Transkribierung der Interviews Das Auswertungsverfahren und die Qualität der Ergebnisse Gesamtübersicht über die Arbeitsschritte und den zeitlichen 72 Ablauf
.. .. .. . .
53
64
Auswertung 74 74 . Die Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder .. Bedürfnis nach Beratung und organisatorischer Hilfestellung 74 .. Bedürfnis nach Krankenbesuch und menschlicher 76 Zuwendung .. Bedürfnis nach Religion/Spiritualität 79 ... Das Bedürfnis nach spiritueller Betreuung und seelsorglicher 79 Begleitung ... Kashrut 82 ... Weitere Bedürfnisse in Bezug auf Religion und Spiritualität 85 . Angebote der Gemeinden 87 .. Gemeindeleitung und Sozialabteilung 90 ... Organisationsstrukturen und Zuständigkeiten 91 ... Hilfsangebote der Sozialarbeiter 92 .... Dolmetscher-Tätigkeit 92 .... Begleitung 93 .... Notfallhilfe 94 .... Sozialarbeit und Organisation 94 ... Materielle Unterstützung 94 95 ... Weitere Hilfsangebote ... Hilfsangebote beim Begräbnis und für die Hinterbliebenen 97 .. Bikkur Cholim-Gruppe und Krankenbesuch 99 .. Angebot Chewra kaddischa 102 .. Angebote der Rabbiner 105
Inhalt
... ... .. ... ... . .. ... ... ... ... .. .. ... ... ... .. .... ... .. ... ... ... ... .. ... ... ...
VII
Positionen der Rabbiner zum Krankenbesuch 106 117 Weitere Angebote durch die Rabbiner Angebote zur Fortbildung 119 Interne Mitarbeiterfortbildung 119 Fortbildung/Beratung bei Partnerorganisationen 121 122 Problemfelder Probleme im Bereich Religion 122 122 Die Gemeindemitglieder und ihr Bezug zur Religion Das Problem der Anerkennung von Gemeindemitgliedern als Juden 127 Religiöse Probleme im Krankenhaus und in 128 Pflegeeinrichtungen Unterschiedliche Vorstellungen zum Begräbnis 130 Probleme durch Antisemitismus und Angst vor 132 Antisemitismus Probleme im Bereich Krankenhaus und medizinische 135 Betreuung Information der Gemeinden über jüdische Patienten 135 Besondere gesundheitliche Belastung von Patienten aus der GUS 140 Probleme durch Einsparungen beim 141 Krankenhausaufenthalt Probleme der Patienten 143 Allgemeine Probleme jüdischer Patienten: Isolation, Fremdheit, 143 Armut Spezielle Probleme von Holocaust-Überlebenden und Angehörigen der Second Generation 145 Probleme der Betreuer 149 Zeitmangel 149 Psychische Belastung 150 Sprachliche und interkulturelle Probleme 151 Geringes berufliches Selbstbewusstsein 152 Probleme der Gemeinden 153 Probleme bei der Personalausstattung und bei Rekrutierung ehrenamtlicher Helfer 153 Probleme durch die Konkurrenzsituation mit privaten Pflegediensten 155 Probleme in der Zusammenarbeit mit Betreuungsorganisationen 156
VIII
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Inhalt
Umgang mit Problemen 157 157 Idealbilder als Handlungsmotivation Idealstrukturen des Gemeindelebens 158 Der „ideale Tod“ 161 Theologische Erklärungsmodelle ultra-orthodoxer 162 Rabbiner Das Konzept der Mizwa- die Religiosität des Handelns 166 167 Jüdische Medizinethik Recht auf Grundversorgung und Analgetika 168 Nahrungsverweigerung 169 Unbedingte Wertschätzung des Lebens und lebensverlängernde 170 Maßnahmen Sterbebegleitung 171 172 Praktische Lösungsvorschläge Unterstützung der Angehörigen und soziale Vernetzung 172 Verbesserungsvorschläge für die Zusammenarbeit mit 174 den Kooperationspartnern Verbesserung der Mitarbeiterfortbildung bei den Kooperationspartnern 179 Einrichtung von jüdischen Senioren- bzw. Pflegeheimen 181 183 Ausbildung jüdischer Hospizhelfer Anregungen in Bezug auf die seelsorgliche Betreuung 187
Diskussion 193 . Ergebnisse der Studie 193 .. Bedürfnisse schwerkranker und sterbender Gemeindemitglieder 194 .. Angebote für Schwerkranke und Sterbende in den Gemeinden 195 .. Problemfelder 196 .. Umgang mit Problemen 198 . Die Ergebnisse im Kontext bisheriger Forschung 200 .. Zur Situation der Gemeinden 200 .. Vergleich mit den einführenden Darstellungen 201 .. Vergleich mit Konzepten der jüdischen Theologie und Ethik 201 .. Das Verständnis der Interviewpartner von Spiritualität und Spiritual Care 202 . Schwächen der Studie 203 . Stärken der Studie 205
Inhalt
. . .
Klinische und pflegerische Konsequenzen 206 208 Fragestellung für künftige Forschung Konklusion 209
Literaturverzeichnis 216 Weblinks: Abbildungsverzeichnis Sachregister
219
211
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IX
Danksagung Die vorliegende Arbeit wäre ohne die Mithilfe und die Begeisterung vieler Menschen niemals zustande gekommen. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater danken, Herrn Prof. Dr. Traugott Roser, der meine Arbeit vier Jahre lang mit seinem Rat betreute und mich mit vielfältigen Anregungen unterstützte. Seit 2011 konnte ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Spiritual Care an der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin an der LudwigMaximilians-Universität München vielfältige Einblicke in die aktuelle Forschung im Bereich der Palliativmedizin und der seelsorglichen Betreuung Schwerkranker und Sterbender gewinnen- in diesem Zusammenhang herzlichen Dank an Prof. Dr. Eckhard Frick sj und an Prof. Dr. Niels-Christian Hvidt, seit 2013 Nachfolger von Prof. Dr. Traugott Roser an der Professur. Das Doktorandenkolloquium der Professur war für mich eine wichtige Plattform, bei der ich meine Ergebnisse in ihrem jeweiligen Ausarbeitungsstand vorstellen und diskutieren konnte. Eine weitere Plattform, der ich wichtige Anregungen verdanke, ist der Arbeitskreis Forschung an der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München unter der Leitung von Prof. Dr. Claudia Bausewein und Dr. Martin Fegg. Für die methodischen Fragen bei meiner Arbeit habe ich sehr profitiert durch die Teilnahme an der Münchner Werkstatt für qualitative Forschung, einer peergroup von in der qualitativen Forschung arbeitenden Wissenschaftlern. Hier konnte ich meinen Interviewleitfaden und Interviewausschnitte zur Diskussion vorlegen, so auch bei Veranstaltungen mit Prof. Dr. Philipp Mayring und Prof. Dr. Albrecht Lehmann. Für die methodische Beratung und für die unabhängige Zweitauswertung exemplarischer Interviewtranskripte zum Zweck der gemeinsamen Erarbeitung eines Kategoriensystems gebührt Dr. Katja Kühlmeyer von der Werkstatt für Qualitative Forschung ein ganz besonderer Dank. Ein herzliches Toda Rabah geht an die hier nicht namentlich genannten Rabbiner und Mitarbeiter der bayerischen jüdischen Gemeinden, die sich für die Interviews viel Zeit genommen haben und sehr persönlich über ihr Engagement bei der Betreuung Schwerkranker und Sterbender berichtet haben. Ebenfalls sehr herzlich bedanken möchte ich mich bei ich der Evangelischen Stiftung Hospiz und ihrer Schirmfrau Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler, welche durch großzügige Bereitstellung von Sachmitteln die vorliegende Arbeit möglich gemacht hat. Nicht zuletzt danke ich meiner Ehefrau, Kathrin Hörner-Petery, für die vielen Gespräche und Diskussionen über die vorliegende Arbeit und die tatkräftige Unterstützung beim Lesen der Korrekturen.
1 Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung 1.1 Der historische Zusammenhang Der Krankenbesuch (Bikkur cholim) ist eine der Grundaufgaben in der jüdischen Ethik. In Deutschland gibt es seit dem Mittelalter insbesondere in Form der Judenspitäler eine kontinuierliche Tradition in der Betreuung, Versorgung und Begleitung Schwerkranker und Sterbender, die sich erst Ende des 19. Jahrhunderts in ehrenamtliche und professionalisierte Betreuungsformen differenziert hat. Traditionell ist der Krankenbesuch die Aufgabe der Chewra kaddischa. Wörtlich übersetzt heißt diese Institution „heiliger Freundeskreis“, oft wird ihr Name auf Deutsch auch mit „Beerdigungsbruderschaft“ wiedergegeben, eine Bezeichnung, die allerdings zu kurz greift. In München wurde 1806, bei der Neuzulassung der jüdischen Gemeinde nach jahrhundertelangem Verbot jüdischen Lebens in der Stadt, sogleich der „Israelitische Verein für Krankenpflege, Bestattungswesen und religiöse Belehrung“ gegründet. Hier findet sich folgende Regelung in der Satzung: „Wir sind über eingekommen, das wichtige Gebot des Krankenbesuches [kursiv im Original] in unserer Mitte zu pflegen. Sollte eines der Mitglieder oder seiner männlichen Angehörigen erkranken. [sic!] So müssen täglich zwei Mitglieder der Reihe nach den Kranken besuchen und nötigenfalls auch für ihn sorgen.“¹ In der Satzung von 1829 heißt es: „Ein jeder männliche [sic!] Israelit, welcher erkrankt ist und den Vereinsvorsteher um Besuche bitten lässt, erhält von diesem baldmöglichst den erwünschten Besuch. Der Vorsteher verabredet mit dem Kranken die Art der Besuche. Hier-auf wird eine Kontroll-Liste eröffnet und dem Vereinsdiener behändigt. Letzterer muß nun dafür Sorge tragen, daß die Besuche pünktlich eingehalten werden. – § 2. Die beiden Vorsteher oder deren Ersatzmänner haben abwechselnd den Kranken jeden Tag einen Besuch zu machen. Nach Gutbefinden und mit Zustimmung beider Vorsteher kann auch bei notleidenden, kranken Vereinsmitgliedern Unterstützung an Geld verabfolgt werden.– § 3 bestimmt, daß bei herannahendem Ende stets zwei Personen bei Tag und bei Nacht in der Nähe des Kranken sein sollen. Bei Vereinsmitgliedern wird die Zahl der Nachtwachenden auf vier erhöht, die um ein Uhr nachts von vier anderen abgelöst werden sollen. Erwähnung verdient noch § 10, wonach für einen verweigerten Tagesbesuch 12 Kreuzer, für einen verweigerten Nachtbesuch 24 Kreuzer Bußgeld festgesetzt wird. Dieser Betrag ist für einen zu mietenden Ersatzmann bestimmt, eventuell soll er der Vereinskasse zufallen.“²
Ehrentreu 1906, S. 16. Ehrentreu 1906, S. 14 f. DOI 10.1515/9783110545333-001
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1 Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung
In ähnlicher Weise organisieren sich auch in anderen Orten des Königreichs Bayern die Vereine der Chewra kaddischa. Bis zur Shoa verfügten – wie überall in den jüdischen Gemeinden üblich³ – alle der etwa 200 jüdischen Gemeinden in Bayern über eine eigene Chewra kaddischa, die Seelsorge und Besuche überall dort verrichteten, wo kranke und sterbende Gemeindemitglieder versorgt wurden. Die Tätigkeit dieser Vereine in Bayern ist nahezu unerforscht, obwohl es sich hier um ein zentrales Gebiet jüdischen Gemeindelebens handelt. Für Deutschland und Bayern fehlt bis heute eine Untersuchung, die über den Rahmen lokalhistorischer Abhandlungen hinausgeht. Im 19. Jahrhundert waren jüdische Gemeinden Wegbereiter einer modernen Krankenbetreuung.⁴ Fürth machte 1846 mit der Gründung eines Israelitischen Krankenhauses den Anfang⁵, es folgten Würzburg 1885⁶ und München 1910.⁷ Parallel zur Gründung von Krankenhäusern kam es zu Filialgründungen des Frankfurter Vereins für jüdische Krankenpflegerinnen in München und Nürnberg im Jahr 1900 und im gleichen Jahr zur Gründung des Israelitischen Schwesternheims in München, analog zur Krankenpflege der christlichen Kirchen. Jüdischen Krankenpflegerinnen bot sich im Rahmen der christlichen Einrichtungen wie etwa der Diakonie kein Zugang zu Ausbildung und beruflicher Anstellung; die Gründung eigener jüdischer Ausbildungsinstitutionen sollte hier Abhilfe schaffen und das Vorurteil widerlegen, jüdische Frauen würden sich zur Krankenpflege nicht eignen.⁸ Damit entwickelt sich in Deutschland ein spezifisch jüdisches Krankenhauswesen, das erst durch den Nationalsozialismus sein gewaltsames Ende gefunden hat.⁹ Eine detaillierte Untersuchung der Geschichte der bayerischen Israelitischen Krankenhäuser bis zu ihrer Auflösung in der NS-Zeit fehlt bis heute. Alle diese Einrichtungen wurden durch die Shoa mitvernichtet – in München ganz sinnfällig durch den winzigen Rest der Gartenmauer, die als einziges vom Israelitischen Krankenhaus bis heute übrig geblieben ist. Darüber hinaus gibt es
Levy 1927b, Sp. 1358. Zur Geschichte der jüdischen Krankenpflege in Deutschland (mit Schwerpunkt Frankfurt) hat Hilde Steppe 1997 die erste umfassende Monographie [Steppe1997] vorgelegt. Außerdem gibt es zu diesem Thema das Internet Archiv http://www.juedische-pflegegeschichte.de (abgerufen am 25.9. 2014). http://www.alemannia-judaica.de/fuerth_hospital.htm Artikel in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 13. April 1885: http://www.alemannia-judaica.de/ images/Images%20223/Wuerzburg%20Israelit%2013041885.jpg Kluy 2009, S. 183. Vgl. Steppe 1997, S. 91. Zu der Schließung des Israelitischen Krankenhauses in München und zur Deportation von Patienten, Ärzten und Pflegepersonal vgl. Spies 1982.
1.1 Der historische Zusammenhang
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noch einige Akten im Münchner Stadtarchiv¹⁰ – Material für eine deutsch-jüdische Medizingeschichte, die bislang noch ungeschrieben ist. Die Aufarbeitung dieser Akten bleibt ein dringendes wissenschaftliches Desiderat, das auch im Rahmen der vorliegenden Studie nicht erfüllt werden kann.
Abbildung 1: Das Israelitische Krankenhaus in München Quelle: links: http://www.schoah.org/pogrom/muenchen/muenchen.htm (abgerufen am 10. 2. 2014); rechts: Fotografie des Verfassers
Nach 1945 hat sich die Struktur und der Charakter der bayerischen jüdischen Gemeinden bei ihrer Neugründung vorwiegend durch Überlebende der Konzentrationslager, die aus osteuropäischen Ländern kamen, entscheidend gewandelt. Ein zweiter Einschnitt ist das Jahr 1991, als durch die Aufnahme jüdischer Einwanderer aus den GUS-Staaten die Mitgliederzahl der Gemeinden um ein Vielfaches gewachsen ist (vgl. dazu ausführlich unten, S. 11 ff). Die Aufarbeitung der Geschichte der jüdischen Krankenpflege, sowohl durch gemeindliche ehrenamtliche Begleitung im Sinne der Chewra kaddischa als auch in Gestalt professionalisierter Strukturen wie Krankenhäusern und Krankenpflegeschulen ist in mehrfacher Hinsicht ein Desiderat: in historischer und zeitgeschichtlicher Hinsicht ebenso wie aus medizinhistorischer Perspektive und in Hinsicht auf die Fragestellung spiritueller Aspekte des Gesundheitswesens heute (Spiritual Care), insbesondere angesichts der antijudaistischen und antisemitischen Entwicklungen vor und nach der Shoa. Eine wissenschaftliche Sichtung der
Telefonische Auskunft im Juli 2012 durch Dr. Andreas Heusler (Münchner Stadtarchiv) an den Verfasser.
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1 Fragestellung und Zielsetzung der Untersuchung
aktuellen Praxis der Betreuung Schwerkranker und Sterbender in bayerischen jüdischen Gemeinden heute fehlt bisher ebenso wie eine eingehende Untersuchung der historischen Perspektive. Die immer noch im Werden begriffene Neuorganisation der Gemeinden ist insofern von besonderem Interesse, als sich hier verschiedene Modelle der Betreuung Schwerkranker und Sterbender in ihrem Entstehen beobachten und beschreiben lassen: Wie knüpfen Gemeinden an die Tradition der Chewra kaddischa an? Wo sind eigene Einrichtungen der Gesundheits- und Altenfürsorge vorhanden? Gibt es Kontakte zu und Kooperationen mit Einrichtungen anderer Träger, und wenn ja: Wie gestalten sich diese? Dazu kommt die wichtige, im Hintergrund stets präsente Frage: Wie sieht es mit dem eigenen jüdischen Selbstverständnis aus? Verstehen sich die Gemeinden mehr als die Vertretung einer spezifischen Einwanderergruppe oder als religiöse Institution? Wie sieht das jüdische Selbstverständnis der Gemeindemitglieder aus? Spielt die im Vorkriegsdeutschland so wichtige Unterscheidung zwischen liberalem und orthodoxem Judentum hier wieder eine Rolle? Auch wenn die Vielzahl dieser Fragen nicht in einer einzigen Studie beantwortet werden kann, bilden sie doch den historisch bedingten Rahmen, der bis heute die jüdischen Gemeinden prägt und auch in einer Studie, die sich mit der gegenwärtigen Situation beschäftigt, mitberücksichtigt werden muss.
1.2 Zielsetzung und Fragestellung der vorliegenden Arbeit Die gegenwärtige Situation der Betreuung Schwerkranker und Sterbender in den bayerischen Jüdischen Gemeinden zu erforschen, ist Aufgabe der vorliegenden Studie. Dabei geht es um das Ziel, die Sichtweise der in den Gemeinden für die Betreuung der Schwerkranken und Sterbenden verantwortlichen Personen möglichst differenziert in ihrer Vielschichtigkeit kennenzulernen. Deswegen fiel die Wahl des Forschungsweges auf einen qualitativen Forschungsansatz, der die Interviewpartner als Experten auf ihrem eigenen Gebiet ansieht und ihre Aussagen nach den Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse auswertet. Somit ergeben sich für die Studie drei Hauptziele: – Zum ersten soll die konkrete Situation der Betreuung Schwerkranker und Sterbender in den Gemeinden möglichst umfassend beschrieben werden, wobei die Angaben der Interviewpartner über Strukturen und Angebote in den Gemeinden erfasst werden sollen. – Zum zweiten sollen die Bedürfnisse schwerkranker Gemeindemitglieder, so wie sie von den Interview-Partnern beschrieben werden, dargestellt und untersucht werden.
1.2 Zielsetzung und Fragestellung der vorliegenden Arbeit
–
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Zum dritten sollen die dabei entstehenden Probleme und die Lösungsstrategien festgestellt und analysiert werden, mit denen in den Gemeinden versucht wird, mit diesen Problemen umzugehen.
Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung kann die Forschungsfrage wie folgt formuliert und mit drei Unterfragen präzisiert werden: Welche Einstellungen und Erfahrungen finden sich bei Mitarbeitern in bayerischen jüdischen Gemeinden, wenn sie in einem Interview über die Betreuung Kranker und Sterbender in ihrer Gemeinde sprechen? 1. Welche Angebote gibt es für die Kranken und Sterbenden (ggf. gemeinsam mit Kooperationspartnern)? 2. Wie schätzen sie die Bedürfnisse kranker jüdischer Gemeindemitglieder ein? 3. Welche Probleme begegnen ihnen dabei und wie gehen sie damit um?
2 Theorie und Grundlagenteil Bevor die Methodik und die Ergebnisse der Studie vorgestellt werden können, sollen in diesem Abschnitt zuerst einige wichtige Begriffe erklärt werden. Zum zweiten geht es in diesem Abschnitt um die Vorstellung des aktuellen Forschungsstandes zur Situation in den jüdischen Gemeinden heute sowie zum dritten um die Vorstellung einiger Konzepte der jüdischen Theologie und Ethik, die bei der Betreuung Schwerkranker und Sterbender eine Rolle spielen.
2.1 Begriffsklärungen Sowohl in der Fachliteratur wie auch in den geführten Interviews finden sich einige hebräische Begriffe, die an dieser Stelle kurz eingeführt sein sollen. Da es keine einheitliche Transkriptionsregeln für hebräische Wörter ins Deutsche bzw. Englische gibt, begegnen die Begriffe in manchen Texten auch in leicht veränderter Schreibweise.
2.1.1 Der Gottesname Auch wenn in der Thora der Gottesname als Tetragramm JHWH erscheint, scheuen sich Juden aller Denominationen, den Gottesnamen auszusprechen bzw. zu vokalisieren, um dadurch die Gefahr des Missbrauchs nach Ex. 20,7 zu vermeiden.¹ Im jüdischen Bereich wird daher lieber von Adonai oder Ha-Shem („der Name“) gesprochen.² Juden gegenüber ist die Aussprache der christlichen Vokalisierung des Gottesnamens möglichst zu vermeiden.
2.1.2 Bikkur Cholim ()ביקור חולים Bikkur Cholim bedeutet übersetzt Krankenbesuch. Es handelt sich im Judentum um eine der wichtigsten Mizwot (vgl. 2.1.6), die bereits seit dem Talmud vielfältig diskutiert und kommentiert wurde. Für Juden gilt die Pflicht, Kranke zu besuchen, unabhängig davon, ob die Kranken jüdisch sind oder nicht.³ Im Talmud-Traktat
Vgl. Kristianpoller 1928, Sp. 1239. Vgl. Magonet 2003, S. 24 ff. Levy 1927a, S. 1037. DOI 10.1515/9783110545333-002
2.1 Begriffsklärungen
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Nedarim 39b heißt es: „Wer einen Kranken besucht, nimmt ihm ein Sechzigstel seiner Leiden.“⁴ Wilhelm Levy erläutert im Jüdischen Lexikon von 1927, das bis heute im deutschen Sprachraum noch keinen entsprechenden Nachfolger gefunden hat und nach wie vor die ausführlichste deutschsprachige Auswertung der Quellentexte darstellt: „Zum K.-besuch gehört auch, sich um den K. zu bemühen, ihm beizustehen, ihn zu trösten, und, wenn notwendig, ihn auch zu pflegen.“⁵ Eine neuere Übersicht über die jüdischen Quellen bietet der Aufsatz von Charles Sheer: The Origins of Jewish Pastoral Care⁶. Sheer diskutiert in diesem Zusammenhang auch die Frage, wie klassische Konzeptionen von Bikkur Cholim mit moderner jüdischer Krankenseelsorge in Einklang gebracht werden können und entwickelt einen Katalog für weiterführende Forschungsthemen. Dazu gehört etwa die Frage, ob jüdische Krankenseelsorger mit den Patienten beten sollten.⁷
2.1.3 Chewra kaddischa ()ֶחְב ָרא ַק ִדיָשא Das aramäische Chewra kaddischa bedeutet wörtlich „heiliger Freundeskreis“ und bezeichnet einen „seit Jahrhunderten in allen j. Gemeinden bestehenden Verein, dessen vornehmster Zweck die Erweisung von Liebesdiensten in Krankheits- und Todesfällen ist“⁸. Vielfach hat sich der Aufgabenbereich der Chewra kaddischa auf die Vorbereitung der Beerdigung durch die Tahara (vgl. 2.1.7) und die Gestaltung der Beerdigung eingeengt.⁹
2.1.4 Goses ()גּוּשּשּ Als Goses wird in der rabbinischen Literatur ein Mensch bezeichnet, dessen Sterben unmittelbar zu erwarten ist. Barry M. Kinzbrunner gibt folgende Definition: „[…] a goses is a patient who would be described by people working in endoflife care today as ‘actively dying.’ This state has been defined in Jewish texts as existing during the last 3 or so days of a person’s life and is recognizable by the heavy, labored, erratic breathing that a patient experiences when death is considered imminent and/or patient’s inability to clear secretions from their upper
Zitiert nach Levy 1927a, S. 1037. Ebd. Sheer 2008. Ebd., S. 111 f. Levy 1927b, Sp. 1358. Vgl. Goldberg 2011.
8
2 Theorie und Grundlagenteil
airway, compatible with what is described as ‘death rattle’.“¹⁰ Für den Goses gelten bestimmte Regeln: der Sterbeprozess darf weder behindert werden (etwa durch medizinische Maßnahmen, die den Tod nur verzögern) noch beschleunigt (etwa durch unnötiges Berühren oder Wenden des Körpers).¹¹
2.1.5 Kaddisch ()קדיש Das Wort Kaddisch kommt aus dem Aramäischen und bedeutet „Heiligung“. Andreas Lehnhardt definiert in der Enzyklopädie Jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK): „Als Kaddischgebet wird ein kurzes Gebet in hebräischer und aramäischer Sprache bezeichnet, das in verschiedenen Versionen überliefert ist. Es enthält neben doxologischen Formeln vor allem Bitten um die Heiligung des Namens, das Kommen der Königsherrschaft Gottes und um Frieden. Als Gebet zum Gedenken an Verstorbene gilt es heute als das Gebet für die Toten schlechthin.“¹² Bemerkenswert ist, dass weder Tod noch die Frage eines möglichen Lebens nach dem Tod in dem Gebet thematisiert werden.
2.1.6 Mizwa ()מצוה Mizwa (Plural: Mizwot) bezeichnet „die religiösen Gebote oder Pflichten“¹³. Die Mizwot haben im Judentum eine besondere Bedeutung, „da die j. Religiosität ihre Eigenart ganz wesentlich als ein Tatleben gemäß der göttlichen Forderung der M. erfaßt“ (Max Joseph im Jüdischen Lexikon 1930)¹⁴, mit anderen Worten: Religiosität beinhaltet im Judentum immer auch ein Tun.
2.1.7 Tahara ()ָטֳה ָרה Wilhelm Levy erklärt die Tahara („Reinigung“) im Jüdischen Lexikon wie folgt: „Die Tahara […] bezeichnet die rituelle Waschung und Bekleidung der Toten. Vor
Kinzbrunner S. 563 f. Vgl. ebd., S. 564, sowie Resnicoff , Steven H.: Physician-Assisted Suicide Under Jewish Law. URL: http://www.jlaw.com/Articles/phys-suicide.html (abgerufen am 23.10. 2014), Abschnitt II.A.4: The Special Case of the „Goses“. Lehnhardt 2012, S. 290. Pitkosky 2013, S .217. Joseph 1930, Sp. 245.
2.1 Begriffsklärungen
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der Leichenbestattung werden die Verstorbenen unter bestimmten Zeremonien und Gebeten von Kopf bis Fuß mit lauwarmem Wasser gewaschen, gekämmt, gereinigt und sodann mit den vorschriftsmäßig angefertigten Sterbegewändern (Tachrichin) bekleidet.“¹⁵
2.1.8 Liberal – konservativ – orthodox Es gibt drei Hauptrichtungen im Judentum, die auch in Deutschland jeweils mit eigenen Verbänden vertreten sind und sich in ihrer Selbstbezeichnung wie folgt unterscheiden: die Union progressiver Juden in Deutschland e.V.¹⁶ (liberal), die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland¹⁷ unter dem Dach des Zentralverbands der Juden (orthodox), und Masorti e.V.¹⁸ (konservativ). In Deutschland und in Bayern dominierte bis zur Shoa das liberale Judentum – die „Orthodoxen“ formierten sich nach Einführung des Selbstbestimmungsrechtes für die Jüdischen Gemeinden nach 1871 als Minderheit gegen die als allzu „assimiliert“ empfundenen Liberalen.¹⁹ Die Neugründung der Gemeinden nach 1945 erfolgte überwiegend durch Überlebende der Konzentrationslager aus Osteuropa, welche ihre eigene orthodoxe Tradition nach Deutschland brachten.²⁰ In Bayern werden gegenwärtig nahezu alle jüdischen Gemeinden von orthodoxen Rabbinern betreut. Ausnahme sind Augsburg (liberal), Bamberg (konservativ) und Weiden (konservativ). Außerdem gibt es in München die Liberale Jüdische Gemeinde Beth Shalom, sowie zwei Chabad-Lubavitsch-Gruppen in München und Nürnberg (chassidisch).²¹
Levy 1930, Sp.833. Union progressiver Juden in Deutschland e.V. URL: http://www.liberale-juden.de/ (abgerufen am 25.9.14). Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD). URL: http://www.ordonline.de/ (abgerufen am 25.9.14). Masorti e.V. URL: http://www.masorti.de Zu den Münchner Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Orthodoxen vgl. Pyka 2006; S. 94 ff. Kauders/Lewinsky 2006, S. 196 ff. http://www.chabadgermany.com (abgerufen am 25.9.14). Hier auch weitere Informationen zum Selbstverständnis des chassidischen Judentums.
10
2 Theorie und Grundlagenteil
2.2 Aktueller Forschungsstand Drei Themenkreise in der bisherigen Forschung sind der Bezugsrahmen der vorliegenden Arbeit: die empirischen sozio-demographischen Daten zur Situation der jüdischen Gemeinden, die bisherigen Forschungen zur Situation jüdischer Patienten in Medizin, Psychologie und Pflegewissenschaft, sowie die vorhandenen Handbücher und Darreichungen zum Umgang mit jüdischen Patienten.
2.2.1 Die jüdische Einwanderung und die Situation der jüdischen Gemeinden Seit 1991 nimmt Deutschland Menschen mit jüdischer Abstammung aus den GUS‐Staaten als sogenannte Kontingentflüchtlinge auf.²² In einer Publikation des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wird die Zuwanderung in Zahlen beschrieben: „Nach Angaben der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland […] ist die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden in Deutschland von 29.089 im Jahr 1990 auf 102.472 im Jahr 2003 angestiegen. Dieser erhebliche Zuwachs der Mitgliederzahl ist vor allem auf die Zuwanderung aus den GUS-Staaten bzw. der ehemaligen Sowjetunion zurückzuführen. 1990 entfielen nur 3,5 % der jüdischen Gemeindemitglieder auf Zuwanderer aus den GUS-Staaten; 2003 waren es 89.819, d. h. 88 % der Gesamtzahl der 2003 verzeichneten Gemeindemitglieder. Eine entsprechende Mitgliederentwicklung zeigt sich natürlich auch in den einzelnen Landesverbänden und Gemeinden.“²³
Bayern und Nordrhein-Westfalen waren die beiden Bundesländer mit der höchsten Aufnahmequote jüdischer Zuwanderer.²⁴ Diese Zuwanderung veränderte auch die Mitgliederzahlen der bayerischen jüdischen Gemeinden erheblich (Abb. 2). Die Mitgliederzahl der im Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden organisierten Gemeinden stieg zwischen 1989 bis 2012 von 1118 auf 6962 Mitglieder²⁵. Dazu kommt noch die Israelitische Kultusgemeinde München, die nicht Mitglied im Landesverband ist: hier ist die Mitgliederzahl von 4050 im Jahr 1990 auf 9497 im Jahr 2009 gestiegen²⁶. Ebenfalls nicht mitgezählt sind die Mitglieder der Liberalen Jüdischen Gemeinde München Beth Shalom.
Zu den politischen Details und rechtlichen Grundlagen vgl. Sauer 2006, S. 117 ff. Haug/Schmany 2005, S. 8. Haug/Wolf 2006, S. 72. Zentralwohlfahrtsstelle 2012, S. 10. Michael Brenner, Judentum (nach 1945), in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: http://www. historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_46106 (04.09. 2013)
2.2 Aktueller Forschungsstand
11
1.600 1.400 1.200
Personen
1.000 800 600 400 200
Ho Re f ge ns bu rg St ra ub in g W ei de n W ür zb ur g
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0
Gemeinden
Abbildung 2: Mitgliederentwicklung gemäß Zentralwohlfahrtsstelle der Juden Quelle: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (Hg.): Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland für das Jahr 2012. URL: http://www. zwst.org/cms/documents/178/de_DE/ZWST-Mitgliederstatistik-2012-web.pdf S. 10 (abgerufen 26. 01. 2014) [Zentralwohlfahrtsstelle 2012]
Die Frage, welche der Einwanderer religionsrechtlich als Juden gelten können, ist nicht einfach zu beurteilen, wie in der Publikation des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge erklärt wird, auch wenn die ehemalige Sowjetunion Juden durch einen Passeintrag amtlich registrierte und kennzeichnete: „Die Eintragung der jüdischen Nationalität im Pass erfolgt nach russischem Recht aufgrund der Abstammung jüdischer Eltern. Falls die Eltern verschiedener Nationalität sind, kann sich das Kind nach dem 16. Lebensjahr für eine der Nationalitäten der Eltern entscheiden […]. Demgegenüber kann sich nach streng religiöser Auffassung nur ein Kind einer jüdischen Mutter auf die jüdische Abstammung berufen. Bei strikter Anwendung der religiösen Definition würde sich die Zahl der Juden in Russland nach Schätzung von Mertens auf einen kleinen Bruchteil reduzieren. Unter den Begriff der ‚Emigrationsjuden‘ fallen alle Personen, die eine Emigration beabsichtigen, einschließlich der Ehegatten und Kinder, die laut Eintrag
12
2 Theorie und Grundlagenteil
im Pass oder nach Religionsgesetz nicht jüdisch sind […]. Unklar ist hierbei, inwieweit sich dieser Personenkreis dem Judentum zugehörig fühlt.“²⁷
Nach der Zusammenstellung von Chtcherbatova und Gus²⁸ sind von den 219.604 aus der ehemaligen Sowjetunion bis 2004 eingewanderten Juden nur 105.733 Mitglieder der jüdischen Gemeinden geworden. Die religionsrechtliche Anerkennung unterscheidet sich von der zivilrechtlichen Lage: „Für die Anerkennung als jüdischer Kontingentflüchtling in Deutschland stellt dagegen – unabhängig von der streng religiösen Sichtweise – die Eintragung der jüdischen Nationalität in russischen Personenstandsdokumenten eine Grundlage dar. Die Einwanderungsregelung in Deutschland bezieht somit auch Personen ein, die von einem jüdischen Vater abstammen.“²⁹ Eine klare statistische Unterscheidung zwischen religionsrechtlich anerkannten und nicht anerkannten Einwanderern fehlt aber, denn „das Merkmal ‚jüdische Nationalität‘ oder „jüdische Religionszugehörigkeit“ wird nach deutschem Recht in der amtlichen und behördlichen Statistik nicht gesondert ausgewiesen.“³⁰ Dank einer speziellen Befragung gibt es von der Landesaufnahmestelle in Bayern für 2005 folgende Angaben: „Im 1. Halbjahr 2005 haben 41 % der Zuwanderer, die Angaben zur Religion und zur Nationalität gemacht haben, sowohl die jüdische Volkszugehörigkeit als auch die jüdische Religion angegeben. Insgesamt waren dies im Jahr 2005 43 %. Im gesamten Jahr 2005 nennen 16 % (13 % im 1. Halbjahr) die jüdische Volkszugehörigkeit, fühlen sich aber der jüdischen Religion nicht verbunden. 9 % (11 % im 1. Halbjahr) nennen keine jüdische Volkszugehörigkeit, geben aber den jüdischen Glauben an, und 32 % (36 % im 1. Halbjahr) aller Zuwanderer bezeichnen sich selbst weder im Sinne der Volkszugehörigkeit noch der Religion als jüdisch, wobei 66 Personen (6 %) aufgrund fehlender Angaben unberücksichtigt bleiben.“³¹ (vgl. Abbildung 3)
Sonja Haug fasst dieses Ergebnis so zusammen: „Ein relativ hoher Anteil der jüdischen Zuwanderer ist nicht jüdischer Abstammung und äußert auch keine Zugehörigkeit zur jüdischen Religion. Dies weist auf einen hohen Anteil an inter-ethnischen Ehen und auf die Bedeutung der Zuwanderung nicht-jüdischer und nichtreligiöser Familienangehöriger hin. Diese Zusammensetzung der jüdischen Zuwanderergruppe könnte sich als problematisch für die Integration innerhalb der jüdischen Gemeinden
Haug/Schmany 2005, S. 4. Chtcherbatova/Gus 2006, S. 89. Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 7. Haug/Wolf 2007, S. 21.
2.2 Aktueller Forschungsstand
13
erweisen. Über die Auswirkungen dieser Haltung zur Religion oder der Zugehörigkeit zu einer anderen Glaubensgemeinschaft von Teilen der jüdischen Zuwanderer auf die strukturelle und kulturelle Integration in die Gesellschaft liegen keine Erkenntnisse vor.“³² 50 45 40
43,2
35 30
32,1
25 20 15
16,0
10 8,7
5 0
Volk jüdisch Religion jüdisch
Volk jüdisch Religion nicht jüdisch
Volk nicht jüdisch Religion jüdisch
Volk und Religion nicht jüdisch Angaben in Prozent
Abbildung 3: Volkszugehörigkeit und Religion Quelle: Haug/Wolf 2007, S. 21
Von der Altersstruktur her waren Ende 2003 nach Angabe der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) deutschlandweit 36 % der Gemeindemitglieder älter als 60 Jahre.³³ Zum 31.12. 2012 waren es deutschlandweit 46 %.³⁴ Diese Verschie-
Haug/Wolf 2007, S. 42. Ebd., S. 8. Zentralwohlfahrtsstelle 2012, S. 3 – Berechnung folgt den Zahlenangaben in der Tabelle. Im Bayerischen Landesverband liegt nach den aktuellen Angaben der ZWST diese Zahl nur bei 38 % – dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die IKG München, der auch das Israelitische Altenheim zugeordnet ist, in dieser Angabe nicht berücksichtigt ist (Zentralwohlfahrtsstelle 2012, S. 12). Würde man die IKG München in der Statistik mitberücksichtigen, läge der Prozentsatz der über 60jährigen vermutlich sowohl auf Bayern- wie auch auf Bundesebene noch höher.
14
2 Theorie und Grundlagenteil
bung der Altersstruktur wurzelt darin, dass im Hauptaufnahmezeitraum 2001– 2004 bereits 59 % der Antragsteller über 40 Jahre alt waren.³⁵ Für manche Einwanderer war die eigene Versorgung im Alter und die bessere medizinische Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger ein Grund ihres Umzugs: „In der GUS waren Militärangehörige, Veteranen, bestimmte Angestellte der Ministerien und Wohlhabende relativ gut versorgt. Insgesamt jedoch hat sich mit der ökonomischen Lage im letzten Jahrzehnt auch die gesundheitliche Versorgung so sehr verschlechtert, dass die PatientInnen für medizinische Hilfsmittel, Medikamente, Bettwäsche, Besteck, Geschirr und ihr Essen selbst sorgen müssen. Auch fehlen Pflegehilfsmittel jeder Art: z. B. Handschuhe oder Inkontinenzvorlagen. […] Außerhalb der Krankenhäuser wird in der GUS Pflegebedarf nur von der Familie oder einer privat finanzierten Pflegeperson gedeckt.Wer niemanden hat oder nicht bezahlen kann, bleibt unversorgt. Für alte Menschen gibt es, ortsabhängig, manchmal die Möglichkeit des Umzugs in ein Altenheim. Dies sind kostenlose, aber minimal ausgestattete Sterbekliniken.“³⁶
Die Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden sind rückläufig: Hauptgrund sind Sterbefälle. Nach Angaben der ZWST starben deutschlandweit in 2012 1282 Mitglieder (im Vergleich zu 199 Geburten). Im Jahr 1990 waren es 431 Todesfälle (zu 109 Geburten).³⁷ Die Rate der Todesfälle im Vergleich zu den Geburten ist also vom Verhältnis 4:1 auf über 6:1 gestiegen. Durch Geburt jüdischer Kinder ist der Mitgliederstand also nicht zu halten. Der Verlust von Mitgliedern wird bislang weitgehend durch Neuzuwanderer, vor allem aus den GUS-Staaten, ausgeglichen. Diese Zuwanderung nimmt aber seit dem Jahr 2000 stetig ab (vgl. Abb. 4). Eine gezielte Strategie zur Gewinnung neuer Mitglieder kennen jüdische Gemeinden nicht: alle jüdischen Richtungen sehen den Übertritt zum Judentum sehr kritisch und raten möglichen Interessenten an einer Konversion, in ihrer eigenen Religion zu verbleiben.³⁸ Neumitgliedschaften durch Übertritt zum Judentum gibt es kaum – in 2012 gab es deutschlandweit 79 Neueintritte, das sind weniger als 0,1 Promille von der Anzahl der Gemeindemitglieder.³⁹ Ohne eine neue Zuwanderungswelle ist für die nächsten Jahre daher ein weiterer Rückgang der absoluten Zahlen der Mitglieder und eine relative Zunahme
Ebd., S. 9. Zielke-Nadkarni/Gremlowski/Deittert 2004, S. 331. Zentralwohlfahrtsstelle 2012., S. 10. Vgl. zu diesem Thema ausführlich: Homolka,Walter und Ester Seidel (Hg.): Nicht durch Geburt allein: Übertritt zum Judentum. 3. Aufl., München 2011. [Homolka 2011]. Zentralwohlfahrtsstelle 2012., S. 10.
2.2 Aktueller Forschungsstand
15
des Anteils der über 60 Jährigen zu erwarten – und damit auch eine Steigerung der Anzahl kranker und betreuungsbedürftiger Gemeindemitglieder.⁴⁰ Michael Brenner, Inhaber des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München, kommt zum Schluss: „Der Zuwachs durch die ‚Kontingentflüchtlinge‘ gewährleistet zwar das Weiterbestehen der Gemeinden für die nächsten Generationen, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die langfristigen Aussichten jüdischen Lebens in Bayern angesichts einer Zahl von 21 Geburten gegenüber 128 Todesfällen im Jahr 2009 weiterhin mit Vorsicht beurteilt werden müssen.“⁴¹ Für die anstehenden Aufgaben der Betreuung kranker Gemeindemitglieder gibt es nur in den beiden größten bayerischen jüdischen Gemeinden in München und Augsburg klare Verwaltungsstrukturen. In München liegt die Aufgabe der Krankenbetreuung vor allem beim Sozialreferat und der Sozialabteilung der Gemeinde: „Das Sozialreferat kümmert sich in enger Zusammenarbeit mit der Sozialabteilung der IKG um die Betreuung bedürftiger und kranker Mitglieder der Gemeinde sowie um das Saul-Eisenberg-Seniorenheim.“⁴²
Um die Belange der russischsprachigen Gemeindemitglieder kümmert sich außerdem das Referat zur Integration russischer Neuzuwanderer und neuer Gemeindemitglieder. Auch in der Augsburger Gemeinde gibt es eine Sozialabteilung: „Der im Jahre 1994 in der IKG Schwaben-Augsburg eingerichtete Sozialdienst betreut heute die Gemeindemitglieder sowie deren nichtjüdische Familienangehörige in diversen sozialen und integrationsspezifischen Fragen, bietet allgemeine Sozialberatung und Hilfe für Menschen in verschiedenen Notlagen. Das Angebot des Sozialdienstes ist eine kostenlose Dienstleistung der jüdischen Gemeinde. Die Aufgaben des Sozialdienstes sind unterteilt in die Bereiche Sozialberatung, Seniorenbetreuung und Psychosoziale Betreuung. Seit 2009 wurde unser Sozialdienst als anerkannte Beratungsstelle im sozialen Bereich in der Betreuungsliste für Migrationsberatung in Bayern aufgenommen. Schwerpunkte: muttersprachliche Beratung, soziale und interkulturelle Kompetenz, gute Vernetzung mit Ämtern und Behörden, sozialen Einrichtungen und Diensten.“⁴³
Vgl. bereits Zielke Nadkarni 2006a, S. 99: „Rund 45 Prozent der Zuwanderer sind 50 Jahre alt, 15 % 70 Jahre oder älter, so dass die Pflegebedürftigkeit, auch aus Altersgründen, absehbar ist.“ Brenner, Michael: Art. Judentum (nach 1945). In: Historisches Historisches Lexikon Bayerns. URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de. (abgerufen am 10. 2. 2014). www.ikg-m.de/gemeinde/organe/ (abgerufen am 10. 2. 2014). http://ikg-augsburg.com/sozialabteilung (abgerufen am 10. 2. 2014).
5.521
8.851
7.092
8.299
8.929
7.366
45.559
53.797
61.203
67.471
74.289
81.739
1994
1995
1996
1997
1998
1999
2000
4.757
3.124
862 704 667
102.472
105.733
107.677
107.794
107.330
106.435
104.241
104.024
102.797
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
Zu-Abgänge Summe 1990 1990–2012 27.711
6.216
98.335
2003
Summe 104.317
481
636
1.296
1.971
6.597
2002
7.152
87.756
93.326
2001
8.608
5.205
36.804
40.917
3.777
33.692
1992
1993
1.008
5.198
27.711
29.089
1991
Mitglleder 01. 01....
Summe
Zugänge
Abgänge
285 391 497 614 640 696 817 864 675 596 745
112 108 228 158 212 180 223 126 199 203 258
4.473
461
177
354
216
134
12.747
563
413
435
473
504
551
701
229 202
496
256
791
293
80
202
247 460
62 93
1.366
79
79
81
50
45
48
46
61
79
74
47
73
74
77
28
40
49
34
77
58
64
41
62
3.378
199
212
168
183
171
168
205
128
139
164
151
117
147
147
123
99
139
104
119
117
148
121
109
13.216
444
382
540
398
565
425
2.539
1.336
322
413
553
345
338
619
286
396
683
450
529
406
190
159
898
202
251
2.690
Summe 139.497
2.227
1.899
2.245
2.024
5.612
256
233
141
189
379
282
5.691
2.281
227
148
226
205
206
239
254
209
283
230
206
285
381
221
359
5.401
6.290
7.870
8.147
8.561
8.915
10.812
9.612
8.479
10.251
10.164
6.745
6.183
4.552
6.072
2.386
20.527
784
701
641
681
870
893
2.411
924
1.058
1.211
1.160
1.241
1.232
1.176
997
955
740
609
709
566
396
365
206
1.282
1.195
1.081
1.137
1.038
1.051
1.302
1.178
1.095
1.185
1.000
990
934
862
782
608
615
501
576
555
460
444
431
11.165
163
548
175
1.808
456
384
495
820
320
705
376
225
160
715
543
162
1.130
442
421
483
300
228
106
102.135
102.797
104.024
104.241
106.435
107.330
107.794
107.677
105.733
102.472
98.335
93.326
87.756
81.739
74.289
67.471
61.203
53.797
45.559
40.917
36.804
33.692
29.089
Summe Summe 2012 65.073 102.135
2.889
3.126
2.462
4.218
3.176
3.154
5.574
3.457
3.029
3.733
3.138
2.991
2.898
3.362
2.794
2.211
2.845
1.926
2.103
2.070
1.440
1.469
1.008
Todes- Sonstige Summe Summe fälle Abgänge Abgänge Mitglleder 31. 12....
7.467 20.302
404
449
423
403
433
575
1.084
308
408
406
397
329
333
355
263
203
130
168
112
85
63
73
63
ehemal. SU- aus dem aus anderen Über- Geburten Sonstige Summe Auswan- in andere AusZugänge Zugänge derung Gemeinden tritte Staaten Ausland Gemeinden tritte
1990
Jahr
16 2 Theorie und Grundlagenteil
Abbildung 4 Quelle: Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (Hg.): Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland für das Jahr 2012. URL: http://www. zwst.org/cms/documents/178/de_DE/ZWST-Mitgliederstatistik-2012-web.pdf S. 6 (abgerufen 26. 01. 2014) [Zentralwohlfahrtsstelle 2012]
2.2 Aktueller Forschungsstand
17
Dazu kommt in Augsburg noch ein Seniorenbetreuungszentrum der Gemeinde: „Das Hauptziel ist es, unseren alten, kranken und behinderten Gemeindemitgliedern und deren Angehörigen, die besondere Fürsorge und Unterstützung benötigen, praktische Hilfe im Alltag zu geben. In der Praxis bedeutet dies, dass unsere Seniorenbetreuerinnen, die ehrenamtlich und im Rahmen der Bundesfreiwilligendienst [sic!] tätig sind, unter Anleitung einer fest angestellten Mitarbeiterin alle Hilfesuchenden mit konkreten Hilfen bei der Lösung alltäglicher Probleme in allen sozialen Angelegenheiten mit Rat und Tat zur Seite stehen durch: Begleitung zu Arzt- und Behördenterminen, Besuche der Senioren in Krankenhäusern und Altenheimen (sind sehr wichtig, um eine Isolation der Betroffenen zu vermeiden), Begleitung zu Krankenkassen, Stadtwerke, Wohnungsfirmen etc., Korrespondenzbearbeitung. […] Unser Team hilft nicht nur Mitgliedern der IKG, sondern auch deren Verwandten und, wenn es notwendig ist, Spätaussiedlern und anderen russischsprachigen Personen.“⁴⁴
Für alle anderen bayerischen Gemeinden liegen bislang keine veröffentlichten Angaben zur Krankenbetreuung vor.
2.2.2 Die Situation der jüdischen Einwanderer Andrea Zielke-Nadkarni zeichnet folgendes Bild von der Situation der jüdischen Zuwanderer in Deutschland: „Die jüdischen Flüchtlinge kommen aus verschiedenen Staaten der GUS. Die meisten Migranten und Migrantinnen sind verheiratet bzw. verwitwet. […] Da es sich überwiegend um ältere Menschen handelt, ist der Pflegebedarf absehbar. […] Zu den drei wesentlichen Merkmalen osteuropäischer bzw. russischer Juden gehören erstens eine intensive familiäre Bindung, zweitens die kollektive Geschichte von Segregation, Armut und Verfolgung und drittens der religiöse Rahmen, der ihr Leben prägt. Allen drei Merkmalen zugrunde liegt das Erleben von Angst als kontinuierlichem Begleiter [Hervorhebung im Original]. Die auffälligste Besonderheit unter den von uns befragten Migrantinnen und Migranten, die sich aus ihrer Historie gut erklärt, ist die Angst, offen über sich und ihre Erfahrungen zu sprechen. Dies zeigte sich z. B. darin, dass häufig gewichtige Aussagen erst nach [Hervorhebung im Original] dem Ausschalten des Aufnahmegerätes gemacht wurden […].“⁴⁵
Sie berichtet, dass die Migranten Verfolgungserfahrungen oft aus Angst vor erneuter Verfolgung verschweigen; Erfahrungen mit Antisemitismus gehörten zum Alltagsleben in der GUS.⁴⁶ Zu den Erfahrungen der Migranten mit persönlich gelebtem Judentum erklärt Andrea Zielke-Nadkarni, dass vor dem zweiten Welt-
http://ikg-augsburg.com/seniorenbetreuung/ (abgerufen am 10. 2. 2014). Zielke-Nadkarni 2009b, S. 35. Zielke-Nadkarni 2009b, S. 36.
18
2 Theorie und Grundlagenteil
krieg „ein jüdisch-religiöses Leben vielerorts möglich“ war. ⁴⁷ Danach änderte sich die Lage: „Nach dem Krieg erging ein Religionsverbot und man sprach, aus Angst vor antisemitischen Übergriffen, außerhalb der eigenen Wohnung kein Jiddisch mehr. Die Synagogen wurden geschlossen, religiöse Versammlungen verboten. Zu Gebet, religiösen Gesprächen und Festen traf man sich heimlich in Privatwohnungen. Während der Stalin-Ära (bis 1953) und den nachfolgenden Regimen gab es weiterhin zahlreiche Pogrome, da Juden als Verräter und Verbrecher galten, mit der Folge, dass sie nur selten studieren, Karriere machen oder ins Ausland reisen konnten. […] Für manche Befragte begann ein religiöses Leben erst in Deutschland [Hervorhebung im Original] mit dem Kontakt zur jüdischen Gemeinde.“⁴⁸
Ähnliches stellt auch Petra Dimler-Wittleder fest: Ihr wurde „berichtet, dass viele Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, denen auf Grund ihres jüdischen Glaubens ein ewiges Asylrecht in Deutschland gewährt wird, keinerlei Kenntnisse des jüdischen Glaubens haben. Somit sind sie auch bei einem Todesfall keineswegs immer mit den jüdischen Vorschriften vertraut, sondern wünschen ‚russische‘ oder ihnen vertraute Brauchtümer, wie z. B. die offene Aufbahrung oder festliche Kleidung, die dem persönlichen Geschmack entspricht und nicht der Vorstellung eines schlichten Totenhemdes. Die Rabbis sind häufig in Nöten, bei diesen neuen Gemeindemitgliedern die jüdischen Riten zu wahren, wie mir von einem Rabbi aus Würzburg berichtet wurde.“⁴⁹
Stella Chtcherbatova und Maja Gus weisen in diesem Zusammenhang auf das Paradox hin: „In der UdSSR mussten Juden ihre ethnische Identität im Inlandspass eintragen lassen [sic ohne Komma] aber der Zugang zur jüdischen Religion und Kultur war ihnen verwehrt. Somit befanden sie sich in einer schizophrenen Situation: Sie waren als Juden diskriminiert, z. B. beim Zugang zu bestimmten Universitäten oder politischen Positionen, durften aber gleichzeitig kein jüdisches Leben führen. […] Sie hatten die Werte und Normen der sowjetischen Gesellschaft übernommen, waren aber dennoch nicht akzeptiert.“⁵⁰
Im Anschluss an Zvi Gitelmann sprechen Stella Chtcherbatova und Maja Gus hier von „acculturation without assimilation“.⁵¹ Von deutscher Seite wurde gleichzeitig „die Erwartung, um nicht zu sagen die Forderung ausgesprochen, die russischen Juden sollten zu einem ‚neuen Jüdischen Leben‘ in Deutschland – so die häufig gebrauchte Formulierung – beitragen, um auf diese Weise zu demon
Zielke-Nadkarni 2009b, S. 39. Zielke-Nadkarni 2009b, S. 39. Dimmler-Wittleder 2005, S. 17 f. Chtcherbatova/Gus 2006, S. 90. Ebd., S. 90.
2.2 Aktueller Forschungsstand
19
strieren, dass es für Juden wieder möglich ist, in Deutschland zu leben. Mit anderen Worten [sic] die Migranten waren, zumindest während der ersten Jahre in Deutschland, dem Erwartungsdruck ausgesetzt, ein tätiges Bekenntnis zu ihrer Kultur und Religion am den Tag zu legen. Auch die jüdischen Gemeinden erhofften sich von den Zuwanderern eine quantitative und qualitative Verstärkung des Gemeindelebens.“⁵² Tatsächlich aber stellte sich die Gruppe der Einwanderer weitaus inhomogener dar. Lothar Mertens unterscheidet 1993 zwischen vier verschiedenen Kategorien von Menschen, die in der ehemaligen Sowjetunion als Juden angesehen wurden: – „Juden nach Herkunft oder Abstammung: Diese Gruppe umfaßt streng genommen nach der religiösen Formel nur diejenigen, deren Mutter Jüdin ist. Viele Sowjetologen dehnen allerdings häufig diese Kategorie auf alle Personen aus, die zumindest ein jüdisches Eltern- oder Großelternteil (also auch männlich) haben. Der reale Umfang dieser Gruppe läßt sich nur grob schätzen. Wird allerdings die religiöse Definition strikt angewandt, dürfe sich die Zahl der ‚Herkunftsjuden‘ auf einen kleinen Bruchteil der ‚Volkszählungsjuden‘ oder ‚Paßjuden‘ reduzieren; – ‚Volkszählungsjuden‘, d. h. die Anzahl der Bürger jüdischer ‚Nationalität‘, die sich aus den Ergebnissen der jeweiligen Volkszählungen ergibt – obgleich diese Größe viel niedriger ist als die tatsächliche Zahl; – ‚Paßjuden‘, d. h. alle Sowjetbürger, in deren nur im Inland gültigen Identitätskarte in der Rubrik Nationalität ‚Jewrej‘ eingetragen ist. In diesem Paß, der ab dem 16. Lebensjahr ausgestellt wird, wird derjenige als Jude eingetragen, dessen beide Elternteile laut Paß jüdisch sind. Falls die Eltern verschiedener ‚Nationalität‘ sind, kann das Kind frei zwischen den beiden Nationalitäten der Eltern entscheiden, ohne jedoch diese Wahl später jemals wieder rückgängig machen zu können. Genaue Zahlen über die Anzahl der ‚Paßjuden‘ werden von den sowjetischen Behörden nicht veröffentlicht; – ‚Emigrationsjuden‘. Hierunter fallen all jene, die emigrieren möchten, einschließlich etwaiger Ehegatten und Kinder, die selber nicht jüdisch sind (sei es nach Paß oder Religionsgesetz), die aber gleichfalls die Sowjetunion verlassen wollen. Angesichts einer großen Zahl von Mischehen […] dürfte deren Anzahl relativ groß sein und ca. ein Drittel der Emigranten der neunziger Jahre umfassen. Nach Meinung von Litvinoff ist der überwiegende Teil der Emigranten nur nach dem Stempeldruck im Inlandspaß jüdisch, da vielfach kaum bzw.
Schütze 2006, S. 306.
20
2 Theorie und Grundlagenteil
überhaupt keine Kenntnisse von oder Interesse an jüdischer Religion oder Kultur mehr vorhanden sind.“ [Hervorhebungen im Original]⁵³ Stella Chtcherbatova und Maja Gus haben eine eigene Befragung mit jüdischen Zuwanderern durchgeführt: „Auf die Frage ‚Wer ist für Sie Jude?‘ wurden die folgenden Antworten gegeben: – einer jüdischen Familie zu entstammen (57,3 %) – eine jüdische Mutter zu haben (12,7 %) – bestimmte Charaktereigenschaften und Verhaltensweise [sic!] zu besitzen (10,1 %) – die jüdische Geschichte zu teilen und zu wahren (7,5 %) – dem Judentum durch Muttersprache, Erziehung und Tradition verbunden zu sein (6,9 %) – sich zur jüdischen Religion zu bekennen (5,5 %)“⁵⁴ In der Selbstdefinition als Juden steht bei den Zuwanderern das Bekenntnis zur Religion also an letzter Stelle – entscheidend ist dagegen die Abstammung aus einer jüdischen Familie. Für die älteren Zuwanderer gibt es eine besondere Belastungssituation, da nicht nur die Ausreise, sondern auch der zuvor in der Sowjetunion erlebte Transformationsprozeß der Gesellschaft ihre persönliche Situation erheblich veränderte: „Ältere Zuwanderer haben meist bereits im Ausreiseland einen Kulturschock erlitten und sind durch Transformationsprozesse in der russischen Gesellschaft schwer belastet. In den neunziger Jahren kam es zu einem drastischen Einbruch ihres Einkommens mit Prestigeeinbußen der Berufe, die traditionell von Juden ausgeübt werden – Ärzte, Lehrer, Kulturschaffende und Ingenieure. Dies führte zu Selbstwertkrisen. Von der Regierung im Ausreiseland hinsichtlich ihrer sozialen Sicherung im Alter getäuscht, misstrauen sie auch sozialen Institutionen in Deutschland. Sie verloren Verwandte im Genozid durch Nazideutschland und waren außerdem den staatlichen und alltäglichen Antisemitismus [sic!] in der Sowjetunion ausgesetzt. Daher reagieren sie höchst empfindlich auf jede Erscheinung des Antisemitismus und Diskriminierung von Immigranten. Sie sind oft misstrauisch gegenüber der Einwanderungspolitik Deutschlands und haben Furcht vor einer Ausweisung. […] Ältere Migranten reagieren oft mit Panik auf die Bürokratie, wenn sie Formulare und Fragebögen ausfüllen müssen. Sie haben ungenügende Kenntnisse ihrer Rechte und Pflichten in Deutschland und wenig Erfahrung mit der Konfliktlösung über den Rechtsweg. Meist beherrschen sie die deutsche Sprache nicht. Der Verlust der vergangenen Lebenswelt wird
Mertens 1993, S. 33. Ebd., S. 91.
2.2 Aktueller Forschungsstand
21
traumatisch erlebt und ist mit vielen negativen Emotionen verbunden. Das führt sehr oft zu vielen psychosomatischen Störungen.“⁵⁵
Schon 1999 erwies sich die Isolation älterer jüdischer Zuwanderer als großes Problem: „Auch bei jüdischen Zuwanderern, die keine unmittelbare Diskriminierung erlebt haben, findet sich oft die Äußerung eines Gefühls der Fremdheit, ein Unbehagen an der deutschen Kultur […]. In gehäufter Form ist dieses Problem bei älteren russisch-jüdischen Migranten anzutreffen, deren Anteil zunimmt, die aber oft nicht einmal Anspruch auf einen Deutschkurs besitzen. […] Die Situation von Neuzuwanderern in einem Alter von über 60 Jahren scheint auch in familiärer Hinsicht sehr problematisch. Nach dem Auszug aus den Übergangswohnheimen verlieren viele ältere Zuwanderer die familiäre Anbindung und geraten in wachsende Isolation.“⁵⁶
Um diesen und ähnlichen Problemen von Zuwanderern zu begegnen, haben einige Gemeinden Beratungsstellen und –telefone eingerichtet. Dabei zeigten sich besondere Aspekte der Integrationsproblematik. So haben Stella Chtcherbatova und Maja Gus in den Beratungsgesprächen des Vertrauenstelefons der jüdischen Gemeinden Köln-Düsseldorf folgende Problemkategorien festgestellt⁵⁷: Die prozentuale Verteilung der angesprochenen Probleme sieht wie folgt ⁵⁸ aus : „Unsicherheit und Ängste“ machen 31 % der am Vertrauenstelefon der Gemeinden Köln-Düsseldorf genannten Probleme aus; gemeinsam mit „Kontaktstörungen“ (13 %), „Sprachproblemen“ (8 %) und „Heimweh und Eingewöhnungsproblemen“ (5 %) zeigen also mehr als die Hälfte einen direkten Zusammenhang mit dem Verlust der früheren Umgebung. In ähnlicher Weise gibt es auch weitere regionale Studien aus Berlin, Bremen, Dortmund, Köln, Mecklenburg-Vorpommern, Leipzig, Noswitz und Thüringen⁵⁹; für Bayern liegt allerdings noch keine derartige Studie vor. Verschiedene medizinische Studien zeigen, dass die gesundheitliche Situation der Einwanderer Besonderheiten aufweist. Besondere Risikofaktoren sind nach der Dresdener Studie von S. Tselminet et al kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes mellitus und Hepatitis B und C.⁶⁰ Eine weitere Auffälligkeit ist die grö-
Ebd., S. 93. Schoeps/Jasper/Vogt 1999, S. 121. Chtcherbatova/Gus 2006, S. 103. Ebd., S. 102. Vgl. im einzelnen Haug/Schimany 2005, S. 11 ff. Tselmin/Korenblum/Reimann/Bornstein/Schwarz 2007, S. 859 ff.
22
2 Theorie und Grundlagenteil
Kategorien
Einzelprobleme/Symptome
Verstimmungsprobleme
Reaktive und Erschöpfungsdepressionen, Stimmungslabilität, Nervosität, Pessimismus, Resignation, Schwermut
Psychosomatische Beschwerden
Ein- und Durchschlafstörungen, Magen-Darm-Probleme, Kopfschmerzen, Probleme mit Blutdruck, Herzschmerzen
Unsicherheit und Ängste
Angstträume, Schuldgefühle, Zweifel an geistiger Gesundheit, Unselbständigkeit, unsichere Zukunftsperspektive, Ängste vor den verschiedenen Ämtern, Schulprobleme bei Kindern, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit
Familienprobleme
Eifersucht, Aggressivität, Störungen bei familiären Beziehungen (Eltern – Kinder; Ehemann – Ehefrau, Ureltern – Enkeln), Erziehungsprobleme
Heimweh und Eingewöhnungsprobleme
Probleme des Einlebens, Schuldgefühle, Fehlen von Familienangehörigen und Freunden, Diskrepanzen zwischen Erwartungen und Realität, Einsamkeit
Sprachprobleme
Angst vor Leistungsversagen aufgrund sprachlicher Defizite, Sprechhemmungen, Angst davor, durch Sprache Aufmerksamkeit zu erregen, zu hohes Anspruchsniveau eigener sprachlicher Kompetenz
Kontaktstörungen
Isolationstendenzen, Aggressivität, Sprechhemmungen, Probleme aufgrund unterschiedlicher kultureller Zugehörigkeit
Arbeitsstörungen
Konzentrationsmangel, Leistungsschwäche, geringe Ausdauer, geringes Arbeitstempo, geringe Arbeitsmotivation, Lernstörungen
Depersonalisationstendenzen
Persönlichkeitszerfall, Gedächtnisschwund, Denkblockaden
Sexuelle Probleme
Mangel an sexuellen Kontakten
Abbildung 5: Problemkategorien und Einzelprobleme jüdischer Zuwanderer Quelle: Chtcherbatova/Gus 2006, S. 103.
ßere Verbreitung von Fettstoffwechselstörungen und die deutlich höhere Verbreitung des Oberflächenproteins HBsAg (Hepatitis B) im Vergleich zur Gesamtbevölkerung.⁶¹ Für dieses Phänomen gibt es bislang noch keine eindeutige Erklärung. Auch ist die Frage nicht geklärt, ob es sich hier um Veränderungen infolge der Auswanderung handelt, da es keine medizinischen Vergleichswerte für die Patienten aus der Zeit vor ihrer Auswanderung erhoben werden konnten.
Ebd., S. 858.
2.2 Aktueller Forschungsstand
23
Soziale Frage
10% 31%
8%
Familienprobleme Kontaktstörungen Sprachprobleme
7%
Heimweh und Eingewöhnungsprobleme
5%
Unsicherheit und Ängste
5%
Depressionen 13%
8% 13%
Gesundheit Songstige
Abbildung 6: Gesprächsthemen bei der Beratung jüdischer Zuwanderer Unsicherheit und Ängste stehen mit 31 % an erster Stelle, gefolgt von Kontaktstörungen und Depressionen mit jeweils 13 %. Quelle: Chtcherbatova/Gus 2006, S. 102 (schwarzweiße Originalabbildung)
Jüdische Zuwanderer zeigen sehr hohe Skalenwerte für Depression und Angst und erhöhte morgendliche Cortisol-Werte, die möglicherweise in Zusammenhang stehen mit erhöhtem Stress durch Holocaust-Traumatisierung.⁶² Dass diese Traumatisierung durch den Holocaust auch die zweite Generation („second generation“) betrifft, hat eine Vielzahl von Studien bewiesen.⁶³ Außerdem besteht eine bis zu 30 % höhere Suizidrate unter den russischen Einwanderern (bei dieser Zahl ist allerdings nicht zwischen jüdischen und nichtjüdischen Einwanderern unterschieden).⁶⁴ A. Zielke-Nadkarni weist auf die Verfolgungserlebnisse und ihre physischen und psychischen Folgen bei jüdischen MigrantInnen hin: „[Diese Menschen] erlebten Verfolgung, z.T. verbunden mit dem Einmarsch und der Besatzung der Armee Hitlers, z.T. ein zweites Mal durch die nachfolgenden kommunistischen Regimes, und sie leiden infolge ihrer entsetzlichen Biographien unter gerontopsychiatrischen Folgeerkrankungen, aus denen spezifische Versorgungsbedarfe [sic!] resultieren.“⁶⁵ „Bis heute wirken die Folgen der Verfolgungserfahrungen bei vielen Opfern und ihren Kin-
Ebd., S. 860. Ausführlich dazu: Zielke-Nadkarni 2004. Vgl. auch Baider/Hadani/Avramov/De-Nour 2000. Tselmin/Korenblum/Reimann/Bornstein/Schwarz 2007, S. 860. Zielke-Nadkarni 2006a, S. 99.
24
2 Theorie und Grundlagenteil
dern in Form unterschiedlicher Gesundheitsstörungen nach, die Pflegebedürftigkeit auslösen. Neben Einsamkeit und seelischen Problemen stehen gerontopsychiatrische Ängste, Psychosen, Schlaf-, Kognitions- und Gedächtnisstörungen im Vordergrund. Hinzu kommen Retraumatisierungsprobleme, die sich aus dem institutionellen Charakter von Pflegeeinrichtungen ergeben, wenn Pflegefachkräfte nicht entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen.“⁶⁶
2.2.3 Konsequenzen für den Umgang mit jüdischen Migranten in der Gesundheitsfürsorge und Pflege A. Zielke-Nadkarni hat eine Liste an Auffälligkeiten im Verhalten von NS-traumatisierten Menschen in Pflegeheimen aufgestellt. Pflegende sollten besonders achtsam sein, wenn „ein Patient/eine Bewohnerin zum Beispiel – Abends nicht ins Bett will (weil er/sie Angst vor Alpträumen hat), – sich vor dem Duschen fürchtet, besonders wenn er/sie zum Duschen gedrängt wird, – vor einem Tier erschrickt, wenn plötzlich jemand im Zimmer steht oder ihn/sie überraschend berührt, – Essensreste versteckt (weil er/sie sich vor dem Verhungern schützen muss), – Beim Feuerwerk zu Silvester und sonstigen Knallgeräuschen panisch wird, – sich an Vertrauenspersonen klammert, anderen gegenüber aber abweisend verhält, – das Weinen oder Schreien von MitpatientInnen/MitbewohnerInnen kaum erträgt, – oder auffällig Geld hortet (weil man ja die Wachen bestechen muss).“⁶⁷ Der Psychoanalytiker Bertram von der Stein, der in einem Sammelband zu „Psychotherapie und Psychiatrie mit Migrationshintergrund“ die Fallgeschichte eines jüdischen Kontingentflüchtlings vorstellt⁶⁸, beschreibt die psychischen Schwierigkeiten vieler Migranten bei der Integration in die deutsche Gesellschaft, die mit den Schwierigkeiten korrespondiert, welche die Deutschen im Umgang mit ihrer eigenen Geschichte haben: „Ein neues stabiles Selbstverständnis ist für viele Migranten in einer Gesellschaft besonders schwierig, deren Identität durch die Folgen des Nationalsozialismus und des Krieges selbst beschädigt ist. Nach Holocaust und zweitem Weltkrieg mit Tod, Flucht und Vertreibung von
Ebd., S. 100. Zielke/ Poser 2009, S. 171. Von der Stein 2008, S. 126 f.
2.2 Aktueller Forschungsstand
25
Millionen ist Deutschlands Lage kompliziert und tabubeladen. Deutsche Identitätsunsicherheit, Diffusion von Täter- und Opferrollen, latent faschistoides Gedankengut pendelnd zwischen dumpfer Fremdenfeindlichkeit und verleugnender Fremdenidealisierung und die Haltung vieler Migranten zwischen Überanpassung und Ghettobildung verbunden mit klischeehaften Vorstellungen von den Deutschen schaffen komplizierte Übertragungs- und Gegenübertragungssituationen.“⁶⁹
Ziel einer Therapie für Migranten ist nach Bertram von der Stein die Integration der verschiedenen Identitätsfragmente: „Eine alte und neue Kultur verbindende Identität könnte hieraus resultieren. Dies gelingt nur, wenn Patienten nicht nur als Produkt eines kollektiven Schicksals, sondern als Einzelwesen gesehen werden, die aus dem, was ihm und den Vorfahren zugestoßen ist, eine integrierte Identität gewinnen.“⁷⁰
Für ein ähnlich individualisiertes Eingehen auf die Bedürfnisse jüdischer Heimbewohner plädiert Andrea Zielke-Nadkarni: „In Heimen sind die alten Menschen der Institution besonders ausgeliefert. Diese sollte also Sorge tragen, dass das pflegerische Leitbild den Gedanken einer Beheimatung der Bewohner enthält. Dieser Gedanke sollte dann auch gelebt werden, indem die Gestaltung des letzten Lebensraums der früheren Umgebung angenähert wird. Der institutionelle Charakter eines Pflegeheims kann vielfältig aufgehoben werden, durch innenarchitektonische Lockerungen, kulturspezifische Dekoration, private Ausstattungsmöglichkeiten für die Bewohnerinnen und Bewohner, Privatkleidung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter statt Arbeitskleidung, Licht und Farbgebung. Auch hier sind Angehörige wertvolle ‚informelle Mitarbeiter‘ bei der Gestaltung der Umgebung, von Festen, Ausflügen etc. Eine Öffnung der Heime für die allgemeine Öffentlichkeit, wie dies schon häufig gehandhabt wird, ermöglicht die Finanzierung kultureller Veranstaltungen, die dem soziokulturellen Hintergrund der Bewohnerinnen und Bewohner entsprechen.“⁷¹
Andrea Zielke-Nadkarni schlägt vor, „lokale Gemeindedolmetscher im Gesundheitswesen“ einzusetzen und „vermehrt deutsch-jüdische Seniorenpflegeheime“ einzurichten.⁷² Am wichtigsten aber ist die Form des menschlichen Umgangs: „Ein behutsamer zwischenmenschlicher Umgang schafft die Basis für ein möglichst angstfreies Miteinander. Hilfreich sind ‚vertrauensbildende Maßnahmen‘ wie kleine Unterhaltungen am Rande der Arbeitsroutine und Herzlichkeit im Umgang, die sich z. B. zeigt, wenn man jemanden in den Arm nimmt, der weint. Die jüdischen MigrantInnen zeigen im Allgemeinen
Von der Stein 2008, S. 125. Ebd., S. 131. Zielke-Nadkarni 2009c], S. 119. Zielke-Nadkarni/Gremlowski/Deittert 2004, S. 337.
26
2 Theorie und Grundlagenteil
ihre Emotionalität offener als die tendenziell zurückhaltenderen Deutschen, und sie erwarten von persönlichen Kontakten auch emotionale Nähe. Da der Wunsch nach familienähnlichen Beziehungen zu professionell Pflegenden von deutschen Pflegenden eher selten eingelöst werden können wird, schlagen wir im Hinblick auf die Ängste der Zielgruppe den Begriff einer Pflegepartnerschaft vor, der alle Elemente einer Personenorientierung umschließt, aber das emotionale Moment einer persönlichen Pflegebeziehung betont.[Hervorhebungen im Original]“ ⁷³
Bereits 2006 kommen Sonja Haug und Michael Wolf zum Fazit, das auch 2014 immer noch gültig ist: „Obgleich die vorhandenen Forschungsergebnisse zu jüdischen Zuwanderern im Speziellen und Zuwanderern aus Russland im Allgemeinen das Thema aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und auch einige empirische Studien Hinweise auf die Problematik der beruflichen Integration geben können, sind die Erkenntnisse insgesamt lückenhaft. Es fehlt bisher eine empirische Studie, die Aufschluss über die Sozialstruktur und Integration der jüdischen Zuwanderer in Deutschland insgesamt oder zumindest auf der Ebene eines Bundeslandes geben könnte.“⁷⁴ Eine solche umfassende Studie bleibt bis heute ein Desiderat – bundesweit und auch für Bayern.
2.2.4 Begleitung jüdischer Schwerkranker und Sterbender in einführenden Darstellungen für Nichtjuden Nachdem, von einigen spezialisierten Einrichtungen abgesehen, die meisten Mitarbeiter von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen in ihrem Berufsalltag nur verhältnismäßig selten mit jüdischen Patienten zu tun haben, verdient ein Blick in die vorhandenen Einführungen in die Begleitung jüdischer Sterbender besondere Beachtung: vielfach sind diese Werke die erste Informationsquelle für Ärzte und Pflegepersonal, wenn sie es mit jüdischen Patienten zu tun haben. Im Folgenden seien einige Handbücher vorgestellt, welche Nichtjuden und speziell nichtjüdischen Krankenhausmitarbeitern Tod und Trauer im Judentum bzw. die Bedürfnisse jüdischer Patienten erklären und näherbringen sollen. Die Texte von Zeiß, Schwikart, Kučera und Heller finden sich beispielsweise als Informationsquelle zum Thema Judentum in der Handbibliothek der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin des Klinikums der LMU München. Die hier vorgestellten Positionen sollen später im Diskussionssteil (S. 193 ff) mit den Erfahrungen der vorliegenden Studie verglichen werden.
Ebd., S. 336. Haug/Wolf 2006, S. 77.
2.2 Aktueller Forschungsstand
27
Benjamin David Soussan (2004) Im „Handbuch Integrierte Sterbebegleitung“, das 43 Aufsätze zu den Themengruppen „Grundlagen“ – „Kommunikation“ – „Trauern“ – „Juristische Perspektiven“ – „Die religiöse Deutung von Sterben und Tod“ – „Der plötzliche Tod“ vereint, schreibt der orthodoxe Rabbiner Benjamin David Soussan parallel zu zwei Beiträgen aus christlicher und islamischer Sicht über „das Verständnis von Sterben, Tod und Trauer im Judentum“.⁷⁵ Soussan beginnt seinen Aufsatz mit der Überlegung: „Schon die Tatsache allein, dass am Anfang der Thora berichtet wird, dass der Mensch zum Ebenbild Gottes erschaffen wurde, beweist zur Genüge, dass die Thora ihm keine so kurze Lebensdauer zuschreiben kann wie die durch Geburt und Tod begrenzte.“⁷⁶
Es folgen Überlegungen über die unbedingte Wertschätzung des Lebens im Judentum. Ausführlich zeigt Soussan durch talmudische Belege auf, dass es erlaubt und geboten ist, bei Krankheit die Hilfe eines Arztes aufzusuchen.⁷⁷ Im ersten Hauptabschnitt „Patient und Nahrung“, der sich direkt an Krankenhausmitarbeiter richtet, erklärt Soussan: „Einem jüdischen Patienten sollte nach Möglichkeit koschere Nahrung gegeben werden. Ist dies nicht möglich, sollte man ihm vegetarische Nahrung vorbereiten. Man sollte auch darauf achten, dass der jüdische Patient keine verbotenen Speisen, wie zum Beispiel Schweinefleisch, Blutwurst etc. als Nahrung bekommt (es sei denn, dies ist für die Therapie unbedingt notwendig), da dies sonst den psychischen Zustand des Patienten schwächen könnte.“⁷⁸
Im Abschnitt „Sterben“ spricht sich Soussan für die aktive Kommunikation mit dem Patienten und seine Aufklärung über den bevorstehenden Tod aus: „Man darf dem Kranken seinen ernsten Zustand nicht verheimlichen, er muss die Möglichkeit haben, sich auf seinen ernsten Zustand vorzubereiten, wenn diese Möglichkeit real ist.“⁷⁹ Gleichzeitig betont er die Wichtigkeit, alles zu unterlassen, was „die Moral des Kranken“⁸⁰ schwächen könnte: dazu gehören Vorbereitungen für die Beerdigung noch zu Lebzeiten bzw. Gespräche über das zurückliegende Leben. Der Abschnitt „Sterbehilfe“⁸¹ erörtert das talmudische Verbot aktiver Sterbehilfe bei gleichzeitiger Möglichkeit „passiver Euthanasie“ aufgrund des Pati
Soussan 2004. Ebd., S. 196. Ebd., S. 197 f. Ebd., S. 198. Ebd., S. 199. Ebd., S. 199. Ebd., S. 200 ff.
28
2 Theorie und Grundlagenteil
entenwunsches und des Verbots, „den Sterbeprozess durch künstliche Mittel zu verlängern“⁸². Abschließend folgen noch Hinweise zur Autopsie⁸³, die nur gestattet ist, wenn dadurch Menschenleben gerettet werden kann, zur jüdischen Definition des Todes als Atemstillstand oder Aussetzen jeglicher Herztätigkeit⁸⁴, sowie zur Tahara (Leichenwaschung) und zu den Trauerbräuchen⁸⁵. Damit gibt Soussan einen umfassenden Überblick über jüdische Sterbebegleitung und ihre Begründung im jüdischen Gesetz aus orthodox-jüdischer Sicht, allerdings ohne kenntlich zu machen, dass er hier ausschließlich die orthodoxe Sichtweise darstellt. Aspekte liberaler jüdischer Theologie erwähnt Soussan an keiner einzigen Stelle.
Gisa Zeiß (2004) Im Handbuch „Qualifizierte Begleitung von Sterbenden und Trauernden“ hat Gisa Zeiß den Abschnitt „6.7.3. Umgang und Pflege mit Kranken und Sterbenden unter Berücksichtigung der Religion des Judentums“ verfasst. Sie begreift sich, nach der Formulierung auf ihrer Website, als „freie Theologin, mit dem Schwerpunkt Weltreligionen“.⁸⁶ Ihren Ausführungen im Handbuchartikel stellt sie die Überlegung voran: „Es gibt eine Vielzahl religiöser Pflichten und Rituale, die bei der Behandlung, Pflege und Sterbebegleitung jüdischer Patienten und Menschen in Krankenhäusern oder Altenheimen beachtet werden sollten, da sie Glaubens- und Lebensinhalte des Judentums sind.“⁸⁷
Im Abschnitt „Jüdische Tradition“⁸⁸ folgen allgemeine Ausführungen über die jüdische Religion und den „Glauben an Gott J.“⁸⁹ (Anm. d. Verf.: im Original mit christlich ausgeschriebenem Gottesnamen) bzw. „den Glauben an diesen einen in der Geschichte wirkenden unsichtbaren Gott J.“⁹⁰ (Anm. d.Verf.: auch in diesem Zitat mit christlich ausgeschriebenem Gottesnamen). Im zweiten Abschnitt geht es dann um „Aspekte der Krankenpflege“ (S. 5 – 8):
Ebd., S. 202. Ebd., S. 202. Ebd., S. 202. Ebd., S. 203. http://www.trauerredner.org/person.htm (abgerufen am 26.9.14). Zeiß 2004, S. 1. Ebd., S. 1– 5. Ebd., S. 2. Ebd., S. 2.
2.2 Aktueller Forschungsstand
29
„Da für Nichtjuden die Glaubenspraxis im Judentum mit den vielen Geboten und Verboten und den rituellen Handlungen im täglichen Leben fremd und schwer nachzuvollziehen ist, kann ich hier nur einige stark verkürzte Erläuterungen geben.“⁹¹
In den Unterabschnitten „Hygienevorschriften und Geschlechterbeziehung“, „Speisevorschriften“ und „Gebetspraxis und Sabbatgebote“ werden dann auch konkrete Tipps gegeben, wie etwa: „Bettlägerige Patienten sind dankbar, wenn sie vor dem Gebet einen Krug Wasser und ein leeres Becken gereicht bekommen, damit sie sich die Hände unter fließendem Wasser waschen können, um rituell rein zu sein.“⁹² Oder: „Der Pflegende sollte dem jüdischen Patienten, soweit es ihm möglich ist, in der Einhaltung der Speisegesetze praktische Hilfe leisten. Eine Alternative können auch zum Teil kalte Speisen sein.“⁹³ Gina Zeiß weist darauf hin, dass sich liberale Juden an die Gebetsvorschriften „weniger gebunden“ fühlen.⁹⁴ Sie rät: „Grundsätzlich ist es bei der Aufnahme jüdischer Patienten zu empfehlen, dass sowohl das religiöse Bedürfnis wie auch die jeweilige Glaubensrichtung erfragt wird.“⁹⁵ Der dritte Abschnitt widmet sich den „Aspekten zum Umgang mit Sterbenden und zur spirituellen Sterbebegleitung von Juden“⁹⁶. Neben Hinweisen zur Bedeutung der Familie, zur Lebenserhaltung als oberstem Gesetz kommt folgender Hinweis: „In der Todesstunde ist es für einen jüdischen Menschen wichtig, dass er gedanklich noch einmal sein Leben passieren lässt und untersucht, ob er jemandem einen Schaden zugefügt hat, den er auf jeden Fall wiedergutmachen will und muss. Nach jüdischer Tradition hilft ihm dabei ein letztes Geständnis vor Gott, indem er selbst oder ein Sterbebegleiter das ‚Vidu‘ [sic!] (jüdisches Schuldbekenntnis) spricht. […] Möglich ist für sterbende Menschen jüdischen Glaubens auch eine stille Beichte abzulegen.“⁹⁷
Der vierte Abschnitt ist betitelt. „Zum Umgang mit dem Leichnam und zum Abschied von dem Toten – Bestattungsrituale“⁹⁸. Er beginnt mit dem Hinweis:
Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7 f. Ebd., S. 8. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9 – 11. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12– 16.
30
2 Theorie und Grundlagenteil
„Der tote Körper wird nach jüdischer Religion mit großer Ehrfurcht und Sorgfalt behandelt. Stirbt ein Jude, wird traditionell für acht Minuten eine Feder über Mund und Nase gelegt, um sich zu überzeugen, dass die Atemtätigkeit aufgehört hat […].“⁹⁹
Sodann geht es um die Tahara, die rituelle Waschung, wobei der Hinweis gegeben wird: „Nichtorthodoxe Juden praktizieren diese rituelle Waschung meistens nicht.“¹⁰⁰ Es folgt die Beschreibung eines orthodoxen Begräbnisses (mit einem Minjan von zehn Männern), ohne allerdings darauf hinzuweisen, dass hier die speziellen Erfordernisse des orthodoxen Judentums beschrieben werden. Die Trauerrede (Hespet) wird nicht erwähnt. Im Schlussabschnitt geht es dann um „Trauerrituale – Trauerbegleitung“¹⁰¹, wo die drei Phasen Schiwa–Scheloschim und Awalut erklärt werden. „In den jüdischen Glaubensrichtungen gibt es viele verschiedene Vorstellungen vom einem ‚Leben nach dem Tode‘, hingegen wird man das jüdische ‚Trauerritual‘ bei allen Juden finden.“¹⁰² Mit der Verwendung des ausgeschriebenen Gottesnamens zeigt Gisa Zeiß, dass sie sich bei Abfassung ihres Handbuchartikels wohl kaum von einem jüdischen Gemeindemitglied, gleich welcher Richtung, beraten ließ. Statt eine inhaltlich zutreffende Einführung zu geben, bestätigt Gisa Zeiß letztlich nur ihre eigene Prämisse, dass „für Nichtjuden die Glaubenspraxis im Judentum mit den vielen Geboten und Verboten und den rituellen Handlungen im täglichen Leben fremd und schwer nachzuvollziehen ist“¹⁰³. Die von ihr gegebene Darstellung dürfte auch den meisten Juden fremd erscheinen. So kommt es dann zu geradezu grotesk wirkenden Empfehlungen wie etwa einem Juden, der streng koscheres Essen verlangt, als Alternative kalte Speisen zu servieren¹⁰⁴, oder zur der Aussage, dass „sterbende Menschen jüdischen Glaubens eine stille Beichte ablegen“¹⁰⁵. Ihre eigene Prämisse: „Grundsätzlich ist es bei der Aufnahme jüdischer Patienten zu empfehlen, dass sowohl das religiöse Bedürfnis wie auch die jeweilige Glaubensrichtung erfragt wird.“¹⁰⁶ wird dadurch von ihr selbst ad absurdum geführt.
Ebd., S. 12. Ebd., S. 12. Ebd., S. 17– 19. Ebd., S. 17. Ebd., S. 6. Ebd., S. 8. Ebd., S. 11. Ebd., S. 8.
2.2 Aktueller Forschungsstand
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Damit erweist sich der Artikel als eine verpasste Chance, in Bezug auf jüdische Patienten und Angehörige tatsächlich etwas zur „Qualifizierten Begleitung von Sterbenden und Trauernden“ (so der Handbuchtitel) beizutragen.
Andrea Zielke-Nadkarni (2009) In ihrem Aufsatz „Soziokulturelle Besonderheiten jüdischer Migranten und Migrantinnen aus der GUS als Ausgangspunkt für eine personenbezogene Versorgung“¹⁰⁷ stellt Andrea Zielke-Nadkarni, Professorin für den Fachbereich Pflege und Gesundheit an der FH Münster, im ersten Abschnitt die besondere Situation der jüdischen Flüchtlinge aus der GUS vor (vgl. S. 17). In einem zweiten Abschnitt geht es um die „Ergebnisse der Pflegeforschung“.¹⁰⁸ Zugrunde liegen diesem Abschnitt zahlreiche eigene empirischer Studien mit jüdischen Patienten und die Auswertung weiterer internationaler Forschungsliteratur.¹⁰⁹ Sie schildert dabei die folgenden fünf übergeordneten Themenbereiche: 1. „Spiritualität als Sinngebungsstruktur und Bewältigungsstrategie bei Pflegebedürftigkeit“ Andrea Zielke-Nadkarni betont, dass die Spiritualität als Bewältigungsstrategie in den Alltag der Patienten hinein wirkt: „Für die Pflegewissenschaft besteht daher die Notwendigkeit, Spiritualität und das damit verbundene Erleben von Krankheit zu erforschen, ein Verständnis dafür zu entwickeln, was Spiritualität für Menschen im Alltag bedeutet, um der Pflegepraxis dieses Wissen zur Verfügung stellen zu können.“¹¹⁰ In diesem Zusammenhang betont sie, dass die halachischen Gebote weniger in der Synagoge, sondern vor allem in den Familien gelebt und tradiert werden.¹¹¹ Hier sind innerhalb der Hauptgruppen des Judentums erhebliche Unterschiede in der Interpretation auszumachen: „Die Orthodoxen betrachten die Halacha als Ausdruck göttlichen Willens, der durch historische Umstände nicht verändert werden kann und wortwörtlich zu verstehen und anzuwenden ist. Die Konservativen fühlen sich der Halacha verpflichtet, passen aber Ge- und Verbote den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen an. Reformjuden lehnen die Halacha als zwingende Grundlage ihrer Lebensführung ab.“¹¹² 2. „Pflegerische Aspekte im Umgang mit religiösen Patientinnen und Patienten/Heimbewohnerinnen und –bewohnern“ Neben der Erläuterung der Regeln für Kashrut und Schabbat weist Andrea Zielke-Nad-
Zielke-Nadkarni (2009b). Ebd., S. 37 ff. Vgl. ebd. Literaturverzeichnis, S. 48 ff. Ebd., S. 38. Ebd., S. 38. Ebd., S. 38.
32
2 Theorie und Grundlagenteil
karni auf ein grundsätzliches spirituelles Problem¹¹³ hin: „Für viele orthodoxe und konservative Juden implizieren Krankheit und insbesondere lebensbedrohliche Diagnosen ein Verlassensein von Gott bzw. eine Strafe Gottes. Da sie ihr Leben an Gott und seinen Geboten ausrichten, fühlen sie sich umso stärker bestraft. Lebensbedrohliche Erkrankungen lösen daher häufig Wut oder Reue oder Sühnehandlungen aus. […] Insbesondere die Diagnose Krebs wird häufig als persönlicher Holocaust empfunden, da sich viele Merkmale von Tumorpatientinnen und –patienten mit Erinnerungen an den Holocaust verbinden: der kahle Kopf, das Gefühl in einer Institution gefangen zu sein, das Tragen eines Krankenhemdes (Häftlingsbekleidung) sowie die Angst um das eigene Überleben.“¹¹⁴ Sie gibt in diesem Zusammenhang folgende praktische Empfehlung: „Da die Ausprägungen des Glaubens bei den einzelnen Patienten sehr unterschiedlich sind, müssen die konkreten Wünsche jedes Patienten bezüglich seiner Religionsausübung bei der Pflegeplanung erfragt werden.“ [kursive Hervorhebungen im Original]¹¹⁵ 3. „Auswirkungen des Holocaust auf Gesundheits- und Krankheitserleben“ Andrea Zielke-Nadkarni erklärt, dass trotz der weitverbreiteten Ansicht, es gäbe in Deutschland keine Überlebenden des Holocaust mehr, es immer noch zahlreiche Überlebende gibt, nicht nur Juden, sondern auch Angehörige anderer Verfolgungsgruppen. Viele halten ihre eigenen Verfolgungserlebnisse geheim, haben nie psychotherapeutische Hilfe erhalten und fürchten, in Einrichtungen der Altenpflege auf mögliche Täter zu treffen.¹¹⁶ Zahlreiche Varianten des sogenannten „KZ-Syndroms“ sind möglich – im günstigsten Fall eine erhöhte Vulnerabilität.¹¹⁷ Dazu kommen Schuldgefühle („survivor guilt“) und schmerzvolle Todesbilder; besonders schwer betroffen sind Menschen, die als Kinder den Holocaust überlebten.¹¹⁸ „Häufig wird erst in der zweiten Lebenshälfte, wenn sie pflegebedürftig geworden sind, der hohe Bedarf an besonderer Zuwendung deutlich, da dann alte Traumata und nicht abgeschlossene emotionale Probleme zum Vorschein kommen.“¹¹⁹ Die Traumatisierung wurde vielfach auch an die nächste Generation weitergegeben, entweder durch „Konspiration des Schweigens“ oder durch Überschwemmung mit Details der Erinnerung.¹²⁰ 4. „Aspekte einer soziokulturell orientierten Altenpflege“ Der Übergang in den Ruhestand bedeutet für viele Bewohner jüdischer Altenheime eine Lebenskrise, da der plötzliche Leerlauf ein Aufbrechen von Alpträumen und schreckli-
Vgl. auch die Studien von Rosmarin/Pargament/Krumrei/Flanelly 2009 und Krumrei/Pirutinsky/Rosmarin 2013, die bei amerikanischen Juden den Zusammenhang zwischen negativen religiösen Coping-Strategien und verstärkter depressiver Symptomatik Depression aufgezeigt haben. Zum Begriff des negativen religiösen Copings vgl. die ausführliche Arbeit von Pargament 2001. Zielke-Nadkarni (2009b), S. 41. Ebd., S. 41. Vgl. ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 42 f. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44. Ebd., S. 44 f.
2.2 Aktueller Forschungsstand
33
chen Erinnerungen ermöglicht.¹²¹ Gegenüber Behörden, offiziellen Personen und auch intensiv fragenden Forschern können Panikreaktionen durch Flashbacks auftreten.¹²² 5. 5. „Soziokulturelle Formen des Umgangs mit Sterben/Tod“ [hierzu keine Ausführungen im genannten Aufsatz]
Andrea Zielke-Nadkarni schließt ihren Aufsatz mit einem Plädoyer für einen behutsamen zwischenmenschlichen Umgang mit jüdischen Patienten mit Gesprächsbereitschaft und Offenheit für jüdische Traditionen. Herzlichkeit im Umgang und genaue Beachtung der persönlichen Bedürfnisse tragen dazu bei. Besonders wichtig ist darüber hinaus, „dass Pflegende und Ärzte einen persönlichen Standpunkt zu Nationalismus, Rechtsradikalismus und (Neo‐)Nationalsozialismus entwickeln müssen, wollen sie nicht auch als nachfolgende und damit zunächst schuldlose Generationen in die ‚Fallen der indirekten Schuld‘ laufen.“¹²³
Georg Schwikart (2010) Georg Schwikart, katholischer Theologe und Religionswissenschaftler, beginnt in seinem Buch Tod und Trauer in den Weltreligionen das Kapitel Judentum mit dem Abschnitt „Was Juden glauben: Durch Treue den Einen Gott bezeugen“¹²⁴ mit allgemeinen Anmerkungen von der Definition der Thora bis hin zum Holocaust. In den beiden folgenden Abschnitten „Was ist das – der Tod? Keine eigene Macht“ (S. 23 – 26) und „Was kommt nach dem Tod? Entwicklung des Auferstehungsglaubens“ (S. 26 – 30) werden biblische und talmudische Quellen vorgestellt. Er kommt zum Fazit: „ Breiten Konsens in der jüdischen Gemeinschaft findet der Glaube an die Auferstehung.Während orthodoxe und sogenannte konservative Juden sich ohne Umschweife dazu bekennen, fällt es den Reformjuden etwas schwerer; diese halten aber an der Unsterblichkeit der Seele fest.“ (S. 309)¹²⁵ Seine weitere Darstellung der Trauerbräuche vom Begräbnis über das SchiwaSitzen bis zum Friedhofsbesuch schildert ausschließlich orthodoxe Praxis – andere jüdische Positionen werden nicht erwähnt. Zur spezifischen Situation heutiger jüdischer Gemeinden oder zum Umgang mit jüdischen Patienten gibt Georg Schwikart keine Hinweise.
Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Ebd., S. 48. Georg Schwikart 2010, S. 20 – 23. Ebd., S. 309.
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2 Theorie und Grundlagenteil
Tom Kučera (2011) Tom Kučera, Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde in München, erklärt in seinem Aufsatz „Jüdische Spiritualität an den Grenzen des Lebensintervalls“¹²⁶ im Sammelband „Spiritualität und Medizin“, dass das hebräische Wort für Spiritualität (Ruchanijut) erstmals im Mittelalter und insbesondere im Chassidismus erscheint.¹²⁷ Dort gehört zur Spiritualität Textstudium, Gebet und gute Taten (Mizwot): „Dabei wird sichtbar, dass die Spiritualität im Judentum auch kognitive und praktische Aspekte miteinbezieht.“¹²⁸ Ein nächster Aspekt, den er in seiner Darstellung thematisiert, ist die rituelle Unreinheit, die sowohl im Umfeld der Geburt (bei der Gebärenden) wie auch beim Sterben (in Bezug auf den Leichnam) begegnet. Im Abschnitt „Die Pflege der Sterbenden“¹²⁹ erläutert Kučera die Mizwa des Krankenbesuchs: „Eine talmudische Weisheit lehrt, dass jeder Besucher dem Kranken einen sechzigsten Teil seines Leidens abnimmt. Darunter soll keine mathematische Überlegung verstanden werden, etwa so dass [sic!] sechzig Besucher einen Kranken heilen können (dies würde eher das Gegenteil bewirken), sondern eine ethische Herausforderung, den Kranken durch die persönliche Anwesenheit, das aufmerksame Zuhören oder die einfühlsamen Worte zu ermutigen. Beim Besuch einer sterbenden Person entstehen mindestens zwei ethische Probleme: 1. Sollen die Familienangehörigen einen Zugang zur sterbenden Person haben? (Wenn nicht, inwieweit wird die sterbende Person der isolierten Verzweiflung ausgesetzt sein? Wenn doch, inwieweit werden die Reaktionen der Anwesenden die sterbende Person noch mehr in Verzweiflung treiben?) 2. Soll die sterbende Person über den bevorstehenden Tod informiert werden? (Wenn nicht, wie kann sich die Person auf den Tod vorbereiten und alle Angelegenheiten regeln? Wenn doch, wie schafft die Person, bis zum letzten Augenblick die Existenz verantwortlich wahrzunehmen?) Für beide ethischen Fragen gibt es keine Regeln und Vorschriften, nur ein Taktgefühl, mit dem man sich in der konkreten Situation auseinandersetzen muss.“¹³⁰
Anschließend erläutert Kučera das „traditionelle Ritual“ (S. 166) beim Besuch eines Kranken mit Psalmenlesen und Sündenbekenntnis (Widui) am Krankenbett, sowie das Singen der Gebete Jigdal und Adon Olam, ohne allerdings darauf einzugehen, inwieweit dieses Ritual in den verschiedenen heutigen Strömungen des Judentums auch gängige Praxis ist. Zum Umgang mit dem Todesmoment selbst erklärt Kučera:
Kučera 2011. Ebd., S. 164. Ebd., S. 164. Ebd., S. 166 f. Ebd., S. 166.
2.2 Aktueller Forschungsstand
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„Beim endgültigen Ende werden die für das Judentum grundlegenden Worte des Schma gesungen. Mit dem letzten Wort echad (einer) ist symbolisch der letzte Atemzug zu setzen, mit dem die einzigartige Existenz vorbei ist. Nach dem Schma werden die Texte von der Nei′la gelesen, dem Abschlussgottesdienst am Versöhnungstag (dreimal Baruch schem, siebenmal Haschem hu). Nach dem Verscheiden werden symbolisch die Fenster geöffnet.“¹³¹
In den weiteren Abschnitten seiner Darstellung stellt Kučera die Tahara (rituelle Totenwaschung) vor und die vier Stufen der Trauerzeit, sowie das Konzept des jüdischen Friedhofs.¹³²
Birgit Heller (2012) Eine ausführliche Darstellung zu „Das Leben festhalten mit offenen Armen: Sterben, Tod und Trauer im Judentum“ findet sich in Birgit Hellers Buch: Wie Religionen mit dem Tod umgehen. Grundlagen für die interkulturelle Sterbebegleitung.“¹³³ Birgit Heller ist Religionswissenschaftlerin und außerordentliche Universitätsprofessorin an der Universität Wien. Nach einer Einleitung stellt sie in den folgenden Einzelabschnitten die Aspekte „Religiöse Aspekte der Palliativpflege“, „Sterbebegleitung“, „Totenritual“ „Trauer“ und „Weiterleben nach dem Tod“ vor. Auch wenn unterschiedliche Positionen des konservativen und des Reformjudentums im Text mehrfach erwähnt werden, wird vor allem die orthodoxe Sichtweise referiert, jeweils als „traditionell“ bezeichnet oder als „in der jüdischen Tradition“ begründet, z. B.: „Nach dem traditionellen jüdischen Gesetz gilt …“¹³⁴, „In der jüdischen Tradition gilt …“¹³⁵ und an vielen (insgesamt 14) weiteren Stellen. So wird der Brauch der Namensänderung, der dem Sterbenden einen neuen Vornamen verleiht, ausführlich beschrieben: dadurch soll es dem Todesengel schwer gemacht werden, den Sterbenden zu finden.¹³⁶ Es wird geschildert, dass die Chewra kaddischa die Sterbebegleitung unterstützt durch Hilfe bei unerledigten Angelegenheiten und bei der Versöhnung mit Gott. Das auf dem Sterbebett zu sprechende Sündenbekenntnis wird vollständig in deutscher Übersetzung zitiert.¹³⁷ „Beim Eintreffen des Todes sprechen die Anwesenden traditionellerweise siebenmal das Sch′ma Israel: ‚Höre, Israel! Der Herr, unser Gott, ist einzig.‘
Ebd., S. 167. Ebd., S. 167– 170. Heller 2012. Ebd., S. 88. Ebd., S. 95. Ebd., S. 96. Ebd., S. 97.
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2 Theorie und Grundlagenteil
(J. [Anm. d. Verf.: im Original hier christlich ausgeschriebener Gottesname] elohenu J. [Anm. d. Verf.: und nochmals christlich ausgeschriebener Gottesname] echad.)“¹³⁸ Als weitere Sterbegebräuche werden beschrieben: das Lärmen am Totenbett¹³⁹, die Schließung der Augen durch den ältesten Sohn¹⁴⁰, die Bewachung und Waschung des Leichnams durch die Chewra kaddischa¹⁴¹, das Einreißen der Kleider beim Begräbnis.¹⁴² Das Kaddisch-Gebet wird mit dem Hinweis auf die Totenauferstehung und die Wiedererrichtung des Tempels zitiert, ohne Hinweis, dass es sich um die orthodoxe Fassung des Gebets handelt (im Reformjudentum wird nicht für die Wiedererrichtung des Tempels gebetet): „Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der Welt, die neu geschaffen werden soll, wo er die Toten zurückrufen und ihnen ewiges Leben geben wird; die Stadt Jerusalem aufbauen und seinen Tempel in ihre Mitte setzen wird; und allen fremden Götzendienst von der Erde ausrotten und die Verehrung des wahren Gottes einsetzen wird…“¹⁴³ Im Abschnitt Trauer weist Birgit Heller zu Beginn darauf hin, dass die beschriebene „Fülle von Riten und Vorschriften […] nur in orthodoxen Gemeinden im unten beschriebenen Schema ausführlich vollzogen werden“¹⁴⁴. Dazu gehören Beerdigungsgebräuche wie das Grasbüschelausreißen und Gebräuche beim Schiwa-Sitzen. Ein ausführlicher Abschnitt über „Weiterleben nach dem Tod“ beschließt die Darstellung, wobei ein geschichtlicher Bogen von der „alten israelitischen Religiosität“¹⁴⁵ über die „Zeit Jesu“¹⁴⁶ bis zum 20. Jahrhundert, wobei Heller ein „neues Interesse an der Vorstellung von der leiblichen Auferstehung“¹⁴⁷ ausmacht. Das Zitat des Gebetes El Male Rachamim (in orthodoxer Fassung) schließt die Darstellung; es fasse „in wenigen Worten zusammen, was sich religiöse Juden und Jüdinnen für ihre Verstorbenen (und für sich selbst) nach dem Tod erwarten“¹⁴⁸. Für die Grundlagen einer „interkulturellen Sterbebegleitung“, die der Untertitel ihres Buches ankündigt, erscheint Birgit Hellers Darstellung zumindest in
Ebd. Ebd., S. 98. Ebd., S. 99. Ebd., S. 99. Ebd., S. 100. Ebd., S. 101. Ebd., S. 103. Ebd., S. 105. Ebd., S. 108. Ebd., S. 100. Ebd., S. 112.
2.2 Aktueller Forschungsstand
37
Bezug auf das Judentum wenig sensibel (vgl. Verwendung des ausgeschriebenen Gottesnamens). Offenbar hat sich die Autorin von keinem jüdischen Gemeindemitglied, gleich welcher Richtung, beraten lassen; sonst wäre ein solcher faux pas kaum möglich gewesen. Darauf deutet auch der Hinweis auf die „Zeit Jesu“ in einem Artikel über jüdische Sterbebegleitung hin. Grundlage ihres Artikels dürfte also das Studium orthodoxer Darstellungen in der Literatur (ohne die Rücksprache mit orthodoxen Gemeindevertretern) gewesen sein, was die Fixierung auf Bräuche des orthodoxen Judentums, die als allgemeingültig für die „jüdische Tradition“ angesehen werden, vermuten lässt. Eine solche Darstellung erscheint als Einführung für Nichtjuden eher irreführend denn hilfreich.
Fazit Zu bedenken ist die praktische Bedeutung der im diesem Abschnitt vorgestellten Werke für die Patientenbetreuung. Alle erwähnten Bücher, außer von Rabbiner Benjamin David Soussan und Andrea Zielke-Nadkarni, finden sich beispielsweise in der Präsenzbibliothek der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin am Klinikum Großhadern der Ludwig-Maximilians-Universität München und dienen als Erstinformation von Krankenhausmitarbeitern zu den Bedürfnissen jüdischer Patienten. Die Frage, ob diese Darstellungen in diesem Zusammenhang hilfreich sind, ist wohl eher negativ zu beantworten. Die beiden Rabbiner, Soussan (2004) und Kučera (2011) bringen in ihren Darstellungen wichtige Details zu den Richtlinien der jüdischen Tradition und der jüdischen Medizinethik. Allerdings gehen beide auf die Situation der überwiegend durch die Einwanderer aus der GUS geprägten heutigen Gemeinden in Deutschland mit keinem Wort ein – es handelt sich meines Erachtens mehr um idealtypische Darstellungen als um Handreichungen mit Bezug zur konkreten Gemeindewirklichkeit. In den übrigen Texten, die von Nichtjuden verfasst wurden, sind mehrfach Sätze enthalten, die ein Jude wohl kaum so formulieren würde. Insbesondere der Gebrauch des christlich ausformulierten Gottesnamens J. im Zusammenhang mit der jüdischen Religion¹⁴⁹ zeugt davon, dass die Autoren bei Abfassung ihrer Artikel wohl kaum den Rat eines Juden vor der Veröffentlichung eingeholt haben. Auffällig ist bei den diesen Darstellungen, dass eine Vielzahl religiöser Bräuche genannt werden, die in den vom Verfasser geführten Interviews überwiegend nicht erwähnt wurden – und zwar bei allen jüdischen Denominationen von liberal bis
So in den Darstellungen von Zeiß 2004 und Heller 2012.
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2 Theorie und Grundlagenteil
ultra-orthodox. Gleichzeitig fehlt in den Darstellungen jeder Hinweis zur aktuellen Problematik der durch die GUS-Zuwanderer geprägten heutigen Gemeindesituation. Ein solcher Mangel hätte leicht vermeiden werden können – am einfachsten dadurch, dass Verlage Handbuchartikel zum Judentum durch jüdische Autoren schreiben lassen würden. Das wäre vermutlich ein Schritt, das Judentum etwas weniger kompliziert und fremd erscheinen zu lassen. Bloße christlich-theologische Sachkenntnis ohne Bezug zur empirischen jüdischen Basis ist hier nicht weiterführend. Dass dieser Umstand offensichtlich keinem Verlagslektor aufgefallen ist, könnte die Bemerkung eines Interviewpartners in dieser Studie bestätigen: nämlich dass das allgemeine Bild vom Judentum in Deutschland nach wie vor vielfach von Stereotypen geprägt ist (vgl. S. 133). Einzige Ausnahme ist in diesem Zusammenhang der Aufsatz von Andrea Zielke-Nadkarni (2009), der sich tatsächlich mit der Lebenswirklichkeit in den heutigen jüdischen Gemeinden beschäftig. Allerdings ist dieser Aufsatz weniger leicht zugänglich ist als die auflagenstärkeren genannten Handbücher.
2.3 Konzepte der jüdischen Theologie und Ethik Einen wichtigen Verstehenshorizont im Rahmen der vorliegenden Untersuchung bilden Konzepte aus der jüdischen Theologie und Ethik, wie sie auch von den Interviewpartnern mehrfach angesprochen werden. Im ersten Abschnitt (2.3.1) sollen daher zuerst einige Definitionen von Spiritualität aus dem Umfeld von Palliative Care vorgestellt werden, die interreligiös angelegt sind und implizit auch den jüdischen Bereich einschließen. In den folgenden Abschnitten geht es dann um die ganz spezielle Form der jüdischen Spiritualität des Handelns (2.3.2), die Entstehung und Praxis von jüdischer Spiritual Care (2.3.3) und um das Ende des Lebens aus der Sicht der jüdischen Medizinethik (2.3.4).
2.3.1 Definitionen von Spiritualität im Umfeld von Palliative Care Der Begriff Spiritualität ist, wie sich bereits von seiner etymologischen Wurzel erkennen lässt, kein genuin jüdisches Konzept, sondern entstammt der christlichlateinischen Tradition. In den letzten Jahrzehnten hat der Begriff Spiritualität für die Medizin im Bereich Palliative Care eine Renaissance erlebt – und das sowohl im nichtjüdischen wie auch im jüdischen Umfeld.
2.3 Konzepte der jüdischen Theologie und Ethik
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Schon seit den ersten Darstellungen von Fish und Shelly¹⁵⁰ zum Konzept von Spiritual Care von 1978 und 1983 gibt es den Versuch, spirituelle Hauptbedürfnisse zu formulieren, die allen religiösen Traditionen und allen Menschen gemeinsam sind (und damit auch implizit als für das Judentum gültig gesehen werden¹⁵¹): “A spiritual need is anything necessary to establish or maintain a dynamic, personal relationship with God. The need for love and relatedness, the need to forgive and be forgiven, the need for meaning and purpose, the need for hope are all spiritual needs. Although each of these needs is experienced and expressed through interpersonal relationship, the ultimate fulfillment can be found only in God.”¹⁵²
Demnach fokussieren sich spirituelle Bedürfnisse auf diese vier Hauptbereiche: – Bedürfnis nach Liebe und Verbundenheit – Bedürfnis nach Vergeben und Vergebung – Bedürfnis nach Sinngebung – Bedürfnis nach Hoffnung Dieses Konzept wurde vielfach in Abwandlungen übernommen und weitergeführt, so etwa bei Ferrell/Coyle 2010: “What is spirituality? […] Conceptions of spirituality often include the following as aspects of spirituality: the need for purpose and meaning, forgiveness, love and relatedness, hope, creativity, and religious faith and its expression.”¹⁵³
Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin geht in ihrer Definition von Spiritualität einen anderen Weg. Statt einzelne Bereiche spiritueller Bedürfnisse festzulegen, wird Spiritualität hier als eine Form der Begegnung gesehen, mit der sich der Mensch mit den Erfahrungen des Lebens und existentiellen Bedrohungen in Bezug setzt: „Unter Spiritualität kann die innere Einstellung, der innere Geist wie auch das persönliche Suchen nach Sinngebung eines Menschen verstanden werden, mit dem er Erfahrungen des Lebens und insbesondere auch existenziellen Bedrohungen zu begegnen versucht.“¹⁵⁴
Fish/Shelly 1978 und Shelly 1983. Zur Frage, ob diese Definition auch für die jüdische Sichtweise sinnvoll ist, vgl. unten, S. 202 ff. Shelly 1983, S. 55 f. Ferrell/Coyle 2010, S. 647. http://www.dgpalliativmedizin.de/arbeitskreise/ak-spirituelle-begleitung.htlm (abgerufen am 14.03. 2013).
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2 Theorie und Grundlagenteil
Dieser Gedanke der In-Bezug-Setzung liegt auch der Definition von Spiritualität durch die EAPC Taskforce on Spiritual Care in Palliative Care vor, wie sie auf ihrer Konferenz im Oktober 2010 erarbeitet wurde: “Spirituality is the dynamic dimension of human life that relates to the way persons (individual and community) experience, express and/or seek meaning, purpose and transcendence, and the way they connect to the moment, to self, to others, to nature, to the significant and/or the sacred. The spiritual field is multidimensional: 1. Existential challenges (e. g. questions concerning identity, meaning, suffering and death, guilt and shame, reconciliation and forgiveness, freedom and responsibility, hope and despair, love and joy). 2. Value based considerations and attitudes (what is most important for each person, such as relations to oneself, family, friends, work, things nature, art and culture, ethics and morals, and life itself). 3. Religious considerations and foundations (faith, beliefs and practices, the relationship with God or the ultimate).”¹⁵⁵
Hier wird Spiritualität als ein multidimensionales Feld gesehen, welches Individuum und Gemeinschaft mit den genannten anderen Größen in Beziehung setzt – wobei auffällt, dass hier keine „spiritual needs“ wie bei von Fish und Shelly definiert werden, sondern beispielhaft „existential challenges“ aufgeführt werden. Unter diesen Beispielen erscheinen mit den Begriffen „meaning“, „foregiveness“, „hope“ und „love“ zwar wiederum alle von Fish und Shelly genannten „spiritual needs“, allerdings ohne einen festen Kanon spiritueller Bedürfnisse aufzustellen. Vielmehr öffnet sich die Dimension auch für mögliche weitere „existential challanges“ und bezieht mit den Punkten „value based considerations and attitudes“ und „religious considerations and foundations“ auch weitere Bereiche mit ein, darunter insbesondere auch die religiöse Praxis („practices“), die in den zuvor genannten Definitionen keine Rolle spielt. Die Bedeutung der Spiritualität für den medizinischen Bereich und speziell im Bereich Palliativ Care ist spätestens seit der WHO-Definition von Palliative Care im allgemeinen Bewusstsein fest verankert: “Palliative care is an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problem associated with life-threatening illness, through the prevention and
http://www.eapcnet.eu/Themes/Clinicalcare/Spiritualcareinpalliativecare.aspx (abgerufen am 15.10. 2014); vgl. Nolan/Saltmarsh/Leget 2011, S. 87.
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relief of suffering by means of early identification and impeccable assessment and treatment of pain and other problems, physical, psychosocial and spiritual.”¹⁵⁶
Spiritualität kann für schwerkranke Patienten eine besondere Bedeutung gewinnen, wie Christine Puchalski erläutert: “Spirituality can be an important element in the way patients face chronic illness, suffering, and loss. Physicians need to address and be attentive to all suffering of their patients—physical, emotional, and spiritual. Doing so is part of delivery of compassionate care. I think we can be better physicians and true partners in our patients’ living and in their dying if we can be compassionate: if we truly listen to their hopes, their fears, and their beliefs and incorporate these beliefs into their therapeutic plans.”¹⁵⁷
Demnach wäre Spiritual Care nicht als explizit religiöse Begleitung zu sehen, welche additiv zu den anderen Formen der Betreuung hinzukommt.Vielmehr wäre Spiritual Care implizit in jeder Form der Zuwendung durch Menschen zu verorten, welche schwerkranke und sterbende Patienten betreuen, ganz gleich in welcher Profession sie tätig sind. Die Beachtung der spirituellen Aspekte sollte also auch und gerade durch die behandelnden Ärzte und die in der Betreuung tätigen weiteren medizinischen Mitarbeiter und Sozialarbeiter geschehen – was sich auch mit den Bedürfnissen der Patienten deckt, wie Studien verschiedentlich gezeigt haben. ¹⁵⁸
2.3.2 Jüdische Spiritualität des Handelns Die Besonderheit jüdischer Definitionen von Spiritualität ist, dass das praktische Handeln des Menschen als konstitutives Element für Spiritualität gesehen wird. Bereits weiter oben (S. 34 ff) im Aufsatz von Rabbiner Tom Kučera fand sich der Hinweis, dass Spiritualität im Judentum „kognitive und praktische Aspekte miteinbezieht“.¹⁵⁹ Eine ausführliche Darstellung dieses Zusammenhangs hat Rabbiner Lawrence Kushner in seinem Buch „Jüdische Spiritualität“ vorgelegt. Kushner definiert Spiritualität wie folgt: „Spiritualität ist im Vertrauen erlebte Religion, Kern und
http://www.who.int/cancer/palliative/definition/en/ (abgerufen am 15.10. 2014). Puchalski 2004, S. 356. Vgl. die Übersicht bei Hauf 2009, S. 56 ff.Vgl. dazu auch Wasner/Roser/Fittkau-Tönnesmann/ Borasio 2008, S. A674 f zur Bedeutsamkeit, Spiritualität als Ausbildungsinhalt in das Medizinstudium zu integrieren. Kučera 2011, S. 164.
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wahres Wesen gestalteter Religion. Spiritualität ist die Begegnung zwischen Gott und dem Menschen und das, was der Mensch dafür tut [Hervorhebung durch den Verfasser]. Spiritualität ist nichts Außerweltliches […] und auch nicht Ätherisches.“¹⁶⁰ Er bezieht sich hier auf Abraham Josua Herschels Definition von Spiritualität: „gelebtes Leben in der beständigen Gegenwart des Göttlichen“¹⁶¹. Beide Definitionen zeigen, dass es sich in der jüdischen Spiritualität um etwas Aktives handelt, um das, was der Mensch in der Begegnung mit Gott tut bzw. um das im Hier und Jetzt gelebte Leben. Mit dieser Definition distanziert sich Kushner von der klassischen, griechisch geprägten Sicht, die zwischen materieller Welt und geistiger, spiritueller Realität unterschiedet. ¹⁶² Dieser Definition nach würde Spiritualität implizieren, „dass ein suchender Mensch das Alltägliche, die Welt der Dinge verlässt, um zu einem höheren, spirituellen oder heiligen Bereich zu gelangen“.¹⁶³ Anders in der hebräischen Sprache und im Judentum: „Für die jüdische Spiritualität gibt es nur eine Welt, sie ist materiell und spirituell zugleich“.¹⁶⁴ Oder noch radikaler formuliert: „Alles,vom Gebet bis zum Müll, ist Ausdruck Gottes.“¹⁶⁵ Es stellt sich die Aufgabe: „Jüdische Spiritualität will deshalb in dem Bemühen gelebt werden, Gottes Gegenwart und seinen Willen zu erkennen – auch und gerade in dem, was dem Betrachter als primitiv erscheint oder was er der materiellen Welt zurechnet.“¹⁶⁶ Damit verbunden ist die Forderung nach Aufmerksamkeit und Achtsamkeit.¹⁶⁷ „Das Judentum kennt einen einzigartigen Weg, die Aufmerksamkeit zu wecken, einen Segen, genannt Beracha [kursiv im Original]“.¹⁶⁸ Das Sprechen der Berachot ist ein Weg, diese Aufmerksamkeit zu fördern, wie Rabbiner Micah D. Greenstein erklärt: “The word baruch—blessing—is different than the word for prayer. To pray, from the Latin, is to beg, to plead. The spiritual implies, in English, separation between the material and the spiritual. In Judaism we use the a b’racha, and it comes from the same word for your knees. The idea is when you bless God, it is not begging or pleading. It is an act of gratitude, bending the knee for God, symbolically. When-ever you recite, ‘Holy One of blessing, your
Kushner 2008, S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 8. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19.
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presence fills creation,’ you are acknowledging an act of gratitude. Each time a Jew recites a blessing, they are basically saying, ‘Pay attention, something awesome is happening all around us.’ In this way you realize, again and again, that our everyday world is full of mysteries and wonder.”¹⁶⁹
Es gibt im Judentum ein ganzes System der Berachot als Anerkennung alltäglicher Wirkungen des göttlichen Heilshandelns im Hier und Jetzt der Gegenwart vom morgendlichen Aufstehen bis hin zum Wahrnehmen des Regenbogens.¹⁷⁰ Jüdische Spiritualität findet nach Rabbiner Kushner in drei Bereichen statt: in der staunenden Begegnung mit der Schöpfung¹⁷¹, im Studium der Thora¹⁷² und in der Befolgung seiner Gebote¹⁷³. Er verweist hier auf Ex 24,7, wo die Kinder Israels, denen Gott die Thora gibt, sprechen: „Wir wollen tun und wir wollen hören.“¹⁷⁴ Die Erklärung nach Rabbi Menachem Mendel Morgenstern aus Kotzk ist, „dass manche Handlungen erst ausgeführt werden müssen (tun), bevor sie zu verstehen (hören) sind.“¹⁷⁵ Damit wird das Konzept der Mizwa verständlich: „Wenn Juden eine Mizwa halten, machen sie sie sich zu eigen. Sie verstehen sie, sie ‚hören‘ sie, sie wird Teil von ihnen. Damit verändert die ‚Mizwa‘ den Menschen und bringt ihn näher zu Gott. Dieses heilige Handeln ist der jüdische Weg, die in allem verborgene Heiligkeit zu erkennen und die Schöpfung instand zu setzen.“¹⁷⁶ Kushner folgert: „Die jüdische Spiritualität ist eminent praktisch, ja geradezu pragmatisch: Wenn du etwas Zerbrochenes findest, füge es wieder zusammen. Wenn du etwas Verlorenes findest, gib es wieder zurück. Wenn du siehst, dass etwas zu tun ist, tu es. So sorgst du für die Welt und setzt die Schöpfung instand. Wenn alle Menschen auf der Welt so handelten, wäre sie der wahre Garten Eden, dann wäre die Welt so, wie Gott sie gemeint hat.“ ¹⁷⁷ Er kommt zum Fazit. „Unser Schwerpunkt auf dieser Welt lässt uns nach dem Heiligen im Hier und Jetzt suchen, auch in dem, was weniger kritische Betrachter gewöhnlich oder vordergründig materiell nennen würden. Diese Welt und alles in ihr sind [sic!] eine Manifestation von Gottes Gegenwart. Gottes Gegenwart zu
Greenstein 2000 (auf der Seite explorefaith.org, abgeruden 15. 2. 2014). Vgl. ebd. Kushner 2008., S. 15 ff. Ebd., S. 27 ff. Ebd., S. 41 ff. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Ebd., S. 46.
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finden, ist unsere Herausforderung und unser Ziel und unsere Herausforderung und unser Ziel ist es auch, anderen zu helfen, sie ebenfalls zu finden.“¹⁷⁸ Rabbiner Micah Greenstein hat in seiner Vorlesung „Jewish Spirituality. 10 Ways to Be a Spiritual Person“ eine „Top Ten list of what it means to be a spiritual person today“¹⁷⁹veröffentlicht: “Number One—
to view the world as an ultimate mystery rather than as a mechanized machine. Number Two— to view life as meaningful rather than meaningless. Number Three— to view life as a lesson in gratitude. Number Four— giving as a matter of obligation for what you owe, not as something that is nice to do. Number Five— to realize that mind, body, and soul are all gifts of God. Number Six— acknowledge life’s mysteries, even the questions that have no answers. Number Seven— trust in the goodness of life and all the potential this implies. Number Eight— always hope and never succumb to despair. Number Nine— believe that honesty, integrity and dignity matter more than anything else. Number Ten— entails the belief that every person carries with them the special signature of God.”
Anhand dieser Liste, die zunächst eher ein abstraktes Bild von Spiritualität vermuten lässt, macht er jeweils deutlich, wie jüdische Spiritualität immer in den konkreten Kontext des Handelns hineingehört. So etwa in Punkt eins, wenn er die Bedeutung der Atheisten im Rahmen einer spirituellen Sicht der Welt betont: “Whenever anybody tells me they are an atheist, I say two things: First, in Judaism, God actually created atheists for a very important reason. If you break your leg and someone who is a holy-roller comes by, they’ll just pray over your leg. But if an atheist comes by, they’ll fix your leg and make it better, so they are doing God’s work without even realizing it.”¹⁸⁰
Jüdische Spiritualität ist in dieser Sichtweise keine Abwendung von dieser materiellen Welt in eine andere Dimension, sondern bewusste Zuwendung zu genau dieser materiellen Welt: “Jewish spirituality is an approach to life in which we strive to become aware of God’s presence and purpose in everything. It doesn’t imply a removal from the everyday. In fact, it’s in some ways finding the extraordinary in the ordinary—in your work, in your exercise, in your quiet times, in material things. […]
Ebd., S. 79. Greenstein 2000 (auf der Seite explorefaith.org, abgerufen 15. 2. 2014). Ebd.
2.3 Konzepte der jüdischen Theologie und Ethik
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Jewish spirituality […] is a matter of seeing the holy in the everyday, and invites us to wake up and open our eyes to the holy things happening all around us every day. [Hervorhebung im Original] A lot of them are so obvious they are taken for granted unless, God forbid, you are struck with illness or have experienced misfortune. When we wake up and see the morning light, that’s a spiritual moment according to Judaism. When we taste food and are nourished. When we learn from others and grow wise. When we embrace people we love and receive their love in return. When we help those around us and feel good. All these and more are there for us every day, but you have to open your eyes to see them. Otherwise, you miss it. Remember the famous phrase from Genesis when Jacob wakes up from his dream? ‘God was in this place, and I did not know it.’“¹⁸¹
Jüdische Spiritualität ist also eine ganz praktische Angelegenheit: “Jewish spirituality is practical. This may sound counter-intuitive, because usually when we think about spirituality, it’s about being inside yourself– maybe removing yourself from the everyday material world and going to a spiritual, higher plane [sic!]. But Judaism teaches that spirituality is practical. When you see something that is broken, fix it. That’s spirituality. When you find something that is lost, return it. When you see something that needs to be done, do it. In that way you will be taking care of the world and fulfilling your role as God’s partner. [Hervorhebung im Original] If spirituality is about a deeper connection with God and you are literally God’s helping hand, then your job spiritually is to repair what needs to be repaired in this broken world.”¹⁸²
Micah Greenstein gibt ein praktisches Beispiel, was jüdische Spiritualität ausmacht: “Let’s say down at St. Jude’s Children’s Hospital there is a girl who is dying. She needs a liver transplant that’s going to cost $30,000. Two women from your congregation with the same net worth, the same income, walk in. The first one is absolutely hysterical. She can’t concentrate. She can’t sleep. Her heart just goes out to this girl. The more she hears about what the death of this child is going to do to the family, the more she cries. With tear-stained cheeks, she writes out a check for $15,000, and then she leaves. The second woman comes in and is very gruff. She really couldn’t seem to care less about this little girl. The woman is distant and detached, but she writes a check for $30,000 and leaves. Which woman is more meritorious? The one who felt in her heart for the sick little girl and wrote the check for $15,000, or the one who really seemed to be somewhat cold and wrote the check for $30,000? In Judaism it’s a no-brainer. The second woman gave the more meritorious gift. Why? Because the first gift was charity, but the second one was tzedekah. The girl is going to die unless she gets a new liver, so how you feel about it doesn’t really matter. It’d be nice if the heart followed the hand, but the hand doesn’t always follow the heart. The bottom line, in terms of giving, is making a difference in this world.”¹⁸³
Ebd. Ebd. Ebd.
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Das richtige zu tun, ist also tzedakah (hebräisches Wort für Almosen- es bedeutet vom Wortsinn her Gerechtigkeit). Es kommt weniger auf die innere Haltung an, mit der man etwas tut, als vielmehr darauf, was man tut als tatsächliche Handlung.
2.3.3 Jüdische Spiritual Care Auch wenn der Krankenbesuch, Bikkur Cholim, schon seit talmudischen Zeiten im Judentum intensiv praktiziert und diskutiert wird, ist eine eigenständige jüdische Krankenseelsorge ein sehr neues Phänomen.¹⁸⁴ Selbst wenn Krankenhäuser einen Rabbiner beschäftigen, ist es keineswegs selbstverständlich, dass dieser auch Krankenbesuche unternimmt, wie die Israelische Vereinigung der Krankenseelsorger Kashouvot (gegründet 2010) auf ihrer Website berichtet: “Many hospitals have a rabbi on staff, but this is not the same as a chaplain. Hospital rabbis in Israel are in charge of kosher food, prayer services, halakhic observance and occasional ethical decisions. Their role is not to visit patients or offer their families support, and in general they are not trained to offer pastoral counseling or experienced in interfaith work.”¹⁸⁵
Nach der für den christlichen Bereich erarbeiteten Unterscheidung von Michael Klessmann liegt der Schwerpunkt rabbinerlicher Tätigkeit demnach auf der Krankenhausseelsorge, nicht aber auf der Krankenseelsorge.¹⁸⁶ In den USA hat eine ausgedehntere jüdische Krankenseelsorge in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen.¹⁸⁷ Seit 1993 werden durch die National Association of Jewish Chaplains NAJC (gegründet 1990) neben Rabbinern und Kantoren auch jüdische Laien zu Krankenseelsorgern ausgebildet.¹⁸⁸ Die NAJC organisiert Ausbildungsprogramme und hat einen detaillierten ethischen Kodex für Krankenseelsorger ausgearbeitet.¹⁸⁹ Das von der NAJC herausgegebene „Journal of Jewish Spiritual Care“ ist auch online zugänglich.¹⁹⁰
Vgl. Klessmann 2013 zur Unterscheidung zwischen Krankenseelsorge und Krankenhausseelsorge. Kashouvot. URL: http://www.kashouvot.org/what-is-spiritual-care/pastoral-care-in-israel/ Vgl. Klessmann 2013. Association of Jewish Chaplains NAJC. URL: http://www.najc.org/about/history Ebd. http://www.najc.org/pdf/NAJC_ethics.pdf http://www.najc.org/news-journals
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Tami Borneman et al. haben 2013 in einem Aufsatz im Journal of Palliative Care zusammengefasst, was Spiritual Care für jüdische Patienten bedeuten kann.¹⁹¹ Die Grundvoraussetzung ist für sie, die vielen Arten des jüdischen Selbstverständnisses zu akzeptieren – von völligem Atheismus bis zum engen Eingebundensein in die Religion: “Often, clinicians assume that because a person identifies himself or herself as Jewish, that person adheres to the Jewish religion. It is not uncommon for people to think of Judaism as a monotheistic world religion –like Christianity or Islam– that defines itself primarily through a creed or set of beliefs. However, Judaism begins with ethnic identity, as most Jews are Jewish by virtue of being born into a Jewish family. Judaism as a religion is compiled of a set of beliefs and rituals, and a person converting to Judaism needs to commit these beliefs. Many people who are born Jewish identify themselves as Jews only in an ethnic or cultural sense, as their Jewishness is not connected to religious faith or a belief in God. Some Jews are atheists and still consider themselves to be good Jews; others are secular Jews who choose not to live in accordance with the sacred texts.”¹⁹²
Von daher gilt es zu verstehen, dass viele Juden keinen jüdischen Krankenseelsorger am Krankenbett zu sehen wünschen, aus Angst, er könnte ihnen Vorwürfe wegen der Nichteinhaltung der jüdischen Gesetze vorwerfen: “[…] many Jews assume that a chaplain (who may be a clergy member) has an agenda and will judge them based on their level of observance of Jewish traditions. As a result, Jewish patients often decline the offer to speak with a chaplain in hospital for fear that the visit will make them feel guilty rather than comforted.
Maßstab für das Gespräch zwischen Seelsorger und Patient sollte – genauso wie auch im christlichen Bereich – der Patient selbst sein: “In Judaism, pastoral care is provided through an egalitarian relationship between the patient and the provider. In Hebrew, pastoral care is referred to as ‘Livui ruchani’ or ‘spiritual accompaniment’. The root of the Hebrew term refers to someone who ‘walk with’ another. It is the role of both chaplains and clinician to be present with the patient and to let the patient guide the visit. The chaplain and the clinician can provide comfort in this way – by being present, by actively listening to the patient speak about whatever is on his or her mind, and by responding appropriately to the patient’s concerns.”¹⁹³
Borneman/Bluman/Klein/Thomas/Ferell 2013. Ebd., S. 58. Ebd., S. 60 f.
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2 Theorie und Grundlagenteil
2.3.4 Das Ende des Lebens aus der Sicht der jüdischen Medizinethik Ziel jüdischer Beschäftigung mit dem Lebensende ist das Leben selbst, wie Francesca Yardenit Albertini in ihrem Aufsatz über jüdische Bioethik betont: „Judaism […] has life at its core, a better life for all human beings, and not, or not only, death as its main concern.“¹⁹⁴ Aber gerade weil menschliches Leben bis zur letzten Lebensminute unbedingt schützenswert ist, ergeben sich eine ganze Reihe ethischer Implikationen.¹⁹⁵ Vor allem hat jeder Patient die Verpflichtung, den Arzt aufzusuchen und Heilung zu suchen und nicht einfach nur auf Gottes helfendes Eingreifen zu hoffen.¹⁹⁶ Eine ausführliche Darstellung der jüdischen Medizinethik am Lebensende bietet der Schweizer Arzt Yves Nordmann in seinem Buch „Zwischen Leben und Tod“¹⁹⁷. Er diskutiert u. a. ausführlich in einzelnen Kapiteln die verschiedenen jüdischen Positionen zu „Sterbehilfe“, „Organtransplantationen“, „Definition des Todeszeitpunktes“ und zum „Hirntod“. Die wichtigsten Prinzipien fasst er in einem Aufsatz für das Deutsche Ärzteblatt folgendermaßen zusammen: „1. Tötungsverbot: Es ist gemäß der Tora verboten, einen Menschen umzubringen, außer wenn es sich um einen potenziellen Mörder handelt und nur durch dessen Tötung der eigene Tod oder der eines anderen Unschuldigen verhindert werden kann (Notwehr). Das Umbringen eines Menschen, der nicht eine unmittelbare Lebensgefahr für andere darstellt, gilt als Mord, ob es sich dabei nun um ein Neugeborenes, einen gesunden Erwachsenen oder einen Sterbenden handelt. Unter das Tötungsverbot fällt auch das Verbot der Selbsttötung. Der Suizid ist selbst unter der Absicht verboten, einem anderen Menschen durch diese Tat das Leben zu retten. 2. Leben als „Leihgabe“: Der Mensch besitzt nicht ein absolutes Anrecht auf seinen Körper. Gott hat jedem Menschen einen Körper und eine Seele für eine bestimmte Zeit zur Verfügung gestellt, und jeder Mensch ist verantwortlich dafür, für diese „Leihgabe“ Sorge zu tragen. 3. Unendlicher Wert menschlichen Lebens: Menschliches Leben besitzt aus jüdischer Sicht einen unantastbaren, unendlichen Wert, unabhängig davon, ob es sich dabei um ein Leben handelt, das nur noch einige Sekunden oder möglicherweise noch viele Jahre andauern wird.“¹⁹⁸
Albertini 2011, S. 317. Ebd. S. 305 – 315 eine kurze Zusammenfassung von jüdischen Positionen aus Bibel und Talmud. Rosner 1991, S. 13 ff. Nordmann 1999 Nordmann 2001, S. 92.
2.3 Konzepte der jüdischen Theologie und Ethik
49
Daraus ergeben sich folgende praktische Prinzipien für den Umgang mit Sterbenden: „1. Grundsätzlich müssen alle Patienten – unabhängig von ihrem Zustand – mit Nahrung, Flüssigkeit, Sauerstoff und anderen lebenserhaltenden Elementen versorgt werden, und zwar auch dann,wenn diese lebenserhaltenden Elemente auf unübliche Weise verabreicht werden müssen. 2. Patienten mit schwersten chronischen Krankheiten, die nicht terminal sind, müssen genau gleich wie alle anderen Patienten behandelt werden. 3. Patienten mit terminalen Krankheiten, die am Sterben sind (‚goses‘¹⁹⁹), müssen grundsätzlich ebenfalls wie alle anderen Patienten behandelt werden. Wenn ein ‚goses‘ aber beispielsweise einen Herz- oder Atmungsstillstand erleidet oder andere schwere Komplikationen auftreten, die einer größeren Behandlung bedürften, sodass sich die Leiden des Sterbenden noch verschlimmern könnten, gilt Folgendes: a) Wenn der Herz- oder Atemstillstand durch die terminale Krankheit bedingt ist, das heißt im Rahmen des unvermeidlichen Krankheitsverlaufs erwartet werden konnte, dann muss eine Reanimation grundsätzlich nicht unbedingt versucht werden, vielleicht wäre es sogar ein Fehler, eine solche zu versuchen. b) Wenn aber der Herz- oder Atemstillstand oder andere Komplikationen unerwartet und unabhängig von der terminalen Krankheit auftreten, dann muss auch bei einem ‚goses‘ eine vollständige Behandlung eingeleitet werden, wie dies für jeden anderen Patienten auch geschehen würde. Diese Grundregel gilt aber nur in denjenigen Fällen, in welchen die Leiden und der Todeskampf des Sterbenden dadurch nicht verstärkt werden.“²⁰⁰
Wichtig ist für Nordmann wegen der Komplexität der Entscheidungen die Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen: „Da die Entscheidungen im Zusammenhang mit der Sterbehilfe oft äußerst schwierig zu treffen sind, sollten Beurteilungen immer fallbezogen vorgenommen werden. Dabei sollte die Situation mit der Familie, kompetenten Ärzten und einer in diesen Sachfragen angesehenen rabbinischen Autorität diskutiert werden.“²⁰¹ Hier ergibt sich für die Palliativmedizin eine besondere Herausforderung im Umgang mit jüdischen Patienten. Die jüdische Medizinethik hat in den USA eine Debatte zwischen jüdischen und katholischen Bioethikern angeregt²⁰², bei der sich auf christlicher Seite Edmund D. Pellegrino, unter George W. Bush, Chairman des President’s Council on
Vgl. dazu oben S. 7. Ebd., S. 93 f. Ebd., S. 94. Pellegrino/Faden 1999
50
2 Theorie und Grundlagenteil
Bioethics, und auf jüdischer Seite Ruth Faden²⁰³, ihrerseits Ethik-Beraterin unter Clinton, und ihr Ehemann Tom L. Beauchamp beteiligt haben.²⁰⁴ Edmund D. Pellegrino (1920 – 2013) legte auf katholischer Seite den Fokus dabei auf die ärztliche Tugendlehre. Tom L. Beauchamps Werk „Principles of Biomedical Ethics“ (gemeinsam mit James F. Childress)²⁰⁵, das auch in Deutschland zu einem Standardwerk der Medizinethik geworden ist, wurzelt dagegen in der Prinzipienethik rabbinischer Kasuistik, allerdings ohne dass sein Werk einen expliziten Hinweis auf den jüdischen Hintergrund seiner Arbeit enthält. ²⁰⁶ Barry M. Kinzbrunner²⁰⁷ hat in einem Aufsatz im Einzelnen aufgezeigt, wie die vier von Beauchamps und Childress herausgearbeiteten Grundkategorien ethischen Entscheidens (auch) im jüdischen Denken verwurzelt sind (Abb. 7). Kinzbrunner stellt die verschiedenen Themenkreise dar, in denen beim Lebensende medizinethische Entscheidungen zu treffen sind, und berücksichtigt dabei die wesentlichen Entscheidungen gemäß der jüdischen Quellen und die (im Punkt ethische Entscheidungen am Lebensende zwischen liberal und orthodox weitgehend übereinstimmenden) Positionen: – „suicide, assisted suicide and euthanasia“ (vom jüdischen Gesetz vollständig verboten)²⁰⁸, „refusal of medical treatment“ (das jüdische Gesetz schreibt vor, ärztliche Anweisungen zu befolgen; am Lebensende können bestimmte Maßnahmen unterlassen werden,wenn sie wenig erfolgversprechend oder mit Leiden verbunden sind)²⁰⁹, – „withdrawal and withholding of treatment“ (Entzug ist vom jüdischen Gesetz verboten, Nichteinleitung medizinischer Massnahmen unter bestimmten Bedingungen möglich)²¹⁰, – „truth-telling and informed consent“ (Patienten haben das Recht, nicht zu fragen, und somit auch nicht über den Stand der Krankheit informiert zu werden)²¹¹, – „pain and suffering“ (Schmerz muss mit allen medizinisch möglichen Mitteln bekämpft werden, zur Vermeidung unerträglicher physischer und psychischer
Vgl. Ruth Faden: Wrestling With Bioethical Issues. http://www.jwi.org/page.aspx? pid= 474#sthash.zLhtyHZ7.dpbs (abgerufen am 15. 2. 2014). Faden/Beauchamps 1986. Beauchamps/Childress 2013. Vgl. Wiesing/Ach 2012, S. 30 ff. Kinzbrunner 2004. Ebd., S. 565. Ebd., S. 565 f. Ebd., S. 566. Ebd., S. 566 f.
2.3 Konzepte der jüdischen Theologie und Ethik
51
Value
Secular Medical Ethics
Jewish Medical Ethics
Autonomy
The patient’s right to choose among available alternatives.
Autonomy is voluntary limited to being consistent with Jewish law.
Autonomy in health care today is determinative and the dominant ethical value.
Traditional Jews will look to their rabbi to ensure that their decision-making is consistent with Jewish law.
Physicians provide care that is of
Physicians are obligated to heal and
treatment. Physicians avoid providing care that is harmful. This principle is considered secondary treatments may also cause harm. Justice
Physicians avoid providing care that is harmful. to care properly for their bodies and avoid exposing themselves to bodily harm.
Providing care that is good for the society as a whole, as opposed Fair allocation of limited health care resources.
served basis.
worth. Limiting of health care based on available resources is permissible.
Abbildung 7: Grundkategrien ethischen Entscheidens Quelle: Kinzbrunner 2004, S. 560.
– –
–
Schmerzen darf auch auf bestimmte medizinische Massnahmen verzichtet werden)²¹², „cardiopulmonary resuscitation“ (bei jüdischen Patienten im Sterbeprozess verboten)²¹³ „artificial nutrition and hydration“ (vom jüdischen Gesetz ist die Sicherstellung von Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr geboten, solange es Patienten nicht Schmerzen verursacht oder schadet)²¹⁴ „antibiotics“ (Gabe nicht erforderlich, wenn keine Heilungschance vorhanden)²¹⁵
Ebd., S. 567. Ebd., S. 567 f. Ebd., S. 568 f. Ebd., S. 569.
52
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2 Theorie und Grundlagenteil
„chemotherapy, radiation therapy, and surgery“ (nicht erlaubt, wenn sie nur den Sterbeprozess verlängern)²¹⁶ „discontinuation of ventilators“ (Abschaltung nicht erlaubt, Zeitschaltuhr als zu diskutierende Lösung: so wird erneute Entscheidung über Einschalten möglich)²¹⁷ „advance directives“ (möglich, soweit sie nicht gegen das jüdische Gesetz verstoßen, entweder als direkte Verfügung über bestimmte Maßnahmen oder als Bevollmächtigung einer anderen Person)²¹⁸
Die in Klammern hinzugefügten Erläuterungen zeigen jeweils die vorgegebene Leitlinie aufgrund des jüdischen Gesetzes. Dabei ist aber, wie Kinzbrunner betont, stets zu beachten: „[…] decisions should be made by the patient and/or family in consultation with the patient’s physician and a competent rabbi who understands Jewish law in this area.“²¹⁹ Einen Überblick über weitere aktuelle jüdische Positionen zur Medizinethik vor allem aus Kanada gibt Norman Ravvin.²²⁰ Er gibt zunächst eine Übersicht über die biblischen und talmudischen Quellen, die für rabbinerliche Entscheidungen hinzugezogen werden²²¹ und beschreibt die aktuelle Situation in Kanada²²². Medizinethische Entscheidungen beruhen zumeist auf dem case-law-Prinzip, d. h. Rabbiner werden zu einem bestimmten ethischen Problem der Praxis befragt, ihre Antworten als responsa (Rechtsurteil eines Rabbiners in einer bestimmten Lebensfrage) gesammelt und als Grundlage für künftige Entscheidungsfindungen herangezogen.²²³ Problematisch ist allerdings, dass die meisten Juden die rabbinerlichen Entscheidungen nicht einmal ihrer eigenen Denomination (liberal, konservativ oder orthodox) kennen.²²⁴
Ebd., S. 569 f. Ebd., S. 570 f. Ebd., S. 571. Ebd., S. 570. Ravvin 2012. Ebd., S. 104 ff. Ebd., S. 112 ff. Vgl. dazu auch Rosner 1997. Ebd., S. 100. Ebd., S. 101.
2.4 Zusammenfassung
53
2.4 Zusammenfassung Bei der Erforschung der Begleitung Schwerkranker und Sterbender in Bayerischen Jüdischen Gemeinden sind zwei Dimensionen der theoretischen Reflexion zu berücksichtigen: zum einen die empirische und sozialwissenschaftliche Beschreibung und Deutung der Situation in den Gemeinden, zum anderen die theologische Interpretation und Regelsetzung durch die jüdische Tradition auf diesem Gebiet. Beide Größen stehen in vielfältiger Hinsicht in Wechselwirkung zueinander: insbesondere ist die Wirklichkeit der Praxis in den jüdischen Gemeinden durch die theologische Tradition des Judentums geformt, und umgekehrt wird die Wirklichkeit in den Gemeinden ihrerseits langfristig die theologische Deutung durch neue Fragestellungen herausfordern und formen. Insofern ist eine Umbruchsituation, wie sie sich zurzeit in den jüdischen Gemeinden in Deutschland insgesamt und auch in Bayern findet, von besonderem Forschungsinteresse. Die soziale Wirklichkeit in den Gemeinden wird bereits in den genannten empirischen Studien mit der Vielzahl der anstehenden Problemen beschrieben (vgl. Abschnitt 2.2.2 und 2.2.3), während die einführenden Darstellungen in die Begleitung Sterbender und Schwerkranker auf jüdischer Seite – und das betrifft sowohl die des orthodoxen Rabbiners Soussan wie auch des liberalen Rabbiners Kučera – ohne Bezug zur konkreten Gemeindewirklichkeit idealtypisch das beschreiben, was die Autoren hinsichtlich des jüdischen Gesetzes jeweils für wünschenswert erachten. Einführungen nichtjüdischer Autoren stellen zumeist einzelne, oft klischeehaft anmutende Aspekte aus der jüdischen Tradition zum Thema zusammen – und übergehen die konkrete Wirklichkeit der heutigen Gemeinden nahezu vollständig (vgl. Abschnitt 2.2.4). Von daher lohnt sich ein Blick auf jüdische theoretische Ansätze, die außerhalb des deutschen Sprachraums entstanden sind und die über die spezielle Situation der hiesigen Gemeinden hinausweisen. Dazu gehört zum ersten die theologische Reflexion einer spezifisch jüdisch geprägten Spiritualität des Handelns, wie sie die Rabbiner Larry Kushner und Micah Greenstein unternommen haben (vgl. Abschnitt 2.3.1). Zum zweiten gehört dazu die Idee einer jüdischen Spiritual Care, die sich in den USA und in Israel nicht nur theoretisch, sondern auch organisatorisch zu formen beginnt (vgl. Abschnitt 2.3.2). Und zum dritten kann die Debatte auf dem Gebiet der jüdischen Medizinethik neue Impulse liefern, welche die Lehren der jüdischen Tradition mit den Erfordernissen und Fragestellungen der Gegenwart in Beziehung zu setzen versucht (vgl. Abschnitt 2.3.3). Diese theoretischen Modelle und Implikationen stehen im Hintergrund auch der vorliegenden Studie. Bei aller notwendigen Beschränkung auf die lokale bayerische Wirklichkeit der Betreuung jüdischer Sterbender und Schwerkranker ist der Hintergrund der jahrhundertealten jüdischen Tradition und theoretischen
54
2 Theorie und Grundlagenteil
Reflexion mitzubedenken: dieser Hintergrund steht am Anfang als Ausgangspunkt für die Untersuchung, er bildet den Ordnungs- und Verstehensrahmen während der Arbeit und er ist die Messlatte für die Einordnung der gefundenen Ergebnisse.²²⁵
Im Sinne der Konstruktvalidität (vgl. S. 57) stellt die Einordnung in diesen Rahmen zudem ein Gütekriterium qualitativer Forschung dar.
3 Design und methodische Konzeption der Untersuchung Im Sinne der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit des Vorgehens in der vorliegenden Studie sollen hier – in Anlehnung an den COREQ-Ansatz (consolidated criteria for reporting qualitative research)¹ – folgende Bereiche dargestellt werden: 1. Angaben zum Forscher, 2. Das Studiendesign, 3. Das Auswertungsverfahren und die Qualität der Ergebnisse.
3.1 Angaben zum Forscher Die Interviews wurden sämtlich vom Verfasser der vorliegenden Studie geführt, der evangelische Theologie studiert hat (Abschluss als Mag. theol.) und als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Spiritual Care an der Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München-Großhadern tätig ist. Für die Interviews bereitete er sich durch regelmäßige Teilnahme an peer-groupBesprechungen (Werkstatt für qualitative Forschung) vor. Den Interviewpartnern stellte er sich sowohl in seiner Eigenschaft als Forscher wie auch als Mitglied der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Schalom in München vor. Er erklärte ihnen, mithilfe der Untersuchung die Strukturen der Betreuung Schwerkranker und Sterbender in bayerischen jüdischen Gemeinden erforschen und durch diese Studie dazu beitragen zu wollen, den jüdischen Beitrag auf diesem Gebiet zu würdigen. Anfängliche Erwartung für die Forschungsarbeit war es, vor allem etwas über Rituale und über den theologischen Kontext der Betreuung Schwerkranker und Sterbender zu erfahren. Nach den ersten Probeinterviews verschob sich der Fokus des Forschungsinteresses auf die sozialen Strukturen in den Gemeinden und darauf, wie die Gemeindemitarbeiter mit der aktuellen Situation in der Betreuung schwerkranker und sterbender Gemeindemitglieder umgehen.
3.2 Das Studiendesign In diesem Abschnitt wird die methodische Orientierung der vorliegenden Studie erläutert (3.2.1), die Auswahl der Interviewpartner und das Sampling beschrieben
Tong/Sainsbury/Craig 2007 DOI 10.1515/9783110545333-003
56
3 Design und methodische Konzeption der Untersuchung
(3.2.2), die Notwendigkeit einer strengen Anonymisierung der Teilnehmer begründet (3.2.3), das Vorgehen bei der Datenerhebung (3.2.4) und bei der Transkribierung der Interviews (3.2.5) erläutert.
3.2.1 Methodische Orientierung Wie oben (S. 10 ff) gezeigt werden konnte, steht die Erforschung der Betreuung Schwerkranker und Sterbender in den bayerischen jüdischen Gemeinden noch in ihren Anfängen. Es geht in der vorliegenden Arbeit darum, mittels einer explorativ-deskriptiven Studie das noch weitgehend unbekannte Forschungsfeld zu erschließen und zu beschreiben.² Das Ziel der Untersuchung ist daher nicht, wie im Rahmen der quantitativen Methodik, Daten zu gewinnen, mit denen sich vorher festgelegte Forschungshypothesen überprüfen lassen. Bevor in möglichen Folgestudien mit quantitativen Methoden die Häufigkeit des einen oder anderen Phänomens gemessen werden kann, gilt es in der vorliegenden Arbeit, eine möglichst offene und umfassende Sicht auf den Forschungsgegenstand zu gewinnen.³ Dazu ist ein qualitativer Ansatz im Sinne einer „Momentaufnahme“⁴ mit einer möglichst weiten Fragestellung gut geeignet, weil so auch neue Themen, die von der Seite des Forschers ursprünglich nicht angedacht waren und im Gespräch mit den Interviewpartnern begegnen, in die Untersuchung mit aufgenommen werden können. Am Beginn der Untersuchung stand daher die sehr offen formulierte Forschungsfrage: Welche Einstellungen und Erfahrungen finden sich bei Mitarbeitern in bayrischen jüdischen Gemeinden, wenn sie in einem Interview über die Betreuung Kranker und Sterbender in ihrer Gemeinde sprechen? Das eigene Vorverständnis wird auf diese Weise so weit wie möglich zurückgestellt. Nicht der Befrager, sondern die Interviewpartner selbst werden als die Experten angesehen, welche die Inhalte der Untersuchung prägen. Wichtig für die Wahl des Auswertungsverfahrens sind die Gütekriterien der Objektivität, der Reliabilität und der Validität.⁵ Objektivität ist dabei nach P. Mayring zu verstehen als „die Unabhängigkeit der Ergebnisse von der unter-
Im Bereich von Palliativ Care wird ein solcher Zugang zu neuen Bereichen häufiger gewählt, so zum Beispiel bereits in den grundlegenden Arbeiten von Glaser/Strauss 1965 oder Kübler Ross 1987. Vgl. zur Zweckmäßigkeit eines qualitativen Forschungsansatzes Flick/Kardorff/Steinke 2008, S. 17. Ebd., S. 255. Mayring 2010 S. 51.
3.2 Das Studiendesign
57
suchenden Person“⁶, welche im Fall der vorliegenden Untersuchung dadurch gewährleistet wurde, dass zwei Forscher unabhängig voneinander das Kategoriensystem erarbeitet haben. Mit diesem Verfahren wurde gleichzeitig die Reliabilität (Zuverlässigkeit) der Untersuchungsergebnisse geprüft, da beide Forscher ihre Analysen auf Übereinstimmung überprüft haben (Intercoderreliabilität).⁷ Die Validität (Gültigkeit der Ergebnisse) wird dadurch bestätigt, dass die Ergebnisse der vorliegenden Studie „in den Strom der Erkenntnis, Stand der Forschung, Theoriehintergrund eingeordnet“⁸ werden (Konstruktvalidität) und mit den Untersuchungsergebnissen anderer Studien verglichen werden, „die in engem Zusammenhang mit der eigenen Fragestellung und dem Untersuchungsgegenstand stehen und von deren Gültigkeit man überzeugt ist“⁹ (Außenkriterium). Für die Auswertung bietet sich im Fall der vorliegenden Untersuchung die Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring an. Er unterscheidet drei Formen der Analyse: Zusammenfassung (wenn es darum geht, Material zu reduzieren), Explikation (wenn es um die Ergänzung fraglicher Textteile durch zusätzliches Material geht) und die Strukturierung.¹⁰ Das Analyseziel der vorliegenden Studie ist die Strukturierung des Materials. Mayring definiert die Strukturierung wie folgt: „Strukturierung: Ziel der Analyse ist es, bestimmte Aspekte aus dem Material herauszufiltern, unter vorher festgelegten Ordnungskriterien einen Querschnitt durch das Material zu legen oder das Material aufgrund bestimmter Kriterien einzuschätzen.“¹¹
Innerhalb der Analyseform der Strukturierung unterscheidet Mayring die formale Strukturierung, die auf das Herausfiltern einer inneren Struktur abzielt, die inhaltliche Strukturierung, die Material zu bestimmten Inhaltsbereichen extrahiert und zusammenfasst, die typisierende Strukturierung (zur Typenbildung nach einzelnen markanten Ausprägungen) und die skalierende Strukturierung (nach Dimensionen in Skalenform).¹² Im Fall der vorliegenden Untersuchung geht es um die inhaltliche Strukturierung des Materials, die Mayring so definiert:
Ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 117. Ebd., S. 117. Ebd., S. 117. Ebd. S. 66. Ebd. S. 65. Ebd., S. 66.
58
3 Design und methodische Konzeption der Untersuchung
„Ziel inhaltlicher Strukturierungen ist es, bestimmte Themen, Inhalte, Aspekte aus dem Material herauszufiltern und zusammenzufassen.Welche Inhalte aus dem Material extrahiert werden sollen, wird durch theoriegeleitet entwickelte Kategorien und (sofern notwendig) Unterkategorien bezeichnet. Nach der Bearbeitung des Textes mittels des Kategoriensystems […] wird das in Form von Paraphrasen extrahierte Material zunächst pro Unterkategorie, dann pro Hauptkategorie zusammengefasst.“¹³
3.2.2 Auswahl der Interviewpartner und Beschreibung des Sampling Insgesamt gibt es in Bayern 13 jüdische Gemeinden, die Mitglied im Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern sind (Übersicht bei www.ikgbayern.de), und die Liberale Jüdische Gemeinde Beth Shalom in München, die als eingetragener Verein organisiert ist, sowie zwei Chabad-Zentren in München und in Nürnberg. Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um den Versuch einer Vollerhebung für die jüdischen Gemeinden in Bayern. Mit sämtlichen genannten Einrichtungen (n = 16) wurde Kontakt aufgenommen mit der Bitte, Interviewtermine mit den in der Betreuung Schwerkranker und Sterbender tätigen hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeitern zu vermitteln. Dazu wurden folgende Ein- und Ausschlusskriterien festgelegt: Einschlusskriterien 1. Interviewpartner sind 18 Jahre oder älter 2. Interviewpartner sind persönlich tätig (ehrenamtlich oder hauptamtlich) im Bereich Betreuung Schwerkranker und Sterbender 3. Interviewpartner sind Mitglied in einer bayrischen jüdischen Gemeinde 4. Interviewpartner sprechen und verstehen Deutsch Ausschlusskriterien 1. Interviewpartner, welche das Interview durch ihre emotionale oder physische Situation nach Beurteilung durch den Rabbiner oder den zuständigen Arzt als zu belastend empfinden würden 2. Interviewpartner, deren kognitive Funktionen nach Beurteilung durch den Rabbiner oder den zuständigen Arzt nicht zu einer eigenständigen Entscheidung über die Teilnahme an der Studie befähigen
Aufgrund dieser Kriterien konnten in zwei kleineren Gemeinden keine Interviews geführt werden, da es nach Auskunft der Gemeindeleitung dort keine Mitarbeiter gibt, die in der Betreuung Schwerkranker und Sterbender tätig sind und die gleichzeitig die deutsche Sprache verstehen. Ebd., S. 98.
3.2 Das Studiendesign
59
Zwei andere Gemeinden reagierten auch auf wiederholte Nachfrage überhaupt nicht. In diesen beiden Fällen ist nach der Vermutung des Verfassers die sehr orthodoxe Ausrichtung der Gemeinden der Grund für die Nichtbeteiligung an der Studie. Von den angefragten 16 Einrichtungen haben somit 12 Einrichtungen Interviewpartner für die Beteiligung an der vorliegenden Studie benannt. Insgesamt wurden aufgrund der durch die genannten Einrichtungen vermittelten Kontakte 20 Interviews geführt (n = 20). Zu ihrer Durchführung vereinbarte der Verfasser jeweils persönliche Interviewtermine in den entsprechenden Gemeindehäusern. Zwei Interviews mit in den Gemeinden tätigen Ärzten fanden außerhalb der Gemeinden in einer Krankenhauscafeteria bzw. im Behandlungszimmer einer Praxis statt. Bei den Interviews sprach der Verfasser jeweils mit den Interviewpartnern ohne Anwesenheit dritter Personen. Ausnahme sind zwei Interviews, die in der gleichen Gemeinde hintereinander stattfanden; hier war jeweils auch der andere Gesprächspartner anwesend. Außerdem schickte ein weiterer Interviewpartner eine schriftliche Stellungnahme zum Fragenkatalog per Mail, die ebenfalls in die Auswertung eingeschlossen werden konnte (n = 21). Von den Interview-Partnern waren zwölf männlich, neun weiblich. Es wurden acht Rabbiner unterschiedlicher theologischer Ausrichtung (liberal, konservativ, orthodox und ultra-orthodox) befragt, außerdem drei Gemeindevorsitzende, ein für das Sozialwesen zuständiges Vorstandsmitglied, sowie sechs hauptamtliche und drei nebenamtliche Gemeindemitarbeiter. Fünf dieser Gesprächspartner waren Ärzte, weitere vier besaßen eine fachliche Ausbildung auf dem Gebiet des Gesundheitswesens. Von den Interview-Partnern sprachen zehn Personen Deutsch als Muttersprache, sechs Personen Russisch und fünf Personen weitere Sprachen, überwiegend aus dem osteuropäischem Raum. Interviews wurden in allen bayerischen Regierungsbezirken geführt: Oberbayern (5), Niederbayern (1), Oberpfalz (4), Oberfranken (5), Mittelfranken (1), Unterfranken (3), Schwaben (2).
3.2.3 Anonymität der Teilnehmer Ein erster Versuch (März 2011), in den Gemeinden Kontaktpersonen für die vorliegende Untersuchung zu gewinnen, war die Erstellung eines Fragebogens, der an die Gemeindesekretariate versendet werden sollte. Er war verbunden mit der Bitte, Kontaktdaten der jeweiligen Gemeindevorsitzenden und sonstigen haupt- und ehrenamtlichen Verantwortlichen für Krankenbetreuung mitzuteilen.
60
3 Design und methodische Konzeption der Untersuchung
Der Bogen wurde vorab einem dem Verfasser bekannten Gemeindemitarbeiter zum Gegenlesen vorgelegt, der diesen Fragebogen für ungeeignet hielt: Aus Sicherheitsgründen würde weder er selbst und auch kaum irgendein anderer Kollege hochsensible Personendaten jüdischer Gemeindemitglieder Außenstehenden zur Verfügung stellen. Der erzielte Effekt des Fragebogens würde also dem Forschungsanliegen zuwider laufen. Deshalb ergab sich die Notwendigkeit einer anderen Herangehensweise. Statt vorbereitete Fragebögen per Brief zu versenden, bestand die Aufgabe nun darin, durch persönliche Kontakte geeignete Gesprächspartner für Interviews in den Gemeinden zu gewinnen. Die Mitgliedschaft des Verfassers in einer jüdischen Gemeinde und seine hier gewonnenen Beziehungen erwiesen sich dabei als hilfreich. Die Notwendigkeit einer strenger Anonymisierung ergab sich aus einer doppelten Zielsetzung heraus: zum einen, um die Gewinnung von Interviewpartnern zu erleichtern, zum anderen um innerhalb der geringen Anzahl der bayerischen jüdischen Gemeinden den Rückschluss auf einzelne Personen unmöglich zu machen. Den Interviewpartnern wurde daher vor Beginn der Interviews in Rücksprache mit der Ethikkommission der medizinischen Fakultät der LMU München eine Erklärung zum Datenschutz vorgelegt, in der für die Auswertung und Veröffentlichung der Interviewtexte eine vollständige Anonymisierung zugesichert wurde.¹⁴ Wie mit der Ethik-Kommission der LMU München festgelegt wurde, kann daher in dieser Studie keine genaue Auflistung der Gemeinden und der jeweiligen Position der Interview-Partner veröffentlicht werden.
3.2.4 Die Datenerhebung Am Anfang der Untersuchung stand die allgemeine Forschungsfrage: Welche Einstellungen und Erfahrungen finden sich bei Mitarbeitern in bayerischen jüdischen Gemeinden, wenn sie in einem Interview über die Betreuung Kranker und Sterbender in ihrer Gemeinde sprechen? Durch die Beschäftigung mit der aktuellen wissenschaftlichen Literatur (vgl. Abschnitt 2.2) kam es zu einer „theoriegeleiteten Differenzierung der Fragestellung“¹⁵. Die allgemeine Forschungsfrage konnte
Zum Prinzip der informierten Einwilligung („informed consent“) beim qualitativen Interview vgl. Hopf 2008, S. 591 ff. Mayring 2010, S. 57.
3.2 Das Studiendesign
61
aufgrund der Beschäftigung mit den bereits vorliegenden Studien durch die folgenden Ergänzungsfragen vertieft werden: 1. Welche Angebote gibt es für die Kranken und Sterbenden (ggf. gemeinsam mit Kooperationspartnern)?- Hier steht im Hintergrund die Erkenntnis, dass es für die bayrischen Gemeinden außer für die IKG München und die IKG Augsburg (vgl. S. 15 ff) bislang noch keine veröffentlichten Angaben zur Krankenbetreuung gibt und hier ein wichtiges Forschungsinteresse vorliegt. 2. Wie schätzen sie die Bedürfnisse kranker jüdischer Gemeindemitglieder ein?- Im Abschnitt 2.2.4 „Begleitung jüdischer Schwerkranker und Sterbender in einführenden Darstellungen für Nichtjuden“ konnte aufgezeigt werden, dass in der bisherigen Forschung die Bedürfnisse der Patienten mit Ausnahme der Arbeiten von A. Zielke-Nadkarni nicht thematisiert werden. Die Frage nach den Bedürfnissen ist daher ein wichtiges Forschungsdesiderat. 3. Welche Probleme begegnen ihnen dabei und wie gehen sie damit um?- Zu diesem Themenkomplex gibt es bisher nur die Studie von Chtcherbatova/Gus 2006 (vgl. oben, S. 12 ff) für die jüdischen Gemeinden in Köln und Düsseldorf. Auch hier gibt es ein spezielles Forschungsinteresse für Bayern.
Zur Vorbereitung auf die Interviews wurde im nächsten Schritt ein Leitfaden entwickelt¹⁶ und in einer peer-group (Werkstatt für qualitative Forschung), bestehend aus verschiedenen in der qualitativen Forschung tätigen Münchner Wissenschaftlern, diskutiert. Mithilfe dieses Leitfadens wurden zwei Probeinterviews geführt, einmal mit einem Rabbiner, zum anderen mit der Leiterin eines gemeindlichen Besuchsdienstes. Die ursprünglichen drei Leitfragen konnten aufgrund dieser Erfahrungen auf zwei reduziert werden, da sich die dritte Frage als verwirrend für die Interviewpartner und wenig ergiebig für die Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand herausstellte: – Wie funktioniert in Ihrer Institution die Betreuung Schwerkranker und Sterbender? – Welche Erfahrungen haben Sie persönlich bei der Betreuung Schwerkranker und Sterbender gemacht? – [Was bedeutet es für Sie persönlich, jüdisch zu sein?]
Die Frage nach der persönlichen Jüdischkeit hatte in einem der Probeinterviews dazu geführt, dass sich der Gesprächspartner entschuldigte, nicht jüdisch religiös zu sein – was bereits normative Setzungen ausgelöst hatte und somit für Interviewer wie Interviewpartner eine unnötige Peinlichkeit bedeutete. Auf der Grundlage der Überlegungen von Helfferich 2009, S. 158 ff: Der Weg zu einem Leitfaden.
62
3 Design und methodische Konzeption der Untersuchung
Der Interviewleitfaden wurde nochmals überarbeitet und wiederum in der Werkstatt für qualitative Forschung gemeinsam mit Prof. Dr. Philipp Mayring am 23. September 2011 auf die methodischen Gesichtspunkte im Plenum vorgestellt und diskutiert. Als Ergebnis entstand nun folgende endgültige Fassung des Interviewleitfadens: Kernfragen
Wichtige Aspekte
Mögliche Aufrechterhaltungsfragen
Wie funktioniert in Ihrer Institution die Betreuung Schwerkranker und Sterbender?
.) Wie häufig haben Sie es in Ihrer Gemeinde mit Fällen von Schwerkranken/Sterbenden zu tun?
Wie sieht das genau aus?
.) Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den Partnerorganisationen(Sozialstation, Altersheim, Klinik etc …)?
Können Sie mir davon noch mehr erzählen? Fällt Ihnen dazu noch mehr ein?
Können Sie mir dazu ein .) Wie erhalten Sie die Informa- Beispiel nennen? tion, dass ein jüdischer Patient schwerkrank ist bzw. im Sterben liegt? .) Welche Betreuungsangebote gibt es innerhalb Ihrer Gemeinde? .) Wie sind Sie selbst und Ihre Kollegen ausgebildet? Welche Fortbildungsangebote gibt es? .) Welche speziellen Interessen hat Ihre Institution als eine jüdische Einrichtung auf diesem Gebiet? .) Gibt es Betreuungsangebote auch für Angehörige über den Tod des Patienten hinaus?
3.2 Das Studiendesign
Welche Erfahrungen haben Sie persönlich bei der Betreuung Schwerkranker und Sterbender gemacht?
63
.) Wie sieht Ihre eigene Tätigkeit auf dem Gebiet Betreuung Schwerkranker und Sterbender aus? .) Welche speziellen Bedürfnisse haben jüdische Patienten? Wo sehen Sie Kriterien für eine gute Betreuung der Schwerkranken und Sterbenden? .) Gibt es spirituelle Angebote, welche Sie den Patienten machen (gemeinsames Gebet etc.)? .) Haben Sie Erfahrungen mit antisemitischen Vorurteilen und Anfeindungen gemacht? .) Welche Rolle spielen Holocaust-Traumatisierungen bei jüdischen Schwerkranken und Sterbenden?
Gibt es einen Aspekt, den ich noch nicht erwähnt habe und den Sie gerne noch ansprechen möchten?
Der semistrukturierte Leitfaden dient zum einen dazu, Daten für die Behandlung der beiden Kernfragen nach der Funktionsweise der Betreuung der Schwerkranken und Sterbenden zu erheben und gleichzeitig einen möglichst freien und breiten Erzählfluss der Interviewpartner zuzulassen, der auch für neue, im Interviewleitfaden nicht vorgesehene Aspekte Raum lässt. Die Interviews wurden mit Zustimmung der Interview-Teilnehmer jeweils als wmv.-Dateien aufgenommen. Pro Interview-Partner gab es jeweils einen einzigen Interview-Termin. Durchschnittlich dauerten die Interviews jeweils 58 min (Range von 26 min bis 119 min). Die Interview-Partner hatten die Möglichkeit, einzelne Aussagen auch „offrecord“ zu machen und zwischenzeitlich das Aufnahmegerät ausschalten zu lassen. Vereinzelt haben die Gesprächspartner von diesem Angebot auch Gebrauch gemacht. Solche Aussagen wurden vom Interviewer in einem Gedächtnisprotokoll als „fieldnotes“ festgehalten. Ebenfalls gab es die Möglichkeit für die Interview-Partner, die Interview-Transkripte nochmals gegenzulesen und zu korrigieren. Von dieser Möglichkeit machte nur ein Interview-Partner Gebrauch.
64
3 Design und methodische Konzeption der Untersuchung
3.2.5 Die Transkribierung der Interviews Für die Transkription wurden folgende Regeln zugrunde gelegt: 1. Die Transkription soll jeweils möglichst wörtlich erfolgen, also wörtliche Wiedergabe auch offensichtlicher Fehler ohne Annäherung an die Schriftsprache und unter Beibehaltung von Dialekt und grammatischen Fehlern der Nicht-Muttersprachler. 2. Die Transkription soll auch Pausen (ggf. mit Angabe zur Länge in Sekunden) und sprachliche Besonderheiten vermerken wie z. B. Wortwiederholungen, Ähs und Mhms. 3. Unverständliche Wörter oder Passagen werden als solche gekennzeichnet. 4. Namen von Personen und geografische Angaben, die Rückschlüsse auf die InterviewPartner zulassen, werden nicht transkribiert. Stattdessen wird vermerkt Herr/Frau X oder Y, X‐Stadt oder Y-Stadt etc. 5. Nach der Transkription erfolgt das Korrekturlesen anhand der Originalaufzeichnung.
Durch die so gefassten Transkriptionsregeln soll sichergestellt sein, dass die Auswertung möglichst nahe am originalen Interviewwortlaut erfolgt. Die so erstellten Transkripte umfassen insgesamt mehr als 200 DinA4-Seiten. Wegen der teilweise sehr individuellen sprachlichen Eigenheiten im Sprachduktus der Interviewpartner (Dialekt, typische sprachliche Fehler von Nicht-Muttersprachlern) werden die Originaltranskripte gemäß den Vorgaben für die Anonymisierung in der vorliegenden Studie nicht direkt zitiert, sondern jedes Zitat wurde nach Abschluss der Erstellung des Kategoriensystems und der Auswertung für die Verwendung im veröffentlichten Text sprachlich geglättet und von individuellen sprachlichen Auffälligkeiten bereinigt, um so die Möglichkeit eines Rückschlusses auf einzelne Interviewpartner zu verhindern. Aus dem gleichen Grunde wurde bei allen Interviewpartnern einheitlich die männliche Form verwendet: ein Gemeindevorsitzender kann also auch eine Gemeindevorsitzende bedeuten, ein Arzt auch eine Ärztin usw. Ebenso wurde auf die Angabe von Interviewnummer und Absatznummer verzichtet, um nachträgliches Wiederverbinden der Interviewausschnitte zu längeren Texten unmöglich zu machen, aus denen sich dann möglicherweise Rückschlüsse auf die jeweilige Gemeinde und den Interviewpartner ziehen lassen würden. Stattdessen werden alle Interviewzitate in der vorliegenden Arbeit durchlaufend nummeriert.
3.3 Das Auswertungsverfahren und die Qualität der Ergebnisse Die Auswertung der durch die Experteninterviews entstandenen Texte erfolgte durch inhaltliche Strukturierung nach den Vorgaben der Qualitativen Inhalts-
3.3 Das Auswertungsverfahren und die Qualität der Ergebnisse
65
analyse nach Philipp Mayring¹⁷. Mayring hat dazu folgendes Ablaufmodell (Abb. 8) entwickelt: Zu Schritt 1 (Bestimmung der Analyseeinheiten) Unter der Bestimmung der Analyseeinheiten versteht Mayring die „Festlegung, was als minimaler Textbestandteil unter eine Kategorie fallen kann (Kodiereinheit), was als maximaler Textbestandteil unter eine Kategorie fallen kann (Kontexteinheit) und welche Textbestandteile jeweils nacheinander kodiert werden (Auswertungseinheit)“¹⁸. Im Fall der vorliegenden Studie werden als Kodiereinheiten die einzelnen Propositionen (Bedeutungseinheiten) in der Textbasis betrachtet¹⁹. Kontexteinheit ist jeweils die vollständige Antwort eines Interviewpartners auf eine Interviewfrage und die Auswertungseinheit jeweils ein vollständiges Interview. Zu Schritt 2 (Festlegung der Strukturierungsdimensionen) Die Festlegung von Strukturierungsdimensionen erfolgte in einem Prozess „theoriegeleiteter Differenzierung der Fragestellung“²⁰, wie er sich im Zusammenhang mit der Entwicklung des Interview-Leitfadens oben S. 61 ff dargestellt findet. Danach ergeben sich als vier Strukturierungsdimensionen die Angebote der Gemeinden, die Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder, die angesprochenen Problemfelder und der Umgang mit Problemen. Durch diese vier Strukturierungsdimensionen ist gleichzeitig das System der Hauptkategorien deduktiv vorgegeben: HK1 Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder HK2 Angebote der Gemeinden HK3 Problemfelder HK4 Umgang mit Problemen Zu Schritt 3 (Bestimmung der Ausprägungen) Anders als im vorstehenden Schema von Mayring wurden die Ausprägungen nicht deduktiv theoriegeleitet festgelegt, sondern nach der Technik der Zusammenfassung²¹ induktiv festgestellt. Zu einer solchen Abänderung der inhalts-
Mayring 2010. Mayring 2010, S. 15. Ebd., S. 43. Mayring 2010, S. 57. Ebd., S. 67.
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3 Design und methodische Konzeption der Untersuchung
1. Schritt Bestimmung der Analyseeinheiten
2. Schritt Festlegung der Strukturierungsdimensionen (thoriegeleitet)
3. Schritt Bestimmung der Ausprägungen (theoriegeleitet) Zusammenstellung des Kategoriesystems
4. Schritt 7. Schritt Überarbeitung, gegebenenfalls Revision von Kategoriensystem
Ankerbeispielen und Kodierregeln zu den einzelnen Kategorien
5. Schritt Materialdurchlauf: Fundstellenbezeichnung
6. Schritt Materialdurchlauf: Bearbeitung und Extraktion der Fundstellen
8. Schritt Ergebnisaufbereitung
Abbildung 8: Ablaufmodell strukturierender Inhaltsanalyse (Mayring 2010, S. 93)
3.3 Das Auswertungsverfahren und die Qualität der Ergebnisse
67
analytischen Arbeitsweise rät Mayring immer dann, wenn es der Forschungsgegenstand erfordert.²² Zu Schritt 4 bis 7 Wie bereits zu Schritt 3 berichtet, wurde das Ablaufmodell in Bezug auf die Bestimmung der Ausprägungen abgeändert. Während die Strukturierungsdimensionen (und damit die Hauptkategorien) deduktiv theoriegeleitet durch die Differenzierung der Fragestellung festgelegt wurden, wurde die Feststellung der Ausprägungen (im vorliegenden Fall sind das die Subkategorien) induktiv nach der Technik der Zusammenfassung erarbeitet. Für diese Arbeit wurden die Schritte 2 bis 7 des Ablaufmodells zusammenfassender Inhaltsanalyse nach Mayring (Abb. 9) zugrunde gelegt. Für diese Zusammenfassung kommen die Z1- bis Z4-Regeln zum Tragen, wie sie Mayring zusammengestellt hat (Abb. 10). In einem ersten Schritt wurden die inhaltstragenden Textstellen paraphrasiert (Z1) und einer oder mehreren der vier Strukturierungsdimensionen zugeordnet. Zur Bildung eines Systems von Subkategorien für die vier Strukturierungsdimensionen (Generalisierung) wurde als Abstraktionsniveau der ersten Ebene festgelegt, dass nur paraphrasierte Äußerungen weiterverarbeitet werden, welche einen inhaltlichen Bezug zu einer oder mehreren der vier oben genannten Strukturierungsdimensionen haben (Z2). Sodann wurden bedeutungsgleiche Paraphrasen gestrichen (Z3) und durch Bündelung eine zweite Reduktion vorgenommen (Z4). Die so gewonnenen Aussagen konnten dann als System von Subkategorien zusammengestellt und am Ausgangsmaterial rücküberprüft werden. Somit ist das Subkategoriensystem aufgrund eines zirkulären Erkenntnisprozesses entstanden: aufgrund der Beschäftigung mit dem empirischen Datenmaterial ergaben sich Schlussfolgerungen, die ihrerseits wiederum neue Untersuchungsmöglichkeiten und Deutungen des Datenmaterials ermöglichten (vgl. als Beispiel unten die Erarbeitung des Subkategoriensystems bei den Angeboten der Gemeinden, S. 87 ff). Diese Vorgehensweise der Analyse wurde zunächst an drei Interviewtranskripten in einem Probedurchgang unabhängig voneinander durch zwei Forscher vorgenommen. Auf diese Weise entstanden jeweils individuell von beiden erstellte Auswertungsbögen gemäß den vier vorgegebenen Strukturierungsdimensionen. Bei mehreren Arbeitssitzungen zwischen September und November 2012 diskutierten die beiden Forscher ihre jeweiligen Inhaltsanalysen bzw. ihre Paraphrasen und Vorkategorien zu den Interviewtexten sowie die von ihnen jeweils
Ebd., S. 124.
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3 Design und methodische Konzeption der Untersuchung
1. Schritt Bestimmung der Analyseeinheiten
2. Schritt Paraphrasierung der inhaltstragenden Textstellen (Z1-Regeln)
3. Schritt Bestimmung des angestrebten Abstraktionsniveaus Generalisierung der Paraphrasen unter diesem Abstraktionsniveau (Z2-Regeln) Ein Schritt bei großen Mengen
4. Schritt erste Reduktion durch Selektion, Streichen bedeutungsgleicher Paraphrasen (Z3-Regeln)
5. Schritt zweite Reduktion durch Bündelung, Konstruktion, Integration von Paraphrasen auf dem angestrebten Abstraktionsniveau (Z4-Regeln)
6. Schritt Zusammenstellung der neuen Aussagen als Kategoriensystem
7. Schritt Rücküberprüfung des zusammenfassenden Kategoriensystems am Ausgangsmaterial
Abbildung 9: Ablaufmodell zusammenfassender Inhaltsanalyse (Mayring 2010, S. 68)
individuell erstellten ersten Auswertungsbögen. Durch den Abgleich der Beobachtungen konnte eine gemeinsame Version der Auswertungsbögen mit einem geeigneten Kategoriensystem erarbeitet werden.
3.3 Das Auswertungsverfahren und die Qualität der Ergebnisse
69
Z1: Paraphrasierung Z1.1: Streiche alle nicht (oder wenig) inhaltstragenden Textbestandteile wie ausschmückende, wiederholende, verdeutlichende Wendungen! Z1.2: Übersetze die inhaltstragenden Textstellen auf eine einheitliche Sprachebene! Z1.3: Transformiere sie auf eine grammatikalische Kurzform! Z2: Generalisierung auf das Abstraktionsniveau Z2.1: Generalisiere die Gegenstä sodass die alten Gegenstände in den neu formulierten impliziert sind! Z2.2: Generalisiere die Satzaussagen (Prädikate) auf die gleiche Weise! Z2.3: Belasse die Paraphrasen, die über dem angestrebten Abstraktionsniveau liegen! Z2.4: Nimm theoretische Vorannahmen bei Zweifelsfällen zu Hilfe! Z3: Erste Reduktion Z3.1: Streiche bedeutungsgleiche Paraphrasen innerhalb der Auswertungseinheiten! Z3.2: Streiche Paraphrasen, die auf dem neuen Abstraktionsniveau nicht als wesentlich inhaltstragend erachtet werden! Z3.3: Übernehme die Paraphrasen, die weiterhin als zentral inhaltstragend erachtet werden (Selektion)! Z3.4: Nimm theoretische Vorannahmen bei Zweifelsfällen zu Hilfe! Z4: Zweite Reduktion Z4.1: Fasse Paraphrasen mit gleichem (ähnlichem) Gegenstand und ähnlicher Aussage zu einer Paraphrase (Bündelung) zusammen! Z4.2: Fasse Paraphrasen mit gleichem (Aussagen zu einem Gegenstand zusammen (Konstruktion/Integration)! Z4.2: Fasse Paraphrasen mit gleichem (ähnlichem) Gegenstand und verschiedener Aussage zu einer Paraphrase zusammen (Konstruktion/Integration)! Z4.4: Nimm theoretische Vorannahmen bei Zweifelsfällen zu Hilfe!
Abbildung 10: Interpretationsregeln der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2010, S. 70)
Die Liste der so gewonnenen Kategorien findet sich im Auswertungsteil der vorliegenden Arbeit jeweils zu Beginn der Unterabschnitte, die sich den vier deduktiv vorgegebenen Strukturierungsdimensionen widmen (vgl. S. 75, 89 f, 124 und 158 f). Diese zunächst an den drei zuerst geführten Interviews erprobte Vorgehensweise wurde dann einer Gesamtauswertung aller Interviews zugrunde gelegt, die mithilfe der Software MAXDQA10 unternommen werden konnte. Auch hier wurden als Hauptkategorien für die Auswertung zugrunde gelegt: die Angebote der Gemeinden, die Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder, die angesprochenen Problemfelder und der Umgang mit Problemen. Insgesamt konnten so 860 einzelne Kodierungen für Propositionen in den Interviews vorgenommen werden. Diese Kodierungen wurden durch farbliche Markierung die Angebote der Gemeinden (blau), die Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder (rot), die angesprochenen Problemfelder(rosa) und der Umgang mit Problemen (hellblau) jeweils einer der vier Hauptkategorien zugeordnet. Dabei
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3 Design und methodische Konzeption der Untersuchung
ergaben sich folgende Anzahl an Zuordnungen: HK1 Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder (94), HK2 Angebote der Gemeinden (289), HK3 Problemfelder (275), HK4 Umgang mit Problemen (41). Für die Subkategorien wurde das gleiche deduktive Verfahren wie bei den ersten drei Interviews gewählt, wobei nur im Fall der Subkategorie „Theologische Erklärungsmodelle ultra-orthodoxer Rabbiner (vgl. S. 162 ff) eine vollkommen neue Kategorie hinzukam, die sich in den ersten drei Interviews nicht gefunden hatte. Bei einer Reihe von in den ersten Interviews bereits gefundenen Subkategorien konnte durch das zusätzliche Material eine weitere Differenzierung und Überarbeitung vorgenommen werden. So konnte die Subkategorie „Probleme der Betreuer“ weiter differenziert werden hinsichtlich der vier Unterbereiche „Zeitmangel“, „psychische Belastung“, sprachliche und interkulturelle Probleme“ und „geringes berufliches Selbstbewusstsein“. Die große Menge der gewonnenen Daten konnte mithilfe von MAXQDA10 übersichtlich dargestellt werden – die Navigationsfunktion von MAXQDA10 erlaubt es, gleichzeitig die einzelne kodierte Textstelle in ihrem Interviewkontext und inhaltlich ähnliche Textstellen im selben oder in anderen Interviews näher zu betrachten. Zudem ist es möglich, die codierten Textstellen in Excel-Tabellen zusammenzufassen und so thematisch an einem inhaltlichen Einzelaspekt interviewübergreifend weiterzuarbeiten. Gleichzeitig bietet MAXQDA10 ein Nummerierungssystem aller Interviewpassagen an, nach dem die Belegstellen in der vorliegenden Studie zunächst sortiert und bearbeitet wurden. Die erste Zahl in der Klammer vor dem Schrägstrich gibt die Dokumentennummer an, die zweite Zahl die Abschnittsnummer. Die Angabe (14/23) bedeutet also, dass sich der entsprechende Interviewausschnitt im 23. Abschnitt von Dokument 14 befindet. Diese Nummerierung wurde im vorliegenden endgültigen Text der Studie durch eine fortlaufende Nummerierung der Interview-Zitate ersetzt, um eine nachträgliche Wiederzusammensetzung der Interview-Zitate zu längeren Interviewpassagen unmöglich zu machen und so die Anonymität der Interviewpartner zu schützen. Nach fertiggestellter Codierung erlaubt MAXQDA10 auf diese Weise, inhaltlich ähnliche Textpassagen schnell aufzufinden und gleichzeitig im ursprünglichen Textzusammenhang des Interviewtranskripts im Originalwortlaut zu überprüfen. Dadurch ist gleichermaßen die Vollständigkeit der Aufarbeitung des Materials gewährleistet wie auch die Vernetzung aller inhaltlich zueinander passenden Textanteile auch über die Grenzen eines einzelnen Interviews hinaus. Ein großer Vorteil von MAXQDA10 ist es, gleichzeitig die Liste der Codes (Kategoriensystem) und die Originaltexte im Blick zu behalten. Deswegen war es möglich, im nachfolgenden Kapitel 4 zur Auswertung der Daten nicht nur auf die für die Entwicklung des Kodierungssystems gewonnenen Paraphrasen zurück-
3.3 Das Auswertungsverfahren und die Qualität der Ergebnisse
71
Abbildung 11: Screenshot MaxQDA Screenshot MaxQDA während der laufenden Auswertung (12. Februar 2014): Die Abbildung zeigt die Arbeitsoberfläche von MAXQDA10: Im oberen linken Fenster findet sich die Liste der Dokumente. Aktuell aufgerufen ist Dokument Nr. 5. Im Fenster der rechten Spalte erscheint der gesamte Dokumententext als Scroll-Down-Element. Markiert ist das Ende von Abschnitt 46. Der Satz „Die Leut sind völlig hilflos: Was soll man mit dem Zettel machen …“ wurde kodiert als „Bedürfnis: Hilfestellung der Leute bei Formularen im Sozialamt“ und in das Codesystem (unteres Fenster der linken Spalte) unter der Hauptkategorie „Bedürfnisse“ und der Subkategorie „Bedürfnis nach Beratung“ eingeordnet.
zugreifen, sondern auch auf die jeweils damit zusammengehörenden Originalzitate. In der Darstellung wurde immer dann vorzugsweise auf das Originalzitat zurückgegriffen, wenn es sich nicht um eine Proposition handelte, die nur die Nennung eines konkreten Sachverhaltes beinhaltete (z. B. „Es gibt in unserer Gemeinde einen Krankenbesuchsdienst.“), sondern auch eine persönliche Einschätzung oder Deutung des Interview-Partners. Ein weiterer Vorteil der vorzugsweisen Verwendung der Originalzitate ist die unmittelbare Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit der Zuordnung der Einzelzitate zu den Kategorien durch den Leser. Der bei diesem Verfahren entstehende Nachteil, nämlich der entsprechend größere textliche Umfang der Studie wurde demgegenüber als sekundär angesehen.
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3 Design und methodische Konzeption der Untersuchung
Auch wenn im Interview-Leitfaden die Frage nach den Angeboten der Gemeinde voransteht und erst dann nach den Bedürfnissen der kranken Gemeindemitglieder gefragt wird, ist diese Reihenfolge im nachstehenden Auswertungsteil umgekehrt. Denn während für die befragten Gemeindemitglieder die Angebote der Gemeinde einfach zu benennen und bekannt sind, erschien es dem Verfasser sinnvoll, dem Leser zuerst die Ergebnisse in Bezug auf die Bedürfnisse der kranken Gemeindemitglieder darzustellen, da die Gemeindeangebote vielfach einen sachlichen Bezug auf diese Bedürfnisse beinhalten, der sonst doppelt hätte dargestellt werden müssen (z. B. das Bedürfnis nach Beratung und organisatorischer Hilfestellung im Abschnitt 4.1.1 und die Hilfsangebote der Sozialarbeiter in Abschnitt 4.2.1.2).
3.4 Gesamtübersicht über die Arbeitsschritte und den zeitlichen Ablauf Für die Vorgehensweise bei der Untersuchung wurden folgende Arbeitsschritte durchgeführt: Zeitraum der Forschungsarbeiten: März 2011– Dezember 2013 1. Vorbereitungsphase ‒ Literaturrecherche zum Thema ‒ Ausarbeitung eines Fragebogens an die Gemeinden zur Gewinnung von Interviewpartnern und neue Planung für Gewinnung von Interviewpartnern (März 2011) ‒ Abklärung des Forschungsvorgehens mit der Ethikkommission der LMU (Dr. Beate Henrikus) ‒ Erstellung eines Interview-Leitfadens mit 3 Leitfragen (April 2011) ‒ Durchführung von zwei Probe-Interviews (Mai 2011) ‒ Überarbeitung des Interviewleitfadens (Juni 2011) ‒ Vorlage und Diskussion des überarbeiteten Interviewleitfadens in der Qualitativen Werkstatt mit Prof. Dr. Philipp Mayring (23.9. 2011) 2. Erhebungsphase ‒ Durchführung weiterer Interviews (September 2011 – Dezember 2012) ‒ Festlegung der Transkriptionsregeln ‒ Transkription der Interviewtexte 3. Auswertungsphase ‒ Beginn der Auswertung (November – Dezember 2012): Beratung durch Dr. Katja Kühlmeyer und getrennte Auswertung exemplarischer Interview-Transkripte (konsensuelles Kodieren/Auswerten). ‒ Codierung und Auswertung der übrigen Transkripte durch den Verfasser (Januar –Dezember 2013) ‒ Darstellung und Diskussion der Ergebnisse
3.4 Gesamtübersicht über die Arbeitsschritte und den zeitlichen Ablauf
Qualitatives Interview 3 Leitfragen
Probelauf in jüd. Gem. 1 Leiterin Besuchsdienst
Probelauf in jüd. Gem. 2 Rabbi
20 ExpertenInterviews 2 Leitfragen
Analyse
Ergebnisse
Abbildung 12: Schematische Darstellung des Ablaufs der Forschungsarbeiten
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4 Auswertung Nach der Transkription erfolgte die Auswertung durch Qualitative Inhaltsanalyse. Wie oben dargestellt, waren die folgenden vier Hauptkategorien deduktiv vorgegeben: – HK1 Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder – HK2 Angebote der Gemeinden – HK3 Problemfelder – HK4 Umgang mit Problemen Die Subkategorien wurden induktiv durch zusammenfassende Inhaltsanalyse festgestellt. Sie werden nun gemeinsam mit den jeweils zugehörigen Einzelpropositionen im Einzelnen vorgestellt. Wie oben (S. 71) erläutert, werden in diesem Abschnitt vorzugsweise die Originalzitate wiedergegeben, die zur Bildung dieser Subkategorien geführt haben – Kurzparaphrasen werden nur dann benutzt, wenn es sich bei der betreffenden Proposition ausschließlich um die Nennung eines konkreten Sachverhaltes handelt.
4.1 Die Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder Zur Feststellung von Einzelbedürfnissen kranker Gemeindemitglieder wurden induktiv durch zusammenfassende Inhaltsanalyse (vgl. oben S. 67 ff) drei Subkategorien (SK) gefunden, wobei die Kategorie SK3 nochmals untergliedert werden konnte (Abb. 13).
4.1.1 Bedürfnis nach Beratung und organisatorischer Hilfestellung In einer kleineren Gemeinde verweist der Vorsitzende zur Erklärung der Bedürfnisse der kranken Gemeindemitglieder zuerst auf die Mitgliederstruktur: „Also wir haben 300 jüdische Menschen, die zur Gemeinde gehören, davon sind 200 tatsächlich Mitglieder, 100 sind halt nicht … Die übrigen 100 sind nicht formal Gemeindemitglieder, und wir haben natürlich zusätzlich die nichtjüdischen Familienangehörigen, das sind ungefähr 550 Menschen, die wir betreuen. Russischsprachig sind 98 %, würde ich sagen. Es gibt ein, zwei, drei, vier deutschstämmige Familien oder Einzelpersonen, mehr gibt es nicht.“ (1)
DOI 10.1515/9783110545333-004
4.1 Die Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder
75
Abbildung 13: Hauptkategorie „Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder“ mit Subkategorien
76
4 Auswertung
Bei einer solchen Gemeindestruktur prägen Sprachprobleme den Lebensalltag der Mitglieder, insbesondere bei der Kommunikation mit Behörden (v. a. Sozialamt), beim Ausfüllen von Formularen, im Krankenhaus und beim Arztbesuch. In allen besuchten Gemeinden berichten die Mitarbeiter von der Notwendigkeit, mit Dolmetscherdiensten den Mitgliedern zu Hilfe zu kommen, damit diese sich in ihrer deutschen Umgebung zurechtfinden können. Ältere Zuwanderer hatten, wie ein Gemeindemitarbeiter berichtet, oftmals keine Möglichkeit, an einem staatlich geförderten Sprachkurs teilzunehmen. Aufgrund der Sprachschwierigkeiten besteht ein besonderer Bedarf für Beratung insbesondere im medizinischen Bereich. Oft verstehen die Einwanderer deutschsprachige Anweisungen des Arztes nicht oder können die Beipackzettel von Medikamenten nicht lesen: „Uns wurde klar, dass die Leute mit der Medikamentierung nicht umgehen können, sprich, es wurde ihnen Medikamente verordnet, und sie wussten nicht für was. Sie waren ängstlich, sie hatten Probleme, diese Medikamente einzunehmen, sie wussten nicht, wann und wie oft.“ (2)
Neben diesem Beratungsbedarf der Gemeindemitglieder selbst gibt es auch einen Beratungsbedarf der Partnerorganisationen, beispielsweise von Palliativstationen, Krankenhäusern, Altenheimen, die wissen möchten, was im Fall eines sterbenden jüdischen Gemeindemitgliedes zu tun ist und beim Gemeinderabbiner um entsprechende Veranstaltungen zur eigenen Mitarbeiterfortbildung anfragen. Solche von außen kommenden Anfragen sind für die Gemeinden, die ohnehin in Bezug auf Mitarbeiter sehr knapp ausgestattet sind, eine zusätzliche, nur mit großer Mühe zu erfüllende Aufgabe.
4.1.2 Bedürfnis nach Krankenbesuch und menschlicher Zuwendung Ein häufig genanntes Bedürfnis in Bezug auf die jüdischen Patienten ist der Krankenbesuch. Ein Rabbiner erläutert: „Ein großes Problem ist, dass viele Leute ins Krankenhaus gehen und sich dort einsam fühlen.“ (3) Die Generation der Einwanderer von 1991 hat jetzt ein höheres Lebensalter erreicht, die Zahl der Sterbefälle in allen Gemeinden hat in den letzten fünf Jahren stark zugenommen. Da von den älteren Menschen in den Gemeinden viele keine Angehörigen haben, die sich um sie kümmern könnten, ist der Bedarf einer Betreuung durch die Gemeinde besonders groß. Die befragten Mitarbeiter berichten über Gemeindemitglieder, die sich von sich aus mit den Wunsch nach einem Besuch an die Gemeinde wenden (4,5). Dennoch nehmen nach Einschätzung der Interviewpartner insgesamt eher wenige
4.1 Die Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder
77
selbst den Kontakt mit der Gemeinde auf, möglicherweise aus Angst, sie würden dadurch anderen „auf die Nerven gehen“ (6). Ein Rabbiner berichtet sogar von Familien, die Krankheitsfälle gegenüber der Gemeinde bewusst verheimlicht haben, damit kein Besuch stattfinden kann. (7) In einer anderen Gemeinde ist dieses Phänomen ebenfalls bekannt; der Gemeindemitarbeiter vermutet als Ursache für ein solches Verschweigen, dass die Verwandten wollen, der Sterbende möge von anderen Gemeindemitgliedern nicht in seinem Verfallszustand gesehen und in Erinnerung behalten werden: „Wenn jemand im Sterben liegt, dann will die Familie nicht, dass jemand vorbeikommt. Das ist die Einstellung von mehreren Familien. Weil man will, dass der Mensch so in der Erinnerung bleibt, wie er gesund war.“ (8) Es gibt auch Patienten, die explizit nicht vom Rabbiner besucht werden wollen (9;10). Das kann in manchen Fällen an der Vorstellung liegen, dass ein Besuch des Rabbiners im Krankenhaus den bevorstehenden Tod bedeutet (11; vgl. S. 106). Häufiger aber, so die Einschätzung eines Rabbiners, wurzelt diese Ablehnung eines Besuches durch Gemeindevertreter in einem verstärkten Wunsch nach Schutz der Privatsphäre (12). Dieses Bedürfnis nach Privatsphäre ist unter den Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern, der sogenannten Second Generation, besonders verbreitet (13; vgl. dazu ausführlicher unten S. 145 ff). Dieser teilweise ablehnenden Haltung gegenüber gemeindlichem Besuch steht die Wertschätzung entgegen, welche die Patienten nach Auskunft von Mitarbeitern der Besuchsdienste den tatsächlich erfolgten Besuchen entgegenbringen. Ein Rabbiner berichtet, dass die Patienten insgesamt wenig große Bitten äußern – außer der Bitte um einen erneuten Besuch (14). Und er stellt fest, dass es insbesondere die Russisch sprechenden Gemeindemitglieder sind, die auch längere Besuche zu schätzen wissen (15). Und ein anderer Mitarbeiter im Besuchsdienst meint: „Ich habe nur in den seltensten Fällen erlebt, dass man mich nicht dabeihaben wollte.“ (16) Ein Gemeindemitarbeiter stellt fest, dass neben allen anderen Leistungen für die Patienten „viel wichtiger das Zuhörenkönnen ist, dass jemand von der Gemeinde kommt und mit einem Kranken betet, beim Sterbenden bis zur letzten Minute bleibt und was zumindest ebenso wichtig ist, den trauernden oder verzweifelten Angehörigen das Ohr leiht und die Bereitschaft bekundet, helfen zu wollen und Beistand zu sein, selbst wenn sie vorher immer gesagt haben, dass sie ungläubig sind“. (17) Die Wichtigkeit, sich auch um die Angehörigen zu kümmern, betont auch ein anderer Rabbiner: „Also das sind zwei Dinge, erst einmal der [Patient], derjenige, den es persönlich aktiv betrifft, und die vielen oder weniger vielen, die es passiv betrifft und um die man sich mit kümmern muss.“ (18) Auch Menschen, die keinen religiösen Glauben haben, benötigen, wie es ein anderer Rabbiner formuliert, einen „psychologisch einfühlsamen, flexiblen Berater,
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4 Auswertung
der einfach auf die Menschen eingehen kann, ohne spirituelle Elemente, religiöse Elemente …“ (19). Ein Rabbiner meint, allerdings bei ausgeschaltetem Diktiergerät, seine wichtigste Aufgabe beim Krankenbesuch wäre es, Männern die jeweils aktuelle Fußballzeitung und Frauen das neueste Modemagazin zu besorgen (Fieldnote des Verfassers), und erklärt, genau in solchem Tun läge der theologische Sinn der Mizwa zum Bikkur Cholim (religiöse Pflicht zum Krankenbesuch): eine Verbesserung in der Lebensqualität des Kranken zu erreichen. (Fieldnote des Verfassers) In mehreren Gemeinden sind es Ärzte oder Angehörige aus medizinischen Berufen, die jüdische Patienten im Krankenhaus besuchen. Ein Arzt, der für eine Gemeinde tätig ist, berichtet, dass die jüdischen Patienten auf der Palliativstation weniger einen Rabbiner sehen wollen, der mit ihnen betet, sondern vor allem jemanden, „der freundlich mit ihnen redet“ (20). Entscheidend ist die menschliche Zuwendung, die Anrede mit dem eigenen Namen, der Austausch über persönliche Kleinigkeiten, wie etwa der anstehende Besuch der Ehefrau (21). Auch der behandelnde Arzt sollte sich bei der Visite um das Gespräch mit dem Patienten bemühen, weil es hier um ein Grundbedürfnis der Patienten geht (22). Das ist das Allerwichtigste, was ein Arzt den jüngeren Kollegen beibringen kann (23): „Visite heißt nicht nur: Da schau ich den mal so an, naja, schöne Giraffe, schönes Nilpferd“ (24), sondern tatsächlich den Patienten zu besuchen und vor allem zuzuhören. Der Arzt betont in diesem Zusammenhang, dass es wichtig für die Patienten ist, nicht von irgendjemandem betreut zu werden, sondern, dass jemand für ihn da ist, den er kennt (25). Besonders schwierig ist die Situation im Krankenhaus für Zuwanderer, welche die deutsche Sprache nicht verstehen. Ein Sozialarbeiter sieht als wichtigste Bedürfnisse der Patienten „menschlichen Kontakt, moralische Unterstützung und Gespräche in der Muttersprache“ (26). Das ist sogar wichtiger als der Besuch durch den Arzt, bei dem für die meist russischsprachigen Patienten kein direktes Gespräch möglich ist. (27) Das Bedürfnis nach Kommunikation der Patienten besteht auch über den Krankenhausaufenthalt hinaus. Ein Gemeindevorsitzender berichtet, dass das Redebedürfnis der zahlreichen schwer an Krebs erkrankten Gemeindemitglieder sehr hoch ist. Aus dem Krankenhaus zurückgekehrte Gemeindemitglieder nutzen vor allem den Gottesdienst in der Synagoge als Gelegenheit zum Gespräch. „Wenn keine Metastasen vorliegen, kommen die Patienten hierher zum Gottesdienst. Der Gottesdienst hier ist nicht zum Beten, sondern zum Reden. Die reden und reden und reden … Und das ist auch gut so. Wir begrüßen das zwar nicht offiziell …, aber wir akzeptieren das, weil die Aussprache für diese Menschen so wichtig ist.“ (28). Auch über den Tod des Patienten hinaus besteht seitens der Familien ein großer Bedarf an Kommunikation. Ein Rabbiner betont, dass sein Besuch für den
4.1 Die Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder
79
Kranken sehr wichtig ist, aber auch für die Familie, besonders nach dem Sterbefall (29). Das Miteinander-Dasitzen und Sprechen (Schiwa) täte den Hinterbliebenen sehr gut: es gehe den Menschen nach dem Besuch des Rabbiners besser (30). Das liege aber nicht an seiner Person, sondern daran, dass es für die Betroffenen überhaupt die Möglichkeit gegeben hätte, mit jemandem zu sprechen (31).
4.1.3 Bedürfnis nach Religion/Spiritualität Bei der Frage nach expliziten spirituellen Bedürfnissen jüdischer Patienten wurde diese mehrfach verneint (vgl. Abschnitt 4.1.3.1). Gleichzeitig, und oft von den gleichen Interviewpartnern, wurden dann doch Bedürfnisse genannt, die sich dem Bereich Religion zuordnen lassen, so zum einen die Thematik Kashrut, also Fragen, die mit den jüdischen Speisegesetzen zusammenhängen (Abschnitt 4.1.3.2) sowie weitere Bedürfnisse in Bezug auf Religion und Spiritualität (Abschnitt 4.1.3.3).
4.1.3.1 Das Bedürfnis nach spiritueller Betreuung und seelsorglicher Begleitung In einer Gemeinde wünscht sich ein Mitarbeiter, dass der Rabbiner aktiv religiöse Themen am Krankenbett thematisieren sollte: „… zum Beispiel, einfach auch, Trost zu finden aus Schriften, also wirklich sich zu befassen mit Psalmen, mit dem Buch Hiob vielleicht, ja, einfach die Aufarbeitung, die wir in unserer Tradition haben mit Unglück, mit Leid, mit Tod, mit Krankheit, die aufzufrischen anhand der Grundlagen und so. Das fände ich wichtig.“ (32)
In anderen Interviews wurde die Frage nach möglichen spirituellen Bedürfnissen jüdischer Patienten vollständig verneint oder zumindest für wenig bedeutend eingestuft. So erklärt der Mitarbeiter eines Seniorenheims: „Also, die spirituelle Betreuung spielt keine so wahnsinnig große Rolle, weil […] 70 Prozent unserer Bewohner aus der ehemaligen Sowjetunion sind und keinen Bezug zur Religion haben. Sie fühlen sich ganz eindeutig als Juden, ihre Identitäten als Juden sind auch ganz stark, aber dies ist nicht religiös geprägt.“ (33; ähnlich auch 34)
Ein Gemeindevorsitzender meint, er würde sich wünschen, dass religiöse Themen in seiner Gemeinde eine Rolle spielen würden: „Bloß, ich weiß nicht, wie ich sie an die Mitglieder heranschaffen kann.“ (35) Bedürfnisse, die in der Jüdischkeit
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4 Auswertung
der Mitglieder begründet liegen, kann er sich „nicht vorstellen“ (36), auch nicht, dass „ritualmäßig“ sich irgendein besonderes Bedürfnis unter den Mitgliedern zeigt. (37) Ein anderer Gemeindevorsitzender, gefragt nach seinen Erfahrungen mit spirituellen Bedürfnissen der kranken Gemeindemitglieder, hat Schwierigkeiten, mit dem Begriff überhaupt etwas anzufangen: „Kann ich nichts dazu sagen … Also, ich wüsste nicht, ob irgendwelche Zuwanderer bei den Verwandten irgendetwas verlangt hätten, spirituell oder – keine Ahnung, Ich meine, ich weiß das nicht. Da weiß ich nichts, also … Ich hab mich damit nicht befasst, äh: Was verstehen Sie unter spirituellen Bedürfnissen?“ (38)
Für sich selbst kann derselbe Gemeindevorsitzende, der sich an anderer Stelle dezidiert als religiöser Jude sieht (39) und aus der Tradition des deutschen Judentums stammt, nicht vorstellen, dass er eine spirituelle Begleitung durch den Rabbiner bei seinem eigenen Sterben wünschen würde: „Ich glaube, das, was ich mir [beim Sterben] am wenigsten wünschen würde, wär ein Rabbiner, der vor mir steht und Gebete spricht und mich davon abhält, meine Familie, wenn ich denn bei Bewusstsein bin, noch einmal irgendwo wahrzunehmen. Also, das kann ich aber nur für mich sagen. Vielleicht würde es einem anderen Menschen mehr bedeuten, wenn der Rabbiner betet oder wenn er Gebete hört, ich weiß es nicht. Wir kommen leider nicht zurück, um mitzuteilen, was denn am besten gewesen wäre, oder keiner weiß es, und wir müssen es so hinnehmen, wie es denn passiert … […] Und Gott sei Dank ist das einer der wenigen Momente im Leben, wo du wirklich wenig Einfluss hast. Du bist gesegnet, wenn du Familie hast, die bei dir ist. So sehe ich das.“ (40)
Auf jeden Fall für unpassend hält dieser Gemeindevorsitzende den Besuch eines vorher nicht persönlich bekannten Rabbiners am Krankenbett: „Ohne Verbindung plötzlich aufzutauchen, erschreckt wahrscheinlich, sowohl die Angehörigen wie die Sterbenden. Jetzt kommt da jemand, und […] wie kann ich mich erdreisten, jemanden zu erklären, was er tun soll, den ich zum ersten Mal in meinem Leben sehe? Also, die Verbindung sollte schon über die Gemeinde [bereits bestehen]: gute Zeiten, schlechte Zeiten sollten gemeinsam gelebt werden, dann kann man auch gemeinsam das ertragen, wenn’s dann zum Tod kommt. […] Wenn plötzlich ein Seelsorger in der Tür steht und mir erklärt, dann weiß ich, jetzt sterbe ich. Ich erschrecke ja mehr, als ich, als ich Gutes davon habe. Das ist ein schwieriges Thema. Ich kann mir vorstellen, wenn ich im Krankenzimmer liege und plötzlich die Tür aufgeht und es steht der Pfarrer [sic!] vor mir – dann denke ich mir: So, ist es schon so weit? Ich erschrecke mehr, als ich Nutzen habe.“ (41)
4.1 Die Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder
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Der Gemeindevorsitzende äußert Verständnis für eine Frau aus der Gemeinde, die den Rabbiner am Sterbebett abgewiesen hat. Über die Gründe kann er aber nur mutmaßen: „Ich wollte das auch wissen, warum sie denn explizit den Rabbiner nicht [am Krankenbett sehen wollte]. Ich meine, sie ging zur Synagoge … Vielleicht hat sie sich gedacht, der arme alte kranke Mann braucht jetzt nicht zu mir zu kommen, oder sie hat sich gedacht: ‚Wenn ich ihn sehe, sterbe ich gleich.‘ Ich weiß es nicht. Sie hat aber ausdrücklich gesagt: ‚Ich will keinen Rabbiner …‘ […] Die sterbende Frau konnte ich nicht fragen: ‚Warum wollen Sie den Rabbiner nicht sehen?‘“ (42)
Ein Rabbiner macht selbst die Beobachtung, dass manche Patienten seinen Beistand nicht wünschen: „Ich vermute, sie schämen sich oder sie wollten den Rabbiner nicht belasten. Das sind meistens ältere Leute, also über 60 Jahre, über 70 Jahre.“ (43) Nach Meinung des oben zitierten Gemeindevorsitzenden ist der Besuch des Rabbiners immer eine Notlösung, wenn eine Betreuung durch Verwandte nicht möglich ist (mehrfach in diesem Interview: 44). Er hat zwar nichts dagegen, wenn sich ein Seelsorger ans Krankenbett setzt, sorgt sich aber, der Rabbiner könnte „einfach vorpirschen und sagen: ‚Hier bin ich, und jetzt kriegst du das, was du brauchst.‘ Wer weiß denn schon, was einer braucht?“ (45) Auch viele Rabbiner sehen keinen prinzipiellen religiösen Grund, warum sie einen Kranken oder Sterbenden besuchen sollten (vgl. S. 115 ff). Sie kommen nur, wenn das ausdrücklich gewünscht wird: „Also, ich muss sagen, wenn es um seelsorgerische Betreuung geht, man muss es auch wollen oder verlangen oder darum bitten. Und das kommt nicht sehr oft vor …“ (46) „Es ist mir nicht oft vorgekommen, dass jemand (mit mir) zusammen beten wollte …“ (47) „… das Gefühl, dass man vom Rabbiner oder von irgendjemandem sonst spezifisch jüdisch betreut werden möchte, ist einfach nicht vorhanden.“ (48) „Es gibt Leute, die besänftigt sind oder die getröstet werden, wenn man mit ihnen oder um sie herum betet, es gibt andere Leute, denen das völlig egal ist … Ich versuche daher gar nicht zu forcieren, ob ein Mensch ein Gebet haben will oder nicht.“ (49) Und ein Rabbiner erklärt in Bezug auf den Krankenbesuch: „Die Leute wollen gar nicht unbedingt den Rabbiner sehen, der mit ihnen betet, sondern jemand, der mit ihnen freundlich redet. (…) Religion ist in dem Fall ziemlich egal.“ (50) Unter den Interviewpartnern sieht das nur ein Rabbiner der ultra-orthodoxen Richtung anders: Er versteht den Krankenbesuch als seine persönliche religiöse Pflicht, auch bei glaubensfernen Gemeindemitgliedern und sogar bei Nichtjuden. Er unternimmt den Besuch, auch wenn der Kranke das von sich aus gar nicht will, weil er davon ausgeht, dass das für den Kranken eine Erleichterung bedeutet:
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4 Auswertung
„Aus meiner Sicht ist es eine wichtige Säule im Judentum, Kranke zu besuchen, und es spielt keine Rolle, ob einer im Sterben liegt oder nicht. Äh, und dann gibt′s einen kleinen Konflikt: Wenn ich einen Menschen besuche, der mit dem Glauben nichts zu tun hat, dann schämt sich der manchmal, dass der Rabbiner zu ihm kommt und sagt, er wollte keinen Besuch und wolle den Rabbiner nicht belasten. Und ich gehe trotzdem hin, auch wenn er das nicht will, weil ich weiß, wie erleichternd das sein kann.“ (51)
Ein anderer Rabbiner macht die Beobachtung, dass vor allem Juden, die nicht Gemeindemitglieder sind, am Lebensende mit ihm Kontakt aufnehmen: „Wenn ich an die Schwerstkranken denke, dann waren es interessanterweise […] Leute, die keine Mitglieder der Gemeinde waren, die aber im Internet oder durch einen persönlichen Kontakt mit Mitgliedern der Gemeinde dann meinen Besuch sich gewünscht haben.“ (52)
Seiner Beobachtung nach kommt es immer wieder vor, dass ein schwerkranker Mensch „sich nichts Religiöses wünscht, aber man wünscht sich die Anwesenheit des Rabbiners.“ (53) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die meisten Gesprächspartner sich eine explizit-religiöse Begleitung jüdischer Patienten insbesondere durch den Rabbiner nicht vorstellen können- womit aber nicht ausgesagt ist, dass ein Krankenbesuch, der die Religion nicht thematisiert, nicht trotzdem eine religiöse oder spirituelle Bedeutung hat. Denn nach dem jüdischen Religionsrecht ist jeder Krankenbesuch, gleich ob mit oder ohne explizite Thematisierung der Religion, für den Besuchenden die Erfüllung einer Mizwa und damit eine religiöse Handlung.
4.1.3.2 Kashrut Häufig wird in den Interviews als ein mögliches Bedürfnis jüdischer Patienten die koschere Ernährung genannt (54; 55; 56; 57; 58; 59; 60; 61). Die Ausführungen der Interviewpartner zu diesem Thema nehmen besonders in zwei Interviews, die jeweils mit Rabbinern geführt wurden (konservativ und Chabad-Lubawitsch), einen deutlich breiteren Raum ein im Vergleich zu der Thematisierung anderer Patientenbedürfnisse. Daneben gibt es auch Interviews, in denen das Thema Kashrut überhaupt nicht vorkommt: so drei Interviews wiederum mit Rabbinern, davon zwei liberal, einer ultra-orthodox, sowie mit zwei Gemeindevorsitzenden. Auch bei der gezielten Frage nach den spirituellen Bedürfnissen im Krankenhaus wurde in diesen Interviews das Thema koschere Ernährung von den Interviewten nicht angesprochen.
4.1 Die Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder
83
Ein aus der GUS eingewanderter Jude erklärt, dass es unter Juden große Unterschiede gibt, auch in Bezug auf Kashrut (62), und in einem anderen Interview weist ebenfalls ein Zuwanderer darauf hin, dass viele Juden in der Sowjetunion ihre Jüdischkeit verschweigen mussten und dadurch auch den Bezug zum koscheren Essen verloren haben (63). Auch andere Gesprächspartner erklären, dass es nur wenige Gemeindemitglieder gibt, die sich tatsächlich um die Einhaltung der jüdischen Speisegesetze bemühen: „Die meisten Juden hier essen leider nicht koscher und leben nicht nach der jüdischen Religion, so dass die Probleme im Krankenhaus gar nicht besonders sind.“ (64) „Selten habe ich es erlebt, dass religiöse Patienten um Hilfe gebeten haben, koscheres Essen zu besorgen.“ (65). „Es gibt so wenige Leute, die auf koscher reflektieren.“ (66) „Also wir haben ja ein Klientel an Gemeindemitgliedern, die wenig observant sind, wo nur in Einzelfällen koscher gegessen wird, und ich denke, die essen das, was auf den Tisch kommt, ganz ohne Probleme, und ansonsten kann ich mir keine Bedürfnisse vorstellen, die auf die Jüdischkeit zurückzuführen sind.“ (67)
Ein konservativer Rabbiner bezeichnet Kashrut als eines der wichtigsten Probleme im Krankenhaus überhaupt: „Das Hauptproblem sind die Speisen, also dass man Essen kriegen kann, das mehr oder weniger koscher ist oder mindestens, dass man Essen kriegen kann, dass nicht unbedingt total treife ¹ ist“ (68). Gleichzeitig relativiert er die Aussage wenig später selber: „Die meisten Leute hier, die essen alle Art Speisen, auch zuhause – dann ist das nicht so wichtig, koschere Speisen im Krankenhaus zu bekommen“ (69). Auch ein zweiter konservativer Rabbiner meint, dass es nicht sehr viele jüdische Patienten gibt, die „wirklich fromm“ sind und die „wirklich höchsten Wert“ auf die koschere Ernährung legen und sogar bei der Einnahme von Tabletten wegen der Kashrut-Regeln nach den Inhaltsstoffen fragen. (70) Problem ist seiner Meinung nach weniger die Ernährung an sich, sondern vielmehr eine allgemeine Unsicherheit im Krankenhaus, bei der sich die Ernährungsfrage verbindet mit der allgemeinen Frage, im Krankenhaus nicht zu wissen: „Was kommt da auf mich zu?“ (71) Eine Verquickung dieser Aspekte fände sich bei vielen jüdischen Patienten und noch mehr bei den Einwanderern, wenn die Sprachbarriere als zusätzliche Quelle der Verunsicherung hinzukäme. (72) Für manche jüdische Patienten kann die Frage nach dem koscheren Essen geradezu nach Ansicht eines anderen Mitarbeiters zur „Obsession“ (73) werden, so dass sie sich ganz auf dieses Thema konzentrieren wie im Beispiel einer von ihm als depressiv charakterisierten Dame, die nur noch im Finsteren sitzt, keinen Lichtstrahl in ihr Zimmer lässt und deren Gedanken um dieses Thema kreisen: Treife: unkoscher (Anm. d. Verf.)
84
4 Auswertung
„… ich hab keinen Stuhlgang gehabt, ich kann nicht essen: Ist das auch wirklich koscher?“ (74) In einem rein jüdisch geführten Altenheim ist die Lösung einfach – man bietet allen Bewohnern koscheres Essen an, und das kann von jedem gegessen werden, egal, ob einer privat auf Kashrut Wert legt oder nicht. (75) In einem nichtjüdischen Krankenhaus kann ein von den Inhaltsstoffen klar deklariertes Essensangebot viel Unsicherheit nehmen, und zwar nicht nur bei Juden, sondern auch bei Muslimen (76). Nach Ansicht eines Arztes stellt die ungenaue Deklaration des Essens im Krankenhaus das eigentliche Problem dar, beispielsweise der Fischspieß, der ohne jeglichen Hinweis in der Menükarte auch Schweinespeckwürfel enthält (77). Erst die Diskussion um Allergene und die mögliche rechtliche Haftung für falsche inhaltliche Deklarationen hat im Fall dieses Krankenhauses Abhilfe geschaffen. (78) Glaubensgründe allein haben hier nicht ausgereicht, um das Krankenhaus zu einer Änderung der Inhaltsangaben zu bewegen. (79) Eine eigene koschere Krankenhausküche ist zu aufwendig und kann in unserer Gesellschaft auch nicht verlangt werden (80). Bereits das Angebot vegetarischer Kost kann die Essensprobleme in den meisten Fällen lösen, wie der Vorsitzende einer konservativen Gemeinde erklärt (81). Nur im Falle ultra-orthodoxer Juden ist ein externes Catering mit als koscher zertifizierter Nahrung erforderlich – oder das Mitbringen von eigenen Essenspaketen (82; 83; 84; 85). Ein solches Catering wird in einer größeren Stadt, wo es ein koscheres Gemeinde-Restaurant gibt, bei Bedarf durch die Gemeinde organisiert (86) – schwieriger ist die Lage, wo es vor Ort eine solche Infrastruktur nicht gibt und die Patienten selbst für ihr Essen sorgen müssen. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang, dass Menschen, die aus religiösen Gründen das Krankenhausessen nicht nutzen und sich ihr eigenes Essen ins Krankenhaus bringen lassen, eine Kostenbeteiligung über den Tagessatz des Krankenhauses bekommen könnten (87). Ein jüdischer Arzt meint dazu: „Ein Problem für religiöse Menschen ist natürlich die koschere Ernährung. Selbstverständlich können wir bei Bedarf durch einen Catering-Service von unserem [Gemeinde‐] Restaurant aus die Leute mit koscheren Essen versorgen, wenn sie im Krankenhaus liegen. Wir haben aber bisher keine Möglichkeit gefunden, die Ernährung aus dem Tagessatz des Krankenhauses herausgerechnet zu bekommen. Das wäre eine große Hilfe, weil, wenn das Essen per CateringService mit dem Taxi angeliefert wird, dann schnell mal 25 € weg sind allein für das Taxi, und das Essen muss ja auch noch extra bezahlt werden.“ (88)
Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass die Kashrut-Thematik von Seiten des Krankenhauses aufgebracht wird, auch wenn ein jüdischer Patient sich gar nicht koscher ernährt, wie in folgendem Fallbeispiel:
4.1 Die Bedürfnisse kranker Gemeindemitglieder
85
„Als ich im Krankenhaus in X-Stadt war, habe ich gesagt: ‚Ich komme von der jüdischen Gemeinde und möchte den Herrn XY besuchen.‘ Die Schwester im Krankenhaus war dann ganz entsetzt, dass der jüdisch sei: ‚Was machen wir denn da mit dem Essen? Ich weiß gar nicht, was ich dem zum Essen machen soll …‘ Dann habe ich gesagt: ‚Da brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen …‘“ (89)
Es gibt, wie der Mitarbeiter eines Seniorenheims berichtet, immer wieder Fälle, wo jüdische Patienten angesichts des Todes von schweren Selbstvorwürfen geplagt sind, weil sie in ihrem Leben die Speisegesetze verletzt haben: So versucht der Mitarbeiter den im Sterben liegenden Sohn eines Rabbiners zu trösten: „Ich versuch dann, schon auch zu sprechen: Ich denke nicht, dass unser Schöpfer letztendlich uns fragen wird, ob wir Schweinefleisch gegessen haben oder nicht, sondern: Wie haben wir als ethischer Mensch gelebt, mit unseren Mitmenschen? Eben doch, das, das hoffe ich zumindest. (Lacht.) Hoffe ich zumindest!“ (90)
4.1.3.3 Weitere Bedürfnisse in Bezug auf Religion und Spiritualität Ein Gemeindevorsitzender, der zuvor betont hat, dass unter den Zuwanderern aus den GUS alle Religiosität „ausgerottet“ worden sei (91), erklärt, dass die Religion angesichts des Todes dann doch eine erhebliche Rolle spielt: „Die Leute, die nach Deutschland gekommen sind, sind, wenn man so sagen darf, Atheisten. Aber je älter sie werden, je näher es zum Tod geht – dann wollen sie als Juden sterben.“ Ein Rabbiner kommt ebenfalls zu der Beobachtung, dass die Beschäftigung mit ihrem Judentum auch für religionsferne Patienten angesichts des Todes an Bedeutung gewinnt: „In der Hospizabteilung war es ganz beeindruckend für mich, dass die Leute, die keine Verbindung zum Judentum hatten, im letzten Moment darüber reflektieren.“ (92; ähnlich auch 93) Eine ähnliche Sichtweise äußert auch ein selbst aus der GUS stammender Mitarbeiter: „Je älter der Mensch wird, desto mehr hat er ein Bedürfnis nach Religion und Spiritualität. Eine Frau, die, solange sie gesund gelebt hatte, niemals einen Gedanken über ihre Seele verloren hatte, hat sogar in ihrer letzten Phase noch gesagt: ‚Ich habe so noch nicht richtig gelebt, ich muss anders sein …‘ Und das bewunderte ich. Und sie erinnerte sich an ihre Eltern und an ihre Wurzeln mehr und mehr, lauter Dinge, an die sie in jüngeren Jahren und, als sie gesund war, nie gedacht hatte. Und sie erinnerte sich auch an die Gottesdienste, die sie früher besucht hatte, aber ohne die innere Teilnahme für den Zusammenhang …“(94)
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4 Auswertung
Derselbe Mitarbeiter erinnert sich an den Tod einer anderen von ihm betreuten Dame, an ihren großen Gesprächsbedarf in den letzten Lebenswochen und an ihren Wunsch, ganz zuletzt das Lied Oseh Schalom² vorgesungen zu bekommen: „Sie konnte nicht sprechen die letzte Tage, sie war sehr, sehr schwach und sie hatte mich gebeten: Sing für mich, zum Beispiel Oseh … Sie konnte die Wörter nicht richtig sagen, aber ich verstand sie, sie hat gemeint: Sing für mich Oseh shalom. Das war ein Wunder.“ (95)
Eine Auffälligkeit unter den russischsprachigen Gemeindemitgliedern ist der Wunsch, regelmäßig ihren Namen oder den Namen von Familienangehörigen, Freunden und Kranken beim synagogalen Krankengebet Mischeberach nennen zu lassen: „Auch Leute, die den Ritus gar nicht ganz verstehen […], nennen immer wieder Namen für die Verwandten, die krank sind. D. h., das hat dann schon irgendwie eine Bedeutung, dass die Leute da sind, um das zu sagen, und sie glauben, das hat eine Wirkung. Und sie haben es sich als Verwandte sozusagen zu einer Pflicht gemacht, ja, gegenüber der Verwandtschaft, den Freunden, Nachbarn, keine Ahnung. Und […] da kommt auch eine jüdische Frau und sagt Kaddisch, für ihren verstorbenen Mann, der überhaupt kein Jude war. Und sie nennt den Namen beim Krankengebet. Das ist sehr wichtig für sie, sie glaubt daran. Das sollte man unterstützen. Das ist vielleicht eine Art Rückkehr sozusagen, die Wurzel, die die Leute haben.“ (96)
Für sich selbst distanziert sich der Gemeindevorsitzende, der von diesem Brauch berichtet, von dieser Form der Religiosität: „Worauf die Mitglieder immer großen Wert legen, ist das Krankengebet. Ja, da sind sie ganz wild hinterher. Aber ich habe den Eindruck, sie nennen immer dieselben Namen, sie nennen grundsätzlich jeden in der Familie. Also, das kommt mir immer etwas unheimlich vor, weil da nie jemand gesund wird. Aber irgendwie, ich weiß nicht, woher das kommt, dieses Mischeberach für die Kranken bedeutet ihnen so viel. Das ist mir persönlich nicht verständlich, und ich verstehe den Zusammenhang auch nicht. Aber ich habe mich da mit noch niemandem unterhalten, weil es schwierig ist, solche Fragen zu stellen.“ (97)
Ein solcher namentlicher Einschluss ins Krankengebet ist auch in anderen Gemeinden ein häufig geäußertes Bedürfnis (98;99;100;101). Auch unter länger als seit 1991 in Deutschland ansässigen Juden gibt es unterschiedliche Grade von Religiosität: Ein Mitarbeiter in einem jüdischen Altenheim weist am Beispiel von drei Bewohnerinnen darauf hin, dass es verschiedene Arten von Jüdischkeit gibt:
Lied aus der Shabbat-Liturgie: Lob dessen, „der den Frieden schafft“ (Anm. d. Verf.).
4.2 Angebote der Gemeinden
87
„Die erste Dame […], die sagt: ich hab Gott in Auschwitz beerdigt. Die war vollkommen areligiös geworden, hat auch nichts mehr eingehalten, auch die Familie nicht. Der Sohn war nicht jüdisch verheiratet, und da war keine religiöse Identität. Sie waren Juden, haben sich als Juden empfunden, aber es gab keine religiöse Identität. Die […] mittlere war nicht unbedingt religiös, aber so, am Schabbat, da hat sie die Kerzen angezündet. Die letztere Dame war aus einem sehr streng religiösen Haus und hat auch bis zuletzt sehr streng religiös gelebt. Es gibt also alle drei Komponenten.“ (102)
Ein Arzt bestätigt diese Unterschiedlichkeit in Bezug auf die Bedürfnisse der Patienten: „Es ist natürlich individuell immer ganz, ganz unterschiedlich. Und es hängt vom familiären Umfeld in erster Linie ab. Dann ist es natürlich auch eine Frage – wie religiös sind diese Leute? Ja, wenn sie religiös sind, haben sie meist schon einen entsprechenden Freundeskreis, der auch aktiv wird. Wenn sie nicht religiös sind, muss ich sagen, unterscheiden sie sich kaum vom Durchschnittsbürger.“ (103)
Ein Bedürfnis, das traditionell auf dem Sterbebett vorgesehene Widui (Sündenbekenntnis) zu äußern (vgl. oben Abschnitt 2.2.3, S. 29, S. 34, S. 35), wurde von keinem Interviewpartner von sich aus angesprochen. Auf Nachfrage bestätigten mehrere Gesprächspartner, dass dieser Brauch bei ihnen keine Rolle spielt. (104) Ein jüdischer Arzt meint dazu, ebenfalls erst auf Nachfrage: „Also das sollte ein Sterbender natürlich grundsätzlich sagen, aber: Es heißt ausdrücklich, dass man ihn nicht erschrecken darf. Ja, es wäre viel schlimmer, wenn man ihn erschrecken würde und er würde dann vorzeitig sterben, G’tt behüte!“³ (105) Ein konservativer Rabbiner sieht das Bedürfnis von Patienten unterschiedlicher Religionen, im Krankenhaus „speziell für seine Religion einen Ort zu finden, wo er sich setzen kann, wo er sich sammeln kann, wo er auch tröstende Bücher lesen kann oder einzelne Geschichten, einzelne Gebete lesen kann“ (106).
4.2 Angebote der Gemeinden Mit knapp 250 codierten Einzelpropositionen in den Interviews fanden sich zahlreiche Textstellen zu den Angeboten, welche die Gemeinden ihren kranken Mitgliedern anbieten. Ein erster Ansatz zur Kategorienbildung lag darin, folgende drei Subkategorien zu bilden: – materielle Hilfsangebote (z. B. Finanzhilfe, Essensausgabe),
Transkription „G’tt“ in diesem Interview auf besonderen Wunsch dieses Interviewpartners (Anm. d. Verf.)
88
– –
4 Auswertung
praktische Hilfsangebote (z. B. Dolmetschen, Besuch/Begleitung, Hilfsangebote im medizinisch-pflegerischen Bereich), explizit spirituelle/religiöse Angebote.
Eine genauere Untersuchung der Einzelpropositionen machte jedoch deutlich, dass diese Einteilung sachlich nicht angemessen ist. So waren alle Hinweise auf die synagogalen Gottesdienste zunächst als explizit spirituelles/religiöses Angebot codiert. Tatsächlich aber wird in einer Gemeinde der Gottesdienst für die kranken Gemeindemitglieder weniger als spirituelles Angebot denn als soziale Plattform der Kommunikation wahrgenommen, so dass sich die Gemeindemitglieder während des Gottesdienstes miteinander unterhalten (107; siehe oben S. 78). Ebenso kann der Rabbinerbesuch nicht ohne weiteres als spirituelles/religiöses Angebot codiert werden – und wie oben bereits ausgeführt, vermeiden es einige Rabbiner bewusst, von sich aus über religiöse Themen am Krankenbett zu sprechen (vgl. S. 110 ff), so dass ihr Besuch nach obiger Einteilung mehr ein kommunikatives, denn ein explizit religiös-spirituelles Angebot darstellt. Umgekehrt gibt es auch Beispiele dafür, dass ein zunächst nicht der Religion/ Spiritualität zugeordnetes Angebot dann doch genau diese Dimension mit enthält: so etwa die medizinische Fördersprechstunde, in der es zwar vor allem um die Übersetzungshilfe deutscher Beipackzettel ins Russische geht, dann aber auch um die Frage, ob die Einnahme eines bestimmten Medikamentes mit dem Kashrut, der jüdischen Speisegesetzgebung, vereinbar ist (vgl. S. 92). Das kann im Einzelfall sogar heißen, dass traditionell in der Theorie gültige religiöse Bräuche, wie etwa das Widui (Sündenbekenntnis vor dem Sterben) in der Praxis auch vom Rabbiner vermieden werden, um das Wohl des Kranken nicht zu gefährden – er könnte ja denken, der Rabbiner hätte die Hoffnung auf Genesung aufgegeben (vgl. S. 104). Und Hoffnung zu geben ist für die meisten Rabbiner eine der wichtigsten Aufgaben beim Krankenbesuch (vgl. S. 107). Ein solches scheinbar „nichtspirituelles“ und pragmatisches Handeln ist aber, von einem anderen Blickwinkel gesehen, somit durchaus spirituell-religiös begründet. Deshalb erschien es dem vorliegenden Untersuchungsmaterial gegenüber angemessener, bei der Bildung der Subkategorien die obige Unterscheidung nicht weiterzuverfolgen und stattdessen danach zu unterscheiden, welche Person bzw. Institution jeweils welche Angebote für die Betreuung kranker jüdischer Gemeindemitglieder macht (vgl. Abb. 14).
4.2 Angebote der Gemeinden
SK1: SK1.1.
SK1.2.
SK1.3.
SK1.4.
SK1.5.
Angebote durch Gemeindeleitung und Sozialabteilung Organisationsstrukturen und Zuständigkeiten Fehlen einer übergeordneten Organisationsstruktur Leitungstätigkeit des Gemeindevorsitzenden Sprachliche Kommunikationsprobleme zwischen Gemeindeleitung und Mitgliedern Stellung der Sozialarbeiter Bedeutung des Gemeindebüros Medizinische Sprechstunde Fördersprechstunde Hilfsangebote der Sozialarbeiter Umfangreiches Aufgabengebiet Dolmetscher-Tätigkeit Begleitung Notfallhilfe Sozialarbeit und organisatorische Hilfestellung Vernetzung mit anderen Organisationen Materielle Unterstützung Warme Mahlzeiten Finanzielle Unterstützung Weitere Hilfsangebote Fahrdienste für Veranstaltungen Sprachkurse Clubs und Helferkreise Einsatz für religiöse Räume im Krankenhaus Unterhalt eines Israelitischen Seniorenheims Hilfsangebote beim Begräbnis und für die Hinterbliebenen Organisation der Leichenwaschung und der Begräbnisse Unterhalt jüdischer Friedhöfe Betreuung der Hinterbliebenen Hespetrede des Rabbiners
SK2:
Angebote durch Bikkur Cholim-Gruppe für Krankenbesuch Ehrenamtlicher Helferkreis Engagement von Einzelmitgliedern Krankenverein vermittelt Besuche Krankenbesuch durch Kantor Jüdische Hospiz-Gruppe Schwierigkeit, für Krankenbesuch ehrenamtliche Helfer zu gewinnen Krankenbesuch als Suizidprophylaxe Angehörigenbetreuung oft wichtiger als Krankenbesuch
SK3:
Angebot durch Chewra kaddischa Hohe Wertschätzung der Tätigkeit Umfassende Betreuung vom Sterben über Leichenwaschung bis zum Begräbnis In der Regel eigene Institution neben Bikkur Cholim Körperlich anstrengende Tätigkeit Stellung des Schomer (Leichenwache) Betreuung des Schiwa-Sitzens Ehrenamtliche Organisation Tätigkeit in der Chewra Kaddischa wird manchmal verschwiegen
Abbildung 14: Hauptkategorie „Angebote der Gemeinden“ mit Subkategorien
89
90
4 Auswertung
SK4: SK4.1.
Angebote der Rabbiner Positionen der Rabbiner zum Krankenbesuch Rabbiner 1 (liberal) ist sehr zurückhaltend mit Besuchen Rabbiner 1 (liberal) kommt nur nach ausdrücklicher Anfrage Rabbiner 1 (liberal) will Hoffnung vermitteln Rabbiner 1 (liberal) will keine Märchen erzählen Rabbiner 2 (liberal) sieht Kranken- und Sterbebegleitung als seine Aufgabe Rabbiner 2 (liberal) betont Bedeutung des gesungenen Gebets Rabbiner 3 (konservativ) plädiert für behutsamen Umgang mit Krankenbesuch Rabbiner 3 (konservativ) ist gegen religiöse Vereinnahmung Rabbiner 3 (konservativ) hält Angehörigenbetreuung für besonders wichtig Rabbiner 4 (konservativ) rät zur Vorsicht mit religiösen Themen Rabbiner 4 (konservativ) sieht Patienten und seine Bedürfnisse im Zentrum Rabbiner 5 (orthodox) rechnet Krankenbesuch zu seinen Hauptaufgaben Rabbiner 5 (orthodox) sieht Hoffnung-Geben als Aufgabe Rabbiner 5 (orthodox) plädiert für kurze Besuchszeit Rabbiner 6 (ultra-orthodox) besucht nur Gemeindemitglieder Rabbiner 6 (ultra-orthodox) will Hoffnung vermitteln Rabbiner 6 (ultra-orthodox) wendet sich insbesondere an vermeintliche Atheisten Rabbiner 7 (ultra-orthodox) lehnt Begriff Sterbebegleitung ab und befürwortet Krankenbesuch Rabbiner 7 (ultra-orthodox) sucht Bekehrung gemeindeferner Juden Rabbiner 7 (ultra-orthodox) hält Gespräch über Wiedergeburt für wichtig Rabbiner 8 (Chabad-Lubawitsch) will Hoffnung vermitteln und hilft beim Gebet SK4.2. Weitere Angebote durch die Rabbiner Synagogengottesdienst als Kommunikationsplattform für kranke Gemeindemitglieder Krankenhausgottesdienste wegen fehlenden Minjans nicht möglich Begräbnis und Hespet (Leichenrede) Unterstützung beim Schiwa-Sitzen
SK5: SK5.1.
Angebote zur Fortbildung Interne Mitarbeiterfortbildung Fortbildungsangebote der Zentralwohlfahrtsstelle Schulungen in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen Ausbildung jüdischer Hospizhelfer Hausinterne Fortbildungen in jüdischem Altenheim SK5.2. Fortbildung und Beratung bei Partnerorganisationen Beteiligung bei Pflegeausbildungen und in Palliativmedizin Unterricht in Fachhochschulen Engagement in klinischem Ethik-Komitee Beratung von Altenheimen und Krankenhäusern
Abbildung 14: Hauptkategorie „Angebote der Gemeinden“ mit Subkategorien (fortgeführt)
4.2.1 Gemeindeleitung und Sozialabteilung In den Interviews finden sich zu den Angeboten durch Gemeindeleitung und Sozialabteilung Aussagen zu den Organisationsstrukturen und Zuständigkeiten in den Gemeinden (4.2.1.1), zu den konkreten Hilfsangeboten, die Sozialarbeiter im
4.2 Angebote der Gemeinden
91
Einzelnen für erkrankte Gemeindemitglieder erbringen (4.2.1.2), zu den Angeboten der materiellen Unterstützung (4.2.1.3), zu weiteren Hilfsangeboten (4.2.1.4) sowie zu den Hilfsangeboten beim Begräbnis und für die Hinterbliebenen (4.2.1.5).
4.2.1.1 Organisationsstrukturen und Zuständigkeiten Die bayerischen jüdischen Gemeinden sind sehr individuell geprägt, so dass die Organisationsstruktur sehr unterschiedlich aussieht und oft über keine klar definierte Leitungsebene verfügt. Ein Gemeindemitarbeiter findet das bedauerlich: „Eine durchorganisierte Struktur gibt es nicht, leider. Das sind Initiativen, die da von Einzelpersonen kommen, die zum Teil auch miteinander vernetzt sind, aber es gibt bislang keinen Überbau, der das Ganze leitet.“ (108)
In den kleineren Gemeinden liegen die Verwaltungsaufgaben ehrenamtlich in den Händen des Gemeindevorstands und des Gemeindevorsitzenden. Der Gemeindevorsitzende übernimmt die „übergeordnete Arbeit“ (109) und stammt in fast allen Gemeinden aus der kleinen Gruppe der schon vor 1991 in Deutschland lebenden Juden (Beobachtung des Verfassers aus den Fieldnotes). Damit ergibt sich das Problem, dass aus sprachlichen Gründen eine direkte Kommunikation zwischen Gemeindevorsitzendem und Gemeindemitgliedern häufig nicht möglich ist (110) und ähnlich auch zwischen Rabbiner und Gemeindemitgliedern (111, 112). Dem Gemeindevorsitzenden zur Seite gestellt sind meist zwei (in den Großstadtgemeinden auch mehr) staatlich bezahlte Sozialarbeiter, die zur Gruppe der GUS-Einwanderer gehören. Sie bilden in vielen Gemeinden die „Sozialabteilung“ bzw. das „Sozialkomitee“ (113; 114; 115; 116; 117; ohne explizite Bezeichnung auch 118, 119, 120). Das Gemeindebüro stellt vor allem in den kleineren Gemeinden die zentrale Anlaufstelle für die Mitglieder dar: „Die […] Menschen wissen, dass sie hier Unterstützung und Hilfe bekommen.“ (121; vgl.122) Häufig arbeiten auch die Gemeindevorsitzenden und die Sozialarbeiter bei der Büroorganisation mit und sind hier während der Öffnungszeiten für die Mitglieder zu erreichen. Von hier aus können spezielle Anfragen weitervermittelt werden. So geht etwa die Anfrage nach einem Rabbinerbesuch zunächst an das Gemeindebüro; diese Bitte wird dann an den Rabbiner weitergeleitet. (123; 124; 125; 126) In einer Gemeinde gibt es ein spezielles „Betreuungsbüro für Zuwanderer“ (127) mit einer medizinischen Sprechstunde, besetzt mit einem Arzt und einem Sozialarbeiter. Hier geht es in erster Linie darum, den Mitgliedern bei der richtigen Einnahme ihrer Medikamente zu helfen: „Als wir erkannt haben, dass […] es eine
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4 Auswertung
Geldverschwendung ist, wenn die Leute Medikamente bekommen, die sie dann nicht nehmen, haben wir diese Sprechstunde eingerichtet, um den Leuten zu helfen, mit den Medikamenten und mit diesen Rezepten klar zu kommen.“ (128) Vor der Beratung durch die Gemeinde haben manche Patienten sich oft „auch Medikamente aus Russland schicken lassen […] und haben dann lieber diese altbekannten, zum Teil abgelaufenen Medikamente genommen, weil sie Angst hatten, hier etwas zu nehmen, was vielleicht nicht dem entspricht.“ (129) Bei orthodoxen Patienten ist außerdem eine Beratung wichtig, welche Tabletten mit welchen Inhaltsstoffen religionsrechtlich unbedenklich eingenommen werden können und nicht gegen Kashrut-Bestimmungen verstoßen. (130) Ein ähnliches Angebot einer ehrenamtlich durch einen Arzt betreuten Fördersprechstunde ist auch in einer anderen Gemeinde fest eingerichtet (131), und in zwei weiteren Gemeinden sind die Gemeindevorsitzenden selbst Ärzte und können diese Aufgabe übernehmen. Auch in einer Zweigstelle der oben erwähnten Gemeinde kümmert sich eine Betreuungskraft vor allem um die Begleitung der älteren Gemeindemitglieder zu den Arztbesuchen, um bei der sprachlichen Verständigung zu helfen. (132) Einen gemeindeübergreifenden Sozialdienst, vergleichbar mit Caritas oder Diakonie, gibt es im jüdischen Bereich dagegen nicht. (133)
4.2.1.2 Hilfsangebote der Sozialarbeiter Das Aufgabenfeld der Sozialarbeiter ist sehr umfangreich, wie ein Interviewpartner betont: als Begleitperson zu Arztbesuchen mitgehen, Sterbende begleiten, den Angehörigen Unterstützung anbieten. „So wurde von unseren Betreuern wirklich alles übernommen, sowohl die Seelsorge wie auch das Medizinische, […] das Psychologische, alles wurde von unseren Betreuern praktisch abgedeckt. Denn unser Rabbiner […] konnte den Leuten diese Unterstützung nicht geben ohne einen Dolmetscher.“ (134) Zu den Haupttätigkeitsfeldern der Sozialarbeiter gehören das Dolmetschen, die Begleitung der Patienten, die Hilfe in Notfällen sowie Aufgaben der Sozialen Arbeit und Organisation.
4.2.1.2.1 Dolmetscher-Tätigkeit Besonders im medizinischen Bereich ist das Hilfsangebot des Dolmetschens durch zweisprachige Gemeindemitarbeiter sehr wichtig. So berichtet ein Gemeindevorsitzender:
4.2 Angebote der Gemeinden
93
„Gerade die älteren Gemeindemitglieder, die jetzt die Erkrankungshäufigkeit trifft, sprechen ja immer noch relativ schlecht Deutsch und die sind einfach auf eine Übersetzung angewiesen; die das machen, sind im großen Rahmen unsere Sozialarbeiterinnen, also der Krankenhausbesuch wird dann mehr von der Gemeinde oder von einigen Mitgliedern organisiert, aber auch durch unsere Sozialarbeiterinnen.“ (135)
Ein Gemeindevorsitzender, der selbst kein Russisch spricht, behilft sich notfalls im Krankenhaus bei der Betreuung älterer russischsprachiger Patienten auch mit Jiddisch, welches dann die Sprachschwierigkeiten zumindest teilweise überbrücken kann. (136; so auch 137) Die Sozialarbeiter begleiten kranke Gemeindemitglieder kostenlos in die Arztpraxis, um zu dolmetschen – „weil ein privater Dolmetscher kostet 10 € pro Stunde“, was sich die Mitglieder nicht leisten können (138; vgl.139; 140)
4.2.1.2.2 Begleitung Eng verbunden mit der Tätigkeit des Dolmetschens ist die Aufgabe der Begleitung der Kranken. So werden die Sozialarbeiter etwa im Fall einer Krankenhauseinweisung aktiv: „Ein großer Teil von unserer Arbeit, das muss ich ehrlich sagen, sind nicht nur Sterbende oder besonders schwer Kranke, sondern einfach Menschen, die ins Krankenhaus müssen zu einer therapeutischen oder operativen Maßnahme. Dann stehen wir zur Verfügung. Wir erledigen die ganze Sache mit den ärztlichen Terminen in der Praxis, wir erledigen die Termine mit den Narkoseärzten, füllen alle Papiere aus, wir gehen gemeinsam zur Aufnahme und erledigen alle anfallenden Fragen beim medizinischem Personal: Wie? Wo? Wer? und das alles.“ (141)
Die Sozialarbeiter kommen auch während des Aufenthaltes ins Krankenhaus, etwa, wenn sich ein russischsprachiger Patient im Krankenhaus wegen der sprachlichen Isolation einsam fühlt und um „seelische Unterstützung“ bittet (142) oder wenn er sprachlich nicht versteht, was mit ihm geschieht, etwa, wenn er nach einem längeren Krankenhausaufenthalt ins Altenheim verlegt werden soll. (143; ähnlich auch in anderer Gemeinde:144) Ein Sozialarbeiter schätzt, dass er 85 Prozent seiner Arbeitszeit für die Begleitung von Patienten zu Terminen in Arztpraxen oder im Krankenhaus verwendet. (145) Zusätzlich machen sie bei Krebspatienten auch Hausbesuche (146), unternehmen kleine Spaziergänge (147,148), versuchen, „einfach im täglichen Leben zu helfen“ (149). „Manchmal reicht es für Menschen allein, dass wir kommen, einfach rein menschlich sprechen, kommunizieren.“ (150) Und auch nach einem Todesfall sind es in einer Gemeinde die Sozialarbeiter, die dann die Angehörigenbetreuung übernehmen. (151)
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4 Auswertung
4.2.1.2.3 Notfallhilfe Um im Notfall schnell helfen zu können, haben die Sozialarbeiter in mehreren Gemeinden jeweils spezielle Handynummern eingerichtet, über die sie auch nachts und am Wochenende vom örtlichen Krankenhaus erreicht werden können, um Beistand zu leisten. (152; ebenso 153)
4.2.1.2.4 Sozialarbeit und Organisation Nach einem Krankenhausaufenthalt helfen die Sozialarbeiter den Patienten organisatorisch bei Rehabilitationsmaßnahmen (154; 155) oder in der Kontaktaufnahme mit der Krankenkasse, mit der Pflegekasse, mit den Sanitätshäusern, mit dem Sozialdienst, mit der Caritas. (156) Außerdem begleiten die Sozialarbeiter die Mitglieder auch zum Sozialamt und zu anderen Behörden, um etwa beim Ausfüllen der Formulare zu helfen (157), oder auch zur Ausländerbehörde und zu den Stadtwerken (158). Etwa 15 % seiner Arbeitszeit investiert ein Sozialarbeiters in die Vernetzung mit anderen Organisationen – ein Angebot, das indirekt ebenfalls den kranken Gemeindemitgliedern zugutekommt: „Ich gehe zur AWO-Sitzung, zum Rathaus […], zu verschiedenen Seminaren, Thema Demenz zum Beispiel oder Seniorenbetreuung oder Sozialbetreuung.“ (159)
4.2.1.3 Materielle Unterstützung Auch die materielle Unterstützung der kranken Gemeindemitglieder ist wichtig, etwa durch das Angebot eines warmen Mittagessens in der Gemeinde. (160; 161; 162) Die Armut unter den Mitgliedern ist sehr groß. Mehrfach wurde von Interviewpartnern, allerdings bei ausgeschaltetem Aufnahmegerät und unter Zusicherung völliger Anonymität, erklärt, dass viele Mitglieder zwar vom deutschen Staat Sozialhilfe erhalten, dieses Geld aber zum großen Teil in ihre Herkunftsländer überweisen, um dort Kinder und Enkel zu unterstützen (Fieldnotes des Verfassers). Daraus folge, dass höherwertige Lebensmittel für viele Gemeindemitglieder nicht bezahlbar seien. In einer Gemeinde gibt es einen Fond für die besonders bedürftigen Mitglieder: „Sollten irgendwelche Bedürfnisse anstehen, dass irgendwelche Mittel anstehen, die nicht bezuschusst sind, sollen sie zur Gemeinde kommen. Wir haben hier einen kleinen Topf, den wir gerne für solche [Zwecke verwenden] … Wir haben zum Beispiel schon Diabetikerstrumpfhosen bezahlt, die nicht [übernommen wurden], oder jemand hat etwas bekommen für Betteinlagen oder so. Da kommen die dann mit den Rechnungen, die nicht von der Krankenkasse übernommen werden, und wir bezahlen hier … […] Immer wieder haben wir solche Fälle, wo wir dann
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bis zu 40 € im Monat zuzahlen, aber die müssen allerdings entweder wirklich schwer krank sein oder über 80. Das sind unsere internen Vorschriften, und entscheiden tu ich es dann ad hoc, wenn ich es für nötig empfinde. Da habe ich vom Vorstand volle Deckung, dass ich das entscheiden kann, und ich meine, 40 € sind jetzt nicht die Welt, aber für diese Leute ist es sehr viel Unterstützung. Natürlich brauche ich eine Rechnung, also ich kann nicht einfach sagen: ‚Du kriegst jetzt 40 €, mach dir einen schönen Lenz!‘, sondern ich brauche Rechnungen. Entweder sind das Lebensmittel, Obst- oder Vitaminsäfte, irgend so etwas. Solche Dinge werden von uns immer unterstützt.“ (163)
4.2.1.4 Weitere Hilfsangebote Eine weitere Leistung zur Integration für kranke, gehbehinderte und ältere Menschen ist die Organisation von Fahrdiensten zur Gemeinde und zum Gottesdienst, teilweise in Zusammenarbeit mit einem Minibusunternehmen (164) oder per Taxi (165, 166; 167; 168; vgl. 169), ebenso zu kulturellen oder gesellschaftlichen Anlässen: „Es gibt so einen Club Samowar, da kommen die Leute hin oder wir bringen Sie dahin oder zu einem Konzert oder zu einer Veranstaltung. So versuchen wir die Leute nicht allein zuhause zu lassen.“ (170)
Auch Sprachkurse sind ein wichtiges Angebot für die Alten und Kranken in der Gemeinde: „Die Leute kamen hierher, vor allem die älteren Leute, die schon alt und krank waren, und konnten keinen Sprachkurs mehr besuchen […]. Wir haben für diese Leute, denen amtlicherseits kein Sprachkurs mehr zustand, einen Seniorensprachkurs eingerichtet.“ (171)
In vielen Gemeinden gibt es weitere Einrichtungen, die ebenfalls Aufgaben der Krankenbetreuung übernehmen: so etwa ein informeller „Club für behinderte, einzelne Menschen“ (172), der Frauenverein (173), der allgemeine Besuchsdienst und der Seniorenclub (174 und 175), die Besuchsgruppe für Geburtstagsjubiläen (176). Auch die religiöse Abteilung in der Gemeinde kann, etwa durch Besuch oder Literatur, zur „seelischen Unterstützung“ der Patienten beitragen (177). Eine Gemeinde hat sogenannte Stadtteilbeauftragte eingerichtet, die über eine Liste der in ihrem Viertel lebenden Gemeindemitglieder den Kontakt pflegen und so ohne Umwege die Information über kranke und betreuungsbedürftige Mitglieder bekommen. (178) So kann etwa für jemanden, der sich den Arm gebrochen hat, Hilfe beim Einkaufen organisiert werden. (179) Der Einsatz der Gemeinden führt auch zu Angeboten außerhalb ihrer eigenen direkten Zuständigkeit, wie etwa zu einem interreligiösen Raum der Stille im
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Eingangsbereich der Palliativstation des örtlichen Krankenhauses (180). Ein Gemeindemitarbeiter erklärt die Idee: „Der Raum der Stille ist für die drei monotheistischen Religionen eingerichtet, ein dreieckiger Raum, in den von allen drei Seiten auf die eine oder andere Weise Licht einfällt. Wenn man sich jetzt zum Beispiel der jüdischen Wand zuwendet, steht da Schma Jisrael, und dann sieht man nicht das Kreuz an der anderen Seite oder arabische Schriftzeichen… […] Da sind also mehrere Religionen in einem Raum… Hier sind wirklich die Angehörigen der Sterbenden und der Schwerstkranken, und das sollte man schon als etwas Universalistisches sehen: Das sind alles Menschen. […] Wer in diesem Haus verstorben ist, wird hier in diesen Büchern geführt, und man kann dann auch den speziellen Namen nachschlagen von seinem Angehörigen und kann speziell gedenken. Das dient auch fürs Jahrzeitgedenken, was man natürlich auch in der Synagoge machen kann. Aber Leute, die jetzt weniger religiös sind, die weniger zum Gottesdienst gehen, könnten zum Beispiel hierher kommen, wenn sie jetzt nicht sowieso draußen auf den Friedhof gehen. Das ist hier aber nochmals eine ganz andere Atmosphäre, eine sehr, sehr tröstliche Atmosphäre. Stille heißt nicht, dass das ein verlassener Raum ist, sondern das ist ein sehr spiritueller Raum.“ (181; vgl. 182)
In einer anderen Gemeinde haben sich die Mitarbeiter dafür eingesetzt, dass es im Krankenhaus einen religionsneutralen Abschiedsraum gibt, der auch für die Angehörigen jüdischer Patienten geeignet ist. (183) In einer Stadt gibt es, in enger Zusammenarbeit mit der Gemeinde, ein eigenes Israelitisches Seniorenheim: „Wir sind eine Institution und eine Einrichtung mit 54 Bewohnern, von denen 70 Prozent Schwerstpflege sind, sprich: Pflegestufe 3. Davon, würde ich sagen, von diesen 70 Prozent sind noch mal 20 Prozent Menschen, die eigentlich fast in ein Hospiz gehören. Auf der einen Seite in ein Hospiz, auf der anderen Seite in eine gerontopsychiatrische, geschützte Einrichtung gehören. […] Wir sind die einzige jüdische Einrichtung in Bayern, die nur jüdische Bewohner pflegt und begleitet. Und ich denke: Dadurch haben wir einen sehr, sehr hohen Erfahrungswert und nehmen auch Bewohner auf, die woanders nicht mehr in ein klassisches Seniorenheim, Pflegeheim gehen, sondern gleich ins Hospiz.“ (184)
Der Mitarbeiter erklärt die Individualität in der Betreuung als besonderes Ziel seiner Einrichtung: „Also, wir versuchen auch biografisch jemanden nach seinen Bedürfnissen zu pflegen, nicht nur nach den medizinischen, sondern auch seinen biografischen Anforderungen, was notwendig ist, und da gibt es relativ große Individualität.“ (185)
Mit „biographischen Anforderungen“ sind insbesondere auch Traumatisierungen infolge des Holocaust gemeint (siehe dazu ausführlich unten, S. 145 ff). Die Pflege in seinem Haus sieht der Mitarbeiter als ein Konzept von Spiritual Care:
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„Ja, ich denke, alles, was hier diesem Haus stattfindet, ist gut organisiert, ist im Sinne des Menschen, der da liegt und seinen letzten Weg geht. Im Sinne von Spiritual Care, dass wir diesen Menschen auch spirituell begleiten, und wenn es, also ganz lapidar gesagt, eine Öllampe mit Pfefferminzöl ist, damit da noch ein bisschen guter Geruch ist, oder wenn jemand beruhigende Musik haben mag und wir wissen, das ist wichtig, dann geschieht hier das alles …“ (186)
4.2.1.5 Hilfsangebote beim Begräbnis und für die Hinterbliebenen Eine Besonderheit der jüdischen Gemeinden ist, dass sie sich über den Tod der Mitglieder hinaus auch um die Organisation des Begräbnisses kümmern (vgl. auch unten zur Chewra kaddischa, S. 102 ff): „Die Gemeinde schaltet sich dann auch ein, wenn es zum Todeszeitpunkt kommt, damit die ganze Gemeinde dabei ist, um die Familie zu begleiten.“ (187) Es gibt teilweise sogar in den Gemeinden ein eigenes Bestattungsamt (188), welches die Abholung und Überführung des Leichnams organisiert. In allen Gemeinden gibt es einen eigenen jüdischen Friedhof, teilweise mit eigenen Kühlräumen und einer Tahara-Halle (189) für die rituelle Waschung des Leichnams durch die Chewra kaddischa. Wenn die örtliche Gemeinde personell überfordert ist (etwa bei Abwesenheit des Rabbiners), kommt es hier auch zu gegenseitiger Hilfestellung unter den Gemeinden. (190) Ein Interviewpartner beschreibt das Zusammenwirken der verschiedenen innerhalb der Gemeinde beteiligten Personen und Einrichtungen: „Wer zuerst in der Gemeinde von einem Todesfall erfährt, verständigt Herrn XY. Der Herr XY, unser Sozialdezernent, informiert seinerseits unverzüglich den Vorstand, und dann nimmt der Vorstand Kontakt mit dem Bestatter auf. Der Rabbiner wird verständigt, und, Hand in Hand, arbeitet die Chewra kaddischa. Nach dem Begräbnis gibt es, wenn die Leute es wünschen, für die Hinterbliebenen eine Betreuung durch den Rabbiner.“ (191)
In einer Gemeinde übernimmt der Vorsitzende bei russischsprachigen Mitgliedern die gesamte Organisation: „Also ich rufe dann in den Stellen an, sprich Leichenhaus, den Sarg bestellen, wegen den Ausgrabungen, im Standesamt… Ich ruf dann immer an und sage: ‚Die Familie Soundso hat mich gebeten, in ihrem Namen aufgrund der Sprachschwierigkeiten tätig zu werden. Der Angehörige Sowieso ist jetzt verstorben und wegen der Rechnungsstellung, der Ansprechpartner ist der und der.‘ Also ich gebe da immer ganz genau Auskunft, dann gibt’s hinterher keine Probleme. […] Wir arbeiten da sehr gut mit den Behörden zusammen. Die Behörden sind auch immer froh, wenn sie das mit uns auf Deutsch regeln, weil′s dann keine Sprachschwierigkeiten gibt usw., und auch die Ärzte.“ (192)
Dabei muss die Gemeinde aufpassen, nicht selbst zum zahlungspflichtigen Auftraggeber des Begräbnisses zu werden – was in der Vergangenheit bereits vorgekommen ist. (193)
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Für eine andere Gemeinde beschreibt ein Mitarbeiter, wie die Gemeinde die Bestattung von der Benachrichtigung des Beerdigungsinstituts über die Leichenwaschung bis hin zur Sargbekleidung organisiert. „Der Todesfall wird eigentlich unmittelbar an die Sozialarbeiter gemeldet, vom Krankenhaus oder von den Angehörigen. Dann wird das Bestattungsinstitut benachrichtigt, einfach um zu sondieren, wann schnellstmöglich die Bestattung [möglich ist]. Innerhalb von 24 Stunden haben wir das noch nie geschafft, aber doch mal in 48 Stunden. Das regelt das Bestattungsinstitut, mit dem wir zusammenarbeiten, – es ist ein einziges, nicht frei wählbar, sondern es ist vorgegeben […]. Die wissen dann auch, wie der Sarg auszusehen hat […] Das ist sehr gut eingespielt. […] Dann wird das meistens dem Vorstand mitgeteilt, auch relativ unmittelbar, dann überlegt man, welcher Rabbiner ist vorhanden: Ist unserer da, müssen wir uns um einen anderen kümmern? Das mache dann teilweise ich, das macht der Sozialarbeiter, je nachdem, wer gerade die Vakanzen hat, dass man sich drum kümmert. […] Die Chewra kaddischa kümmert sich eigentlich nur um die Tahara. Also so eine richtige Betreuung, dass die sich um die Angehörigen kümmern, das findet eigentlich nicht statt. Das ist wirklich eine rein physische Tahara, die die machen, und die Betreuung der Angehörigen ist eigentlich wieder mehr Part von den Sozialarbeiterinnen. Oder auch interfamiliär, die sind ja sehr vernetzt untereinander, die russischsprachigen Mitglieder, wohnen auch sehr kompakt zusammen, und letztendlich kümmern die sich dann schon um einander. Also das geht ganz gut, ohne dass wir da viel organisieren müssten, ganz natürlich passiert das einfach aufgrund der räumlichen und sprachlichen Nähe. Das ist in groben Zügen der Vorgang. Die Chewra kaddischa gibt es für Frauen und für Männer, es ist immer Sargbekleidung da, Tachrichim [Totenhemden] haben wir immer vorhanden. Ja, darum kümmert sich die Gemeinde, und die Beerdigung findet dann auf unserem Friedhof statt …“ (194)
Die Frage nach der Organisation des eigenen Begräbnisses ist oft ein Anliegen, das die Sterbenden gegenüber den Gemeindemitarbeitern selbst ansprechen: „Also wenn unsere Betreuer auf einen Krankenbesuch gehen oder wenn jemand dann im Sterben liegt, dann, so banal sich das anhört, fragen die Leute: ‚Auf welchem Friedhof werde ich denn beerdigt?‘ […] Wir erklären dann: ‚Du hast Familie, wir haben auf dem [Jüdischen] Friedhof genügend Plätze, du wirst einmal mit deiner Familie beerdigt sein.‘ Und das beruhigt die Leute. […] Also ich brauche mir keine Gedanken machen, ich kann in Frieden sterben, weil der Grabplatz ist mir sicher und auch, dass mein Ehepartner im selben [Grab liegen kann].“ (195)
Wobei sich die Frage des gemeinsamen Begräbnisses bei den russischen Einwanderern oft zum Problem entwickeln kann, wenn einer der Partner vom Rabbiner nicht als halachisch jüdisch anerkannt ist (vgl. unten S. 130 ff). Besonders wichtig ist die Organisation des Begräbnisses durch die Gemeinde, wenn es keine Angehörigen gibt, die das tun könnten (196; 197). Die Gemeinden kümmern sich auch um Überführungen, etwa, wenn ein Gemeindemitglied im Urlaub in Italien verstorben ist und in Bayern auf dem jüdischen Friedhof begraben werden soll (198) oder auch wenn ein hier gestorbenes Gemeindemitglied den Wunsch geäußert hat, in Israel bestattet zu werden (199; vgl. 200). Auch ein
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jüdisches Altersheim kümmert sich in ähnlicher Weise um die eigenen Verstorbenen: „Bei uns endet es eigentlich nicht hier im Hause, sondern wir begleiten unsere Verstorbenen dann auf ihrem letzten Weg.“ (201) Einen großen Betreuungsbedarf haben in einem Todesfall die Angehörigen: „Die Angehörigen sind mit zwei Ängsten konfrontiert: erstens mit dem Tod des Angehörigen und zweitens mit den finanziellen Sorgen, die dann auf sie zukommen. Und wir scheuen uns nicht, den Angehörigen gleich zu sagen: ‚Habt keine Angst, wenn der Sterbefall eingetreten ist, wir helfen euch bis zu einer würdigen Beerdigung und helfen euch auch dann, das Finanzielle zu regeln.‘ Dann nehmen wir ihnen schon einen Stein vom Herzen, denn, wenn ich wenig habe – und die Zuwanderer haben wenig – dann ist nicht nur das Leben und Sterben, sondern das Überleben Hauptanliegen. Und wir in der Gemeinde wissen, dass das in den Köpfen umgeht und reagieren dann so, dass wir sagen: ‚Macht euch keine Sorgen, wir helfen euch bei allen diesen Punkten.‘ Und das ist das wichtigste. Darum sind unsere Betreuungskräfte in dem Fall genauso wichtig wie der Rabbiner.“ (202)
Die Begräbnisfeier selbst findet am offenen Grab statt und wird in der Regel vom Rabbiner geleitet. Es wird das Kaddisch gebetet und es spricht der Rabbiner – stellvertretend für die Angehörigen – Hespet (die Leichenrede) als persönliche Worte des Abschieds (vgl. S. 99).
4.2.2 Bikkur Cholim-Gruppe und Krankenbesuch Für den Krankenbesuch wünscht sich ein Gemeindevorsitzender geschulte Mitarbeiter, sieht aber in seiner Gemeinde keine Möglichkeit, das zu realisieren: „Also mir wäre es schon wichtig, dass ein geschulter Mensch oder auch unser rabbinisch geschulter Mensch sich da ein bisschen drum kümmern würde, ja, das wäre mein Wunsch, aber das ist nicht realisierbar jetzt unter diesen Bedingungen.“ (203)
In vielen Gemeinden hat sich eine Bikkur-Cholim-Gruppe (KrankenbesuchsGruppe) organisiert als ein Kreis ehrenamtlicher Helfer, wie zum Beispiel dieser Gemeindemitarbeiter berichtet: „Wir haben also so eine Gruppe von Ehrenamtlichen, das sind, glaube ich, zehn Personen […], und das hat schon immer in der Gemeinde stattgefunden, dass diese Ehrenamtlichen dann Kranke oder alte Menschen regelmäßig besucht haben, ob im Krankenhaus oder im Pflegeheim oder daheim …“ (204)
Ganz ähnlich die Erfahrungen in einer anderen Gemeinde:
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„Das ist ein relativ fester Kreis, und das ist interessant, manche sagen es [öffentlich] auch gar nicht, dass sie das machen. Die sagen: Das mach ich, und das ist meine Freude, das zu machen, das ist meine Verantwortung.“ (205)
In einer anderen Gemeinde wird der Krankenbesuch ohne feste Struktur durch ein einzelnes Gemeindemitglied organisiert: „Einen Bikkur Cholim haben wir nicht, als Organisation. Also, es hat keiner einen Kurs gemacht. Das hat sich auch nicht organisiert, praktisch etabliert, wie es in manchen Gemeinden ist. Es gibt ein Mitglied, der kümmert sich ein bisschen um die Organisation, der dann sagt: ‚Wir gehen mal dahin.‘ oder: ‚Geh du mal dahin!‘ Das funktioniert so intern und inoffiziell eigentlich ganz gut, und eben durch die Sozialarbeiterinnen.“ (206)
Eine solche informelle Situation findet sich auch in einer anderen Gemeinde: „Vieles machen wir alleine, zwei, drei Leute vom Vorstand und der Rabbiner […]. Aber wenn notwendig, finden wir Leute, uns dabei zu helfen, ein paar Leute, die aktiv sind, die gerne mithelfen.“ (207; ähnlich 208)
In einer kleineren Gemeinde funktioniert die Krankenbetreuung durch die Mitglieder selbst: „Weil wir eine kleine Gemeinde sind, [wissen wir,] welche Leute mit welchen befreundet sind. Da machen wir sozusagen einen Kreis, dass jemand vorbeikommt, dass jemand [den Kranken] im Klinikum besucht oder zuhause und einfach die Leute mit Ansprache versorgt, ein Buch vorliest oder vorbeibringt. So versuchen wir sozusagen irgendwie die letzten Minuten, die letzte Tage, die letzte Monate [gut zu gestalten].“ (209)
In einer weiteren Gemeinde gibt es keine Bikkur-Cholim-Gruppe, dafür aber einen Krankenverein, der Besuche bei Gemeindemitgliedern im Krankenhaus vermittelt (210). Und wieder in einer anderen Gemeinde übernimmt die Organisation der Krankenbesuche der Chazan (Kantor), der auch den Wochenendbesuchsdienst übernimmt (211; 212). Der zeitliche Einsatz der Ehrenamtlichen umfasst oft eine sehr hohe Stundenzahl. Ein ehrenamtlich im Besuchsdienst tätiger pensionierter Arzt betreut zum Beispiel während einer Woche drei schwerkranke Heimbewohner, davon einen Fall mit Suizidgefährdung und schwerer Demenz, außerdem zwei Patienten in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie und zwei weitere Patienten im örtlichen Krankenhaus. (213) In einer Gemeinde wurde die Erfahrung gemacht, dass eine Bikkur-CholimGruppe allein die Aufgabe der Krankenbetreuung nicht bewältigen kann. Es wurde daher eine eigene Hospiz-Gruppe gegründet, deren ehrenamtliche Mitglieder eine Ausbildung bei einem anderen großen Träger erhalten haben (vgl. dazu S. 121).
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In manchen Gemeinden gelingt es nicht, genügend Ehrenamtliche für den Krankenbesuch zu finden (z. B. 214). Ein Rabbiner versucht, das damit zu erklären, dass die Einwanderer ehrenamtliches Engagement in der ehemaligen Sowjetunion nicht gelernt haben: „Es war vor kurzem ein Versuch gestartet worden mit einem Appell an die Gemeindemitglieder, sich für diesen Liebesdienst, der äußerst wichtig im Judentum ist, zu melden. Die Initiative ging von einem Mitglied der Gemeinde aus, mit meiner Unterstützung, und da haben sich so drei, vier Leutchen gemeldet, die schon unter den Initiatoren waren, aber von der Gemeinde selbst war eine sehr lautstarke Ruhe. […] Im Moment ruht das noch bei mir oder eben bei interessierten Leuten, die aus ihrem inneren Kreis Leute kennen, die krank sind, also aus ihrem Verwandten-, Bekanntenkreis, die hingehen würden, weil sie wissen, da ist einer sehr krank. Die würden mir das aber nicht einmal melden, es sei denn, dass ein besonderer Wunsch ausgedrückt wird: wir wollen einen Rabbiner sehen.“ (215)
Die Aufgabe des Krankenbesuchs wird in einer Gemeinde, wo es keine Ehrenamtlichen gibt, vom Gemeindevorsitzenden selbst übernommen in Zusammenarbeit mit dem Rabbiner und Sozialarbeiter (216). Hier sondiert der Sozialarbeiter den Besuchsbedarf von Gemeindemitgliedern im Krankenhaus. Die Besuche übernimmt der Gemeindevorsitzende, den bei rein russischsprachigen Patienten der Sozialarbeiter als Übersetzer begleitet. (217; 218) In einer Gemeinde ist die Ehefrau des Rabbiners in der Kranken- und Seniorenbetreuung aktiv: „Sie ist auch in der Pflege tätig. Und wenn jemand im Sterben liegt, dann begleitet sie ihn spirituell.“ (219) Auch ein jüdischer Arzt am Krankenhaus übernimmt in seiner Mittagspause Krankenbesuche. (220) Außerhalb der etablierten jüdischen Gemeinden kümmert sich auch die chassidische Gruppe Chabad-Lubawitsch um den Krankenbesuch. Hier gibt es ein kleines Team um den Chabad-Rabbiner, welches auf Anfrage Krankenbesuche und Sterbebegleitung anbietet. (221; 222) Ein Mitarbeiter beschreibt, was er bei einem Krankenbesuch macht: „Wenn eine einsame Person im Klinikum ist, dann kommen wir. Ich war so bei einer Frau, ich habe vorgelesen. Was kann man machen? Sie lag einfach so, ich hab auch gebetet sozusagen für sie, ich hab so ein Buch, das heißt Tehillim, das ist so eine Sammlung von Psalmen.“ (223) Ein jüdischer Arzt sieht den Krankenbesuch vor allem als eine Maßnahme gegen Depression und zur Suizidprophylaxe: „Ja, man muss von einem Menschen, wie es sich gehört, anhören, was es bei ihm für Belange gibt, und, wenn man in der Lage ist, ihn durch freundliche Gesten, durch die Gabe von Kleinigkeiten dazu führen, dass er optimistischer wird und die Krankheit akzeptiert. Wenn er sie akzeptiert hat, dann muss, dann kann man ein bisschen weiter gehen. Sie wissen ja, wenn jemand krank ist, ist er auch depressiv. Und diese Depression ist eine große Gefahr. Wir haben
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aber es bis jetzt so weit gebracht, Gott sei Dank, toitoi [klopft auf den Tisch], dass wir Verluste in diesem Sinne, dass sie sich umgebracht haben, hier nicht gehabt haben.“ (224) (vgl. zur erhöhten Suizidalität der Immigranten: S. 23 und S. 100 ff)
Ein Mitarbeiter einer anderen Gemeinde betont, dass es beim Krankenbesuch oftmals wichtiger ist, mit den Angehörigen zu sprechen als mit dem Patienten selbst, zumal, „da der oft nicht mehr so ganz bei sich ist“ (225).
4.2.3 Angebot Chewra kaddischa Traditionell ist die Chewra kaddischa sowohl für die Betreuung der Schwerkranken wie auch für die Organisation des Begräbnisses und die Betreuung der Hinterbliebenen zuständig (vgl. S. 7). Diese Tätigkeit genießt auch in den Interviews besonders hohes Ansehen als eine gute Tat, für die keine Vergeltung zu erwarten ist: „… und das ist eines der höchsten Gebote, die wir haben, also chesed schel emet, ein Zeichen der Liebenswürdigkeit, das mit der Wahrheit verbunden ist, weil das ein Gefallen ist, den man nicht hoch genug wertschätzen kann.“ (226) Gerade bei den russischen Einwanderern sind hier noch Erinnerungen aus der Welt des Stetl präsent: „Von der Erfahrung im Stetl kennen sie Bikkur cholim und Chewra kaddischa als Einheit. Das ist die Geschichte, wie es war. Im Stetl war die Chewra kaddischa auch zuständig für Bikkur cholim. […] Das ist getrennt heute.“ (227)
Die enge Zusammengehörigkeit dieser Aufgaben wird von den Interviewpartnern prinzipiell immer noch so gesehen: „Bikkur cholim […] und Chewra kaddischa […] machen Trauerbegleitung, und die Hospizarbeit gehört ein bisschen zu Bikkur cholim und andererseits zu Chewra kaddischa, und wir müssen im letzten Abschnitt des Lebens den Mensch begleiten und dabei sein, neben ihm sein […], einfach zuhören und Mitgefühl haben.“ (228; vgl. 229)
Die Hochschätzung der Chewra Kaddischa besteht sogar dann, wenn vor Ort gar keine Chewra kaddischa besteht, wie folgendes Zitat eines Rabbiners belegt, in dessen Gemeinde diese Einrichtung nicht mehr vorhanden ist: „Die Chewra kaddischa betreut nicht nur nach dem Ableben, sondern auch vorher, wenn jemand schon in einer schweren Situation ist. Man betreut ihn, dass er nicht alleine ist und dass man auch die Sterbegebete begleitend mit ihm mitsagt, wenn er interessiert ist und ihn so begleitet in den Tod. Das sind Fachleute, die sich genau auskennen, wie man eine Situation deuten kann und die das im Turnus machen. Es kann sein, dass jemand einige Tage schwer daliegt, und man
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weiß, es sieht aus nach Sterben. Darum sind Leute bei ihm, es wird einfach abgewechselt, dass er nie alleine ist. Und das alles ohne jedes Entgelt. Und alles, was nach der Beerdigung, nach dem Tod zu tun ist, das haben die alles immer gemacht bis zur Beerdigung, bis zur Betreuung der Schiwa, der Trauerzeit, alles.“ (230)
In den meisten Gemeinden hat sich die Aufgabe des Bikkur Cholim (Krankenbesuch) von der Chewra kaddischa gelöst. Es sind in der Regel unterschiedliche Personen, die sich um die beiden Aufgabenkreise kümmern. (231;232) Im Gegensatz zur Vorkriegszeit (vgl. S. 7) ist die Chewra kaddischa nirgends mehr ein eigenständiger Verein, sondern wird vom Gemeindevorstand mitorganisiert (233). Dabei ist es wichtig, möglichst viele Leute zur Mitarbeit zu gewinnen: „[Der Einsatz] kommt natürlich sehr spontan, man plant nie den Tod, und dann muss man einspringen. Deswegen gibt es viele Leute, die auf der Liste sind, weil man mindestens drei oder am besten vier Leute bei einer rituellen Waschung haben muss, und deswegen ist es vernünftig, wenn die Gemeinde eine große Liste hat, von denen man viele Leute zu jedem Augenblick zusammenstellen kann.“ (234)
In den untersuchten bayerischen Gemeinden kümmert sich die Chewra-kaddischa vor allem um das Begräbnis, wobei die rituelle Waschung des Leichnams im Mittelpunkt steht, welche nur von Juden und nicht vom Krankenhauspersonal oder vom Bestattungsinstitut geleistet werden kann. Ein Gemeindevorsitzender erläutert die Aufgaben der von ihm geleiteten Chewra kaddischa von der Bereitstellung der Sargbekleidung (Tachlichim) bis zur Leichenwaschung: „Und das fällt alles unter meinen Aufgabenbereich, dass die Tachlichim-Sachen da sind, dass die nicht ausgehen, dass die Taschen [mit den Utensilien für die Leichenwaschung] gepackt sind. Wir haben jeden Monat mindestens ein bis zwei Sterbefälle […]. Frau XY., also unsere Rabbinersgattin und ich kümmern uns drum. Wir haben Einmalschürzen, wir haben Schwämme, Mundschutz, diese flüssigen Wundsprays, also alles, was halt dazu gehört. […] Wir haben im Keller vor der Mikwe [Ritualbad] einen Raum für die Chewra kaddischa mit einem Regal, und da ist alles drin, die Kerzen, die Schürzen, die Papierrollen, […] die Riesen-ZewaWisch-und-weg anstatt Handtüchern, damit das alles hygienisch ist. […] Man kann dann wirklich alles aus dem Regal nehmen, und ich kontrolliere immer, ob alles da ist, weibliche Tachlichim, männliche Tachlichim, Kerzen … […] Die Tahara [Leichenwaschung] machen wir bei uns im Leichenhaus. […] Auf dem städtischen Friedhof haben wir extra einen Raum für uns, wo wir das mitmachen können.“ (235; vgl. ähnliche Schilderungen der Tätigkeit in 236 und 237)
Es handelt sich um eine Aufgabe, die sowohl seelisch wie körperlich anstrengend ist, wie ein Rabbiner betont: „Also, Chewra kaddischa: ja, die sind verantwortlich, die Leichen vorzubereiten. Das ist natürlich keine einfache Arbeit, sowohl seelisch wie körperlich: Das kann auch schwer sein, man muss in der Lage sein, Leichen zu legen, umzudrehen und so weiter. Das ist eine wichtige Ar-
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beit … […] Hier [in Deutschland] muss jede Gemeinde alles für sich arrangieren und Leute finden, die bereit sind, so eine Arbeit zu machen und zu lernen …“ (238)
Eine weitere Aufgabe der Chewra kaddischa ist es, den Schomer (hebr.: Wächter) zu stellen, damit die Leiche bis zum Begräbnis nie allein gelassen bleibt, wie die Mitarbeiterin eines jüdischen Altenheims erklärt: „Wenn jemand religiös ist, und wir wissen es – die Angehörigen können es äußern oder derjenige selbst noch, dass er Wert darauf legt, dass ein Schomer da ist, dann organisieren wir das auch mit der Chewra kaddischa, dass dann, wenn der Leichnam hier noch im Hause ist, jemand bleibt, auch die Nacht über bleibt. Das hängt oft natürlich von Umständen ab, wann jemand verstirbt. Wenn jemand unglücklicherweise am Schabbes oder kurz vor Schabbesbeginn verstirbt, ist es natürlich sehr viel schwieriger, wenn er dann über den ganzen Schabbat hier ist. Und dann muss ein Schomer hier sein. Das organisieren wir dann mit der Chewra kaddischa.“ (239)
Die Mitglieder der Chewra kaddischa tragen auf dem Friedhof auch den Sarg zum Grab (240). Darin liegt auch der traditionelle Sinn der Chewra kaddischa, wie ein Rabbiner erklärt: „Das ist die Idee von der Chewra kaddischa, dass alles, also die Tahara selbst und das Beerdigen, getan wird von Leuten aus der Gemeinde, also nicht von professionellen, bezahlten Totengräbern, sondern von Leuten, mit denen man im Leben zu tun hatte.“ (241)
Auch die Begleitung der hinterbliebenen Familie sowohl bei organisatorischen Fragen etwa in Bezug auf Grab und Grabrechte (242) und beim traditionellen Schiwa-Sitzen, ist eine Aufgabe der Chewra kaddischa (243,244). Die Chewra kaddischa ist ehrenamtlich organisiert (245). Bei den Frauen engagiert sich etwa die Frau des Rabbiners (246; 247; 248) oder die Mitarbeiterin eines Seniorenheims (249). In einer anderen Gemeinde sind es fast ausschließlich Pfleger, Krankengymnasten und andere Vertreter medizinischer Berufe, die sich hier engagieren. (250; 251) Auch ein Kantor arbeitet bei der Chewra kaddischa mit. (252) Manchmal gelingt es Gemeinden nur, gegen Bezahlung oder Auslagenerstattung Gemeindemitglieder für diese Tätigkeit zu gewinnen (253; 254). In der Gemeinde zögern Mitglieder der Chewra kaddischa, sich auch offiziell so zu benennen, aus Angst, es dann nur noch mit Sterbenden zu tun zu haben. (255) Umgekehrt gibt es in einer Gemeinde aber auch die Erfahrung, wie aus anfänglich bezahlter Tätigkeit sich ehrenamtliches Engagement und ein Stolz auf das eigene Tun entwickeln kann. Ein Rabbiner berichtet: „Eines meiner schönsten Erlebnisse […] war zu sehen, wie diese Leute, die am Anfang das einfach als bezahlten Job gemacht haben, in ihre Aufgaben gewachsen sind und wie sie ein Verständnis dafür erworben haben, also die notwendigen Kenntnisse und ein Feinfühligkeit
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dafür. Und jetzt betrachten sie es, als was es wirklich ist, als eine malechet hakodesch, eine heilige Arbeit. Und das habe ich auch immer versucht, zu ermutigen, dass es in diese Richtung geht. Und das war eine besonders schöne Sache, die ich erlebt habe. Einmal im Jahr, am siebten Tag des jüdischen Monats Adar gibt es für die Chewra kaddischa eine Seuda, eine feierliche Mahlzeit, um den Leuten sozusagen eine Belohnung zu geben, und das bringt auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den Mitgliedern.“ (256)
Zusammenfassend lässt sich das Zusammenwirken der verschiedenen Gemeindeorganisationen bei der Begleitung Sterbender wie in Abb. 15 darstellen:
Abbildung 15: Die Angebote der Gemeinde in ihrem zeitlichen Zusammenwirken Auch wenn es von Gemeinde zu Gemeinde große individuelle Unterschiede gibt, lässt sich das System der Betreuung Schwerkranker und Sterbender in den Gemeinden schematisch so darstellen: Beim Beginn einer schweren Erkrankung stehen Angebote der Sozialen Arbeit und speziell die Beratung und Dolmetschertätigkeit für die Patienten im Vordergrund. Gleichzeitig beginnt dort, wo vorhanden, die Bikkur-Cholim-Gruppe (Krankenbesuchsgruppe) ihre Arbeit. In der Sterbephase kommt die Chewra kaddischa hinzu, welche dann auch über den Tod des Patienten hinaus das Begräbnis organisiert und die Angehörigen betreut. Alle genannten Tätigkeiten können als rein praktische Hilfestellung gesehen werden und gleichzeitig auch als die Erfüllung der jüdischen Religionsrechts (Mizwa).
4.2.4 Angebote der Rabbiner Das Engagement der Rabbiner gegenüber den kranken Gemeindemitgliedern ist sehr unterschiedlich. In manchen Gemeinden ist der Gottesdienst das Hauptangebot des Rabbiners, weil er auswärts wohnt und die Gemeinde nur an den Gottesdienst-Tagen besucht, so dass daneben nur wenig Zeit für andere Aufgaben übrig bleibt. (257; 258; 259) Aber auch dort, wo ein Rabbiner durchgängig einer Gemeinde zur Verfügung steht, fällt die Beteiligung der Rabbiner an den Krankenbesuchen sehr unterschiedlich aus. Oft stehen die Sprachprobleme dem Rabbinerbesuch im Weg. (260) Nur eine Gemeinde in Bayern verfügt über einen Rabbiner, der Russisch spricht und die russischsprachigen Kranken ohne Dolmetscher betreuen kann. (261)
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Unabhängig von der Frage der Sprachprobleme gibt es voneinander sehr abweichende Auffassungen der Rabbiner zum Sinn eines Krankenbesuchs durch ihre eigene Person, die vor allem durch ihre religiöse Ausrichtung innerhalb des Judentums bestimmt sind. Deshalb werden im Folgenden zuerst die Positionen von acht Rabbinern zum Krankenbesuch jeweils einzeln dargestellt, bevor dann die weiteren Angebote durch die Rabbiner in zusammenfassender Darstellung folgen.
4.2.4.1 Positionen der Rabbiner zum Krankenbesuch Rabbiner 1 (liberal) Der liberale Rabbiner erklärt, er sei „sehr zurückhaltend mit Besuchen, wenn sie nicht angefordert werden, weil ich aus Erfahrung gelernt habe, dass solche Besuche kontraproduktiv sein können.“ (262) Er erläutert die Gründe, die gegen seinen Besuch am Bett von Schwerkranken und Sterbenden sprechen: zunächst einmal, „dass zumindest in den moderneren Branchen des Judentums eine Art religiöse Verabschiedung gar nicht existiert“ (263) und „es so etwas wie die katholische letzte Ölung usw. ja bei uns nicht gibt“ (264), sodann, dass er nicht möchte, dass „der Besuch des weitgehend unbekannten Rabbiner, quasi der schwarze Mann, also der Geistliche aus der Gemeinde den Patienten ein wie ein Signal sein [kann]: Jetzt ist wirklich Matthäi am letzten, ja, jetzt bin ich wirklich unterwegs. Wenn der Rabbiner schon kommt, dann habe ich überhaupt keine Chance mehr. Und das möchte ich vermeiden …“ (265). Und zum dritten weist er darauf hin, dass die Majorität seiner Gemeindemitglieder kein Deutsch spricht und er selber kein Russisch, so dass „ein Radebrechen am Bett bestimmt nicht das Passende“ wäre (266). Und zum vierten könnte sein Besuch bei atheistischen Juden eine Abwehrhaltung hervorrufen: „Immer in der jüdischen Gemeinschaft, wenn jemand in der zweiten, dritten, vierten Generation Atheist ist, ja, wirklich überzeugter Atheist ist und für Religion, Judentum gar keine Zeit hat, wenn da jetzt plötzlich am Sterbebett oder am Krankenbett der Rabbiner erscheint, dann könnte das sogar Abwehrelemente mit sich tragen …“ (267)
Wenn kein expliziter Wunsch des Patienten nach seinem persönlichen Besuch vorliegt, erfolgt also kein Besuch. Oder umgekehrt formuliert, er kommt nur auf ausdrückliche Anforderung: „Das heißt, ich persönlich reagiere auf ‚I come on request.’ Ich gehe aber nicht, wenn ich einfach höre: Da ist ein Fall eines erkrankten Menschen, und weder Familie noch er haben den Wunsch geäußert, den Rabbiner zum Bikkur cholim zu sehen. Da gehe ich gar nicht hin.“(268)
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Er persönlich fände es am besten, wenn die Kranken zunächst einmal von Leuten des Bikkur-Cholim-Dienstes besucht würden, die dann berichten könnten, wie die Situation des Kranken aussieht und ob ein Rabbinerbesuch gewünscht wird (269). Wenn sein Besuch dann tatsächlich angefordert wird, dann gilt „sozusagen case law, wenn ein bestimmter Fall zu mir kommt, dann ad hoc beurteilen und handeln“. (270) Tatsächlich kommt es aber nur zu sehr wenig konkreten Anfragen nach seinem Besuch: „Wir hören des Öfteren schon, dass Leute krank sind, besonders die, sagen wir, 10 – 15 %, die etwas aktiver am Gemeindeleben teilnehmen, aber auch dort wird nach spirituellem Beistand fast nie, aber sagen wir mal, in äußerster Seltenheit gefragt, so dass […] da wenig Erfahrungswerte da sind.“ (271)
Wenn der Rabbiner zu der Entscheidung gekommen ist, dass er einen Krankenbesuch befürwortet, liegt sein Hauptanliegen darin, dem Kranken Hoffnung zu vermitteln, ohne ihn zu belügen oder ihn mit irgendwelchen vorgefassten religiösen Vorstellungen zu bedrängen. Sein Angebot dem Kranken gegenüber kann dann so aussehen: „Das hängt immer davon ab, was man vorfindet. Ich gehe da ohne Vorurteile hin und ohne einen Plan … Denn das Problem liegt natürlich darin, auf die Stimmung des Patienten einzugehen. Aber grundsätzlich, ungeachtet seines Zustandes, ist meine Pflicht, ihn aufzumuntern, ja, ihm, wenn möglich, einen Funken Hoffnung zu vermitteln, auch wenn ich selber der Überzeugung bin, dass dem so nicht ist. Ich würde auch versuchen, ihm nicht irgendetwas zu suggerieren, was der Realität nicht entspricht, also eher [sagen]: Man weiß ja nie und es gibt immer eine Möglichkeit und so weiter. Die Hauptsache ist, dass der Kranke von Schmerz verschont bleibt. Ich versuche so natürlich wie möglich zu sein, kein langes Gesicht zu machen. Natürlich bin ich vorbereitet auf Fragen nach dem Leben nach dem Tod, wie es weitergeht nach dem Tod usw. Fragen, die sehr, sehr selten sind. Ich kann es verstehen, das ist ja, was Menschen beschäftigt. Und da bin ich natürlich dann in argen Schwierigkeiten. Denn eins bin ich nicht bereit, irgendwelche Bollemeisses [sic!] zu erzählen, irgendwelche Märchen, nicht, da erwartet Sie unser Paradies usw. Sondern würde ich sagen: Also die Logik des Lebens und des Universums und der Schöpfung zeigt uns, dass ein Leben nicht ohne Sinn sein kann. Demgemäß ist zu erwarten, dass auch in einer anderen Dimension eine Fortsetzung zu erwarten ist. Es ist noch niemand zurückgekommen, man kann nichts genau sagen. Also dieser Drahtseilakt, die Hoffnung nicht zu verneinen, zu sagen: Ne Schluss, Aus, Punkt! Ja, und wo ich auch nicht überzeugt bin, dass das der Fall ist. Auf der anderen Seite kein Bild zu malen, nicht: Da erwartet Jesus [sic!] Sie mit offenen Armen, ja … – das ist natürlich äußerst schwierig, wenn man weiß, was der Mensch eigentlich hören will und was man verantwortungsbewusst sagen kann. Also es ist diese Gratwanderung des Optimismus, des Positiven auch und eben auf das Jenseits bezogen, ohne Informationen zu geben, zu denen man nicht stehen kann.“ (272)
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Wichtig ist ihm vor allem „ein Eingehen auf den Patienten, je nach dem, was er braucht oder was er fragt, und wenn nicht, dann ein vom Rabbiner ausgehendes Gespräch im Sinne des Zuspruchs“ (273). Ein religiöses Angebot macht der Rabbiner nur auf ausdrückliche Anfrage: „Wenn ein Patient wirklich selber meint, dass [er] irgendwie ein Gebet [braucht], da muss der Rabbiner dafür ein passendes Gebet finden oder er findet selbst Worte, Gebetsworte, am Gebetsbett (sic!), die auf den Patienten eingehen, vielleicht ein Psalm oder aus der Liturgie oder aus modernen Büchern oder er benutzt sein Fantasievermögen, ein Gebet zu sprechen.“ (274)
Die Vorstellung der Tradition, dass ein Jude mit den Worten „Schma Jisrael“ sterben sollte, hält er für reine Theorie, die in der Praxis kaum vorkommt. (275) Rabbiner 2 (liberal) Der liberale Rabbiner sieht es ausdrücklich als seine Aufgabe an, die Schwerkranken zu besuchen (276) und bis zum Tod zu begleiten (277). Für ihn geht es darum, „dass man selber die Anwesenheit anbieten kann und sich darauf einstellen muss, dass nichts darüber hinaus kommen muss. Das bedeutet, dass manche Leute nichts Religiöses haben möchten, auch wenn sie sich die Anwesenheit des Rabbiners wünschen. Und deswegen, und so sind wir auch ausgebildet worden, man muss immer fragen am Ende des Besuchs: Wollen Sie, dass ich ein Gebet spreche? Und in diesem Fall hat es der Patient damals abgelehnt, aber gleichzeitig gewünscht, dass ich dabei bin, dass ich dabei bleibe.“ (278) Von seiner Ausbildung her verfügt der Rabbiner über weitere Angebote, so das Vorsingen von Psalmen : „Es gibt auch ein Manual, das wir an der rabbinischen Schule bekommen haben, aber es ist auf Englisch-Hebräisch geschrieben, und manchmal passen die vorgegebenen Texte nicht zu meinem Gefühl. Ich habe aber immer wieder versucht, Texte davon zu verwenden. Natürlich es ist immer gut, einige Psalmen zu nehmen, die sich auf die Situation beziehen […]. Ich habe auch einmal, als es sich um eine englischsprachige Person handelte, das englische Mischeberach von Debbie Friedman genommen und habe gesehen, dass die Melodie wirklich hilft. Ich biete auch an, die Hand während des Gebetes zu halten. Das haben auch viele Leute angenommen. Das war […] auch rückwirkend für mich ein ganz riesiger Eindruck, den ich von diesen Besuchen nach Hause mitgekommen habe und der mich dann auch später geprägt hat. Also deswegen, einige Psalmen, einige Gebete, […] Mischeberach oder auch andere, die nichts mit der Heilung zu tun haben, aber mit der Vergangenheit des Patienten etwas zu tun haben. Ein bekanntes Chanukkah- oder ein Pessach-Lied ist dann für die Person wichtiger, als wenn man einen Psalm vorsingt.“ (279)
Das gesungene Gebet ist ihm besonders wichtig:
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„Es ist ein großer Unterschied, wenn man ein Gebet sagt oder ein Gebet vorsingt oder wenn man eine Verknüpfung zu einer bekannten Melodie macht. Oft ist die Verbindung oder Verknüpfung zu einer Tradition, die die Person in der Vergangenheit hatte, wichtiger als das Gebet selbst oder als die Worte, und es ist immer die Suche nach einem Impuls, den ich dann der kranken Person anbieten kann.“ (280)
Schwierig ist es beim Besuch eines Sterbenden vor allem, die Frage des Begräbnisses zu besprechen und hier zwischen Patienten, Krankenhaus und Familie den richtigen Ansprechpartner zu finden: „Wenn jemand im Krankenhaus ist und schwer krank, hat nicht jeder den Mut, gleich von den letzten Dingen zu sprechen. Dann ist es natürlich schwierig, dem Hospital etwas in die Hand zu geben hinter dem Rücken der Familie. Aber zum Glück war die Familie in meisten Fällen darauf schon vorbereitet, wenn sie sich die Präsenz […] des Rabbiners gewünscht haben, so dass man auch bereit war, von den letzten Dinge zu sprechen.“ (281)
Rabbiner 3 (konservativ) Der konservative Rabbiner plädiert für einen behutsamen Umgang mit religiösen Angeboten beim Krankenbesuch: „Es gibt ja verschiedene Arten, sein Judentum zu leben. Und ich denke, man sollte demjenigen, der jetzt krank ist oder sterbend, nichts überstülpen [nach dem Motto]: ‚So, nun wollen wir mal Psalmen beten …‘ oder: ‚So, nun wollen wir mal das Kaddisch zusammen beten …‘ Sondern:Was möchte er denn? Also herausfinden, wie steht der Patient dazu, möchte der jetzt Bußpsalmen beten oder möchte der jetzt Widui sagen oder möchte der einfach nur, dass jemand da ist und freundlich mit ihm spricht. Er würde sich, ich will nicht sagen vergewaltigt, aber doch irgendwie falsch verstanden fühlen, wenn man jetzt da hosiannahmäßig kommt. Es ist oft schwer herauszufinden, was der Patient will, weil ich nicht alle von den Leuten kenne.“ (282)
Gegen eine vorschnelle Vereinnahmung des Patienten mit religiösen Angeboten hilft, den Patienten direkt zu fragen: „Zum Beispiel, indem man sagt: ‚Ja, wie ist es denn, möchten Sie, dass wir zusammen etwas beten?‘ Dann merkt man schon die Reaktion. Es kann [natürlich auch] sein, dass einer gar nichts mehr sagt. Dann würde ich für mich beten, aber so, dass er auch mithören kann. Wenn ich aber merken würde, derjenige wird jetzt abwehrend, dann würde ich es nicht machen. Ahm, viele sind aber schon so, dass sie sagen: ‚Ja, ich möchte das jetzt machen.‘ oder: ‚Ich weiß nicht, ich habe nie [hebräisch] zu beten gelernt. Wenn Sie es sprechen, bin ich sozusagen im Geiste dabei.‘ Auch das ist möglich.“ (283)
Oft wird der Rabbiner aber erst zu einem Zeitpunkt ans Krankenbett gerufen, wo der Patient selber nicht mehr ansprechbar ist: „[In diesem Fall] gehe ich zu ihm,
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schaue, was man tun kann: vielleicht sich einfach mal neben ihn hinsetzen und gar nichts machen.“ (284) Beim Besuch eines Sterbenden sind es vor allem die Angehörigen, um die sich der Rabbiner kümmert: „Wenn jemand wirklich im Sterben liegt […], können wir uns eigentlich nur noch um diejenigen kümmern, die außen herumstehen. Denn der Sterbende selber, der ist schon weit weg. Es sind die Angehörigen, mit denen man dann spricht, die man in den Arm nimmt, die man auch mal tröstet, indem man sagt: ‚Was möchten Sie denn jetzt? Wie stehen Sie dazu?‘ Ich mache dann auch eigene Angebote, aber vorsichtig. Also keineswegs so: ‚Das machen wir jetzt einfach, weil sich das so gehört!‘ Sondern, erst einmal innehalten und fragen: ‚Was möchten Sie denn …?‘ Und dann merkt man es schon. Ich denke, dann kann ich das schon einschätzen, was die Leute eigentlich haben möchten.“ (285)
Ein mögliches Angebot für die Angehörigen kann es sein, „ein bisschen zusammenzusitzen, ein bisschen zu beten und so… [Das heißt,] weniger beten, mehr die Hand halten und da sein.“ (286) Rabbiner 4 (konservativ) Auch der zweite interviewte konservative Rabbiner legt Wert darauf, mit religiösen Themen beim Krankenbesuch vorsichtig zu sein: „Also gut, ich versuche gar nicht zu erzwingen, ob ein Mensch ein Gebet haben will oder nicht. Das ist natürlich eine offene Frage. Ein Mischeberach kann ich immer sprechen. Wenn es so weit [zum Sterben] kommt, kann man noch etwas beten, wenn man will, aber das ist nicht die Hauptsache, das ist kein Gottesdienst. Es kann helfen, es gibt Leute, die besänftigt oder die getröstet werden, wenn man bei ihnen oder um sie herum betet, und es gibt andere Leute, denen das völlig egal ist. Da muss man aufmerksam sein, und man kann das anbieten. Man muss auch ein bisschen vorsichtig sein und [darf] nicht sagen: ‚Gut, möchten Sie vielleicht, dass ich ein Gebet als Vorbereitung für den Tod sage?‘“ (287)
Von sich aus bietet er kein Gebet an: „Ich versuche gar nicht den Menschen zu forcieren, ob der ein Gebet haben will oder nicht.“ (288) Im Mittelpunkt stehen für ihn beim Krankenbesuch der Patient und seine Bedürfnisse: „Also, das wichtigste: es geht um den Patienten und nicht um den Besucher. Und es hängt davon ab, in welchem Zustand er ist, in welchem körperlichen Zustand, in welchen seelischen Zustand, ob er bereit ist, Besuch zu empfangen und für wie lang. Man soll nicht zu lang da sein, und man sollte ihm nicht […] sagen: ‚Ach, du Armer, du wirst jetzt sterben!‘ und so etwas. Also, die Idee ist, irgendwie zu trösten oder am besten einfach für ihn da zu sein. Ich glaube, ganz im Allgemeinen, das Beste, was ein Seelsorger tun kann in allen Angelegenheiten, ist einfach da zu sein. Und es hängt nicht davon ab, was man sagt. Manchmal braucht man eigentlich sehr wenig oder sogar nichts zu sagen, nur da zu sein und zu hören, auf den Patienten zu reagieren, also
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indem man versucht, in ein Gespräch zu kommen. Man steht dort nicht dumm herum … Aber man muss immer ein bisschen Aufmerksamkeit üben und sehen: Was ist jetzt dieser Situation angemessen? [Daneben gibt es auch] feste Regelungen, was vielleicht nicht zu tun ist: Man kommt nicht also herein und setzt sich auf das Bett des Patienten und klopft ihm kräftig auf die Schulter [lacht] und so weiter… Also ein bisschen Vernunft muss man auch haben. Aber das Wichtige ist, für ihn da zu sein.“ (289)
Rabbiner 5 (orthodox) Ein orthodoxer Rabbiner sieht es als „eine seiner Hauptaufgaben an, Menschen während der Meilensteine des Lebenszyklus zu begleiten. Und das bedeutet auch Krankenbesuch und Sterbebegleitung, sowie Beerdigungen, Trauerzeit und so weiter.“ (290). Es muss aber nicht unbedingt der Rabbiner sein, der sich um den Krankenbesuch kümmert. „Dass es jemanden gibt, der die Zeit und die Energie aufbringt, ihn [den Kranken] zu besuchen, das ist, würde ich sagen, die Hauptsache.“ (291) Ein Mitarbeiter in einer Bikkur-Cholim-Gruppe (ebenso wie in der Chewra kaddischa) sollte folgende Voraussetzungen mitbringen: „… also, nicht unbedingt in der Ordnung der Prioritäten, aber erstens: gute organisatorische Fähigkeiten, gute people skills, also mit Menschen zu tun zu haben, Feinfühligkeit und [dazu] ein inneres Bedürfnis, anderen Menschen zu helfen.“ (292) Der Rabbiner beobachtet, dass ihm gegenüber „viele Familien, viele einzelne ihre Krankheiten oder ihre Krankenhausbesuche verheimlichen wollen“. (293) Er selbst sieht zwei mögliche Erklärungen: „Also, es könnte mit der Privatsphäre zu tun haben, es könnte auch mit einem bisschen Aberglaube zu tun haben. […] Es gibt Leute, die denken: Also wenn der Rabbiner kommt, dann kommt die Chewra kaddischa gleich danach.“ (294; ebenso 295; vgl. zum „Aberglauben“ auch oben Rabbiner 1) Die besondere Sorge um den Schutz der Privatsphäre sieht er insbesondere bei Holocaust-Überlebenden und Menschen der Second Generation. (296) Wichtigste Tätigkeit beim Krankenbesuch ist es zu prüfen, „ob man irgendwie trösten oder Hoffnung geben kann“ (297) und zu helfen, die Angst vor dem Tod wegzunehmen, wenn die Kranken es „schwer haben, sich von dieser Welt zu verabschieden“(298). Dazu gehört vor allem ganz praktische Hilfe, wenn es etwa noch ungelöste Probleme oder Streitereien mit Familienangehörigen gibt, „zu beruhigen, zu besänftigen und zu überzeugen“ (299). Oder zu sagen, „besonders bei älteren Menschen, die niemanden mehr hier haben: Du wirst bald wieder vereint mit deinen Eltern oder mit deiner Frau oder mit deinem Mann.“ (300) Explizit religiöse Angebote am Krankenbett erwähnt dieser Rabbiner nicht; er meint dazu nur: „Es ist mir nicht oft vorgekommen, dass jemand zusammen beten wollte.“(301)
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Zur inhaltlichen Gestaltung des Krankenbesuches plädiert der Rabbiner für die Beschränkung auf einen kurzen Besuch, bei dem vor allem die Nachfrage, was der Patient benötigt, im Mittelpunkt steht: „Es gibt eine Jeschiwa, eine Talmudhochschule in Israel, die in der Zwischenzeit eine große Organisation ist, sie heißt Aish, und sie haben auf ihrer Website ein Video ⁴, wie man einen Krankenbesuch nicht gestalten soll. Es ist sehr amüsant, aber es macht uns aufmerksam, was für Fehler wir manchmal machen, wenn wir jemanden kranken besuchen. Der Besuch sollte, außer wenn es anders gewünscht wird, kurz sein. Einfach zu fragen: ‚Wie geht es dir?‘, ist nicht unbedingt die richtige Frage. Man sollte versuchen, dem Kranken die Möglichkeit zu geben, so zu reden, wie er will, und wenn nicht, ihm einfach alles Gute wünschen […]. Ja, und einfach zu fragen, ob die Person etwas braucht oder wie man weiter behilflich sein kann. Und auch wenn man es nicht kann – und in den meisten Fällen kann man es nicht –, bewirkt es ein gutes Gefühl seitens des Patienten, dass es jemanden gibt, der dabei ist, der ihn besucht hat. Man kann auch selbstverständlich fragen: ‚Wie lange denken Sie, dass Sie da sein werden? Und wünschen Sie einen weiteren Besuch‘? Aber, also generell, nicht zu lang.“ (302)
Rabbiner 6 (ultra-orthodox) Der ultra-orthodoxe Rabbiner wendet sich mit seinem Angebot nur an Gemeindemitglieder: Denn „die, die [als sie gesund waren] kein Mitglied waren, die sind auch nicht interessiert an jüdischer Begleitung“ (303). „Aber wenn jemand nicht interessiert ist, dann ist sowieso Hopfen und Malz verloren.“(304) Bei den Gemeindemitgliedern richtet sich sein Angebot dem Kranken gegenüber nach dessen Wünschen: „Wer das wünscht, bei dem sind wir dabei und wir werden ihn unterstützen bis nach seinem Ableben, dass er all das bekommt, was er wünscht. […] Jeder nach dem, was er wünscht. Wir können jedem voll mitgeben oder weniger, je nachdem, was er wirklich wünscht, nicht mehr.“ (305)
Einen guten Krankenbesuch definiert er vor allem als die Vermeidung von Belästigung: „Ein guter Bikkur cholim sieht so aus, dass man den Kranken besucht und ihm nicht zur Last fällt, unter keinen Umständen, und jedes Ding, das ihn belästigt, von ihm wegnimmt, dass keine Last auf ihm liegt. Dann, wenn er kann, dass er irgendwas tut mit eigener Kraft, ist das positiv, dann ist der Kranke in einer besseren Situation.“ (306)
Kramer, Chananya: Sicko. How not to perform the mitzvah of visiting the sick. URL: http://www. aish.com/j/mm/Sicko.html (abgerufen am 10. 2. 2014)
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Inhaltlich ist für das Gespräch wichtig, dass man die Hoffnung des Kranken stärkt, sogar in hoffnungslosen Situationen: „Man darf einem Kranken nie sagen, wie schwer er krank ist. Man muss versuchen, Hoffnung einzuflößen, auch wenn man weiß, dass es hoffnungslos ist. Wenn er in einer Situation ist, wo er genau weiß, um was es geht, dann kann man ihm Stärke geben für den zukünftigen Übergang, aber wir dürfen nie einem Kranken etwas erzählen […], dass er eine ausweglose Situation hat. Das darf man ihm nicht sagen. Im Gegenteil, ihn stärken.“ (307)
Das heißt aber nicht, dass es erlaubt wäre, den Patienten über seinen Zustand zu belügen: „[Wir müssen] den Kranken als ernst zu nehmende Person nehmen. Ihm ein O für ein U vorzumachen, das ist falsch. Man muss sehr vorsichtig sein, ich würde einem Kranken nicht alles erzählen. Wenn ich sehe, das könnte ihm schaden oder stören usw. […], da muss ich nicht alles erzählen, aber dort, wo ich das Gefühl habe, ich kann noch etwas hinzufügen, kann ich ihm helfen, mit der Wahrheit, aber ohne falschen Tatsachen vorzuleugnen.“ (308)
Über Religion spricht er mit einem Kranken, „wenn er interessiert ist und je nachdem, wo er sich [religiös] befindet. Es gibt Leute, die wollen nichts hören, und es gibt Leute, die wollen hören. Oft gibt es Leute, die in dieser bestimmten Situation Gott näher kommen. [So rufen] die meisten Atheisten, wenn sie im Krankenbett liegen: ‚Lieber Gott, hilf mir!‘“ (309) Gerade die Atheisten beschäftigen ihn besonders: „Das ist das Problem von einem Großteil von denen, die meinen, sie sind Atheisten. Es sind gar keine. Sie spielen sich’s vor, und ich werde ihnen auch sagen, warum. […] Sie versuchen, unverpflichtet zu bleiben, sie möchten sich eine Verpflichtung sparen. Ich hab schon oft Leute gehabt, die haben mir schwere Fragen gefragt, schwere theologische Fragen [über das] Judentum. Und habe ich dann gesagt, ich kann Ihnen die Antwort geben. ‚Nein, ich brauche keine Antwort.‘ Wissen Sie, warum? Wenn er die Antwort bekommen hätte und ein denkender Mensch ist: dann wäre er auf dem falschen Weg. […] Und diesen Leuten zu helfen, ist sehr schwer. Oft habe ich das erlebt, dass die Leute einfach nichts wissen wollen, weil sie so genannte Atheisten sein wollen oder an die Natur glauben […].“ (310)
Rabbiner 7 (ultra-orthodox) Der ultra-orthodoxe Rabbiner lehnt den Begriff Sterbebegleitung grundsätzlich ab: „Sterben kann man nicht begleiten. Derjenige, der stirbt, hat seinen Weg selber zu gehen, und er wird schon begleitet von einer höherer Stelle.“ (311) Krankenbesuche befürwortet er dagegen sehr, und zwar auch bei religionsfernen jüdischen Patienten und auch dann, wenn er nicht angefordert wurde: „Da gibt′s einen kleinen Konflikt: Wenn ich einen Menschen besuche, der mit dem Glauben nichts zu tun hat, schämt sich der manchmal und sagt, er wolle den Rabbiner nicht belasten.
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Und […] ich gehe trotzdem hin, auch wenn er nicht das nicht will, weil ich weiß, wie sehr das erleichtert.“ (312)
Denn er sieht es als „wichtige Säulen im Judentum, Kranke zu besuchen, und es spielt keine Rolle, ob einer im Sterben liegt oder nicht“. (313) Deshalb legt er in seiner Gemeinde großen Wert auf den Besuchsdienst: „Ich verlange, und ich tue das selbst auch, dass jeder kranke Mensch mindestens einmal Besuch in seiner Krankenzeit bekommt und auch danach – entweder zuhause, im schlimmsten Fall im Krankenhaus.“ (314) Sein Besuchsangebot beschreibt der Rabbiner als eine Bemühung um die „Bekehrung“ gemeindeferner Juden, bei der auch der „Atheist“ auf dem Sterbebett wieder Gebetsriemen und Gebetsschal anlegt: „Wenn jemand krank liegt und man kann das sehen, […] man kann das riechen, dass es seine letzten Tage sind, und ich weiß ganz genau, dass derjenige das auch weiß, dann stellt sich die Frage:Wie kann man solchen Menschen helfen? Da braucht man kein Studium zu haben, um ihn zu belehren: […]: ‚Egal, was du gemacht hast, jetzt kannst du noch etwas korrigieren, bevor du davongehst.‘ Und dann machen die alle mit, auch Leute, die vorher überhaupt keine Tefillin [Gebetsriemen] legen wollten oder sagten: ‚Ich bin nicht gläubig.‘ Aber in diesem Moment, genau in diesem Moment, da sagt jeder: ‚O.k. gib mir mal schnell Tefillin [Gebetsriemen] und Zizit [Schaufäden am Gebetsmantel], Gebetsschal.’ Man merkt, dass der Mensch irgendwas braucht, was ihm Hoffnung gibt. Und ich versuche immer, ihm diese Kleinigkeit oder vielleicht auch Großigkeit zu geben. Zuletzt war ich bei einem Menschen, wir wussten ganz genau wie er selber, dass er vielleicht noch eine Woche lebt, nicht länger. Und ich war bei ihm drei Tage, bevor er starb. Ich habe gesagt: ‚Jetzt komm, machen wir eine Bekehrung! Du sollst dein Judentum erkennen.’ Denn der hatte mir immer gesagt: ‚Ich bin Atheist und nicht gläubig.’ Er war öfter hier, er kam auch zur Synagoge und war mit dabei, und trotzdem hatte er gesagt: ‚Ich bin Atheist.’ Und ich hab gesagt: ‚Hä, du bist ein großer Gläubiger. Aber du weißt das noch nicht.’ Das war, bevor diese Krankheit aufgetreten ist. Er wusste noch nicht, dass er so krank ist. Ein paar Wochen später, nach diesen Gesprächen in der Synagoge, war er plötzlich krank. Ich habe gesagt: ‚Komm, komm zur Thora.’ Er sagt: ‚Nein, ich glaube nicht. Ich bin kein Gläubiger.’ An diesem Abend, wo ich dann [beim Sterben] bei ihm war, hat er gesagt: ‚Ich glaube an den einen, einzigen Gott.’ Und mit diesen Worten ist er aus dieser Welt gegangen. [Zuletzt] hat er [noch] oft Tefillin gelegt, und ich war froh, dass er das noch geschafft, weil ich ganz genau weiß, was sonst passiert.“ (315)
Im Hintergrund steht bei diesem Rabbiner die chassidische Vorstellung von der Seelenwanderung: Wer bestimmte Aufgaben in diesem Leben nicht meistert, kann in einem nächsten Leben als Hund oder Stein wiedergeboren werden (316). Dadurch wird die theologische Aufklärung des Patienten durch den Rabbiner zu einer Pflicht: „… Man sollte [das Thema der Wiedergeburt] direkt ansprechen, genauso, wie man über die Vorbereitung für einen Urlaub spricht. [Sterben] ist auch eine Art von Reise, und darüber muss man gründlich sprechen, weil wir alle früher
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oder später mit den Tatsachen konfrontieren werden.“ (317). Der Problematik seines Ansatzes ist er sich durchaus bewusst: „Ja, wie kann man den Menschen den Glauben beibringen? Eine philosophisch-ethische Frage … Es ist schwer. […] Kann man das erzwingen? […] Ich hab keine Antwort.“ (318) Es gibt Gespräche, bei denen er offen über den Tod spricht und die er selbst als hilfreich für die Kranken erlebt: „Ich spreche ganz offen über dieses Thema, dass der Tod auch dazu gehört. Wir kommen in diese Welt und wir gehen aus dieser Welt, und es ist auch gut so, und wir können das noch nicht ändern. Und warum nicht darüber sprechen? Das gehört dazu. Und ich sehe hier, wenn ich ab und zu über den Tod spreche, zucken manche Leute zusammen, aber langsam, langsam kommen sie im Gespräch an, und sagen am Schluss dann: Weißt du, ich fühl mich viel besser. Das ist die Erfahrung.“ (319)
Dieser Rabbiner besucht auch Nichtjuden im Krankenhaus, wenn sie etwas mit der Gemeinde zu tun haben bzw. den Mitgliedern der Gemeinde etwa durch ehrenamtliches Engagement geholfen haben – das sieht er als seine „Pflicht als Mensch“. (320) Rabbiner 8 (Chabad-Lubawitsch) Neben den Gemeinden bietet auch die chassidische Chabad-Organisation, die in Bayern in München und Nürnberg vertreten ist, Krankenbesuche durch eigene Rabbiner an. Hier sind es in der Regel die Familien der Kranken, die den Besuch des Rabbiners anfordern. (321) Der Chabad-Rabbiner hat vor allem als Ziel, Hoffnung zu vermitteln: „Das ist die erste Sache: Der Mensch muss Hoffnung haben, dass er gesund wird. Auch wenn er um seine Situation weiß, und er versteht, wie krank er ist. Der Mensch muss, soll, muss, soll immer Hoffnung haben, hoffen, dass er doch gesund werden wird.“ (322; vgl. 323)
Er erklärt die Wichtigkeit des Besuchs nach einem Talmud-Wort: „Es gibt ein Sprichwort im Talmud: Ein Gefangener kann sich nicht selber aus dem Gefängnis hinaushelfen. Er braucht Hilfe von draußen. Gefangene gibt es nicht nur im Gefängnis, auch ein Kranker kann ein Gefangener sein. Ein Mensch befindet sich in schweren Problemen, in einer Situation, in der er sich selber nicht helfen kann. Was braucht er dann? Ich glaube, wenn ich komme, soll er etwas Mut bekommen. Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren, auch wenn es sehr kritisch ist. […] Das ist die erste Sache, auf die ich achte: Wenn ich mit hängenden Gesichtszügen komme und traurig, dann wirke ich so auch auf die anderen. Und wenn ich mit ein bisschen positiver Einstellung komme, dann wird hoffentlich davon ein bisschen auch an den anderen hinübergehen.“ (324)
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Dabei plädiert er für ein sehr behutsames Eingehen auf die psychische Situation des Patienten. Insbesondere bei Holocaust-Überlebenden warnt er davor, vorschnelle Antworten auf die Sinnfrage zu geben. Stattdessen verweist er auf die Aufgabe, das eigene Judentum und die eigene Lebenserfahrung weiterzugeben: „Es gibt keine Antwort auf diese Fragen [warum ein Mensch den Holocaust überlebt hat und warum nicht]. Und ich glaube, jeder, der versucht, eine Antwort zu geben auf diese Frage, sagt etwas Falsches. Es gibt sie nicht. Ich versuche, den Menschen zu sagen: ‚[…] Tatsache ist, du bist geblieben. Du bist derjenige, der von deiner Familie übrig geblieben ist. Du kannst etwas weitergeben. Die Vergangenheit ist nicht wichtig. Warum, kann ich nicht sagen, aber so wie du geblieben bist, ist es deine Aufgabe: die Sache, die damals versucht wurde, zu vernichten, sollst du weitergeben. Das ist deine Pflicht.’“ (325)
Er bietet den Kranken ein gemeinsames Gebet an: „Das [musst] du wissen: Beten ist eine offene Tür, du hast immer die Chance zu beten, und […] ich kann dir helfen zu beten. Das ist die Sache, die ich machen kann.“ (326) Er hilft beim Legen der Tefillin, der Gebetsriemen (327). Als Gebete nutzt er vor allem die Tehillim (Psalmen); wenn ein Mensch kein Hebräisch kann, dann spricht er die Worte vor, und der Patient sagt sie nach (328). Das Beten des Widui und des Schma Jisrael, des traditionell auf dem Sterbebett gesprochenen Sündenbekenntnisses und des Sterbegebetes, hält er für problematisch: Er möchte Hoffnung geben – und das Sprechen des Widui wäre das genaue Gegenteil. Deshalb spricht er diese Gebete manchmal leise anstelle des Kranken, wenn dieser es nicht hören kann (329). Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Angeboten der Rabbiner Ein wichtiger Aspekt, welchen die Mehrheit der Rabbiner ansprechen, ist es, dem Kranken Hoffnung geben zu wollen (Rabbiner 1, 5, 6, 7, 8). Auffällig ist, dass in diesem Punkt die unterschiedliche religiöse Ausrichtung der Rabbiner keine Unterschiede zeigt. Zur Vermittlung von Hoffnung gehört auch, sehr vorsichtig mit Krankheitsprognosen zu sein und insbesondere das zu erwartende Sterben nicht von sich aus anzusprechen (Rabbiner 1, 5, 6, 8). Einige Rabbiner sind daher von sich aus mit Besuchen am Krankenbett sehr zurückhaltend oder kommen sogar nur auf ausdrückliches Verlagen (Rabbiner 1); andere dagegen sehen den Krankenbesuch und die Begleitung von Sterbenden ausdrücklich als ihre Aufgabe an (Rabbiner 2, 5), ein weiterer Rabbiner legt seinen Fokus vor allem auf die Betreuung der Angehörigen und Hinterbliebenen (Rabbiner 3). Ein Besuch des Rabbiners ist zu vermeiden, wenn er vom Kranken als Vorbote des Todes gesehen werden könnte (Rabbiner 1 und 5).
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Für den Krankenbesuch raten die meisten Rabbiner dazu, vorsichtig herauszufinden, worin die eigenen Bedürfnisse der Kranken bestehen und behutsam auf diese Wünsche einzugehen (Rabbiner 1, 3, 4, 5, 6). Die Mehrheit der Rabbiner spricht religiöse Themen von sich aus nicht an. Die meisten Rabbiner machen auch von sich aus kein Angebot zum gemeinsamen Gebet (Rabbiner 1, 4, 6) oder fragen vor einem solchen Angebot ausdrücklich nach dem Wunsch des Patienten, ob er denn beten will (Rabbiner 2, 3). Ausnahme sind die beiden ultra-orthodoxen Rabbiner (Rabbiner 7 und 8), von denen einer die Sterbestunde als Chance zur Bekehrung sieht und aktiv zu Gebet und Reue einlädt (Rabbiner 7). Der letztgenannte ist auch in seiner Besuchspraxis abweichend: er besucht von sich aus nicht nur Gemeindemitglieder, sondern auch Nichtjuden im Krankenhaus, da er den Besuch als in Bezug auf jeden Kranken geltende religiöse Pflicht sieht.
4.2.4.2 Weitere Angebote durch die Rabbiner Wie oben aufgezeigt (S. 78), ist der synagogale Gottesdienst ein wichtiges Angebot des Rabbiners speziell für die kranken Gemeindemitglieder – zum einen, weil es hier für sie auch während des Gottesdienstes eine Möglichkeit gibt, ihr Kommunikationsbedürfnis zu befriedigen (330), zum anderen weil beim MischeberachGebet die Namen von Kranken öffentlich zum Segen genannt werden können (vgl. S. 86). In manchen Gemeinden ist der Gottesdienst das Hauptangebot des Rabbiners, weil er auswärts wohnt und die Gemeinde nur an den Gottesdienst-Tagen besucht, so dass daneben nur wenig Zeit für andere Aufgaben übrig bleibt (331). Die theoretische Möglichkeit, neben Krankenbesuchen auch Gottesdienste im Krankenhaus anzubieten, scheitert in der Regel, da es nicht genügend jüdische Patienten für einen Minjan (Mindestzahl an Juden für ein Gemeinschaftsgebet) gibt (332). In einer Stadt würde der Rabbiner zwar gern Gottesdienste in der christlichen Krankenhauskapelle anbieten, die über eine Schiebetür verfügt, mit der man den Altarraum abtrennen kann (und dadurch die christlichen Symbole ausblenden, die den Raum für jüdischen Gottesdienst ungeeignet machen würden) (333). Jedoch wird das Angebot von den Gemeindemitgliedern nicht angenommen: „Unsere kommen nicht, [aus Angst], dass sie da aus Versehen auffallen, das wäre ja prinzipiell möglich.“ (334; vgl. zur Angst vor Antisemitismus unten S. 132 ff) Ein weiteres Angebot durch die Rabbiner ist die Gestaltung des Begräbnisses (Levaja) und die Betreuung der Hinterbliebenen. Der Rabbiner übernimmt in der Regel die Leitung der Levaja (335). Wichtig ist in diesem Zusammenhang für alle jüdischen Richtungen die Trauerrede (Hespet)- persönliche Worte des Abschieds, die entweder stellvertretend für die Angehörigen vom Rabbiner oder von den
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Angehörigen selbst gesprochen werden können. Ein orthodoxer Rabbiner erläutert dies ausführlich: „Also eine Trauerrede – es steht im Talmud, dass es hier eine offene Frage gibt: Dient die Trauerrede für den Verstorbenen oder ist es für die Angehörigen, und ich glaube, es ist für beides. Bei einer Trauerrede man muss kurz und bündig sprechen, ich betone, kurz und bündig versuchen, das Leben des Verstorbenen zu würdigen. Und was ich die Familienangehörigen immer frage, ist, welche Charaktereigenschaften hatte dein Papa oder deine Mama, die in der Erinnerung von den Menschen bestehen bleiben soll. Das ist meine Basis, mein Ausgangspunkt. Und ich versuche das also auszuschmücken, am Anfang mit einem kleinen Zitat, also einer Einleitung und am Ende mit einem schönen Abschluss, vielleicht einer kurzen Geschichte, entweder über den Verstorbenen oder irgendwas aus dem Talmud, was dazu passt, und sozusagen nicht nur eine Biografie des Verstorbenen vorzutragen, sondern den Leuten auch etwas Jüdisches beizubringen.“ (336)
Danach folgt das Schiwa-Sitzen, der erste Teil der Trauerzeit. In einer Gemeinde ist das Schiwa-Sitzen gemeinsam mit dem Rabbiner die Praxis eines „großen Teils“ der Mitglieder (337). Auch in einer anderen Gemeinde wird das Schiwa-Sitzen durch den Rabbiner organisiert: „Aber auch die Familien davor und danach zu betreuen, wenn die Leute Schiwa sitzen und sie einen Minjan für Gebete zuhause haben wollen, dann das können wir auch vom Rabbinat aus gestalten. Jeden Tag wird jemand anders gehen oder ein paar Leute mehrmals, um die Gebete vorzutragen und ein kurzes Lernen zu machen in Andenken an den Verstorbenen.“ (338)
Ein orthodoxer Rabbiner erklärt, dass hier besonders oft Studientexte aus der Mischna gewählt werden – denn die Buchstaben mem- schin- nun- hej-, im Wort Mischna bezeichnen umgekehrt gelesen das Wort neschama, Seele, so dass das Studium symbolisch das Emporsteigen der Seele begünstigt (339). In einer anderen Gemeinde dagegen erklärt der Vorsitzende, bei der Schiwa kein Essen vorbeizubringen (340) und keinen Rabbinerbesuch zu organisieren mit der Begründung: „Wir überlassen das den Verwandten, wie sie es handhaben; wir sind nicht die religiöse Instanz, die kontrolliert, ob sie es alles richtig machen.“ (341) In dieser Gemeinde gibt es stattdessen schriftliche Informationsblätter über die Bräuche, falls Angehörige daran interessiert sind: „Wir haben alles schriftlich vorbereitet, weil, wenn du ihnen das [nur mündlich] sagst, dann gehen die aus der Tür heraus und haben es schon vergessen.“ (342) Ein liberaler Rabbiner sieht das Schiwa-Sitzen als Möglichkeit seelsorglicher Betreuung der Angehörigen: „Traditionell dauert das Schiwa-Sitzen sieben Tage – man sitzt sieben Tage zuhause, was in der modernen Welt nicht so oft praktizierbar ist oder auch nicht gemacht wird, aber in der modernen Welt achten wir auch als liberale Juden darauf, dass sich die Chewra kaddischa
4.2 Angebote der Gemeinden
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mindestens einmal während der Schiwa zuhause bei der verstorbenen Person versammelt, um auch diese Tradition auszuüben, Essen mitzubringen, und vielleicht auch die Person [i. e.: der Angehörige] mit dem Essen für die nächsten Tage zu versorgen, damit die Person […] zuhause Essen hat. Und wir machen dann als Chewra-kaddischa-Minjan in der Familie der verstorbenen Person Maariv [Abendgebet], [und achten darauf], dass wir auch die Person selber zum Sprechen kommen lassen – So soll es eigentlich sein nach der Halacha, und dann sprechen wir zusammen Kaddisch.“ (343)
Eine besondere Bedeutung bekommt in diesem Zusammenhang das Angebot, nochmals Hespet sagen zu können, persönliche Worte der Verabschiedung an den Toten: „Es war immer ein intensives Erlebnis, wenn während der Schiwa die hinterbliebene Person nicht mehr im Schock war. Und viele Leute, die während der Levaja [Begräbnis] Hespet, die Abschiedsrede, nicht sagen wollten, haben dann doch etwas während der Schiwa gesagt. Man hat sich schon darauf eingestellt, die verstorbene Person ist bei mir. Und man spricht mehr davon, und deswegen ist es auch ein wichtiger Prozess der Heilung, weil der Mensch viele Gedanken hat, die im Kopf herunterlaufen, und wenn man sie anspricht, bekommt man eine ganz besondere Kraft. Und diese Kraft bekommt man nicht, wenn man kein Hespet hält, man bekommt sie auch nicht während der Zeit des Begräbnisses. Das kommt dann später während der Schiwa. Und das war für mich immer wichtig, dass nach dem gemeinsamen Maariv [hebr.: Abendgebet, Anm. d. Verf.] und dann vielleicht nach dem Essen, vor dem Kaddisch, die hinterbliebene Person den Eingeladenen etwas zu der verstorbenen Person zu erzählt. Das waren immer auch bewegende Momente.“ (344)
4.2.5 Angebote zur Fortbildung Ein Angebot, das den Kranken nur mittelbar zugutekommt, aber für die Qualität der Versorgung mit entscheidend ist, sind von den Gemeinden verantwortete Fortbildungsmaßnahmen, und zwar sowohl für eigene wie auch für die Mitarbeiter von Partnerorganisationen wie z. B. Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Hierzu gehören auch Beratungsleistungen, welche die Gemeinden in Bezug auf die Versorgung jüdischer Patienten anderen Institutionen gegenüber erbringen.
4.2.5.1 Interne Mitarbeiterfortbildung Viele bayerische jüdische Gemeinden beteiligen sich am Programm für Mitarbeiterfortbildung, das die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. in Bad Sobernheim⁵ anbietet, indem sie Mitarbeiter zur Fortbildung für Bikkur
Vgl. http://www.zwst.org
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4 Auswertung
Cholim und Chewra kaddischa entsenden. Besonders orthodoxe Gemeinden nutzen dieses Angebot (345; 346; 347; 348; 349; 350). Diese Fortbildungen sind allerdings für liberale und konservative Juden weniger geeignet. Ein Mitarbeiter einer konservativen Gemeinde meint: „Ich habe persönlich das Problem, dass es mir zu orthodox geprägt ist. Ich war jetzt kürzlich auch in der Chewra kaddischa-Fortbildung dort. Ich habe mich nur gestritten mit denen, weil es eigentlich hanebüchen ist, was da betrieben wird, mit diesen geschlechtsspezifischen Bekleidungen … Und was unrein ist, und was die fragliche Unreinheit der Frau betrifft auf dem Friedhof und solche Dinge, damit komme ich nicht zurecht. Deswegen habe ich eigentlich nie forciert, dass da Mitglieder sich weiter beteiligen. Mein Traum wäre eine progressiv-liberalkonservative Richtung für die Bedürfnisse der Nicht-Orthodoxen.“ (351)
Kritikpunkte sind hier insbesondere die geschlechtsspezifische Sterbebekleidung, bei der Frauen grundsätzlich mit einer Schürze beerdigt werden (352) oder der Gedanke, dass Frauen erst nach der Menopause sich an der Chewra kaddischa beteiligen dürfen, da sie wegen möglicher Unreinheit durch ihre Tage keine religiöse Reinigung bewirken könnte (Leichen gelten im Judentum generell als unrein): „Zum Beispiel wird also mitgeteilt, dass eine Frau, die sich noch nicht in der Menopause befindet, nicht Chewra Kadischa-Mitglied werden sollte, weil eine unreine Frau nicht jemanden rein machen kann… Ich möchte wissen, wie man eine Leiche rein machen kann …“ (353)
Da die liberalen Strukturen in Deutschland für ein eigenes Fortbildungsprogramm zu klein wären, wünscht sich der Gesprächspartner eine innereuropäische Lösung mit gemeinsamen Fortbildungen für alle nichtorthodoxen Gemeinden (354). In einer Gemeinde steht der Gemeindevorsitzende, selbst ein Arzt, der Ausbildung ehrenamtlicher Helfer im Bereich der Betreuung kranker Mitglieder grundsätzlich skeptisch gegenüber; er verweist lieber auf die vorhandenen professionell geschulten Mitarbeiter: „Fortbildungen dieser Art haben wir nicht […]. [Mitarbeiter], die also praktisch als Pseudo-Pfleger, Pseudo-Schwestern gelten sollen, haben wir nicht. Wir haben schon die Frau vom Rabbiner, und die ist Krankenschwester.“ (355). In einer anderen Gemeinde gibt es aus rechtlichen Gründen Bedenken gegen eigene Mitarbeiterschulungen. Deswegen werden Schulungen anderer Organisationen genutzt, so etwa von eigenen jüdischen Helfern durch die Diakonie, welche in der eigenen Gemeinde Angehörige von Demenzerkrankten bei der Pflege unterstützen:
4.2 Angebote der Gemeinden
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„Wir haben zum Beispiel ein Projekt niederschwelliger Betreuungsangebote, wo wir Angehörige von an Demenz erkrankten Menschen entlasten möchten, und das machen wir zusammen mit der Diakonie. Wir dürfen das ja gar nicht [selbst] durchführen, also die Schulungen von Helfern, das läuft alles über die Diakonie …“ (356)
In der gleichen Gemeinde gibt es auch ein umfangreiches Schulungsprogramm jüdischer Hospizhelfer in Zusammenarbeit mit dem Malteser Hilfsdienst (357; vgl. unten S. 143 f). In einem jüdischen Altenheim gibt es hausinterne Fortbildungen, sowohl für jüdische wie nichtjüdische Mitarbeiter: „Hier im Hause sind wir ein multiinternationales Team. […] Pflege ist ja nicht ein klassischer jüdischer Beruf, leider. (Lacht.) […] Also das ist sehr viel Bildungsarbeit, einfach auch hausintern. Wir haben hier einen hausinternen Standard erarbeitet, Sterbebegleitung nach der Halacha.“ (358)
4.2.5.2 Fortbildung/Beratung bei Partnerorganisationen Extern sind Mitarbeiter jüdischer Gemeinden oft bei Ausbildungsprogrammen für die Pflegeberufe beteiligt, um über die speziellen Bedürfnisse jüdischer Patienten aufzuklären. In einigen Städten sind es die Rabbiner selbst, die regelmäßig im Rahmen von Pflegeausbildungen oder Fortbildungen im Bereich Palliativmedizin Unterricht halten (359, 360; 361) bzw. an entsprechenden Seminaren oder Tagungen als Vortragender teilnehmen (362), in einem anderen Fall der Mitarbeiter eines jüdischen Seniorenheims (363). Seine Aufgabe sieht der Mitarbeiter darin, „so viel Wissen zu streuen, wie es nur geht“ und damit jüdischen Patienten im Krankenhaus zu helfen (364). Dazu gehört auch der Unterricht in der örtlichen Fachhochschule zweimal im Jahr bei den Sozialpädagogen und bei den Pflegewissenschaftlern im Rahmen des Unterrichtsthemas Ethik (365), sowie Fortbildungsveranstaltungen für das medizinische Personal in den örtlichen Krankenhäusern (366). Ebenfalls im Bereich des Krankenhauses engagiert sich ein Arzt aus der Gemeinde im klinischen Ethikkomitee mit dem Ziel, ein seelsorgliches bzw. ethisches Konsil einzurichten und dadurch die speziellen Bedürfnisse jüdischer Patienten im Krankenhaus besser zu berücksichtigen (367). Auch in einer anderen Gemeinde berät der Vorsitzende die behandelnden Ärzte im Krankenhaus bei ethischen Fragen in Bezug auf jüdische Patienten, etwa dann, wenn Geräte abgeschaltet werden sollen. (368) Ein Sozialarbeiter berichtet, dass er beim Tod eines jüdischen Bewohners vom Altenheim angerufen wird, um die jüdischen Bräuche bei der Sterbevorbereitung zu erklären. (369) In einer anderen Gemeinde werden die dazu nötigen Informationen mit Hilfe eines Informationsblattes an die Krankenhäuser weitergegeben:
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4 Auswertung
„Deswegen haben wir […] ein Blatt, das wir an die Krankenhäuser verteilen im Fall, dass eine Person stirbt, zum Beispiel, dass die Person zwar gewaschen werden soll, was immer gemacht wird, dass aber die Person nicht angezogen wird, weil wir dann noch die rituelle Waschung machen, und dass die Hände nicht gekreuzt werden; und ich glaube, das sind schon zwei wichtige Hinweise, welche das Hospiz oder das Krankenhaus wissen muss. Ich habe immer ein gutes Gefühl gehabt, wenn man diese Informationen nicht nur mündlich gegeben hat, sondern auch den Text in die Hand gedrückt hat, und das wurde dann immer respektiert.“ (370)
4.3 Problemfelder Die Gesprächspartner der vorliegenden Studie äußerten sich ausführlich zu Problemen der Begleitung Kranker und Sterbender in jüdischen Gemeinden. Dabei ließen sich die in Abb. 16 dargestellten Subkategorien ausmachen. Die ersten drei Kategorien (Probleme im Bereich Religion, durch Antisemitismus, im Bereich Krankenhaus) beziehen sich übergreifend auf alle betroffenen Personengruppen (Patienten, Betreuer und Gemeinden); die letzten drei Punkte spezifizieren Probleme, die innerhalb einer dieser Personengruppen nachzuweisen sind.
4.3.1 Probleme im Bereich Religion Im Bereich Religion wurden als Probleme von den Gesprächspartnern die grundsätzliche Frage des Bezugs der Gemeindemitglieder zur Religion thematisiert, die oft fehlende religionsrechtliche Anerkennung von Gemeindemitgliedern als Juden, religionsspezifische Probleme im Krankenhaus sowie Probleme durch unterschiedliche Vorstellungen zum Begräbnis zwischen Patienten und Gemeindeleitung, die sich belastend für die Patienten auswirken.
4.3.1.1 Die Gemeindemitglieder und ihr Bezug zur Religion Ein Rabbiner beklagt den mangelnden Bezug seiner Gemeindemitglieder zur Religion: „Unsere Gemeinde besteht ungefähr zu 95 % aus Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, die mit der religiösen Seite des Judentums also relativ wenig anzufangen wissen.“ (371) Ähnlich formuliert es ein Gemeindemitarbeiter, der selbst kein Zuwanderer ist: „[Diese Menschen sind] areligiös, [denn] die Menschen aus der Sowjetunion sind dort aufgewachsen im Kommunismus.“ (372) Bei ausgeschaltetem Diktiergerät äußerten Gemeindemitarbeiter in mehr als einem Fall ihr Bedauern darüber, dass viele Einwanderer die Gemeinden nur für soziale Unterstützung ausnützen würden: alle diejenigen, die jünger wären
4.3 Problemfelder
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und Geld verdienten, wären längst aus der Gemeinde ausgetreten, um keine Bekenntnissteuer bezahlen zu müssen – und das, obwohl sie ihre EinwanderungsVisa nur aufgrund ihrer jüdischen Abstammung bekommen hätten. Es gehe ihnen allein um ihren eigenen Erfolg – ein Gefühl der Solidarität mit den anderen Einwanderern oder mit der jüdischen Gemeinschaft fehle vollkommen. Auf diese Weise hätten die Gemeinden alle Problemfälle auf ihrer Seite, aber keine Menschen, die aktiv mithelfen könnten oder finanzielle Unterstützung leisten würden. (Fieldnotes des Verfassers) Ein Gemeindevorsitzender fragt sich: „Was haben diese Leute [für ein Verantwortungsbewusstsein], die sich nicht als Mitglied der Gemeinde angeben, nur Erwartungen haben und keine Pflichten kennen? Es ist wahrscheinlich nicht nur hier so, in dieser Gemeinde so, aber …“ (373) Immer wieder nennen die Interviewpartner als Problem den geringen Bezug der neuzugewanderten Gemeindemitglieder zum Judentum. Ein Gemeindevorsitzender meint: Bei den Neuzuwanderern „ist eigentlich sehr wenig Bezug zum Judentum da, und auch das Gefühl, dass man vielleicht noch vom Rabbiner oder von irgendjemandem sonst spezifisch jüdisch betreut werden möchte, ist einfach nicht vorhanden.“ (374) Er erklärt: „… die meisten Leute, die nach Deutschland gekommen sind –und aus ihnen besteht die Gemeinde fast zu 90 % –, das sind die Zuwanderer. Es wurde alles [an jüdischer Religiosität] ausgerottet, eigentlich. Und nur diejenigen, die in bestimmten Regionen lebten, etwa in Csernowitz, dem Zentrum der Jiddischkeit […], die haben schon irgendwie Kontakt unter sich gehabt […]. Und hier versuchen wir, Schritt für Schritt, in der Gemeinde irgendwie das wichtigste [an Jüdischkeit] zu vermitteln. Was ich sehe ist: Die Leute, die nach Deutschland gekommen sind, sind, wenn man so sagen darf, Atheisten. Aber je älter sie werden, je mehr sie verstehen, dass es auf den Tod zugeht, dann wollen sie als Juden sterben.“ (375)
Ein anderer Rabbiner nennt dafür folgende Erklärung: „Die [Zuwanderer] sind hierhergekommen und mit denen wollte man eigentlich das Judentum [in Deutschland] wieder aufbauen. Man hat aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn in der Sowjetunion stand 70 Jahre lang Atheismus an der Spitze. Niemand konnte Religion ausüben, weder jüdische Religion oder eine andere Religion. Darum können die meisten Juden, die von dort gekommen sind, nicht mal hebräisch lesen, was ganz traurig ist.“ (376) Er möchte das allerdings nicht den Zuwanderern zum Vorwurf machen: „Ich würde nicht sagen, es herrsche ein Desinteresse. […] Die konnten sich das gar nicht aussuchen, die wurden gezwungen. Und das so genannte lebendige Judentum, wie es früher war in Deutschland, das existiert nicht. […]. Die Gemeinden haben sich [durch die Einwanderung] wieder vergrößert, aber [es gibt nur] wenig Inhalt im Vergleich zu vorher.“ (377) Er kommt zu dem Schluss: „Man
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SK1: Probleme im Bereich Religion SK1.1. Die Gemeindemitglieder und ihr Bezug zur Religion Wenig Bezug der Gemeindemitglieder zur Religion Zugehörigkeitsgefühl zum jüdischen Volk, aber nicht zum Glauben Verlust der Religion bei Holocaustüberlebenden Unmöglichkeit, in Deutschland ein Leben wie im Stetl zu führen Gefahr des Schuldwahns durch nicht eingelöste religiöse Ansprüche an sich selbst SK1.2. Das Problem der Anerkennung von Gemeindemitgliedern als Juden Keine Anerkennung großer Teile der Gemeindemitglieder als Juden Keine religionsrechtliche Anerkennung von patrilinearen Juden SK1.3. Religiöse Probleme im Krankenhaus Gegen Zwangsreligion im staatlichen Krankenhaus und Pflegeheim Kreuz im Zimmer stört Koschere Ernährung gewünscht Fehlender Gebetsraum Wunsch nach jüdischer Station in Pflegeheim SK1.4. Unterschiedliche Vorstellungen zum Begräbnis Frage nach Begräbnis oft für Sterbende wichtig Gemeinde verweigert Begräbnis von nichtjüdischem Partner auf eigenem Friedhof Ablehnung von Urnenbeisetzungen Wenig Wissen der Einwanderer aus den GUS um jüdische Begräbnisriten SK2:
Probleme durch Antisemitismus und Angst vor Antisemitismus Vorhandene/nichtvorhandene Erfahrungen mit Antisemitismus Stereotypen im Umgang mit Juden Angst von Holocaustüberlebenden vor Antisemitismus Angst von GUS-Auswanderern vor Antisemitismus Gemeindemitarbeiter erklärt lieber, er komme von russischer Gemeinde
SK3: Probleme im Bereich Krankenhaus und medizinische Betreuung SK3.1. Information der Gemeinden über jüdische Patienten Datenschutz verhindert Informationsfluss Patientenliste für Gemeinden wünschenswert Bessere Situation für private Pflegedienste Kein Datenschutzproblem in kleiner Gemeinde Information erfolgtüber Mitglieder und Familien Problem der Patienten ohne Angehörige SK3.2. Besondere gesundheitliche Belastung von Patienten aus der GUS Hoher Anteil von Behinderten und Kranken in den Gemeinden Hohe Krebsrate infolge von Tschernobyl Kurze Lebensdauer Oft multibles Krankheitsbild Suizidalität SK3.3 Probleme durch Einsparungen beim Krankenhausaufenthalt Verkürzte Liegedauer entlässt Patienten in Einsamkeit zuhause Auslagerung in entferntere Krankenhäuser macht besuche unmöglich Zu wenig Mittel für die Nachsorge Keine Mittel für psychologische Betreuung
Abbildung 16: Hauptkategorie „Problemfelder“ mit Subkategorien
4.3 Problemfelder
SK4:
Probleme der Patienten Isolation, Fremdheit Armut Sprachliche Probleme Angst vor Gesundheitswesen aufgrund russischer Erfahrungen Psychiatrische Probleme bei Holocaustüberlebenden Flashbacks und Retraumatisierung bei Holocaustüberlebenden im Krankenhaus Traumatisierungsweitergabe an zweite und dritte Generation Gehäufte Krebserkrankungen in zweiter Generation von Holocaustüberlebenden
SK5:
Probleme der Betreuer Zeitmangel Psychische Belastung Sorge der Chewra-Kadischa, nur auf diese Aufgabe festgelegt zu werden Sprachliche und interkulturelle Probleme Geringes berufliches Selbstbewusstsein
SK6:
Probleme der Gemeinden Probleme bei Personalausstattung Schwierigkeit bei der Rekrutierung Ehrenamtlicher Probleme durch die Konkurrenzsituation mit privaten Pflegediensten Probleme in der Zusammenarbeit mit Betreuungsorganisationen
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Abbildung 16: Hauptkategorie „Problemfelder“ mit Subkategorien (fortgeführt)
muss […] realistisch sein. Die meisten Juden hier […] leben nicht nach der jüdischen Religion.“ (378) Auch ein Gemeindemitarbeiter, der selbst aus der GUS zugewandert ist, sieht das so: „[…] wir sind alle aus der Sowjetunion, und das ist kein Geheimnis, da war bei uns keine Religion als Hintergrund. Und wir waren alle Atheisten. […] Einige Leute haben sich ein bisschen Gedanken darüber gemacht, aber niemand hat darüber [offen] gesprochen, und über den Tod konnten wir überhaupt nicht sprechen. […] Für uns war das merkwürdig, dass die Christen [hier in Deutschland] zum Beispiel können sagen: was will ich nach meinem Tod, welche Lieder will ich [für die Beerdigung], welchen Grabstein kann ich haben […] – das war für uns völlig unbekannt.“ (379) Und ein weiterer Mitarbeiter erklärt, dass er aus diesem Grunde bei Krankenbesuchen jüdische Themen grundsätzlich nicht anspricht: „Diese Leute haben kein Verständnis vom Judentum.“ (380) Ein anderer, ebenfalls aus der GUS stammender Gemeindemitarbeiter kommt zum Schluss: „Deswegen, glaube ich, hat diese ganze Geschichte als Resultat gebracht, dass es [unter uns] nicht sehr viele jüdische [Menschen gibt].“ (381) Er selbst vermutet, dass manche Menschen in der Gemeinde den Glauben nur spielen und versucht, sich davon abzugrenzen: „Nur wenn ein Mensch wirklich gläubig ist, wenn er diesen wirklichen Glauben hat, nur dann respektiere ich diesen Menschen. Aber
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manche Menschen spielen nur diese Gläubigkeit. Für mich ist es besser zu sagen: Nein, ich gehöre zum jüdischen Volk, aber gläubig bin ich nicht. So fühle ich mich besser. Besser ist es ohne Spiel.“ (382) Aber auch unter schon vor 1991 in Deutschland lebenden Juden gibt es das Phänomen des Verlustes der Religion, so etwa unter Holocaust-Überlebenden, wie der Mitarbeiter eines jüdischen Altenheims berichtet: „[Ein Heimbewohner] sagte: ‚Ich habe Gott in Auschwitz beerdigt.’ und war vollkommen areligiös geworden, hat auch nichts mehr eingehalten, auch die Familie nicht. Der Sohn war nicht jüdisch verheiratet, und da war keine religiöse Identität. Sie waren Juden, haben sich als Juden empfunden, aber [es gab] keine religiöse Identität.“ (383)
Die Klage über die fehlende Jüdischkeit in den Gemeinden hängt teilweise auch mit einem sehr eng gefassten Bild vom Judentum zusammen, welches einige Rabbiner vertreten, wie beispielsweise in diesem Interview: „Wirklich jüdisch zu leben, das ist ganz weit weg, ganz weit weg. […] Man sagt, ein Jude sollte nicht leben und nicht wohnen, wo es keine Synagoge mitten im Wohngebiet gibt. Also, Juden sollten in ein und derselben Straße leben und diese Straße sollte direkt bei der Synagoge sein, sonst ist das kein jüdisches Leben, und so darf man nicht leben. Und das ist nicht der Fall, in ganz Bayern …“ (384)
Ein Rabbiner unterscheidet zwischen Juden, die es offiziell „auf dem Papier“ sind (385), und einem „wirklich lebendigen Judentum“, welches in Deutschland nicht anzutreffen sei (386). Eine solche Diskrepanz zwischen den eigenen Vorstellungen vom idealen Jüdischsein und der tatsächlichen Lebensführung kann für manche jüdische Patienten am Lebensende zu erheblichen Problemen bis hin zum „Schuldwahn“ führen, wie ein Gemeindemitarbeiter erklärt: „Was sehr häufig hier ist, nicht im Sterbeprozess, aber am Lebensende, dass Menschen erkranken an einem religiösen Schuldbewusstsein. Ich denke, das gibt es sicherlich in anderen Religionen auch. Aber das ist hier jüdisch nochmal wieder speziell, [etwa beim einem Patienten], dessen Eltern Chassiden waren, ganz, ganz chassidisch, und er hat zwar traditionell gelebt, aber nicht so religiös. Und jetzt im Alter entwickelt er einen ganz starken Schuldwahn. […] Dass man dann natürlich in sich geht und einen Rückblick nimmt auf sein Leben und dann am Ende sagt: ‚Oh Gott, ich bin aus der Tradition meiner Eltern ausgetreten, warum auch immer.‘ Es steht uns ja auch nicht zu zu werten … ‚Aber ich habe nicht so jüdisch gelebt, wie ich eigentlich hätte sollen.‘ Und dann entwickeln sich eben Schuldgefühle, und das kann zum Teil so schwer sein, dass es psychiatrisch behandelt werden muss.“ (387)
4.3 Problemfelder
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4.3.1.2 Das Problem der Anerkennung von Gemeindemitgliedern als Juden Ein großes Problem für die Anerkennung der GUS-Einwanderer als vollgültige Gemeindemitglieder ist der Umstand, dass die Grundlage für die Zulassung zur Einwanderung der Passvermerk ‚Nationalität jüdisch‘ war, der von den Behörden in der früheren Sowjetunion und in der GUS aufgrund des Familiennamens und der väterlichen Abstammung eingetragen wurde (vgl. oben, S. 11 ff). In den deutschen Gemeinden wird aber nur derjenige als Jude anerkannt, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde – d. h., die väterliche Linie ist für die religiöse Statusklärung eines Menschen nicht entscheidend. Ein Rabbiner meint dazu: „Wie in allen anderen jüdischen Gemeinden in Deutschland kommt der Großteil der Mitglieder aus der ehemaligen Sowjetunion. Das sind Menschen, die wenig oder gar nichts mit dem Glauben zu tun haben. Sie wissen zwar, dass sie Juden sind, aber auch das ist nicht immer richtig. Also nach unserem jüdischen Gesetz gibt es immer noch unterschiedliche Vorstellungen, und das betrifft den Großteil unserer Gemeinde.“ (388)
Ein selbst aus der GUS eingewanderter Gemeindemitarbeiter versucht das zu erklären: „Ich stamme aus einer gemischten Familie. Mein Vater ist Jude, meine Mutter nicht. […] Nach der Halacha bin ich kein richtiger Jude. Ich kann zwar sagen: Ich habe diesen Hintergrund, ich arbeite aus diesem Hintergrund [hier in der Gemeinde] und es ist egal, dass ich kein echter Jude bin. Weil ich ja jüdisches Blut habe. Ich mache eine gute Arbeit.“ (389) Ein Rabbiner sieht ebenfalls die Zahl vollgültiger Juden unter den Gemeindemitgliedern als gering an und erklärt: „Zum Großteil [gibt es unter unseren Mitgliedern] sogar so genannte Mischehen, weil sie’s nicht anders vor sich gesehen haben. Sie haben ja kein Judentum gelebt, wo Mischehen im Judentum streng verboten sind, aber sie haben’s nicht anders erlebt, und durch das sind sie weit, weit vom praktizierenden Judentum, sehr weit. Da beginnt das Problem.“ (390)
Einen Menschen, der nur väterlicherseits jüdischer Abstammung ist, für jüdisch zu erklären, heißt, „ihn für einen Irren zu halten und ihm falsche, gefälschte Ware zu verkaufen. Man verkauft […] ihm eine neue Religion, die nicht Hand und Fuß hat, [wenn man sagt]: ‚Du bist ein Jude.‘ Dabei ist er gar keiner. Denn nach dem Judentum, wenn die Mutter keine Jüdin ist, ist der Sohn kein Jude, und wenn er zwanzigmal auf dem Kopf steht, hilft ihm nichts. Weil so die Fakten sind. Genau wie […] wenn ich jetzt unbedingt einen amerikanischen Pass wollte: […]. Wie lange kann ich mich mit einem gefälschten Pass frei bewegen? Ich sage Ihnen genau, wie lange. Im Ausland, also außerhalb von Amerika, 30, 40, 50 Jahre; niemand wird es merken. So gut nachgemacht ist er. Wann wird es auffliegen? In dem Moment, wenn ich an die amerikanische Grenze komme. Die gehen in den Computer rein, geben den Pass rein,
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die Nummer gibt′s nicht, den Namen gibt’s nicht. […] Ich kann etwas vorspielen, ich kann etwas vortäuschen, ich kann sagen […], dass wir auch Juden annehmen, die nur väterlicherseits Juden sind. […] Doch die Tatschen habe ich nicht verändert, nur den anderen belogen. Denn der ist kein Jude nach dem jüdischen Gesetz. Er kann sich nicht zum Juden machen. Jude ist, was das Gesetz sagt, und das Gesetz sagt: wenn die Mutter Jüdin ist. Alles andere ist kein Jude.“ (391) Einzige Möglichkeit für Menschen mit väterlich jüdischer Abstammung, auch religiös in die Gemeinde aufgenommen zu werden, ist nach Auskunft des Rabbiners der formale Übertritt zum Judentum⁶, der ein jahrelanges Aufnahme- und Lernverfahren mit abschließender Prüfung beinhaltet und im orthodoxen Bereich die komplette Einhaltung der religiösen Alltagsvorschriften voraussetzt (392).
4.3.1.3 Religiöse Probleme im Krankenhaus und in Pflegeeinrichtungen Religiöse Probleme werden in den Interviews mehrfach in Bezug auf Alten- und Pflegeheime bzw. Krankenhäuser in nichtjüdischer Trägerschaft erwähnt. Ein Gemeindemitarbeiter berichtet, dass er für jüdische Patienten Institutionen ohne „Zwangsreligion“ auszusuchen bemüht ist: „Was die Pflegeheime betrifft, […] versuchen wir, unsere Leute da unterzubringen, wo eigentlich keine Religion ist oder keine Zwangsreligion da ist, wie zum Beispiel im katholischen oder evangelischen Altenheim.“ (393)
Ein anderer Gemeindemitarbeiter berichtet von seinen Vorbehalten gegen die christlichen Seelsorger am Krankenhaus, eine Situation, die sich dann aber gebessert hat: „[Anfänglich] wollte ich mit denen nichts zu tun haben, weil ich zu dem Zeitpunkt sehr antichristlich eingestellt war. Das ist jetzt aber etwas besser geworden … [lacht].“ (394) Über das örtliche städtische Krankenhaus berichtet der Mitarbeiter, wie stark er die katholische Prägung des Hauses empfindet: „Es ist ein Krankenhaus, das sehr katholisch geprägt ist: Es ist in jedem Zimmer ein Weihwasserbehälter, was mich persönlich furchtbar stört; wenn ich dahin gehe, hängt überall ein Kreuz. Aber unsere Mitglieder haben da scheinbar kein Problem, die akzeptieren das. Das ist eine äußerliche Geschichte, sonst ist das nicht irgendwie indoktrinierend, das Krankenhaus, das ist ein städtisches Krankenhaus, aber das, das ist etwas, was mich stört …“ (395)
Ein Rabbiner in einer anderen Stadt erzählt, wie ein im Krankenzimmer aufgehängte Kreuz einen jüdischen Patienten stören kann: Vgl. oben S. 11 ff. Übertritte zum Judentum kommen statistisch in Deutschland nur marginal vor.
4.3 Problemfelder
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„Eine Mutter […] ist angerufen worden von der Kinderklinik, sie soll mal vorbeikommen. Ihr Sohn hat so einen schiefen Hals, deshalb hat er ein Kirschkernkissen bekommen, und nun sagt sie: ‚Was hast du denn, was hast du denn?‘ Der wollte das Kreuz an der Wand nicht anschauen, und hat also immer den Kopf so schief gehalten, dass er es nicht anschauen muss. Mir war das noch gar nicht aufgefallen, aber die hängen wirklich überall, und der junge Mann ist also sehr überzeugter Vertreter seiner Glaubensgemeinschaft, und hat gesagt: ‚Das will ich aber jetzt nicht anschauen.‘ Und das kam zur christlichen Krankenpflege: ‚Warum muss da überall ein Kreuz hängen?‘ Und da hat die eine Schwester [gemurrt]. Bös sagt sie: ‚Ich glaube da dran, ich glaube an Gott.‘ Ich sage: ‚Ich auch. Aber muss ich deswegen ein Kreuz da hängen haben?‘ […]„ (396)
Diese Beispiele zeigen, dass die Präsenz religiöser Symbole und Zeichen in ihrem Krankenzimmer für Juden in vereinzelten Fällen ein Problem darstellen kann, dann allerdings so, dass es den Patienten erheblich beeinträchtigt. Neben solchen Problemen, das durch die religiöse Orientierung des Krankenhauses entstehen, gibt es von jüdischer Seite auch aktiv vorgebrachte Erfordernisse, etwa nach koscherer Verpflegung (vgl. dazu ausführlich oben S. 82 ff). Auch die Frage der Einhaltung des Schabbat im Krankenhaus stellt ein wichtiges Thema dar, wie ein Rabbiner erläutert: „… natürlich darf man im Krankenhaus keine Kerzen anzünden. Und wenn Schabbat ist, dann gibt es viel, was man als Patient hinnehmen muss, das eigentlich mit Schabbat nicht kompatibel ist. […] Natürlich entspricht die Umwelt im Krankenhaus nicht den Bedingungen eines Schabbat im Allgemeinen. Aber die sind sowieso nicht so angenehm.“ (397)
Wobei der Rabbiner das Problem der Einhaltung des Schabbat sogleich zweifach relativiert, zum ersten, weil sich die meisten jüdischen Patienten um den Schabbat auch privat nicht kümmern (398) und zum anderen, weil im Rahmen des Prinzips der Lebenserhaltung als oberstem religiösem Gebot viele Regeln im Krankenhaus aufgehoben sind: „Wenn es sich um das Leben handelt, dann ist [im Krankenhaus auch am Schabbat] fast alles erlaubt. Nicht nur erlaubt, sondern erforderlich. […] Man kann [immer] argumentieren, wie wichtig diese Handlung oder jene Handlung ist, dass sie ausgerechnet am Schabbat stattfinden muss – aber das sind Details.“ (399)
Ein weiteres Problem im Krankenhaus könnte es sein, wie ein Gemeindemitarbeiter erklärt, einen geeigneten Gebetsraum im Krankenhaus einzurichten. Doch das sieht er selbst eher als theoretische Frage an: „hoffe ich doch, wir werden niemals zehn männliche Juden in einem Krankenhaus haben, dass wir einen Minjan [Mindestquorum für einen Gottesdienst] zusammenkriegen.“ (400)
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Ein Sozialarbeiter wünscht sich eine eigene „jüdische Station“ im Alten- oder Pflegeheim mit russischsprachigem Personal (401). Allerdings haben sich auch in seiner eigenen Gemeinde die dazu vom Träger mindestens erwarteten 15 Personen nicht gefunden (402; 403). Auch in einer anderen Stadt ist ein solches Projekt gescheitert, da unter den Mitgliedern kein Wunsch nach Betreuung in einem Heim bestand wegen der schlechten Erfahrung mit Heimen in der GUS. (404) Dazu kommt, wie ein Mitarbeiter berichtet, dass es „jetzt nicht so sehr viele sind, die wirklich höchsten Wert darauflegen [auf koschere Ernährung und strenge Beachtung der Religion im Krankenhaus]“ (405) und „dass unsere älteren Patienten – das sind meistens Leute, die zugewandert sind – auch gar nicht unbedingt so daran interessiert sind, dass man erfährt, dass sie jüdisch sind. Die geben das dann auch nicht an.“ (406) Wie in diesen Beispielen erscheint es in vielen Interviews als durchgängiges Muster, dass jeweils theoretisch mögliche Bedürfnisse jüdischer Patienten genannt werden und dann sogleich wieder relativiert (vgl. zur Diskussion dieser Beobachtung S. 196 ff).
4.3.1.4 Unterschiedliche Vorstellungen zum Begräbnis Die fehlende Anerkennung der religiösen Zugehörigkeit zum Judentum wird bei schwerer Krankheit erneut zum Thema. Viele Sterbende beschäftigen sich mit der Frage, wo sie bestattet werden und ob später auch ihr Ehegatte mit ihnen im gleichen Grab bestattet werden kann (vgl. 407).⁷ Oft entsteht, wie ein Gemeindevorsitzender erklärt, während der Krankheit der Wunsch, durch den Rabbiner offiziell ins Judentum aufgenommen zu werden, um dann auch auf dem jüdischen Friedhof neben dem Ehepartner bestattet werden zu können (vgl. 408). Auch in einer anderen Gemeinde berichtet der Vorsitzende von solchen Problemen mit der Bestattung bei Mischehen: „Das Problem ist natürlich bei jüdischen Mischehen, wo die Leute dann fragen: Wie sieht es denn aus, wenn mein Ehepartner stirbt, der nicht jüdisch ist? Es gibt leider keine Möglichkeit, dass wir am selben Friedhof beerdigen, weil nur Juden am jüdischen Friedhof [beerdigt werden]. […] Es ist schwer, ein Jude zu werden, es ist schwer, ein Jude zu sein, und es ist schwer, wenn du nicht einen jüdischen Partner hast. […] Wir versuchen dann schon in der Mischehe verheirateten Juden zu erklären, wie wichtig die ewige Grabstätte im Jüdischen ist, und ich meine, das versuchen wir auch schon bei Lebzeiten den Leuten klarzumachen, aber es ist immer wieder dann Thema, wenn es dann so weit kommt … […] Wir haben auch schon einen Fall gehabt, dass ein Sterbender auf dem katholischen Friedhof beerdigt werden wollte, zusammen mit seinem Ehepartner – wobei ich da sehr dagegen war, weil, wenn das Schule macht, dann
Vgl. zu diesem Bedürfnis auch oben, S. 98.
4.3 Problemfelder
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machen das viele, und ein jüdischer Mensch sollte doch am jüdischen Friedhof beerdigt werden. Also da bin ich schon sehr gläubig.“ (409)
Auf dem Sterbebett ist es für das Giur-Verfahren (Übertrittsverfahren) zu spät, welches jahrelanges Lernen erfordert.Wenn kein Giur vorliegt bzw. eine eindeutig mütterlich-jüdische Abstammung, kann es kein Begräbnis auf dem jüdischen Friedhof geben. Hier fahren die Gemeinden sämtlich einen strengen Kurs, wie ein Gemeindemitarbeiter erklärt: „Es ist so, dass wir nur eindeutig mütterliche Juden hier bestatten. Wenn etwas anders der Fall ist, wird das Begräbnis nicht gestattet.“ (410) Für das Begräbnis selbst ist entscheidend, welcher Rabbiner die Zeremonie leitet. Hier gelten unterschiedliche Vorstellungen, etwa, ob Frauen zum Minjan zählen: „Es ist folgendes, wenn Herr Rabbiner A die Beerdigung durchführt, dann zählen die Frauen auch dazu. Wenn wir wissen, [der orthodoxe Rabbiner B] kommt von Y-Stadt, […] dann muss ich dafür sorgen, dass elf Männer [sic!] da sind, […] sonst kommt es [das Begräbnis] nicht zu Stande. […] Die orthodoxen Rabbiner haben so ihre Einstellung und ich akzeptiere es auch, ich kann nicht nachvollziehen, wenn ein Rabbiner sagt: ‚O.k. ich bin orthodox, aber ich mache es masorti ⁸ oder ich mache liberal.‘ […] Jeder muss zu seiner Meinung stehen, dann verdient er Respekt, und wir wissen, mit wem wir arbeiten, d. h., ich muss dafür [für die notwendigen Voraussetzungen] sorgen, und dann ist Schluss. Und wenn ich anrufe und sage, wir haben eine Beerdigung, dann sagt nicht Herr Rabbiner B.: ‚Wir brauchen dafür elf Personen.‘ Es braucht gar nicht ausgesprochen zu werden, wir beschweren uns überhaupt nicht. Ich weiß es einfach. Er sagt nicht, die Voraussetzung ist so und so, sonst mach ich keine Beerdigung. […] Aber wir wissen es, und wir sorgen dafür.“ (411)
Religiöse Probleme beim Begräbnis können auch entstehen, wenn Gemeindemitglieder den Wunsch nach einem Urnenbegräbnis äußern. Auch hier ist, so die Kremation erfolgt ist, in Deutschland kein Begräbnis auf einem jüdischen Friedhof mehr möglich, wie ein Rabbiner erklärt: „[Es gibt] das Problem mit der Einäscherung, zu der wir traditionell nicht ermutigen, und ich kann mich an einen Fall erinnern, wo ich einer Person eher unabsichtlich davon abgeraten habe, und zwar, indem ich gesagt habe: Wenn es zu einer Einäscherung kommt, dann ist die Tahara [rituelle Leichenwaschung] nicht möglich. Wir machen nicht Tahara, wenn es zu einer Kremation kommt, das macht auch keinen Sinn. Und die Person hat sich dann entschieden, dann doch die Tahara zu machen und dementsprechend dann auch auf die klassische Weise begraben zu werden.“ (412)
Masorti: andere Bezeichnung für konservatives Judentum (Anm. d. Verf).
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4 Auswertung
Besonders für die Einwanderer aus den GUS-Staaten gibt es also einen Erklärungsbedarf der jüdischen Begräbnisriten, wie mehrere Interview-Partner betonen. Ein Rabbiner erklärt dazu: „Es besteht ein großer Bedarf von unserer Gemeinde zu erklären, dass die Sitten und Bräuche anders sind in einer orthodox geführten Gemeinde, als das in Russland üblich war. Und das ist manchmal sehr herausfordernd. […] Also zum Beispiel, nachdem die Tahara stattgefunden hat, schaut man nicht mehr den Verstorbenen an, der Sarg bleibt verschlossen, es gibt keine Bilder, es sollten keinen Blumen sein, also das ist die Hauptsache.“ (413)
Ganz ähnlich berichtet ein Gemeindevorsitzender über die Schwierigkeiten in seiner Gemeinde mit den örtlichen Friedhofsbräuchen: „Das ist das Problem, das wir hatten. Wir haben ja auf unserem Friedhof wirklich immer nur Steine gelegt auf den Grabstein, und dann kamen diese russischen Zuwanderer mit Plastikblumen und Papierblumen. Es ist ein sensibles Thema, du kannst den Leuten nicht sagen, nein, bei uns geht das nicht. Du musst das denen schonend beibringen, und es war dann meine Aufgabe, diesen Leuten das klarzumachen, was möglich ist und was nicht möglich ist. Mittlerweile haben wir uns geeinigt, Blumen ja, aber nicht aus Papier und Plastik, und wir überlassen es den Leuten. Nur Plastik und Papier wollen wir nicht haben, aber wenn jemand es so empfindet, dass er Blumen hinstellen muss, haben wir dann nichts mehr dagegen. Wir können auch nicht davon ablassen, was auch noch ein Thema war, den Leuten beizubringen, sich angemessen zu kleiden, sowohl in der Synagoge wie auch auf dem Friedhof, also nicht unbedingt mit der kurzen Hose, mit Spaghettihemd am Friedhof und in der Synagoge aufzutauchen. Das waren sehr sensible Themen, die wir dann im Zuge dessen, dass wir über Beerdigungen gesprochen haben, gleich mit eingeflochten haben, dass das halt so üblich ist.“ (414)
In einer anderen Gemeinde stört sich der Rabbiner vor allem am Brauch der Zuwanderer, Fotos der Verstorbenen am Grabstein anzubringen: „Also eingemeißelt, wenn es einfach eine Figur ist, also eingemeißelt in Stein, sehe ich persönlich keinerlei halachisches Problem [mit figürlichen Darstellungen auf dem Friedhof], aber die Fotos, das entspricht einfach nicht unserer Friedhofskultur und der Tradition. Und wir haben das immer abgelehnt. […] Die Leute, die aus Russland kommen, kennen die religiösen Bräuchen manchmal überhaupt nicht oder sehr wenig, und es gibt einen großen Erklärungsbedarf, würde ich sagen.“ (415)
4.3.2 Probleme durch Antisemitismus und Angst vor Antisemitismus Die Mehrheit der Interviewpartner, die nicht zur Gruppe der Zuwanderer aus den GUS-Staaten gehören, berichtet, niemals antisemitische Vorurteile im Zusammenhang mit der Betreuung jüdischer Patienten erlebt zu haben (416;417).
4.3 Problemfelder
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Ein nach antisemitischen Erlebnissen befragter Gemeindemitarbeiter meint: „[Das ist mir] Gott sei Dank, noch nicht begegnet. Natürlich gibt hier und da Vorurteile, aber das gibt’s in jeder Gesellschaft […]. Das ist kein Wunder, das ist die menschliche Natur.“ (418) Grundsätzlich gibt es „eine gewisse Neugier“ im Umgang zwischen Juden und Nichtjuden, wie ein Gemeindemitarbeiter meint (419); es sind weniger direkte antisemitische Vorurteile als vielmehr Stereotypen und unstimmige Bilder im Kopf, die manchmal die Verständigung schwierig machen, so etwa die Vorstellung, alle Juden würden streng koscher essen: „Aber dann [kommen die Gesprächspartner] halt gleich auch wieder mit Stereotypen, also: Jude isst koscher, muss so sein. Das passt natürlich nicht mit der Realität zusammen.“ (420) Ein jüdischer Arzt, der kein Neuzuwanderer ist, hat Antisemitismus selbst nur einmal durch einen Kollegen beim Urlaub im Bayerischen Wald erlebt, der, als er „erfuhr, dass ich Jude bin, mir dann ungefragt gesagt hat: ‚Also solche lieben wir hier ja überhaupt nicht!’ – Das hab ich dann runtergeschluckt, weil mit solchen Leuten brauche ich nicht zu diskutieren, das bringt auch nichts.“ (421) Der Mitarbeiter eines Seniorenheims berichtet von einem Vorfall mit einem Sanitäter, von dem er selbst nicht sagen kann, ob ihm nun Antisemitismus oder nur Unsicherheit und Angst begegnet sind: „Ich habe etwas erlebt, was ich als sehr antisemitisch einstufen würde. Aber vielleicht ist das auch nur Angst gewesen. Ich habe ein sehr negatives Beispiel von einem 96-jährigen, schwerstdementen Menschen, der hier im Haus verstorben ist. Die Kollegin hat den Sani, die Rettung gerufen, was auch korrekt war. Die Rettungssanitäter haben den Mann reanimiert, es war ein Martyrium, das danach noch vier Wochen gedauert hat. Das war ein absolutes Martyrium danach, […] und ich hab zu dem Sanitäter gesagt: ‚War das jetzt unbedingt notwendig? Weil man kann auch reanimieren, ohne Erfolg, nicht?’ [3 s Pause] Und darauf sagte der Sanitäter: „Wir werden uns hier einen Teufel tun in einem jüdischen Haus …“ Also eher Angst, dass man ihnen nachsagen könnte, dass sie […] nicht alles versucht haben, um einem jüdischen Menschen am Leben zu erhalten. Für mich ist es vielleicht auch ein bisschen antisemitisch gewesen, so im Tonfall, aber es kann auch Angst gewesen sein.“ (422)
Und auch von einem zweiten Vorfall weiß er zu berichten, wo er Antisemitismus durch Ärzte bei der Leichenschau erlebt hat: „Sie kennen ja den Brauch, […] den Leichnam auf den Boden zu legen. Das haben wir immer gemacht, und ich hatte extremste Situationen mit Leichenschauärzten, wenn es nicht der Hausarzt war, der den Leichenschein ausstellen konnte, die dann obduzieren wollten und [versucht, bayerischen Tonfall nachzuahmen]: ‚Warum liegt der jetzt da am Boden? Was hams eben da gmacht, ja? Naja man weiß ja, im Altenheim werden die Leut zu Tode geprügelt, nicht?’ […] Und da kamen oft auch Äußerungen: ‚Jaja, ihr Juden müssts ja immer was extra haben und warum können bei Eich (sic!) die Leit ned im Bett sterben wie woanders auch?’ Ähm, also eher dumm wie antisemitisch, aber natürlich dann schon antisemitisch …“ (423)
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4 Auswertung
Über die Angst vor Antisemitismus bei Holocaust-Überlebenden weiß der Mitarbeiter eines jüdischen Seniorenheims zu berichten: „Wir haben ja immer noch Menschen, die sich nicht öffentlich jüdisch bekennen, die offiziell als Katholiken irgendwo leben und nicht der Gemeinde angehören, weil sie Angst haben.“ (424) Er berichtet einen entsprechenden Fall: „Ich persönlich kenne zum Beispiel eine Dame, die in einem Haus wohnt mit Rumäniendeutschen, die sehr große Angst hat und sich deswegen den katholischen Kirchenboten abonniert hat. Und den lässt sie immer aus dem Briefkasten raushängen, wenn der geliefert wird, so dass die nicht auf die Idee kommen könnten, sie könnte ja eventuell jüdisch sein. Diese Leute sind allein in ihren Wohnungen, sie sind jetzt in dem Alter, wo sie sich nicht mehr helfen können, auch selbst oft nicht mehr fähig sind, sich einen ambulanten Dienst oder so etwas zu organisieren, und die fallen eigentlich durch die offiziellen Maschen, kommen auch dann nicht zu uns. Die gehen dann in andere Häuser.“ (425)
Angst vor Antisemitismus gibt es bei allen interviewten Zuwanderern aus den GUS-Staaten, wie etwa im Fall eines Gemeindemitarbeiters, der eine gesteigerte Sensibilität dafür in den Erfahrungen aus den Herkunftsländern sieht: „Also wir kommen aus der ehemaligen Sowjetunion und, wie Sie wissen, war die Situation, was Juden betrifft, dort nie so besonders gut. So dass die Juden mehr oder weniger verfolgt wurden. Und manche Leute in der ehemaligen Sowjetunion mussten sogar verschweigen, dass sie jüdische Wurzeln haben.“ (426)
Dass er überhaupt bereits ist, für die vorliegende Arbeit als Interviewpartner zur Verfügung zu stehen, erklärt er so: „Also ich bin in mancher Hinsicht ziemlich offen, weil Sie auch jüdische Wurzeln haben. Deshalb erzähle ich manche Sachen, die Sie wahrscheinlich auch erlebt haben. […] Nicht immer sage ich alles. Es ist also besser, so wie im Sprichwort zu sagen: Ein Wort ist Silber, und Schweigen ist Gold.“ (427) Er selbst beobachtet aufmerksam, dass es auch hier in Bayern „Naziparaden“ (428) gibt und zieht daraus die Konsequenz, bei seinen eigenen Besuchen jüdischer Patienten im Krankenhaus die jüdische Gemeindemitgliedschaft zu verschweigen: „Deswegen schaue ich, dass ich ab und zu besser ein bisschen den Mund halte, [und ich sage im Krankenhaus nicht,] dass ich einen jüdischen Patienten besuchen komme, sondern ich sage: ‚Ich komme von der russischsprechenden Gemeinde als Sozialarbeiter.‘ Das mache ich als Kompromiss.“ (429) Auf Nachfrage bekräftigte der Mitarbeiter seine Aussage: „I: Also auch im Krankenhaus, auch bei den Einrichtungen, lieber immer sagen: russischsprechende Gemeinde, lieber sagen, als dass man von der IKG kommt? M: Ja, ja. Manche Ärzte fragen schon, sie möchten etwas auszugraben, archäologisch. (Lacht)
4.3 Problemfelder
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I: Ich verstehe, ja. M: Und [die Information] völlig verschweigen werde ich auch dann nicht. Aber wenn ich nur ein krankhaftes Interesse sehe, ohne Mitleid oder so etwas, dann ist es besser zu schweigen. […] Auch im Interesse meiner Patienten. Weil ich gehe, und er bleibt. Nur Gott weiß, was passiert.“ (430)
Ein Rabbiner weiß über ein ähnliches Verhalten von Patienten in seiner Gemeinde zu berichten: „Es ist manchmal schwierig zu wissen, wer [unter den Patienten] der jüdischen Gemeinde angehört, denn nicht alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde gehen in ein Krankenhaus oder sagen irgendwo in der Öffentlichkeit: Ja, wir sind Juden …“(431) Und in einer anderen Gemeinde berichtet der Vorsitzende: „Und dort [im Krankenhaus] weiß man meistens auch nicht, dass der Kranke jüdisch ist, weil die Angehörigen oder der Kranke selbst angeben, sie seien atheistisch oder orthodox [also christlich].“ (432) Unter den schon vor 1991 in Deutschland lebenden Juden stößt die Angst der Zuwanderer vor Antisemitismus auf wenig Verständnis. Ein Gemeindemitarbeiter meint, dass die Einwanderer alles vermeiden, „nur dass sie nicht aus Versehen auffallen“ (433). Er sieht als Erklärung: „Es ist eine Angst vor Antisemitismus insgesamt [mehr aus der russischen Erfahrung]. Wobei hier [in Bayern] passiert gar nichts, also, ja wenn einmal einer pöbelt, dann pöbelt er alle an… Aber diese Angst steckt so tief drin in den Menschen …“ (434) Ein Rabbiner meint dazu: „Es ist bekannt, dass Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sich zum Teil oft bemühen, nicht aufzufallen als Juden. Ich sehe keinen Grund, warum man nicht auffallen kann, aber ich kann’ s verstehen vor ihrem Hintergrund, den sie mitgebracht haben.“ (435)
4.3.3 Probleme im Bereich Krankenhaus und medizinische Betreuung Im Bereich Krankenhaus und medizinische Betreuung ließen sich in den Interviews drei Felder feststellen, bei denen sich Probleme zeigten: – die Information der Gemeinden über jüdische Patienten – die besondere gesundheitliche Belastung von Patienten aus der GUS – Probleme durch Einsparungen beim Krankenhausaufenthalt
4.3.3.1 Information der Gemeinden über jüdische Patienten Ein Problem bei der Betreuung jüdischer Patienten durch die Gemeinden liegt im Bereich des Datenschutzes, wie ein jüdischer Arzt erklärt:
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„Der Datenschutz ermöglicht es in Deutschland nicht, direkt eine Information vom Krankenhaus zu bekommen, welches Gemeindemitglied stationär aufgenommen wurde. Das wäre wünschenswert, da manche kranke Menschen wegen ihres Gesundheitszustandes nicht in der Lage sind, selbst einen Kontakt zur Gemeinde herzustellen, und auch keine Angehörigen haben. Man könnte unter anderen Umständen in diesen Fällen sehr viel früher aktiv werden.“ (436)
Den Datenschutz sieht auch ein Sozialarbeiter als Problem: „Ich und meine Kolleginnen sind mit Schwierigkeiten konfrontiert, die mit dem Gesetz über die Schweigepflicht zusammenhängen. Solange wir keine gesetzliche Betreuer [des Patienten] sind, darf uns das medizinische Personal keine Information geben.“ (437; ebenso 438)
Ein anderer Gemeindemitarbeiter berichtet, dass auch er keine Auskunft bekommt, wenn er jüdische Patienten in einer Klinik besuchen möchte: „Ich weiß zum Beispiel, wenn Sie in der XY-Klinik jemanden haben […] und Sie wollen jemanden besuchen, oder wir wollen wissen, wo er liegt und Sie wissen nicht dessen Geburtsdatum, bekommen Sie keine Auskunft. Da müsste wahrscheinlich von Seiten der Gemeinde einfach noch mehr Arbeit geleistet werden, dass man da einen Ansprechpartner hat und das Krankenhaus auch weiß, da ist der Datenschutz gewährleistet. [Interviewer: Dass Mitarbeiter der jüdischen Gemeinden einen ähnlichen Status bekommen wie der Krankenhausseelsorger?] Ganz richtig. Dass man sagt, o.k., die sind genauso wie wir an den Datenschutz gebunden, und da können diese Art von Daten weitergegeben werden. […] Das ist eine gesellschaftliche, politische Geschichte.“ (439)
Ein in einer Gemeinde ehrenamtlich tätiger Arzt berichtet ein Beispiel, wie er wegen des Datenschutzes einem Patienten nicht helfen konnte, obwohl er als Dolmetscher seiner Ansicht nach dringend gebraucht worden wäre: „Wir haben jetzt einen Fall, der ist in den Akten dort. Es handelt sich um einen Juden aus [Staat mit politisch verfolgter jüdischer Minderheit], der mit offiziellem Pass zur Messe nach Y-Stadt geflogen ist und der dann [hier in Deutschland] geblieben ist. Ein Freund von ihm hat ihn davon überzeugt, dass er hier bleiben soll. Man hat ihn dann nicht weit von hier in einem Asylantenheim untergebracht. Er ist dort gestürzt und war sehr krank, zum Schluss auch depressiv und wollte sich das Leben nehmen. Diese Auskunft [wo der Patient genau lebt] konnte ich aber nicht vom Gesundheitsamt nicht bekommen. Man behauptete, das ist Schweigepflicht, das darf man nicht sagen. Warum ich einspringen wollte? Weil der Patient aus [Name des Staates] stammt, und ich kann [Name der Landessprache]. Ich hätte ihm doch viel besser helfen können, aber das wurde verweigert […]. Das hat mir wehgetan. Ich hab hier [zum Gesundheitsamt] die Anträge mitgebracht, ich wollte ihm heute noch einen Anruf zu seinem Freund vermitteln, was mit ihm weiter geschieht. Ich hab sogar in Amerika angerufen, weil seine Verwandten in Amerika sind, und die haben gesagt, er soll da bleiben oder nach Israel auswandern, auf jeden Fall aber nicht nach [Name des Herkunftslandes] zurückreisen. […] Das ist einzige, was ich da praktisch zu beklagen habe, dass die Leute im Gesundheitsamt nicht bereit waren, uns diese Auskunft zu geben. Aber durch seinen Freund habe ich jetzt erfahren, was ihm fehlt…“ (440)
4.3 Problemfelder
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Ein Rabbiner erklärt, dass er zwar vom örtlichen Krankenhaus kontaktiert wurde und dort „offiziell als jüdischer Seelsorger auf der Liste steht“ (441). Dennoch gilt auch für ihn „das Prinzip: wir bekommen vom Krankenhaus keine Benachrichtigung, wenn es jemanden gibt, der [meinen Beistand] braucht. Ich glaube, das ist auch nicht erlaubt. […] Ich glaube, dass dies [eine solche Information] nicht direkt vom Krankenhaus an die jüdische Gemeinde gehen kann wegen besagten Datenschutz …“ (442) Seine Erfahrung bleibt: „Ich komme nicht rein durch die Struktur vom Krankenhaus und so weiter; es gibt keine Benachrichtigung vom Krankenhaus. [Immer heißt es:] Datenschutz und so weiter.“ (443) Ein anderer Rabbiner sieht das Problem ganz ähnlich: „Manchmal haben uns Leute angerufen, nachdem sie im Krankenhaus waren, obwohl es eigentlich möglich gewesen wäre für die Person selber anzurufen oder für einen ihrer Angehörige: ‚Ja, warum haben Sie mich nicht besucht?’ Das könnte vielleicht vermieden werden, wenn wir eine Liste [der kranken Gemeindemitglieder] hätten und es selber wüssten.“ (444) Ein Versuch, eine solche Liste zu erstellen, ist jedoch gescheitert: „Was nie richtig funktioniert hat, ist, diese Patientenliste zu bekommen, teilweise wegen Datenschutz…“ (445) Ein Rabbiner lobt zunächst die gute Zusammenarbeit mit Ärzten und Personal des örtlichen Krankenhauses und merkt dann an: „Es kann aber sein, hier oder da, dass es Schwierigkeiten [mit der Information über jüdische Patienten] gibt, was auch selbst verständlich ist, weil kein Arzt bereit ist, [solche Daten] preiszugeben. Das darf er auch nicht. […] Ich kann das verstehen, und ich versuche, so gut wie möglich zurechtzukommen.“ (446) Ein Sozialarbeiter erklärt: „[In meiner beruflichen Praxis] habe ich erfahren, dass schwerkranke Menschen nicht immer Verwandtschaft haben. Die Folge: Nicht immer werden wir benachrichtigt. Und viele alte Menschen oder einfach schwer kranke Menschen, die landen im Krankenhaus mit schweren Diagnosen.“ (447) Bei der eigenen Nachfrage nach kranken Gemeindemitgliedern in Krankenhäusern hat der Mitarbeiter „schon viele Male erlebt: ‚Nein! Wir geben keine Information.‘“ (448) Ähnlich erlebt er auch die Situation bei den Altenheimen: „Was die [Zusammenarbeit mit den] Altenheimen betrifft, gibt es bis heute eigentlich kein Problem, außer dass das Datenschutzgesetz immer funktioniert. Früher, wissen Sie, haben wir versucht, einfach herauszufinden, in welchem Altenheim sich die Leute befinden, um die Übersicht zu haben, diese Leute zu besuchen. Wir dürfen diese Information nicht bekommen, ich glaube, wahrscheinlich, aus irgendwelchen Konkurrenzaussichten, weil [sie Angst haben], ihr Geld verlieren. Auch wenn das von uns eigentlich eine ganz gute Idee war.“ (449)
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Einfacher als die gemeindlichen Mitarbeiter haben es in Bezug auf Informationen die privaten Pflegedienste⁹, wenn sie nicht nur Pflegeleistungen erbringen, sondern als gesetzliche Betreuer der Patienten fungieren, wie ein Sozialarbeiter erklärt: „Viele alte oder schwer kranke Menschen landen im Krankenhaus mit schweren Diagnosen. Sie werden dann normalerweise betreut von Sozialstationen und Pflegediensten. Diese Pflegedienste übernehmen eigentlich die hauptsächliche Betreuung. Unser [gemeindliches] Betreuungszentrum erfüllt seine eigenen Aufgaben, aber wir sind keine gesetzliche Betreuung. Deswegen hat der Pflegedienst als gesetzliche Organisation viel, viel mehr Möglichkeiten, mit dem medizinische Personal zusammenzuarbeiten.“ (450)
In einer anderen Stadt erklärt ein jüdischer Arzt, der im örtlichen Krankenhaus tätig ist, sein eigenes Dilemma mit dem Datenschutz in seiner Doppelrolle als Arzt und Gemeindemitglied: „Von außerhalb ist es schwierig [Patienteninformationen zu bekommen], aber von innerhalb darf ich in die Patientendaten reinschauen … […] Das tue ich aber [als einen Gefallen für die Gemeinde] nicht. Außer jemand sagt: ‚Ich benötige dringend eine Information.‘ Dann spreche ich aber mit dem Mitarbeiter aus der Gemeinde nur nach [vorheriger] Rücksprache mit dem Patienten, mit den Angehörigen: ‚Sind Sie einverstanden, dass ich mit dem Mitarbeiter aus der Gemeinde spreche?‘, und dann sage ich eben: ‚Der Patient bittet um …‘ Ich hole mir also die Unterlagen weder aus dem Netz noch von irgendwoher. Also es ist so, wie wenn ich selbst ganz von außen käme.“ (451)
Bei den meisten Krankenhäusern in den Stadt gilt: „Die kommen [wegen jüdischer Patienten] also nicht unbedingt auf mich zu…“ (452) An die Information über kranke Gemeindemitglieder gelangt der Arzt manchmal erst, wenn der Patient verstorben ist: „Manchmal erfahr ich es auch gar nicht, dann sehe ich zufällig jemanden laufen von der Gemeinde, wo ich weiß: Das ist Chewra kaddischa, dann sag ich: Moment, was ist los? Wer ist da?“ (453) Umgekehrt gibt es aber auch Interviewpartner, die das Problem der Information über kranke Gemeindemitglieder nicht kennen, so im Fall dieses Rabbiners: „I: Also der Fall, dass jemand im Krankenhaus liegt und dann die Information nicht weitergegeben wird an die Gemeinde, obwohl er die Information gerne weitergeben würde, so einen Fall hat es noch nicht gegeben? R: … noch nie gegeben. Nein.“ (454)
Zur Problematik der privaten Pflegedienste und der Konkurrenzsituation mit den Mitarbeitern der jüdischen Gemeinden vgl. unten S. 155 f.
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In einer anderen Gemeinde kennt man das Datenschutzproblem überhaupt nicht: „[Bei uns in der Stadt] geht das noch. Diese Datenschutzproblematik wird nicht vorgeschoben. […] Das ist eigentlich schon ein bisschen ungewöhnlich. Da könnte jeder anrufen. [Lacht.] Vielleicht sind die datenschutzmäßig noch nicht so auf der Höhe der Zeit.“ (455; ebenfalls keine Schwierigkeiten bei der Informationsweitergabe durch die Krankenhäuser in 456 und 457) Ein Rabbiner in einer kleineren Gemeinde sieht das Problem mehr theoretisch, da die Information über die Familien erfolge: „Die Familien wissen ja, ob die Person Mitglied ist in unserer Gemeinde oder nicht, und die informieren uns.“ (458) Ganz ähnlich sieht das auch ein zweiter Rabbiner: „Es waren immer die Leute selbst, die sich dann entweder über den Partner gewünscht haben, den Kontakt mit einer jüdischen Gemeinde zu haben oder über die Familie selber. Aber es ist nie passiert, dass ein Krankenhaus alleine auf uns zugegangen wäre.“ (459) Ein Vorsitzender einer kleineren Gemeinde meint, dass er die Information über die Mitglieder selbst bekommt: „Die rühren sich immer in der Gemeinde. Das ist eigentlich so der erste Anruf, von den Angehörigen oder von den Patienten selber: Ich muss ins Krankenhaus, oder der Abraham ist im Krankenhaus, ja und dann wissen wir das eigentlich immer.“ (460) Hier gelingt auch die Kommunikation mit dem Krankenhaus: „Im Krankenhaus ist bekannt, dass es eine Gemeinde gibt. Wenn jemand jüdisch ist und wenn er des angibt, wenn danach gefragt worden ist, dann wird auch teilweise vom Krankenhaus her angerufen. Es gibt auch sehr viel russischsprachiges ärztliches Personal mittlerweile, und diese sind dann ja auch entsprechend vom Kontakt besser. […] Wenn man dort anruft, man kann über die Patienten sprechen, das machen die Sozialarbeiterinnen, über Befunde auch, über Dinge, die erforderlich sind in der Nachsorge oder in der ambulanten Betreuung. Das ist ein guter Kontakt.“ (461)
Dagegen verweist ein Gemeindemitarbeiter in einer Großstadtgemeinde darauf, dass gerade die Familien diese Information nicht an die Gemeinde weitergeben: „In unserer Gemeinde ist das [die Betreuung kranker Mitglieder] etwas schwierig, da uns die Angehörigen oft nicht Bescheid geben, wenn die Eltern krank oder im Krankenhaus sind. […] Das Problem ist es […] dass wir oft nicht erfahren, ob jemand krank ist oder sich im Krankenhaus befindet.“ (462) Ein Rabbiner macht die gleiche Beobachtung: „Also nicht alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde gehen in ein Krankenhaus oder sagen irgendwo sonst in der Öffentlichkeit: Ja, wir sind Juden…“ (463) Und er ergänzt: „Es gibt solche Fälle in Deutschland. […] Leute, die ins Krankenhaus kommen und das Krankenhaus nicht informieren, dass sie Juden sind, [und auch], dass sie es das Krankenhaus wissen lassen, aber man tut [dort] nichts.“ (464) Ein Rabbiner zieht das Fazit:
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„In den allermeisten Fällen bekomme ich als Rabbiner oder die Gemeinde gar nichts von so einem Fall zu hören, weil die Familien das in ihrem eigenen Rahmen oder mit dem Krankenhaus ausmachen, d. h., dass sie gar nicht daran denken, dass eine spirituelle Begleitung notwendig wäre oder gewünscht wird, so dass das wirklich den seltensten Fällen vorbehalten bleibt.“ (465)
Als eine besondere Problemgruppe macht ein jüdischer Arzt die Patienten aus, die nur im Ausland Angehörige haben: „Problematischer ist die Situation, wenn es sich um allein lebende Menschen handelt, deren Angehörige im Ausland sind.“ (466) In diesem Fall gibt es möglicherweise weder Gemeinde noch Familie, die sich um den Kranken kümmern können – möglicherweise erfährt niemand außerhalb des Krankenhauses von seiner Krankheit.
4.3.3.2 Besondere gesundheitliche Belastung von Patienten aus der GUS Jüdische Patienten, die aus der GUS eingewandert sind, zeigen oft besondere gesundheitliche Belastungen. Ein in einer Gemeinde tätiger, jüdischer Arzt erklärt: „Also viele von den alten Leuten, die zu uns kommen, sind nicht gesund.“ (467) Häufig hat er es mit Patienten zu tun, „die oft nicht mehr ganz bei sich sind“ (468). Oder, wie es ein Gemeindemitarbeiter formuliert: „Die Gemeindemitglieder werden ja auch immer älter, also, die jetzt zugewandert sind, und sterben jetzt.“ (469) Ein Sozialarbeiter erklärt die Situation in seiner Gemeinde: „Wir sind eine Gemeinde mit einem sehr hohen Anteil von alten Menschen, und davon sind 99 %, behindert, und wir versuchen, die Behinderten sozusagen in die Gesellschaft zu integrieren.“ (470) Ein Arzt weist auf die hohe Quote kranker Gemeindemitglieder hin und erklärt dieses Phänomen durch Folgeerkrankungen nach der Tschernobyl-Katastrophe: „[Viele Mitglieder] sind auch durch Tschernobyl schwerst erkrankt, viele haben wir hier bereits verloren. Unser kleines Grundstück für den Friedhof ist leider schon zwei Drittel besetzt. Damals [vor der Zuwanderung] war es höchstens ein Drittel. Ja, es ist eine harte Sache, jährlich verlieren wir zwei, drei Mitglieder, mindestens. Und die sind alle angeschlagen, schlimm… Sie kommen aus der Ukraine, und da war ja Tschernobyl nicht weit, von daher haben sie diese Probleme mitgebracht.“ (471)
Auffällig ist für ihn die generell kurze Lebensdauer der Zuwanderer (472). Und ein Mitarbeiter in einer anderen Gemeinde, der selbst aus der GUS stammt, erklärt: „Diese Senioren, diese Generation, die haben sehr, sehr schlimme Zeiten erlebt in der Sowjetunion in verschiedener Hinsicht, nicht nur von unserer Sache her [Anmerkung des Interviewers: gemeint ist antisemitische Benachteiligung], sondern auch durch die Strahlen und so. […] Also die sind zerstört, viele, innerlich …“ (473)
4.3 Problemfelder
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In einem jüdischen Seniorenheim erläutert ein Mitarbeiter, wie sehr sich die Situation in seiner Einrichtung und der durchschnittliche Gesundheitszustand der Bewohner in den letzten Jahren verändert hat: „Vor 25 Jahren sind die Menschen auch hier gestorben, aber die Klientel war ein anderes, es war ein klassisches Altenheim. Die Leute sind hierhergekommen, weil sie es zuhause nicht mehr geschafft haben, den Haushalt zu führen, viele alleinstehende Männer, die sagten: ‚Ich hab jetzt genug davon, selbst zu putzen und zu bügeln. Ich geh jetzt ins Altenheim und kann noch ein bisschen Karten spielen […].‘ Das war so dieser klassische Altenheimbewohner, den gibt es ja nicht mehr. Heute kommen die Menschen zu uns schon multipel erkrankt, und wenn ich Ihnen zeigen würde, was manche Menschen für Diagnosen haben, dann brauche ich zwei Blätter, wo du gar nicht weißt, wo du anfangen sollst, weil die eigentlich schon in einem Schwerst-Krankenpflegezustand zu uns kommen.“ (474)
Eine weitere besondere Gefährdung der älteren Zuwanderer ist Suizidalität. Ein Arzt erwähnt das Beispiel eines 65-jährigen Patienten, der seit seiner Einwanderung an Depressionen leidet und bei dem seither ein gesteigertes Suizidrisiko besteht. Er setzt sich deswegen dafür ein, dass der Patient im Pflegeheim auch gegen seinen Wunsch nicht in einem Einzelzimmer untergebracht wird: „Ein Einbettzimmer ist gefährlich für ihn. Er soll einen Kompagnon im Zimmer haben. Es ist medizinisch und psychisch nicht richtig, ihn alleine zu lassen. Nur dann, wenn er zusätzlich zu seiner Depression noch weiter in seiner Demenz fortschreiten würde, würde er sich nicht aufhängen. Ja, es ist gefährlich.“ (475)
Auch in einer anderen Gemeinde weiß ein Arzt von einem Selbstmord eines zugewanderten Gemeindemitglieds im Krankenhaus zu berichten: „Ich hatte kürzlich einen Fall, da hat sich ein Patient leider umgebracht und auf der Station im Krankenhaus erhängt, ein Gemeindemitglied.“ (476)
4.3.3.3 Probleme durch Einsparungen beim Krankenhausaufenthalt Die Begrenzung der Behandlungs- und Liegedauer in den Krankenhäusern hat Folgen für die sozialarbeiterische Tätigkeit der jüdischen Gemeinden. Ein jüdischer Arzt berichtet: „Durch die schlechte wirtschaftliche Lage lassen die Krankenhäuser die Patienten nicht lange im Krankenhaus, sie schicken sie nach Hause. Hier werden wir aktiv, und dauernd ist unser Sozialarbeiter [in solchen Fällen] unterwegs.“ (477)
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4 Auswertung
Die Versorgung und Pflege der Gemeindemitglieder, die oft keine Angehörigen vor Ort haben, kann dann nur durch die gemeindlichen Sozialarbeiter aufgefangen werden kann. Ebenfalls infolge wirtschaftlicher Überlegungen werden immer wieder Patienten in entfernt liegende Krankenhäuser ausgelagert. Auch das ist für die GUSEinwanderer ein großes Problem, da sie dann kaum noch besucht werden können, wie ein Arzt erklärt: „Hier hat sich in letzter Zeit [die Tendenz] entwickelt, Leute irgendwie auszulagern auf die peripheren Krankenhäuser. Also die werden dann nach X-Stadt verlegt oder nach Y-Stadt, was alles zum Krankenhausverbund gehört, und das ist dann natürlich schlimm. Weil dann sind die Leute wirklich isoliert. Die Mitglieder haben selten ein Auto, kommen nicht hin, und das ist dann schlimm. Also da haben wir auch schon interveniert und gesagt: Das könnt ihr nicht machen mit den Russischsprachigen, das geht nicht.“ (478)
Über ähnliche Erfahrungen berichtet auch ein Mitarbeiter in einer anderen Gemeinde, der hier ausmacht, dass diese Patientengruppe solchen Umbelegungen nicht den geringsten Widerstand entgegensetzen kann: „Das liegt an den ständigen Überbelegungen in [hier in X-Stadt]. Wenn jemand jetzt zum Beispiel jetzt nicht sofort operiert werden muss oder er ist in der Rekonvaleszenz, mehr oder weniger, und liegt da noch rum… Ein Patient hat ein Aorten-Aneurysma gehabt, das geplatzt ist, und wurde dann ewig beatmet. Und bis der sich wieder aufgearbeitet hat, lag der dann drei Wochen da noch in Y-Stadt, weil dort die Pflegestufe etwas geringer ist oder die Intensität dort nicht so teuer ist. Ja, das sind praktische Überlegungen, dass die im Krankenhaus halt hier in XStadt ihre Durchsatzzahlen erbringen wollen. Und die, die länger Pflege brauchen, die werden dann verschoben. [Bei den jüdischen Patienten] sind ja oft keine Angehörige da, die aufmucken, und dann werden die Patienten dahin [nach Y-Stadt] verschafft.“ (479)
Daher sind bei Einsparungen durch die verkürzte Dauer des Krankenhausaufenthaltes wie auch durch die Verlegung in entferntere Häuser jüdische Patienten aus dem Kreis der GUS-Einwanderer besonders hart getroffen. Auch nach einem Krankenhausaufenthalt stehen für die angemessene Betreuung dieser Patientengruppe oft zu wenig Mittel zur Verfügung, wie ein Arzt erklärt: „Das ist unser Problem. Theoretisch könnte man die in Rehabilitation sich befindenden Menschen, die bisschen mobiler geworden sind, zur Kur schicken, aber diese Mittel haben wir nicht. [Man sollte auch] extra einen Psychologen beauftragen, aber der müsste Russisch können… Und das ist unbezahlbar.“ (480; vgl. 481)
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4.3.4 Probleme der Patienten In diesem Bereich ließen sich einerseits allgemeine Probleme finden, die von den Interviewpartnern in Bezug auf alle jüdischen Patienten genannt wurden (Isolation, Fremdheit, Armut) sowie Probleme, die innerhalb der speziellen Gruppe von Holocaust-Überlebenden und Angehörigen der Second Generation auftreten.
4.3.4.1. Allgemeine Probleme jüdischer Patienten: Isolation, Fremdheit, Armut Ein Rabbiner erklärt, dass Einsamkeit für viele jüdische Patienten eine Schwierigkeit darstellt: „Ein großes Problem ist, dass viele Leute ins Krankenhaus gehen und sich dort einsam fühlen.“ (482) Ein Gemeindemitarbeiter erklärt dieses Problem jüdischer Patienten mit häufig fehlenden Angehörigen: „Es gibt ja auch viele ältere Menschen, die keine Angehörigen haben, die alleine sind.“ (483) Und ein anderer Mitarbeiter stellt fest: „Ich habe erfahren, dass schwerkranke Menschen nicht immer Verwandte haben.“ (484) Ein Mitarbeiter verweist darauf, dass in den von ihm betreuten Familien die nächsten Angehörigen oft weit entfernt sind: „Das Problem ist oft, dass die Angehörigen [nicht am gleichen Ort leben, sondern] über die ganze Welt verstreut sind.“ (485) Ein Mitarbeiter in einem jüdischen Senioren- und Pflegeheim meint, innerhalb des Heimes sei die Betreuungssituation gut, bei den allein lebenden Gemeindemitgliedern wären die Probleme größer: „Was mir eher Sorge macht, sind die Menschen, die alleine draußen leben. Ich denke, das ist viel schwieriger.“ (486) Dazu kommt als offensichtliches Problem vieler jüdischer Patienten die sprachliche Verständigung. Ein jüdischer Arzt beschreibt das Problem: „Ich bin deutschsprachig, der Rabbiner ist deutsch-englischsprachig, und wir haben das Problem in der Kommunikation mit den Mitgliedern. Man versucht auf so einer oberflächlichen Basis, auf dieser Ebene Geht-gut/Geht-nicht-gut//Alles-schlecht// Morgen-Opera-tion zu palavern…“ (487) Deshalb kann der Arzt „eigentlich wenig darüber sagen, ob die Gemeindemitglieder irgendwelche spezifischen Bedürfnisse haben, die man erfüllen könnte.“ (488) Er erklärt, dass er für die Gespräche mit seinen Patienten auf Übersetzungen angewiesen ist: „Die meisten Leute, gerade die älteren Gemeindemitglieder, welche die Erkrankungshäufigkeit jetzt trifft, sprechen ja immer noch relativ schlecht Deutsch, und die sind einfach auf eine Übersetzung angewiesen.“ (489) Eine Gemeinde bildet russischsprachige Hospizhelfer aus, weil manche Patienten überhaupt kein Deutsch sprechen. (490) Und ein jüdischer Arzt lässt sich bei seinen Krankenbesuchen von einem russischsprachigen Mitarbeiter begleiten: „Wenn ich praktisch Auskünfte benötige, muss ich eben, weil ich kein Russisch kann,
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immer den Sozialarbeiter dabei haben.“ (491) In einer anderen Gemeinde kann der deutschsprachige Rabbiner „den Leuten diese Unterstützung nicht geben ohne einen Dolmetscher“ (492). Viele russischsprachige Gemeindemitglieder leben in einer völlig eigenen Lebenswelt, wie ein Mitarbeiter beschreibt, so besonders die Kriegsveteranen: „[Besonders] die Kriegsveteranen haben eigene Vorstellungen, die sprechen nur Russisch, die reden nur über die Zeit, als sie jung waren. […] Die Erinnerungen nehmen die beste Zeit, […] aber diese Zeit war während dem Krieg, und sie erinnern diese Zeit, und sie wollen solche Lieder und solche Gedichte und sich mit den Gedanken immer zurückwenden. Sie tun sich nicht integrieren ins […] Gemeindeleben […] und ins deutsches Leben, sie haben eigene Vorstellungen. Sie schauen immer nur russische Filme und gebrauchen immer die russische Sprache… Sie können nicht anders. Und das muss man akzeptieren.“ (493;494)
Ein Kollege erklärt, dass das hohe Einwanderungsalter die Integration erschwert: „Das geht ja auch manchmal nicht, wenn man erst mit 70 Jahren nach Deutschland zuwandert ist. Da kann man nicht mehr erwarten, dass derjenige sich hier integrieren kann.“ (495) Zwei aus der GUS stammende Gemeindemitarbeiter, die selbst Dolmetscherdienste leisten, beschreiben das Problem der Zuwanderer mit der deutschen Sprache so (nachfolgende Zitate ohne sprachliche Bereinigung): „Ich weiß. das ist sehr schwer in Deutsch. Ich lerne, lerne, lerne. […] Ich muss. Ich habe zum deutsche Staatsangehörigkeit, schon 15 Jahre in Deutschland wohnen.“ (496) „Zum Beispiel Altenheim, sie haben kein Kontakt, sie haben kein deutsche Sprache. Deshalb sie sind allein, jeden allein. […] Wenn deutsche Sprache kennt nicht, dann ist er schlecht, alleine. [unverständlich] Gehen spazieren, aber nur allein. […] Ganze Tag, ganze Nacht allein. In Altenheim gibt es Personal mit russische Sprache, aber die haben seine Arbeit, sagt ein, zwei Worte und weitergeht. […] Einsamkeit ist nicht so leicht zu sein.“ (497) „Ich verstehe, wie machtlos fühlen sich die Patienten, die keine deutsche Sprache.“ (498) Dazu kommt das Problem schlechter Vorerfahrungen mit dem Gesundheitssystem in der GUS: „Die Leute auch, sie haben Angst. solche Erfahrung von früheres Leben haben sie. Sie haben Angst, weil sie schlechte Verhältnisse, Bedingungen in der Betreuung …“ (499) Diese Angst führt dazu, dass manche Gemeindemitglieder sich scheuen, sich für einen Platz in einem Alten- und Pflegeheim anzumelden und lieber für sich alleine bleiben. (500) Ein weiteres Problem vieler Gemeindemitglieder ist Armut. Ein Gemeindevorsitzender meint: „Die haben kein Einkommen, sie sind alle Sozialhilfeempfänger, und wir intervenieren mit Fahrgeld [zur Synagoge] und mit sonstigen Notwendigkeiten.“ (501) In mehreren Gesprächen, allerdings bei ausgeschaltetem Mikrofon, erklären die Interviewpartner, dass viele Gemeindemitglieder einen Großteil ihrer
4.3 Problemfelder
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Sozialhilfe in die Herkunftsländer überweisen, um dort lebende Familienangehörige zu unterstützen. Dadurch haben sie selbst in Deutschland keinen ausreichenden Lebensunterhalt. (Fieldnotes des Verfassers)
4.3.4.2 Spezielle Probleme von Holocaust-Überlebenden und Angehörigen der Second Generation Ein Rabbiner berichtet, wie das Thema Holocaust bei schwerkranken jüdischen Gemeindemitgliedern nach jahrzehntelanger Verdrängung wieder präsent wird. Besonders schwierig ist bei diesen Patienten das Gefühl der ‚survivor guilt‘¹⁰: „Die Sache war seit über 60 Jahre verdrängt, kommt dann aber plötzlich wieder. Zum Beispiel hat ein Mann letztes Jahr zu mir immer wieder gesagt: ‚Warum bin ich in Deutschland geblieben? Warum bin ich hier geblieben?’ Obwohl er seine beste Zeit hier gehabt hat, er da geblieben ist ohne Zwang, das war komplett freiwillig, und er hat ein schönes Leben gehabt und wollte gar nicht in ein anderes Land gehen, aber plötzlich kam die letzte Zeit. Ich habe zu ihm gesagt: ‚Das ist kein Thema. Vergiss das! Du hast hier gelebt, das ist nicht wichtig.‘ [Und er fragte weiter.] ‚Warum bin ich alleine hier geblieben, warum bin ich am Leben geblieben, warum sind meine Eltern gestorben? Warum ist mein Bruder gestorben? Er war genauso stark wie ich, warum?’ […] Diese Menschen leiden sehr darüber. Dieser Mann konnte nicht mehr schlafen. Er lag wach in den Nächten. Das hat ihn so getroffen.“ (502)
Ein Rabbiner beschreibt die ‚survivor guilt‘ und sieht die Holocaust-Traumatisierung „beim Sterben nicht zu sehr, mehr beim Leben als beim Sterben… Solche Menschen kamen oft also zu mir mit der Frage: Warum, warum, warum mussten meine Eltern sterben, die unschuldig waren, die fromm waren usw.? Deswegen bin ich, bin ich brauges [jiddisch aus hebräisch „b’rogez“ (im Zorn = zerstritten sein)], bin ich wütend auf Gott …“ (503) Ein Gemeindemitarbeiter sieht vor allem in der Einsamkeit ein Problem von Holocaust-Überlebenden, da sie sich wegen ihrer Angst vor Antisemitismus völlig zurückziehen: „Diese Leute sind allein in ihren Wohnungen, sie sind jetzt in dem Alter, wo sie sich nicht mehr helfen können, auch selbst oft nicht mehr fähig sind, sich einen ambulanten Dienst oder so etwas zu organisieren, und die fallen eigentlich durch die offiziellen Maschen, kommen dann auch nicht zu uns.“ (504)
Vgl. oben S. 32.
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Ein Gemeindevorsitzender berichtet über psychopathologische Probleme von Holocaust-Überlebenden am Lebensende, die zum Suizid führen können und/ oder eine Einweisung in die Psychiatrie nötig machen: „[Einige Holocaustüberlebende] haben wirklich am Ende ihres Lebens schwere Zeiten mitgemacht und mussten dann auch [in der Psychiatrie untergebracht werden]. Eine Dame ging im Nachthemd auf die Straße in der Nacht und wollte wissen, wo der Weg zur Synagoge ist, und wir haben damals […] Herrn Dr. XY veranlasst, sie in ein Klinikum einzuweisen. Und das wurde dann auch gemacht. Und die sind dann in diesen Kliniken verstorben, also es war eine Nervenklinik, und da sind die Fälle schon bekannt. Auch ein Mitglied des Vorstands im hiesigen Krankenhaus ist aus dem Fenster gesprungen, ein Holocaust-Überlebender. Da habe ich schon mitbekommen, dass diese Holocaust-Überlebenden zum Ende des Lebens massive Probleme bekommen haben. […] Ich kann mir vorstellen, dass für Holocaust-Überlebende, die einsam sind und keine Familie haben, da massive Probleme auftauchen.“ (505)
Ein Arzt berichtet über typische Verhaltensmuster und Verhaltensauffälligkeiten bei Holocaust-Überlebenden: „Am besten ist es dargestellt in dem Comic Maus, [in der Szene¹¹] mit dem Teebeutel: ‚Hey, ich hab hier einen frischen Teebeutel, den können wir uns noch dreimal aufbrühen und so.’ Solche Sachen, die haben jetzt mit der Medizin nichts zu tun, aber das sind teilweise wirklich absurde Sachen. Oder dass jemand sagt: ‚Hey, ich hab von meinem Frühstück noch was übrig…’ Und nimmt also diese ganzen Reste, packt das in einen Bettelsack [und sagt]: ‚Da, nimm’s mit, dann kannst du das bei Bedarf essen.’ Was will ich mit einer halben Marmelade anfangen und mit diesen Wegwerftiegelchen, mit einem Rest Margarine und so? […] Das sind also ganz, ganz rationale Leute, wo man sich fragt, wie kommen die jetzt denn da drauf. Aber die können das nicht mit ansehen, dass die Schwester das Tablett abräumt. Dann findet man manchmal in den Schränken, so wie bei Heidi, die harten Brotreste, die einer da gehortet hat.“ (506)
Ein Mitarbeiter berichtet über einen Fall eines Flashbacks mit damit verbundener Aggression bei einem älteren jüdischen Patienten in der Krankenhausstation nach einer Operation: „Einmal hatten wir einen Widerstandskämpfer, der hat beinah mit einem Infusionsständer einen andern erschlagen, weil er der Meinung war, das wäre sein Gewehr mit dem Bajonett. [Lacht…] Im Nachhinein kann man lachen, aber in dem Moment war das überhaupt nicht lustig.“ (507)
Ein Gemeindemitarbeiter berichtet, dass ein Patient im Krankenhaus ein Durchgangssyndrom entwickelt hat und sich selbst wieder im Lager sah:
Spiegelman1991, S. 69.
4.3 Problemfelder
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„Ein Fall eines Patienten, dem es eher sehr gut ging, leicht dement, der aber ein sehr schlechtes Blutbild hatte, sollte zu einer Bluttransfusion in die Klinik gebracht werden. Dort wurde eine Altersleukämie diagnostiziert, und er kam in einem sehr schlechten Zustand zu uns zurück, weil diese Verlegung vom Heim ins Krankenhaus bei ihm ein Durchgangssyndrom verursacht hat, also sprich, er ist psychotisch geworden, er dachte, er ist in einem Lager, er hat sich verfolgt gefühlt.“ (508)
Ein Mitarbeiter berichtet, wie ein Patient, dem eine PEG-Sonde gelegt wurde und der wochenlang nicht gesprochen hat, die Behandlung als ein Flashback erlebt und sich als Opfer medizinischer Experimente sieht: „Und eines Tages geht er ganz gezinkt wieder in die Pforte, er war nicht fähig, einen Satz zu sprechen, er hat nur bababababa, hallo, hallo, bababababa. Und hat [plötzlich] ganz deutlich zu unserem Pförtner gesagt: ‚Ich weiß, dass man hier medizinische Experimente mit mir macht.‘ Mir sind die Haare zu Berge gestehen [sic!], also das können Sie sich vorstellen, mir standen die Haare so …“ (509)
Ein älterer Gemeindemitarbeiter, der selbst die NS-Zeit im Exil überlebt hat, meint zu Re-Traumatisierungen durch den Holocaust im Kontext des Krankenhauses: „[So etwas] ist mir noch nicht unterlaufen. Aber wenn ich theoretisch darüber nachdenke, wenn so etwas passieren würde, könnte man ja eigentlich gar nichts ändern an der Situation. Das ist ja einfach so etwas, was aus dem Unterbewusstsein heraus kommt, da kann man mit Engelszungen reden, das ist da. […] Wir können das verbal gar nicht kategorisieren. Das kann so viele Formen annehmen. Man kann nicht ein Rezept angeben, also sagen: Das waren das Bababababa.“ (510)
Ein Arzt berichtet, dass viele Holocaust-Überlebende schwere Angstzustände gehabt haben und nicht sehr alt geworden sind, so dass es in seiner Gemeinde nicht mehr viele von ihnen gibt: „Etliche Männer, die eigentlich DP-Leute [Anm. d.Verf: displaced persons, d. h. osteuropäische Überlebende der Konzentrationslager] waren, sind hier inzwischen verstorben. Die sind alle nicht so furchtbar alt geworden. […] Da gibt’s ganz andere, ganz andere Vorstellungen von den Leuten, ganz andere Angstzustände auch. Der eine sieht grüne Elefanten, o.k., aber der nächste, der sieht also echt irgendwelche Uniformierte aus der Wand springen. Diese Vorstellungen sind sicherlich davon beeinflusst. Es gibt jetzt nicht mehr so arg viele von diesen Leuten.“ (511)
In einer Gemeinde berichtet ein Arzt über das Aufbrechen verdrängter Probleme bei Holocaustüberlebenden und daraus entstehende psychische und somatische Probleme: „Wir hatten zwei Holocaustüberlebende, die […] kamen aus Polen. […] Der eine litt sehr viel, und er hatte ganz große Probleme […] mit dem Fertigwerden, mit dem, was er gesehen, durchge-
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macht hat. Der andere, der war [nach außen hin] lustig. Er hat alles in sich versteckt, und hat dann einen Herzinfarkt bekommen und ist gestorben. Und noch einer, der war auch von Polen und ist auch gestorben. […] Der war elend dabei, wog vielleicht 40 Kilo, war jede Woche in einem Krankenhaus. Er ist nicht fertig geworden damit. Aber akut jetzt haben wir keine solchen Fälle nicht mehr.“ (512)
In einer Gemeinde kennt ein Mitarbeiter persönlich keine Holocaust-Überlebenden mehr: „Selbst habe ich so etwas noch nicht erlebt. Wir haben auch relativ wenig Holocaust-Überlebende […]. Wir haben Überlebende aus irgendwelchen russischen oder ukrainischen Ghettos, die als Jugendliche dort waren, aber echte Holocaust-Überlebende haben wir in der Gemeinde gar nicht. Die waren da vor meiner Zeit, praktisch die Generation, die die Gemeinde nach der Nazizeit aufgebaut hat […], diese aus Polen stammenden KZ-Überlebenden, und die sind eigentlich sämtlich weg.“ (513)
Ein aus der GUS stammender Mitarbeiter weiß in seiner Gemeinde von keinem einzigen Fall von Holocaust-Überlebenden. (514) Ein Arzt berichtet, dass Traumatisierungen des Holocaust auch an die zweite und dritte Generation weitergegeben werden können: „Es gibt jetzt nicht mehr so arg viele von diesen Leuten [Holocaust-Überlebende], aber auch die zweite und dritte Generation sind noch einmal anders traumatisiert. […] Es ist etwas, was weitergeht. Was aber dabei mutiert, was sich also verändert. Man denkt dann: Das ist ja ein völlig rationaler Mann und was hatten wir jetzt für Angstzustände! Man merkt dann, wie dünn manchmal die Oberfläche ist, wie dünn manchmal die Fassade ist und was da drunter ist.“ (515)
Der Mitarbeiter eines jüdischen Seniorenheims berichtet, dass Kinder von Holocaust-Überlebenden besondere Probleme mit dem Tod ihrer Eltern haben, und plädiert für eine fallspezifische Betreuung der Second Generation: „Wie Ihnen sicher bekannt ist, ist die Konstellation der zweiten Generation, d. h. der Kinder von Shoa-überlebenden Eltern sehr kompliziert, wenn […] die Kinder dann wirklich merken, dass jetzt dieser unfehlbare Vater, diese unfehlbare Mutter, die Auschwitz überlebt hat, dabei sind zu sterben. Die meisten können das überhaupt nicht akzeptieren und suchen sofort einen Schuldigen: ‚Ihr gebt nicht genug Essen.’ oder weiß auch immer was, also es sind ganz komplizierte Zusammenhänge. Und gerade in der Begleitung dieser Angehörigen, die dann zum Teil wirklich sehr unkonventionell von uns begleitet werden, [achten wir darauf,] dass das dann einen guten Abschluss hat.“ (516)
Der Mitarbeiter berichtet ein Beispiel, wie schwer der Umgang mit dem Tod der Eltern für Angehörige der Second Generation sein kann und wie notwendig in diesem Zusammenhang die Begleitung durch speziell geschultes Personal ist:
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„Der Sohn konnte überhaupt nicht umgehen mit dieser ganzen Angelegenheit [dem Sterben seines Vaters], und als es ihm immer schlechter und schlechter ging, hat er versucht, Schuldige zu finden. Wir haben endlos Gespräche geführt, und ich habe dann sehr schnell gemerkt, […], dass vor allem der Sohn und die Schwiegertochter Begleitung brauchen, und da ist dann ein ambulantes Team des Hospiz mit zu uns ins Haus gekommen und hat engstens die Angehörigen begleitet. [Das war] im Hinblick auf die Halacha schon etwas grenzwertig … Also sie haben den Vater in den letzten Tagen sehr engmaschig begleitet, der Sohn hatte hier Videokameras aufgebaut mit dem Laptop und jede Minute des Vaters gefilmt. Das war auch für das Pflegepersonal belastend, und am Ende ist er dann, als der Vater verstorben war, also fast bis er abgeholt wurde, mit ihm in einem Bett gelegen. Also das ist natürlich, wenn wir’s mal so wollen, kein gesunder Abschied. Aber es war insofern gut, weil er ihn dann gehen lassen konnte und auch Frieden schließen mit diesem Ableben des Vaters. […] Also ohne Hilfe von diesbezüglich wirklich professionell geschulten Leuten denke ich, wäre das nochmal, eventuell sogar eskaliert.“ (517)
In diesem Zusammenhang bemerkt der Mitarbeiter: „Es ist, auch jetzt ganz akut, immer wieder auffallend, wie sehr viele Kinder der zweiten Generation an Krebs erkranken, das wäre mal auch eine empirische Studie wert.“ (518)
4.3.5 Probleme der Betreuer In den Interviews finden sich in den folgenden Punkten Problembereiche der Betreuerangesprochen: Zeitmangel, psychische Belastung, sprachliche und interkulturelle Probleme sowie bei Sozialarbeitern aus der GUS ein geringes berufliches Selbstbewusstsein.
4.3.5.1 Zeitmangel Die Begleitung von Sterbenden ist nicht einfach, wie ein jüdischer Arzt betont, vor allem deswegen, weil die Zeit für die individuelle Betreuung fehlt: „Ich habe schon mehrere Personen […] begleitet, und es ist schwierig. Es ist schwierig, die richtigen Worte zu finden, und für die Zeit ist es auch nicht so einfach, auf diese Weise individuell zu arbeiten.“ (519)
Ähnlich berichtet ein Mitarbeiter über die fehlende Zeit für eine adäquate Betreuung: „Ich habe in letzter Zeit sehr viel mit alten Menschen zu tun haben und bin dadurch auch mehr mit Sterbefällen konfrontiert gewesen. Dabei habe ich dann auch gemerkt, dass ich irgendwie nicht die nötige Zeit habe, die Leute wirklich zu begleiten und vor allem auch die Angehörigen zu begleiten und zu betreuen.“ (520)
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Er kommt zum Schluss, dass die Aufgabe der Betreuung Sterbender „nicht einfach ist oder auch sehr schwierig, sehr zeitaufwendig …“ (521)
4.3.5.2 Psychische Belastung Ein Mitarbeiter erklärt, dass die Begleitung Schwerkranker und Sterbender neben Zeit auch viele seelische Kräfte erfordert: „Da musst du bereit sein, viele seelische Kräfte, viel Zeit zu investieren. Anderes geht nicht.“ (522) Ein Rabbiner merkt an, dass diese Tätigkeit „je nach dem individuellen Fall sehr herausfordernd sein kann“ (523). Ein jüdischer Arzt erzählt, wie er selbst als junger Arzt das Sterben eines jüdischen Patienten erlebt hat im Zwiespalt zwischen der Bitte des Patienten, den Tod aufzuhalten und der eigenen Machtlosigkeit gegenüber dem Tod: „Der war noch nicht alt, der Mann, der war noch keine fünfzig […] Er hat sich dann an mir festgekrallt und hat mit dem Bein getreten. Und er sagt dann zu mir: ‚Gehen Sie nicht weg, gehen Sie nicht weg! Ich brauch Sie, Sie halten den Tod auf.‘ Jetzt hab ich nicht gewusst, was ich machen soll, aber ich konnte nicht weggehen. […] Am Nachmittag habe ich noch Visite und Berufsschulunterricht gemacht […] und in der Zeit ist er gestorben. Ich frage die Schwesternschülerin […] und sie weint und sagt: ‚Warum waren Sie jetzt weg? Der hat immer gesagt: [Name des Erzählers] muss sofort kommen, er muss sofort kommen, sonst sterbe ich… Der Tod kommt, der wartet schon auf mich und er muss ihn vertreiben. […] – Jetzt ist er deswegen gestorben…‘ – […] Das hat mich damals lange beschäftigt. [Pause, seufzt]‘. (524)
Probleme bereitet die Begegnung mit dem Tod auch erfahrenen Helfern, wie der Vorsitzende einer Gemeinde erklärt: „Wobei es mich immer wieder mitnimmt, jeder Sterbefall nimmt dich mit. Also du kannst noch so abgebrüht sein: Wenn dann die Angehörigen kommen und weinen, weinst du mit.“ (525) Ein jüdischer Arzt meint zu seiner eigenen Erfahrung, dass die Begegnung mit dem Tod nach einiger Zeit nicht mehr ganz so persönlich ausfällt: „Als Arzt wird man damit relativ schnell konfrontiert, im PJ ist es noch schwierig. Ich meine, es ist nie einfach. Aber es ist einem am Anfang noch sehr persönlich, wenn man also den ersten hat, der auf Station ist und bei dem man sieht, der wird versterben und der ist dann auch verstorben. Irgendwann ist es dann nicht mehr so persönlich, das heißt nicht, dass einem gleichgültig ist, überhaupt nicht, aber es ist einfach nicht mehr dieser wirklich ganz persönliche Bezug. Sonst kann man da nicht arbeiten, das geht nicht.“ (526)
Trotzdem möchte auch dieser Arzt nicht nur ausschließlich mit todkranken Menschen arbeiten:
4.3 Problemfelder
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„Ich meine, jetzt nur auf der Palliativstation zu arbeiten, das wäre für mich jetzt nicht das, was ich möchte. Ich möchte auch mal ganz normal einen fröhlich hinauslaufen sehen. Aber das sind Kollegen, die ich wirklich bewundere.“ (527)
Vor erhebliche psychische Anstrengungen stellt auch die Mitarbeit bei der Chewra kaddischa und die Beteiligung an der Tahara, der Leichenwaschung, wie ein ehrenamtlicher Helfer erklärt: „Das ist schwer, schwer für die Seele. Aber das ist Muss, ein Muss … Ich weiß nicht …“ (528) Dazu kommt bei Mitarbeitern der Chewra kaddischa die Sorge, durch eine Mitarbeit sehr einseitig auf die Bestattungstätigkeit festgelegt zu sein, wie ein Rabbiner erläutert: „Es gibt eine Chewra kaddischa, aber die haben ein bisschen Angst, sich [in der Gemeindeöffentlichkeit] so zu nennen, weil sie befürchten, dass sie dann nur mit den Sterbenden zu tun haben – das haben sie aber nicht.“ (529)
4.3.5.3 Sprachliche und interkulturelle Probleme Ein weiteres Problem der Betreuer sind Verständigungsschwierigkeiten, wie ein Gemeindevorsitzender erklärt: „Ich komme gar nicht an die Mitglieder heran. Es geht immer nur mit Übersetzung. Immer bin ich angewiesen auf Übersetzung und ich weiß nie, ob das so hinhaut, ob mich überhaupt jemand versteht. […] Besonders im religiösen Kontext, da ist alles total missverständlich.“ (530; ähnlich auch andere Gemeindevorsitzender: 531 und 532)
Für die Wahl von Übersetzern ist kulturelles Feingefühl erforderlich, wie ein jüdischer Arzt erläutert: „Oft gibt es eine Sprachbarriere, weil es viele Zuwanderer sind, [und es ist nicht einfach], jemanden zu finden, der dolmetschen kann. Das ist nicht unbedingt günstig, wenn das dann die Reinemachefrau ist, weil die das vielleicht gar nicht so herüberbringen kann – nichts gegen die Reinemachefrau … Aber ich schau immer, dass ich entweder eine Schwester bekomme oder einen Doktor aus dem Haus, wo man sagt, der kann das dem Patienten auch mit einer gewissen Autorität erklären. Und von dem kann der Patient es vielleicht auch eher annehmen, als wenn irgendjemand daherkommt.“ (533 ebenso auch 534)
In der Betreuung sind zudem weitere kulturelle und ethnische Besonderheiten sind zu beachten, wie ein jüdischer Arzt erklärt: „Und dann gibt es sicherlich auch noch bestimmte ethnische Eigenheiten, die aber jetzt weniger vom Jüdischen her kommen, sondern von der Umgebungskultur. In Russland zum Beispiel oder der Ukraine ist das jetzt nicht so viel anders, aber doch ein bisschen … Und bei Leuten, die jetzt
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aus dem Sephardischen kommen, ist das noch etwas ganz anderes, da sind wir schon näher am arabischen Kulturraum.“ (535)
Der Arzt bringt dazu ein Beispiel: „Es gibt eine ganz andere Schmerzempfindlichkeit, was der Mediziner, immer in Anführungszeichen, als den ‚Morbus mediterraneus‘ bezeichnet. […] Also sehr viel lauter, sehr viel mehr …“ (536)
4.3.5.4 Geringes berufliches Selbstbewusstsein Bei einem aus der GUS eingewandertem Sozialarbeiter finden sich im Interview eine Reihe von Aussagen, in denen er – ohne vom Interviewer darauf angesprochen worden zu sein– seine berufliche Professionalität und Aufrichtigkeit im Rahmen der Patientenbetreuung betont: „Wir haben kein hinterhältiges Interesse. Wir kommen nur in Richtung Hilfe. Ja, also beidseitig für Patient und für Personal.“ (537)
Er weist darauf hin, ihm gegebene Patienteninformationen nicht zu missbrauchen: „Wissen sie, ich brauche nur die trockene Information [vom Krankenhaus], um zu Verwandten [gemeint sind jüdische Patienten] zu gehen. Also, ich verwende [wohl gemeint: missbrauche] diese Information nicht.“ (538)
Ausdrücklich weist er auf die medizinische Kompetenz seines Teams hin: „Was unsere Gruppe betrifft: Ich habe medizinische Erfahrung. Ich habe ein deutsches Diplom.“ (539)
Er erklärt, die von ihm betreuten Patienten nicht frei zu erfinden: „Und es sind nicht ausgedachte Patienten. Wir machen eine Passkopie […]. Alles das sind wirklich Menschen, die existieren; es ist nicht, dass ich aus meiner Phantasie diese Menschen erfinde.“ (540) „Ich glaube, was mich und meine Gruppe betrifft, meine Aufgabe betrifft, da habe ich alles erzählt und nicht irgendwelche Märchen, die ich nicht mache. So etwas will ich nicht erzählen.“ (541) „Zauberhafte Leute sind wir nicht. Wir tun alles, was wir können.“ (542)
Nach den Fieldnotes des Verfassers machte der Mitarbeiter insgesamt einen verängstigten und unsicheren Eindruck. Er war sehr um Anonymisierung seiner Aussagen bemüht und hatte die Angst ausgedrückt, Mitarbeiter der konkurrie-
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renden privaten Pflegedienste könnten ihm persönlich schaden, wenn er sich zu offen äußern würde (vgl. unten, S. 155 f). Der Mitarbeiter zeigt damit eine defensive und rechtfertigende Haltung in Bezug auf seine berufliche Tätigkeit, die nach den Fieldnotes des Verfassers auch bei anderen Gemeindemitarbeitern zu finden ist, die aus der GUS eingewandert sind.
4.3.6 Probleme der Gemeinden In drei Bereichen finden sich in den Interviews Probleme, welche die Gemeinde insgesamt tangieren: zum ersten sind das Probleme bei der Personalausstattung und bei der Rekrutierung ehrenamtlicher Helfer, zum zweiten Probleme durch die Konkurrenzsituation mit privaten Pflegediensten und zum dritten Probleme, die in der Zusammenarbeit mit Betreuungsorganisationen auftreten.
4.3.6.1 Probleme bei der Personalausstattung und bei Rekrutierung ehrenamtlicher Helfer Ein hauptamtlicher Mitarbeiter einer Großstadtgemeinde fühlt sich überfordert von der Fülle der Aufgaben: „Wir haben über 9000 Mitglieder, und wir merken in vielen Punkten, dass wir understaffed sind. Und es ist schwierig, allen den Nachfragen zu begegnen und sie wahrzunehmen und so weiter, auch wenn wir es gerne machen würden…“ (543)
Ebenso klagt auch in einer kleinen Gemeinde ein Mitarbeiter über die unzureichende Personalausstattung: „Die Liste der von mir betreuten Personen – das sind fast 350 Leut e…“ (544) Die von den professionellen Mitarbeitern geleistete Arbeit beschränkt sich auf die Ebene der Sozialarbeit. Aus finanziellen Gründen ist etwa eine professionelle seelsorgliche Betreuung von den Gemeinden nicht zu leisten, wie ein Gemeindevorsitzender erklärt, so dass es bei Hilfeleistungen bleibt „auf der sozialarbeiterischen Ebene, mehr so technisch: Wie gehe ich damit um mit, wenn ich entlassen bin? Oder: Wie bekomme ich einen Grabplatz oder wann werde ich beerdigt? Das ist sehr wenig spirituell oder sonst wie emotional förderlich, […] aber es gibt einfach eine Arbeitsbeschränkung bzw.-überlastung. Aber es wird für eine kleine Gemeinde nie machbar sein, jemand, jemanden zu installieren, der sich da [professionell] kümmert. Es wird also immer ein ehrenamtlicher Zustand bleiben, rea-
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listisch gesehen. Es sei denn, man hat einen Rabbiner, der da ist. Aber schon das ist ja schwierig.“ (545) Die Sozialarbeiter selbst können nach Ansicht eines Gemeindevorsitzenden für die Vielzahl ihrer Aufgaben nicht ausreichend bezahlt werden: „Wünschenswert wäre aber, dass wir für unsere Sozialarbeiter vom Staat etwas Zusätzliches bekommen. […] Man müsste diese Arbeit bisschen besser honorieren. Und die Gemeinde alleine ist dazu nicht in der Lage, gut, wir zahlen die Fahrt, wir zahlen das Gehalt, aber das ist das Minimale. Und es wäre gut, wenn wir da ein Zusatz-Budget dafür bekommen würden. Wenn man mit Hingabe an einer Gemeinde arbeitet, dann darf man auch keinen Pfennig erwarten. Aber die Angestellten, von denen kann man nicht verlangen, dass sie mit dem Minimum auskommen. Gut, wir können in unserer Stadt die Lebenskosten nicht vergleichen mit X-Stadt oder Y-Stadt. Weil die Kosten niedriger sind, können wir damit zurechtkommen. Aber wenn die Energiekosten weiter steigen, dann brauchen wir etwas Spritze.“ (546)
Für Aufgaben, die neben der Sozialarbeit anfallen, ist es in den Gemeinden oft schwierig, ehrenamtliche Helfer zu finden, so etwa für den Besuchsdienst wie für die Chewra kaddischa, wie die folgenden Zitate aus verschiedenen Interviews zeigen: „Nein, wir haben hier keine Ehrenamtlichen…“ (547) „Also leider gibt es [für die Chewra kaddischa] keine anderen, die das machen wollen, aus den verschiedensten Gründen.“ (548) „[Es war] gar nicht einfach war, jemanden zu finden, der diese Arbeit auch machen wollte oder konnte oder auch möchte.“(549) „Chewra kaddischa, das ist schwierig, das sind fast nur Leute aus dem medizinischen Bereich.“ (550) „Es sind immer die gleichen Leute. Wir haben keine [neuen] Leute, die bereit sind mitzumachen.“ (551) „Wir haben Schwierigkeiten, Leute zu bekommen für die Chewra kaddischa speziell unter den russischen Mitgliedern. Es gibt viele russische Leute, die haben zum Beispiel kein Gefühl dafür [dass es eine wichtige Aufgabe ist], einen Toten zu waschen.“ (552)
Ein Rabbiner meint, dass die Mehrzahl der eingewanderten Gemeindemitglieder das ehrenamtliche Engagement nicht kennt bzw. in der GUS sogar gelernt hat, sich nicht zu engagieren: „Diese große Mehrzahl der Zuwanderer kennt das Volontariat, das freiwillige Arbeiten gar nicht richtig, denn da, wo sie herkommen, war alles vom Staat aus organisiert, Privatinitiative war äußerst gefährlich. Also keine Privatinitiative, und das scheint hier durchzuschlagen.“ (553)
Ein Mitarbeiter erklärt, dass bei den in seiner Gemeinde bestehenden ehrenamtlichen Strukturen das Problem der Überalterung und des fehlenden Nachwuchses
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besteht, wie im Beispiel eines Frauenvereins, der sich der Krankenbetreuung widmet: „Einen Frauenverein haben wir noch, der auch aktiv ist, aber überwiegend aus älteren Damen besteht, was einerseits zwar Vorteile hat, weil das ja hauptsächlich die Generation ist, um die es geht, andererseits durch die zunehmende Multimorbidität in dieser Altersgruppe auch eine Beschränkung darstellt.“ (554)
4.3.6.2 Probleme durch die Konkurrenzsituation mit privaten Pflegediensten In drei Interviews berichten Mitarbeiter, allerdings bei ausgeschaltetem Aufnahmegerät und bei Zusicherung strengster Anonymisierung, dass es immer wieder zu Diffamierungen der Tätigkeit der Gemeinden käme, etwa auch durch als bedrohlich empfundene Anrufe. Im Hintergrund stünden russische Pflegedienste, welche die Konkurrenz und auch die Kontrolle durch die Gemeindemitarbeiter fürchteten. Immer wieder soll es zu Fällen gekommen sein, in denen Pflegedienste mit ihren Klienten die Abmachung treffen würden, nur eine Minimalversorgung zu bieten und die höher abgerechneten Beträge, für die keine Arbeitsleistung erbracht wurde, zwischen Pflegedienst und Patient aufzuteilen. Die Armut der Patienten und ihr Wille, möglichst hohe Beträge als Unterstützung in die Herkunftsländer zu überweisen, begünstige dieses System. Die Folge daraus wäre eine große pflegerische Vernachlässigung dieser Klienten, die sich wegen ihrer Mitschuld an dem Betrug nicht aus dieser Situation befreien könnten. [Fieldnotes des Verfassers] Ein Mitarbeiter meint zu der Konkurrenzsituation mit den Pflegediensten: „[Nach anfänglich heftigen Auseinandersetzungen] haben sie im Laufe der Zeit verstanden, dass wir keine Konkurrenten sind, sondern gute Helfer. Wir erledigen für unseres kleines Geld unsere Aufgaben, die müssen ihre Aufgaben erledigen für ihr etwas größeres Geld.“ (555) Und er ergänzt: „Natürlich sind viele Leute ehrlich gesagt unzufrieden [mit der Leistung der Pflegedienste] und dann sie kommen zu mir und sagen zu mir: ‚Helfen Sie mir bitte!‘ Aber sie bekommen bereits Hilfe von Pflegedienst und sie wollen keinen Streit. Aber Hilfe brauchen sie doch. Dann sie kommen zu mir. Ich kann mich dem nicht entziehen. Aber bei den Pflegediensten anrufen und von meiner Seite mich beschweren, das will ich nicht, da will ich nicht einmischen.“ (556)
In einer anderen Stadt meint ein Gemeindemitarbeiter zu diesem Thema: „Es gibt viele russischsprechende Pflegedienste hier in X-Stadt, aber ich muss ehrlich sagen, wir haben da immer wieder Probleme gehabt. Und ich bin eigentlich dafür, dass wir einheimische Pflegedienste nehmen, also die Diakonie oder Caritas, weil die mittlerweile auch etliche russischsprechende Pfleger oder Mitarbeiter haben. Aber die meisten landen dann doch noch bei
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den russischen Pflegediensten. […] Das ist schwer, sich dazu äußern, also wie gesagt, ich arbeite lieber mit den einheimischen Pflegediensten zusammen, die dann wiederum Mitarbeiter haben, die Russisch sprechen.“ (557).
4.3.6.3 Probleme in der Zusammenarbeit mit Betreuungsorganisationen In einer Stadt erwähnt ein Rabbiner als Problem, dass die Krankenhäuser eng mit örtlichen Bestattungsunternehmen zusammenarbeiten und so jüdische Begräbnisse verhindert haben: „[Ein Problem ist,] dass man die Familien eines Verstorbenen nicht sofort in Verbindung mit dem nächsten oder dem beim Krankenhaus beliebtesten Beerdigungsinstitut in Verbindung bringen sollte… Also, davon habe ich gehört, dass ein Patient stirbt und sofort kommt man mit einem Vertrag an. Und die russischen Angehörigen, die ahnungslos sind und die Sprache sowieso nicht so gut herrschen, unterschreiben, weil sie glauben, dass man das tun muss. Dann ist es zu spät und die Gemeinde kann die Beerdigung nicht mehr übernehmen.“(558)
Ein schwieriger Punkt in Bezug auf die Zusammenarbeit mit Krankenhäusern ist das Problem des Informationsaustausches über jüdische Gemeindemitglieder als Patienten im Krankenhaus (dazu oben ausführlich S. 135 ff). Ein Rabbiner nennt als Problem die fehlende Möglichkeit, in bayerischen Krankenhäusern koscheres Essen zu erhalten: „Wenn jemand im Krankenhaus ist hier, hat er keine Möglichkeit, koschere Verpflegung zu bekommen.“ (559)
Ein Rabbiner sieht dieses Problem ebenfalls, relativiert aber die praktische Bedeutung: „Ein Hauptproblem sind die Speisen, also dass man Essen kriegen kann, das mehr oder weniger koscher ist oder mindestens, dass man Essen kriegen kann, dass nicht unbedingt total treife [unkoscher] ist. […] Und dann die Problematik wieder natürlich: die meisten Leute hier, die essen alle Art Speisen, auch zuhause, dann ist das nicht so wichtig, koschere Speisen im Krankenhaus zu bekommen.“ (560)
Ein Gemeindemitarbeiter sieht hier das vegetarische Speiseangebot der Krankenhäuser als Alternative: „Koschere Mahlzeiten gibt es meines Wissens nach im Krankenhaus in X-Stadt nicht; dafür gibt es eben vegetarische Kost.“ (561)
Im Allgemeinen berichten die Interviewpartner durchwegs von positiven Erfahrungen der Zusammenarbeit zwischen den jüdischen Gemeinden und den Part-
4.4 Umgang mit Problemen
157
nerorganisationen (Krankenhäuser, Seniorenheime, Pflegeheime etc.), wie beispielhaft in den nachfolgenden zwei Interviewausschnitten mit Rabbinern: „[Es gibt] überhaupt kein Problem. Als Rabbiner von X-Stadt kennt man mich meistens schon, und in dem Moment, wo ich mich vorstelle, haben die Leute größten Respekt, und sie bereiten alles vor, was sie nur können, um uns entgegenzukommen, um unseren Bedürfnissen zu helfen, was in ihrem Rahmen liegt. Da habe ich, Gott sei Dank, nie Problem gehabt. Da kann ich nur sagen, wie gut wir hier in X-Stadt zusammen leben.“ (562; vgl. 563) „Ich habe nie eine unangenehme Erfahrung gehabt, nie. Aber […] ich komme nicht offiziell als Seelsorger, ich komme als Besucher, und so wie jeder einer Besucher kommen kann, komme ich auch rein. Obwohl mit meiner Bekleidung, ich schaue schon ein bisschen anders aus, und viele Leute merken schon: Das ist eine religiöse Person. Aber für das Personal bin ich meistens ein Besucher wie jeder andere Besucher ohne besondere Probleme. Manchmal gehe ich schon auf das Personal zu, wenn es eine besondere Bitte gibt, und ich versuche, in einer Sache etwas zu helfen und zu erklären. Dann stelle ich mich als Seelsorger vor, und ich kann meine Aufgaben erledigen.“ (564)
4.4 Umgang mit Problemen Für den Umgang mit den Problemen konnten die in Abb. 17 dargestellten Subkategorien gefunden werden. Als Handlungsmotivation spielen Idealvorstellungen eine Rolle, deren Verwirklichung oder Annäherung von den Interviewten als der bestmögliche Umgang mit den Problemen im Zusammenhang mit der Begleitung Schwerstkranker und Sterbender angesehen werden (4.4.1). Im ultra-orthodoxen Bereich bestimmen theologische Vorstellungen der Rabbiner vom irdischen Leben als Vorbereitungszeit auf das Jenseits den Umgang mit Problemen im Patientenalltag (4.4.2). Für das konkrete Tun im Alltag finden sich in den Interviews das Konzept der Mizwa (4.4.3) und die Richtlinien, die sich aus der jüdischen Medizinethik ergeben (4.4.4). Außerdem finden sich in den Interviews auch eine Reihe praktischer Verbesserungsvorschläge für die Betreuung Schwerkranker und Sterbender (4.4.5).
4.4.1 Idealbilder als Handlungsmotivation Als Handlungsmotivation mit den Problemen konnten in den Interviews verschiedene Idealbilder gefunden werden, an denen sich die interviewten Personen orientieren. Dazu zählen Idealbilder von der Gemeindestruktur und die Idealvorstellung vom guten Tod.
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4 Auswertung
4.4.1.1 Idealstrukturen des Gemeindelebens In zwei Interviews mit Rabbinern spielt die Schweiz¹² als ideales Vorbild eine wichtige Rolle. Ein Rabbiner, der dort selbst eine Zeit lang gearbeitet hat, erklärt, wie dort Chewra kaddischa und Bikkur cholim eine in seinen Augen optimale Betreuung von Sterbenden und Angehörigen leisten:
SK1 Idealbilder als Handlungsmotivation SK1.1. Idealstrukturen des Gemeindelebens Schweizer Strukturen als Vorbild für Deutschland Idealvorstellung von einer solidarischen Exilgemeinde der GUS-Einwanderer Ghettobildung als positive Erfahrung SK1.2. Der „ideale Tod“ Ideal vom plötzlichen, schmerzfreien Tod Ideal vom friedlichen Einschlafen im Kreis der Familie Ideal vom Sterben zuhause SK2:
Theologische Erklärungsmodelle ultra-orthodoxer Rabbiner Sterben als Übergang in eine andere Welt Diese Welt als Vorbereitungszeit Krankheit als Erziehungswerkzeug Gottes Ablehnung der Palliativmedizin Religiöse Vorbereitung auf das Sterben notwendig Bekehrung entscheidet über Seelenwanderung Angehörige für spirituelle Ernährung Verstorbener verantwortlich
SK3
Das Konzept der Mizwa – die Religiosität des Handelns Religiöser jüdischer Mensch ist ganzen Tag beschäftigt, sein bestes zu tun Bemühung, Erkenntnisse der Pflegewissenschaft mit Halacha zu vereinbaren Das spezifisch Jüdische ist die Praxis Mitwa als Handlungsmotivation
SK 4
Jüdische Medizinethik Recht auf Grundversorgung und Analgetika Schmerzlinderung als ethisches Gebot Anerkennung der Palliativmedizin Keine religiöse Wertschätzung des Leidens Erlaubnis für bewusstseinsdämpfende Medikamente Gebot zur Nahrungsgabe und Problematik bei Nahrungsverweigerung durch Patienten Keine künstliche Verlängerung des Lebens Keine Verweigerung medizinischer Maßnahmen aus Kostengründen Verbot medizinischer Maßnahmen bei goses (Mensch im Sterbeprozeß) Bejahung der PEG-Sonde als lebensverlängernder Maßnahme Gebot zur Begleitung des Sterbenden
Abbildung 17: Hauptkategorie „Umgang mit Problemen“ mit Subkategorien
Zu den Gründen, warum in den Interviews gerade die Schweiz eine solche Rolle spielt, vgl. unten in der Diskussion S. 198 f.
4.4 Umgang mit Problemen
SK5
159
Praktische Lösungsvorschläge Unterstützung der Angehörigen besonders wichtig Eigene Räume für Angehörige in Krankenhäusern Aktivierung persönlicher sozialer Netzwerke Verbesserung der Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern Bessere Information der Gemeinden über kranke Mitglieder durch die Krankenhäuser Bedeutung persönlicher Kontakte zwischen Gemeinde und Krankenhaus Zusammenarbeit mit christlicher Krankenhausseelsorge Mitglieder sollen im Krankenhaus Wusch nach gemeindekontakt äußern Einrichtung eines ambulanten jüdischen Dienstes Einrichtung eines Sozialkomitees zur Koordinierung der Informationen Einrichtung einer Notfallnummer in der Gemeinde Gottesdienst als Informationsplattform über kranke Mitglieder Überleitschwester zur besseren Vernetzung Benennung von Kontaktpersonen durch die Gemeinden Case-Management für NS-Verfolgte Verbesserung der Mitarbeiterfortbildung in Krankenhäusern Ethische Beratung der Krankenhäusern bei schwierigen Entscheidungen Erstellung von Informationsmaterial für Krankenhäuser Gründung eines jüdischen Betreuungsvereins Einrichtung von jüdischen Senbioren- und Pflegeheimen Ausbildung jüdischer Hospizhelfer stärkere Berücksichtigung der Patientenwünsche beim Krankenbesuch keine Thematisierung religiöser Themen durch den Besucher Verbesserung der Rabbinerausbildung zu Fragen des Krankenbesuchs Einsatz von religionsunabhängigen Spiritual Care Advisers im Krankenhaus
Abbildung 17: Hauptkategorie „Umgang mit Problemen“ mit Subkategorien (fortgeführt) „Ich kehre also zurück auf meine Zeit in [Ort in der Schweiz]. […] Die Zuverlässigkeit und Feinfühligkeit, mit der die Chewra kaddischa und Bikkur cholim gearbeitet haben, das war unglaublich, wie das alles funktioniert hat, also immer bescheiden und nicht auffällig, aber alle Punkte von A bis Z waren berücksichtigt und alles wurde gemacht, um für die Familien, für die Angehörigen so wenig Schmerz wie möglich zu verursachen.“ (565)
Ideal wäre es seiner Meinung nach, das Schweizer System der Patientenbetreuung auch für Deutschland zu übernehmen: „[Gut wäre,] ein System aufzubauen, wie ich es aus [Ort in der Schweiz] gekannt habe, wo jemand die Informationen jede Woche aus den Krankenhäusern abholt und man dann eine Liste erstellt und die Patienten besucht werden. Uns würde so eine Institution sehr gut tun.“ (566)
Ein zweiter Rabbiner berichtet ebenfalls, dass in der Schweiz niemals ein Jude im Krankenhaus sich allein fühlen musste, nicht einmal auf der Quarantänestation:
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„Und so gab es im Judentum immer wieder die Bikkur cholim, die Krankenbetreuung. Ich erinnere mich, ich habe in (Ort in der Schweiz) gewohnt. […] Wir haben […] jede Woche eine Liste bekommen, welche jüdische Personen im Spital sind. Und die haben wir, bevor wir sie besucht haben, zuerst angeschrieben. Ich habe all denen einen Brief geschrieben, der innerhalb 24 Stunden angekommen ist. […] Und nie war einer [im Krankenhaus] allein. Und da habe ich einmal einen Fall gehabt, […] ein total liberaler Jude, und der war in Quarantäne eingeschlossenen. Niemand konnte herein zu ihm außer dem medizinischen Personal, gar niemand. Und […] er hat dann nachher überall publiziert: die einzigen, die zu mir gekommen sind, das sind [Name der jüdischen Besuchsorganisation].“ (567)
Ein anderes Idealbild von der jüdischen Gemeinde zeichnet ein Mitarbeiter, der aus der GUS eingewandert ist. Er hatte schon vor seiner Einwanderung die ideale Vorstellung von einer Gemeinde, in der die Emigranten fest zueinander stünden: „Also schon von Anfang an, sogar noch bevor ich nach Deutschland gekommen bin, gab es diese Vorstellung in mir, dass wir Emigranten fest zueinander stehen. Immer die Schulter von Mitmenschen zu spüren, einander zu helfen, zu unterstützen, in guten und wie in schlechten Zeiten.“ (568)
Eine solche Idealvorstellung ist für ihn Leitlinie in seinem Handeln: „Natürlich, wir sind alle sehr, sehr… Also die sind zerstört, viele, innerlich, und dann tut es mir gut, dass ich diesen Leute helfen kann, vielleicht ein bisschen ihr Leben leichter machen und nicht nur Termine erledigen. Sie kommen zu mir und erzählen mir ihre Geschichte. Sie wollen sich [bei mir] erleichtern.“ (569)
Den Menschen zu helfen, trägt für diesen Mitarbeiter dazu bei „auch mich selbst sicher zu fühlen und Deutschland integrieren – so etwas spielt eine wichtige Rolle.“ (570) Konkret stellt sich der Mitarbeiter vor, mit seiner Arbeit dazu beizutragen, dass „sich ein alter, behinderter Mensch ein bisschen Geld durch meiner Hände Hilfe sparen kann und dann eine Reise nach Berlin machen oder so, sich Deutschland anschauen, neue Erlebnisse bekommen, positive Eindrücke und mehr Erfahrung, sich eine Woche lang etwas gönnen. Denn unser Leben ist nicht etwas Besonderes, irgendetwas Ausgedachtes oder Mysteriöses. Unser Leben – das ist eine Sammlung von ganz einfachen Ereignissen, Erlebnissen, Emotionen.“ (571) Ein Rabbiner sieht die ideale „Infrastruktur der Gemeinde“ vor allem darin, „dass man sich gut kennt“ (572). Und wieder in einer anderen Stadt sieht der Gemeindevorsitzende die „Ghettobildung der Mitglieder“ als das „spezifisch Positive für diese kleine Gemeinde […], die sich auf einem Haufen aufhalten und nicht verstreut irgendwo sind,
4.4 Umgang mit Problemen
161
wo keiner merkt, wenn einer weg ist …“ (573) Der erste Schritt, den Menschen zu helfen, ist „natürlich die Integration in der Gemeinde“ (574).
4.4.1.2 Der „ideale Tod“ In den Interviews sprechen Mitarbeiter von ihren eigenen Wünschen in Bezug auf Sterben und Tod. Ein liberaler Rabbiner erläutert seine Vorstellung vom „idealen Tod“, der plötzlich, schnell und schmerzlos kommt: „Kein Mensch will sterben. Die wenigsten Menschen wollen sterben, das ist eben im Bereich des Mysteriums. Menschen hängen am Leben, grundsätzlich. Aber natürlich gibt es auch andere Situationen der körperlichen Versehrtheit, also sozusagen der Gräme usw., wo der Mensch nicht mehr leben will … Also ich habe so einen [Fall] in meiner Erfahrung, soweit ich mich erinnere, nie gehabt. Von meiner Seite her wäre natürlich der ideale Tod, der relativ plötzliche, schmerzlose.“ (575)
Gleichzeitig sieht er diesen idealen plötzlichen Tod als problematisch für die Hinterbliebenen: „Der [plötzliche Tod] ist natürlich am schlimmsten für die Überlebenden, für die Beteiligten.“ (576)
Ein orthodoxer Rabbiner sieht den Todeskuss, das friedliche und unerwartete Sterben, als ideale Form des Sterbens, welche schon in der Thora bei Moses und Aaron so beschrieben wird. Er erklärt auf die Frage, wie ein guter Tod aussehen könnte: „Friedlich einzuschlafen ohne Leiden. Ein sehr guter Freund von unserer Familie war herzkrank, er wusste, dass er Herzprobleme hatte. Er war mal mit seiner Frau in X-Stadt im Supermarkt, und sie hat etwas ausgewählt und hat sich umgedreht, um ihn zu fragen, ob das passt, da war er schon auf dem Boden. Von einer Sekunde auf die nächste. Also ein Erschrecken für die Familie, aber auf Hebräisch, ein misar s′neschika, also ein Todeskuss, was auf Deutsch eine sehr negative Schattierung der Bedeutung hat, aber in der jüdische Tradition [nicht]: Moses und sein Bruder Aaron sind mit einem misar s′neschika gestorben, haben sich einfach so hingelegt und sind friedlich eingeschlafen. Und wenn nicht friedlich einschlafen, dann jung und gesund bleiben.“ (577)
Ein Mitarbeiter sieht das Sterben bei Bewusstsein und im Kreis der Familie als Ideal- im Gegensatz zu einem Sterben im Krankenhaus und ohne Bewusstsein: „Wenn ich so darüber nachdenke, wie meine Mutter verstarb… Sie verstarb zuhause, die Kinder waren alle ums Bett gestanden, und wenn man schon von einem schönen Sterbemoment sprechen kann, dann würde ich gerne so sterben wie meine Mutter, dass die Kinder und die
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Familie um mich geschart und anwesend sind, was oft nicht möglich ist. Meistens hängt man an irgendwelchen Schläuchen, ist im Krankenhaus und bekommt sowieso nichts mehr mit. […] Du bist gesegnet, wenn Du Familie hast, die bei dir ist. So sehe ich das.“ (578)
Dabei wünscht sich der Mitarbeiter ausdrücklich, dass kein Rabbiner dabei ist, der von einem solchen Abschiednehmen in der Familie ablenkt: „Ich glaube, das, was ich mir am wenigsten wünschen würde, wäre ein Rabbiner, der vor mir steht und Gebete spricht und mich davon abhält, meine Familie, wenn ich denn bei Bewusstsein bin, noch einmal irgendwo wahrzunehmen. […] Vielleicht würde es einem anderen Menschen mehr bedeuten, wenn der Rabbiner betet oder wenn er Gebete hört, ich weiß es nicht.“ (579)
Auch ein jüdischer Arzt sieht das Sterben zuhause als nachvollziehbaren Wunsch an: „Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass, wenn jemand im Sterben liegt, die meisten Leute auf der Palliativstation gelandet sind. D. h., sie sind nicht im Krankenhaus, das ist eine Extraabteilung. […] Wir haben niemanden dort gehabt. Aber ich denke, einfach vom Nachbarschaftkontakt, das sind ganz nette Leute, die dort arbeiten. Und ich denke, das ist gedacht für diese Personen, die sehr einsam sind, die allein sind, keine Familie haben oder die Familie wohnt weit weg. Aber die Leute, die eine Familie haben, die verbringen ihre letzte Zeit einfach zuhause. Das kann man auch nachvollziehen.“ (580)
Ein zweiter jüdischer Arzt nennt als sein Ziel, ein Sterben zuhause zu ermöglichen, so das medizinisch möglich ist: „Wenn es die Bedingungen, wenn es die Erkrankung zulässt, wenn ich in der Lage bin, zuhause ‚medizintechnisch‘ eine Atmosphäre herzustellen, die das ermöglicht, dass er [der Patient] zuhause bestmöglich versorgt ist, dann ist er zuhause allemal am besten aufgehoben. Das erfordert natürlich viel Personal, das erfordert gute Vorbereitung, schnelle Organisation usw. Das sind ganz wichtige Sachen. Es hängt vom Einzelfall ab.“ (581)
4.4.2 Theologische Erklärungsmodelle ultra-orthodoxer Rabbiner Sehr ausführlich erscheinen in drei Interviews mit ultra-orthodoxen Rabbinern und dem Rabbiner von Chabad-Lubawitsch theologische Erklärungsmodelle als Richtschnur für den Umgang mit Problemen im Umfeld der Begleitung Schwer-
4.4 Umgang mit Problemen
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kranker und Sterbender. In den übrigen Interviews, auch mit Rabbinern anderer jüdischer Denominationen, finden sich inhaltlich vergleichbare Passagen nicht.¹³ Ein ultra-orthodoxer Rabbiner erklärt seine theologischen Vorstellungen zum Tod als den Übergang von dieser Welt in die „ewige Welt“: „Im Judentum heißt der Begriff Sterben nicht met [Anm. d.Verf.: hebräisch für sterben], d. h., er wird auch als Met benannt. Aber der triftige Ausdruck ist mitbatel mihaolam [Anm. d. Verf.: hebräisch für von der Welt fortziehen], das ist der richtige Ausdruck. Was der Unterschied? Gestorben sein heißt: Nichts ist mehr da. Und mitbatel heißt: ich verlasse einen Ort, ich gehe an einen anderen Ort. D. h.: Im Judentum ist die Welt eine vorübergehende Welt und die zukünftige Welt die ewige Welt. Und der Körper stirbt, die Seele lebt weiter.“ (582)
Das aber hat die Konsequenz, dass das Leben in dieser Welt nur eine Vorbereitungs- und Prüfungszeit für die „ewige Welt“ ist: „Die Seele ist auf dieser Welt nur da, um sich vorzubereiten für die ewige Welt. Und wenn sie in die ewige Welt kommt, muss sie da Rechenschaft abgeben, wie das Leben hier [gewesen ist], weil das ist [hier] ja eine Welt des Testens der Menschen, der Überprüfung: Hat er seine Aufgabe verstanden und richtig erfüllt usw.? Aber der Zweck des Menschen ist die ewige Welt. Und das ist und bleibt der Inhalt des jüdischen Lebens […]: Wir leben nicht hier, um uns ein gutes, glückliches Leben zu machen auf dieser Welt. Wir dürfen die Welt genießen, aber der Zweck des Lebens ist die ewige Welt. Das heißt: wir bereiten uns vor.“ (483)
Für kranke Menschen gilt es besonders, diese Aufgabe im Blick zu behalten: „Der Mensch, wenn er krank ist und echt krank ist, für den gibt es nur noch eines, den lieben Gott. So sollte er das ganze Leben leben, wissen, es gibt nur den lieben Gott, und alles andere ist Nebensache. Wenn er das versteht, dann hat er gelebt. Aber wenn er versteht, dass soundso wichtiger ist als sein Seelenfrieden, dann hat er sich geirrt. Und es sollte nicht so lange dauern, dass er unters Sauerstoffzelt kommt, um das zu verstehen.“ (584)
Diesen Gedanken illustriert er mit einer ausführlichen Erzählung über einen Multimillionär, der erst auf dem Sterbebett entdeckt, dass es das größte Geschenk für den Menschen ist, mit seinem Atem Gott danken zu dürfen: „In dem Moment ist der Mensch einfach nur noch der Mensch selber, er kommt mit sich ins Reine, will nur noch eines: ‚Lieber Gott, lass mich von eigenen Kräften atmen.‘ Das ist der letzte Satz in den Psalmen, Tehillim. Der letzte Satz, der letzte von 150 Kapiteln, der letzte Satz heißt: kol haneschama tehallelja… Die ganze neschama, die ganze Seele lobt den Ewigen, den Gott, halleluja. Lobet Gott! Das steht in der Gevurah, Talmud. Al kol neschima … Auf jeden Atemzug,
Vgl. etwa oben die Ansicht eines liberalen Rabbiners, dass sich keine begründeten Aussagen über ein Leben nach dem Tod machen lassen: S. 106 ff.
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den du vom lieben Gott bekommst, lobe Gott. […] Und wenn er dann wirklich herauskommt aus den Sauerstoffzelt… [macht einen lauten Atemzug.]: ‚Ah, lieber Gott, danke! Oh, danke vielmals, lieber Gott, wunderbar. So etwas wie das habe ich noch nie gehabt.‘ Das ist die Quintessenz von Menschen …“ (585)
Von daher sieht er Krankheit nicht als ein zu linderndes Leid an, sondern als eine Art Erziehungswerkzeug Gottes, welches den kranken Menschen wieder zum Kern seiner Bestimmung zurückführt. Palliative medizinische Behandlung von Kranken sieht er als minderen Ersatz für die eigentlich angemessene religiöse Betreuung¹⁴: „Das ist wieder ein Armutszeugnis unserer Zeit, die Palliativmedizin, die hat’s früher gar nicht gegeben. Warum? Jeder war einer Religion angeschlossen, […] und das ist das Traurige an unserer Zeit […] Früher hat jede Religion ihre Leute betreut, und jeder war einer Religion verbunden. Das ist nicht mehr da.“ (586) Weil die Menschen die Gesetze der Religion nicht befolgen, gilt für ihn: „Palliativmedizin ist nur ein notwendiges Übel.“ (587)
Auch ein zweiter ultra-orthodoxer Rabbiner sieht das irdische Leben als Vorbereitungszeit für ein „echtes Leben“ nach dem Tod: „Das Judentum glaubt oder basiert auf dem Wissen, das unser Leben hier eine Vorbereitung für das echte Leben ist. Das steht über jedem Friedhof: Haus des Lebens. Was bedeutet das: Haus des Lebens? Denn da ist wirklich das Leben. […] Also wir leben 80, 120 von mir aus, 240 Jahre, es ist nichts, es ist nichts, wenn man das mit der Ewigkeit vergleicht. […] Das hier ist nur eine Zwischenstation oder ein Wartezimmer für das echte Leben.“ (588)
Von daher ergibt sich für diesen Rabbiner als praktische Aufgabe für den Besuch eines Sterbenden, ihn auf den Tod wie auf eine Reise vorzubereiten, da sonst die Gefahr droht, vom himmlischen Gericht verurteilt zu werden, etwa zur Wiedergeburt als Stein auf dieser Erde : „Ich finde, man sollte [den Tod] direkt ansprechen, genau, wie man über die Vorbereitung für einen Urlaub spricht … […] Der Tod ist auch eine Art von Reise, und darüber muss man ganz ordentlich sprechen, weil früher oder später werden wir mit den Tatsachen konfrontiert. Denn Tatsachen bestehen da oben oder unten, und [manche Menschen merken es erst], wenn sie reingehen wollen: ‚Moment, da fehlt noch was. Du bist noch nicht genug in der Synagoge gewesen, also runter, ab jetzt wird deine Seele ein Stein!‘“ (589)
Es gibt aber auch auf dem Sterbebett noch die Möglichkeit, fehlende religiöse Leistungen auszugleichen: Vgl. dagegen die Hochschätzung der Palliativmedizin bei anderen Gesprächspartnern, vgl. S. 168.
4.4 Umgang mit Problemen
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„Wenn irgendwelche Gebete oder irgendwelche Taten oder, es ist egal was, noch fehlen, muss man das korrigieren. Das heißt in Hebräisch tikkun, der tikkun muss gemacht werden, tikkun muss das korrigieren.. […] Sonst bist du irgendwann hier zurück als Stein oder als Hund, und das musst du schaffen und diesen tikkun [machen]. […] So ist mein Verständnis von Wiedergeburt. […] Wenn [ich] als Mensch [zurückkomme, habe ich], die größten Möglichkeiten, das zu korrigieren, viel mehr, als wenn ich als Stein zurückkomme. Da gibt es eine Menge Geschäfte zu tun, das ist ohne Ende.“ (590)
Der Rabbiner erzählt in diesem Zusammenhang von einem Dorf in Israel, wo er aufgewachsen ist, und wo ein unbekannter Hund zu Yom Kippur aufgetaucht und den ganzen Tag vor der Synagoge gesessen ist. Er und sein Rabbiner haben darin die Läuterung einer reinkarnierten Seele gesehen: „Morgens früh […] sitzt der Hund da, Mittag er sitzt da, abends beim Schlussgebet, als alle nach Hause gehen, da hat mein Rabbi den Hund gesehen, wie er weggeht und verschwindet. Und seitdem hat man den Hund nicht mehr gesehen. Das kann man sicher auf verschiedene Weise erklären. Aber wir beide haben gleich gesagt, hier ist eine Seele, die sollte nochmal das YomKippur-Gebet hören, insgesamt, in irgendeiner Synagoge. Und der Hund hat das gemacht, er hat das geschafft. Aber was wäre passiert, wenn dieser Hund durch Steine, die auf ihn geworfen wurden, weggegangen wäre? Was wäre mit seiner Sünde dann passiert?“ (591)
Ein dritter Rabbiner weist auf die Verantwortlichkeit der Kinder für die Ernährung der Seele nach dem Tod des Körpers hin. Sie sind zur Einhaltung der Mizwot nicht nur um ihrer selbst willen aufgerufen, sondern auch, um ihren eigenen Verstorbenen immaterielle Nahrung zu spenden: „Die lebendige Seele geht weg. Das ist klar. Und sie braucht auch Nahrung. Sie braucht auch Essen, Trinken usw., aber anderer Art. Nicht mehr dieses Essen, Trinken […]. Wenn die Hinterbliebenen, die Familie, die Kinder […] eine bestimmte gute Tat machen, eine Erinnerung so gesehen, dann geht das oft mit Hilfe einer Spende, […] und es geht etwas von dem einen Ort an den anderen. Das muss keine materielle Spende sein. Es kann auch Zeit sein, die Spende ist auch gültig, wenn ich Zeit spende für andere Menschen. Oder Bildung oder ich gehe in die Synagoge. Am meisten gelten bei uns die Kaddisch-Gebete usw. Das sind alles Sachen, was die Kinder machen können, aber nicht nur die Kinder, es geht auch die Familie und es geht auch mit Freunden, aber meistens geht es über die Kinder. Ihr könnt der Seele weiterhelfen: d. h., die Nahrung, welche die Seele jetzt braucht, hängt von euch ab, von den Kindern. Denn sie kann sie selber nicht mehr besorgen. […] Für die Familie ist eure Verantwortung nicht zu Ende, auch wenn ihr alles gemacht habt bis jetzt. Es geht weiter, noch eine Mizwa und noch eine Mizwa, noch ein gute Tat…“ (592)
In Gemeinden mit ultra-orthodoxen Rabbinern lernen die GUS-Einwanderer solche Vorstellungen kennen und machen sie sich selbst zu eigen, wie dieser Einwanderer erklärt:
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„Und wir […] lernen jetzt mehr und mehr von unserem Rabbiner und einfach durch den Religionsunterricht. Und durch diese fast fünfzehn Jahre lernen wir mehr und mehr über die jüdische Tradition, und wir sind sicher, dass mit dem Tod das Leben nicht aufhört, das ist unsere Aussicht, weil der Körper und die Seele, die haben ein verschiedenes Niveau.“ (593)
Ein anderer aus der GUS eingewanderter Mitarbeiter sieht das irdische Leben als Vorbereitungszeit „für ein weiteres Leben“: „Wir können das Leben nach dem Tod nicht beschreiben, aber wir, die religiösen Leute, sind sicher, dass es Leben nach dem Tod gibt, und jeder religiöse Jude bereitet sich vor zum weiteren Leben, bereitet seine Seele vor für ein weiteres Leben.“ (594)
4.4.3 Das Konzept der Mizwa- die Religiosität des Handelns Auch außerhalb der Ultra-Orthodoxie begegnen in den Interviews theologische Deutungen in der Arbeit mit Patienten und zu Pflegenden. So sieht der Mitarbeiter eines jüdischen Seniorenheims seine Religiosität vor allem darin, in seinem Tun sein Bestes zu versuchen: „Ich bin jetzt eigentlich jüdisch religiös, ein jüdisch religiöser Mensch, und versuch so mein Bestes [lacht]. Da bin ich beschäftigt den ganzen Tag [lacht].“ (595)
Konkret bedeutet das für seine Arbeit, die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft mit den Vorgaben des jüdischen Gesetzes (Halacha) in Einklang zu bringen: „Wir versuchen die moderne Pflegewissenschaft, die modernen Erkenntnisse der Pflege mit unseren spirituellen Bedürfnissen, mit der Halacha in Einklang zu bringen.“ (596)
Ein liberaler Rabbiner sieht das spezifisch Jüdische in der Umsetzung der Theorie in die Praxis. Dabei sieht er in der konkreten Umsetzung der vorgegebenen Rituale eine große Stimmigkeit zu den Erfordernissen der konkreten Situation: „Also, das spezifisch Jüdische ist, dass man konkret die Theorie in der Praxis anwenden kann. Man sieht […], dass es wirklich so funktioniert, wie es gedacht wurde, sei es die Begleitung der sterbenden Person, seien es dann die Rituale, die nach dem Tod kommen, zum Beispiel die Tahara, die rituelle Waschung, Das ist eine ganz beeindruckende Sache, die man wirklich versteht und mitbekommt, wenn man das einige Male mitgemacht hat, also das ist immer ein Gefühl: es ist gut, dass es so ist. Es stimmt irgendwie in sich, obwohl es so ungewöhnlich ist, wenn man sich theoretisch damit beschäftigt, obwohl es ungewöhnlich ist, wenn man es dann durchführt. Man hat man dann das Gefühl: Ja! Irgendwie, es passt.“ (597)
Dieses konkrete Tun sieht der Rabbiner als Mizwa, als praktische Tat, die im Religionsrecht verwurzelt ist:
4.4 Umgang mit Problemen
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„Das ist Mizwa. Es ist wichtig, und deswegen machen wir es. […] Ja, es stimmt. es ist chesed schel emet [hebr.: eine in Wahrheit gute Tat], wie das Konzept heißt, und deswegen tun wir es.“ (598)
Ein Gemeindevorsitzender sieht im konkreten Einsatz des einzelnen, auch unabhängig vom Auftrag der Gemeinde, das spezifisch Jüdische in der Krankenbegleitung: „Ich denke, es ist natürlich unser Auftrag [als Gemeindeleitung], Krankenbegleitung und Sterbebegleitung zu machen, auch, aber nicht nur als Gemeinde. Jeder einzelne ist da betroffen und sollte sich da drum kümmern, das ist eigentlich etwas wirklich spezifisch Jüdisches, das zu tun.“ (599)
Ein Mitarbeiter erklärt seine Motivation nach dem Prinzip der Mizwa: wer erkennt, dass Menschen Hilfe benötigen, soll diese Hilfe leisten: „Schauen Sie: Diese Leute brauchen Hilfe, und deshalb soll man diese Hilfe leisten, das ist für mich mein Antrieb. Denn wir sagen: die Frauen zum Beispiel, diese Leute, sie wollen helfen. Das ist Mizwa. […] Sie kommen für diese Mizwa, sind bereit, sie zu machen.“ (600)
Ein jüdischer Arzt betont die ganz praktische Seite der jüdischen Religiosität beim Krankenbesuch, wobei Mitgefühl zeigen nicht Bedauern meint, sondern konkrete Hilfestellung: „Der Besuch soll möglichst kurz gehalten sein, dass man sein Mitgefühl zeigt, wobei ich immer sage: Bitteschön, bedauern nutzt keinem etwas. Mithilfe kann ich nur jemanden geben, in dem ich beispielsweise den Rollstuhl schiebe, also praktische Hilfe leiste.“ (601)
4.4.4 Jüdische Medizinethik In den Interviews werden theologisch-ethische Konflikte berichtet, welche die jüdische Betreuung Schwerkranker und Sterbender betreffen. Dabei geht es um die folgenden Themenbereiche: – Recht auf Grundversorgung und Analgetika (4.4.4.1) – Nahrungsverweigerung (4.4.4.2) – Unbedingte Wertschätzung des Lebens und lebensverlängernde Maßnahmen (4.4.4.3) – Sterbebegleitung (4.4.4.4)
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4.4.4.1 Recht auf Grundversorgung und Analgetika Ein Mitarbeiter eines jüdischen Altenheimes mit Hospizabteilung erklärt, dass ein Mensch gemäß jüdischer Medizinethik bis zum letzten Atemzug ein Recht auf Ernährung, Flüssigkeit, Sauerstoff und Analgetika hat: „Wir versuchen uns schon an die Halacha, an die jüdische Medizin und auch Pflegeethik soweit zu halten, dass wir sagen: Der Mensch hat bis zu seinem letzten Atemzug das Recht auf Ernährung, das Recht auf Sauerstoff, das Recht auf Flüssigkeit und das Recht auf Analgetika.“ (602)
Für jüdische Patienten ist demnach das Absetzen der Nahrungs- bzw. der Flüssigkeitszufuhr auch in der Terminalphase religionsrechtlich nicht möglich. Ein liberaler Rabbiner erklärt, dass Schmerzbekämpfung hingegen nach dem jüdischen Gesetz möglich ist: „Man kann alles tun kann, um Schmerz zu lindern und auch das Sterben zu erleichtern.“ (603)
Ein Mitarbeiter erläutert, dass Schmerzlinderung ein ganz wichtiger Aspekt jüdischer Sterbebegleitung ist und sieht hier die Parallelität zu den Erkenntnissen der Palliativmedizin: „Das lange von Schmerzen gezeichnete Siechtum ist das letzte, was man einem wünscht. Das natürlich nicht. Nachdem der Tod oft mit einer tückischen Krankheit kommt, ist die Palliativmedizin hier gefragt.“ (604)
Für diesen Mitarbeiter ist die Schmerzbekämpfung so wichtig, dass eine dadurch bedingte Lebensverkürzung akzeptabel ist: „[Es gelten] die Leitlinien der Palliativmedizin: Entlasten, Schmerzbekämpfung, auch wenn das manchmal nicht aktive, aber kleine, passive Sterbehilfe bedeutet. Weil wenn ein Mensch mit sehr viel, sehr viel Analgetika versorgt ist, hat er oft eine Atemdepression. Aber wir denken, es ist der höhere Wert, schmerzfrei die letzten Tage oder Stunden verbringen zu können. (605)
Hier sieht der Mitarbeiter einen Unterschied zum Christentum, wo er eine gewisse religiös begründete Wertschätzung des Leidens ausmacht: „Also, wir müssen nicht Schmerzen erleiden, wir werden dadurch keine besseren Menschen, was ja im Christentum durchaus eine Rolle spielt. […] Nicht wahr? ‚Wir leiden mit Jesus und werden dadurch besser oder geläutert‘ oder was auch immer. Also das spielt keine Rolle.“ (606)
Wie ein jüdischer Arzt erklärt, ist die Gabe von bewusstseinsdämpfenden Medikamenten in der Sterbephase möglich bzw. sogar wünschenswert, unter der Be-
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dingung, dass der Patient und die Angehörigen vor der Gabe der Medikamente in die Entscheidung einbezogen wurden: „Also, ich bin durchaus der Meinung, dass man bewusstseinsdämpfende Medikamente unbedingt geben sollte, wenn der Patient aufgeregt ist. Das hat sich auch in der Vergangenheit sehr bewährt, natürlich immer in Rücksprache mit den Angehörigen. Dass man sie auch aufklärt, dass man auch mit dem Patienten redet, warum man etwas tut: ganz, ganz wichtig.“ (607)
4.4.4.2 Nahrungsverweigerung Da die Nahrungsgabe bis zuletzt im jüdischen Religionsrecht vorgesehen ist, bedeutet Nahrungsverweigerung durch den Patienten für jüdisches Pflegepersonal ein großes ethisches Problem. Für einen Mitarbeiter eines Seniorenheimes ist das Nichtessen schwer zu ertragen: „Dieses Nichtessen, das dauert ja wirklich wahnsinnig lange, zum Teil. Und das ist sehr, sehr schwer auszuhalten, wenn ein Mensch nicht isst.“ (608)
Der Mitarbeiter berichtet, wie er Patienten, welche die Nahrungsaufnahme verweigern, zumindest immer ein Angebot zum Essen macht oder bei kompletter Verweigerung versucht, seine Zuwendung auf andere Wege der Fürsorge zu verlagern: „Wenn jemand Essen verweigert und Nahrung verweigert, was in der Demenz und was im hohen Alter sehr häufig vorkommt, weil ein alter Mensch oft spürt, dass sein Leben zu Ende geht und er diese Lebensenergien einfach ausschaltet, dann ist das einfach nicht mehr notwendig. Und das erstaunt mich jedes Mal, wie lange ein Körper aushält ohne Nahrung. Wenn ich an Yom Kippur [jüdischer Fasttag, an dem 25 Stunden lang nicht gegessen und getrunken wird] denke und am Abend [es vor Hunger kaum aushalte], […] [lacht] Aber was wir tun, wir bieten immer die Nahrung an. Also es hat jemand immer die Möglichkeit, und wenn es ein Löffelchen Apfelmus oder ein Joghurtlöffelchen ist: es wird immer konsequent hingestellt, angeboten, eingegeben. Wir legen nicht sofort eine PE, wir lassen sofort eine PEG-Sonde legen, was natürlich auch eine Möglichkeit ist. Auch da habe ich ein sehr interessantes Beispiel:Wir bieten es an. Wenn jemand den klaren Willen äußert, indem er so macht [zeigt gepresste Lippen] und überhaupt nicht mehr isst, versuchen wir mit ihm mitzugehen. Es ist sehr schwierig auch für uns als Pflegepersonal, ja weil, du bist erst mal ein Helfer, und dann willst du helfen. […] Aber wir müssen dieses Helfen dann halt verlagern in andere Dinge. Und Essen ist etwas, was du bis zuletzt machen kannst, eine Zuwendung, die du geben kannst, ein Lebenserhalt. […] Und es wird dann auch mal eine Infusion gelegt oder mal eine Flüssigkeitsinfusion gelegt, aber es wird palliativ, wirklich palliativ gepflegt bis zum Ende. […] Wir versuchen Flüssigkeit zu substituieren, und in der letzten Phase wird dann auch mit Morphium etc. gearbeitet, was natürlich schon die Sache dann leichter macht für den Menschen.“ (609)
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4.4.4.3 Unbedingte Wertschätzung des Lebens und lebensverlängernde Maßnahmen Ein liberaler Rabbiner erklärt, dass immer dann alle medizinisch möglichen Maßnahmen ergriffen werden sollen, solange die Möglichkeit des Weiterlebens besteht. Wenn diese Hoffnung nicht besteht, dann soll das menschliche Leben nicht künstlich verlängert werden: „Meine eigene Meinung ist, und die ist auch ziemlich traditionell im Judentum, dass man keine Verpflichtung hat, künstlich Leben zu verlängern und dass das Leben eher seinen Gang gehen soll und dass man auch nicht aktiv eingreifen soll, ein Leben zu beenden. […] Also keine Einsetzung von Mitteln, die über den Tod hinaus [sic!] den Menschen künstlich am Leben erhalten, an eine Maschine angebunden, wo keine Hoffnung mehr ist. Ich glaube, maßgebend ist: Solange eine Möglichkeit eines Weiterlebens besteht, [gilt es,] medizinisch aktiv zu werden … Also nicht sagen, das lohnt sich nicht mehr, das sind nur zehn Prozent. Das wäre kaltschnäuzig. Solange irgendeine Hoffnung besteht, wenn man sagt: Organisch ist das möglich, ja, dann schon. Wenn keine, also nicht.“ (610)
Er selbst will keine klaren medizinischen Vorgaben formulieren, sondern verweist hier auf die Verantwortlichkeit der Ärzte. Der Gedanke an eine Verweigerung medizinischer Maßnahmen aus Kostengründen ist für ihn unerträglich: „[Das wäre] eine Überschreitung meiner Kompetenz und meines Wissens. […] Deshalb komme ich zurück auf das, was ich gesagt habe. Es ist eine nach besten Wissen und Gewissen, auch nach Gesichtspunkten der Medizin, nach bestem ethischen Wissen und Gewissen medizinische Entscheidung, ob es so oder so noch eine Möglichkeit gibt, dass der Mensch nochmal eigenständig leben kann. Wenn der quasi tot ist, ja, nur durch Beatmung erhalten wird, so dass bei Abschaltung das Ende nur verlängert wird, da würde ich sagen: Nein. Denn würde ich ihn ohne Maschine lassen, wäre er nun gestorben. Ich möchte mich da nicht wissenschaftlich festlegen. Ich habe die Kompetenzen nicht. […] Wenn aber der Arzt sagt: ‚Die Krankenkasse zahlt nicht mehr …‘, dann flippe ich aus. Oder [wenn er sagt]: ‚Der ist zu alt dazu, ja, da ist noch Hoffnung, aber was soll denn das bei einem alten Neunzigjährigen…‘ Wenn er aber sagt: ‚Das wird wirklich nicht mehr, hundertprozentig …‘“ (611)
Ein jüdischer Arzt erklärt, wie er bei der Grenzziehung zwischen der Anwendung und Nicht-Anwendung der medizinisch möglichen Mittel auf die talmudische Kategorie des Goses (vgl. S. 7 f) zurückgreift: „Ich bin bei einigen internationalen Kongressen gewesen, wo besprochen wurde, wie man mit einem schwerstkranken Menschen umgeht, bis wann man alles unbedingt unternehmen muss und ab wann man aber auch nichts mehr tun darf, weil dieser Mensch im unmittelbaren Sterbeprozess ist. Ja, diese Grenze genau zu ziehen, als Betreuer, sei es nun als ehrenamtlicher oder als hauptberuflicher, den Ärzten beratend mit beizustehen, wenn keine Angehörigen da sind. Das wäre also eine sehr wichtige Sache. […] Es geht da um die talmudische Definition von Goses.“ (612)
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Als Beispiel erläutert er, dass jüdische Patienten – anders als nichtjüdische – sich im Fall von Speiseröhrenkrebs wesentlich öfter für künstliche Ernährung über eine PEG-Sonde entscheiden: „Wenn ein Mensch einen Speiseröhrenkrebs hat, kann er beispielsweise einen Stent in die Speiseröhre eingesetzt bekommen oder auch eine PEG-Sonde zur künstlichen Ernährung, ohne die er innerhalb einiger Tage verhungern würde. Mit diesen Hilfen ist oft ein Weiterleben für Monate bei guter Lebensqualität möglich. […] Viele meiner nichtjüdischen Patienten entscheiden sich dagegen. Wenn sie schon einen Krebs haben, dann wollen sie auch keine PEGSonde mehr oder andere lebensverlängernden Maßnahmen. Trotz dieser Aufklärung. […] Da sind viele recht radikal und helfen der Krankenkasse viel Geld zu sparen, aber sie müssen ja letztendlich ihre eigene Entscheidung treffen, und so wie sie das tun, ist es oft ein großer Unterschied zu den religiösen Menschen. Also das würden Sie so nie von einem jüdischen religiösen Menschen hören, das ist ausgeschlossen.“ (613)
Ein Rabbiner hat es als Fehler erlebt, vor dem Hintergrund der talmudischen unbedingten Wertschätzung des Lebens einem todkranken Patienten den Rat gegeben zu haben: „Sie müssen kämpfen, Sie dürfen nicht aufgeben!“ (614) Denn einige Wochen später kontaktierte der Ehepartner des Patienten den Rabbiner erneut, damit er den Patienten aus dieser Verpflichtung wieder herausnehme. Nur als das geschehen war, konnte der Patient in der Sterbephase mit gutem Gewissen seinen Wunsch aussprechen, nicht mehr alle technischen Maßnahmen zur Lebensverlängerung zu nutzen. (615) Der Rabbiner selbst war sehr erleichtert, dass der Tod nun innerhalb von 72 Stunden erfolgte – denn genau das ist die Frist, nach dem das jüdische Gesetz einen Menschen zum Goses (einem Sterbenden) erklärt: „Ich habe [in den rabbinischen Quellen] über Goses nachgeschaut: Goses ist eine Kategorie im jüdischen Gesetz. Wenn irgendjemand innerhalb 72 Stunden stirbt, dann soll nichts gemacht werden, um den Tod zu verhindern. Und ich habe dem Patienten dann in diesem Fall gesagt, falls er sich jetzt dafür entscheidet, dass der Sauerstoff abgestellt wird, dann hat er die Möglichkeit dazu nach dem jüdischen Gesetz. Die Gefahr ist natürlich, wenn der Sauerstoff abgestellt wird und der Patient verstirbt nicht innerhalb 72 Stunden, dann ist es nicht mehr die Kategorie von Goses und es darf nicht gemacht werden.“ (616)
4.4.4.4 Sterbebegleitung Wichtig ist es, den Sterbenden bis zuletzt rund um die Uhr zu begleiten, wie der Mitarbeiter eines jüdischen Pflegeheimes erklärt: „Und das ist jetzt auch wieder der jüdische Aspekt, der bei uns dann sehr stark zum Tragen kommt. Es heißt ja im Schulchan Aruch [Anm.d.V. klassische Auslegung des jüdischen Gesetzes in der Orthodoxie]: Du sollst einen sterbenden Menschen nicht alleine lassen, denn die Seele ist bestürzt, wenn sie den Körper verlässt- also eigentlich das moderne Gebot der Ster-
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bebegleitung, wenn Sie so wollen. […] Und das versuchen wir ganz strikt einzuhalten. Also, wenn wir sehen, ein Mensch kommt in den Zustand eines Goses, also einen sterbenden Menschen, dann organisieren wir mehr oder weniger eine 24-Stunden-Betreuung.“ (617)
Diese Begleitung beschreibt der Mitarbeiter so: „Es gibt [auch in unserer Institution] Menschen, die alleine sterben müssen, die schaffen das dann auch, wenn man gerade mal auf die Toilette geht oder einen Kaffee trinken geht. Und Dabeisein heißt nicht: Sie sitzen am Bett und sagen: ‚Du, ich bin da, ich bin da.‘ Sondern es kann ja auch heißen, Sie sitzen im Stuhl vor der Tür. Und wenn es notwendig ist, kommen Sie rein. Aber es ist jemand da, und wir versuchen, das strikt einzuhalten. Und da ist das gesamte Haus eingebunden. Das ist auch einmal die Heimleitung eine Nacht, und es hat sich auch schon der Koch eine Stunde dazugesetzt oder ein Mitbewohner und gesagt: ‚Ich habe mit diesem Menschen gelebt über viele Jahre, und jetzt begleite ich ihn. Aber das erfordert natürlich jetzt auch von unserem Sozialpädagogen einen hohen integrativen Ansatz, mit den Menschen zu arbeiten und sie zu begleiten.“ (618) „Und wir ziehen natürlich Helfer hinzu, wenn wir selbst es aus eigener Kraft nicht schaffen. Also wir ziehen Hospizhelfer hinzu, die dann auch am Bett sitzen.“ (619)„Zusammenfassend gilt: Der sterbende Mensch ist der Boss. Er bestimmt, was wichtig ist für ihn, wenn er das noch kann. Wenn nicht, müssen das natürlich ihre oder seine Angehörigen übernehmen.“ (620)
4.4.5 Praktische Lösungsvorschläge Die Interview-Partner machen Vorschläge für die praktische Verbesserung der Betreuung jüdischer Schwerkranker und Sterbender auf den folgenden Gebieten: – Unterstützung der Angehörigen und soziale Vernetzung (4.4.5.1) – Verbesserungsvorschläge für die Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern (4.4.5.2) – Verbesserung der Mitarbeiterfortbildung bei den Kooperationspartnern (4.4.5.3) – Einrichtung von jüdischen Senioren- bzw. Pflegeheimen (4.4.5.4) – Ausbildung jüdischer Hospizhelfer (4.4.5.5) – Anregungen in Bezug auf die seelsorgliche Betreuung (4.4.5.6)
4.4.5.1 Unterstützung der Angehörigen und soziale Vernetzung Ein Gemeindevorsitzender sieht in der Unterstützung der Angehörigen die beste Möglichkeit, die Situation jüdischer Patienten aus den GUS-Ländern zu verbessern. Die Betreuung der Angehörigen ist aus seiner Sicht wichtiger als die direkte Betreuung der Sterbenden. Grundsätzlich sollte die Gemeinde mit eigenen Mitarbeitern nur dann in der direkten Betreuung aktiv werden, wenn die Angehörigen ausfallen:
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„Solange Angehörige da sind, ist es [die Betreuung der Patienten] die Pflicht der Angehörigen. Um die Angehörigen zu unterstützen, sind wir da. Die Angehörigen brauchen Halt, die Angehörigen brauchen zum Teil auch [Anleitung]: Wie soll ich’s machen? Oder was soll ich tun? Mit den Angehörigen spreche ich auch leichter als mit einem Sterbenden. […] Für den Sterbenden bin ich nur eine x-beliebige Person. Wobei ich finde, dass diese helfenden Engel, die es in verschiedenen Krankenhäusern gibt, eine gute Einrichtung sind für Leute, bei denen sich die Angehörigen nicht um sie kümmern. Wir halten die Angehörigen an, sich um ihre Verwandten zu kümmern. Wenn die Angehörigen nicht da sind, springt die Gemeinde ein, sprich, unsere Betreuer, die nicht nur den Tod, das Sterben betreuen, sondern das Leben. Wir können nur Anregungen geben, sich um die Angehörigen mehr zu kümmern als um den Sterbenden selbst, weil der Sterbende, denke ich, doch mit den Angehörigen die beste Betreuung bekommt, die er zum Schluss braucht.“ (621; ähnlich 622)
Konkret denkt er daran, dass es gut wäre, eigene Räume und Übernachtungsmöglichkeiten für Angehörige in den Krankenhäusern einzurichten: „Und vielleicht bringt es mehr, im Krankenhaus einen Raum einzurichten, wo die Angehörigen für sich sein können, wo jemand da ist, der gute Worte hat. Das muss nicht religionsspezifisch sein. Ich meine, es gibt ja so viele Religionen … Aber es sollte wenigstens ein Raum da sein, wo die Angehörigen [für sich sein können], damit sie nicht in den Fluren herumstehen müssen, sondern dass es wirklich einen Raum gibt, wo man sich mal zurückziehen kann und sagen: Jetzt brauche ich eine halbe Stunde Pause, wo ich einen Kaffee bekomme und dann erst wieder zu dem Sterbenden treten kann. So etwas wäre gut. Oder vielleicht, wenn die von auswärts kommen, dass es dann vielleicht eine Übernachtungsmöglichkeit gäbe für Angehörige, die im Krankenhaus bleiben wollen, dass sie sich auch mal ausruhen können.“ (623)
Der Gemeindemitarbeiter sollte sich weniger um Seelsorge am Krankenbett kümmern, sondern vielmehr die Angehörigen in praktischen Fragen, wie etwa der Vorbereitung der Beerdigung beraten: „Das wären vielleicht eher Gedanken, die wichtig wären als [eine professionelle spirituelle Patientenbetreuung]. – Ich habe nichts dagegen, wenn Seelsorger sich ans [Krankenbett begeben]. Aber dann nur gemeinsam mit den Angehörigen und nicht einfach vorpirschen und sagen: ‚Hier bin ich, und jetzt kriegst du das, was du brauchst.‘ Wer weiß denn schon, was einer braucht? Also für die Angehörigen sollte meiner Meinung nach viel getan werden, weil die erleiden [den größten Teil]. Und vor allem auch das Weltliche ansprechen, die Beerdigung, die Beerdigungskosten, wie weiter zu [machen ist]. Das lenkt ab und gibt wieder neue Kraft, weil man sich dann sicher fühlt, dass man weiß, was zu tun ist. Denn sonst kommt noch die Angst dazu: Mein Gott, jetzt stirbt er, und dann weiß ich gar nicht, was ich tun soll. Dann verdoppeln sich die vorhandenen Ängste. Man sollte den Angehörigen helfen, alles leichter zu ertragen.“ (624; ähnlich 625)
Er selbst hat Angehörige zum Beispiel dadurch unterstützt, dass er ihnen Musik CDs mitgegeben hat:
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„Was ich schon gemacht habe, ist, dass ich CDs den Angehörigen gegeben habe mit jüdischer Musik, damit sie dem [Patienten], wenn sie nicht mehr weiter wissen zu sprechen, jüdische Lieder vorspielen, weil die alten Erinnerungen dann da sind. Ich habe es bei meiner Mutter gesehen, die hat am Schluss immer gesummt, immer eine Melodie gesummt. Deshalb weiß ich, dass Musik wahrscheinlich sehr beruhigend ist, und habe dann wirklich auch CDs den Angehörigen mitgegeben.“(626)
Auch in einer anderen Gemeinde beobachtet der Vorsitzende die Bedeutung der Hilfe durch Angehörige bzw. durch andere Gemeindemitglieder, insbesondere bei den russischsprachigen Mitgliedern: „[Wichtig ist auch] die interfamiliäre Unterstützung, die russischsprachigen Mitglieder sind ja sehr vernetzt untereinander, wohnen auch sehr kompakt zusammen, und letztendlich kümmern die sich dann schon umeinander. Also das funktioniert ganz gut, ohne dass wir da viel organisieren mussten. Ganz natürlich passiert das einfach aufgrund der räumlichen und sprachlichen Nähe.“ (627)
Wichtig ist das soziale Netzwerk, was bei religiös orientierten Juden auch vor der Krankheit schon gegeben ist und während der Krankheit eine wichtige Stütze darstellt: „Also wenn ein religiös jüdischer Mensch hierher kommt, ist es ja einfach – dann hat er ja meist in seinem Leben schon ein Netzwerk geknüpft, dann ist er ein aktives Mitglied in der Gemeinde, ob [Name liberaler Gruppe] oder [Name orthodoxer Gruppe] oder [Name ultraorthodoxer Gruppe], das spielt ja keine Rolle … Wir hatten hier drei sehr schwer orthodox jüdische Männer aus der [ultraorthodoxen Gruppe], da war das natürlich ganz eng und ganz wichtig. Die haben aber auch dieses Netzwerk schon zu früheren Zeiten geknüpft, die sind ja integriert innerhalb der Gemeinde. Und dann kommen die Gemeindemitglieder zu Besuch und […] bringen Essen, et cetera et cetera.“ (628)
Auch die Hilfsbereitschaft der Nachbarn kann hier zur Verbesserung beitragen, wie ein Gemeindevorsitzender betont, weil die Nachbarn die ersten sind, die von einem Krankheitsfall erfahren: „Wir schreiben wieder [in der Gemeindezeitung], dass Nachbarschaftshilfe das wichtigste ist. Wir können nicht wissen, wer krank wird. Aber wenn Mitglieder krank sind, wissen es die Nachbarn, und die Nachbarn oder die Verwandten sollen dann zur Gemeinde.“ (629)
4.4.5.2 Verbesserungsvorschläge für die Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern Grundsätzlich ist das Verständnis für jüdische Bedürfnisse in den Krankenhäusern groß, wie ein Rabbiner erklärt, und die Mitarbeiter in den Krankenhäusern suchen von sich den Kontakt zum Rabbiner:
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„Jedes Jahr kommen angehende Pflegeberufe, speziell Krankenschwestern oder -brüder, zu mir, um übers Judentum informiert zu werden.“ (630)
Ähnlich positive Erfahrungen mit einer offenen und persönlichen Form der Zusammenarbeit haben andere Gemeindemitarbeiter gemacht: „[Die Zusammenarbeit mit den Partnerorganisationen] ist immer offen, wir haben persönlichen Kontakt und meine Kollegen auch, wenn es notwendig ist, das funktioniert.“ (631) „Natürlich bestehen enge Verbindungen zu den Krankenhäusern und zu den Sozialarbeitern in den Krankenhäusern.“ (632) „Die Menschen sind eigentlich offen, auch die Kollegen in den Krankenhäusern, dass sie interessiert sind, dass das Thema kultursensible Pflege, wie man das auch nennen mag, ganz stark ist, im Moment überhaupt sehr stark ist, auch in der Ausbildung. […] Man kann einfach nur weiterbilden, ausbilden, informieren.“ (633)
Ein jüdischer Arzt erklärt, wie positiv er die rücksichtsvolle Arbeit im örtlichen Hospiz empfand, wo auch das Kreuz im Zimmer auf Wunsch des jüdischen Patienten abgehängt wurde: „Vielleicht in dem Zusammenhang ein sehr, sehr positives Beispiel von einem ehemaligen Patienten, der auf seinen Wunsch hin in ein Hospiz nach X-Stadt kam. Es war wirklich sehr, sehr angenehm, wie aufmerksam und rücksichtsvoll dort gearbeitet wurde. Selbst dem Wunsch des Sterbenden, das Kreuz im Zimmer abzunehmen, wurde sofort entsprochen. Das empfand ich also sehr entgegenkommend und war weit mehr, als ich erwartet habe.“ (634)
Der einzig problematische Punkt, den fast jeder Interviewpartner erwähnt, ist die fehlende Information über jüdische Patienten durch die Krankenhäuser (vgl. oben, S. 135 ff). Das Problem der Information der Gemeinden über eigene Mitglieder im Krankenhaus ließe sich einfach lösen, wie ein Rabbiner meint, „wenn wir eine Liste hätten und selber [Bescheid] wüssten.“ (635) In einer Gemeinde nimmt ein Mitarbeiter deswegen von sich aus Kontakt mit dem Krankenhaus auf, sobald er erfährt, dass ein Gemeindemitglied sich dort befindet. Auf diesem Wege kommt es zu einer guten Zusammenarbeit: „Wenn wir erfahren, da ist jetzt jemand ins Krankenhaus gekommen, rufen wir auch selber an und sagen: ‚Wir sind da. Wenn jetzt irgendwas ist oder so, könnt ihr bei uns nachfragen oder anrufen oder wir schicken einen Dolmetscher vorbei, falls die Ärzte jetzt mit dem Patienten nicht sprechen können.‘ Oder es wird dann nachgesehen, was ist, wenn der Kranke jetzt wieder aus dem Krankenhaus entlassen wird: Brauchen wir dann eine Pflegestation, soll er in die Kurzzeitpflege, zum Pflegeheim? Also da besteht eigentlich eine gute Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern und Pflegeheimen.“ (636)
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Ein Mitarbeiter aus einer kleineren Stadt freut sich darüber, dass es bei ihm weniger bürokratisch als anderswo abläuft, wobei persönliche Kontakte hilfreich sind: „Ansonsten läuft das nicht so bürokratisch, wie es vielleicht in städtischen Einrichtungen ist, sondern es geht sehr vieles auch über: ‚Ach weißt Du, habt Ihr jemanden … und ich hab da jemanden, und der müsste eigentlich … Kann mal jemand von Euch dahin fahren, ihn sich anschauen … Also da geht sehr viel über persönliche Kontakte.‘“ (637)
Ein Gemeindemitarbeiter sieht die Lösung für das Informationsproblem durch die personelle Vernetzung und die persönlichen Kontakte mit Krankenhausmitarbeitern: „Unsere gute Zusammenarbeit mit dem Krankenhaus ist vielleicht weniger institutionell bedingt, sondern eher personell, soweit ich auch in Krankenpflegeschulen unterrichte, dadurch auch sehr viel persönliche Kontakte geknüpft habe. Also ich denke, es ist ein Netzwerk aus Offiziellem und aus Inoffiziellem, das so im Laufe der Jahre gewebt wurde. Und das kommt gut zum Tragen. Also, ich finde die Zusammenarbeit relativ gut. Es gibt sicher immer noch etwas zu verbessern, aber an und für sich ist die Zusammenarbeit gut.“ (638)
Auch die Zusammenarbeit mit der christlichen Krankenhausseelsorge kann hilfreich sein, da diese den Zugang zu den Patientenlisten hat: „Ich habe ich einen engen Kontakt mit der Krankenhauspfarrerin [Name städtisches Krankenhaus], mit der Frau X., die mich dann anruft, wenn ein jüdischer Patient da ist, der Hilfe benötigt. Da arbeiten wir schon eng zusammen, oder es kommt mal von einem Krankenhaus eine Anfrage: Was müssen wir denn da tun? Das ist aber eher selten.“ (639)
In einer Gemeinde versucht der Mitarbeiter selbst den Informationsaustausch in die Hand zu nehmen und die Ärzte vorab über die ihm bekannten jüdischen Patienten zu informieren. Auf diese Weise kommt es zu einer guten Zusammenarbeit, bei der die Gemeinde das Krankenhaus etwa durch Dolmetscherdienste unterstützen kann: „Die Ärzte haben eine Liste, wenn sie unsere Mitglieder behandeln […], weil wir sie angeschrieben haben. Und wir haben die Liste von den betroffenen Personen, die Hilfe brauchen. […] Wir werden ja auch informiert über Verwandte oder über Angehörige, wenn jemand krank ist oder ins Pflegeheim kommt. Wir organisieren die Aufnahme ins Pflegeheim, und die Krankenhäuser rufen bei uns an und sagen, da ist jemand da, der spricht nur Russisch, können Sie uns weiterhelfen? Also das will heißen, dass es sich um ein Mitglied der Gemeinde handelt. Das läuft eigentlich ganz gut, dass wir Informationen bekommen, wenn jemand ins Krankenhaus kommt oder ins Pflegeheim.“ (640)
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Der Gemeindemitarbeiter ermutigt die Mitglieder, im Krankenhaus selbst nach dem Kontakt zur Gemeinde zu fragen: „Wir haben hier in der Gemeinde Seniorenkreise, Mittagstische, wo die alten Menschen hierher kommen und wo wir uns unterhalten. Da sagen wir immer: Wenn ihr irgendwo seid und nicht weiterkommt, dann gebt einfach unseren Namen an oder die Gemeinde.“ (641)
Sinnvoll wäre auch die Einrichtung eines ambulanten jüdischen Dienstes, wie ein Mitarbeiter erläutert: „Es gibt zum Beispiel keinen ambulanten jüdischen Dienst, was auch sehr wichtig wäre, wenn jemand im Krankenhaus ist, dass er mit koscheren Essen versorgt werden kann. Das müsste von der Gemeinde aus noch viel besser organisiert werden. Ich hab es mal probiert mit unserem Hausarzt, mit dem wir ein Netz schaffen wollten, wo man sich einfach verlinkt: ‚Ich bin im Krankenhaus, ich brauche…‘ Aber es hat nicht funktioniert. Es wurde einfach nicht genug bedient. Es kommt dann immer erst, wenn der Frust sehr hoch ist: ‚Ich war im Krankenhaus, und niemand hat mich besucht.‘“ (642)
In einer anderen Gemeinde gibt es den Plan, ein Sozialkomitee einzurichten, welches den Informationsfluss koordiniert: „Besonders wenn eine Gemeinde über 500, bis zu 1000 Mitglieder hat, gibt es viele Kranke. Eine einzelne Person, sei es der Rabbiner oder jemand anderes, kann es nicht schaffen. Deswegen ist es vernünftig, dass die Gemeinde eine Infrastruktur hat, ein Sozialkomitee, welches durch vorhandene Kontakte versucht, die kranken Personen zu erreichen. […] Wenn wir schon ein Sozialkomitee haben und der Rabbiner oder irgendjemand dabei ist, dann ist es an erster Stelle wichtig, dass man Kontakt zu der kranken Personen hat, und das kann nur passieren, wenn die Infrastruktur so gut ist, dass man voneinander so weiß. Wenn irgendjemandem etwas passiert, dann sagt es die eine Person der anderen, und dann kann man es später erfahren.“ (643)
Eine weitere Möglichkeit, die Kontaktaufnahme durch das Krankenhaus zu erleichtern, ist die Mitteilung einer Notfallnummer, wie ein Gemeindemitarbeiter erklärt: „Ich hinterlasse [beim Krankenhaus] meine Handynummer: ‚Wenn Sie was brauchen, wenn Sie Schwierigkeiten haben in der Kommunikation mit einem Patienten, rufen Sie mich an!‘“ (644)
In einer anderen Gemeinde wird diskutiert, eine telefonische Hotline für hilfsbedürftige Gemeindemitglieder einzurichten und dadurch auch besser mit den Krankenhäusern zusammenarbeiten zu können:
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„Wenn sie dort anrufen, und sei es mitten in der Nacht, haben sie am nächsten Tag eine Antwort, egal wo sie sind. Wir lassen sie nicht alleine. Das wäre eine Sache, die müsste von der Gemeinde kommen. Diese Hotline existiert noch nicht, aber ich werde weiter daran arbeiten.“ (645)
Auch in anderen Gemeinden wird vor allem im Kontakt mit den Mitgliedern eine Möglichkeit gesehen, die Information über kranke Gemeindemitglieder zu erhalten. Ein Rabbiner sieht dafür in seiner kleinen Gemeinde den Gottesdienst als geeignete Möglichkeit: „Erst muss ich beobachten: Wer kommt zum Gottesdienst, wer nicht? Wenn jemand mehr als ein, zweimal fehlt, dann frage ich, was mit ihm los ist. Natürlich ist es nicht schön, zu hören, dass einer krank ist. […] Dann höre ich: Ja, ich war krank, ich habe eine schwere Herzoperation, das und jenes, bei mir ist ein Krebs entdeckt usw. und so fort. Dann natürlich muss man entsprechend handeln.“ (646)
Auch in einer anderen Stadt erfährt der Rabbiner als erster von kranken Mitgliedern durch das Krankmeldung für den Gottesdienst (647) oder durch die Namensmeldung für das Mischeberach-Gebet. (648) Daneben gibt es auch institutionelle Anstrengungen, den Kommunikationsfluss zu verbessern: „Es gibt ausschließlich hier in X-Stadt eine sogenannte Überleitschwester. Das bedeutet, wir haben hier eine 50 %-Stelle, die von der Stadt X finanziert wird, deren einzige Aufgabe es ist, entweder einen Neueinzug [in das Seniorenheim] aufzunehmen oder aber die Verbindung zwischen Krankenhaus und Heim sicher zu gewährleisten. Und ich denke, eine Frucht dieses Samens, der dort gesät wurde, ist sicher unsere gute Zusammenarbeit mit dem Krankenhaus.“ (649)
In einer anderen Stadt, in der es für diese Aufgabe keine eigene Stelle gibt, kann die Nennung einer Kontaktperson weiterhelfen: „Sofern Menschen aus unserem Seniorenheim kommen, ist eine Kontaktperson im Überleitungsprotokoll benannt.“ (650)
Von einem speziellen Angebot für Holocaust-Überlebende berichtet ein Mitarbeiter: „Seit Neuestem gibt es einen Dienst, der über den Stadtrat gelaufen ist. Das ist ein Case-Management für NS- Verfolgte, also für die wirklich letzten Shoaüberlebenden. Da ist eine Sozialpädagogin am Werk, die auch pflegerische Erfahrung hat, die dann eben versucht, gerade für diesen speziellen Klientelkreis Hilfen zu organisieren. Sie selbst soll nicht pflegerisch tätig werden, sie soll Hilfen organisieren.“ (651)
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4.4.5.3 Verbesserung der Mitarbeiterfortbildung bei den Kooperationspartnern Für die Betreuung jüdischer Patienten in den Krankenhäusern sieht ein Interviewpartner die wichtigste Verbesserungsmöglichkeit in der Fortbildung der dort beschäftigten nichtjüdischen Mitarbeiter. Hier sollten die bereits vorhandenen Möglichkeiten weiter genutzt und ausgebaut werden: „Ich erlebe, dass die Menschen eigentlich offen sind, auch die Kollegen in den Krankenhäusern, dass sie interessiert sind, dass das Thema kultursensible Pflege, wie man das auch nennen mag, ganz stark ist, auch in der Ausbildung. […] Man kann einfach nur weiterbilden, ausbilden, informieren …“ (652)
Hier ist auch eigene Initiative der jüdischen Institutionen und Mitarbeiter wichtig: „Da muss man selbst aktiv sein und sagen: Wir gehen jetzt in die Krankenhäuser und sagen: Schauen Sie, das ist wichtig, wenn sie einen jüdischen Patienten haben.“ (653) „Sich mit Sterben auseinanderzusetzen, ist ohnehin schon schwer. Und jetzt dann auch noch Sterben als jüdischer Mensch, ist noch einmal eine spezielle Variante, und ich denke, das kann man nur verbessern, indem man als Kommunikationsmensch, als Kommunikator arbeitet, indem man das hinaus trägt: Was ist wichtig, wenn ein jüdischer Mensch schwer krank ist? Was ist wichtig, wenn er im Sterben liegt? Und ich denke, je öfters und je mehr, breiter wir dieses Wissen streuen, desto mehr Nutzen werden wir am Ende haben für die Menschen, die es dann betrifft.“ (654) „Es wird [dadurch] mehr Wissen nach außen getragen, und das ist wirklich gut. […] Das macht beschränkt relativ viel aus, denke ich.“ (655)
Die Früchte davon hofft der Interviewpartner vielleicht sogar selbst zu genießen: „Eines Tages werden auch wir diesen Weg gehen, und dann werden wir froh sein, wenn ich vielleicht im Krankenhaus liege und die Schwester sagt: Ach, der Patient ist jüdisch, da können wir jetzt keine Schinkennudeln servieren.“ (656)
Eine weitere wichtige Aufgabe der Gemeinden ist es auch, Hilfestellung bei schwierigen ethischen Entscheidungen im Krankenhaus durch die Einbeziehung der jüdischen Medizinethik zu geben. Ein Mitarbeiter berichtet: „Wir versuchen mit unserem Arzt gemeinsam, der ein sehr religiöser jüdischer Mensch ist, der es sich ethisch nicht leicht macht, [Entscheidungen zu treffen]. Es gibt so einen inoffiziellen Ethikrat, würde ich sagen, zusammen mit dem Rabbiner und mit mir und zum Teil auch mit einem nichtjüdischen ärztlichen Kollegen zusammen. Wir wollen, dass diese Verantwortung nicht auf einer Schulter liegt, sondern auf mehreren. Und ich denke, das ist eine sehr, sehr gute Geschichte, und wir fahren immer gut damit.“ (657)
In einer anderen Stadt gibt es das Ziel, hier zu einer institutionellen Lösung zu kommen:
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„Da ist jetzt so das Ziel, es zu entwickeln, dass man ein seelsorgerisches bzw. ethisches Konsil anfordern kann. […] Das ist noch im Werden. […] Wie hatten kürzlich eine Sitzung, da hat es geheißen, wir schließen uns mit dem Ethikrat kurz, […] und es werden jetzt erste Leitlinien entwickelt. Und dann soll es aber auch so sein, dass dann [im Bedarfsfall] möglichst zwei Leute kommen. Wir können ja nicht das ganze Ethikkomitee schicken und so wie die vierzehn Nothelfer ankommen. Wir werden dann sehen, wie sich das weiterentwickelt.“ (658)
In einer weiteren Gemeinde gibt es den Versuch, mit Hilfe von Informationsblättern Krankenhausmitarbeiter speziell für den Fall des Versterbens eines jüdischen Patienten zu sensibilisieren: „Aber natürlich erwarten wir […], dass man dann den Weg der jüdischen Rituale geht, und dazu muss auch die Leitung des Hospitals vorbereitet sein. Deswegen haben wir in der Gemeinde so ein Blatt, das wir verteilen an die Krankenhäuser im Fall, dass eine Person stirbt.“ (659)
Allerdings hat es bislang solche Information immer nur im Zusammenhang mit einem bestimmten Patienten gegeben– eine systematische, proaktive Form der Information der Krankenhäuser gibt es noch nicht: „Wir haben diese Informationen nie [außerhalb eines bestehenden Falles] verteilt, und es wäre natürlich eine gute Idee, das zu machen, damit man auf diese Weise bereit ist. Aber ich weiß nicht, wie viele Krankenhäuser es hier gibt und inwieweit man es machen könnte. Es geschah immer nur im Einzelfall, und wir haben nie systematisch die Krankenhäuser angesprochen.“ (660)
Ein jüdischer Arzt könnte sich vorstellen, einen jüdischen Betreuungsverein zu gründen, der die Kommunikation mit den Patienten und die Betreuung durch ehrenamtliche Helfer koordinieren würde: „Was mir deshalb sehr am Herzen liegt, ist ein jüdischer Betreuungsverein, da bei religiösen Menschen die Halacha auch im Umgang mit Krankheit und Tod die Richtschnur ist. Und viele Fragen im Hinblick auf die letzten Tage könnten aus dieser Perspektive anders beantwortet werden. Wenn man so etwas initiieren würde mit einem hauptamtlichen Chef – finanziert aus öffentlichen Mitteln-, der den Kontakt mit den Angehörigen halten könnte, ob sie nun in Israel oder hier sind oder in Amerika, dann könnte man eine ganze Riege ehrenamtlicher Betreuer rekrutieren, die, soweit ich weiß, nur einen Patienten betreuen dürfen. Aber dergleichen hätten wir eigentlich genug, gerade weil unsere Gemeinde mittlerweile zu einem Großteil aus Leuten aus der ehemaligen Sowjetunion besteht, darunter viele gut ausgebildete Akademiker, die gern noch irgendwas Wichtiges in dieser Welt machen möchten. Also das wäre eine Sache, die mir sehr am Herzen liegen würde.“ (661)
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4.4.5.4 Einrichtung von jüdischen Senioren- bzw. Pflegeheimen Bislang gibt es nur in München ein eigenes Israelitisches Seniorenheim und in Nürnberg eine jüdische Abteilung in einem Seniorenheim. Ein Mitarbeiter berichtet über dieses Konzept: „Wichtig ist hier einfach, dass wir sagen: ‚Wir sind ein jüdisches Haus‘, ganz bewusst. Völlig klar, weil es auch eine jüdische Institution geben muss, wo man [jüdisch] leben kann, ob man nun koscher isst oder nicht, das spielt keine Rolle.“ (662)
Die Aufnahme ist, wie der Mitarbeiter erläutert, an die Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde gebunden. „Bedingung ist, dass man Mitglied in einer jüdischen Gemeinde ist, es muss nicht die [örtliche Gemeinde] sein, aber man muss Mitglied einer jüdischen Gemeinde sein. Das ist auch eine finanzielle Frage, weil die meisten Menschen nicht die finanziellen Mittel haben, die Heimkosten alleine zu tragen und zu zahlen, und gerade die helfenden Institutionen wie der Bezirk etc. würden dann natürlich sagen, sie können auch in ein anderes Haus gehen. Sie müssen ja nicht in einem jüdischen Haus sein, die Kosten sind bei uns sehr viel höher als in anderen Häusern aufgrund der Bedingungen kashrut etc., und deswegen ist es notwendig, dass man Mitglied einer jüdischen Gemeinde ist. Manche Leute melden sich an, wir haben eine lange Aufnahmeliste, die melden sich rechtzeitig an, sonst funktioniert das meistens über die Integrationsabteilung der IKG, mit der wir sehr eng zusammenarbeiten. Außerdem haben wir natürlich auch enge Verbindungen zu den Krankenhäusern, zu den Sozialarbeitern in den Krankenhäusern.“ (663)
Vom eigenen Leitbild her ist die Individualität im Umgang mit den Heimbewohnern entscheidend, eine Pflege, die sich speziell an den „biografischen Anforderungen“ orientiert: „Das ist auch die Spezialität unseres Hauses, dass wir extrem individuell pflegen, und auch dann, wenn es um die letzten Stunden eines Menschen geht. Also, wir versuchen, auch biografisch jemanden nach seinen Bedürfnissen, nicht nur nach den medizinischen, sondern auch seinen biografischen Anforderungen zu pflegen.“ (664)
Dazu gilt es, die Heimbewohner und ihre Bedürfnisse genau zu kennen, was durch das Biografiegespräch erreicht wird: „Wir versuchen immer in einem Biografiegespräch [die Bewohner besser kennenzulernen]. Das ist kein Gespräch, das einmal stattfindet, sondern das zieht sich über die ganzen Jahre hinweg, wo man einen Menschen kennen lernt. Das ist ja der Vorteil zum Krankenhaus. Im Krankenhaus ist jemand vielleicht akut erkrankt und ist nur zwei Tage da, wenn er Glück oder Pech hat. Während wir den Menschen in seinem letzten Lebensstadium lange begleiten können. Wir wissen auch um seine Bedürfnisse. Wenn wir erkennen, es hat jemand dieses oder jenes Bedürfnis, dann initiieren wir das natürlich.“ (665)
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Auch in anderen Gemeinden wird als Ziel die Einrichtung eigener jüdischer Betreuungseinrichtungen genannt. So wünscht sich ein Gemeindemitarbeiter ein eigenes jüdisches Altenheim, so wie es das schon einmal in der Stadt gegeben hat: „Für unsere Arbeit haben wir einen Traum, unsere Leute, die Kranken, die Alten gemeinsam in einem Altenheim unterzubringen, so wie es früher schon einmal war. Nach dem Krieg gab hier ein [jüdisches] Altersheim.“ (666)
Der Mitarbeiter berichtet, dass es schon konkretere Pläne gibt, zumindest ein eigenes Stockwerk für jüdische Gemeindemitglieder im örtlichen Altersheim einzurichten: „Es gibt Überlegungen zwar nicht über ein Altersheim, aber für eine [jüdische] Abteilung. Wegen des Altersheims stellt unser Vorstand Überlegungen an, in Zukunft vielleicht ein eigenes Stockwerk für unsere Mitglieder einzurichten, vielleicht. Aber das ist nur Idee… Der erste Versuch ist nicht geglückt. […] Aber jetzt hat unser Vorsitzender gesagt, er versucht es wieder. Denn drei unsere Mitglieder [sind bereits dort], und es gibt die Möglichkeit, noch mehr unterzubringen. [Von dort ist es leicht,] hinübergehen zu der Gemeinde, zum Beispiel am Schabbat. Das Altersheim liegt in der Nähe.“ (667)
In einer anderen Gemeinde gibt es ähnliche Überlegungen, wie der Gemeindevorsitzende erläutert, da die fortschreitende Überalterung der Mitglieder diesen Schritt nahelegt: „Das einzige, was man zur Verbesserung der Situation kranker und pflegebedürftiger Gemeindemitglieder machen kann – und wir überlegen, es vielleicht zu machen, weil die Zeit uns sowieso zwingen wird, es zu machen, ist, dass wir irgendwie dort [im Pflegeheim] eine Abteilung oder ein kleines Stück für unsere Leute kriegen und irgendwie das auch anpassen können.“ (668)
In einer dritten Gemeinde berichtet ein Sozialarbeiter, dass in seiner Stadt die Einrichtung einer eigenen Etage für jüdische Heimbewohner im Altersheim möglich ist, sobald sich mindestens 15 Personen finden: „Wir haben schon in diese Richtung gearbeitet, haben auch schon die Zusage der Stadt für ein jüdisches Altersheim bekommen, nicht als ein Extragebäude, sondern eine Etage oder zwei Etagen. Aber das hängt an vielen finanziellen Punkten. Uns wurde gesagt, dass mindestens 15 Personen sich anmelden müssen, erst dann kann sich ein solche Einrichtung wirtschaftlich tragen.“ (669)
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4.4.5.5 Ausbildung jüdischer Hospizhelfer Die Bedeutung der Hospizbetreuung für jüdische Patienten wird von verschiedenen Gesprächspartnern hervorgehoben. Hier finden sich verschiedene Lösungsansätze. In einer Gemeinde gibt es auch einen Kooperationsvertrag mit dem örtlichen Hospizverein: „Durch sehr engen Kontakt von mir mit der Hospizbewegung haben wir im letzten Jahr einen Kooperationsvertrag geschlossen mit dem XXX-Hospiz in der xxx-Straße. Wir arbeiten auch mit der Y-Klinik zusammen, aber das gestaltet sich […] sehr, sehr vorteilhaft.“ (670)
In einer anderen Stadt sieht der Gemeindevorsitzende ein mögliches Zukunftsmodell darin, russischsprechende Gemeindemitglieder fortzubilden: „Die Grundlage [für eine sinnvolle Begleitung Schwerkranker und Sterbender] ist letztendlich die Verständigungs- und Kommunikationsmöglichkeit, und dass wir also aus dem Kreis der Russischsprachigen die Leute entsprechend fortbilden. Sonst haben wir keine Chance, die Menschen [die russischsprachigen Patienten] zu erreichen.“ (671)
In einer dritten Gemeinde gibt es bereits ein ganz konkretes Konzept, jüdische ehrenamtliche Hospizhelfer auszubilden. Ein festangestellter Gemeindemitarbeiter, der selbst kein Russisch spricht, berichtet über die Entstehung dieses Konzeptes, das sich zum einen nahegelegt hat, um die zeitlich überforderten festangestellten Gemeindemitarbeiter zu entlasten, zum anderen, um die schwerkranken und sterbenden Gemeindemitglieder auch muttersprachlich betreuen zu können: „Das war so, dass wir jetzt oder vor allem ich jetzt, die in der Beratung hier tätig bin, in letzter Zeit sehr viel mit alten Menschen zu tun haben, und dadurch auch häufiger mit Sterbefällen konfrontiert sind. Ich habe dann gemerkt, dass ich irgendwie nicht die nötige Zeit habe, die Leute wirklich auch zu begleiten und vor allem auch die Angehörigen zu begleiten und zu betreuen, und damals entstand die Idee für die Hospizarbeit. Ich habe da einen älteren Mann betreut, der ist an Krebs erkrankt und seine Frau war total niedergeschlagen. Er ist dann verstorben, und ich habe gemerkt, dass sie mit dem Tod ihres Mannes überhaupt nicht klar kommt. Da ist es mir irgendwie bewusst geworden, wir brauchen russischsprechende Hospizhelfer, da die Frau kein Deutsch gesprochen hat. Und so entstand dann diese Idee.“(672)
Für die Ausbildung russischsprachiger Hospizhelfer durch die eigene Gemeinde bestand keine Möglichkeit, da dafür weder die finanziellen Mittel noch die personellen und sachlichen Ressourcen zur Verfügung standen. Daher musste nach Kooperationspartnern bei den örtlichen Wohlfahrtverbänden gesucht werden:
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„Das geht nur so, indem wir mit anderen Wohlfahrtsverbänden zusammenarbeiten, weil wir nicht in der Lage sind, unsere Helfer [selbst] in der Arbeit auszubilden oder schulen zu lassen.“ (673)
Die Ausbildung bei einem ersten Hospizverein scheiterte daran, dass die ausgebildeten Helfer dann nicht nur für die eigene Gemeinde, sondern auch für den Hospizverein hätten tätig werden sollen. Die Gemeinde entschied sich daher für die Ausbildung der Helfer beim Malteser Hilfsdienst und erhielt für dieses Projekt Fördermittel über den Zentralrat der Juden: „Es gibt zwei Hospizvereine in [unserer Stadt], […] und wir haben erst den einen Hospizverein angefragt, aber die haben gemeint, ja okay, wir übernehmen die Schulung, aber nur dann, wenn Ihre Helfer dann auch für den Hospizverein zur Verfügung stehen. Und das wollten unsere Helfer nicht. Dann hatten wir bei den Malteser angefragt, und die haben gesagt: Für uns ist es okay, dass ihr dann wirklich nur eure Personengruppe betreut oder begleitet. Dann sind wir bei den Maltesern geblieben, und das Projekt ist auch über den Zentralrat finanziert worden oder bezuschusst worden, das heißt, die Schulungen wurden auch über den Zentralrat bezuschusst …“ (674; vgl. 675)
In den Jahren 2010 und 2011 sind insgesamt 5 Helfer durch den Malteser Hilfsdienst in mehrmonatigen Kursen in Sterbe- und Trauerbegleitung ausgebildet worden: „Das ist ein mehrmonatiger Vorbereitungskurs, wo die Helfer wirklich darauf vorbereitet werden, Sterbebegleitung oder auch Trauerbegleitung zu leisten. Das ist jetzt auch das Programm, was die Malteser anbieten, und wir haben dann 2010 drei Helfer ausbilden lassen und jetzt 2011 zwei weitere Helferinnen. Die […] Helfer haben einen Vorbereitungskurs absolviert, und im Anschluss mussten sie ein Praktikum absolvieren und haben dann mit der Sterbebegleitung begonnen.“ (676)
Der Mitarbeiter berichtet über die sehr offene Zusammenarbeit, die auch zum interreligiösen Verständnis zwischen jüdischen und christlichen Mitgliedern in der Ausbildungsgruppe beigetragen hat: „Das war sehr offen. Das hat uns sehr gefreut, dass die […] Malteser sofort einverstanden waren, und sie haben sich auch gefreut, dass jetzt Leute aus der jüdischen Gemeinde mitmachen, weil das für sie auch neu war. Weil sie ja vor allem christliche Menschen begleiten und betreuen, war das für sie auch eine neue Erfahrung. Ich denke, dass sie sehr froh darüber waren, dass sie jetzt auch Helfer aus einer anderen Religion schulen konnten. Es war auch so, dass die Gruppe dann hierher in die Gemeinde gekommen ist, sich auch das [jüdische] Museum angeschaut hat und dass die Helfer dann immer wieder berichtet haben: Wie ist es bei den Juden, also mit dem Krankenbesuch und mit der ganzen Geschichte.“ (677)
4.4 Umgang mit Problemen
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Einer der ausgebildeten Helfer berichtet, wie für ihn selbst die Ausbildung und der Austausch mit den nichtjüdischen Mitgliedern der Ausbildungsgruppe eine wichtige Erfahrung war: „2010 haben wir drei eine Gruppe der Malteser besucht. Das war eine ganz interessante Zeit, eine ganz neue Zeit für mich persönlich. Es war nicht einfach nach der Arbeit, zwei, dreimal im Monat, glaube ich, und ein Wochenende noch, zur Schulung zu fahren. Aber das lohnte sich, weil wir dort viele interessante Leute kennengelernt haben mit einem anderen Glauben und mit einer anderen Sicht auf das Sterben und den Tod.“ (678)
Seine Ausbildung erlebte der Helfer als nicht einfach, insbesondere in Bezug auf die notwendige Geduld beim Zuhören.Wichtig war ihm der Austausch mit seinem Ehepartner, der ebenfalls am Kurs teilgenommen hat, und das gemeinsame Gespräch über dieses Thema, das in der früheren Sowjetunion völlig ausgeklammert war: „Das war nicht einfach für mich. Mit den kranken Leuten muss man viel Geduld haben, muss man viel hören und die Leute nicht unterbrechen, ihre Persönlichkeit und ihre körperliche und seelische Eigenart [beachten]. Das war nicht einfach, und ich musste lernen zuzuhören. Wir haben viel gelernt durch diesen Kursbesuch. Auch körperlicher Kontakt ist sehr, sehr wichtig und natürlich [auch das Thema] Männer und Frauen. […] Mein Ehepartner war auch dabei bei diesem Kurs, und wir haben viel gesprochen, wie das bei uns [früher aussah], weil wir früher [d. h. in der Sowjetunion] nicht über dieses Thema sprechen konnten.“ (679)
Ein Mitarbeiter der Gruppe berichtet, dass er jetzt ein bis zweimal die Woche verschiedene Patienten besucht. (680) Er erzählt als Beispiel vom Gesprächsbedarf eines sterbenden, 92 Jahre alten Einwanderers: „Wir haben viel mit ihm gesprochen und er hat viel aus seinem Leben erinnert. Er hat so viel Gutes erinnert über seine Eltern, über seine Familie. […] Er hat auch seine Fehler erinnert, von seiner Familie erzählt. Alles hat er erinnert, und das war eine große Freude für ihn. Und jeden Tag, als wir miteinander gesprochen haben, hat er etwas Neues erzählt und sich ein bisschen weiter geöffnet.“ (681)
Ein Mitarbeiter berichtet von seiner eigenen Motivation für die Teilnahme an der Ausbildung als Hospizhelfer. Er selbst hatte nach dem Tod mehrerer naher Angehöriger erfahren, was es bedeutete, keine Hilfe zu bekommen und keinen Ansprechpartner für die eigene Situation zu haben: „Ich bin mehr oder weniger in die Gemeinde hineingewachsen, und im Jahr 2000 ist mein Bruder gestorben […] und die Jahre vorher meine Mutter. Die war von mir seit fünf Jahren betreut, und das war gerade nach dem Schlaganfall. Ich persönlich konnte keine Hilfe von außen bekommen, und ich selber konnte keiner anderen Person etwas erzählen, mit niemandem meine Gedanken
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teilen. Das war für mich schwer und dadurch habe ich verstanden, dass man etwas ändern muss und etwas Richtiges finden, um den Leuten zu helfen.“ (682)
Bei ihrer Arbeit wird die Gruppe auch weiterhin vom Malteser Hilfsdienst durch Supervisionstreffen unterstützt, wie ein Gemeindemitarbeiter erklärt: „Die Helfer werden dann über die Malteser weiterbegleitet in der Betreuung, das heißt, es finden wieder regelmäßige Treffen bei den Maltesern auch mit den einheimischen Hospizhelfern statt.“ (683)
Konkret treffen sich zu einem Supervisionstreffen 12 Personen einmal im Monat für 2,5 Stunden: „Wir haben einen Plan, wir treffen uns mit unserer Gruppe, das sind 12 Personen einmal monatlich und sprechen über verschiedene Probleme, die bei uns anliegen. Wir sprechen über unsere Hospizarbeit auch, als Hospizhelfer. I: Wie lange Zeit haben Sie für so ein Treffen? Also, gestern zum Beispiel von halb acht bis 22 Uhr, also zweieinhalb Stunden, fast immer, so nach der Arbeit. Einmal monatlich haben wir feste Termine. Gestern zum Beispiel haben wir die Planung für das nächste Jahr gemacht.“ (684)
Diese Supervisionstreffen vertiefen außerdem den örtlichen christlich-jüdischen Dialog, wie ein anderer Helfer berichtet: „In diesem Jahr haben wir einmal monatlich Supervision mit der Gruppe, und genau gestern habe ich zur Gruppe, auch zu der deutschen, christlichen Gruppe, die bei uns dabei war, gesprochen. Wir sprechen über verschiedene Sachen und über unsere Probleme und unsere Gefühle. Gestern habe ich erzählt, dass der Monat Teschwan für Juden ein besonderer Monat ist. In diesem Monat haben viele traurige Erinnerungstage, zum Beispiel die Reichpogromnacht und der Volkstrauertag und dazu noch meine Erlebnisse, meine Mutter und meine Oma sind da verstorben, und dieser Monat ist für mich persönlich sehr traurig. Das habe ich gestern schon meinen christlichen Kollegen erzählt und sie haben nicht gewusst, dass es [bei den Juden] einen anderen Kalender gibt und sie waren sehr interessiert. Dann erzählten sie umgekehrt die christliche Bräuche und christliche Probleme, die sie mit ihren Kollegen [gemeinsam] haben.“ (685)
Ein Gemeindemitarbeiter formuliert den Wunsch, auch andere jüdische Gemeinden könnten dieses Modell der extern ausgebildeten jüdischen Hospizhelfer übernehmen: „[Es wäre gut,] dass man in den [anderen jüdischen] Gemeinden drauf hinweist, dass diese Arbeit wichtig ist. Viele Gemeinden machen das auch nicht so, die sind jetzt erst einmal dabei, Sozialberatungsstellen in den Gemeinden aufzubauen oder einzurichten. Hospizarbeit, Nachbarschaftshilfe, was wir hier schon in der Gemeinde eingerichtet haben, das kommt alles erst später. Aber man sollte vielleicht wirklich den Gemeinden sagen: Passt auf, der Bedarf ist da,
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überlegt euch, ob ihr auch in diese Arbeit einsteigt, es gibt die und die Möglichkeiten bei einheimischen Wohlfahrtsverbänden, die so etwas machen, und da könnt Ihr auch die Helfer schulen lassen und dann in die Arbeit einsteigen, oder es werden über die ZWST [Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland] solche Fortbildungen für Hospizhelfer im jüdischen Bereich angeboten. Also ich denke schon, da könnte man so einiges machen.“ (686)
4.4.5.6 Anregungen in Bezug auf die seelsorgliche Betreuung In den Interviews finden sich Anregungen in Bezug auf die seelsorgliche Begleitung in drei Bereichen: als Ratschläge zum Krankenbesuch, als Verbesserungsvorschläge für die Rabbinerausbildung und als Hinweise für den Einsatz von nicht an eine bestimmte Religion gebundenen Spiritual Care Advisers am Krankenhaus. Ratschläge zum Krankenbesuch Ein jüdischer Arzt möchte bei der seelsorglichen Betreuung von jüdischen Patienten nicht von Spiritualität sprechen, weil er Spiritualität als eine Art von Ersatz für Religion ansieht: „Ich habe mit dem Wort Spiritualität – das ist ein Surrogat für mich – meine Schwierigkeiten. Es ist […] das, was dem Menschen eigentlich fehlt. Ich bin ein Fan von Viktor Frankl, und sicherlich, wenn den Menschen sehr viel verloren gegangen ist, dann suchen sie natürlich. Dann versuchen Sie natürlich, irgendeinen Ersatz zu finden. Aber, wie gesagt, ich würde Spiritualität grundsätzlich nicht bedienen wollen. […] Ich bin der Meinung, dass eine Religion […] einen Rahmen haben muss. Wenn sie den nicht hat, dann entwickelt sie sich zur Spiritualität.“ (687)
Spiritualität ist für ihn eine Scheinwelt, die sich ein Mensch nach seinen Wunschvorstellungen aufbaut – Religion dagegen eine Form und ein Rahmen, der sich als Richtschnur für Lebensentscheidungen durch die Weitergabe über viele Generationen entwickelt hat: „Ja, dann versuche ich also als ein kleiner Mensch mich in höhere Sphären zu begeben und mir einen Kosmos aufzubauen, also, der meinen Wunschvorstellung und Fantasien entspricht, um da in einer Scheinwelt glücklich zu werden. Das wäre also so in etwa das, was ich mir unter Spiritualität vorstelle. […] Ja, das braucht alles, alles, wie gesagt, eine gewisse Form, und einen Rahmen, und der hat sich über die Jahrtausende hinweg entwickelt. In der einen Religion länger, in der anderen Religion kürzer, und das wird von Generation zu Generation weitergegeben, und je klarer diese Weitergabe über die Generationen hinweg erfolgt, desto orientierter sind natürlich auch die einzelnen Mitglieder, wenn es darum geht, Entscheidungen zu treffen. Nur das, was ich schon vom Urgroßvater gehört habe, das kann ich auch letztendlich in meinem Leben versuchen als Richtschnur zu nehmen.“ (688)
Wegen dieser familiären Verwurzelung von Religion ist es für den Arzt wichtig, ganz genau auf die Bedürfnisse des Patienten zu achten. Deshalb sieht es der
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Arzt als problematisch an, von außen auf einen Patienten mit religiösen Themen heranzutreten. Jede seelsorgliche Betreuung ist vielmehr völlig auf das auszurichten, was an Wünschen vom Patienten selbst ausgeht: „Das ist problematisch, sollte also ausschließlich vom Patienten ausgehen. Weil, wie gesagt, wir verkaufen ja nicht das Seelenheil und insofern muss ich sagen: Wenn der Mensch, wenn der kranke Mensch ein Bedürfnis hat, über irgendwas zu sprechen, z. B. Widui zu sagen, dann ist das etwas anderes. Das sollte von ihm kommen.“ (689)
Der Besucher hat nach Ansicht des Arztes auch nicht die Aufgabe, von sich aus irgendeine schlechte Nachricht, sei es über den Gesundheitszustand des Patienten, sei es über sonst irgendein Thema, zu überbringen: „Es heißt in der Halacha, dass, wenn ein Mensch schwer krank ist und ein Bekannter von ihm ist gestorben, man ihm das möglichst nicht sagen sollte. Es sei denn, er fragt ganz konkret danach. Und es heißt auch, dass, wenn man in eine andere Stadt geht und eine Todesnachricht an einen Verwandten überbringen könnte, man sie nicht ungefragt einfach sagen sollte. Man darf sie nur sagen, wenn man danach gefragt wird. Ja, und das sind natürlich schon große Unterschiede zwischen dem, was heute landläufig üblich ist, und dem, was man in der Jüdischkeit traditionell tut.“ (690)
Auch Jenseitsvorstellungen sollte der Besucher nicht von sich aus thematisieren: „Jeder hat seine Jenseitsvorstellung. Und selbst unsere Weisen sind ja nicht so ganz einig darüber. Also, da muss ich sagen, das ist auch nicht Gegenstand der Thora. Wir leben in dieser Welt, und wenn wir das alles befolgt haben, was zu befolgen ist, dann wird’s weitergehen. Es ist nicht unsere Aufgabe, darüber zu spekulieren.“ (691)
Aufgabe des Besuch69ers am Krankenbett ist vor allem, dem Kranken oder dem Trauernden die Möglichkeit zu geben, von sich aus zu sprechen und selbst zuzuhören, also „hinzugehen und ganz normal dem Kranken die Möglichkeit zu geben, dass er sagt, was er sagen möchte. Dass man als Freund kommt, den kranken Menschen möglichst aufzurichten versucht. Und, ich denke mal, das tut man wie beim Trauernden am ehesten damit, dass man zuhört.“ (692)
Ein Gemeindemitarbeiter sieht die Eigenschaften eines guten seelsorglichen Betreuers vor allem im Zuhören-Können, in der Vermeidung deplatzierter Ratschläge, in der Kenntnis medizinischer Besonderheiten und in persönlicher Nervenstärke:
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„Ich denke, die Gabe des Zuhörenkönnens ohne die Erteilung von vermutlich gut gemeinten, aber deplatzierten Ratschlägen, z. B. ‚Das wird schon wieder‘, ‚Kopf hoch‘, ist eine der wichtigsten Anregungen, die ich meiner Meinung nach Ihnen geben kann. Auch sollten diejenigen, die sich um die Betreuung kümmern, sich mit medizinischen Besonderheiten auskennen und sie sollten auch nervenstark genug sein, einen solchen Liebesdienst ausüben zu können.“ (693)
Verbesserungsvorschläge für die Rabbinerausbildung Ein liberaler Rabbiner berichtet, dass bei der Seelsorgeausbildung „in Deutschland die jüdische Seite nicht so entwickelt ist“ (694). Sein Verbesserungsvorschlag ist die stärkere Zusammenarbeit mit christlichen Seelsorgern bei der Rabbinerausbildung, da auf christlicher Seite bereits mehr Erfahrung auf diesem Gebiet vorliegt. Das Abraham Geiger Kolleg in Berlin, zuständig für die Ausbildung liberaler Rabbiner, arbeitet deswegen bereits mit christlichen Seelsorgern zusammen. Der Rabbiner hat selbst bei seiner eigenen Ausbildung in Berlin gelernt, „dass man von der christlichen Seite [Seelsorge] aktiv anbietet“ (695). Diese aktive Herangehensweise, Seelsorge nicht nur auf Anfrage, sondern über die Institution Krankenhaus generell als Angebot zur Verfügung zu halten, ist für ihn eine wichtige Verbesserungsmöglichkeit: „Ich glaube, von jüdischer Seite, auch wenn die Patienten nicht so zahlreich sind, sollte man es auf ähnliche Weise machen.“ (696)
Einsatz von Spiritual Care Advisers im Krankenhaus Ein liberaler Rabbiner kann sich vorstellen, im Krankenhaus nicht an eine bestimmte Religionsgemeinschaft gebundene Spiritual Care Advisers einzusetzen. Diese Menschen sollten die religiösen Antworten kennen und flexibel auf die religiösen und nichtreligiösen Betreuungsbedürfnisse der Patienten eingehen. Menschenfreundlichkeit wäre dabei eine Berufsvoraussetzung und ein unvoreingenommenes Verhältnis zur Religion: „Ich könnte mir vorstellen, dass es auch nicht-Denomination gebundene spirituelle Begleiter geben kann, und genau dafür müsste man sorgen … […] Aber auch hier, Achtung: Denn es ist eine schwierige Abwägung: Wen schick ich da hin? Denn diese Koordinatoren, die ich mit Vorsicht genießen würde, würden dann quasi entscheiden: Ja, das ist das ein Säkularer, das ist ein Atheist, der braucht ein Soundso und der ein Soundso. Da wird die Fehlerquote groß sein, das ist wahrscheinlich der wunde Punkt, der schwierigste Punkt. […] Der Spiritual Care Adviser sollte [durch seine Ausbildung] zum mindesten auch die religiösen Antworten kennen, damit er weiß, was der andere [der von ihm bestellte religionsgebundene Betreuer] sagen soll, wenn es sein muss. Und er muss ein Menschenfreund sein, flexibel, nicht indoktrinär. Er darf auch kein verbrannter Säkularer sein.“ (697)
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In diesem Beruf wäre eine große Improvisationsfähigkeit gefragt, um auf die unterschiedlichen Fälle und Bedürfnisse eingehen zu können: „Wenn jemand nicht improvisieren kann aufgrund der Sachlage, dann sollte er diesen Beruf gar nicht wählen.“ (698)
Ein Spiritual Care Adviser könnte auch bei Patienten, welche durch Erlebnisse des Holocaust traumatisiert sind, hilfreiche Arbeit leisten, ohne durch irgendein vorgefasstes Konzept festgelegt zu sein: „Das ist ja einfach so etwas, was aus dem Unterbewusstsein heraus kommt, da kann man mit Engelszungen reden, das ist da. Hier ist eben der gesunde Menschenverstand des Spiritual Advisers gefragt, […] dass er auf den Patienten eingeht. Ich will sagen, Holocausterinnerungen, die sind so vielfältig, das ist es: Was sagt er, wo sind seine Sorgen? Wir können das verbal nicht gar nicht kategorisieren. Das kann so viele Formen annehmen. Man kann nicht ein Rezept angeben, also sagen: Das waren Bababababa.“ (699)
Ein Spiritual Care Adviser könnte diesem Rabbiner zufolge auch Menschen betreuen, welche allem Religiösen negativ gegenüber stehen, und auf die Qualität des Lebens verweisen, das ein Mensch gelebt hat: „[Angesichts des Todes] kann man jetzt nicht so die Heilsbotschaft verkaufen […] Da braucht man keinen religiösen, sondern eher einen, sagen wir, psychologisch einfühlsamen, flexiblen Berater, der einfach auf die Menschen eingehen kann, ohne spirituelle Elemente, religiöse Elemente […], der vielleicht abhebt auf die Qualität des gelebten Lebens, die guten Dinge, die man vollbracht hat. Wenn zum Beispiel der Patient Familie hat, Kinder und Enkel, dann bleibt doch etwas übrig, dass man ihm so den Wert seines Lebens nochmal zeigt, das würde ich sehr wertvoll finden, auch für religiöse Beratung nebenbei. Da fehlt nur das religiöse Element. […] Nein, es muss auch Leute geben, die auf Verlangen sozusagen die betreuen, die allem Religiösen eher negativ gegenüberstehen.“ (700)
Dabei wäre es wichtig, die Unterschiedlichkeit der Menschen zu beachten, nicht zu intellektuell heranzugehen, flexibel zu bleiben und immer auch sich selbst zu hinterfragen: „Ich würde Sie nur bitten, die Sache nicht zu verkopft anzugehen. Es handelt sich hier um Menschen in einer Extremsituation, und jeder Mensch ist anders, keiner ist wie der zweite, und deshalb [ist es wichtig], nicht formelmäßig Antworten zu geben, sondern eher auf die Flexibilität zu setzen und auf die universalistischste Antwort, die nur möglich ist. Und immer wieder sich selbst prüfen …“ (701)
Ein anderer Rabbiner begrüßt ebenfalls die Einführung des Berufs des Spiritual Care Advisers im Krankenhaus. Hier kann psychologische und religiöse Betreuung ein Stück weit getrennt werden. Ein Spiritual Care Adviser sollte eine religiöse
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Ausbildung haben, aber sich darüber im Klaren sein, dass der jeweils eigene Hintergrund keine universale Gültigkeit hat: „Das ist im Prinzip gut. Die psychologische Betreuung kann man von der Religion etwas trennen. Natürlich hat Religion etwas damit zu tun, aber alles, was ich sagte, dass man es bei einem Besuch im Krankenhaus nicht tun soll, das gilt egal für welche Religion… Also, Menschen sind Menschen. Bei der Religion handelt es sich um Riten und Gebete, ich glaube, das ist kein schlechter Weg. Natürlich ist die Gefahr, dass derjenige kommt und annimmt, dass alles, was er von seinen Hintergrund und von seiner Religion her kennt, universal sei. Also das wäre eine Gefahr. Aber wenn der [Spiritual care Adviser gut] ausgebildet ist, dann soll er auch eine religiöse Ausbildung haben.“ (702)
Als Beispiel für gelungene Spiritual Care verweist er auf eine jüdische Mitarbeiterin, die einmal ein Baby katholisch getauft hat: „Ich hatte eine [jüdische] Mitarbeiterin, die Krankenschwester war, und es gehörte zu ihrer Ausbildung zu lernen, wie man ein sterbendes Baby tauft. Und sie hat mir eine Geschichte erzählt, wie sie das einmal tatsächlich getan hat. Sie ist rechtzeitig gekommen, der Pastor hat das nicht geschafft, und obwohl katholische Kirchenmitglieder anwesend waren, waren die nicht in der Lage, die waren so nervös. Und sie musste das tun …“ (703)
Ein Mitarbeiter eines jüdischen Seniorenheims meint, dass eine spezielle spirituelle Begleitung notwendig ist auch neben einer biographischen oder allgemeinen Gesprächsbegleitung. (704) Hier hat sich die Auffassung in der Praxis in den letzten Jahrzehnten grundsätzlich geändert von einer rein an äußeren Notwendigkeiten orientierten Pflege hin zu einem ganzheitlichen, umfassenden Pflegekonzept, das den Menschen und seine Bedürfnisse in seinen verschiedenen Dimensionen ernst nimmt: „Ich kann mich noch erinnern an Szenen von Sterbebegleitung, wo es hieß: ‚Warum sitzt die jetzt bei dem, kann die nicht arbeiten? Sie könnte doch jetzt einen Rollstuhl putzen, ja …‘ […] Das würde heute nicht mehr passieren, und ich denke, das ist im Bewusstsein des Fachpersonals ohnehin [fest verankert], die auch so ausgebildet werden, aber auch der breiten Gesellschaft schon, wo man ganz viel vorwärts gekommen ist.“ (705)
Deswegen begrüßt der Mitarbeiter die Einrichtung der Professur für Spiritual Care am Universitätsklinikum in München. (706) Er sieht die Notwendigkeit für Spiritual Care insbesondere bei ethischen Entscheidungen am Lebensende. Darüber hinaus plädiert er für eine Erweiterung des Begriffs im Sinne von Lebensorientierung. So gesehen ist Spiritual Care dann auch für Atheisten wichtig: „Auch solche schweren ethischen Entscheidungen, die Leben und Tod betreffen, sind Spiritual Care. […] Es ist Spiritual Care, diese Seelennot eines Menschen, der sich nicht mehr äußern kann, zu erkennen und dementsprechend zu handeln. Deswegen ziehe ich diesen Kreis etwas weiter,
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nicht nur begrenzt auf die Betreuung von Schwerkranken und Sterbenden … […] Und was mir wichtig ist: Beim Wort Spiritual Care denkt jeder, ach, Rabbiner, Pfarrer, Pastor, aber für mich meint es einfach mehr. […] Es ist nicht nur meine Beziehung zu Gott, sondern Lebensorientierung. Es ist nicht meine Beziehung zu meinem Schöpfer, sondern es ist, es ist sehr viel mehr. […] Deswegen wird es auch für die Atheisten interessant.“ (707)
5 Diskussion 5.1 Ergebnisse der Studie Entsprechend der im Abschnitt 1.2 Zielsetzung und Fragestellung der vorliegenden Arbeit (S. 4 ff) vorgestellten Zielsetzung können an dieser Stelle die Ergebnisse der Studie für die Beantwortung der Forschungsfrage und der drei Unterfragen vorgestellt werden: Welche Einstellungen und Erfahrungen finden sich bei Mitarbeitern in bayerischen jüdischen Gemeinden, wenn sie in einem Interview über die Betreuung Kranker und Sterbender in ihrer Gemeinde sprechen? 1. Welche Angebote gibt es für die Kranken und Sterbenden (ggf. gemeinsam mit Kooperationspartnern)? 2. Wie schätzen sie die Bedürfnisse kranker jüdischer Gemeindemitglieder ein? 3. Welche Probleme begegnen ihnen dabei und wie gehen sie damit um? Für alle drei Unterbereiche gemeinsam ist die allgemeine Situation in den Bayerischen jüdischen Gemeinden zu beachten: Die Gemeinden sind jeweils auf regionaler Basis organisiert, übergreifende Strukturen, etwa einen jüdischen Sozialdienst gibt es nicht (vgl. S. 90 ff). Die meisten Gemeinden in Bayern sind orthodox, daneben gibt es auch liberale, konservative und ultra-orthodoxe Gemeinden (vgl. S. 58 f). Hier sind jeweils erhebliche Unterschiede im Selbstverständnis und in der Form der Mitgliederbetreuung festzustellen. Die religiösen Vorstellungen und damit auch die Organisation der Krankenbetreuung durch die Rabbiner divergieren erheblich (vgl. S. 106 ff). Mit der Gemeindeleitung (Vorsitzender, Vorstand, Rabbiner) sind meist gebürtige Deutsche betraut oder Personen, die schon lange in Deutschland leben; ein sehr hoher Prozentsatz der Gemeindemitglieder sind russischsprachige Einwanderer. Teilweise ist zwischen Gemeindeleitung und Mitgliedern die Kommunikation nur durch Dolmetscher möglich (vgl. S. 90 ff). Die Zuwanderer haben oft bereits ein höheres Lebensalter erreicht und erfahren in vielen Fällen wenig oder keine Unterstützung durch eigene Angehörige (vgl. S. 76 ff). Dadurch besteht für die Gemeinden ein besonderer Betreuungsaufwand, da einer Vielzahl von betreuungsbedürftigen Personen nur eine geringe Zahl jüngerer Gemeindemitglieder zur Seite steht, die sich ehrenamtlich um die Betreuung kümmern können. Die Sprachbarriere ist gerade bei den schwerkranken Gemeindemitgliedern und besonders im Krankenhaus hoch (vgl. S. 143 ff). Viele Einwanderer, die als DOI 10.1515/9783110545333-005
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5 Diskussion
jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, haben keinen persönlichen Bezug zum religiösen Judentum (vgl. S. 122 ff). Oft ist ihr religiöser Status, ob sie in den Gemeinden als Juden anerkannt werden, ungeklärt (vgl. S. 127 ff). Viele Zuwanderer leben in großer Armut, ein Großteil ist angewiesen auf Sozialhilfe und auf materielle Unterstützungsleistungen durch die Gemeinden (vgl. S. 94 f). Sie weisen vielfältige gesundheitliche Belastungen auf; besonders Krebserkrankungen treten gehäuft auf infolge der Tschernobyl-Katastrophe (vgl. S. 140).
5.1.1 Bedürfnisse schwerkranker und sterbender Gemeindemitglieder Die in den Interviews erwähnten Bedürfnisse konnten in drei Hauptkategorien eingeteilt werden: – Beratung und organisatorische Hilfestellung (vgl. S. 74 ff) Es gibt einen hohen Beratungsbedarf jüdischer Patienten in der Kommunikation mit Behörden, Ärzten und Krankenhauspersonal, insbesondere, da viele Patienten über keine ausreichenden Deutschkenntnisse verfügen, um sich selbst zurecht zu finden. – Krankenbesuch und menschliche Zuwendung (vgl. S. 76 ff) Einsamkeit ist großes Problem vieler jüdischer Patienten, besonders bei älteren und kranken russischen Zuwanderern. Oft wird die Isolierung noch verstärkt durch Sprachschwierigkeiten und ist besonders im Krankenhaus problematisch, wenn weder das Pflegepersonal noch die Mitpatienten Russisch sprechen. Deshalb benötigen die Patienten in der Regel weniger den Besuch eines Rabbiners, als vielmehr ganz allgemein persönliche Ansprache und Unterstützung, wobei die Möglichkeit einer muttersprachlichen Verständigung besonders wichtig ist. – Religion/Spiritualität (vgl. S. 79 ff) Einige Interviewpartner verneinen ein spirituelles oder religiöses Interesse bei den meisten Einwanderern. Einen Besuch des Rabbiners am eigenen Sterbebett können sich einige deutsche oder schon lange in Deutschland lebende Gemeindemitarbeiter auch für sich selbst nicht vorstellen. Der Krankenbesuch selbst, auch wenn dabei religiöse Themen nicht ausdrücklich angesprochen werden, wird dennoch von vielen Gesprächspartnern als ein Akt gelebter Religiosität verstanden.
5.1 Ergebnisse der Studie
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Koscheres Essen wird nur für die allerwenigsten Patienten benötigt, eine vegetarische Essensalternative ist meist auch bei Juden, welche die Speisegesetze beachten, völlig ausreichend. Ultra-orthodoxe Juden besorgen sich in der Regel selbst ihr Essen über koscheres Catering. Die in vielen Darstellungen des Judentums erwähnten jüdischen Sterbegebete spielen in der Praxis keine Rolle. Wichtig ist den Kranken bzw. ihren Angehörigen oft den Nennung ihres Namens im synagogalen Mischeberach-Gebet (S. 86). Auch bei gemeindefernen und atheistischen Juden tritt zum Lebensende häufiger der Wunsch auf, als Jude zu sterben und nach dem jüdischen Gesetz bestattet zu werden.
5.1.2 Angebote für Schwerkranke und Sterbende in den Gemeinden Nur die Großstadtgemeinden verfügen über ein eigenes Sozialreferat oder eine Sozialabteilung, die sich um schwerkranke und sterbende Gemeindemitglieder kümmern. In kleineren Gemeinden sind es meist die Mitarbeiter im Gemeindebüro und der Gemeindevorsitzende, welche die Betreuung koordinieren. In einigen Gemeinden betreuen jüdische Ärzte ehrenamtlich Fördersprechstunden, um Patienten mit schlechten Deutschkenntnissen bei medizinischen Fragen weiterhelfen (vgl. S. 91 ff). Eine besondere Rolle spielen die Sozialarbeiter, die häufig selbst aus dem Kreis der GUS-Zuwanderer stammen und dadurch als Dolmetscher für russischsprachige Patienten dienen können. Ihr Aufgabenfeld ist umfangreich: Begleitung zu Arztbesuchen und im Krankenhaus, Begleitung zum Sozialamt und bei sonstigen Behördengängen, Hausbesuche, Angehörigenbetreuung, psychologische und seelsorgliche Beratung (vgl. S. 92 ff). Des Weiteren organisieren die Gemeinden Fahrdienste und soziale Veranstaltungen für kranke Gemeindemitglieder. In einer Gemeinde gibt es ein eigenes Israelitisches Seniorenheim (vgl. S. 95 ff). In vielen Gemeinden arbeiten ehrenamtliche Bikkur-Cholim-Gruppen (Krankenbesuchsgruppen), wobei teilweise Schwierigkeiten bestehen, für diese Aufgabe genügend freiwillige Helfer zu finden (vgl. S. 99 ff). Eine Besonderheit jüdischer Gemeinden ist, dass sie für ihre Mitglieder auch die Bestattung und das Begräbnis auf eigenen jüdischen Friedhöfen organisieren. Die rituelle Leichenwaschung und das Begräbnis organsiert eine ehrenamtliche Chewra kaddischa (vgl. S. 97 ff und 102 ff). Das Angebot der Rabbiner divergiert je nach religiöser Richtung von weitgehender Zurückhaltung beim Krankenbesuch bis hin zu starkem Engagement. Manche Rabbiner stehen ihrem eigenen Besuch am Krankenbett ablehnend ge-
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5 Diskussion
genüber, um dem Kranken nicht als Vorbote des Todes zu erscheinen. Eine religiöse Notwendigkeit für einen Rabbinerbesuch sehen nur ultra-orthodoxe Rabbiner, welche die Seele des Sterbenden für den Übergang in eine neue Daseinsform vorbereiten möchten (vgl. S. 162 ff). Ein Angebot, das den schwerkranken Gemeindemitgliedern indirekt zugutekommt, sind Fortbildungen, welche die Gemeinden sowohl für die eigenen Mitarbeiter wie auch für Partnerorganisationen anbieten (vgl. S. 119 ff).
5.1.3 Problemfelder Häufig erwähnte Problembereiche in den Interviews sind: – Religion (vgl. S. 122 ff) Viele jüdische Einwanderer werden religionsrechtlich von den Rabbinern nicht als Juden anerkannt. Das bedeutet insbesondere für Sterbende ein Problem, wenn sie erkennen, dass es für ein Konversionsverfahren zu spät ist und sie ggf. nicht gemeinsam mit ihrem als jüdisch anerkannten Partner auf dem jüdischen Friedhof bestattet werden können. In vielen Interviews wird der Bedarf an koscherer Ernährung im Krankenhaus als mögliches Problem erwähnt sowie die Ausstattung von Krankenhauszimmern mit christlichen Symbolen (Kreuze,Weihwasserbecken etc.). Am Lebensende tritt nach Angabe eines Gemeindearbeiters häufig bei jüdischen Patienten eine Form von „Schuldwahn“ auf (vgl. S. 126) aus dem Gefühl heraus, das eigene Leben nicht genügend am jüdischen religiösen Gesetz ausgerichtet zu haben. Diese Schuldgefühle können so stark sein, dass eine psychiatrische Behandlung notwendig wird. Es handelt sich hier um einen typischen Fall von negativem religiösem Coping.¹ – Antisemitismus und Angst vor Antisemitismus (vgl. S. 132 ff) Expliziter Antisemitismus ist im Zusammenhang mit dem Gesundheitswesen in Bayern in keinem einzigen Fall berichtet worden.Was es gibt, sind Stereotypen wie „Jude isst koscher“ (vgl. S. 84 f), vorgefestigte Vorstellungen bei den nichtjüdischen Partnern über Juden und ihre Gebräuche ohne konkreten Bezug zu einem bestimmten Patienten. Sehr groß ist die Angst vor Antisemitismus bei jüdischen Patienten, insbesondere bei Holocaustüberlebenden und Einwanderern aus der GUS, die selbst
Vgl. S. 32 Anm. 113.
5.1 Ergebnisse der Studie
197
traumatische Erfahrungen mit Antisemitismus und seinen Folgen gemacht haben. Viele russisch- jüdische Patienten und russisch-jüdische Gemeindemitarbeiter verschweigen daher Krankenhäusern gegenüber ihre jüdische Gemeindezugehörigkeit. – Bereich Krankenhaus und medizinische Betreuung (vgl. S. 135 ff) Ein großes Problem ist die Information der Gemeinden über ihre Mitglieder, die sich im Krankenhaus befinden. Häufig verhindern die geltenden Regeln zum Datenschutz eine solche Information. Außerdem gibt es keine jüdischen Seelsorger in den Krankenhäusern, welche die Information über kranke Gemeindemitglieder bekommen würden (so wie das bei der christlichen Seelsorge der Fall ist). Dadurch wird die bereits bestehende Gefahr der Vereinsamung insbesondere russisch-jüdischer Patienten noch verstärkt, besonders, wenn im Krankenhaus kein russischsprechendes Personal zur Verfügung steht. Patienten aus der GUS sind oft durch die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe gesundheitlich geschädigt. Mehrfach berichten Interviewpartner von Suiziden und Suizidalität unter den Patienten. Problematisch ist ferner die Verlegung jüdischer Patienten in entfernte oder abgelegene Krankenhäuser, wo es keine Möglichkeit des Besuchs durch Familienangehörige oder andere Gemeindemitglieder mehr gibt (da nur die wenigsten über ein eigenes Auto verfügen). – Probleme der Patienten (vgl. S. 143 ff) Häufig genannte Probleme für jüdische Patienten sind Isolation, Fremdheit, Armut und die Angst vor Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen (aufgrund der Erfahrung mit entsprechenden Organisationen in der GUS). Besondere Sensibilität in der Betreuung erfordern Patienten, welche durch Erfahrungen traumatisiert sind, die mit der Shoa zusammenhängen. Dies gilt sowohl für die Holocaustüberlebenden selbst wie auch für die nachfolgende „second generation“. Besonders im Klinikalltag ist die Gefahr einer Re-Traumatisierung gegeben. Trigger können das Gefühl des Eingesperrtseins und tödlicher Bedrohung sein, sowie das Tragen von Schlafanzügen etc. Eine typische Verhaltensweise von Betroffenen ist das Horten von Lebensmitteln. – Persönliche Probleme der Betreuer (vgl. S. 149 ff) Viele Mitarbeiter klagen über Zeitmangel und Überbeanspruchung und sehen den Grund in der zu geringen personellen Ausstattung der Gemeinden. Dazu kommt als Belastungsfaktor die eigene hohe psychische Beanspruchung, die mit der Betreuung Schwerkranker und Sterbender verbunden ist. Sprachliche und inter-
198
5 Diskussion
kulturelle Probleme erschweren oft den Umgang zwischen Betreuern und Betreuten. Manche aus der GUS stammende Mitarbeiter zeigen in Bezug auf die eigene Professionalität nur ein geringes berufliches Selbstbewusstsein wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Anfeindungen; hier spielen möglicherweise negative Erlebnisse mit konkurrierenden russischen Pflegediensten eine Rolle. – Probleme der Gemeinden (vgl. S. 153 ff) Häufig klagen Vertreter der Gemeinden über eine zu geringe Ausstattung mit hauptamtlichen Mitarbeitern, um sich adäquat die große Zahl der betreuten Personen kümmern zu können. Es bestehen große Schwierigkeiten, in den vielfach überalterten Gemeinden ehrenamtliche Helfer zu finden– insbesondere in der Gruppe der Einwanderer aus der GUS, die ehrenamtliches Engagement in der Sowjetunion nicht gelernt haben. Ein besonderes Problem sind private Pflegedienste, die die Angebote der Gemeinden als unerwünschte Konkurrenzleistungen anfeinden. Abgesehen von dem bereits erwähnten Problem der Information der Gemeinden über jüdische Patienten im Krankenhaus und der Schwierigkeit koscheren Essens wurde die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen und Krankenhäusern insgesamt sehr positiv beurteilt. Als Ausnahme wurde genannt, dass ein Krankenhaus durch die vorschnelle Vermittlung eines Beerdigungsunternehmens das jüdische Begräbnis eines Patienten durch die Gemeinde verhindert hat.
5.1.4 Umgang mit Problemen Beim Umgang mit den Problemen durch die Gemeindemitarbeiter konnten folgende Handlungsparadigmata festgestellt werden: – Idealbilder als Handlungsmotivation (vgl. S. 158 ff) Einige Mitarbeiter haben eigene berufliche Erfahrungen in Schweizer jüdischen Gemeinden sehr positiv erlebt und neigen dazu, diese Erfahrungen als idealisiertes Vorbild anzusehen, mit dem die Wirklichkeit in den bayerischen Gemeinden nur schwer mithalten kann. Da die Schweiz das einzige deutschsprachige Gebiet umfasst, in dem der Nationalsozialismus die gewachsenen Strukturen jüdischen Lebens nicht grundlegend zerstört hat, ist es durchaus naheliegend, wenn das dortige jüdische Leben als Idealbild auch für Bayern genommen wird. Dazu passt die Beobachtung, dass in vielen Interviews jeweils religiöse Bedürfnisse – so etwa zur koscheren Ernährung– genannt und sogleich in ihrer praktischen Bedeutung wieder relativiert werden (vgl. S. 139). Jüdisches Leben in
5.1 Ergebnisse der Studie
199
Deutschland ist in den Augen vieler Mitarbeiter nicht das, was es eigentlich sein sollte bzw. wie es in den gewachsenen Gemeinden der Schweiz auch heute gelebt wird. Diese Orientierung am Ideal erklärt möglicherweise auch Fälle von religiöser Rigidität, etwa wenn einem Patienten die Bestattung neben seinem Ehepartner auf dem jüdischen Friedhof verweigert wird (vgl. S. 130). Denn in gewachsenen Gemeinden wie in der Schweiz gibt es keine Gemeindemitglieder, die nach dem Religionsrecht nicht jüdisch bestattet werden könnten. Unter russischen Einwanderern findet sich das Idealbild von einer geschlossenen Exilgemeinde, in der sich die Mitglieder untereinander unterstützen gegen eine als feindlich empfundene Umgebung- was vielfach die Abschottung und Isolation der Gemeindemitglieder begünstigt und die Integration in die deutsche Gesellschaft erschwert. In Bezug auf den Tod gibt es bei vielen Gesprächspartnern das Idealbild des friedlichen Entschlafens im Kreis der Familie, wobei die Anwesenheit eines Rabbiners meist nicht gewünscht wird.² – Theologische Modelle ultraorthodoxer Rabbiner (vgl. S. 162 ff) Ultra-orthodoxe Rabbiner haben eine feste Vorstellung von diesem Leben als einer Vorbereitungszeit für ein Weiterleben nach dem Tod. Verbunden ist diese Vorstellung mit der Idee der Seelenwanderung: je nach ethischem Verhalten wandert die Seele eines Menschen auch in andere Körper wie etwa Tiere oder Steine. Nur während des Erdenlebens kann die Seele durch die Erfüllung von Mizwot ihre Nahrung erlangen. Nach dem Tod können Kinder und Freunde weitere Mizwot für die verstorbene Seele zu ihrer Erleichterung erfüllen. – Das Konzept der Mizwa- die Religiosität des Handelns (vgl. S. 166 ff) Außerhalb des ultra-orthodoxen Judentums findet sich häufiger der Gedanke von einer Spiritualität des Handelns – in diesem Sinne bedeutet Judentum weniger ein festes Gefüge von Jenseitsvorstellungen, sondern religiöse Pflichterfüllung im Hier und Jetzt und in Handlungen des alltäglichen Nutzens, so etwa auch in der Betreuung der Kranken. – Jüdische Medizinethik (vgl. S. 167 ff) Innerhalb des Umgangs mit Schwerkranken und Sterbenden leisten bei vielen jüdischen Mitarbeitern Leitlinien aus der jüdischen Medizinethik praktische Orientierungshilfe. Dazu gehört insbesondere die talmudischen Definition des Goses,
Zu den pflegerischen Konsequenzen aus dieser Beobachtung vgl. S. 204 f.
200
5 Diskussion
des Sterbenden: danach ist es gleichermaßen verboten, das Leben eines Sterbenden vorschnell zu beenden wie auch sein Sterben künstlich zu verlängern.
5.2 Die Ergebnisse im Kontext bisheriger Forschung 5.2.1 Zur Situation der Gemeinden Eine umfassende sozialwissenschaftliche Studie zur Situation der bayerischen jüdischen Gemeinden oder der jüdischen Zuwanderer in Bayern gibt es bislang noch nicht. Für Bayern zeigt sich mit den Ergebnissen der vorliegenden Studie ein ähnliches Bild, wie es bereits für andere Orte in Deutschland festgestellt wurde (vgl. S. 17 ff): – Sehr hoher Anteil der Einwanderer aus der GUS unter den Mitgliedern der jüdischen Gemeinden – Probleme bei der Definition von jüdischer Identität bei den Zuwanderern aus der GUS – daraus folgende Probleme bei der religionsrechtlichen Anerkennung – soziale Schwäche und Armut der Zuwanderer – Überalterung der Gemeinden – Unsicherheiten und Ängste, speziell Angst vor Antisemitismus – Sprachschwierigkeiten – Anpassungsschwierigkeiten an die deutsche Mehrheitsgesellschaft Während in den bisherigen Studien die Einwanderer selbst im Zentrum der Untersuchung standen, sind in der vorliegende Arbeit die mit der Betreuung beauftragten Personen befragt worden: Gemeindemitarbeiter, Rabbiner, jüdische Ärzte, Sozialarbeiter. Dadurch konnten für die bayerischen jüdischen Gemeinden die Angebote dargestellt werden, welche die Gemeinden und ihre Mitarbeiter den schwerkranken Mitgliedern machen, sowie die Probleme, die bei dieser Arbeit entstehen, und der Umgang mit diesen Problemen. Zu den neuen Ergebnissen der Studie gehört die Beschreibung der Aufgabenverteilung und der Selbstsicht der betreuenden Personen auf ihre eigene Arbeit, darunter die Darstellung der unterschiedlichen Sichtweisen der befragten acht Rabbiner zu ihrer eigenen Position zum Krankenbesuch.
5.2 Die Ergebnisse im Kontext bisheriger Forschung
201
5.2.2 Vergleich mit den einführenden Darstellungen Ein ähnliches Bild von der Situation Schwerkranker und Sterbender wie in der vorliegenden Studie zeichnet Andrea Zielke-Nadkarni in ihrem Aufsatz „Soziokulturelle Besonderheiten jüdischer Migranten und Migrantinnen aus der GUS als Ausgangspunkt für eine personenbezogene Versorgung“³. Einzelne Punkte ihrer Darstellung konnten auch für die bayerischen jüdischen Gemeinden bestätigt werden, so etwa der starke Bezug jüdischer Religiosität zur Familie oder der Hinweis auf die Gefahren der Re-Traumatisierung bei Holocaustüberlebenden im Umfeld von Krankenhaus und Pflegeeinrichtungen. Die Beschreibung der Bedürfnisse jüdischer Patienten und Sterbender in Handbuchartikel unterscheidet sich erheblich von den in dieser Studie vorgestellten Ergebnissen (vgl. dazu oben S. 37 f). Das liegt wohl vor allem daran, dass die meisten der genannten Texte von Nichtjuden abgefasst sind und ausschließlich auf der Zusammenfassung vorliegender Literatur ohne eigene empirische Datenerhebung basieren.
5.2.3 Vergleich mit Konzepten der jüdischen Theologie und Ethik In ihren Darstellungen haben Lawrence Kushner und Micah Greenstein (vgl. S. 41 ff) aufgezeigt, dass sich jüdische Spiritualität nicht als Loslösung von der materiellen Welt definiert, sondern als ein konkretes, innerweltliches Engagement zur Verbesserung dieser Welt und ihrer Lebensbedingungen. Insofern stellt es kein Defizit an Religiosität oder Spiritualität dar, wenn von Seite der Gemeindemitglieder wenig explizite spirituelle Bedürfnisse geäußert werden (vgl. S. 79 ff) noch die Gemeinden bzw. die Rabbiner besondere spirituelle Angebote machen (vgl. S. 105 ff). Denn jüdische Religion findet vor allem im praktischen Handeln statt, in der Erfüllung der Mizwa (vgl. S. 8), die gleichzeitig religiöse Tat wie auch praktischer Beitrag zur Verbesserung der Welt sein kann. Das theologische Konzept der Mizwa ist eine wichtige Motivation im Handeln der Mitarbeiter der Gemeinden (vgl. S. 166 ff). Ihr Engagement und Einsatz im praktischen Handeln, um die Lebensbedingungen der schwerkranken Gemeindemitglieder zu verbessern, ist religiöses Handeln- auch wenn das von einer Außenperspektive vielleicht nicht immer so erscheint. Ein Rabbiner, der beim Krankenbesuch von sich aus kein Sterbegebet mit dem Schwerkranken sprechen will, handelt nicht unreligiös – sondern erfüllt
Zielke-Nadkarni 2009.
202
5 Diskussion
vielmehr die Mizwa, sich dem Kranken zuzuwenden und von ihm Schaden abzuwenden, in diesem Fall, den Kranken durch den Gedanken an das Sterben zu erschrecken (vgl. S. 87). Ebenso wie durch den Gedanken der Mizwa ist das Handeln vieler Interviewpartner auch von den Leitlinien der jüdischen Medizinethik bestimmt, die gerade in der Terminalphase eines Menschen konkrete Leitlinien etwa in der Frage des Für und Wider lebensverlängernder Maßnahmen liefern kann (vgl. S. 167 ff).
5.2.4 Das Verständnis der Interviewpartner von Spiritualität und Spiritual Care Wie oben dargestellt (vgl. oben, S. 39 f) macht Judith Allen Shelly spirituelle Bedürfnisse in den vier Bereichen aus: „[1] need for love and relatedness, [2] the need to forgive and be forgiven, [3] the need for meaning and purpose, [4] the need for hope“ (Nummerierung durch den Verfasser)⁴. Das Bedürfnis der Patienten nach menschlicher Zuwendung [1] findet sich in den Interviews ausführlich erwähnt (vgl. S. 76 ff), Sinngebung [2] – als Verweis auf „die Qualität des gelebten Lebens, die guten Dinge, die man vollbracht hat“ – wird von einem Rabbiner ausdrücklich als wichtige Aufgabe von Spiritual Care gesehen (vgl. S. 190). Auch das Sprechen von Hespet (vgl. S. 119), den persönlichen Worten des Abschieds an den Toten, ist als Ritual der Sinngebung und der Vergegenwärtigung des Bezugs der Angehörigen und des Toten wichtig. Hoffnung [4] zu geben, ist den meisten Rabbinern ein wesentliches Anliegen für die Betreuung von Schwerkranken und Sterbenden. Das Thema Vergebung [3] erscheint dagegen in keinem Interview und spielt bei den Interviewpartnern der vorliegenden Studie keine Rolle – und das, obwohl Vergebung durchaus eine wichtige Stellung in der jüdischen Religion einnimmt, etwa in der Liturgie zu Yom Kippur, dem Versöhnungstag. Das Thema der Vergebung, das ja auch die Möglichkeit einer Nicht-Vergebung impliziert, wird in der Betreuung Schwerkranker und Sterbender von den Interviewpartnern so wie auch andere explizit religiöse Themen nicht aktiv angesprochen – ein Schwerkranker oder Sterbender darf nicht mit Fragen konfrontiert werden, die ihn beunruhigen könnten (vgl. die Positionen der Rabbiner zum Krankenbesuch, S. 106 ff). Ein Interviewpartner erwähnt den bei manchen jüdischen Patienten am Lebensende auftretenden „Schuldwahn“ (vgl. S. 126); er sieht dieses Phänomen
Shelly 1983, S. 55 f.
5.3 Schwächen der Studie
203
allerdings nicht als eine Aufgabe für Spiritual Care, sondern als Indikation für eine psychiatrische Behandlung. Insofern erscheint es sinnvoll, wenn die EAPC Taskforce on Spiritual Care in Palliative Care in ihrer Definition von Spiritualität den Aspekt Vergebung nur mehr als ein Beispiel für „existential challenges“ auf dem Gebiet der Spiritualität ansieht (vgl. S. 40 f) – mit dieser Definition ohne ein konstitutives Element Vergebung lässt sich die jüdische Sichtweise von Spiritual Care besser vereinbaren. Auch in einem weiteren Punkt lässt sich die Definition der EAPC Taskforce on Spiritual Care in Palliative Care mit den in der vorliegenden Studie festgestellten Einstellungen gut vereinbaren, nämlich in der Einbeziehung der religiösen Praktiken in das Verständnis von Spiritualität. Denn wie in den Texten der Rabbiner Kushner⁵ und Greenstein⁶, erscheint auch in den Interviews dieser Studie das konkrete Handeln als wichtiger Aspekt jüdischer Spiritualität. Viele Gesprächspartner sehen ihren Einsatz explizit in der religiösen Kategorie der Mizwa (vgl. S. 166 ff). Aus jüdischer Sicht wäre es daher ein Anliegen, Spiritual Care nicht als explizit religiöse Begleitung zu sehen, welche additiv zu den anderen Formen der Betreuung hinzukommt – was der Position von Christine Puchalski und anderer Forscher entspricht, wie sie oben dargestellt ist (vgl. S. 38 ff). Spiritual Care ist die Aufgabe aller ehrenamtlichen oder hauptamtlichen Mitarbeiter, welche schwerkranke und sterbende Patienten betreuen, ganz gleich in welcher Profession sie tätig sind.
5.3 Schwächen der Studie Die vorliegende Studie ist eine qualitative Studie – sie kann daher keine quantitativen Aussagen machen wie etwa über den Anteil jüdischer Patienten im Krankenhaus. Auch die Frage, wieviel Prozent der jüdischen Patienten im Krankenhaus einen Rabbinerbesuch oder sich koschere Verpflegung wünschen, kann durch diese Studie nicht beantwortet werden. Die quantitative Erhebung von Fallzahlen und ihre Zuordnung zu den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit könnte eine lohnende Aufgabe für eine Folgestudie darstellen. Hinsichtlich der Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse stellt sich die Frage nach den Gütekriterien. Wie auf S. 56 ff dargestellt, wurde in der vorliegenden Studie versucht, den klassischen Kriterien Objektivität, Reliabilität und Validität
Kushner 2008 Greenstein 2000
204
5 Diskussion
Rechnung zu tragen. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit diese Kriterien überhaupt im Rahmen qualitativer Forschung Gültigkeit besitzen können. ⁷ So ist etwa die Intercoderreliabilität in der vorliegenden Arbeit dadurch nur begrenzt gültig, da das Kategoriensystem durch zwei Forscher erarbeitet wurde, die beide im Umfeld der medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig sind. Menschen ohne diesen Hintergrund würden möglicherweise zu anderen Kategorienbildungen kommen.⁸ Das angestrebte Ziel der Objektivität in der qualitativen Forschung – wie in der Forschung schlechthin – also immer nur näherungsweise zu erreichen. Auch die Begründung der Validität durch das Außenkriterium – im Fall der vorliegenden Arbeit durch den Verweis auf den aktuellen Stand der Forschung und bereits etablierte Modelle und Theorien – trägt die Gefahr eines Zirkelschlusses in sich; es könnten Annahmen übernommen sein, die bereits in diesem Umfeld mit Fehlern behaftet sind.⁹ Unter den empirischen Bedingungen der Forschung kann der unbedingte Anspruch der Gütekriterien letztlich immer nur näherungsweise eingelöst werden. In der vorliegenden Studie wurde versucht, zumindest die Nachvollziehbarkeit des gewählten Forschungsdesigns und der gewählten Methodik zu ermöglichen. Die Jüdischen Gemeinden in Bayern befinden sich zurzeit in einer besonderen Situation und in einem teilweise sehr raschen Umbruchprozess. So werden etwa Holocaust-Überlebende bereits in wenig in Jahren in kaum einer Gemeinde mehr anzutreffen sein, und auch das starke Gewicht der GUS-Zuwanderer wird sich durch die Altersstruktur der Gemeinden verändern. Insgesamt ist für die nächsten Jahrzehnte mit einem drastischen Rückgang der Anzahl der Juden in Deutschland zu rechnen – es sei denn, die Gemeinden öffnen sich verstärkt für Konvertiten oder es kommt eine neue Auswanderungswelle an Juden nach Deutschland, etwa aus Israel. Die Studie ist also eine Momentaufnahme – in einer Ausnahmesituation des Übergangs. Es können daher nur die jeweils aktuellen Strukturen in den Gemeinden beschrieben werden – und diese auch nur gemäß den Angaben, welche die Interviewpartner für diese Studie gemacht haben. Eine Offenlegung der Gemeindestrukturen ist in vielen Gemeinden –auch aufgrund der polizeilichen Sicherheitsvorgaben – nicht erwünscht. Eine systematische direkte Kontaktaufnahme mit den Verantwortlichen für die Betreuung Schwerkranker und Sterbender in den bayerischen jüdischen Gemeinden ohne Zwischenschaltung der Gemeindeleitung war nicht möglich. Einige wenige Gemeinden sperrten sich gegen jede Kontakt-
Vgl. zu dieser Diskussion Mayring 2010, S. 116 ff. Vgl. ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 118.
5.4 Stärken der Studie
205
aufnahme oder konnten keine deutschsprechenden Interview-Partner benennen. Hier wäre es ein Desiderat für die Forschung, in einer weiteren Studie auch die Mitarbeiter zu befragen, welche die deutsche Sprache nicht beherrschen und daher nach den Ausschlusskriterien dieser Studie nicht interviewt worden sind. Damit sich Interviewpartner zur Teilnahme an der Studie bereit erklärten, musste eine strenge Form der Anonymisierung gewählt werden. Um die Anonymisierung zu gewährleisten, wurden bei der Auswertung der Interviews Einschränkungen gemacht. So konnten die Unterschiede in der Situation der verschiedenen bayerischen jüdischen Gemeinden nicht beschrieben werden, was durchaus reizvoll gewesen wäre – besonders in Hinblick auf die teilweise sehr unterschiedliche religiöse Ausrichtung. Auch eine Kategorisierung und ein Vergleich unterschiedlicher Gemeindetypen konnte wegen der notwendigen Anonymisierung nicht geleistet werden.
5.4 Stärken der Studie Eine wesentliche Stärke der Studie ist, dass sich trotz der erwähnten Einschränkungen 21 Studienteilnehmer fanden und sich mit großem eigenem Engagement an der Untersuchung beteiligten. Es handelt sich also um eine Vollerhebung für die jüdischen Gemeinden in Bayern. Durchschnittlich stellte jeder Interviewpartner etwa eine Stunde Zeit für das Interview zur Verfügung. Für die bayerischen jüdischen Gemeinden ist es das erste Mal, dass eine Studie zur Situation der Schwerkranken und Sterbenden durchgeführt werden konnte. Durch die offene Fragestellung wurde eine Vielzahl von Daten gewonnen. Im Rahmen der Auswertung konnte ein weites Spektrum an Positionen und Einstellungen zur Betreuung der Schwerkranken dargestellt werden unter Berücksichtigung der unterschiedlichen jüdischen Richtungen von liberal bis ultraorthodox. Dabei wurden auch die verschiedenen Einrichtungen und Organisationsformen der Betreuung in den Gemeinden erfragt und dargestellt. Ausführlich erfasst wurden die Bedürfnisse der Schwerkranken selbst, die vom Bedürfnis nach organisatorischer Hilfestellung über die materiellen Bedürfnisse bis hin zu spirituell/religiösen Bedürfnissen reichen. Ebenso konnte eine Vielzahl von Aussagen über die Probleme, welche die Betreuer bei ihrer Arbeit erfahren, sowie zu ihrem Umgang mit diesen Problemen gesammelt und aufgezeichnet werden.
206
5 Diskussion
5.5 Klinische und pflegerische Konsequenzen Gerade bei jüdischen Patienten ist die Integration von Spiritual Care in die Behandlung wichtig und sinnvoll, um adäquat auf die Bedürfnisse dieser Patientengruppe eingehen zu können. Um einen jüdischen Patienten in seinen spezifischen Bedürfnissen zu unterstützen, gilt es zunächst, ihn überhaupt als einen solchen zu erkennen. Wie die Untersuchung gezeigt hat, geben jüdische Patienten oft ihr Judentum Institutionen und Krankenhäusern gegenüber nicht an aus Angst vor antisemitischen Reaktionen (vgl. S. 132 ff). Insbesondere bei Patienten, die aus der ehemaligen GUS eingewandert sind, könnte es sich lohnen, nach einer möglichen Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gemeinde zu fragen. Wichtig ist eine verständnisvolle Haltung des Fragenden, welche es dem Patienten ermöglicht, sich so weit mit seinen eigenen Wünschen mitzuteilen, wie er selbst es kann und will. Möglicherweise könnte eine spirituelle Anamnese, etwa mithilfe des halbstrukturierten, klinischen Interviews SPIR¹⁰, hier weiterhelfen. Wenn die Jüdischkeit eines Patienten bekannt ist, empfiehlt es sich, behutsam weiter zu fragen, welche Bedürfnisse bei dem Patienten bestehen. Das kann die Kontaktaufnahme mit der Gemeinde und dem Rabbiner und/oder der Bedarf koscheren bzw. vegetarischen Essens sein – auch wenn es gut möglich ist, dass der Patient genau diese Wünsche nicht hat.Völlig fehl am Platz ist es, in letzterem Fall die Jüdischkeit des Patienten in Frage zu stellen – es gibt zahlreiche Juden, die sich selbst explizit als jüdisch verstehen und auch als jüdisch verstanden werden wollen, ohne einen Bezug zur organisierten jüdischen Religion zu haben. Hier ist es für den Betreuenden wichtig, sich selbst von möglichen Stereotypen frei zu halten, die dem Patienten ein schon vor der Begegnung gefestigtes Bild von dem überstülpen, wie ein jüdischer Patient zu sein hat. In Bezug auf das Essen ist große Behutsamkeit mit dem Thema angesagt: einerseits den Menschen, die religiöse Speisevorschriften befolgen möchten, dazu die Möglichkeit zu geben – andererseits niemandem von außen vorzuschreiben, wie dessen eigene religiöse Praxis auszusehen hat. Die Sensibilitäten und die Verletzlichkeit in dieser Frage sind innerjüdisch groß, weil daran manchmal auch die Frage hängt, inwieweit ein Mensch innerhalb der Gemeinde als Jude anerkannt wird oder nicht. In Bezug auf das Krankenhausessen ist eine eindeutige und vollständige Deklaration der Inhaltsstoffe sinnvoll – dadurch kann der Patient selbst entscheiden, was er essen möchte und was nicht. Im Fall von ultra-orthodoxen Pa-
Vgl. Hauf 2009.
5.5 Klinische und pflegerische Konsequenzen
207
tienten, die ihr eigenes Catering organisieren, wäre es sinnvoll, ihnen anteilig Kosten aus der Krankenhaustagespauschale zu erstatten. In einem Krankenhaus, welches nicht konfessionell gebunden ist, sollte auf die Anbringung christlicher religiöser Symbole verzichtet werden. Grundsätzlich wäre aus jüdischer Sicht wünschenswert, dass bisherige System der rein christlichen Seelsorge in den Krankenhäusern so abzuändern, dass auch die jüdischen Gemeinden in die Krankenhausseelsorge eingebunden sind. Die Einführung von professionellen und nicht religionsgebundenen Spiritual Care Advisers könnte eine Lösung sein, auch angesichts der viel größeren Anzahl muslimischer Patienten. Bei älteren deutschsprachigen jüdischen Patienten und bei allen Zuwanderern aus der GUS ist damit zu rechnen, dass unausgesprochen große Ängste vor antisemitischen Übergriffen vorliegen, die in konkreten eigenen Erlebnissen begründet sind. Bei Holocaustüberlebenden ist die Gefahr einer Re-Traumatisierung im Kontext eines Klinikaufenthaltes besonders hoch: Schmerzen, Todesangst, das Gefühl des Eingeschlossenseins oder das Tragen eines Pyjamas etc. können Trigger sein, welche Flashbacks auslösen. Eine typische Verhaltensweise von Holocaust-Überlebenden ist das heimliche Horten von Lebensmittelreserven im Krankenzimmer. In solchen Fällen sollte von den Pflegenden mit größtmöglicher Empathie reagiert werden. Auch bei Familienangehörigen in der „second generation“ ist mit Folgen durch die Weitergabe der Traumatisierung aus der Elterngeneration zu rechnen. Besonders bei Patienten aus der GUS ist zu berücksichtigen, dass eine hohe Gefahr der Vereinsamung besteht. Hier sollte versucht werden, über die Gemeinde oder die Familie Besuche für den Kranken zu organisieren. Sehr hilfreich könnte bei Sterbenden die Hinzuziehung ausgebildeter jüdischer Hospizhelfer sein.Wenn der Patient Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache hat oder überhaupt nicht Deutsch spricht, ist es wichtig, dass ihn ein geeigneter Dolmetscher zu medizinischen Terminen und zur Aufnahme im Krankenhaus begleitet, damit er verstehen kann, um was es überhaupt geht, und nicht unnötig zusätzliche Ängste entwickelt. Nachdem bei vielen Gesprächspartnern das Idealbild vom Sterben zuhause im Kreis der Familie festgestellt werden konnte (vgl. S. 161 f), erscheint es als sinnvoll, bei jüdischen Patienten die Sterbebetreuung möglichst über die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) zu organisieren. Patienten, die einer ultraorthodoxen jüdischen Gruppierung oder Gemeinde angehören, können mit einer intensiven religiösen Betreuung durch Rabbiner und Gemeinde bei schwerer Krankheit und beim Sterben rechnen– dabei kann sich allerdings die Frage ergeben, ob diese intensive Betreuung tatsächlich zum Wohl des Patienten geschieht, etwa dann, wenn palliativmedizinische Maßnah-
208
5 Diskussion
men aus religiösen Gründen abgelehnt werden oder wenn es zur Nötigung in Bezug auf eine „Bekehrung“ auf dem Sterbebett kommen sollte. Hier sollten Ärzte und Pflegepersonal durchaus aufmerksam beobachten, ob der Patient diese Form religiöser Betreuung überhaupt wünscht und gegebenenfalls den Patientenwunsch auch gegen die Vertreter der Gemeinde durchsetzen.
5.6 Fragestellung für künftige Forschung In dieser Studie wurden ausschließlich Menschen interviewt, die sich mit der Betreuung Schwerkranker und Sterbender beschäftigen. Wünschenswert wäre eine Folgestudie, welche die Patienten direkt befragt. Eine solche Studie könnte auch einen quantitativen Ansatz verfolgen – so es gelingt, genügend jüdische Patienten in den Krankenhäusern für die Teilnahme zu gewinnen. Das dürfte allerdings schwierig sein, nachdem sogar die Gemeinden selbst oft nicht über die Krankenhausaufenthalte ihrer eigenen Mitglieder informiert sind. Interessant wäre es, eine solche Studie mit jüdischen Patienten zu einem späteren Zeitpunkt durchzuführen, wenn in Zukunft religionsunabhängige Spiritual Care Advisers in die Krankenhausseelsorge integriert sein sollten, welche den Zugang zu jüdischen Patienten im Krankenhaus nach deren Einverständnis ermöglichen könnten. Da sich für die bayerischen jüdischen Gemeinden die demographische Situation in den nächsten Jahrzehnten erheblich verändern wird, wäre es interessant, die Fragestellung dieser Studie erneut aufzugreifen und mit den zukünftigen Ergebnissen zu vergleichen. Durch die Vorarbeiten zu dieser Studie wurde deutlich, dass das Forschungsthema „Betreuung Schwerkranker und Sterbender in bayerischen jüdischen Gemeinden“ auch in historischer und zeitgeschichtlicher Perspektive von großem Interesse ist. In diesem Zusammenhang wurde mit folgenden Institutionen Kontakt aufgenommen: – Stadt Fürth Stadtarchiv und Stadtmuseum – Stadtarchiv Würzburg – Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Ludwig-Maximilians-Universität München – Stadtarchiv München – Institut für Zeitgeschichte München Dabei wurde deutlich, dass alle genannten Institutionen ein großes Interesse an der Thematik haben. In den Archiven gibt es eine Reihe weitgehend noch unbearbeiteter Dokumente zur Betreuung Schwerkranker und Sterbender in bayeri-
5.7 Konklusion
209
schen jüdischen Gemeinden aus der Zeit vor dem Holocaust. Es wäre äußerst reizvoll, diese Studie durch ein Forschungsprojekt zur historischen und zeitgeschichtlichen Dimension zu erweitern. Innerhalb der Interviews finden sich auffällig viele längere erzählerische Passagen, welche im Zusammenhang zur Sinndeutung von Erlebnissen in der Betreuung Schwerkranker und Sterbender stehen. Diese Erzählungen konnten in der vorliegenden Studie nur soweit ausgewertet werden, wie sie einen Bezug zur Forschungsfrage hatten. Über die Fragestellung der vorliegenden Studie hinaus erscheint eine Untersuchung lohnend, die von der Methodik der Erzählforschung her die Erzählungen der jüdischen Mitarbeiter beleuchtet. Möglicherweise lässt sich daraus auch ein theologischer Beitrag zur heutigen Bedeutung der talmudischen Unterscheidung von Halacha (religiöse Tradition in Form des Gesetzes) und Aggada (religiöse Tradition in Form der Erzählung) entwickeln. Die vorliegende Studie kann als ein Beispiel dafür angesehen werden, wie eine religiöse Minderheit sich im Umfeld des heutigen Gesundheitssystems zurechtfindet. Interessant wäre es, eine solche Untersuchung auch für andere Gruppen durchzuführen, insbesondere die zahlenmäßig viel größere Gruppe der bayerischen Muslime. Ebenso wäre eine Studie interessant, die sich anderen Bevölkerungsgruppen widmet, bei denen es ebenfalls einen hohen Anteil durch Verfolgungserlebnisse traumatisierten Personen gibt, wie zum Beispiel bei Bürgerkriegsflüchtlingen und Opfern von ethnischer Verfolgung.
5.7 Konklusion In einer Gesellschaft, in der der Anteil an Zuwanderern stetig zunimmt, ist es wichtig, die Bedürfnisse von Minderheitsgruppen gut zu kennen, um einfühlsam auf deren Bedürfnisse reagieren zu können – das gilt insbesondere bei der Betreuung Schwerkranker und Sterbender. Der Verfasser dankt an dieser Stelle nochmals der Evangelischen Stiftung Hospiz, welche diese Studie durch großzügige finanzielle Unterstützung unterstützt hat und es dem Verfasser ermöglichte, die Ergebnisse auf den folgenden Kongressen auch einem größeren internationalen Publikum vorzustellen: – The Tenth Annual Israel Spiritual Care Conference: “The Individual, the Community and Spiritual Care: Building Resilience and Meaningful Connection” ,November 5+6, 2013, in Neve Ilan, Jerusalem, Israel. http://www.livui-ruhani.org/Public_Relations_and_Ad vancement_Committee/en/Conferences/ – 4th European Conference on Religion, Spirituality and Health, May 22– 24, 2014, in Malta
210
5 Diskussion
– 10. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin und der 13. Deutsche Kongress für Versorgungsforschung vom 24. bis 27. Juni 2014 in Düsseldorf
Hinweise für den praktischen Umgang mit jüdischen Patienten konnte Michael Petery ferner durch beratende Tätigkeit bei der Abfassung eines Lexikonartikels im Handbuch der Religionen¹¹ geben. Das Ziel der vorliegenden Studie wäre erreicht, wenn durch bessere Information der Blick von Menschen in den medizinischen Berufen auf die Bedürfnisse und Besonderheiten in der Betreuung jüdischer Patienten geschärft werden könnte – und darüber hinaus auf die Bedürfnisse auch anderer ethnischer und religiöser Minderheiten. Damit wäre auch ein Konzept der jüdischen Spiritualität aufgegriffen: die Mizwa als ganz konkretes, innerweltliches Handeln, welches die Welt im Hier und Jetzt besser machen möchte (hebr.: tikkun olam).
Gratz/Frick/Roser 2013.
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DOI 10.1515/9783110545333-007
f f f
Sachregister Angst 17 f., 23 f., 32, 47, 77, 92, 99, 104, 111, 117, 132 – 135, 137, 144 f., 151 f., 173, 196 f., 200, 206 Antisemitismus 17, 20, 117, 122, 132 – 135, 145, 196 f., 200 Arzt 17, 27, 48, 58, 64, 76, 78, 84, 87, 91 f., 100 f., 120 f., 133, 135 – 138, 140 – 143, 146 – 152, 162, 167 f., 170, 175, 179 f., 187 f. Bedürfnisse 4 f., 25 f., 33, 37, 39 – 41, 61, 63, 65, 69 – 72, 74 f., 78 – 80, 82 f., 85, 87, 94, 96, 110, 117, 120 f., 130, 143, 157, 166, 174, 181, 187, 190 f., 193 f., 198, 201 f., 205 f., 209 f., 218 Begräbnis 33, 36, 91, 97, 103 – 105, 119, 122, 130 f., 195, 198 Betreuer 70, 92, 98, 122, 136, 138, 149, 151, 170, 173, 180, 188 f., 197 f., 205 Bikkur Cholim 1, 6 f., 46, 78, 99 f., 102 f., 106, 112, 120, 158 – 160 Chewra kaddischa 1 – 4, 7, 35 f., 97 f., 102 – 105, 111, 118, 120, 138, 151, 154, 158 f., 195 Einwanderer 3, 11 f., 14, 17, 19, 21, 23, 37, 76, 83, 91, 98, 101 f., 122 f., 127, 132, 135, 142, 165, 185, 193 f., 196, 198 – 200 Einwanderung 10, 123, 127, 141, 160 Essen 14, 30, 83 – 85, 118 f., 133, 146, 148, 156, 165, 169, 174, 177, 195, 198, 206 Ethik 1, 6, 38, 50, 60, 121, 201, 208 Fortbildung
Gottesdienst 78, 85, 88, 95 f., 105, 110, 117, 129, 178 Gottesname 6, 28, 36 GUS 3, 10, 14, 17, 31, 37 f., 83, 85, 91, 125, 127, 130, 132, 134 f., 140, 142, 144, 148 f., 152 – 154, 160, 165 f., 172, 195 – 198, 200 f., 204, 206 f. Hospiz
96, 100, 122, 149, 175, 183, 209
Idealbilder
157, 198
Kaddisch 8, 36, 86, 99, 109, 119, 165 konservatives Jundentum 9, 31 – 33, 35, 52, 59, 82 – 84, 87, 109 f., 120, 131, 193 koscher 27, 30, 82 – 84, 129 f., 133, 156, 177, 181, 195 f., 198, 203, 206 Krankenbesuch 1, 6, 34, 46, 76, 78, 81 f., 88, 98 – 103, 105 – 107, 109 – 113, 115 – 117, 125, 143, 167, 184, 187, 194 f., 200 – 202 Krankenhaus 2 f., 76 – 78, 82 – 85, 87, 93 f., 96, 98 – 101, 109, 114 f., 117, 121 f., 128 – 130, 134 – 143, 146 – 148, 152, 156, 159 – 162, 173, 175 – 179, 181, 187, 189 – 191, 193 – 198, 201, 203, 207 f., 218 Krankheit 7, 27, 31 f., 49 f., 79, 101, 111, 114, 130, 140, 164, 168, 174, 180, 207 liberales Judentum 4, 9 f., 28 f., 34, 37, 50, 52 f., 55, 58 f., 82, 106, 108, 118, 120, 131, 160 f., 163, 166, 168, 170, 174, 189, 193, 205 Lösungsvorschläge 172
119 – 121, 179, 187, 196
Gemeinde 1 – 7, 9 – 12, 14 – 19, 21, 33 f., 36 – 38, 53, 55 f., 58 – 62, 64 f., 67, 69 – 72, 74, 76 – 82, 84 – 106, 114 f., 117 – 123, 125 – 128, 130 – 132, 134 – 144, 147 f., 150, 153 – 156, 160 f., 165, 167, 172 – 186, 193 – 201, 204 – 209, 218 Gemeindeleitung 58, 90, 122, 167, 193, 204 Goses 7 f., 49, 170 – 172, 199
Medizinethik 37 f., 48 – 50, 52 f., 157, 167 f., 179, 199, 202 Migranten 17, 19 – 21, 24 f., 31, 201 Mizwa 8, 34, 43, 78, 82, 105, 157, 165 – 167, 199, 201 – 203, 210 Nationalsozialismus
2, 24, 33, 198
220
Sachregister
orthodoxes Judentum 4, 9, 27 f., 30 – 33, 35 – 38, 50, 52 f., 59, 70, 81 f., 84, 92, 111 – 113, 117 f., 120, 128, 131 f., 135, 157, 161 – 165, 174, 193, 195 f., 199, 205 f. Patient 2, 7, 10, 22, 24 – 33, 37, 40 f., 46 – 52, 61 – 63, 76 – 79, 81 – 85, 87, 92 – 96, 100 – 102, 105 – 114, 116 f., 119, 121 f., 126, 128 – 130, 132, 134 – 147, 150 – 152, 155 f., 159, 162, 166, 168 f., 171 – 177, 179 f., 183, 185, 187 – 190, 194 – 199, 201 – 203, 206 – 208, 210 Probleme 5, 17, 21, 24, 32, 34, 53, 61, 65, 69 f., 74, 76, 83, 97, 111, 115, 122, 126, 128 – 132, 135, 140 f., 143, 145 – 151, 153, 155 – 159, 162, 186, 193, 197 f., 200, 205, 218 Rabbiner 9, 27, 34, 37, 41 – 44, 46, 52 f., 58 f., 61, 70, 76 – 83, 85, 87 f., 91 f., 97 – 118, 120 – 123, 126 – 132, 135, 137 – 140, 143 – 145, 150 f., 154, 156 – 166, 168, 170 f., 174 f., 177 – 179, 189 f., 192 – 196, 199 – 203, 206 f. Religion 12 – 14, 18 – 20, 28, 30, 35, 37, 41 f., 47, 79, 81 – 83, 85, 87 f., 96, 106, 113, 122 f., 125 – 128, 130, 164, 173, 184, 187, 189, 191, 194, 196, 201 f., 206, 209 f., 218 russisch 11 f., 15, 17 f., 20 f., 23, 59, 77, 88, 93, 98, 102, 105 f., 132, 135, 142 – 144, 148, 154 – 156, 176, 183, 194, 197 – 199 Schweiz
48, 158 – 160, 198 f.
Seelenwanderung 114, 199 Sozialabteilung 15, 90 f., 195 Sozialarbeiter 41, 72, 78, 90 – 94, 98, 101, 121, 130, 134, 136 – 138, 140 – 142, 144, 149, 152, 154, 175, 181 f., 195, 200 Spiritual Care 3, 38 – 41, 46 f., 53, 55, 96 f., 189 – 192, 202 f., 206, 209 Spiritual Care Advisers 187, 189 f., 207 f. Spiritualität 31, 34, 38 – 45, 53, 79, 85, 88, 187, 194, 199, 201 – 203, 210 Sterbende 1 f., 4 – 6, 26, 28 – 31, 34 f., 41, 48 f., 53, 55 f., 58, 61 – 63, 76 f., 80 f., 87, 92 f., 96, 98, 104 – 106, 109 f., 116, 122, 130, 149 – 151, 157 f., 163 f., 166 f., 171 – 173, 175, 183, 185, 191 – 197, 199 – 205, 207 – 209 Tahara 7 f., 28, 30, 35, 97 f., 103 f., 131 f., 151, 166 Theologie 6, 28, 38, 55, 201 Tod 8, 24, 26 – 28, 30, 33 – 36, 48, 62, 77 – 80, 85 f., 97, 99, 102 f., 105, 107 f., 110 f., 115 f., 121, 123, 125, 133, 148, 150, 157, 161, 163 – 166, 168, 170 f., 173, 180, 183, 185, 190 f., 196, 199 Tradition 1, 4, 9, 20, 28 f., 33, 35, 37 – 39, 47, 53, 79 f., 108 f., 119, 126, 132, 161, 166, 209 Tschernobyl 140, 194, 197 ultra-orthodoxes Judentum 38, 59, 70, 81 f., 84, 112 f., 117, 157, 162 – 165, 193, 195 f., 199, 205 f.