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German Pages 150 Year 1986
MANFRED
REHBINDER
D i e Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen E h r l i c h
Schriftenreihe zur Rechtssoziologie u n d Rechtstatsachenforschung Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. Ernst E. Hirsch Herausgegeben von Prof. Dr. Manfred Rehbinder
Band 6
Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich
Von M a n f r e d Rehbinder
Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage
D U N C K E R
&
H U M B L O T
/
B E R L I N
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Rehbinder, Manfred: Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich / v o n Manfred Rehbinder. — 2., v ö l l i g neubearb. A u f l . — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1986. (Schriftenreihe zur Rechtssoziologie u n d Rechtstatsachenforschung; Bd. 6) I S B N 3-428-06067-9 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45; Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-06067-9
Meinem Lehrer Ernst E. H i r s c h zum Gedächtnis
Inhalt
Einleitung §1
Eugen Ehrlich: Leben und Wirken
11 13
ERSTES KAPITEL Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
Erster Abschnitt §2
Ehrlich und der Beginn der Rechtstatsachenforschung
29
29 29
Zweiter Abschnitt : Ehrlichs soziologische Rechtstheorie §3
Das Recht als selbsttätige Ordnung der Gesellschaft
35
1. Das Recht als Organisation menschlicher Verbände
35
2. Die Entstehung des Rechts aus den Rechtstatsachen
38
a) Die vier Rechtstatsachen b) Rechtsnorm und Rechtssatz 3. Die Abgrenzung des Rechts von den anderen gesellschaftlichen Ordnungssystemen a) Die mangelnde Bedeutung des spezifischen Rechtszwanges . . . b) Die mangelnde Bedeutung der Unterscheidung zwischen heteronomen und autonomen Normen c) Die Theorie von den Gefühlstönen §4
34
38 41 43 43 47 47
Das Recht als Schöpfung der Juristen
50
1. Die Entscheidungsnorm
50
a) Der Unterschied von Organisationsnorm und Entscheidungsnorm b) Die Beziehung der Entscheidungsnorm zu den Rechtstatsachen
50 50
8
§5
§6
Inhalt 2. Die Entwicklung der Entscheidungsnorm zum Rechtssatz
52
a) Das Gesetz der Stetigkeit der Entscheidungsnorm b) Die Rechtschöpfungstätigkeit der Juristen c) Die verschiedenen Arten von Juristenrecht
52 53 55
Das Recht als staatliche Zwangsordnung
57
1. Staatliches Recht als besondere Rechtsart
57
2. Normen erster und zweiter Ordnung
59
3. Von der Eingriffsnorm zur Verwaltungsnorm
60
4. Zur sozialen Bedeutung des staatlichen Rechts
61
5. Zur Wirksamkeit des staatlichen Rechts
63
Das lebende Recht
64
1. Die Interdependenz von gesellschaftlichem Recht, Juristenrecht und staatlichem Recht
64
a) b) c) d)
Juristenrecht und gesellschaftliches Recht Der Jurist als „Organ gesellschaftlicher Gerechtigkeit" Juristenrecht und staatliches Recht Staatliches Recht und gesellschaftliches Recht
65 66 68 69
2. Der Rechtssatz als Hebel des Soziallebens
70
3. Der soziologische Rechtsbegriff
72
Dritter Abschnitt §7
Ehrlichs Auffassung soziologie
75 von Aufgaben
und Methoden
der
Rechts75
1. Rechtssoziologie als empirische Rechtswissenschaft a) Die Erforschung der Rechtstatsachen b) Die Erforschung von Ursprung und Wirkung sätze c) Die Erforschung der gesellschaftlichen Kräfte entwicklung
75 76 der
Rechts-
der
Rechts-
78 80
2. Rechtssoziologie als theoretische Rechtswissenschaft
81
3. Die Abgrenzung der Rechtssoziologie als wissenschaftlicher Jurisprudenz von der praktischen Jurisprudenz
81
Inhalt ZWEITES KAPITEL Eugen Ehrlich als soziologischer Jurist
§8
87
Die Freirechtsschule als Bekämpfung der Begriffsjurisprudenz
88
1. Die gesellschaftliche Ursache für das Dogma von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung
88
2. Die Beliebigkeit einer rein logischen Rechtsfindung
89
3. Die Unehrlichkeit der begriffsjuristischen Methodenlehre
90
§ 9 Die freirechtliche Methodenlehre
92
1. Die contra legem-Fabel
92
2. Die Auslegung der Rechtssätze als historische Sinnermittlung . . . .
94
3. Die freie Lücken
96
Rechtsfindung
als Rechtschöpfung
i m Falle
echter
a) Die Analyse des sozialen Sachverhalts und die richterliche Eigenwertung als angewandte Gesellschaftswissenschaft b) Zum Idealbild des Juristen "
97 99
DRITTES KAPITEL Ehrlichs soziologische Rechtstheorie als Grundlage moderner rechtssoziologischer Forschung
§ 10 Ehrlichs Werk im Spiegel der Kritik
101
101
1. Der „essayistische Charakter"
103
2. Die „vorläufigen Erklärungen"
106
a) Die Fehleinschätzung der Bedeutung des staatlichen Rechts . . . b) Mißverständnisse um den Begriff des lebenden Rechts c) Die „primitive" Soziologie 3. Die „normativen Grenzüberschreitungen" a) Der Dualismus von Sein und Sollen b) Der soziologische Rechtsbegriff
106 112 115 116 116 122
10
Inhalt
§ 11 Ehrlich und die Rechtssoziologie heute
126
1. Der Begriff des lebenden Rechts 2. Die Rolle des Gruppenlebens theorie
126 in der soziologischen
Bibliographie der Werke Eugen Ehrlichs
Rechts136
143
Einleitung Als ich vor nunmehr fast 20 Jahren die erste Auflage dieser Monographie vorlegte, war die Rechtssoziologie selbst dem wissenschaftlich gebildeten Juristen so unbekannt, daß man sich unter dem Wort „rechtssoziologisch" nichts Rechtes vorstellen konnte 1 . Auch der Name Eugen Ehrlichs, des Begründers der Rechtssoziologie 2 , war weithin fremd. Grund dafür war zum einen die Rechtswissenschaft im Dritten Reich, die die meist jüdischen und (oder) sozialdemokratischen Autoren der deutschsprachigen Rechtssoziologie aus politischen Gründen dem Vergessen überantwortet hatte, und zum anderen eine deutliche Abwehrhaltung der traditionellen Rechtswissenschaft im Nachkriegsdeutschland, die in der Rechtssoziologie eine verkappte marxistische Rechtslehre sah, zumindest aber in der Tradition der deutschen Rechtsdogmatik seit ihrer Auseinandersetzung mit der Freirechtslehre 3 befürchtete, soziologisches Denken könne die Jurisprudenz politisieren und das normative Denken der Juristen „zersetzen". Sicher hat sich die Rechtssoziologie in ihren Anfängen mancher Übertreibungen schuldig gemacht. Sicher wurden manche ihrer wissenschaftlichen Aussagen und Postulate um der Wirkung willen zu scharf pointiert. Dennoch ist es leicht zu zeigen, daß jene Befürchtungen Mißverständnisse sind, die bei intensiverer Beschäftigung mit den Werken der betreffenden Autoren ohne Schwierigkeiten zu vermeiden wären. So war Eugen Ehrlich keinesfalls Marxist, sondern konservativer Liberaler 4 . Auch hat er sich immer wieder gegen den Vorwurf gewehrt, die von ihm begründete Lehre von der freien Rechtsfindung bedeute, daß man sich nicht mehr an das Gesetz halten solle 5 . Eine Politisierung der Jurisprudenz i. S. einer Abkehr von der Legalität der Rechtspflege kam für ihn nicht infrage 6 . Auch bei den anderen frühen Rechtssoziologen kam vieles, was man vor 20 Jahren über ihr Werk be1
Siehe Emst E. Hirsch: Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, 1966, S. 243. Vgl. die Würdigung von Hugo Sinzheimer: Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, 1938, S. 231-255. Auch in der angloamerikanischen Literatur wird Ehrlich als „Pionier" der Rechtssoziologie angesehen, z. B. Roscoe Pound: Jurisprudence I (1959), S. 20, 351. Siehe ferner unten § lOpr. 3 Darüber unten § 8 ( 2. 4 Siehe unten § 10,2. r> Die sog. contra legem-Fabel, siehe § 9, 1. () Siehe meine Einleitung zu Eugen Ehrlich: Recht und Leben, 1967, S. 9. 2
12
Einleitung
hauptete, zumal in der damaligen Zeit des kalten Krieges, einem wissenschaftlichen Rufmord gleich. In dieser Situation hatte das Institut für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung, das der Wiederbegründer der deutschen Rechtssoziologie nach dem 2. Weltkrieg, Ernst E. Hirsch 7, im Jahre 1964 an der Freien Universität Berlin einrichtete, eine doppelte Aufgabenstellung. In seinem Geleitwort zu der von ihm damals ins Leben gerufenen Schriftenreihe schildert sie Hirsch wie folgt: „Die ersten Hefte dienen einem doppelten Zweck: einmal der sachlichen Rechtfertigung der Errichtung eines besonderen Instituts... durch Vorlage von Arbeiten, die auf diesem Fachgebiet von dem Herausgeber und seinen Schülern im Laufe der letzten Jahre fertiggestellt worden sind; zum anderen dem Nachweis, daß die Wiederaufnahme der durch die nationalsozialistische Herrschaft unterbundenen Bemühungen von Arthur Nussbaum um Erforschung der Rechtstatsachen für eine Rechtswissenschaft stricto sensu ebenso unentbehrlich ist wie die im deutschen Rechtskreis von Eugen Ehrlich begründete, aber noch immer vor allem von Juristen teils abgelehnte, teils beargwöhnte Rechtssoziologie"8. Wenn ich also damals als Akademischer Rat im Institut von Emst E. Hirsch über Eugen Ehrlich schrieb, so lag dem die Aufgabenstellung zugrunde, die Frühgeschichte der Rechtssoziologie aus dem Dunkel des Vergessens hervorzuholen, sie gegen unbegründete Angriffe und Befürchtungen in Schutz zu nehmen und Mißverständnisse aufzuklären. Neben dieser „Wiedergutmachung" kam es aber vor allem darauf an, sorgfältig zu überprüfen, inwieweit die damaligen theoretischen Grundlagen rechtssoziologischer Forschung für uns heute noch tragfähig sind. Dieses arbeitsökonomische Anliegen wurde auch von meinem Lehrer der Soziologie, René König, hervorgehoben, der damals der Erstauflage ein Geleitwort voranstellte. Ist es doch der Vorteil der europäischen Sozialwissenschaften, sich bewußt in eine wissenschaftsgeschichtliche Tradition zu stellen und nach Möglichkeit auf dieser aufzubauen, also nicht mit naiven Kinderaugen alles wieder von neuem zu entdecken, als neu auszugeben und dabei Irrwege unnötig zu wiederholen 9 . Um Legendenbildungen vorzubeugen, möchte ich hier auch festhalten, daß die Wiederentdeckung Ehrlichs keinesfalls, wie man inzwi-
7 Über diesen näher M. Rehbinder: Emst E. Hirsch, in Bernsdorf/Knospe: Internationales Soziologenlexikon II (2. Aufl. 1984), S. 360 f., sowie ders.: Ernst E. Hirsch f, in JZ 1985, S. 523 f. 8 Hirsch (NI), S. 5. 9 In der amerikanischen Rechtssoziologie scheint die Vernachlässigung der theoretischen Tradition ietzt ebenfalls als Mangel empfunden zu werden, siehe Bruce C. Johnson: Neue Probleme und alte Theorien, in M. Killias/M. Rehbinder: Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie, 1985, S. 111-131 (120).
Leben und Wirken
13
sehen in Verkennung der Situation des Berliner Instituts geschrieben hat 1 0 , einem „Re-import" aus den Vereinigten Staaten zu verdanken ist 11 . Die amerikanische Rechtssoziologie war mir damals zum allergrößten Teil unbekannt, und wir arbeiteten zu Beginn vor allem mit der Bibliothek, die Ernst E. Hirsch aus seiner Emigration in der Türkei wieder nach Deutschland zurückgebracht hatte. Heute, 20 Jahre später, ist mit der langsamen, insgesamt aber doch erfreulichen Entwicklung der deutschsprachigen Rechtssoziologie Ehrlich wieder gegenwärtig. Seitdem ist eine Fülle verlorengegangener Details seines Lebens und Wirkens zutage gefördert worden, nicht zuletzt aufgrund des großen Interesses an ihm in Japan. Auch muß für eine Würdigung seines Werkes einiges aus der inzwischen neu erschienenen Literatur berücksichtigt werden. Mehrere Monate als Gastprofessor an der Universität Kyoto gaben mir Gelegenheit, die erforderliche Umarbeitung meiner Monographie aus dem Jahre 1967 durchzuführen. Vieles an Anregungen und Material hierzu verdanke ich Herrn Prof. Dr. Rin-Itsu Kawakami, Kyoto, einem bedeutenden Kenner von Ehrlich und seiner Zeit 1 2 .
§ 1 Eugen Ehrlich: Leben und Wirken Werk und Bedeutung Eugen Ehrlichs sind nur auf dem Hintergrund seines Lebens- und Wirkungskreises voll verständlich. Dieser lag während der entscheidenden Jahre in Czernowitz, damals Landeshauptstadt des Herzogtums Bukowina (Buchenland), an der Ostgrenze der österreichisch-ungarischen Monarchie gelegen, und heute Gebietshauptstadt der Ukrainischen SSR. Das wechselhafte politische Schicksal dieses Landstrichs ließ vieles Wissenswerte von den persönlichen Lebensumständen Ehrlichs verlorengehen. Die Sekundärquellen der damaligen Zeit vermitteln nur ein unsicheres und teilweise unrichtiges Bild 1 . Glücklicherweise konnten jedoch Ver10 Klaus A. Ziegert: The Sociology behind Eugen Ehrlich's Sociology of Law, in International Journal of the Sociology of Law 7 (1979), S. 225-273 (234). 11 W o Ehrlich durch Roscoe Pound bekanntgemacht worden war (vgl. i m folgenden § 1 ). Für das Frankfurter Institut für Sozialforschung von Adorno und Horkheimer mag die Behauptung eines Re-imports aus den USA hingegen berechtigt sein. 12 Siehe auch dessen interessante Studie über: Die Begründung des „neuen" gelehrten Rechts durch Savigny. Das Entstehen einer nationalen Rechtswissenschaft, in SZ 98(1981), S. 303-337. 1 Sie lagen den Würdigungen Ehrlichs anläßlich seines 100. Geburtstages zugrunde, vgl. M. Rehbinder: Eugen Ehrlich, dem Begründer der deutschen Rechtssoziologie, zum 100. Geburtstag, in JZ 1962, S. 613-614, und ders: Die Grundlegung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, in KZfSS 15 (1963), S. 338-353, dort insbes. Ν 4, 31.
14
Einleitung
lagskorresponidenzen und eine Reihe weiterer Unterlagen aus Deutschland, der Schweiz, Holland und Japan aufgefunden werden, desgleichen einige Originalurkunden in österreichischen Archiven 2 . Bei den Habilitationsakten des k. k. Ministeriums für Cultus und Unterricht 3 befindet sich folgender handschriftlicher Lebenslauf: „Ich bin am 14. September 1862 in Czemowitz in der Bukowina geboren. Ich besuchte das Gymnasium in Sambor, wo mein Vater, der nunmehr verstorbene Dr. Simon Ehrlich, Advokat war. Die Universität absolvirte ich in Wien und wurde auch hier am 8. April 1886 zum Doctor der Rechte promovirt. Seither lebe ich als Advokaturscandidat in Wien. Ich befasse mich hauptsächlich mit dem Studium des heutigen gemeinen Rechtes, überdies aber auch mit dem älteren römischen Rechte (der ersten Zeit der Republik). Diese letzteren Studien führten mich auf das Gebiet des Urrechtes" 4. Die Akten bezeichnen Ehrlich als Eugen (Elias), Sohn der Advokaturwitwe Eleonore, und geben seine Konfession mit „katholisch" an. Im Universitätsarchiv Wien erscheint er hingegen bei der Immatrikulation als Elias Ehrlich, Israelit, aus Sambor (Galizien), Muttersprache: polnisch. Er inskribierte sich im WS 1881/82 für das 5. Studiensemester, nachdem er die ersten zwei Studienjahre an der Universität Lemberg studiert hatte. Er hörte u. a. bei Anton Menger Prozeßrecht, bei Carl Menger Finanzwissenschaft und bei Grünhut Handelsrecht. Nach Studienabschluß (Absolutorium) am 31. Juli 1883 bestand er die vorgeschriebenen drei Rigorosen am 20. Nov. 1883, 1. Juli 1885 und 30. März 1886 mit der damaligen Standardzensur „genügend" und wurde darauf am 8. April 1886 zum Dr. jur. promoviert. A m 4. August 1894 wurde Ehrlich aufgrund seines 1893 in Berlin erschienenen Buches über „Die stillschweigende Willenserklärung" zum Privatdozenten für römisches Recht an der Universität Wien ernannt 5 . In der Folgezeit war er zugleich als Advokat in Schwechat bei Wien tätig. Er gehörte zum Freundeskreis um Anton Menger 6 und hat sich dort sowie in Wiener Studen2 Dazu Näheres bei M. Rehbinder: Neues über Leben und Werk von Eugen Ehrlich, FS Helmut Schelsky (Recht und Leben), Berlin 1978, S. 403-418. 3 Österreichisches Staatsarchiv — Österreichisches Verwaltungsarchiv: K. K. Ministerium für Cultus und Unterricht, Dep. IV Nr. 17529 von 1894. 4 Zum Urrecht siehe Ehrlich: Die arische Urgesellschaft, in Deutsche Worte X (1890), S. 353-374. 5 Ν 3, ebd. Als Gutachter im Habilitationsverfahren amteten die beiden Wiener Romanisten: Adolf Exner und Karl Ritter von Czyhlarz. 6 Vgl. seine beiden Nachrufe: Anton Menger ( 1906) in: Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 48-87, sowie Anton Menger, in: Neues Frauenleben X V I I I 2 (1906), S. 1-3; über Menger siehe ebenfalls Karl-Hermann Kästner, Anton Menger (1841-1906): Leben und Werk, 1974; Eckart Müller, Anton Mengers Rechts- und Gesellschaftssy-
Leben und Wirken
15
t e n v e r e i n i g u n g e n 7 i n t e n s i v an d e n D e b a t t e n über d e n wissenschaftlichen M a r x i s m u s beteiligt, d e n er j e d o c h als Menger-Schüler u n d später n a c h seiner Loslösung v o n M e n g e r 8 als sozial-konservativer D e n k e r dezidiert a b l e h n t e 9 . A l s Privatdozent erregte er öffentliches A u f s e h e n 1 0 , als er sich i n z w e i V o r t r ä g e n v o r der Gesellschaft der Österreichischen V o l k s w i r t e w ä h r e n d der Diskussionen u m die neue Z i v i l p r o z e ß o r d n u n g aus sozialen Gründ e n energisch für eine Abschaffung der Börsenschiedsgerichte einsetzte 1 1 . A m 5. N o v e m b e r 1896 w u r d e E h r l i c h z u m außerordentlichen Professor für römisches Recht an der k. u. k. Franz Josephs-Universität i n C z e m o w i t z e r n a n n t 1 2 . A l s einziger lehrender Fachvertreter für römisches Recht w a r er dort m i t 12 W o c h e n s t u n d e n V o r l e s u n g b e l a s t e t 1 3 . N a c h d e m T o d e des A m t s v o r g ä n g e r s erfolgte aufgrund seiner 1899 i n Jena erschienenen M o n o graphie über „Das zwingende u n d n i c h t z w i n g e n d e Recht i m Bürgerlichen Gesetzbuch für das D e u t s c h e Reich" a m 23. Januar 1900 seine Beförderung
stem, 1975; Dörte Wilbrodt-v. Westernhagen, Recht und soziale Frage. Die Sozialund Rechtsphilosophie Anton Mengers, 1975 (Rezensionsabhandlung über vorstehende Werke von Norbert Reich in AcP177, 1977, S. 254-262), sowie H. Horner: Anton Menger. Recht und Sozialismus, 1977. 7 Vgl. Karl Renner: Ein Buch vom juristischen Überbau, in Zeitschrift für soziales Recht 2 (1930), S. 135-145 (136). 8 Siehe seine Würdigung: Anton Menger (1906), in Gesetz und lebendes Recht (N6), S. 63. 9 Vgl. die Nachweise unten § 10 Ν 40. Seine Rechtssoziologie wurde daher gerade von marxistischer Seite stark angegriffen, vgl. Ehrlich: Zur Soziologie des Rechts. Entgegnung auf eine Rezension von Friedrich Hahn, in Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift 7 (Wien 1914), S. 461-463. Kennzeichnend für seine politische Einstellung ist seine Würdigung der schweizerischen Zivilrechtsgesetzgebung: Ehrlich, Der schweizerische Erbrechtsentwurf, in Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 9 ( 1896), S. 174-186 ( 186) : „In der Reformfreudigkeit atmet er jenen wahrhaft konservativen Geist, der in sozialpolitischen Maßnahmen nicht notgedrungene Konzessionen, sondern Errungenschaften erblickt, und der uns erlaubt, nicht bloß das bestehende Gute zu erhalten, sondern auch das Veraltete und Unbrauchbare organisch, ohne schroffen Übergang durch Lebensfähiges zu ersetzen." 10 „In der Öffentlichkeit trat Ehrlich nur ein einziges Mal hervor, als es galt, die Abschaffung oder wesentliche Einschränkung der Börsenschiedsgerichte ... durchzusetzen11 (Große Jüdische National-Biographie, hg. von S. Wininger, Bd. 2, 1927, S. 108). 11 Siehe Ehrlich: Die Börsenschiedsgerichte, Neue Revue V I 1 (1895), S. 262-269, 305-310. 12 Ν 3, Nr. 4505-1896. 13 Dies geht aus seinem Briefwechsel mit Eugen Huber, dem Vater des schweizerischen Zivilgesetzbuches, hervor, vgl. Ν 2, S. 407. M i t der Ernennung zum Ordinarius kam später noch ein Seminar hinzu. W i e sich aus einem A k t des Verwaltungsarchivs ergibt, wurde erst im Jahre 1911, nachdem sich Adolf Last (1910) in Czernowitz für römisches Recht habilitiert hatte und 1911 zum Extraordinarius ernannt wurde (im Jahre 1914 erfolgte die Ernennung zum 2. Ordinarius), die Gesamtlehrverpflichtung von Ehrlich auf 12 Wochenstunden ermäßigt.
16
Einleitung
zum Ordinarius 14 . Im Jahre 1906/07 amtierte er als Rektor 15 . Seine Inaugurationsrede vom 2. Dezember 1906 wurde veröffentlicht unter dem Titel: Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts, Czemowitz sowie Leipzig/Wien 1907. Über seine persönlichen Lebensumstände ist nur wenig in Erfahrung zu bringen. Er lebte in Czemowitz in der Steingasse 28, war unverheiratet und viel auf Reisen. Sein Bruder, der Arzt Oswald Ehrlich, lebte mit seiner Familie in Neapel 16 . Sein Neffe Philippe Finkelstein, den er gemäß Verlagskorrespondenz mit Duncker & Humblot zum Enderben nach der Nutznießung seines kleinen Vermögens 17 durch seinen Bruder bestimmte 18 , lebte mit Familie in Bukarest. Der Wiener Privatrechtler Karl Wo/// 1 9 berichtete von ihm: „Im Aussehen erinnerte er etwas an Lord Byron, worauf er sehr stolz war 2 0 . Er war schlank, hatte ausgeprägte Züge und eine hohe Stime.. . 2 1 . In Gesellschaft war er witzig und geistvoll. Eine seiner bei einem Professorenabend gehaltenen Damenreden lautete kurz und bündig: ,Meine Damen, meine Herren! Die Damen, meine Herren! 4 Seine Zerstreutheit war in ganz Czernowitz bekannt. Und es kursierten zahlreiche Anekdoten darüber. Meine Frau hat selbst erlebt, wie er eines Abends erschien, als ihre Eltern mit Freunden auswärts waren, und behauptete, für heute eingeladen zu sein. Er
14
Ν 3, Nr. 169-1900. Erich Prokope*witsch: Gründung, Entwicklung und Ende der Franz-Josephs Universität in Czemowitz (Bukowina-Buchenland), 1955, S. 36. 16 In einem Brief vom Mai 1911 aus Bern an Hermann U. Kantorowicz, der sich im Nachlaß Kantorowicz in der Universitätsbibliothek Freiburg (Br.) befindet, lädt Ehrlich Kantorowicz ein, ihn auf eine Kunstreise nach Spanien zu begleiten, und bemerkt in diesem Zusammenhang: „Vielleicht schließt sich mein Bruder an, der in Italien wohnt, ein sehr angenehmer und unterhaltender Mensch, heute wol mehr Italiener als Östreicher." 17 Siehe Ν 2, S. 415. 18 Zum Verwalter des literarischen Nachlasses wurden testamentarisch die Herren RA Dr. Franz Kobler (Wien) und Prof. Dr. Joan Lunguleac (Czemowitz) eingesetzt. Kobler erhielt im Jahre 1925 die im Nachlaß vorgefundenen Schriften und eine Sammlung der in Zeitschriften verstreuten Aufsätze vom Verlag Duncker & Humblot wieder zurückgesandt, da der Verlag sich infolge der wirtschaftlichen Verhältnisse der Nachkriegszeit außerstande sah, das in Aussicht genommene Fortsetzungswerk zur „Grundlegung" zu veröffentlichen. Diese Schriften sind seither verschollen. 19 Brief an den Verfasser vom 5. Dez. 1962. Die Schilderung beruht auf den Erinnerungen seiner Gattin Hedda Wolff, der Tochter eines Czernowitzer Professors. 20 Vgl. Ehrlichs Bewunderung für Byron in Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 168. 21 Eine — leider nur sehr undeutliche und stark retouchierte — Photographie findet sich in der Erstausgabe von Sinzheimer: Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, 1938, S. 231. Über die in diesem Bande wiedergegebene Photographie siehe unten Ν 62. 15
Leben und Wirken
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suchte ihre Eltern dann in dem betreffenden Gasthaus auf und wies tief gekränkt die schriftliche Einladung vor, bei der alles stimmte, bis auf das Datum: das war vom Jahr vorher!" 22 . Die Angaben im damaligen Who Is Who? 2 3 , er sammle Bukowiner Teppiche und Stickereien 24 , liebe Florettfechten und sei parteipolitisch nicht gebunden, scheinen von ihm selbst zu stammen. Auch erwähnt er in einem Aufsatz, er sei Zigarrenraucher 25 . Auf welche Weise die Bukowina, damals einer der ärmsten Landstriche 26 im östlichsten Winkel der Donaumonarchie, für sein wissenschaftliches Lebenswerk entscheidend wurde, beschreibt Ehrlich selbst wie folgt: „Es leben im Herzogtum Bukowina gegenwärtig, zum Teile sogar noch immer ganz friedlich nebeneinander, neun Volksstämme: Armenier, Deutsche, Juden, Rumänen, Russen (Lipowaner), Rutenen, Slowaken (die oft zu den Polen gezählt werden), Ungarn, Zigeuner. Ein Jurist der hergebrachten Richtung würde zweifellos behaupten, alle diese Völker hätten nur ein einziges, und zwar genau dasselbe, das in ganz Österreich geltende österreichische Recht. Und doch könnte ihn schon ein flüchtiger Blick davon überzeugen, daß jeder dieser Stämme in allen Rechtsverhältnissen des täglichen Lebens ganz andre Rechtsregeln beobachtet. Der uralte Grundsatz der Personalität im Rechte wirkt daher tatsächlich weiter fort, nur auf dem Papier längst durch den Grundsatz der Territorialität ersetzt 27 ". Für den ausgeprägten Wirklichkeitssinn des jungen Professors für römisches Recht war diese, der klassischen römischen Jurisprudenz ganz unbekannte Diskrepanz von geltender und gelebter Ordnung unerträglich: „Es wäre wohl die höchste Zeit, daß die Anhänger der historischen Schule, die seit einem Jahrhundert schon die große Wahrheit im Munde führen, daß das Recht dem Rechtsbewußtsein des Volkes entspringen müsse, endlich einmal damit ernst machten; daß sie endlich dieses 22
Vgl. auch sein Erstaunen, als er von Eugen Huber die Antwort auf einen Brief erhielt, den er gar nicht abgesandt zu haben glaubte (N 2, S. 414). 23 Hermann A. L. Degener (Hg.): Wer ist's?, 8. Ausgabe 1922, S. 333. 24 Für einen Vergleich zwischen BGB und ZGB zog er das für Juristen ungewöhnliche Bild des Unterschiedes zwischen einem bloßen Canevas und einer fertigen Stickerei heran (N 2, S. 408). 25 Anton Menger (N 6), S. 82. In seinen letzten Lebensjahren rauchte er, wie seine Besucher aus Japan berichten (unten Ν 60), Pfeife. 26 Vgl. Ehrlich: Die Aufgaben der Sozialpolitik im österreichischen Osten (Judenund Bauernfrage), 4. Aufl. 1916, S. 12. 27 Das lebende Recht der Völker der Bukowina (1912), in Ehrlich: Recht und Leben, 1967, S. 43. 2 Rehbinder, 2. Aufl.
18
Einleitung
Rechtsbewußtsein des Volkes studieren, von dem sie fortwährend behaupten, daß es die einzige richtige Quelle alles Rechtes sei 28 ". „Ich habe mich (daher) entschlossen, das lebende Recht der neun Volksstämme der Bukowina in meinem Seminar für lebendes Recht zu erheben 29 ". Mit diesem Entschluß, das lebende Recht zu erheben, stand Ehrlich, wie er selbst nachdrücklich hervorhebt, nicht allein. Er berichtet von früheren Arbeiten des Kroaten Bogisic, der mit Hilfe eines mehr als 800 Fragen umfassenden Fragebogens das Volksrecht der Südslawen erhob, über ein ähnliches Werk des Bulgaren Bobcev über das bulgarische Gewohnheitsrecht sowie eine zweibändige Monographie des Spaniers Costa über spanisches Gewohnheitsrecht. In deutscher Sprache arbeiteten, und zwar gleichzeitig mit Ehrlich, nach seinen Angaben Dniestrzanski, Mauczka und Kobler 30. Allen diesen Arbeiten ist aber gemeinsam, daß sie nicht die Keime neuen Rechts, sondern in romantisch-rückwärtsgewandtem Geist die absterbenden Überreste vergangener Rechtsformen aufspürten und rechtstheoretisch auf dem Boden der historischen Rechtsschule verharrten 31 . Was Ehrlich von ihnen unterscheidet, ist die Erkenntnis, daß die empirische Erforschung des Rechtslebens ein Hilfsmittel zur Erforschung seiner Gesetzmäßigkeiten in der Gegenwart ist und daß diese Erkenntnis zu einer modernen Rechtstheorie verdichtet und rechtspolitisch genutzt werden kann 3 2 . Ihm war deshalb auch von Anfang an klar, daß er seinen Bemühungen um das wirkliche, gelebte Recht, mit denen er dem etatistischen Positivismus der Rechtswissenschaft seiner Zeit den Kampf ansagte, von vornherein eine neue theoretische Fundierung geben mußte. Eine solche konnte zur damaligen Zeit nur überzeugen, wenn sie mit einer erdrückenden Fülle von Material versehen war, das gegen die Beschränkung der Rechtswissenschaft auf die Beschäftigung mit dem Gesetzestext und dessen rechtstechnische Anwendung sprach 33 . Dieses Material mußte er auf möglichst breiter Grund28
Ebd. S. 48. Ebd. S. 43. 30 Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 299, 375 f., 403, ferner in einem Brief (Ν 16) : „Begonnen hat damit der große Bogisic schon in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts." Vgl. aber die Bemerkung von Stanislaus Dniestrzariski (Das Problem des Volksrechts, in AcP132, 1930, 257, 268), Ehrlich sei der eigentliche wissenschaftliche Begründer der soziologischen Rechtstheorie. 31 Siehe auch die Literaturnachweise über diese Forschungsrichtung bei Eberhard Frhr. von Künßberg: Rechtliche Volkskunde, 1936, S. 3-6. 32 Siehe Grundlegung (N 30), S. 404. 33 M i t Recht konnte dann später Theodor Geiger in seiner Besprechung der 2. Aufl. der Grundlegung der Soziologie des Rechts im Archiv für angewandte Soziologie 1 (1929), H. 6 feststellen: „Als dieses Buch vor 14 Jahren in erster Auflage erschien, war es eine Offenbarung. Heute liest man es und wundert sich darüber, daß hier Gedanken, die uns inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden sind, so breit ausgesponnen und mit soviel rechtshistorischem Detail beladen werden." 29
Leben und Wirken
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läge sammeln und dazu insbesondere die Hilfsmittel außerrechtlicher Wissenschaftszweige in Anspruch nehmen. Seiner selbst von den schärfsten Kritikern anerkannten „unendlich großen Belesenheit, bewundernswerten Literaturkenntnis und staunenswerten Arbeitskraft" 34 verdanken wir heute in seinen Werken neben der bisher kaum erreichten Fülle rechtshistorischen und rechtsvergleichenden Materials die Verarbeitung nicht nur der ausländischen juristischen, sondern auch der volkswirtschaftlichen, historischen, soziologischen sowie psychologischen Literatur seiner Zeit. Ehrlich selbst schreibt dazu: „Ich arbeitete fast überall auf jungfräulichem Boden, mußte mir oft genug selbst mit der A x t den Weg durch die Dickichte bahnen; es fehlte an Material, an Vorarbeiten, an Literaturnachweisen; um nur eine Übersicht über den Stoff zu gewinnen, mußte ich fast alle europäischen Sprachen erlernen und weite Reisen unternehmen 35 ". Soweit aus seinen Werken ersichtlich, beherrschte Ehrlich Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Dänisch, Norwegisch, Russisch, Serbisch, Kroatisch, Polnisch und Ungarisch 36 und bereiste Frankreich, Italien, Griechenland, Dänemark, die Schweiz und England 37 . Die Arbeit in seinem Seminar für lebendes Recht 38 , die auswärtigen Vorträge „in seiner bekannten lebendigen A r t " 3 9 und besonders die „geistreichen und in ihrer lebendigen Rhetorik bestechenden Schriften" (Kel34 So Neukamp in ZgStW 73 (1917), S. 229; vgl. auch Franz Klein in Juristisches Literaturblatt 27 (1915), Nr. 2: „ungewöhnliche Beherrschung der Realien und des wissenschaftlichen Materials". 35 Soziologie des Rechts (1913/14), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 192. 36 Siehe dazu u. a. seine Übertragung der Monographie von H. Goudy: Dreiteiligkeit im römischen Recht, 1914, aus dem Englischen; Roscoe Pound: A n Appreciation of Eugen Ehrlich, in Harvard Law Review 36 (1922/23), S. 129, 130; das Literaturverzeichnis in Die Rechtsfähigkeit (1909) und die Belege in Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts (1907); ferner: Ein Institut für lebendes Recht (1911), in Recht und Leben (N 27), S. 41 ; Das lebende Recht der Völker der Bukowina (1912), ebd. S. 48; The National Problems in Austria (1917), S. 4, 11 ; Die juristische Logik (1918), S. 103, 170. 37 Siehe: Die Anfänge des testamentum per aes et libram. Bericht erstattet dem Historikercongress in Rom 1903, in ZvglRW 17 (1905), S. 99; Verhandlungen des 31. Dt. Juristentages III (1913), S.790; Grundlegung (N 20), Vorrede; Die Wohnsitzangabe in Wer ist's (N 23); Die Aufgaben der Sozialpolitik (N 26), S. 24,35,46 f.; Bericht über eine englische Studienreise, in Allgemeine österreichische Gerichts-Zeitung 60 (1909), S. 94-95; Griechische Eindrücke (Frau Marie Steiger zugeeignet), nicht im Buchhandel erhältlicher Abdruck aus der „Neuen Freien Presse", Czernowitz 1905 (Buchdruckerei Gutenberg), sowie die Verlagskorrespondenz mit Duncker & Humblot wegen der Übersetzung von Goudy (N 36). 38
Siehe unten § 2 bei Ν 10. So die Bemerkung in Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins 54 ( 1918), S. 429. Siehe auch unten Ν 47. 39
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s e n ) 4 0 , die n i c h t n u r w e g e n ihres e l e g a n t e n u n d p r o v o z i e r e n d e n S t i l s 4 1 m i t d e n b e r ü h m t e n W e r k e n Rudolf v. Jherings v e r g l i c h e n w u r d e n 4 2 , m a c h t e n ihn, d e n R o m a n i s t e n der k l e i n e n P r o v i n z f a k u l t ä t 4 3 a m Ende der z i v i l i s i e r t e n W e l t , b a l d w e i t h i n b e k a n n t . D e r j u n g e Martin Wolff berief sich auf i h n u n d versuchte i m Jahre 1906, E r h e b u n g e n über d i e r e c h t l i c h e n L e b e n s g e w o h n h e i t e n auf k l e i n e r e n T e i l g e b i e t e n des Grundbuchwesens, des e h e l i c h e n Güterrechts sowie des Nachlaß- u n d V o r m u n d s c h a f t s w e s e n s d u r c h z u f ü h r e n 4 4 . Der Deutsche R i c h t e r b u n d b a t u m eine S t e l l u n g n a h m e zur Reform der Gerichtsverfassung 4 5 , der 31. D e u t s c h e J u r i s t e n t a g u m e i n G u t a c h t e n zur Reform der j u r i s t i s c h e n A u s b i l d u n g 4 6 . A l l e r d i n g s w a r e n seine F o r d e r u n g e n für d i e m e i s t e n n o c h z u radikal. So k o n n t e es i h m trotz seiner großen B e r e d s a m k e i t 4 7 n i c h t gelingen, d e n J u r i s t e n t a g zur A n n a h m e einer Resolu40 Der zugleich sein erbittertster Gegner war : Eine Grundlegung der Rechtssoziologie, in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1915), S. 839. 41 Ehrlich — polnischer Muttersprache — fiel dieser Stil nicht in den Schoß. Seine Druckvorlagen sahen oft schrecklich aus. „Ich kann mir in der Form nie genügen, drechsle an jedem Satz und an jedem Wort herum" (siehe Ν 2, S. 441 f.). 42 Ζ. B. Moritz Liepmann in Weltwirtschaftliches Archiv 13 II (1918), S. 75: Ehrlichs Werk „ist voller Anregungen und in seiner sprühenden Eleganz, freilich auch in seinen pointierten Zuspitzungen und Übertreibungen den Werken Rudolf v. Jhering's zu vergleichen" und Rudolf Bovensiepen in Deutsche Literaturzeitung 1919, S. 892: „würdiger Nachfolger und Schüler des großen Rechtsphilosophen Jhering, aber an gründlichster Beherrschung von Erkenntnistheorie, Rechtsgeschichte, Psychologie und Soziologie über ihn hinausschreitend". 43 Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Franz-Josephs-Universität hatte bei ihrer Gründung 104, bei der 25-Jahr-Feier im Jahre 1900 insgesamt 306 eingeschriebene Hörer der Rechtswissenschaft und der Volkswirtschaftslehre, so Anton Norst: Alma mater Francisco-Josephina, Czemowitz 1900, Anhang; in Ehrlichs Rektoratszeit (Studienjahr 1906/07) war sie ausweislich der Studienverzeichnisse der Universität auf 383 Hörer, bei Kriegsausbruch 1914 auf 562 Hörer angewachsen; vgl. auch die Schilderung von Czemowitz in Heinrich Singer: Einige Worte über die Vergangenheit und Zukunft der Czemowitzer Universität, 1917, S. 24 f. 44
Siehe Martin Wolff: Das bürgerliche Gesetzbuch und die deutschen Lebensgewohnheiten. Eine Umfrage bei Praktikern, zumal Notaren und Richtern der freiwilligen Gerichtsbarkeit, in J W 1906, S. 697-700. Leider blieb der Erfolg aus, da es an der Bereitschaft der Praktiker zur Mitarbeit fehlte, siehe die Auswertung der Ergebnisse durch Martin Segall: Das bürgerliche Recht und die Lebensgewohnheiten, in: Archiv für bürgerliches Recht 32 (1908), S. 410-457. Die A k t i o n wurde daher nicht fortgeführt. 45 Die Neuordnung der Gerichtsverfassung, in DRiZ 1912, Sp. 437-465, 563 (nachgedruckt in Ehrlich: Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 146-178; die Einleitung mit dem Hinweis, daß diese Veröffentlichung auf die Anfrage des Vorsitzenden des Deutschen Richterbundes zurückgingest dort nicht mit abgedruckt). 46 Gutachten über die Frage: Was kann geschehen, um bei der Ausbildung (vor und nach Abschluß des Universitätsstudiums) das Verständnis des Juristen für psychologische, wirtschaftliche und soziologische Fragen in erhöhtem Maße zu fördern?, in Verh. des 31. Dt. Juristentages II (1912), S. 200-220 (nachgedruckt in Ehrlich: Recht und Leben, 1967, S. 61-79).
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tion zu bewegen, an allen juristischen Fakultäten Seminare für lebendes Recht einzurichten. Es wurde lediglich empfohlen, „Vorlesungen über einzelne Partien und Probleme der Soziologie" zu halten 48 . Auch seine Vorstellungen über eine grundlegende Hochschulreform 49 kamen über eine vereinzelte wohlwollende Kenntnisnahme nicht hinaus. Die Bemühungen Ehrlichs um die Erforschung des lebenden Rechts standen in engem Zusammenhang mit seiner juristischen Methodenlehre, die er erstmals in seiner Jugendschrift aus dem Jahre 1888 über Lücken im Rechte 50 entwickelt hatte und die später als sog. Freirechtslehre große Kontroversen auslösen sollte. Als viele Jahre später, unabhängig von ihm, Frangois Gény ähnliche Gedanken in seinem berühmten Buch über Méthode d'interprétation et sources de droit entwickelte, entschloß er sich, eine Neuauflage seiner alten Schrift unter Hinweis auf seine Priorität zu veranstalten. Er nahm eine Vortragseinladung der Wiener Juristischen Gesellschaft zum Anlaß, seine Gedanken zur Gesetzesauslegung grundlegend neu zu formulieren, und veröffentlichte seinen Vortrag im Jahre 1903 in Leipzig unter dem Titel „Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft" 51 . Mit diesem Titel gab er der damaligen Bewegung für eine soziologische Jurisprudenz ihren Namen. Mit den wesentlichsten Vertretern der deutschen Freirechtsschule wie Hermann U. Kantorowicz, Gustav Radbruch, Ernst
47 Welch glänzender Redner Ehrlich war, beweist z. B. sein extemporierter Diskussionsbeitrag auf dem 31. Dt. Juristentag, wo er zum heute noch ungelösten Problem des juristischen Lehrbetriebes, u. a. ausführte: „Die einzige Frage, die uns beschäftigen könnte, ist: W i e richten wir die Kollegien so ein, daß der Student sie besucht? Das ist die Hauptsache. Was vorgeschrieben wird, ist gleichgültig. Glauben Sie, daß es irgend einen Mediziner oder Techniker gibt, der die Kollegien in seiner Abwesenheit besucht? Ich glaube nicht. Das ist merkwürdigerweise eine Spezialität der Juristen. Nur die juristischen Kollegien braucht man nicht zu besuchen, bei jedem anderen muß man dabei sein. Es gibt ja juristische Kollegien, die sehr gut besucht sind, aber nicht an der Universität, sondern beim Einpauker. (Lebhafte Heiterkeit.) Nun ist das eine ungeheuer wichtige Frage. Diese Einpauker verachte ich gar nicht, es ist gut, daß sie da sind, denn das, was die Universitäten bisher zugrunde gerichtet hat, war der Mangel jeder Konkurrenz. (Heiterkeit.) Jetzt müssen wir mit dem Einpauker konkurrieren. (Lebhafte Heiterkeit und Beifall.) Ich glaube, wenn die Geschichte so weitergeht, wenn uns die Einj: auker die Hörsäle leeren werden, werden wir mit der Zeit ganz tüchtige Lehrer werden. (Lebhafte Heiterkeit.) Die ganze Sache beweist in erster Linie, daß wir dem Studenten etwas geben, womit er nichts anzufangen weiß. W i e die Sache besser zu machen ist, ist das, was Sie vielleicht in erster Linie von mir hören möchten. Es ist nicht leicht zu sagen .. (ebd. Bd. III (1913), S. 787 f.). 48
Ebd. S. 819,821. Siehe: Eine Hochschule für Gesellschaftswissenschaften (1916), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 211-227, und Ν 2, S. 416 f. 50 JB1. 1888, S. 447-630 (in Fortsetzungen), Neudruck in: Recht und Leben, 1967, S. 80-169. 51 Neudruck in: Recht und Leben, 1967, S. 170-202. 49
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Fuchs u. a. stand er in persönlichem Kontakt 5 2 und wurde von diesen auch als geistiges Haupt der Bewegung anerkannt 53 . Die Grundgedanken dieset Lehre, eine Opposition gegen das Dogma von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung (vgl. u. §8,1), lagen jedoch damals „in der Luft", so daß eine bestimmte geistige Beeinflussung oft nicht festzustellen ist. Noch vor Erscheinen der „Freien Rechtsfindung" erschien der Entwurf zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch, in dem Eugen Huber „seine" Theorie der Gesetzesauslegung niedergelegt hatte, wobei inzwischen feststeht, daß Eugen Huber bei der Abfassung seines Gesetzentwurfs weder Ehrlichs alte Schrift noch die Arbeit von Gény gekannt hat 5 4 . Die herausragende Bedeutung von Ehrlich für die Entwicklung der neuen Methodenlehre wurde aber im Ausland durchaus zutreffend gesehen. Anläßlich der 300-Jahr-Feier der Rijksuniversiteit Groningen (Niederlande) am 1. Juli 1914 wurde ihm daher zusammen mit Eugen Huber und Frangois Gény die Ehrendoktorwürde verliehen 55 . Auch in den USA wurde den Arbeiten Ehrlichs, nicht zuletzt auf Betreiben von Roscoe Pound 56, großes Interesse entgegengebracht. Teile seiner Programmschrift: „Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft" wurden übersetzt, man wurde auf sein Seminar für lebendes Recht aufmerksam. Schließlich erreichte ihn im Juni 1914 eine Einladung, im Dezember nach Amerika zu kommen und Vorlesungen am Lowell Institute sowie einen Vortrag über die Ziele seines Seminars für lebendes Recht vor der Jahresversammlung der Association of American Law Schools in Chicago zu halten 57 . Obwohl der Ausbruch des Ersten Weltkrieges dieses Vorhaben vereitelte, gewann Ehrlich dort durch die auf seinen Unterlagen beruhenden Ausführungen, die William Herbert Page 58 an seiner Stelle machte, seine in 52
Vgl. Emst Fuchs: Gerechtigkeitswissenschaft, 1965, S. 237. W i e dessen Sohn Albert S. Foulkes: Gustav Radbruch in den ersten Jahrzehnten der Freirechtsbewegung, in Gedächtnisschrift für GustavRadbruch,1968, S. 231-241 (234 f.), berichtet, hat Ehrlich am 24.7.1910 alle führenden deutschen Freirechtler im Hause Radbruchs in Heidelberg persönlich getroffen. 53 Vgl. die Nachweise bei Albert S. Foulkes: On the German Free Law School, in ARSP 55 ( 1969), S. 367-417 (377 Ν 28b) ; Emst Fuchs in J W 1919, S. 81 : „freirechtlicher Führer"; siehe auch die redaktionelle Anmerkung zu Ehrlich: Die freie Rechtsfindung, Das Recht V (Wien 1906), S. 35-41 (35). 54 Vgl. Oscar Gauye: Frangois Gény est-il le pére de Γ article 1er, 2e alinéa, du Code civil suisse?, in ZSR92I (1973), S. 271-281. 55 Academia Groningana 29 j u n i — 1 juli 1914; verslag van de herdenking van het derde eewfeest der universiteit te Groningen, uitgegeven in opdracht van den academischen senaat, Groningen (J. B. Wolter) 1916, S. 52. Zur Begründung heißt es bei Ehrlich und Gény: „quorum unterque novas iuris colendi et exercendi vias et rationes introduxit." 56 Vgl. Rehbinder: Roscoe Pound (1870-1964), in JZ 1965, S. 482-484. 57 Siehe Roscoe Pound, Ν 36. 58 Professor Ehrlich's Czemowitz Seminar of Living Law, in Proceedings of the 14th
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der Folgezeit in der Harvard Law Review veröffentlichten Arbeiten, vor allem aber durch die Vermittlung seiner Lehren in den Werken Roscoe Pounds großen Einfluß. Im Jahre 1936 erschien dann eine von Pound eingeleitete vollständige Übersetzung seiner „Grundlegung der Soziologie des Rechts", die viel diskutiert wurde 5 9 . So konnte M a x Rheinstein in den 30iger Jahren feststellen, daß Ehrlichs Einfluß in Amerika weit größer war als im deutschsprachigen Raum 60 . Das Schwergewicht des internationalen Interesses am Werk Ehrlichs liegt aber heute in Japan. Bereits im Jahre 1908 wurde Ehrlichs Freirechtslehre in einem Aufsatz von Otoshiro Ishisaka über die gegenwärtigen Tendenzen des deutschen Privatrechts in Japan vorgestellt. Die ersten beiden japanischen Übersetzungen von Werken Ehrlichs waren die Übersetzungen zweier Aufsätze, die Ehrlich auf Bitten von Prof. Kenzo Takayanagi (Universität Tokyo) für die privatrechtliche Zeitschrift der kaiserlichen Universität Tokyo zur Verfügung gestellt hatte, nämlich „Gesetz und lebendes Recht" (1920) und „Die Soziologie des Rechts" (1922)61. Dann folgten, wie sich aus dem am Ende dieses Buches abgedruckten Schriftenverzeichnis ergibt, ständig neue Übersetzungen, so daß heute alle wichtigen Werke, zum Teil in mehreren Fassungen, in japanischer Sprache vorliegen. Neben dem Standardwerk „Studien über Ehrlich 1 s Rechtssoziologie" von Tetsu Isomura (Universität Kyoto) aus dem Jahre 1953, das 1975 in erweiterter zweiter Auflage erschien, liegen etwa 70 Abhandlungen über Ehrlich vor, von denen etwa 50 seinen Namen im Titel aufführen. Die Rezeption der Gedanken Ehrlichs ging dabei in der Sicht von Rin-Itsu Kawakami in drei Stufen vor sich. Die erste Stufe umfaßt die Zeit von 1920 bis zum Ende des 2. Weltkrieges. Hier wurde zunächst in den 20iger Jahren, wesentlich durch Itsutaro Suehiro, den Begründer der japanischen RechtssoAnnual Meeting of the Association of American Law Schools held at Chicago, Illinois, Dec. 28, 29 and 30 (1914), S. 46-75. 59 Bereits 10 Jahre vor der Übersetzung durch Moll hatte sich Karl N. Llewellyn um die Übersetzungsrechte an der „Grundlegung" bemüht (Schreiben an den Verlag Duncker & Humblot vom 16. Juli 1926). 60 Sociology of Law. Apropos Moll's Translation of Eugen Ehrlich's Grundlegung der Soziologie des Rechts, in Ethics (An International Journal of Social, Political, and Legal Philosophy) 48 (1937/38), S. 232. Die bekannte Rechtssoziologie von Julius Stone (Social Dimensions of Law and Justice, 1966) enthält von Ehrlich nicht weniger als 101 verschiedene Zitate. 61 Beide Aufsätze im deutschen Original nunmehr nachgedruckt in: Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 228-253. Siehe Kenzo Takayanagi in Arthur T. von Mehren: Law in Japan, 1963, S. 35: Takayanagi — in den USA auf Ehrlich aufmerksam geworden — machte ihn 1919 in Bern ausfindig und hat ihn dort als erster japanischer Wissenschaftler besucht. Die zweistündige Unterredung wurde in englisch geführt und Takayanaki hat Ehrlichs perfektes Englisch, wie er in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Aufsatzes „Die Soziologie des Rechts" schreibt, sehr bewundert.
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ziologie 62 , die Freirechtslehre in die japanische Zivilrechtswissenschaft eingeführt und die Methode der soziologischen Jurisprudenz zur Grundlage des japanischen Bürgerlichen Rechts gemacht. Erst ab 1940 hat Suehiro dann auf der Grundlage von Ehrlichs Konzeption des lebenden Rechts umfangreiche Feldforschungen in ländlichen Gegenden von Nordchina durchgeführt. Zur gleichen Zeit wurden ähnliche Studien im ländlichen Japan durch Zennosuke Nakagawa und Takeyoshi Kawashima unternommen 63 . Gekennzeichnet sind diese Feldforschungen durch eine tendenziell konservative Kritik des rezipierten staatlichen Rechts, durch das Eintreten für die traditionalen Interessen der Bauern und Kleingewerbetreibenden. Die zweite Periode, die die Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis etwa 1970 umfaßt, wird von den Namen Takeyoshi Kawashima (Tokyo) und Tetsu Isomura (Kyoto) geprägt. Sie benutzten Ehrlichs Ideen für eine Hermeneutik des rezipierten Rechts im Sinne des lebenden Rechts Japans mit dem umgekehrten Ziele der Modernisierung des Rechtswesens. Die USA und Europa waren ihnen nicht Gegenstand der Kritik, sondern Vorbild. Die dritte Periode der Beschäftigung mit Ehrlichs Werk ab 1970 hat personell drei Zentren: die aus der Schule von Isomura hervorgegangene Arbeitsgruppe für moderne Rechtsgeschichte, geleitet von Yasutoshi Ueyama und Rin-Itsu Kawakami (Kyoto), die Kawashima-Schüler um Zensuke Ishimura (Tokyo) und die Arbeitsgruppe Rechtstheorie (Kyushu). Hier geht es jetzt zunehmend um die Fruchtbarmachung von Ehrlichs Werk bei der Begründung eines eigenständigen japanischen Rechts und Rechtsdenkens. Doch zurück zur Situation Ehrlichs vor dem ersten Weltkrieg. Sein Hauptwerk, die berühmte „Grundlegung der Soziologie des Rechts11, erschien noch kurz vor Beginn des Krieges, 1913, bei Duncker & Humblot, damals München/Leipzig 64 . W i e die Verlagskorrespondenz ergibt 65 , hatte er 62 Auf Anregung von Takayanagi hat im Juni 1920 eine Gruppe von 5 jungen japanischen Rechtsprofessoren Ehrlich in Bern aufgesucht, darunter Itsetaro Suehiro und Hideharu Sonda. Auf Bitten von Suehiro hat Ehrlich Sonda bis zum August, wo er zu seinem Bruder nach Neapel reiste, in seinem winzigen Hotelzimmer sechsmal Privatunterricht gegeben. Uber diese Begegnungen und die erbärmlichen Lebensumstände Ehrlichs in der Schweiz hat Sonda später in seinem japanischen Buch: Pioniere des Arbeitsrechts. 40jährige Erinnerungen als Arbeitsrechtler, Tokyo 1948, S. 15 ff., 35 ff. berichtet. Dort findet sich auch das zu Beginn dieses Buches wiedergegegebene Foto, das Sonda in der Nähe des Hauses von Philipp Lotmar aufgenommen hat. 63
Siehe die Darstellung von Zensuke Ishimura: Rechtssoziologie, in Paul Eubel: Das japanische Rechtssystem, Frankfurt/M. 1979, S. 33-45, 34 f. 64 Brief an den Verlag vom 22. Dez. 1912: „Das Buch, das ich Ihrem Verlag angeboten habe, ist mehr als irgendein anderes mein Lebenswerk. Den ersten Gedanken dazu faßte ich im Jahre 1882, noch als Student. Damals schrieb ich einen Aufsatz: Verhältnis der Jurisprudenz zum Systeme der Wissenschaften, und schickte ihn dem jetzigen Professor, damals Privatdozent in Wien, Freiherrn von Schey." Im
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ursprünglich den Plan, eine erweiterte Neuausgabe seiner inzwischen vergriffenen freirechtlichen Programmschrift von 1903 herauszubringen. Die Neubearbeitung nahm jedoch mit der Zeit einen derartigen Umfang an, daß er auf Anraten des Verlages sein Manuskript aufteilte. Die „Grundlegung" war der mittlere Teil. Ihr sollten dann unter dem Titel „Theorie der richterlichen Rechtsfindung" der erste und dritte Teil folgen. Der erste Teil war die Neubearbeitung der „Freien Rechtsfindung" und der dritte Teil enthielt „Praktische Fragen", d.h. Ausführungen über Methoden und Ergebnisse seiner empirischen Rechtsforschung sowie ihre Verwendung im Rechtsunterricht, ferner Ausführungen über die Anforderungen der Freirechtslehre an eine Neuordnung der Rechtspflege 66 . Gleich bei Kriegsbeginn wurde Czemowitz von russischen Truppen eingenommen und wechselte in der Folgezeit mehrfach den Besitzer 67 . Ehrlich mußte einen Teil seiner Aufzeichnungen und Unterlagen zurücklassen 68 und lebte zunächst in Wien. Dort arbeitete er verstärkt an seiner Theorie der richterlichen Rechtsfindung. Da sich der Verlag Duncker & Humblot jedoch infolge des Krieges außerstande sah, ein so umfangreiches Fortsetzungswerk herauszubringen, versuchte Ehrlich, Teile davon in Zeitschriften unterzubringen. Zu diesem Zweck teilte er den ersten Teil des Manuskripts in zwei Abhandlungen auf, von denen die wichtigere unter dem Titel „Die richterliche Rechtsfindung auf Grund des Rechtssatzes" 1917 in Jherings Jahrbüchern erschien 69 . Die zweite, die eine Kritik der traditionellen Methodenlehre enthält, erschien im selben Jahr unter dem Titel „Die juristische Logik" im Archiv für die civilistische Praxis 70 . Hier gelang es Ehrlich, den Verleger des Archivs für eine Sonderausgabe der Abhandlung in Buchform zu gewin-
selben Jahr erschien zu diesem Thema die Schrift von S. Pachman: Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft (siehe die überarbeitete Neuausgabe dieser Schrift in der Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Bd. 61). 65 Vgl. meine Einleitung zu: Ehrlich, Recht und Leben, 1967, S. 7-9. 66 Für Teil drei lagen eine Reihe von Vorveröffentlichungen vor, die ich in „Recht und Leben" zusammengestellt habe. Siehe bezüglich der Abhandlung „Die Neuordnung der Gerichtsverfassung" meine Einleitung zu Gesetz und lebendes Recht, 1986, S.8N4. 67 Vgl. Prokopowitsch Ν 15, S. 52 ff., sowie die Schilderung von Hedda Wolff in Ν 2, S. 409. Daß Ehrlich infolge der Kriegshandlungen gesundheitliche Schäden erlitt, die zu seinem frühen Tode führten (so Neil O. Littlefield: Eugen Ehrlich's Fundamental Principles of the Sociology of Law, in Maine Law Review 19, 1967, S. 1-27, 27 im Anschluß an Pound, Ν 36) ist kaum wahrscheinlich, da er an Diabetes starb. 68 Die juristische Logik, 1918, S. 210. 69 Jherings Jb. 67 (1917), S. 1-80; Neuabdruck in: Recht und Leben, 1967, S. 203252. 70 AcP 115(1917), S. 125-439.
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nen 7 1 . Zu einer Veröffentlichung des Gesamtwerkes ist es jedoch nicht mehr gekommen 72 . Während des Krieges wurde Ehrlich auch politisch aktiv, und zwar mit dem Ziele, die Alliierten von der Zerschlagung der Donaumonarchie abzuhalten. Mit vielen anderen österreichischen Intellektuellen seiner Zeit, z. B. Hugo v. Hofmannsthal, ging es ihm um die Erhaltung Österreichs als eines Vielvölkerstaates unter deutscher Führung. Seine Schrift von 1908 über „Die Aufgaben der Sozialpolitik im Österreichischen Osten (Juden- und Bauernfrage)" hatte 1916 die 4. Auflage erreicht. Nunmehr verfaßte er für die Internationale Zentralorganisation für einen dauerhaften Frieden (Nederlandsche Anti-Oorlog-Raad, Central Organisation for a Durable Peace), deren Studienkommission II (Nationalitätenprobleme) er seit 1915 angehörte (von österreichischer Seite wirkten dort u. a. Rudolf Lauri, von deutscher Seite Dernburg, von Liszt und Delbrück mit), ein Gutachten mit dem Titel „The National Problems in Austria", das 1917 im Haag als selbständige Schrift erschien. Auf sein Ansuchen an das Außenministerium, mit der Vertretung der österreichischen Interessen im Ausland betraut zu werden, wurde jedoch ihm und anderen Professoren erklärt, daß eine Teilnahme an den internationalen Friedenskonferenzen des Jahres 1917 in Christiania und Bern unerwünscht sei 73 . Dennoch reiste er kurz vor Kriegsende zur geplanten Völkerbundskonferenz in die Schweiz und erlebte dort das Ende des alten Österreichs: am 28. November 1918 wurde der Anschluß der Bukowina an Rumänien erklärt 74 . Ehrlich, der zu dieser Zeit vor den Juristenvereinen in Bern und Zürich sowie auf Einladung des Schweizer Studentenbundes öffentliche Vorträge hielt, kam dadurch in eine schwierige Lage. Abgesehen von seinen politischen Bemühungen um die Erhaltung des österreichisch-ungarischen Nationalitätenstaates hatte er sich während des Krieges insbesondere für eine Verlegung oder Schließung der Universität Czemowitz eingesetzt 75 . Er wurde deshalb nunmehr von der rumänischen Studentenschaft und der nationalen Presse als entschiedener Vertreter des Deutschtums 76 , Gegner 71 Die Juristische Logik, Tübingen 1918. Über interessante Einzelheiten der Entstehungsgeschichte, wie sie sich aus der Verlagskorrespondenz ergibt, siehe Ν 2, S. 411-414. 72 Siehe oben Ν 18. 73 Österreichisches Staatsarchiv-Außenministerium Nr. 961 von 1917. In den A k t e n wird betont, der Anti-Oorlog-Raad werde u. a. von dem Amerikaner Ford finanziert und sei als „extrem pazifistisch" einzustufen. 74 Prokopowitsch Ν 15, S. 57. 75 Singer Ν 43, S. 28, 50 ff. 76 Während unter dem Einfluß der zionistischen Bewegung sich der größte Teil der Juden in der Bukowina um die Jahrhundertwende vom Deutschtum abwandte (Pro-
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des d a m a l i g e n N a t i o n a l i s m u s u n d Gegner der U n i v e r s i t ä t C z e m o w i t z scharf angegriffen u n d a b g e l e h n t 7 7 . Er fragte daher i m J u n i 1919 b e i Eugen Huber an, o b er sich i n Bern für Rechtssoziologie h a b i l i t i e r e n könne. D i e daraufhin erfolgte A b s a g e war für i h n e i n schwerer Schlag 7 8 . Z u n ä c h s t t r u g er sich m i t d e m G e d a n k e n , v o n d e m A n g e b o t der r u m ä n i schen Regierung G e b r a u c h z u m a c h e n u n d sich v o r z e i t i g pensionieren zu lassen 7 9 . Er b l i e b daher n o c h einige Z e i t i n der Schweiz. D a n n aber entschloß er sich anders u n d w u r d e auf seinen A n t r a g als Professor an der U n i v e r s i t ä t C z e m o w i t z b e s t ä t i g t 8 0 . Er erhielt, w i e alle anderen deutschsprachigen Professoren i n C z e m o w i t z , e i n e n e i n j ä h r i g e n Forschungsurlaub, u m sich auf V o r l e s u n g e n i n r u m ä n i s c h e r Sprache v o r z u b e r e i t e n 8 1 , u n d zog Ende 1921 zu s e i n e m Neffen n a c h Bukarest, w o er d u r c h einen V o r t r a g die Begründung einer Gesellschaft zur Erforschung des l e b e n d e n Rechts b e w i r k e n k o n n t e 8 2 .
kopowitsch Ν 15, S. 42; in seinem Bericht als scheidender Rektor stellte Ehrlich fest, von den 607 ordentlichen Hörern der Universität Czemowitz seien 406 deutscher Muttersprache und 308 mosaischen Glaubens, „davon haben sich 184 zur jüdischen Nationalität bekannt", so in Die feierliche Inauguration des Rektors der k. k. Franz Josephs-Universität in Czemowitz für das Studienjahr 1907/08 am 9. Dez. 1907, Czemowitz 1907, S. 8), war Ehrlich entschiedener Assimilant: „Ich selbst gehöre noch einem Geschlechte an r für das es keine andere Lösung der Judenfrage gibt, als ein vollständiges Aufgehen der Juden i m Deutschtum. Das galt nicht nur für die Juden, die unter den Deutschen wohnen, sondern auch für die Juden hier im Osten, die mitten unter slavischen Völkern ihren Sitz haben. ... Wenn dieser ganze Plan jetzt aufgegeben werden muß, so liegt es ausschließlich an dem Antisemitismus, der das deutsche Volk ergriffen hat. W e m die Interessen des deutschen Volkes in Österreich und die Weltgeltung des Deutschtums am Herzen liegt, — und zu denen gehöre ich auch — der kann das nur bedauern; ich glaube, daß dieser nicht sehr gescheite Studentenulk, der Antisemitismus, hier eine verhängnisvolle historische Rolle gespielt hat" (Die Aufgaben der Sozialpolitik (N 26), S. 29 f.). Ehrlich wählte seinen Vornamen in bewußter Verpflichtung auf den Geist von Prinz Eugen (vgl. The National Problems of Austria, 1917, S. 44). M i t dem „preußischen Junkertum" konnte er sich dagegen nicht befreunden, vgl. Bismarck und die Weltpolitik, Zürich 1920. 77
Vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon 1815-1950, Bd.I (1957), S. 229, und die (aus der einseitigen Sicht des Bukowina-Deutschen verzerrte) Darstellung bei Prokopowitsch (N 15), S. 55. 78 Vgl. über die Ereignisse in der Schweiz ausführlich Ν 2, S. 414 ff. 79 „ A m liebsten möchte ich jetzt, sobald meine Pensionierung durchgeführt ist, mich in irgend ein Nest, am liebsten in Italien, zurückziehen, um dort in Ruhe meine Tage zu beschließen; die wissenschaftliche und litterarische Arbeit entgiltig aufgeben, die mir nichts eingetragen hat, als Ärger und Verdruß. Hoffentlich wird mir wenigstens das erfüllt" (so seine Reaktion auf die Absage Hubers, ebd. S. 416). 80 Postkarte an den Verlag Duncker & Humblot aus Bukarest vom 5. Dez. 1921. 81 Vgl. ebd. und die redaktionelle Anmerkung zu La Sociologia del Diritto, in Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto 2 ( 1922), S. 96; ferner Hedda Wolff (Ν 2), S. 410. 82 Siehe: Die Soziologie des Rechts (1922), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 253.
28
Einleitung
Seine Lehrtätigkeit konnte er jedoch nicht wieder aufnehmen; denn wenige Monate später starb er an Diabetes, den man damals noch nicht behandeln konnte. In den Totenprotokollen des Stadtarchivs Wien ist vermerkt: „Professor Dr. Eugen Ehrlich, gestorben 2. Mai 1922, röm.-kath., ledig, geboren 14.9.1862 in Czemowitz, zuständig Czernowitz, Todesursache Zuckerharnruhr, letzter Wohnort: Bukarest, Elisabethstraße, gest.: Spital der Kaufmannschaft." Ehrlich war sich wohl bewußt, daß sein wissenschaftliches Lebenswerk, wie jede Pionierarbeit 83 , noch unvollkommen war: „Das alles sind nur Anfänge einer wissenschaftlichen Grundlegung der Jurisprudenz. Auf einem wissenschaftlich gesicherten Boden werden wohl erst die Gesetzgeber, Juristen und Richter künftiger Jahrhunderte stehen. Es muß jedoch auch mit dem Anfange einmal angefangen werden 84 ". Wie sah dieser erste Anfang aus?
83 Erik Wolf, in Deutsche Literaturzeitung 1929, H. 24: „Ehrlich's Werk war die Pionierarbeit der Rechtssoziologie. " 84 Die juristische Logik (N 68), S. 113.
Erstes K a p i t e l
Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
Erster Abschnitt § 2 Ehrlich und der Beginn der Rechtstatsachenforschung Ehrlich begann seine Veröffentlichungen mit einer kleineren Arbeit „Über Facturenbeisätze" 1 , ein Problem, das auch heute noch zuweilen die Gerichte beschäftigt. Ihm war aufgefallen, daß aus Frankreich eine Rechtsprechung übernommen worden war, nach der die Angabe eines Zahlungsortes auf der nachträglich übersandten Rechnung trotz des bereits perfekten Kaufvertrages eine Änderung des allgemeinen Gerichtsstandes (nämlich des Wohnsitzes des Schuldners) herbeiführen sollte. Diese Auffassung mochte zwar für das französische Recht gelten, konnte aber in Österreich keine Anwendung finden, da das österreichische Prozeßrecht eine „ausdrückliche Vereinbarung" des Erfüllungsortes zur Begründung eines abweichenden Gerichtsstandes erforderte. „Aber die Gerichte legten das so aus: in der stillschweigenden Entgegennahme einer die ausdrückliche Bestimmung des Erfüllungsortes enthaltenden Faktura liege eben die ausdrückliche Vereinbarung 2 . 11 Ehrlich bewies die Unhaltbarkeit dieser Argumentation und schrieb darüber später: „Im Jahre 1887 habe ich in den „Wiener Juristischen Blättern 11 einige Aufsätze veröffentlicht, in denen ich mit großem juristischen Materiale ausführte, es könne unmöglich als stillschweigende Willenserklärung gelten, daß der Käufer sich um einen Brief nicht kümmert, in dem ihm jemand nachträglich mitteilt, er habe mit ihm etwas vereinbart, wovon zwischen ihnen nie die Rede war; ich habe hervorgehoben, daß die s t i l l s c h w e i g e n d e Annahme der Faktura unmöglich eine ausdrückliche Vereinbarung sein könne, ich habe darauf hingewiesen, wie ungerecht die Fakturenübung den Großkaufmann und Industriellen vor dem 1
JB1. 1887, S. 365-391 (in Forts.). Ehrlich: Die richterliche Rechtsfindung auf Grund des Rechtsatzes (1917), Recht und Leben, 1967, S.214f. 2
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
kleinen Mann und dem Nichtkaufmann begünstige, die keine Gelegenheit hätten, Fakturen auszustellen: es war das meines Wissens der erste Hinweis auf den Mißbrauch der Usance im kaufmännischen Verkehre, der sich in der juristischen Literatur findet. Meine Ausführungen haben allgemein überzeugt, blieben aber ohne Wirkung auf die Gerichte, der Oberste Gerichtshof erklärte sogar in einer späteren Entscheidung, selbst die Zurücksendung der Faktura sei nicht eine Einsprache gegen den Zahlbarkeitsvermerk, und der Gerichtsstand des Vertrages sei trotzdem begründet: das wäre also eine stillschweigende Annahme ohne Annahme." „Vielleicht gibt es jemand noch, der glaubt, beim Gerichtsstand der Faktura habe es sich nur um die Auslegung der Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches über die stillschweigende Willenserklärung und der österreichischen Jurisdiktionsnorm über die Begründung des Gerichtsstandes des Vertrages durch ausdrückliche Vereinbarung des Erfüllungsortes gehandelt, nicht um einen in der Rechtsprechung entstandenen Rechtssatz, zum Schutze mächtiger kaufmännischer Interessen, die bei der Interessenabwägung der Gerichte Oberhand gewonnen hätten 3 ." Ehrlich merkte also, daß unter dem Deckmantel der Konstruktion einer stillschweigenden Willenserklärung neue, vom Gesetzesrecht abweichende Rechtssätze entstanden. Er begann, dieser Entdeckung nachzugehen, und schrieb seine Habilitationsschrift über „Die stillschweigende Willenserklärung" (Berlin 1893). Dabei kam er zu dem Ergebnis, „daß wo immer noch von einer stillschweigenden Willenserklärung die Rede war, hinter diesem Ausdrucke sich stets die Subsumtion eines Thatbestandes unter einem Begriff versteckte, der auf diesen Thatbestand gar nicht paßte" 4 . „Da heute die vorgefaßte Meinung herrscht, daß eine jede Rechtswirkung nur entweder durch eine gesetzliche Vorschrift oder durch eine Willenserklärung begründet werden kann, so sucht man jede Entscheidung, für die sich im Gesetze keine Begründung finden läßt, auf eine Willenserklärung zurückzuführen; wenn sich keine ausdrückliche finden läßt, auf eine „stillschweigende " 5 . " „In That und Wahrheit war die stillschweigende Willenserklärung seit jeher nichts als eines der Mittel, das geltende Recht mit den Bedürfnissen der Rechtsentwicklung in Einklang zu bringen... Sie ist also kein Rechtsinstitut, sondern ein ganzes System neuer, noch um ihre Existenz ringender Rechtsnormen, kein einheitliches Problem, sondern ein Konglomerat von Problemen 6 ." 3 4 5 6
Ebd. S. 242. Die stillschweigende Willenserklärung, 1893, S. 286. Ebd. S. 289. Ebd. S. 291.
1. Abschn.: Ehrlich und der Beginn der Rechtstatsachenforschung
31
Über seine Arbeit an dieser Untersuchung berichtet Ehrlich, er habe, um ein Bild dessen geben zu können, was die Rechtsprechung aus der stillschweigenden Willenserklärung gemacht habe, mehr als 600 Bände deutscher, österreichischer und französischer Entscheidungssammlungen durchgearbeitet. Dabei habe ihn weniger die Urteilsbegründung als vielmehr der Tatbestand interessiert; denn es sei ihm darum gegangen, die Funktion zu erkennen, die die stillschweigende Willenserklärung im Rechtsleben gewonnen habe. Auf diese Weise habe er schon damals praktiziert, was er erst später als soziologische Methode der Rechtswissenschaft theoretisch zu begründen versucht habe. Später habe er jedoch erkannt, daß auch das Studium der Urteilstatbestände nicht ausreicht, um ein Bild des Rechtslebens zu bekommen, weil nur ein Bruchteil der Rechtsverhältnisse vor die Gerichte käme und auch dann nur iii einem durch den Rechtsstreit verzerrten Zustand. Die soziologische Methode müsse daher durch unmittelbare Beobachtung des Lebens ergänzt werden 7 . Ehrlich beschäftigte sich daher in der Folgezeit mit der Sammlung, Aufzeichnungen und Analyse der in den verschiedenen Teilen der Bukowina abgeschlossenen landwirtschaftlichen Pachtverträge 8. Außerdem führte er eine Umfrage über die Rechtswirklichkeit des ABGB durch, bei der er feststellte, daß nur etwa ein Drittel der gesetzlichen Vorschriften im Rechtsleben angewandt wurde, aus dem Gewährleistungsrecht z. B. lediglich die Bestimmungen über die Viehmängel 9 . Er erkannte jedoch sehr bald, daß eine wirkliche empirische Rechtsforschung die Kräfte eines einzelnen überschreitet. Daher wandte er sich am 16. Juli 1909 an das österreichische Unterrichtsministerium „mit dem Ansuchen um Genehmigung eines Seminars für lebendes Recht" 10 . Obwohl ihm von der Regierung erst für das Rechnungsjahr 1911 eine einmalige Unterstützung von 400 Kronen bewilligt wurde, begann er im WS 1909/10 mit der Arbeit 1 1 . Von WS 1910/11 bis zum Kriegsanfang führte er regelmäßige Seminarveranstaltungen durch, und zwar ausweislich der Vorlesungsverzeichnisse je zweistündig im WS 1910/11, WS 1911/12; im SS 1912 und SS 1913 zusammen mit Prof. Dr. Otto Freiherr von Dungern, der Deutsche Rechtsgeschichte und Staatsrecht dozierte ; dann wieder allein im WS 1913/14 und im SS 1914. Im SS 1914 wurde auch erstmals eine einstündige Übung aus der Soziologie des Rechts abgehalten. Über die Seminararbeit sind wir durch seine Schilderungen gut unterrichtet. 7
Ein Institut für lebendes Recht (1911), Recht und Leben, 1967, S. 33 f. Ebd. S. 28, 67. 9 Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 297 f. 10 Veröffentlicht unter dem Titel: Die Erforschung des lebenden Rechts, in Schmollers Jb. 35,1 (1911), S. 129-147, nachgedruckt in Recht und Leben, 1967, S. 11-27. 11 Ν 7, S. 28. 8
32
1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
Zunächst fing er mit kleineren Teilerhebungen an, wobei er sich auf die ländliche Umgebung von Czernowitz konzentrierte 12 . Von diesen Erhebungen hat er eine über den mündlichen Pachtvertrag in Rosch (Vorstadt von Czernowitz) und eine über die Art der Bewirtschaftung der Gemeindehutweide in Bossance veröffentlicht 13 . Sodann versuchte er, sog. juristische Aufnahmen durchzuführen, bei denen sämtliche Rechtsverhältnisse einer Wirtschaftseinheit (Bauernhof, Fabrik usw.) erforscht werden sollten 14 . Sehr beliebt bei den Studenten waren auch die wissenschaftlichen Ausflüge, bei denen Fabrikbetriebe besichtigt wurden: „Mit größtem Nachdrucke muß jedoch betont werden, daß es sich bei diesen Ausflügen nicht um das Technische, Wirtschaftliche, sondern um das Juristische, Organisatorische handelt. Recht ist vor allem Organisation. Die Organisation eines Unternehmens löst sich auf in lauter juristische Dinge: in Vollmachten, Aufträge, Bestellungen, Käufe, Lohnverträge usw. 15 ." Später wollte Ehrlich sogar das gesamte Recht einzelner Volksstämme aufzeichnen lassen, verfaßte zu diesem Zweck einen eingehenden Fragebogen 1 6 und gab zur A r t und Weise der Erhebung (Interviewtechnik) besondere Anweisungen 17 . Der praktische Erfolg seiner Bemühungen war jedoch enttäuschend. Er erhielt nur eine einzige umfassende Beantwortung 18 . Die Ermittlung eines ganzen Rechts war zu umfangreich und schwierig. Außerdem fehlte es trotz des allgemeinen Interesses an Mitarbeitern. Ehrlich schreibt dazu: „Nicht so viel Erfolg hatte ich dagegen bisher mit den Seminararbeiten. Nur weniges war von einigem Werte. Das dürfte wohl vor allem an der Schwierigkeit des Unternehmens liegen, an der ungewohnten Arbeit, die 12
Gutachten für den 31. Dt. Juristentag (1912), in Recht und Leben, 1967, S. 72. Das lebende Recht der Völker der Bukowina (1912), Recht und Leben, 1967, S. 55-60. Aus der Schule Ehrlichs stammen u. a. die Arbeiten von Basil Dutczak (Über die Gemeindeumlagen. Rückstände des Bukowiner griech.-orient. Religionsfondes, in Österreichische Richter-Zeitung II, 1905, Sp. 288-291 ; Landtafelgüter und Gutsgebiete in der Bukowina, in Österreichische Richter-Zeitung IV 1,1907, Sp. 41-59; Über die Berichtigung des Eigentumsblattes der Gemeinde- und Äquivalenz-Alpen in der Bukowina, Czernowitz 1908; Die Sozialisierung bäuerlicher Kleinbetriebe in Rumänien, in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53,1925, S. 803-829) sowie die Arbeit über das Institut der Klaka (d. i. die unentgeltliche gemeinsame Arbeit der Mitglieder einer Bauerngemeinde für gemeinsame Rechnung) von Ternaveanu (siehe Recht und Leben, 1967, S. 74 Ν 2). 13
14
Recht und Leben, S. 74 f. Ebd. S. 73. 16 Ebd. S. 49-55. 17 Ebd. S. 44 f. 1 E b d . S. 4. 15
1. Abschn.: Ehrlich und der Beginn der Rechtstatsachenforschung
33
dem Juristen angesonnen wird. Ich verlange ja keine Lesefrüchte, keine Studien über Quellen oder Literatur, sondern Berichte über Selbstgesehenes und Selbsterlebtes. Dazu kommt die Lage der hiesigen Studentenschaft. Sie ist durchwegs arm, hauptsächlich darauf bedacht, mit den Prüfungen fertig zu werden und in einem Amte unterzukommen; für schwierige Arbeiten, die keine besonderen Aussichten eröffnen, hat sie wenig Zeit 19 . 1 ' So wurde das geplante Sammelwerk 20 , das die Protokolle der wissenschaftlichen Ausflüge, die „juristischen Aufnahmen", die anderen Erhebungen sowie die gesammelten Urkunden über landwirtschaftliche Pachtverträge, Holzabstockungs- und Erbbauverträge enthalten sollte, nie veröffentlicht. Insgesamt gesehen war daher die Ausbeute seiner Bemühungen um empirische Untersuchungen sehr gering 21 . Hätten ihm die notwendigen Mittel zur Verfügung gestanden, hätte er geeignete Mitarbeiter gehabt und wäre schließlich nicht der Weltkrieg dazwischen gekommen, so wäre er sicher zu interessanten Ergebnissen gelangt, die zur Nachahmung angeregt hätten. So aber mußte sich Ehrlich mit dem pädagogischen Gewinn dieser ersten Anfänge empirischer Rechtsforschung zufrieden geben. Daß ihm dies lohnend genug war, ergibt sich aus seinen Worten: „Ein Seminar ist dazu da, damit der Studierende die wissenschaftliche Methode lerne, nicht damit er sie ausübe. Es handelt sich mir doch nicht darum, Gelehrte im lebenden Recht heranzubilden, sondern nur darum, das im Juristen zu wecken, was ich eben für die Hauptsache halte: den Wirklichkeitssinn. Selbst die wissenschaftlich unbrauchbare Arbeit hat einen hohen pädagogischen Wert: Der Mann hat doch gelernt, zu beobachten, sich mit lebenden Menschen zu befassen, nicht mit toten Paragraphen und Aktenfaszikeln. Und in dieser Beziehung habe ich oft verblüffende Erfolge erlebt. Es genügte zuweilen, daß ich fünf Minuten mit einem Studierenden rede, um zu bemerken, daß sich eine neue W e l t vor ihm auf tat. Sofort beginnt er von seinen eigenen juristischen Erlebnissen zu erzählen, eine wahre Jurisprudenz des täglichen Lebens zu entwickeln, tausend Dinge, an denen er bisher achtlos vorbeiging, gewinnen für ihn jetzt Leben, werden ihm zu Zeugnissen des lebenden Rechts 22 ." 19
Ebd. S. 73. Ebd. S. 28, 48. 21 Daß Ehrlichs Arbeit gleichwohl anerkannt wurde, beweist ein Schreiben der Bukowinaer Landesregierung, in dem darauf hingewiesen wird, daß Ehrlich zu Unrecht bei der Verleihung des Hofratstitels übergangen würde. Es heißt dort: welcher sich als Gelehrter allgemeinen Ansehens erfreut und insbesondere in den letzten Jahren das Studium des lebenden Rechts in der Bukowina angeregt und die studierende Jugend zu Beobachtungen und Forschungen auf diesem Gebiete angeeifert hat" (Österr. Staatsarchiv — österr. Verwaltungsarchiv Nr. 1538 aus 1917). 22 Ebd. S. 73 f. 20
3 Rehbinder, 2. Aufl.
Zweiter Abschnitt: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie So dürftig die Ergebnisse seiner empirischen Untersuchungen auch insgesamt waren, um so reichhaltiger und fruchtbarer waren Ehrlichs theoretische, mit rechtshistorischem und rechtsvergleichendem Material fast überladene Schriften. Nach wichtigen Vorarbeiten 1 , von denen insbesondere seine Rektoratsrede über „Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts" (Leipzig/ Wien 1907) und seine Studie über „Die Rechtsfähigkeit" (Berlin 1909) bekannt geworden sind, erschien im Jahre 1913 bei Duncker & Humblot (damals: München/Leipzig) seine große „Grundlegung der Soziologie des Rechts". In der Vorrede dazu schreibt er: „Es wird oft behauptet, ein Buch müsse so sein, daß man seinen Sinn in einem einzigen Satze zusammenfassen könne. Wenn die vorliegende Schrift einer solchen Probe unterworfen werden sollte, so würde der Satz etwa lauten: der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liege auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst. Vielleicht ist in diesem Satze der Sinn jeder Grundlegung einer Soziologie des Rechts enthalten." Auf diesen Grundsatz im wahren Sinn des Wortes baut Ehrlich sein System der Rechtssoziologie auf. Von einem System zu sprechen, ist allerdings insofern übertrieben, als Ehrlich im Grunde ein ganz unsystematischer Denker war, der es liebte, seine Ideen mit vielen Exkursen in mehr oder weniger essayistischer Form vorzutragen. Das erschwert das Verständnis der Zusammenhänge erheblich und hat auch zu vielen Mißverständnissen geführt, wie später bei der Behandlung der Kritik seiner Ideen noch zu zeigen sein wird. Es ist ganz unmöglich, sich mit Ehrlichs Rechtssoziologie auseinanderzusetzen, ohne vorher wenigstens versucht zu haben, die Fülle seiner Gedankengänge in ein System zu ordnen 2 . Deshalb ist es auch gefährlich, das 1 Insbesondere: Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen, Berlin 1902; Soziologie und Jurisprudenz (1906), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 88-103; Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts (1907), ebd. S. 104-132; Die Rechtsfähigkeit, 1909. 2 Ehrlichs eigene Zusammenfassungen sind nur sehr oberflächlich und nicht besonders glücklich, vgl. Soziologie des Rechts (1913/14) und Die Soziologie des Rechts (1922), beide Artikel in ders.: Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 179-194. 241-253. sowie die Bemerkungen unten, § 10,2 b bei Ν 57. Über einen Einwand, der gegen jeden Systematisierungsversuch erhoben worden ist, siehe ebenfalls unten § 10,1.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
35
vorliegende Buch so zu lesen, wie die Erstauflage von dem berühmten Internationalprivatrechtler Gerhard Kegel gelesen wurde. Dieser schrieb mir seinerzeit, er habe das Buch „wie einen umgekehrten Fisch" verschlungen. Im allgemeinen ließe man ja Kopf und Schwanz beiseite und konzentriere sich auf das Mittelstück. Er aber habe sich hier auf Kopf und Schwanz konzentriert. Das müssen auch andere getan haben; denn im Anschluß an dieses Buch wurden entweder Ehrlich oder meine Ausführungen über ihn kritisiert, offensichtlich ohne daß man sich Ehrlichs Theorie in ihren Einzelheiten noch einmal vor Augen geführt hätte 3 . Die folgenden Ausführungen lehnen sich möglichst eng an Ehrlichs eigene Formulierungen an und verzichten bewußt auf eine Modernisierung seiner Terminologie. Ehrlich ist heute noch ohne Schwierigkeiten verständlich. So wird z. B. jedem klar, daß das, was er im folgenden als „menschliche Verbände" bezeichnet, in der heutigen Soziologie Gruppen sind, seine „urwüchsigen Verbände" Primärgruppen im Gegensatz zu den Sekundärgruppen (Organisationen), usw.
§ 3 Das Recht als selbständige Ordnung der Gesellschaft 1. Das Recht als Organisation menschlicher Verbände4 Wenn die Rechtsentwicklung nach der Grundthese Ehrlichs vornehmlich durch die Gesellschaft bestimmt wird, so versteht er unter Gesellschaft die Gesamtheit der menschlichen Verbände. Diese menschlichen Verbände unterteilt er in urwüchsige (genetische) und „alle neuern" Verbände. Urwüchsige Verbände sind die Sippe, die Familie und die Hausgemeinschaft. Man wird in sie hineingeboren. Sie verdanken ihre Entstehung unbewußten menschlichen Trieben. Während heute nur noch die Familie im engsten Sinne ihre gesellschaftsbildende Funktion erhalten hat und andere Verbände im Vordergrund stehen, waren in primitiveren Gesellschaften diese urwüchsigen Verbände die einzigen organisierten Gruppen, aus deren Zusammenschluß der Staat und später das Volk bestand. Sie mußten daher auch alle gesellschaftlichen Aufgaben erfüllen, waren gleichzeitig „wirtschaftlicher, religiöser, militärischer und Rechtsverband, Gemeinschaft in Sprache, Sitte und Geselligkeit" 5 . Im Laufe der Entwicklung wurde nun eine nach der anderen dieser Aufgaben von neu entstehenden Verbänden über3
Darüber Näheres unten, § 10. Die folgenden Gedankengänge Ehrlichs finden sich im wesentlichen in seiner „Grundlegung der Soziologie des Rechts", 1913 (forthin zitiert als „Grundlegung"), in den Kapitel II und III. 5 Grundlegung S. 21. 4
3*
36
1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
nommen, die bewußte menschliche Zweckschöpfungen sind, sich überschneiden und umfassen, wie „die Gemeinde, der Staat, die Religionsgemeinschaft, der Verein, die politische Partei, die gesellschaftliche Koterie, die gesellige Verbindung, der wirtschaftliche Verband in Landwirtschaft, in Werkstätten und Fabrik, die Erwerbsgesellschaft, der Berufsverband, die Verkehrswirtschaft' 16 . Begreift man die Gesellschaft nicht als Summe von Individuen, sondern als ein kompliziertes Geflecht menschlicher Verbände, so wird deutlich, daß das Recht eine Ordnung dieser menschlichen Verbände ist. Otto v. Gierkes Unterscheidung zwischen dem öffentlichen Recht und dem Körperschaftsrecht als Sozialrecht und dem Privatrecht als Individualrecht wird daher von Ehrlich abgelehnt. Alles Recht ist Sozialrecht -, denn das Recht sieht auch den einzelnen Menschen immer nur als Glied eines der vielen Verbänden und weist ihm innerhalb dieses Verbandes seine Stellung, seine Über- und Unterordnung und seine Aufgaben zu: „Im herrschenden Privatrechtssystem kommt jedoch der Verband nur sehr unvollkommen zum Ausdruck. Die analytische Methode der privatrechtlichen Jurisprudenz hat es mit sich gebracht, daß die meisten Verbände in Stücke zerrissen worden sind, um ihre Bestandteile als Rechtssubjekte und Objekte, als dingliche und persönliche Rechte einzeln unter das Vergrößerungsglas zu nehmen. Das mag praktisch geboten sein, ist aber jedenfalls unwissenschaftlich: ebenso wie die alphabetische Ordnung des Wörterbuchs praktisch geboten, aber unwissenschaftlich ist. Die soziologische Rechtswissenschaft, durch keinerlei praktische Rücksichten gebunden, muß daher die auseinandergerissenen Glieder wieder zu einem Ganzen zu vereinigen suchen7.11 Die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Sinnzusammenhanges des Privatrechts hat nach Ehrlich dadurch zu geschehen, daß man sich seine Funktion vergegenwärtigt. Denn wenn man vom Privatrecht das sogenannte Statusrecht ausklammert, dessen Charakter als Verbandsordnung sich aus seiner rollenzuweisenden Wirkung ergibt 8 , so geht es hier um das Kontraktsrecht und damit im wesentlichen um das Recht des Wirtschaftslebens. Das Wirtschaftsleben spielt sich aber ausschließlich in Verbänden ab. Wurden nämlich zur Zeit der geschlossenen Hauswirtschaften noch alle drei Funktionen des Wirtschaftslebens: Gütererzeugung, Güterverkehr und Güterverbrauch, von ein und demselben Verband wahrgenommen, so sind sie zwar heute im Zeitalter der Verkehrswirtschaft in der Regel auf Arbeitsstätte, Handel und Haushalt verteilt. Auf jeder dieser Wirtschaftsstufen haben sich aber die Menschen zu Wirtschaftseinheiten zusammengefunden. 6 7 8
Ebd. Grundlegung, S. 34. Vgl. dazu Ehrlichs Ausführungen in Die Rechtsfähigkeit, 1909.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
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Diese Wirtschaftseinheiten oder, wie Ehrlich sie nennt, Wirtschaftsverbände werden durch das Privatrecht genauso geordnet wie Körperschaften durch ihre Satzung. So ist das Familienrecht die innere Ordnung der Familie, das Gesellschafts- und Arbeitsvertragsrecht die innere Ordnung der wirtschaftlichen Unternehmungen, denn sie regeln die Beziehungen der arbeitenden oder verbrauchenden Menschengruppe untereinander. Sachenrecht und Erbrecht regeln den Wirtschaftsverband im Hinblick auf seine materielle Grundlage, betreffen also die Beziehungen der Menschengruppe zu den Wirtschaftsgütern. Nun greifen aber Sachen- und Erbrecht im Einzelfall oft über den jeweiligen Verband hinaus auf andere Verbände oder einzelne ihrer Mitglieder über. Besonders deutlich wird dieses Heraustreten aus dem Kreis der eigenen Wirtschaftseinheit auch im Vertragsrecht, wo Austauschverträge ja gerade ihren Sinn darin haben, die in der Volkswirtschaft vorhandenen Güter und persönlichen Fähigkeiten (Dienste) zwischen den einzelnen Wirtschaftseinheiten zu verteilen. Gibt es also auch ein Inter-Verbandsrecht? Nach Ehrlich beruht diese Frage auf einer falschen Betrachtungsweise: „Die organisatorische Natur aller dieser Verträge tritt sofort deutlich zutage, wenn nicht bloß, wie das gewöhnlich zu rein praktisch-juristischen Zwecken geschieht, bloß die beiden Parteien, die den Vertrag abschließen, sondern der ganze Kreis der Personen ins Auge gefaßt wird, die miteinander durch regelmäßigen vertragsmäßigen Güteraustausch verbunden sind. Alle Personen in diesem Kreise bilden einen wirtschaftlichen Verband, der die Güter, die gebraucht werden, erzeugt, die Dienste anbietet, deren man bedarf, und der sich so gegenseitig mit Gütern und Diensten versorgt: in diesem Verband wird jedem Einzelnen die Stellung, die Über- und Unterordnung, diese letzte allerdings meist nur sehr rudimentär, und seine Aufgaben, durch die Gesamtheit der von ihm abgeschlossenen oder abzuschließenden Verträge bestimmt 9 ." Es gibt also für Ehrlich kein Individualrecht. Das Privatrecht enthält ebenso wie das Staats- und Körperschaftsrecht vorwiegend Verbandsrecht, nicht Einzelrechte und Einzelpflichten; subjektive Rechte sind mindestens zugleich „Sozialrecht". Allerdings gibt es Individualbereiche. Diese sind aber nur Reflexwirkungen des Verbandsrechts, geschützte Hohlräume der Verbandsordnung. Das bedeutet: „Recht ist vor allem Organisation 10 ."
9 10
Grundlegung, S. 37. Gutachten für den 31. Dt. Juristentag (1912), Recht und Leben, 1967, S. 73.
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe 2. Die Entstehung des Rechts aus den Rechtstatsachen11
a) Die vier Rechtstatsachen Mit der Inhaltsbestimmung des Rechts als Verbandsordnung ist noch nichts über die Rechtsquelle ausgesagt. Diese muß, da das Recht als gedankliches Gebilde nur in den Vorstellungen der Menschen lebt, in der greifbaren, sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit liegen, die wie allen menschlichen Vorstellungen, so auch hier der Vorstellung vom Recht zugrunde liegt und aus deren Stoff die Rechtsvorstellung geformt wird. Die „Werkstätte des Rechts" ist also in bestimmten Tatsachen zu suchen, die sich beobachten lassen. Wenn nun das Recht als Organisation eine Regel ist, die dem einzelnen seine Stellung und seine Aufgaben innerhalb eines Verbandes zuweist, dann kann es sich nur um solche Tatsachen handeln, an die der menschliche Geist derartige Regeln anknüpft. Diese Tatsachen lassen sich nach Ehrlich auf vier Grundtypen beschränken, nämlich auf Übung, Herrschaft, Besitz und Willenserklärung. Die Übung ist die älteste und ursprünglichste der Rechtstatsachen; denn die urwüchsigen Verbände wurden zunächst ausschließlich durch Übung zusammengehalten und geordnet. Aber auch heute noch hängt die Ordnung innerhalb der Familie weitgehend von der jeweiligen Übung ab. Von geringerer Bedeutung ist die Übung dagegen bei anderen als urwüchsigen Verbänden. Deren Ordnung wird meist durch Vertrag, Satzung, Rechtssatz oder Verfassung bestimmt. Entstehen hier aber im Einzelfall Zweifel oder ist gar eine Lücke vorhanden, dann entscheidet die Übung. Dabei betont Ehrlich mit Nachdruck, daß es sich bei der Übung nicht etwa um Gewohnheitsrecht oder um die Übung von Rechtssätzen handelt, sondern um die bloße Faktizität des Sozialablaufs, die Regelhaftigkeit. Die ordnende und zuweisende Wirkung dieser bloßen Regelhaftigkeit ergibt sich erst aus Jellineks Satz von der normativen Kraft des Faktischen. Die Entstehung des Rechts aus der Übung geschieht also nach dem Grundsatz: „Wie es bisher gehalten wurde, soll in Zukunft die Norm abgeben 12 ." Inhaltlich spiegelt die Übung stets das jeweilige Ergebnis des Machtkampfes innerhalb des Verbandes wider, wobei neben vielen anderen Faktoren heute mehr und mehr die wirtschaftlichen Verhältnisse entscheiden. Die zweite der Rechtstatsachen, die Herrschaft, ist nach Ehrlich streng von der Über- und Unterordnung zu trennen, wie sie durch jede Verbandsverfassung notwendig bewirkt wird. Während die organisatorische Über- und Unterordnung den Verband als Einheit bestehen läßt, teilen die Herrschaftsund Unterwerfungsverhältnisse ihn in Herrschende und Unterworfene, 11 12
Vgl. zum folgenden Grundlegung, Kapitel V. Grundlegung, S. 69.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
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wobei beide Gruppen eigene Verbände oder Unterverbände bilden. Da Herrschaft nur die Folge der Schutzlosigkeit und Hilfsbedürftigkeit des Beherrschten ist, tritt sie nur ein, weil der Beherrschte keinen Rechtsschutz genießt, und das hat wiederum seinen Grund darin, daß er keinem Verband angehört, der ihn beschützen könnte, oder daß sein Verband zu schwach ist. Das wird deutlich bei den Unterwerfungsverhältnissen rein sozialen Ursprungs wie Sklaverei und Hörigkeit, gilt aber auch für Herrschaftsverhältnisse, die sich aus dem Familienverband ergeben, wie die Herrschaft über Frauen und Kinder; denn innerhalb eines Verbandes bildeten ursprünglich beide Geschlechter sowie die einzelnen Altersklassen Sonderverbände. Diese wirken in Spuren bis in die Gegenwart nach. Da Herrschaft nur interessant ist, wenn sie für den Herrschenden persönliche, meist wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt, ist die Unterwerfung als bloße Tatsache an die wirtschaftliche Ertragsfähigkeit der Arbeit des Unterworfenen geknüpft. Zu einem rechtlich geregelten Verhältnis wird diese Tatsache erst dann, wenn jene Arbeit für die wirtschaftliche Ordnung der Gesamtgesellschaft von maßgebender Bedeutung wird. Der Umfang der Rechtsfähigkeit des einzelnen hängt also mit seiner Stellung in der wirtschaftlichen Gesamtverfassung zusammen 13 . Der von Ehrlich als dritte Rechtstatsache angeführte Besitz ist ebenfalls ein Herrschaftsverhältnis, nämlich Sachherrschaft, d. h. faktische Verfügungsmöglichkeit über wirtschaftlich wertvolle Güter. Da die Ausgestaltung der Besitzverhältnisse für den Ablauf des wirtschaftlichen Verwertungsprozesses entscheidend ist, muß sich die tatsächliche Besitzverteilung zu einer rechtlichen Besitzordnung verfestigen; denn das Wirtschaftsleben setzt nicht nur den rein wirtschaftlichen Besitz, sondern auch den Schutz des Besitzers voraus. Erst dann, wenn der Besitz rechtlich anerkannt wird und der Besitzer damit rechnen kann, daß ihm der Ertrag seiner Arbeit erhalten bleibt, ist ein planmäßiges und vorausschauendes Wirtschaften möglich. Mit der Besitzordnung, die nur ein Spiegelbild der Wirtschaftsordnung ist, stimmt weitgehend auch die Eigentumsordnung überein, da sie sich eng an die auf dem Besitz beruhende Wirtschaftsordnung anzupassen sucht. Infolgedessen sind Eigentum und Besitz bei rechtssoziologischer Betrachtung in der Regel identisch. Nur in den relativ seltenen Ausnahmefällen, in denen eine Abweichung vorliegt, wäre ein gesonderter Eigentumsbegriff sinnvoll. Konsequenterweise verwendet Ehrlich „Eigentum" daher auch nur zur Bezeichnung der Gesamtheit der Rechtsmittel, die dem Nichtbesitzer zustehen, um sich den Eigenbesitz der Sache zu verschaffen 14 .
13 Das wird von Ehrlich in seiner Studie über Die Rechtsfähigkeit, 1909, näher belegt. 14 Grundlegung, S. 83.
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
Die vierte und letzte Rechtstatsache ist nach Ehrlich die rechtliche Willenserklärung, unter deren verschiedenen Arten der Vertrag und die letztwillige Verfügung von überragender Bedeutung sind. A n den Entwicklungsstufen des Vertrages vom Barvertrag über den Schuldvertrag und Haftungsvertrag bis zum Kreditvertrag läßt sich deutlich ablesen, daß die reine Austauschvereinbarung noch keine rechtserzeugende Kraft hat. Sie bewirkt nämlich lediglich den Besitzerwerb an den Vertragsgegenständen, so daß die Rechtsfolgen nicht Folgen des Vertrages sind, sondern Folgen des Besitzüberganges. Erst sobald zum bloßen Besitzübergang noch weitere Zusagen kommen, begründet der Vertrag neben dem Besitzaustausch auch eine Schuld, d. h. ein Sollen des Schuldners, und tritt damit als selbständige Tatsache des Rechts auf. Gegenüber diesem Sollen des Schuldners ist die Frage der Haftung zunächst unabhängig. Sie orientiert sich, wie die alten Haftungsverträge (Vergeiselung, Verpfändung) zeigen, ursprünglich an der Besitzfrage. Erst später wird dann der Umfang der Haftung durch die Schuld, also allein durch den Vertragsinhalt bestimmt, so daß der späteste Vertragstyp, der Kreditvertrag, als reiner Konsensualvertrag von der Tatsache des Besitzes völlig losgelöst ist. Der Vertrag als das in der heutigen Verkehrswirtschaft entscheidende Mittel zur Gestaltung eines geordneten Wirtschaftsablaufs ist also, soweit er über die bloße Besitzübertragung hinausgeht, als selbständige Quelle rechtlichen Sollens und damit als Rechtstatsache anzusehen. Alles, wofür ein gesellschaftliches Bedürfnis besteht, kann durch vertragliche Vereinbarung zum rechtlichen Sollen werden, und alles, was im Einzelfall Vertragsinhalt wird, ist durch den gesellschaftlichen Zusammenhang bestimmt 1 5 . Auch das Vertragsrecht ist also nur die rechtliche Form der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung. Von der zweiten praktisch wichtigen Willenserklärung, der letztwilligen Verfügung, gilt ähnliches. Auch sie ist erst verhältnismäßig spät zur selbständigen Rechtstatsache geworden, da das Erbrecht sich zunächst ganz an die Besitzordnung anschloß und allenfalls den Vertrag in Form der Adoption, der Schenkung auf den Todesfall oder des Treuhandgeschäfts zu Hilfe nahm. Nachdem sich aber das Testament als selbständiges Institut durchgesetzt hat, dient es oft dazu, in Abänderung anderweitiger Regeln die wirtschaftlichen Werte des Nachlasses zu erhalten. Ehrlich übersieht hier nicht etwa, daß das Testament genau so oft anderen als wirtschaftlichen Zwecken dient. Er weist im Gegenteil nachdrücklich darauf hin, daß er bei der Herausarbeitung der wirtschaftlichen Einflüsse auf die inhaltliche Gestaltung der Rechtstatsachen keinesfalls die zahlreichen anderen, außerwirtschaftlichen Einflüsse in ihrer Bedeutung verringern wolle. „Aber", so fährt er fort, „es darf dabei nicht vergessen werden, daß die Wirtschaft die Voraussetzung jeder 15
Ebd. S. 34 ff.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
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nicht wirtschaftlichen Betätigung bildet. Der Staat kann nur so weit erhalten, die Kirche bedient, Unterricht gewährt, Kunst und Wissenschaft gepflegt werden, und nur soweit sind für Geselligkeit und Unterhaltung Muße und Mittel vorhanden, als die Volkswirtschaft einen Ertrag abwirft, der die Lebensnotdurft der Arbeitenden übersteigt. Deswegen ist das Verständnis der Wirtschaftsordnung die Grundlage für das Verständnis der ganzen sonstigen gesellschaftlichen, insbesondere auch der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft 16 ."
b) Rechtsnorm und Rechtssatz W i l l man der These Ehrlichs folgend untersuchen, inwieweit die Rechtsentwicklung durch die Gesellschaft bestimmt wird, dann muß man mit dem Studium der Tatsachen des Rechts beginnen. Denn diese Lebensverhältnisse sind es, die als Rechtsverhältnisse und damit als Quelle gesellschaftlicher Ordnung anzusehen sind. Allerdings ist dabei zu beachten, daß es sich bei den Rechtsnormen, die unmittelbar aus den Rechtstatsachen fließen, nicht um jene Rechtssätze handelt, mit denen sich die Rechtswissenschaft ausschließlich beschäftigt hat. Wenn frühere Bemühungen, das Recht ursächlich durch die Gesellschaft zu bestimmen und die Wechselwirkung von Recht und Gesellschaft aufzuhellen, bisher im wesentlichen erfolglos gewesen sind, so nach Ehrlich nur deshalb, weil man versucht hat, den Rechtssatz als solchen aus der Gesellschaft zu erklären. Der Rechtssatz ist aber eine typische Erscheinungsform des später zu behandelnden Juristenrechts und der Gesetzgebung und entsteht nirgends unmittelbar aus der Gesellschaft selbst. Rechtssatz ist nämlich nach der Definition, die Ehrlich in der „Grundlegung" gibt, „die zufällige allgemeinverbindliche Fassung einer Rechtsvorschrift in einem Gesetze oder einem Rechtsbuch" 17 . Diese Definition hat er später noch erweitert, indem er auf die Kritik Kelsens einräumte: „Meine Begriffsbestimmung des Rechtssatzes ist nur insofern ungenau, als es auch eine mündliche Überlieferung von Rechtssätzen gibt, so vor allem in den Rechtssprichwörtern, dann in der gerichtlichen Rechtsübung 18 ." Demgegenüber versteht Ehrlich unter Rechtsnorm jeden „ins Handeln umgesetzten Rechtsbefehl, wie er in einem bestimmten, vielleicht ganz kleinen Verbände herrscht, auch ohne jede wörtliche Fassung" 19 . Unmittelbar aus den Rechtstatsachen entstehen und unmittelbar im Verbände wirksam sind also nur die 16
Ebd. S. 92. Ebd. S. 29. 18 Entgegnung (auf die Kritik Kelsens), in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 41 (1916), S. 844, 845. 19 Grundlegung, S. 30. 17
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
Rechtsnormen. Rechtssätze sind nur dann Rechtsnormen, wenn sie sich innerhalb der Verbände durchgesetzt haben, d. h. wenn sie in den Tatsachen des Rechts verankert sind und deshalb als Verbandsordnung angesehen werden. Zu jeder Zeit und in jeder Gesellschaft gibt es aber mehr Rechtsnormen als Rechtssätze, „weil es immer weit mehr Recht für einzelne als für alle gleichartigen Verhältnisse gibt, und auch mehr Recht, als den zeitgenössischen Juristen, die es in Worte zu fassen suchen, zum Bewußtsein gekommen ist 1120 . Das Nebeneinander von Rechtssatz und Rechtsnorm findet seinen Ausdruck in der für alle Zeiten belegbaren Beobachtung, daß kein Gesetzbuch ein richtiges Bild von der wirklichen, gelebten Ordnung innerhalb eines bestimmten Verbandes gibt. Trotz desselben Gesetzestextes gibt es kaum zwei gleiche Familien, Gemeinden, Vereine, Fabriken, Verträge u. dgl. In jedem Verband herrscht eine andere Ordnung. Jeder Verband bekommt erst sein spezifisches Gesicht durch die Ordnung, die er sich selber gibt. Natürlich darf über der unübersehbaren Mannigfaltigkeit nicht die Gleichförmigkeit übersehen werden. Diese ist aber nicht primär durch von außen an die Verbände herangetragene Rechtssätze bewirkt, sondern durch die Gleichartigkeit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen, die zu gleichförmigen Rechtstatsachen und damit notwendigerweise zu gleichen Rechtsgestaltungen führen. Außerdem gehört ein bestimmter Normenschatz der Gesamtgesellschaft zum kulturellen Erbe, das von einer Generation auf die andere übertragen wird, so daß jeder neue Verband sich im wesentlichen an die hergebrachten Ordnungsformen anschließt. Dabei findet jedoch ein ständiges Anpassen an neue Bedürfnisse und Verhältnisse statt. Alte Rechtsformen werden ausgeschieden, neue werden adaptiert. Gewinnt eine zunächst vereinzelt aufgetretene Rechtstatsache über ihren Verband hinaus allgemeine Verbreitung und wird zu einer wichtigen und dauernden Erscheinung, die von der Gesamtgesellschaft als geeignetes Mittel zur Befriedigung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bedürfnisse anerkannt wird, dann wird sie zu einer Rechtseinrichtung, d. h. zu einer Organisationsform der Gesamtgesellschaft und wird dann als kulturelles Erbe weiter tradiert, bis auch sie wiederum neueren, von einzelnen Verbänden entwickelten und sich verbreitenden Gestaltungsformen zum Opfer fällt.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
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3. Die Abgrenzung des Rechts von den anderen gesellschaftlichen Ordnungssystemen 21
a) Die mangelnde Bedeutung des spezifischen Rechtszwanges Das Recht, verstanden als innere Ordnung der Verbände, ist aber nicht die einzige Organisationsform der Gesellschaft. Versteht man nämlich mit Ehrlich 22 unter einem gesellschaftlichen Verband eine Mehrheit von Menschen, die im Verhältnis zueinander gewisse Regeln als für ihr Handeln bestimmend anerkennen und wenigstens im allgemeinen tatsächlich danach handeln, dann wird deutlich, daß das Recht nur eine von vielen verbandsintegrierenden Ordnungen ist. Denn neben den Regeln des Rechts sind für das Handeln der Menschen noch andere Regeln maßgebend: nämlich die „der Sittlichkeit, der Religion, der Sitte, der Ehre, des Anstandes, des Taktes, des guten Tones, der Mode. Dazu kommen wohl noch einige von geringerer Bedeutung, etwa die Spielregeln, die Regeln der Reihe (beim Schalter oder im Wartezimmer eines beschäftigten Arztes)" 23 . Alle diese Regeln sind ihrer Form und ihrem Inhalt nach Normen, d. h. an die Verbandsmitglieder gerichtete abstrakte Befehle und Verbote, die das Zusammenleben in dem Verband betreffen. Regeln des Handelns, nicht aber Normen sind dagegen z. B. die Sprachregeln, die Regeln des Geschmackes oder der Hygiene, weil sie sich nicht auf das Zusammenleben der Menschen beziehen. Genau besehen, besteht also die Verbandsorganisation aus Handlungsnormen, und das Recht ist nur ein Teil dieser Handlungsnormen. Es gibt sogar Verbände, die überhaupt nicht durch Rechtsnormen geordnet werden, z. B. ein Freundeskreis. Und auch innerhalb von Rechtsverbänden spielen die außerrechtlichen Normen eine bedeutende Rolle. Sei es, daß die Rechtsnormen, wie bei der Heranziehung von Treu und Glauben, von Handelsbrauch oder Verkehrsanschauung, ausdrücklich auf sie verweisen und sie damit zum Bestandteil der Rechtsordnung machen, sei es, daß sie als zusätzliche Integrationsfaktoren wirksam werden. Dabei zeigt sich, daß sie für die Verbandswirklichkeit meist entscheidender sind als die Rechtsnormen. Denn berufen sich die einzelnen bei allem, was sie tun, auf „ihr" Recht und tun sie nichts, was ihnen das Recht nicht ausdrücklich vorschreibt, dann ist die Verbandseinheit bereits in Auflösung begriffen. „In der Tat, das Leben müßte zur Hölle werden, wäre es durch nichts geregelt, als durch das Recht 24 ."
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Vgl. zum folgenden Grundlegung, Kapitel I, III und IV. Grundlegung, S. 31. Ebd. Ebd. S. 46 f.
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
Es gehört daher zu Ehrlichs Hauptthesen, daß rechtliche und außerrechtliche Normen artverwandt sind, weil alle Normen Regeln des menschlichen Handelns sind und dadurch Organisationsfunktion haben. Infolgedessen wendet er sich mit aller Schärfe gegen die hergebrachte und heute herrschende Unterscheidung, die Rechtsnorm sei im Gegensatz zu anderen Normen erzwingbar, wobei die Erzwingbarkeit im spezifischen Rechtszwang, nämlich im Straf- und Vollstreckungszwang gesehen wird. Dieser Rechtszwang, so meint Ehrlich, spielt keinesfalls die Rolle, die man ihm weithin zugesteht. In weiten Teilen der Rechtsordnung ist er überhaupt nicht vorhanden, so insbesondere im Völkerrecht und Kirchenrecht, in Teilen des Staatsrechts, aber auch im Privatrecht. Eine ganze Reihe gesetzlicher Vorschriften über die Pflichten von Familienmitgliedern oder Gesellschaftern gegeneinander oder über die Pflichten der Organe juristischer Personen sind rechtlich nicht erzwingbar, weil niemand ein subjektives Recht und daher niemand ein Rechtsmittel hat, sie durchzusetzen. Selbst wenn aber ein Rechtsmittel vorhanden ist, ist es oft nicht wirksam ausgestaltet. Das gilt insbesondere für alle zeitlich eng begrenzten, rein persönlichen Ansprüchen aus Dauerrechtsverhältnissen: „Wird ein Mitglied den Vereinsvorstand klagen, weil er ihm das Lesezimmer nicht zur Verfügung gestellt, der Dienstgeber das Stubenmädchen, weil es die Wohnung nicht aufgeräumt hat? Was könnte ihm eine solche Klage nützen? Der Schadensersatzanspruch gewährt auch keinen Schutz; so viel auch einem an seinem Rechte gelegen sein mag, nachträglich wird er doch keinen Schaden nachweisen können, der der Rede wert wäre. Erst wenn der Verpflichtete durch ein derartiges Vorgehen das Verhältnis zu einem unhaltbaren gemacht hat, wird dem Berechtigten in wirksamer Weise das Rechtsmittel gewährt, die Auflösung und Schadensersatz zu verlangen; ein Rechtszwang gegen den anderen Teil, seine Pflichten zu erfüllen, liegt darin umsoweniger, als er ja sehr häufig gerade die Lösung des Verhältnisses gegen Schadenersatz herbeizuführen durch sein rechtsund vertragswidriges Verhalten beabsichtigt. Die Ordnung in der menschlichen Gesellschaft beruht darauf, daß Rechtspflichten im allgemeinen erfüllt werden, nicht darauf, daß sie klagbar sind 25 ." Begreift man nämlich das Recht als Handlungsnorm für die Verbandsmitglieder, dann wird deutlich, welch relativ geringe Rolle der Straf- und Vollstreckungszwang insgesamt im Rechtsleben spielt. Denn Rechtszwang setzt richterliche oder behördliche Tätigkeit voraus, und nur ein verschwindend geringer Bruchteil aller Rechtsverhältnisse kommt vor Behörden oder Gerichte. Der naheliegende Einwand, daß sich die Menschen nur deshalb rechtmäßig verhalten, weil sie wissen, daß sie dazu durch Gerichte oder Behörden gezwungen werden können, wird nach Ehrlich durch die psychologische Beobachtung widerlegt, daß die einzelnen an einen Vollstreckungszwang bei 25
Ebd. S. 17.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
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ihrem Handeln meist gar nicht denken. In der Regel handeln sie triebhaft und unreflektiert: „Bei der großen Masse der Menschen, die sich ihr ganzes Leben lang widerspruchslos in das gewaltige Räderwerk einfügen, handelt es sich nicht um das Ergebnis eigener bewußter Gedankenarbeit, sondern um ein unbewußtes sich Einleben in die Gefühle und Gedanken der Umgebung, die sie von der Wiege bis zum Grabe begleiten. Die wichtigsten Normen wirken nur durch Suggestion. Sie treten an den Menschen als Befehle und Verbote heran, sie ergehen an ihn ohne Begründung, und er folgt ihnen ohne Überlegung. Sie haben den Menschen nicht bezwungen, sondern erzogen. Sie werden ihm schon als Kind eingeprägt: ein ewiges, das tut man nicht, das schickt sich nicht, das hat Gott so befohlen, folgt ihm durch das ganze Leben. Und er beugt sich ihnen um so williger, als ihm die Erfahrung die Vorteile des Befolgens und die Nachteile des Zuwiderhandelns recht nachdrücklich vor die Augen rückt. Die Vorteile und Nachteile sind nicht nur gesellschaftliche, sondern auch individuelle, denn wer einem Befehle folgt, erspart sich die schwere Arbeit des eigenen Denkens und die noch schwerere des eigenen Entschlusses. Freiheit und Unabhängigkeit sind bloß ein Ideal des Dichters, Künstlers und Denkers; der Durchschnittsmensch ist ein Philister, der dafür nicht viel Verständnis aufbringt, er liebt das Gewohnte, Triebmäßige, und haßt nichts so sehr, als geistige Anstrengung 26 ." Die auf diese Weise entstehenden Verhaltensmuster werden gewohnheitsmäßig vom weit überwiegenden Teil der Bevölkerung selbst dann befolgt, wenn z. B. infolge Krieges oder innerer Unruhen der staatliche Rechtsapparat lahmgelegt ist. Auch die Erziehung des einzelnen zu dem von seiner Umgebung geübten Verhalten geschieht nicht etwa allein mit Hilfe der Straf-und Zwangsvollstreckung. Hier stehen wie auch beim rational überprüften Handeln weniger die rechtlichen als vielmehr allgemein gesellschaftliche Nachteile im Vordergrund: man möchte nicht mit seinen Angehörigen in Unfrieden leben, seine Stellung oder seine Kundschaft verlieren, in schlechten Ruf geraten, von seinen Kreisen „geschnitten" werden. Oft tut man aus diesem Grunde sogar mehr, als rechtlich von einem verlangt werden könnte. Der „Ehrenmann" bezahlt seine Spielschulden, der Industriekapitän hält sich an gentleman agreements, der Kaufmann handelt aus „Kulanz", der Nachbar „um des lieben Frieden willen". Entscheidend ist in diesen Fällen allein der soziale Druck. Er beruht darauf, daß der einzelne sowohl nach der materiellen als auch nach der geistig-seelischen Seite hin auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Verbänden existentiell angewiesen ist. Jeder gehört irgendeinem, meist aber einer Vielzahl von Verbänden an, in denen er auf soziale Anerkennung bedacht ist. In diesen Verbänden findet ein ständiger Austausch von Geben und Nehmen statt. Das, was die Verbände vom einzelnen als Gegenleistung für die Vorteile verlangen, die sich 2
Ebd. S. 3.
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
aus der Zugehörigkeit zu ihnen ergeben, ist in den gesellschaftlichen Normen niedergelegt. Zwang, verstanden als sozialer Druck, ist also keine Eigentümlichkeit der Rechtsnorm. Auch die Normen der Sitte, der Sittlichkeit, der Religion, des Taktes, des Anstandes, des guten Tones und der Mode werden, zumindest was das äußere Befolgen ihrer Gebote anlangt, durch Zwang der Verbände durchgesetzt; denn wer sich ihnen beharrlich widersetzt, wird aus den Kreisen, für die sie gelten, ausgeschlossen. Erst dann, wenn der soziale Druck innerhalb der Verbände wirkungslos bleibt — sei es, daß die Verbände in der Auflösung begriffen und daher zu schwach sind, sei es, daß der Betroffene bereits aus ihnen ausgeschlossen ist —, wird der Straf-und Vollstreckungszwang zu Hilfe genommen: „Sieht man nicht auf vereinzelte Fälle, sondern auf die große Masse des Tagewerkes, das die Strafgerichte verrichten, so ist klar, daß das Strafrecht sich fast ausschließlich gegen die richtet, die ihre Abkunft, wirtschaftliche Not, vernachlässigte Erziehung oder sittliche Verwahrlosung aus den menschlichen Gemeinschaften ausgeschlossen haben. Nur bei diesen Ausgestoßenen daher tritt der letzte, weiteste Verband, der auch sie noch umfaßt, der Staat mit seiner Strafgewalt, ein. Hier schützt der Staat als Organ der Gesellschaft die Gesellschaft vor denen, die außerhalb der Gesellschaft stehen. Mit welchem Erfolge, das zeigt eine tausendjährige Erfahrung. Immer mehr bricht sich die Überzeugung Bahn, daß das einzige ernste Mittel gegen das Verbrechen darin besteht, den Verbrecher nach Möglichkeit wieder in die menschliche Gemeinschaft aufzunehmen und ihn so dem gesellschaftlichen Drucke aufs neue zu unterwerfen 27 ." Ähnlich verhält es sich mit der Zwangsvollstreckung. Im wesentlichen beschränkt auf einen Bruchteil der Rechtsansprüche, nämlich auf Geldforderungen, tritt sie in ihrer Wirksamkeit gegenüber anderen gesellschaftlichen Zwangsmitteln zurück. „Ebenso wie die Strafe ist daher auch die Zwangsvollstreckung nur für die Verkommenen und Ausgestoßenen der Gesellschaft da: gegen den leichtsinnigen Schuldenmacher, den Betrüger, den Bankrotteur, endlich gegen den, der durch Unglück zahlungsunfähig geworden ist. So sehr diese auch das Geschäftsleben belasten mögen, so fallen sie doch schließlich viel zu wenig ins Gewicht, als daß man sagen könnte, der Wert der Rechtsordnung beruhe auf den Mitteln, die sie noch gegen solche Elemente gewährt 28 ." Daraus folgt für Ehrlich, daß der staatliche Rechtszwang nicht geeignet ist, die Rechtsnorm von den anderen gesellschaftlichen Normen abzugrenzen.
27 28
Ebd. S. 54 f. Ebd. S. 57.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
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b) Die mangelnde Bedeutung der Unterscheidung zwischen heteronomen und autonomen Normen Desgleichen hält Ehrlich es nicht für richtig, Recht und Sittlichkeit mit Hilfe des Gegensatzes heteronom-autonom in der Weise zu unterscheiden, daß man sagt, das Recht sei von außen auferlegt, also heteronom, die Sittlichkeit dagegen aus dem Inneren geschöpft, also autonom. Für Ehrlich sind alle Normen, soweit sie zu Regeln des Handelns geworden sind, heteronom und autonom zugleich; heteronom deshalb, weil sie stets von den Gemeinschaften herrühren, denen der einzelne angehört, autonom deshalb, weil sie auf der Anerkennung der Verbandsmitglieder beruhen: „Eine Norm, sie mag eine Rechtsnorm oder ein Norm anderer A r t sein, muß in dem Sinne anerkannt sein, daß sich die Menschen tatsächlich nach ihr richten; ein Recht oder eine Sittlichkeit, um die sich niemand kümmert, gleicht einer Mode, die niemand trägt 29 ." Allerdings bedarf es nicht der Anerkennung durch jedes einzelne Verbandsmitglied. Es genügt die Anerkennung durch den Verband als ganzen durch regelmäßige äußere Befolgung. Der richtige Kern der alten Unterscheidung von heteronomen und autonomen Normen liegt aber nach Ehrlich in der zutreffenden Beobachtung, daß der Schwerpunkt außerrechtlicher Normen weit mehr als beim Recht im Inneren des Menschen zu finden ist. Das beruht nach seiner Ansicht darauf, daß außerrechtliche Normen in der Regel viel allgemeiner und unbestimmter gefaßt sind als die Rechtsnormen, die nur dann zu „Kautschukparagraphen" werden, wenn sie durch Begriffe wie Treu und Glauben auf außerrechtliche Normen verweisen. Gegenüber der meist sehr detaillierten Anweisung der Rechtsnormen muß daher bei den anderen Normen mit Hilfe der dort gegebenen, recht allgemein lautenden Richtschnur erst aus dem Gefühl heraus eine konkrete Verhaltensregel gefunden werden.
c) Die Theorie von den Gefühlstönen Der Grund für die unterschiedlich konkrete Fassung rechtlicher und außerrechtlicher Normen führt uns zu Ehrlichs eigener Auffassung. Ausgehend von seiner These, daß rechtliche und außerrechtliche Normen artverwandt sind, lehnt er es zunächst ab, sich überhaupt mit einer Abgrenzung zu befassen, und erwiderte auf die Angriffe, bei seinen Bemühungen um die Erforschung des lebenden Rechts handele es sich nur um die Erforschung von Verkehrssitte: „Ob es sich hier um Sitte oder Recht handelt, das zu entscheiden, überlasse ich denen, die für unfruchtbare Terminologie mehr Interesse als ich aufzubringen vermögen. Einiges dürfte in der Tat mehr in 29
Ebd. S. 134.
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
das Gebiet der Sitte zu verweisen sein 30 ." „Der Jurist weiß, daß sich eine Grenze zwischen beiden gar nicht ziehen läßt: Recht ist häufig Sitte von gestern, Sitte ist Recht von morgen 31 ." Später entwickelte Ehrlich jedoch eine eigene, sozialpsychologische Abgrenzung. Obwohl er diese nur als einen Versuch betrachtet wissen will, der noch weiterer intensiver Forschungen bedürfe 32 , ist sie, wie noch zu zeigen sein wird, nicht zu Unrecht als der eigentliche kritische Punkt seiner Rechtstheorie angesehen worden. Er schreibt: „Die Frage nach dem Gegensatz der Rechtsnorm und der außerrechtlichen Normen ist nicht eine Frage der Gesellschaftswissenschaft, sondern der gesellschaftlichen Psychologie. Die verschiedenen Arten von Normen lösen verschiedene Gefühlstöne aus, und wir antworten auf Übertretung verschiedener Normen nach ihrer Art mit verschiedenen Empfindungen. Man vergleiche das Gefühl der Empörung, das einem Rechtsbruch folgt, mit der Entrüstung gegenüber einer Verletzung des Sittengebotes, mit der Ärgernis aus Anlaß einer Unanständigkeit, mit der Mißbilligung der Taktlosigkeit, mit der Lächerlichkeit beim Verfehlen des guten Tones, und schließlich mit der kritischen Ablehnung, die die Modehelden denen angedeihen lassen, die sich nicht auf ihrer Höhe befinden. Der Rechtsnorm ist eigentümlich das Gefühl, für das schon die gemeinrechtlichen Juristen den so bezeichnenden Namen opinio necessitatis gefunden haben. Danach muß man die Rechtsnorm erkennen 33 ." Die Frage, wodurch denn die Verschiedenheit der Gefühlstöne bei den einzelnen Normenarten bewirkt wird, beantwortet Ehrlich mit der verschieden großen Wichtigkeit der Normen für das Sozialleben. Je nach der Situation, in der sich ein Verband zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort i m Verhältnis zu anderen Verbänden und zur Gesamtgesellschaft befindet, fällt einer bestimmten Norm, die auf Organisation dieses Verbandes gerichtet ist, eine mehr oder weniger wichtige Aufgabe zu, so daß eine Verletzung dieser Norm auf mehr oder weniger große Mißbilligung der Verbandsmitglieder stößt. Das ist der Grund, warum z. B. das Verbot der standeswidrigen Ehe im Laufe der Geschichte und in verschiedenen Gesellschaften eine Norm des Rechts, der Sittlichkeit, der Sitte, des Anstandes, des Taktes, des guten Tones, ja sogar der Mode sein konnte. Geht nun eine Norm von einer Normenart in die andere über oder finden wir sie mit demselben Wortlaut in verschiedenen Normenarten gleichzeitig, dann ist nach Ehrlich darauf zu achten, daß sie trotz desselben Wortlauts jeweils einen anderen Inhalt hat. „Der Satz: Ehre Vater und Mutter kann als 30
Das lebende Recht der Völker der Bukowina (1912), in Recht und Leben, 1967,
S. 48. 31 32 33
Die Erforschung des lebenden Rechts (1911), ebd., S. 20. Grundlegung, S. 131 f. Ebd. S. 132.
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Gebot des Rechts, der Sittlichkeit, der Religion, der Sitte, des Anstandes, des Taktes, des guten Tones und der Mode gelten. Aber als Rechtsnorm gebietet er bestimmte Ehrenbezeugungen den Eltern gegenüber, als Norm der Sittlichkeit im allgemeinen ein ehrendes Verhalten. Die Religion, wenn sie nicht bloß das Sittengebot wiederholt, schreibt noch religiöse Pflichten gegen die Eltern vor, zumal Gebete für Vater und Mutter. Die Sitte verlangt, daß man Vater und Mutter die Ehrung zollt, die üblich ist in guten Familien. Als Norm des Anstandes verbietet sie, durch unterlassene Zeichen der Ehrung das Ärgernis anderer zu erregen, als Norm des Taktes verpönt sie schon viel leichtere Verfehlungen, die bei den gerade Anwesenden eine unangenehme Empfindung auslösen. Der gute Ton bezieht sich nur auf das Verhalten gegen Vater und Mutter in Gesellschaft. Wäre ein ehrerbietiges Verhalten gegen Vater und Mutter in vornehmen Kreisen gerade modern, so würde ein Angehöriger dieser Kreise die Mode verletzen, wenn er sie außer acht ließe 34 ." Nach allem kommt Ehrlich zu folgendem Ergebnis: „Mit einer kurzen einfachen Formel, ,worin der Unterschied von Recht und Sittlichkeit bestehe', wie sie in der A r t der bisherigen Jurisprudenz lag, wird daher die soziologische Rechtswissenschaft nicht dienen können. Nur eine sehr eingehende Prüfung der psychischen und gesellschaftlichen Tatsachen, die ja vorläufig nicht einmal gesammelt worden sind, wird in diese schwierige Frage Klarheit bringen ... Die Rechtsnorm regelt wenigstens nach der Empfindung der Gruppe, von der sie ausgeht, eine Sache von großer Wichtigkeit, von grundlegender Bedeutung. Die einzelne durch den Rechtssatz bestimmte Handlung mag immerhin nicht sehr schwer in die Wagschale fallen, wie etwa bei den Vorschriften der Nahrungsmittel- oder Feuerpolizei oder bei den Tierseuchengesetzen, man denke aber stets daran, was deren Verletzung als Massenerscheinung bedeuten würde. Nur Gegenstände von minderer Wichtigkeit werden anderen gesellschaftlichen Normen überlassen. Daher gilt der Satz: Ehre Vater und Mutter, nur dort als Rechtssatz, wo die staatliche und gesellschaftliche Ordnung überwiegend auf der Familienordnung beruht. Eine Gemeinschaft, die Gott in unmittelbare Beziehung zu ihren Verhältnissen bringt, wird geneigt sein, religiöse Gebote zu Rechtsnormen zu erheben 35 ." Die Wichtigkeit für das Sozialleben ist es also auch, die beim Recht zu konkreten Anweisungen, bei den außerrechtlichen Ordnungen in der Regel nur zu allgemeinen, oft vagen Richtlinien führt, die der einzelne erst konkretisieren muß. Bildet sich dann aber eine konkrete Handelnsregel heraus, die allgemein anerkannt wird, und erlangt diese für die Ordnung der Gesellschaft grundsätzliche Bedeutung, dann entsteht aus der außerrechtlichen Norm eine Rechtsnorm. 34 35
Ebd. S. 133. Ebd. S. 134 f.
4 Rehbinder, 2. Aufl.
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
§ 4 Das Recht als Schöpfung der Juristen 1. Die Entscheidungsnorm1
a) Der Unterschied von Organisationsnorm und Entscheidungsnorm Das Recht ist also für Ehrlich in erster Linie eine Organisationsform der Gesellschaft, bestehend aus Regeln des Handelns. Daneben gibt es aber für ihn auch noch ein Recht, das das Verbandsleben nicht unmittelbar regelt und ordnet, das es aber vor Angriffen schützt. Dieses Recht schließt sich als eine Rechtsart zweiter Ordnung an die gesellschaftlichen Verbände an, hält sie aufrecht und festigt sie, gestaltet sie aber nicht 2 . Es ist ein bloßes Schutzrecht, das nur dann in Erscheinung tritt, wenn die Verbandsordnung gestört wird. Seine Funktion ist, das durch einen Rechtsbruch in Unordnung geratene Verbandsleben, in dem das rechtlich geordnete Lebensverhältnis zu einem Streitverhältnis geworden ist, wieder zu befrieden. Die Instanz, die es anwendet, um die Störungen der Verbandsordnung zu beseitigen, ist das Gericht. Unter Gericht versteht Ehrlch aber nicht nur das staatliche Gericht, sondern jede gesellschaftliche Einrichtung, die die Aufgabe hat, als Unbeteiligter durch seine Meinungsäußerung über den Streitgegenstand Frieden zu stiften. Gerichte in diesem Sinne sind also auch Ehren- und Disziplinargerichte, Schiedsgerichte, Vereinsgerichte usw. Die als Schutzordnung wirkende zweite Rechtsordnung enthält also diejenigen Normen, nach denen die Gerichte ihre Urteile fällen, die sog. Entscheidungsnormen. Zum Unterschied dieser Entscheidungsnormen von den Organisationsnormen bemerkt Ehrlich: „Die Entscheidungsnorm ist wie alle gesellschaftlichen Normen eine Regel des Handelns, aber doch nur für die Gerichte, sie ist, wenigstens in erster Linie, nicht eine Regel für die Menschen, die im Leben wirken, sondern für die Menschen, die über diese Menschen zu Gericht sitzen. Insoweit die Entscheidungsnorm eine Rechtsnorm ist, erscheint sie daher als Rechtsnorm besonderer Art, verschieden von den Rechtsnormen, die allgemeine Regeln des Handelns enthalten 3 ."
b) Die Beziehung der Entscheidungsnorm zu den Rechtstatsachen Im Gegensatz zu den Organisationsnormen entstehen die Entscheidungsnormen auch nicht unmittelbar aus der Gesellschaft. Sie sind vielmehr das 1 2 3
Vgl. zum folgenden Grundlegung, Kapitel VI. Ebd. S. 44. Ebd. S. 98.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
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Ergebnis der Rechtsschöpfung durch den Staat und durch die Juristen. Ihrem Inhalt nach lassen sie sich danach unterscheiden, in welcher Beziehung sie zu den Tatsachen des Rechts innerhalb eines Verbandes stehen. Es gibt Fälle, in denen die Entscheidungsnorm unmittelbar der Verbandsordnung entnommen werden kann. Diese Fälle sind aber selten. Meist kommt es nämlich nur deshalb zum Streit, weil die Verbandsordnung lückenhaft und unvollständig ist. Keine Ordnung kann alle Situationen, die in der Zukunft auftauchen können, vorhersehen. Kommt es zu einer unerwarteten Situation, dann entsteht die Notwendigkeit, neue Regeln des Verhaltens zu finden. So können wir einen Prozeß des ständigen Ausbaus der Verbandsordnung beobachten. Dieser wird im allgemeinen selbständig vom Verband vorgenommen. Manchmal sind aber die Schwierigkeiten, die durch das unerwartete Ereignis geschaffen werden, so groß, daß der Verband sich außerstande sieht, eine allgemein anerkannte neue Verhaltensregel zu finden. Das sind die Fälle, in denen die Parteien des Rechtsstreits ein Gericht um Entscheidung bitten. Die dann gefundene Entscheidungsnorm ergänzt also die Lücken der Verbandsordnung. Daneben gibt es aber auch Entscheidungsnormen, die von der Verbandsordnung weitgehend unabhängig sind. Sie bilden sogar den Hauptteil der Entscheidungsnormen. Wenn es nämlich zu einem Rechtsstreit kommt, dann ist der Verband meist so gestört, daß es keinen Sinn hat, eine der alten Lebensregeln heranzuziehen, die ihre verbandsordnende Kraft eingebüßt hat. Außerdem wird ein großer Teil der Rechtsstreite durch einen Zusammenstoß des Einflußgebietes mehrerer Verbände verursacht. Der Rechtsstreit ist dann Ausdruck des Machtkampfes dieser Verbände untereinander und die Entscheidungsnorm dementsprechend die Diagonale in dem Parallelogramm der divergierenden sozialen Kräfte. Das Wichtigste ist aber folgendes: „Auch der Rechtsstreit selbst hat seine eigenen Bedürfnisse. Gewisse Fragen tauchen immer erst im Streite auf: wie sie zu lösen sind, darüber wird die innere Ordnung des Verbandes nichts bestimmen, denn sie ist keine Kriegs-, sondern eine Friedensordnung 4 ." Erst im Streit und nicht im normalen Verbandsleben ist zu entscheiden, wie hoch eine Buße für begangenes Unrecht sein soll. Hat der zur Herausgabe verpflichtete Grundstücksbesitzer ein Recht an den angebauten Früchten? Was soll geschehen, wenn die geschuldete Sache anderer A r t ist, als sich die Vertragspartner vorgestellt haben, oder wenn sie vor der Leistung untergeht? „Auf Fragen dieser A r t kann der Entscheidende nur schöpferisch eine Antwort finden, angeregt durch die Gestalt, die die Lebensverhältnisse nicht in friedlicher Entwicklung, sondern im Prozeß angenommen haben. In diese Gruppe gehört das ganze Schadensersatzrecht, das Recht des Ersatzes der ungerechtfertigten 4
4'
Ebd. S. 101.
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
Bereicherung, das Anfechtungsrecht (actio Pauliana), die materiellrechtlichen Bestimmungen über den Rechtsschutz, die Grundsätze der Behauptungs- und Beweispflicht, der Rechtskraft des Urteils. Hier überall wird nicht eine lebende Ordnung, sondern der Rechtsstreit über eine tote vorausgesetzt5."
2. Die Entwicklung der Entscheidungsnorm zum Rechtssatz6
a) Das Gesetz der Stetigkeit der Entscheidungsnorm Eine weitere Differenzierung der Entscheidungsnormen liegt für Ehrlich im Grade ihrer Abstraktheit. Die Abstraktheit von Entscheidungsnormen beruht auf dem Bedürfnis der Rechtsprechung nach Verallgemeinerung und Vereinheitlichung. Unter den Verbänden derselben sozialen Funktion, wie etwa den zahllosen Familien, ist nämlich kein Verband genau so geordnet wie der andere. Wollte die Rechtsprechung auf alle diese Verschiedenheiten eingehen, könnte sie nicht sinnvoll arbeiten. Sie muß daher aus praktischtechnischen Gründen die Buntheit des Soziallebens auf möglichst wenige und einfache Formeln zurückführen. Ist also in bestimmten Arten von Verbänden überwiegend eine bestimmte Regelung anzutreffen, dann wird diese Regelung auch dann der Entscheidung zugrunde gelegt, wenn sie in einem Einzelfall einmal nicht nachweisbar ist. Das Allgemeine wird auf diese Weise zur Regel, die besondere Gestaltung zur Ausnahme, deren Existenz erst nachgewiesen werden muß. Bald geht man aber über eine bloße Verallgemeinerung hinaus und verlangt, daß neben der Existenz auch noch die Berechtigung einer Ausnahmeregelung nachgewiesen wird. Bestehen nicht ganz besonders beachtliche Gründe für die Abweichung, dann lehnt man die Berechtigung einer nachgewiesenen, aber der allgemeinen Norm widersprechenden Ordnung ab und erreicht auf diesem Wege eine Vereinheitlichung. Verallgemeinerung und Vereinheitlichung führen dazu, daß die Entscheidungsnorm nicht nur auf einen Einzelfall, sondern auch auf andere, ähnliche Fälle anwendbar wird. Dadurch erlangt sie zeitliche Dauer. Ehrlich nennt dies das Gesetz der Stetigkeit der Entscheidungsnorm 7. Als auslösendes Moment dieser Stetigkeit nennt er zunächst die sozialpsychologische Beobachtung, daß eine ungleichartige Entscheidung in gleichen oder gleichartigen Fällen als Willkür oder Laune, nicht aber als Recht empfunden würde. Das hängt wiederum mit dem sozialen Bedürfnis nach Regelhaftigkeit zusammen. Denn nur eine Regelhaftigkeit bietet dem Menschen die Möglich5 6 7
Ebd. S. 102. Vgl. zum folgenden Grundlegung, Kapitel VIII und XV. Ebd. S. 106.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
53
keit, sein soziales Verhalten zu orientieren. Weiter hebt Ehrlich den Umstand hervor, daß die geistige Arbeit gespart wird, die mit dem Finden neuer Entscheidungsnormen verbunden ist, wenn man seinem Urteilsspruch bereits früher gefundene Entscheidungsnormen zugrunde legt. Das Gesetz der Stetigkeit der Entscheidungsnormen bewirkt, daß die an sich schon durch Verallgemeinerung und Vereinheitlichung entstandenen Entscheidungsnormen mit der Zeit noch mehr ihre auf den Einzelfall zugeschnittene und damit konkrete Form abstreifen und allgemein anwendbar auf gleichartige Fälle werden. Sind sie „auf das in ihnen enthaltene Grundsätzliche zurückgeführt, in Worte gefaßt, mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit autoritativ verkündet, so werden sie zu Rechtssätzen"8.
b) Die Rechtschöpfungstätigkeit
der Juristen
Entscheidungsnormen entstehen, anders als die allgemeinen Handlungsnormen, nicht selbsttätig aus den Rechtsverhältnissen, den Tatsachen des Rechts innerhalb der Verbände; ihr Auffinden und ihre Fortbildung zum Rechtssatz ist vielmehr das Ergebnis der Tätigkeit der Juristen. Worin besteht aber nun diese Tätigkeit der Juristen? „Im Sinne des heutigen juristischen Sprachgebrauchs könnte man sagen: jede Entwicklung der Jurisprudenz besteht in der Umwandlung einer Tatfrage in eine Rechtsfrage. Nur versteht man heute unter Tatfrage zwei Dinge, die einigermaßen verschieden sind. Einerseits ist es die innere Ordnung der Verhältnisse durch Übung, Satzung, Vertrag, Erbe, letzten Willen; andererseits ist Tatfrage die Verletzung dieser inneren Ordnung, die zum Rechtsstreit oder Strafverfahren Anlaß gibt. Aber die Tatfrage im ersten Sinne ist ein Bestandteil der Tatfrage im zweiten Sinne... Die Tatfrage wird zur Rechtsfrage dadurch, daß sie dem juristischen Prozeß der Verallgemeinerung, Vereinheitlichung und freien Normenfindung unterworfen wird. So lange das nicht geschehen ist, gibt es keinen Gegensatz zwischen Tat- und Rechtsfragen. Der Jurist einer grauen Vergangenheit hatte mit lauter Tatfragen zu tun, da noch keine juristisch gefaßten Entscheidungsnormen vorhanden waren. Das Recht, das er zur Entscheidung der Fälle, die ihm vorkamen, brauchte, mußten ihm Herkommen, Zeugen und Urkunden liefern. Das waren lauter Tatfragen. Erst die Grundsätze, die sich aus den Entscheidungen über Tatfragen, erkannt und verallgemeinert, ergaben, waren die ersten Rechtssätze. Seither hat jeder Tag zu den vorhandenen neue hinzugefügt. So ist es auch in der Gegenwart 9." Allerdings ist es nicht korrekt, wenn man heute von Tatfragen spricht und sagt, die Jurisprudenz habe Tatbestände feststehenden Rechtsbegriffen un8 9
Ebd. S. 140 f. Ebd. S. 281.
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
terzuordnen. In Wahrheit beurteilt man die innere Ordnung der menschlichen Verhältnisse. Diese innere Ordnung aber „gehört nicht der Welt der Tatsachen an, wie etwa eine Sonnenfinsternis oder die chemische Zusammensetzung des Wassers, sondern ist selbst ein Stück des Rechts. Nicht Tatbestände werden beurteilt, sondern Rechtsverhältnisse. Die Jurisprudenz bildet nur Rechtssätze auf Grund der Rechtsverhältnisse" 10 . Das ist eben der Unterschied zwischen Tatsachen und den Tatsachen des Rechts. Die eben beschriebene Rechtschöpfung durch die Juristen wird von Ehrlich in drei Elemente zerlegt, nämlich in das anwaltliche, das rechtsgeschäftliche und das richterliche Element. „Die Aufgabe des Anwalts ist, das Gericht zu überzeugen, daß die Gesellschaft für das von ihm vertretene Interesse einen Schutz bereit hat: das ist die Kunst der Klagebegründung; ferner dem Gericht zu zeigen, daß ein schutzwürdiges Interesse vorliegt: das ist die Kunst der Beweisführung. Hat der Anwalt das Gericht auf seine Seite gebracht, dann hat er für ein Interesse Schutz erlangt, der ihm bisher versagt war, oder er hat dafür den Schutz gegen einen Angriff erreicht, dem es bisher preisgegeben war,· das ist zweifellos ein Fortschritt des Rechts, den er durch seine eigene Tat veranlaßt hat 11 ." Geht es den Anwälten um eine erfinderische Interessenvertretung, so geht es der rechtsgeschäftlichen oder Kautelarjurisprudenz um die Gestaltung von Rechtsverhältnissen. Zwar hat auch der Kautelarjurist die juristischen Mittel zu finden, durch die die Beteiligten ihre Zwecke rechtswirksam erreichen können. Aber die Urkunde, die er verfaßt, wird ja nicht im Hinblick auf einen Prozeß formuliert. Sie soll im Gegenteil dem zu begründenden Rechtsverhältnis durch eindeutige Festlegung der gegenseitigen Rechte und Pflichten zu einem friedlichen und geordneten Ablauf verhelfen. Soweit es dann um die zwangsweise Durchsetzung der Rechte und Pflichten geht, wird die Erfindung außergerichtlicher Sicherungen im Vordergrund stehen. Daneben kommt es selbstverständlich auch darauf an, daß die urkundlichen Gestaltungen im Prozeß anerkannt werden, wobei nicht allein auf die Klagbarkeit, sondern besonders auf die Schnelligkeit und Billigkeit des Prozesses Gewicht gelegt werden muß. In dieser Hinsicht ist dann die Arbeit des Rechtsanwalts und des Kautelarjuristen die gleiche. Beide müssen die ihnen anvertrauten Interessen richtig erkennen und für das gerichtliche Verfahren entsprechend präparieren. Beide lösen bei der Rechtsfindung und Rechtsfortbildung die technischen Vorfragen, die sich stets auch der Richter stellen muß, nämlich die Frage, ob die Gesellschaft dem geltend gemachten Interesse überhaupt einen bestimmten Rechtsschutz bieten kann, und die Frage, ob ein solches Interesse 10 11
Ebd. S. 286. Ebd. S. 275 f.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
55
auch wirklich vorliegt. Der Erfolg ihrer Arbeit hängt dann davon ab, wie der Richter die dritte Frage beantwortet, die er sich stellen muß, bevor er eine entsprechende Entscheidungsnorm aufstellt, nämlich die Frage nach der Schutzwürdigkeit des Interesses. „Die Entscheidungsnorm des Richters ist also das Ergebnis eines ungemein zusammengesetzten Verfahrens. Das Lebensverhältnis, in dem die Interessen zusammengestoßen sind, mußte vom Anwalt oder Kautelarjuristen wahrgenommen, in eine für den Rechtsschutz geeignete Form gebracht, und dem Richter, soweit seine eigene Kenntnis nicht hinreicht, durch Zeugen, Sachverständige, Urkunden (in der Vergangenheit wohl auch durch Orakelsprüche, Gottesurteil, Los) bewiesen werden, daran schließt sich erst die richterliche Interessenabwägung an, die Prüfung der Schutzwürdigkeit, die zur Verallgemeinerung, Vereinheitlichung, Normenfindung führt 12 ."
c) Die verschiedenen Arten von Juristenrecht Bei der Findung und Fortbildung von Entscheidungsnormen ist also das richterliche Element das entscheidende. Das bedeutet aber nicht, daß nur der Richter als Autor neuer Entscheidungsnormen anzusehen ist. Er kann und wird sie oft von anderen Juristen übernehmen. Ehrlich unterscheidet daher dem Ursprung nach richterliches Juristenrecht, Amtsrecht, literarisches Juristenrecht und gesetzliches Juristenrecht. Das richterliche Juristenrecht entsteht mit jedem Urteil neu. Liegt eine passende Entscheidungsnorm — vielleicht sogar in Form eines Rechtssatzes — vor, dann scheint der Richter zwar keine neue Norm mehr zu finden, sondern die vorhandene anzuwenden. Aber auch hier findet er in Wirklichkeit eine neue Entscheidungsnorm; denn er muß immer neu darüber befinden, ob die vorhandene Norm auf den vorliegenden Einzelfall anwendbar ist. Die so gefundene neue Entscheidungsnorm wirkt dann ebenfalls nach dem Gesetz der Stetigkeit und verwandelt sich schließlich in einen Rechtssatz, so daß sich die Zahl der Rechtssätze in einer Gesellschaft fortwährend vermehrt. „Das bedeutet aber, daß das Gesetz der Stetigkeit doch nur auf einer oberflächlichen Betrachtung der Dinge beruht. In Wirklichkeit handelt es sich gar nicht um dieselbe Norm, es hat sich an ihr nur scheinbar nichts geändert, sie hat innerlich doch einen neuen Inhalt erhalten 13 ." Allerdings geschieht es immer wieder, daß die Rechtsprechung bei ihrer Aufgabe versagt, die Rechtssätze den Veränderungen in der Gesellschaft, d. h. in den Tatsachen des Rechts, durch Schöpfung entsprechender neuer 12 13
Ebd. S. 278. Ebd. S. 107 f.
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
Entscheidungsnormen anzupassen. Dann ertönt regelmäßig der Klageruf über die „schlechten Gesetze". In solchen Fällen müssen andere Instanzen die Aufgabe der „Rechtsbesserung", d. h. der Rechtsfortbildung übernehmen. Als solche Instanz konnte früher ein vom Staat besonders damit betrauter Beamter tätig werden, wie er in der Person des römischen Prätors und des englischen Kanzlers in Erscheinung trat. Beide erfüllten ihren geschichtlichen Auftrag, Abhilfe gegen ein erstarrtes und veraltetes Richterrecht zu schaffen, indem sie dem alten Recht ein ganz neues Rechtssystem entgegenstellten (ius honorarium, equity). Da heute die Gesetzgebung die Aufgabe der Rechtsbesserung übernommen hat, kommt dieses von Ehrlich sog. Amtsrecht jetzt nicht mehr vor. Von ständiger, wenn auch unterschiedlich großer Bedeutung ist dagegen das literarische Juristenrecht. Die Anerkennung der Literatur als selbständige Rechtsquelle setzt natürlich voraus, daß sich juristische Schriftsteller und Lehrer nicht „wie die englischen Textbookverfasser darauf beschränken, die Ergebnisse der Rechtsprechung zusammenzustellen, sie gelegentlich mit einer bescheidenen Kritik zu verbrämen, und hie und da schüchtern die eine oder andere noch nicht gewagte Folgerung daraus zu ziehen" 14 ; daß sich also die Jurisprudenz, um Ehrlich an dieser Stelle einmal zu modernisieren, nicht in Beck'sehen Kurzkommentaren oder in der Unsitte der Referentenkommentare erschöpft, sondern daß sie, um mit Dölle 15 zu sprechen, zu neuen „juristischen Entdeckungen" verstößt. Das hängt nicht allein von den Fähigkeiten der betreffenden Juristen ab. Auch hier sieht Ehrlich soziale Gesetzmäßigkeiten: „Es ist selbstverständlich, daß die Bedeutung der Wissenschaft im umgekehrten Verhältnis zu der des Gesetzes und der des Richters steht; je höher die Stellung des Richters ist, um so eifersüchtiger wacht er über seine Selbständigkeit, je allmächtiger und umfassender die Gesetzgebung ist, um so weniger Raum will sie den Juristen lassen. Daher geht die Jurisprudenz immer mit der Kodifikation zurück und erwacht erst zum neuen Leben, wenn deren Mängel und Lücken zum Bewußtsein kommen 16 ." Der Berliner Zivilrechtler Günter Brandt faßte diese Beobachtung einmal in einer seiner geistreichen und amüsanten Vorlesungen in dem Satz zusammen: „Wo das Unkraut des Gesetzes wuchert, da blüht die Blume der Wissenschaft." Allerdings enthält auch jede Kodifikation einen erheblichen Teil von Juristenrecht, nämlich insoweit, als sie versucht, das bereits vorhandene richterliche und literarische Juristenrecht aufzuzeichnen. Anläßlich dieser Aufzeichnung werden aber die alten Entscheidungsnormen meist abgeän14 15 16
Ebd. S. 216. Hans Dölle: Juristische Entdeckungen, 1958. Grundlegung, S. 144.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
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dert und den Verhältnissen angepaßt. Außerdem werden in Ergänzung dazu neue gefunden. Die auf diese Weise entstehenden neuen Entscheidungsnormen sind das Ergebnis derselben geistigen Arbeit, wie sie in der richterlichen oder literarischen Jurisprudenz geleistet wird. „Der Gesetzgeber arbeitet da als Jurist, nicht als Gesetzgeber 17 ." Ehrlich nennt diesen Normenkomplex daher gesetzliches Juristenrecht. Dieses gesetzliche Juristenrecht ist streng von dem übrigen Gesetzesrecht zu unterscheiden, das nicht dem Juristenrecht, sondern dem staatlichen Recht angehört.
§ 5 Das Recht als staatliche Zwangsordnung 1 1. Staatliches Recht als besondere Rechtsart
Unter staatlichem Recht versteht Ehrlich alles Recht, das seinem Inhalt nach vom Staat ausgeht. „Es ist ein Recht, das nur durch den Staat entstanden ist und ohne Staat nicht bestehen könnte 2 ." Dabei ist gleichgültig, ob es sich in einem Gesetz, in einer Verordnung oder in der Rechtsprechung findet. Als Beispiel für die Entstehung staatlichen Rechts in der Rechtsprechung erwähnt Ehrlich die Entstehung des Strafrechts in England. Ein weiteres Beispiel wäre die Entwicklung eines Allgemeinen Teils des Verwaltungsrechts in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte. „Die Grenze zwischen staatlichem Recht und Juristenrecht wird meist leicht zu bestimmen sein. Juristenrecht besteht zunächst in den von den Juristen durch Verallgemeinerung (von gesellschaftlichem Recht) gewonnenen Entscheidungsnormen. Das staatliche Recht besteht in den Befehlen des Staates an seine Behörden. Die Juristen können nicht befehlen, sie können nur Recht finden. Der Staat findet das Recht nicht, er kann nur befehlen 3." Daraus folgt, daß das staatliche Recht geschichtlich gesehen gegenüber dem gesellschaftlichen und dem Juristenrecht eine spätere Erscheinung ist. Sollen nämlich staatliche Befehle wirksam werden, bedarf es dazu einer staatlichen Rechtspflege, staatlicher Behörden mit geschulten staatlichen Beamten sowie staatlicher Machtmittel. Staatliches Recht kommt also erst dann vor, wenn es eine zentral gelenkte, auf militärische und polizeiliche Machtmittel gestützte Rechtspflege und Verwaltung gibt 4 . Es ist im Gegensatz zu den aus der Gesellschaft entstandenen Rechtsnormen in seiner 17 1 2 3 4
Ebd. S. 333. Vgl. zum folgenden Grundlegung, Kapitel VII und XVI. Grundlegung, S. 110. Ebd. S. 152. Ebd. S. 116.
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1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
Wirksamkeit entscheidend vom staatlichen Vollstreckungszwang abhängig. Das hat nach Ehrlich seinen Grund darin, „daß der Staat und ein großer Teil der Gesellschaft zueinander in Gegensatz getreten sind" 5 , so daß die Normen des Staates nicht mehr von der Gesellschaft einmütig akzeptiert und durch ihre eigenen Zwangsmittel durchgesetzt werden. W i e kommt es nun zu diesem Gegensatz von Staat und Teilen der Gesellschaft? In der „Grundlegung der Soziologie des Rechts" sieht Ehrlich die Entwicklung wie folgt: Ursprünglich ist der Staat ein militärischer Verband; „und ein ganz überwiegend militärischer Verband ist er, abgesehen von einigen modernen Staatenbildungen in den früheren und gegenwärtigen englischen Kolonien in Nordamerika und anderen Weltteilen, seinem Wesen nach bis in die Gegenwart geblieben" 6 . Nach und nach bringen dann die rein militärischen Aufgaben weitere mit sich, wie die Erhebung von Steuern, polizeiliche Verwaltungstätigkeit usw., bis schließlich der ganze moderne Staatsapparat aufgebaut ist. „Man könnte daher mit Adolf Wagner von einem Gesetz der wachsenden, und sogar darüber hinaus, von einem Gesetz der immer rascher wachsenden Staatstätigkeit sprechen, wenn nicht manche Anzeichen darauf hindeuten würden, daß der Höhepunkt entweder schon überschritten ist oder recht bald überschritten sein dürfte 7 ". Was ist aber der Grund für dieses ungeheure Anwachsen der Staatstätigkeit? Es läßt sich nach Ehrlich nur erklären, wenn man den Staat nicht isoliert betrachtet, sondern als Organ der Gesellschaft sieht: „Der Grund liegt in der wachsenden Einheitlichkeit der Gesellschaft, in dem steigenden Bewußtsein, daß alle diese kleinen Verbände in der Gesellschaft, die sich teils umfassen, teils schneiden, teils ineinandergreifen, immer nur Bausteine eines größeren Verbandes sind, und schließlich Bausteine der ganzen Gesellschaft, in die sie eingehen 8 ." Dieses wachsende Gefühl für die Einheitlichkeit der Gesamtgesellschaft und die Verantwortung für das Ganze erzeugt dann auch das Bedürfnis, die an sich selbständigen gesellschaftlichen Verbände durch den Staat in eine einheitliche Rechtsordnung zusammenzufassen 9. Diese muß dem einzelnen und seinem Verband die Stellung im Gesamtverband zuweisen. Dadurch entsteht dann ein den Rechtszwang erfordernder Gegensatz von Staat und Teilen der Gesellschaft, der dem staatlichen Recht das Gepräge einer Herrschafts- und Kampfordnung gibt, die „zum großen Teile Ausdruck der Stellung der in der Gesellschaft herrschenden Verbände zu 5
Ebd. S. 60. Ebd. S. 111. 7 Ebd. Zum Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit siehe Adolph Wagner: Allgemeine oder theoretische Volkswirtschaftslehre. Erster Teil: Grundlegung, 2. Aufl. Leipzig/Heidelberg 1879, S. 308 ff. 8 Grundlegung, S. 120. Ebd. S. . 6
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
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den beherrschten, und des Kampfes der in der Gesellschaft organisierten Verbände gegen andere ist, die sich in die Organisation nicht einfügen" 10 .
2. Normen erster und zweiter Ordnung
Innerhalb des staatlichen Rechts muß man zwischen Normen erster und zweiter Ordnung unterscheiden. So enthält das Staatsrecht überwiegend Organisationsnormen, „nicht etwa dazu bestimmt, Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, sondern die Stellung und die Aufgaben der staatlichen Organe, die Rechte und Pflichten der staatlichen Behörden festzusetzen" 11. „Der Staat gibt sich und seinen Behörden damit eine Ordnung, wie sich jeder andere gesellschaftliche Verband eine Ordnung geben muß: die Kirche, die Gemeinde, die Familie oder der Verein 12 ." Dagegen soll „ein anderer sehr wichtiger Teil des staatlichen Rechts nur gesellschaftliches oder staatliches Recht durch Normen zweiter Ordnung schützen und schirmen; das ist das Strafrecht und Prozeßrecht, seit sie verstaatlicht sind, dann die Gefährdungsverbote, polizeiliche Vorschriften. Strafrecht, Prozeßrecht und Polizeirecht enthalten daher ausschließlich Normen zweiter Ordnung, sie regeln nicht unmittelbar das Leben, sondern sollen nur die anderweitig gegebene Regelung aufrecht erhalten" 13 . W i r können also innerhalb des staatlichen Rechts das Organisationsrecht als Inbegriff der Handlungsnormen des Staatsapparates und das Schutzrecht unterscheiden, das das gesellschaftliche oder staatliche Leben bei Streitfällen durch Handeln des Staatsapparates aufrecht erhält. Dabei zeigt sich, daß die funktionale Unterteilung in Normen erster und zweiter Ordnung nicht mit Ehrlichs qualitativer Unterteilung nach der Normenstruktur in Handlungsnormen und Entscheidungsnormen identisch ist. Ehrlich selbst verwischt hier zwar die Konturen; es ist aber einsichtig, daß das staatliche Schutzrecht, also die (vom Inhalt her staatlichen) Normen zweiter Ordnung teils aus Handlungsnormen, teils aus Entscheidungsnormen bestehen. Ehrlich schreibt nämlich: „Für den Staat gibt es zwei Wege, um durch sein Recht zu wirken. Der eine ist durch Entscheidungsnormen. Der Staat schreibt seinen Gerichten und anderen Behörden vor, wie sie die Angelegenheiten, die ihnen von den Beteiligten zur Entscheidung vorgelegt werden, entscheiden sollen. Die Mehrzahl der Entscheidungsnormen sind allerdings dem Juristenrecht entnommen: staatliches Recht sind sie nur, wenn sie unabhän10 11 12 13
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
S. 122. S. 33. S. 304. S. 124.
60
1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
gig vom Juristenrecht entstanden und staatliche Zwecke zu fördern bestimmt sind. Die andere Art des staatlichen Rechts sind die Eingriffsnormen: sie weisen die Behörden an, einzugreifen, ohne Rücksicht darauf, ob sie angerufen worden sind. Die staatlichen Entscheidungsnormen und die staatlichen Eingriffe beruhen allerdings nicht immer auf Gesetzen, doch kommt dieser Fall hier vor allem in Betracht. Ob der Rechtssatz einen unmittelbaren Eingriff veranlaßt oder als bloße Entscheidungsnorm wirkt, das hängt nicht nur von der Absicht des Gesetzgebers oder dem Wortlaute des Gesetzes ab; es kommt auf die tatsächliche Übung an 14 ." Das staatliche Schutzrecht besteht also teilweise, nämlich soweit nach tatsächlicher Übung eine Eingriffsnorm vorliegt, aus Handlungsnormen für den Staatsapparat. Nur wenn der Staatsapparat auf Antrag der Beteiligten tätig wird, liegt eine Entscheidungsnorm vor. Allerdings ist für Ehrlich ja auch die Entscheidungsnorm nur eine besondere Art von Handlungsnorm, nämlich eine Handlungsnorm für Gerichte 15 . Das Gesamtbild des staatlichen Rechts sieht für Ehrlich also wie folgt aus: staatliches Recht
Organisation (Normen erster Ordnung)
Sicherungsmaßnahmen (Normen zweiter Ordnung)
Handlungsnormen für Staatsorgane und Behörden
Handlungsnormen für Behörden und Gerichte
konservative
progressive
Eigenleben des Staatsapparates
Eingriffsnormen (von Amts wegen)
Entscheidungsnormen (auf Antrag)
3. Von der Eingriffsnorm zur Verwaltungsnorm
Ehrlich hat übrigens, was das Eingriffsrecht betrifft, nach dem ersten Weltkrieg seine Ansicht etwas modifiziert. In der „Grundlegung der Soziolo14 15
Ebd. S. 296 f. Ebd. S. 98.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
61
gie des Rechts" bringt er das Vordringen des staatlichen Rechts, das in seiner Wirksamkeit entscheidend vom staatlichen Vollstreckungszwang abhängig sei, mit dem Wagnerschen Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit in Zusammenhang und meint, der Höhepunkt des Anwachsens der Staatstätigkeit werde bald überschritten sein. Denn der dem Anwachsen der Staatstätigkeit zugrunde liegende Gegensatz von Staat und Gesellschaft sei historisch gesehen nur als Zwischenstufe 16 auf dem Wege zu einer neuen Einheitlichkeit zu verstehen. Ist diese Einheitlichkeit — so kann man den Gedanken weiterführen — erst einmal erreicht, wird das typisch staatliche Recht in weiten Teilen überflüssig sein; denn es bedarf dann keiner Eingriffsnormen mehr, aufgrund deren mit staatlichen Zwangsmitteln in die freie Entwicklung der gesellschaftlichen Ordnung eingegriffen werden muß. Nach dem Weltkrieg war Ehrlich wohl nicht mehr so sicher, daß die Staatstätigkeit langsam zurückgehen würde. Im Gegenteil nahm ja seit der Kriegszeit die sogenannte Leistungsverwaltung ihren Aufschwung. Man stellte dem Staat jetzt allgemein die „Daseinsvorsorge" (Forsthoff) zur Aufgabe. Deshalb konnte das staatliche Recht nicht mehr gut auf einem nur vorübergehenden Gegensatz von Staat und Gesellschaft beruhen, der mit Hilfe von Eingriffsnormen in eine Einheit zu überführen war, wodurch das staatliche Recht so entscheidend vom staatlichen Vollstreckungszwang abhängig sein sollte. Denn „Daseinsvorsorge" erscheint nicht als eine nur vorübergehende, sondern als eine ständige Aufgabe im sozialen Rechtsstaat. Das muß Ehrlich schon recht bald erkannt haben. Kurz vor seinem Tode spricht er nicht mehr von Eingriffsnormen, sondern sieht den Gegensatz zu den Entscheidungsnormen in „Verwaltungsnormen" 17. In der Tat wird heute in der industriellen Massengesellschaft das Leben des Einzelnen im Sinne der Daseinsvorsorge mehr und mehr verwaltet. Ein Ende des Wagnerschen Gesetzes ist nicht abzusehen. Das staatliche Recht nimmt seinem Umfange nach weiterhin zu; denn unsere „soziale" Marktwirtschaft nähert sich einer liberalisierten Zentralverwaltungswirtschaft („planification").
4. Zur sozialen Bedeutung des staatlichen Rechts
Vor dem Ersten Weltkrieg war diese Entwicklung wohl kaum vorauszusehen, da man allgemein annahm, in Kürze werde man auch ohne Hilfe des Staates mit der „sozialen Frage" fertig werden. Nur „wenn das Ideal der am weitesten fortgeschrittenen Staatssozialisten in Erfüllung ginge", schreibt 16
Ebd. S. 60. Die Soziologie des Rechts (1922), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 241-253 (242,246). 17
62
1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
Ehrlich in der „Grundlegung" 18 , könne es zu einem vollständig verstaatlichten Recht kommen, weil hier der Initiative der Gesellschaft kein Raum mehr gelassen würde. Einen gegenüber dem gesellschaftlichen Recht geringen Teil staatlicher Normen hat es dagegen für ihn schon immer gegeben, nämlich solange man von Staaten überhaupt sprechen kann. W i e sehr Ehrlich in seiner Bewertung des staatlichen Rechts auf der historischen Rechtsschule aufbaute und sich in vielem als deren eigentlichen Vollender ansah, beweist ein für den modernen Rechtssoziologen befremdlicher Umstand. Ehrlich versuchte nämlich, um der von ihm später vorgelegten soziologischen Rechtstheorie gleichsam eine höhere Weihe zu geben, seinen Begriff eines inhaltlich staatlichen Rechts und dessen Gegensatz zum Juristenrecht und gesellschaftlichen Recht aus den klassischen römischen Rechtsquellen herauszulesen. Im Jahre 1902 erschienen in Berlin seine „Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen" 19 , in denen er den Nachweis zu führen versuchte, daß in Rom „der Gegensatz des staatlichen und außerstaatlichen Rechts als Gegensatz des ius publicum und ius privatum zu Tage" tritt 2 0 . Dem römischen Recht, so meint Ehrlich, sei bis in die letzte Kaiserzeit hinein ein staatliches Rechtsmonopol fremd gewesen. Sein Hauptbestandteil, das ius privatum, sei nichts weiter als die Bezeichnung für das außerstaatliche Juristenrecht gewesen, das im Gegensatz zum staatlichen Eingriffsrecht das Ergebnis selbsttätiger Entwicklung war. Nun, keinem modernen Rechtssoziologen würde einfallen, eine solche Untersuchung anzustellen 21 . Für die Brauchbarkeit des theoretischen Gegensatzes von staatlichem Recht und Juristenrecht wäre doch mit dem Nachweis, daß schon die alten Römer sich dessen bewußt gewesen sind, nichts gewonnen. Ob Ehrlich dieser gewünschte Nachweis überhaupt gelungen ist, muß hier dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall fand diese Arbeit durchaus keine einhellige Billigung 22 , und bei Fritz Schulz, einer anerkannten Autorität auf dem Gebiete des römischen Rechts, findet sich der Satz: „Das Buch von E. Ehrlich, Beiträge 18
Grundlegung, S. 130 f. Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen. Erster Teil. Das ius civile, ius publicum, ius privatum, Berlin 1902. 20 Grundlegung, S. 239. 21 Vgl. etwa Karl N. Llewellyn: Recht, Rechtsleben und Gesellschaft, 1977, S. 44 Ν 1. 22 Vgl. Erman: Recht und Prätor — aus Anlaß von Ehrlichs Buch, in ZSSt (roman. Abt.) 24 (1903), S. 421-440; Ehrlich: Recht und Prätor. Eine Entgegnung, in Grünhuts Ζ 31 (1904), S. 331-364; Erman: Recht und Prätor (Duplik), in ZSSt (rom. Abt.) 25 (1904), S. 316-352; Ehrlich: Recht und Prätor. Eine Erledigung, in Grünhuts Ζ 32 (1905), S. 599-612. Ehrlich ließ die Kritik an dieser Arbeit keine Ruhe. Er übersetzte daher die Schrift von H. Goudy : Dreiteiligkeit im römischen Recht, die eine Bestätigung seiner Auffassung enthält, aus dem Englischen und ließ sie i m Jahre 1914 bei Duncker & Humblot erscheinen. Siehe auch Grundlegung, S. 353 ff. 19
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
63
zur Theorie der Rechtsquellen (Berlin 1902), ist mit verfehlter Methode geschrieben und abzulehnen 23 ." Für Ehrlichs soziologische Rechtstheorie ist an seinem Begriff eines besonderen staatlichen Rechts nur soviel wichtig, daß er aus seiner Beobachtung, nicht alle Rechtsnormen seien staatlichen Ursprungs und dienten staatlichen Zwecken, die Folgerung zieht, die Gleichsetzung von Recht und Staat, wie sie etwa Kelsen vornimmt, sei unrichtig. Auch eine Aussage dahingehend, daß Rechtsnorm nur die vom Staat durch den Schutz von Normen zweiter Ordnung anerkannte Handlungsnorm sei, ist für Ehrlich unhaltbar. Wenn es nämlich dem Recht begriffswesentlich sein würde, vom Staat gewährleistet zu sein, dann hätte es in der Geschichte nicht lange Zeit hindurch ohne Staat bestehen können. Auch heute noch, sagt Ehrlich, wollen sich viele Lebensverhältnisse vom Staat fernhalten und werden vom Staat nicht geschützt, lediglich geduldet. Weiter spielt sich der größte Teil des Rechtslebens fern vom Staat und seinen Behörden ab. Denn ein Rechtsverhältnis, das vor die Gerichte geschleppt wird, ist ja nicht der Regelfall, sondern die Ausnahme. Schließlich müsse man sonst, meint Ehrlich, den Rechtscharakter des Kirchenrechts und des Völkerrechts leugnen.
5. Zur Wirksamkeit des staatlichen Rechts
Die soziale Wirksamkeit des staatlichen Rechts ist sehr unterschiedlich. Bei Entscheidungsnormen ist sie relativ gering, weil die Beteiligten oft aus einer Vielzahl von Gründen davon absehen, den Staatsapparat in Anspruch zu nehmen. Anders steht es mit den Verwaltungsnormen,vorausgesetzt, der Verwaltungsapparat funktioniert: „Die Wirkung des staatlichen Rechts steht im geraden Verhältnis zur Kraft, die der Staat dafür bereit stellt, aber im umgekehrten Verhältnis zu den Widerständen, die der Staat beseitigen muß 24 ." Das zeigt sich deutlich bei der frühen Arbeiterschutzgesetzgebung 25 . Anfangs waren die einschlägigen Gesetze, die die schlimmsten Auswüchse des Frühkapitalismus beseitigen sollten, völlig wirkungslos, bis dann ent23
Fritz Schulz: Geschichte der römischen Rechtswissenschaft, 1961, S. 87 Ν 3. Auf dieses Buch Ehrlichs sowie auf seine frühere Schrift: Das zwingende und nichtzwingende Recht im Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Jena 1899 (siehe dazu die negative Rezension von E. Holder in Kritische Vierteljahresschrift 42, 1900, S. 477-502), bezieht sich die Bemerkung von Edwin W . Patterson über die „unreliability of his technical writings" (Ehrlich, in Encyclopaedia of the Social Sciences V, 1937, S. 455 f.). 24 Grundlegung, S. 300. 25 Dazu näher Ehrlich: Arbeiterschutz im Privatrechte (1891), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 11-23.
64
1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
sprechende staatliche Behörden, die Gewerbeinspektorate, mit der erforderlichen Machtfülle geschaffen wurden und einwandfrei arbeiteten. In der Gegenwart sind diese Behörden wieder, nachdem die Arbeitnehmerschaft zu einem „Sozialpartner" erstarkt ist, in eine subsidiäre Rolle zurückgefallen und werden (nach tatsächlicher Übung) in der Regel nur noch auf Antrag oder Anzeige, also aufgrund von Entscheidungsnormen tätig. A m wirksamsten ist das staatliche Recht immer, wenn es verbieten oder zerstören will, weniger wirksam, wenn es etwas Positives fördern soll. Denn die Stärke des staatlichen Rechts, nämlich seine Durchsetzbarkeit mit Hilfe von Behörden, kann zugleich seine Schwäche sein, weil Behörden die Tendenz haben, zu verbürokratisieren: „Das Unglück des Staates ist, daß ihm alles, was er einrichtet, zur Behörde wird, selbst Anstalten für den Unterricht, Kunst, Wissenschaft und Wohlfahrt, selbst Schulen, Museen, Ausstellungen, Eisenbahnen, Tabakregie und Spitäler: sie verlieren dadurch nicht bloß die Schmiegsamkeit, sich den wechselnden Bedürfnissen des Lebens anzupassen, sondern auch den Anhang in der Bevölkerung, der sie zum Werkzeug gesellschaftlichen Fortschritts machen könnte" 26 . Immerhin sieht Ehrlich als Ergebnis des staatlichen Rechts das Staatsvolk, den staatlichen Frieden und ein besonderes „staatliches Vermögensrecht", das durch Verteilung und Übertragung wirtschaftlicher Werte mit Hilfe staatlicher Eingriffe in die gesellschaftliche Ordnung bewirkt wird.
§ 6 Das lebende Recht1 1. Die Interdependenz von gesellschaftlichem Recht, Juristenrecht und staatlichem Recht
W i r behandelten bisher Ehrlichs Unterteilung des Rechtsstoffes in drei, dem Ursprünge nach verschiedene Normenkomplexe. Der erste besteht aus dem in der Gesellschaft selbsttätig entstandenen Organisationsrecht der menschlichen Verbände. Es enthält der Normenstruktur nach Handlungsnormen. Diese Handlungsnormen entstehen unmittelbar aus den Rechtstatsachen. Der zweite Normenkomplex ist das Juristenrecht. Es enthält zum kleinen Teil Handlungsnormen, die die Juristen schöpferisch (erstmals) aus den Rechtstatsachen ableiten. Zum überwiegenden Teil enthält es jedoch Entscheidungsnormen, die den durch Konflikt in Unordnung gebrachten Verband im Wege autoritativer Streitentscheidung wieder neu ordnen sol26 1
Grundlegung, S. 304.
Die folgenden Darlegungen finden sich in den Kapiteln I, IX, Χ, X V I I bis X I X der Grundlegung.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
65
len. Ihrem Ursprünge nach handelt es sich jeweils um „Entdeckungen" das Juristenstandes. Der dritte Normenkomplex ist das seinem Inhalt nach staatliche Recht, das den Staat als übergeordneten Gesamtverband betrifft. Es besteht seiner Struktur nach aus Handlungsnormen, Entscheidungsnormen und Eingriffsnormen (Verwaltungsnormen). Staatliche Handlungsnormen sind diejenigen Regeln, durch die der Staat sich und seinen Behörden Stellung und Aufgaben vorschreibt, das Organisations- „Recht des Staates"2. Staatliche Entscheidungsnormen sind diejenigen Regeln, nach denen der Staatsapparat auf Antrag, staatliche Eingriffsnormen (Verwaltungsnormen) diejenigen, nach denen er von Amts wegen in das gesellschaftliche Leben befehlend und gewährend eingreift. Quelle des staatlichen Rechts ist der Staat selbst, in erster Linie der Gesetzgeber.
a) Juristenrecht
und gesellschaftliches
Recht
Alle diese drei Normenkomplexe stehen nun nicht unvermittelt nebeneinander. Das wird deutlich, wenn man von der genetisch-inhaltlichen Betrachtung zur formalen Betrachtung des Rechts übergeht. Hier finden wir das ständige Nebeneinander von Rechtsnorm und Rechtssatz. Rechtsnorm ist die subsistente Norm im Sinne von Theodor Geiger 3, die unmittelbar aus den Rechtstatsachen entsteht. Es ist diejenige Norm, die von den Juristen als in der „Natur der Sache" begründet gefunden wird: „Die Normen ,aus der Natur der Sache1 oder ,die sich aus dem Begriffe ergeben 1, sind die Regeln des Handelns, die ein Rechtsverhältnis im Leben beherrschen; sie sind ein Werk des Lebens, nicht des Gesetzgebers oder einer anderen zum Setzen von Normen berufenen Gewalt, und sie können wohl wissenschaftlich erkannt und festgestellt, aber nicht angeordnet oder vorgeschrieben werden 4 ." Diese Normen werden durch die Tätigkeit der Juristen in Rechtssätze verwandelt, indem man ihnen durch Verallgemeinerung und Vereinheitlichung eine sprachliche Form von mehr oder weniger großer Abstraktheit gibt. Wenn sich Juristen um den Aufbau von Rechtssätzen bemühen, geschieht das auf der Suche nach neuen Entscheidungsnormen. Da Entscheidungsnormen nur Schutzfunktion haben, ist die Grundhaltung der Juristen hierbei, wollen sie nicht unter dem Deckmantel juristischer Argumentation Rechtspolitik betreiben, vornehmlich konservativ. Die Jurisprudenz ist „viel mehr eine erhaltende als eine treibende Kraft" 5 , ein zu Unrecht oft beklagtes Phänomen. 2 3 4 5
Grundlegung, S. 304. Theodor Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1947, S. 58. Grundlegung, S. 288. Ebd. S. 217.
5 Rehbinder, 2. Aufl.
66
1. Kap.: Eugen Ehrlich als Rechtssoziologe
b) Der Jurist als „Organ gesellschaftlicher
Gerechtigkeit"
Die Juristen sind aber bei ihrer Arbeit ständig gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt, so daß die von ihnen geschaffenen Rechtssätze letzten Endes überwiegend gesellschaftlichen Ursprungs sind. Das wird besonders deutlich, wenn sie zur Ausfüllung von Lücken im Rechtssystem auf den Inhalt außerrechtlicher, also rein gesellschaftlicher Normen zurückgreifen 6 . Aber auch bei Anwendung vorgefundener Entscheidungsnormen gilt es nach Ehrlich zu sehen, daß das „Gesetz der Stetigkeit der Entscheidungsnorm" trügt. In Wahrheit findet ein ständiger Wandel statt. Die in ihrer formalen Fassung weiterbestehende Norm macht im Laufe ihrer Anwendungsgeschichte eine insbesondere durch Änderung der Rechtstatsachen bewirkte Inhaltsänderung durch 7 . Der eigene Anteil der Juristen an dieser Entwicklung bemißt sich nach der Aufgabe, die ihnen im Einzelfall gestellt ist. Es kann sein, daß der Inhalt des Rechtssatzes dem Juristen von der Gesellschaft bereits vorgeschrieben ist. Das ist der Fall, wenn die gesellschaftlichen Machtverhältnisse oder das Interesse der Gesamtgesellschaft gar keine andere Lösung zulassen8. Dann hat der Jurist nur die rein technische Aufgabe, den Inhalt des Rechtssatzes in Worte zu fassen und die Mittel zu finden, das durch ihn geschützte Interesse möglichst wirksam durchzusetzen. Diese technische Aufgabe ist keineswegs zu unterschätzen: „Die Unbeholfenheit des Verfahrens und die geringe Ausdrucksfähigkeit des materiellen Rechts bereiten auf diesem Gebiet oft ungeheure Schwierigkeiten: darauf beruht jeder,Formalismus 1 im Rechte. Formalismus ist ein technischer Mangel, der überwunden werden muß, nicht eine bewunderungswürdige Eigentümlichkeit des Rechts9." Sind dagegen das Interesse der Gesamtheit oder die Machtverhältnisse in der Gesamtheit nicht eindeutig vorgezeichnet, dann hat der Jurist neben der technischen die weitere Aufgabe, durch Interessenabwägung die Grenzlinie zwischen den beteiligten gesellschaftlichen Interessen selbst zu ziehen. Der Jurist ist dann das „Organ gesellschaftlicher Gerechtigkeit" 10 . Gerechtigkeit in diesem Sinne ist nicht wiederum auf gesellschaftliche Machtverhältnisse zurückzuführen: „Die Entscheidung nach Gerechtigkeit ist eine Entscheidung aus Gründen, die auch auf den Unbeteiligten wirken: sie ist eine Entscheidung des an dem Interessengegensatz Unbeteiligten, oder, wenn sie durch einen Beteiligten selbst erfolgt, eine solche, die auch der Unbeteiligte fällen oder billigen würde. Sie beruht daher nie auf der 6
Ebd. S. 103 f. Ebd. S. 108. 8 Ebd. S. 160. 9 Ebd. 10 Ebd. S. 161. 7
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
67
Ausnutzung der Machtstellung 11 ." Gerechtigkeit ist aber insoweit eine Machtfrage, als gesellschaftliche Gerechtigkeitsvorstellungen nur wirksam werden, wenn sie sich durchsetzen und als gesellschaftliche Strömungen den unbefangenen Juristen ergreifen. Diesen Strömungen muß nämlich der Jurist nachgeben, auch wenn sie seinem individuellen Gefühl zuwiderlaufen. Er muß sich also mit dem Ehescheidungsrecht im positiven Sinne befassen, auch wenn er als Katholik die Scheidung ablehnt. Oder er muß, wie Ehrlich schreibt, in einem Urteil das Privateigentum an Arbeitsmitteln anerkennen, obwohl er Sozialist ist 12 . Bestehen in einer Gesellschaft mehrere gegenläufige „Gerechtigkeitsströmungen", so sind sie vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gleichberechtigt, denn „daß etwas gerecht sei, läßt sich ebensowenig wissenschaftlich beweisen, wie die Schönheit eines gothischen Domes oder einer Beethovenschen Symphonie dem bewiesen werden kann, der sich nicht empfindet. Das alles sind Fragen des Gefühlslebens. Die Wissenschaft kann wohl die Wirkungen eines RechtssatzQs feststellen, aber sie vermag den Menschen nicht vorzuschreiben, daß ihnen die Wirkungen erwünscht oder verabscheuungswürdig erscheinen" 13 . Lassen sich eindeutig vorherrschende Gerechtigkeitsvorstellungen nicht ermitteln, ist der Jurist auf sich selbst gestellt. Er findet dann seine Norm nicht mehr, sondern er verkündet diejenige Regel, die er — wie der berühmte Artikel 1 des schweizerischen ZGB sagt — „als Gesetzgeber aufstellen würde". Damit trifft er eine rechtspolitische Entscheidung, für die es keine wissenschaftliche Begründung gibt, weil Wissenschaft dem menschlichen Streben auf Erden keine Ziele setzen kann. Deshalb finden wir an dieser Stelle bei Ehrlich eine Schilderung der Gerechtigkeits„wissenschaft" als Kunst, wie wir sie ähnlich eindruckvoll erst ein Menschenalter später in der amerikanischen Rechtssoziologie bei Llewellyn 14 wiederfinden: „Die Gerechtigkeit beruht zwar auf gesellschaftlichen Strömungen, aber sie bedarf, um wirksam zu werden, der persönlichen Tat eines Einzelnen. Sie ist darin am ehesten der Kunst vergleichbar. Auch der Künstler schöpft sein Kunstwerk, wie wir heute wissen, nicht aus seinem Inneren, er vermag nur das zu formen, was ihm von der Gesellschaft geboten wird; aber ebenso wie das Kunstwerk, obwohl ein Ergebnis gesellschaftlicher Kräfte, doch erst vom Künstler mit einem Körper bekleidet werden muß, so braucht auch die Gerechtigkeit eines Propheten, der sie verkündet; und wieder gleich dem Kunstwerk, das, aus gesellschaftlichem Stoffe geformt, vom Künstler den Stempel seiner ganzen Persönlichkeit erhält, 11
Ebd. S. 162. Ebd. S. 163. 13 Ebd. 14 Vgl. Rehbinder: Karl N. Llewellyn als Rechtssoziologe, in KZfSS 18 (1966), S. 532, 539. 12
*
68
. Kap.: Eugen Ehrlich als
soziologe
verdankt die Gerechtigkeit der Gesellschaft nur ihren rohen Inhalt, ihre individuelle Gestalt dagegen dem Gerechtigkeitskünstler, der sie gebildet hat. W i r besitzen weder eine einzige Gerechtigkeit noch eine einzige Schönheit, aber in jedem Gerechtigkeitswerk ist die Gerechtigkeit, ebenso wie aus jedem wirklichen Kunstwerk die Schönheit zur Menschheit spricht. Die Gerechtigkeit, so wie sie in Gesetzen, Richtersprüchen, literarischen Werken individuell gestaltet wird, ist in ihren höchsten Äußerungen das Ergebnis genialer Synthese der Gegensätze, wie alles Großartige, das je geschaffen worden ist 15 ." W i e die Schönheit entzieht sich auch die Gerechtigkeit einer inhaltlichen Erfassung in einer Formel. Auch wäre es nach Ehrlich zu einseitig, wollte man sie mit der materialistischen Geschichtsauffassung immer und stets auf wirtschaftliche Einflüsse zurückführen 16 . Soweit sie lediglich auf den bestehenden Tatsachen des Rechts aufbaut, ist sie Ausdruck der gesellschaftlichen Statik. Soweit sie inhaltlich neue Wege beschreitet, ist sie Ausdruck gesellschaftlicher Dynamik 1 7 . Triebkräfte dieser Dynamik sind der Individualismus und der Gemeinschaftsgedanke, von denen in der geschichtlichen Entwicklung jeweils der eine oder der andere überwiegt: „Diese beiden Gerechtigkeitsgedanken ziehen die Menschheit wie auf den Gewinden einer Schraube immer und immer wieder in die Höhe 18 ." Wenn die gesellschaftliche Dynamik Veränderungen der Sozialstruktur mit den Mitteln des staatlichen Rechtsapparates bewirkt, handelt es sich bei den neuen, von Juristen geschaffenen Rechtssätzen allerdings nicht mehr um Juristenrecht, sondern um in der Rechtsprechung entstandenes staatliches Recht.
c) Juristenrecht
und staatliches Recht
W i r sehen also, daß das gesellschaftliche Recht und das Juristenrecht voneinander abhängig und inhaltlich verwoben sind; denn jeder Rechtssatz entsteht als Gesamtwerk der Gesellschaft und des Juristen 19 . Die Handlungsnormen der gesellschaftlichen Verbände werden von Juristen zu Rechtssätzen verallgemeinert und vereinheitlicht. Was der Jurist dabei durch seine Wertentscheidung bei Auswahl und „Erfindung" 20 inhaltlich hinzugibt, erfolgt seinerseits unter dem Einfluß der Gesellschaft. Gibt er 15
Grundlegung, S. 168. Ebd. S. 172. 17 Ebd. S. 188 f. 18 Ebd. S. 194. 19 Ebd. S. 171 f. 20 Siehe dazu Ehrlichs Vergleich mit den naturwissenschaftlichen Erfindungen ebd. S. 328 f. 16
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
69
einer gesellschaftlichen Dynamik Ausdruck und stellt er Rechtssätze auf, die noch nicht in der Gesellschaftswirklichkeit vorgezeichnet sind, so handelt er als Gesetzgeber und schafft — jedenfalls bei verstaatlichter Rechtspflege — staatliches Recht. Staatliches Recht wird in erster Linie durch Gesetz geschaffen. Es hat nicht mehr den Charakter von gefundenen Entscheidungsnormen, sondern den Charakter des staatlichen Befehls. Doch auch Juristenrecht und staatliches Recht stehen miteinander in Verbindung. So enthält jedes staatliche Gesetzbuch überwiegend legalisiertes Juristenrecht, da es in wesentlichem Umfang die bisherige Rechtsprechung und Literatur übernimmt oder nur abändert und ergänzt. Nur zum kleinen Teil wird bei Kodifikationen neues, staatliches Recht geschaffen. Die Verknüpfung zeigt sich z. B. deutlich in § 138 BGB: Abs. 1 dieser Vorschrift (Nichtigkeit sittenwidriger Geschäfte) enthält nach Ehrlich 21 Juristenrecht, Abs. 2 (Wucherverbot) enthält staatliches Recht.
d) Staatliches Recht und gesellschaftliches
Recht
Auch das gesellschaftliche Recht ist mit dem staatlichen Recht verknüpft; denn alle staatlichen Rechtssätze nehmen eine bestimmte Stellung zu den ständig in den Einzelverbänden neu entstandenen Handlungsnormen ein. Diese Stellungnahme kann positiv, negativ oder indifferent sein. Das hat Ehrlich näher in seiner Schrift über „Das zwingende und nichtzwingende Recht des Bürgerlichen Gesetzbuchs für das Deutsche Reich" (Jena 1899) ausgeführt, wo er das Verhältnis von Rechtssatz und Rechtsgeschäft untersucht und im einzelnen auf Inhalt und Grenzen der Vertragsautonomie in ihrem Verhältnis zu den zwingenden und ergänzenden Rechtssätzen und Auslegungsregeln des BGB eingeht. Eine positive Reaktion staatlichen Rechts auf das gesellschaftliche Recht liegt vor, wenn Rechtssätze bestimmten Rechtstatsachen (Übungen, Herrschafts- und Besitzverhältnissen oder Willenserklärungen) gerichtlichen und behördlichen Schutz gewähren. In diesem Fall erkennen sie nämlich die Normen an, die sich unmittelbar aus diesen Rechtstatsachen ergeben. Der Jurist spricht dann davon, daß die konkrete Norm „aus dem Begriff" oder „aus der Natur der Sache" abzuleiten sei 22 . Ferner werden Normen des gesellschaftlichen Rechts zu staatlichen Rechtssätzen umgewertet, wenn man sich bewußt wird, daß ihre Durchsetzung im öffentlichen Interesse liegt 23 . Die Reaktion staatlichen Rechts auf gesellschaftliches Recht kann aber auch indifferent sein. Das ist der Fall, wenn die staatlichen Normen die Normen des gesellschaftlichen Rechts 21 22 23
Ebd. S. 348. Ebd. S. 157. Ebd. S. 326.
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. Kap.: Eugen Ehrlich als
soziologe
ignorieren und an dieselben Rechtstatsachen anders geartete Rechtsfolgen knüpfen, die zu den Rechtsnormen in keiner Beziehung stehen, wie z.B. Steuerlasten oder Ordnungsvorschriften 24 .
2. Der Rechtssatz als Hebel des Soziallebens
Zu Unrecht im Werke von Ehrlich vermißt und viel zu wenig beachtet sind seine Ausführungen darüber, daß die Reaktion des staatlichen Rechts auf das aus den Rechtstatsachen fließende gesellschaftliche Recht auch negativ sein kann. Ehrlich betont sehr nachdrücklich, daß es auch Rechtssätze gibt, die bestehende Tatsachen des Rechts verneinen oder andere Tatsachen des Rechts schaffen 25 . Aufgrund dieser Rechtssätze greifen Behörden und Gerichte in die freie gesellschaftliche Entwicklung ein und zerstören bzw. ändern Übungen, Herrschaftsverhältnisse, Besitzlagen und Willenserklärungen oder begründen solche neu. Denn „der Rechtssatz ist nicht nur das Ergebnis, er ist auch ein Hebel der gesellschaftlichen Entwicklung, er ist für die Gesellschaft ein Mittel, in ihrem Machtkreise die Dinge nach ihrem W i l l e n zu gestalten. Durch den Rechtssatz erlangt der Mensch eine wenn auch beschränkte Macht über die Tatsachen des Rechts; im Rechtssatz tritt eine gewollte Rechtsordnung der in der Gesellschaft selbsttätig entstandenen Rechtsordnung gegenüber" 26 . Diese gewollt staatliche Rechtsordnung erweist sich allerdings nur dann als lebensfähig, wenn es ihr gelingt, die Rechtstatsachen in ihrem Sinne zu verändern, zu formen und zu gestalten. Das ist im Einzelfall „eine Art gesellschaftlicher Machtfrage" 27 . Mit der bloßen Dekretierung des staatlichen Normsatzes ist es jedenfalls nicht getan. „Das Gesetz wirkt nicht durch sein bloßes Dasein, sondern durch seine Kraft" 28 . Zwar neigt Ehrlich, der die großen Umwälzungen in den sozialistischen Ländern nicht miterlebt hat, aus der Sicht des österreichisch-ungarischen Nationalitätenstaates dazu, die gesellschaftsgestaltende Kraft des staatlichen Rechts zu unterschätzen. Er weist aber zu Recht darauf hin, daß bestimmte Dinge durch ein Gesetz überhaupt nicht bewirkt werden können und daß für den Erfolg einer rechtlichen Regelung die Eigenart des betreffenden Volkes, seine herrschenden sittlichen Anschauungen, die Machtmittel seines Rechtsstabes und die Besonderheiten des Rechtsganges meist weit entscheidender sind als die Aus24 25 26 27 28
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
S. 158 f. S. 158. S. 164. S. 136. S. 303.
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
71
legungsstreitigkeiten der Juristen 29 . Denn das, was die Juristen produzieren, sind ja nur Entscheidungsnormen, die zu ihrer Wirksamkeit erst von der Gesellschaft akzeptiert werden, die sich also erst in Handlungsnormen umsetzen müssen 30 . Jedoch darf man nicht vergessen, daß die Juristen auch Verwaltungsnormen (Eingriffsnormen) produzieren. Was akzeptiert wird, hängt auch nicht allein von den äußeren Machtverhältnissen, sondern oft, das ist beim literarischen Juristenrecht besonders deutlich, vom sozialen Ansehen des Normenautors ab 3 1 . Beim Gesetz ist diese besondere Autorität des Autors nicht mehr erforderlich, und das ist, abgesehen vom Streben nach Übersichtlichkeit und Vereinheitlichung 32 , der Grund, warum wir immer wieder Versuche finden, das Juristenrecht durch staatliche Gesetzgebung zu kodifizieren 33 . „So kommt es, daß das Gesetz, in wirtschaftlich oder politisch bewegten Zeiten, immer Wirkung und Ursache zugleich, als wichtigster Hebel des gesellschaftlichen Fortschritts gelten kann. Deswegen haben auch revolutionäre Parteien, die den Staat, von dem es ausgeht, kräftig bekämpfen, noch oft genug nach gesetzlichen Eingriffen gerufen, während konservative Richtungen, die den Staat stützen, seinem Werk in der Stille mißtrauen. Aber auch in ruhigem Flusse der Ereignisse, wie oft hat sich das Gesetz als unentbehrliches Werkzeug erwiesen, um rückständige Einrichtungen zu beseitigen und berechtigte, nach Anerkennung ringende Interessen zur Geltung zu bringen 34 ." Allerdings ist bei bloßen Entscheidungsnormen die tatsächliche Wirksamkeit immer sehr fraglich; denn wenn die Parteien ihren Rechtsstreit gar nicht oder nur vereinzelt vor die Gerichte bringen, so fällt der Rechtssatz ins Leere. Jedes Gesetzbuch enthält eine Unmenge von Entscheidungsnormen, die am Leben spurlos vorbeigehen. Viel wirksamer sind dagegen in der Regel die Eingriffsnormen. Diese sind aber nur in beschränktem Umfang zu verwenden, weil sie mit einem hohen Aufwand von Mitteln und mit großer Belästigung der Bevölkerung verbunden sind.
29
Ebd. S. 302 f. Ebd. S. 364 f. 31 Ebd. S. 293. 32 Wenn das Juristenrecht einen gewissen Umfang erreicht hat, dann ist eine Kodifikation für Ehrlich nicht zu vermeiden und hat trotz vieler Nachteile überwiegend günstige Folgen, so Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903), in Recht und Leben, 1967, S. 185. 33 Grundlegung, S. 342 f. 34 Ebd. S. 149 f. 30
72
. Kap.: Eugen Ehrlich als
soziologe
3. Der soziologische Rechtsbegriff
Die Rechtswirklichkeit ist also für Ehrlich ein äußerst differenziertes Gebilde, Ergebnis verschiedener ineinander verwobener Normenkomplexe. Der aus den Rechtstatsachen entstehenden Verbandsordnung tritt das staatliche Recht als eine den Verbänden von der Gesellschaft auferlegte Rechtsordnung gegenüber. „Soweit infolge dieser zweiten Rechtsordnung die Tatsachen des Rechts geschützt oder gestaltet, verschoben, wohl auch aufgehoben werden, ergeben sich auch aus ihr Normen, Regeln des Handelns, und erst die Normen, die diese beiden Ordnungen enthalten, machen tatsächlich das gesamte Recht der Gesellschaft aus 35 . 11 Während nun die staatlichen Rechtssätze ihrer Natur nach statisch sind, bleiben die Rechtstatsachen der Verbandsordnung in ständiger Bewegung. Das durch Wandel in den Rechtstatsachen bewirkte neue gesellschaftliche Recht wird das staatliche Recht in vielen Fällen gar nicht berühren. Es kann sich nämlich im Rahmen der Vertragsfreiheit, der Vereinsfreiheit, der Testamentsfreiheit usw. entwickeln und seine Entscheidungsnormen selbst schaffen. Denn für die Wirkung von Verträgen, Satzungen und Testamenten vor Gericht oder Behörden ist in erster Linie ihr Wortlaut maßgebend 36 . Der Wandel der Rechtstatsachen kann sich aber auch innerhalb des Regelungsgebietes des staatlichen Rechts vollziehen. Das staatliche Recht läuft daher ständig Gefahr, seine Hebelwirkung einzubüßen und durch die Entwicklung des gesellschaftlichen Rechts überrollt zu werden. Kommt es nämlich zu einem cultural lag 3 7 , d. h. zum Widerspruch zwischen dem staatliche Recht und der gesellschaftlichen Entwicklung, weil die Machtmittel der staatlichen Rechtsordnung nicht ausreichen, um eine Veränderung der Rechtstatsachen zu verhindern, dann tritt die Jurisprudenz auf den Plan. Sie arbeitet mit Hilfe einer Denkweise, die Ehrlich zunächst im Anschluß an Wurzel 38 die Projektion nannte, das ist „die Anwendung eines juristischen Begriffs des formulierten Rechtssatzes, ohne ihn zu ändern, auf Erscheinungen, die darin gar nicht oder wenigstens nicht nachweisbar vorgestellt waren" 39 , ein Mittelding zwischen Rechtsanwendung und Rechtsfindung. Auf diese Weise erhalten die staatlichen Rechtssätze mit der Zeit einen ganz anderen Inhalt. Sie werden trotz formaler Fortgeltung mit dem Inhalt eines 35
Ebd. S. 159. Ebd. S. 323. 37 Ehrlich beschreibt die kulturelle Verspätung des Rechtssystems in der Juristischen Logik, 1918, S. 160 ff. und in der Grundlegung, S. 394. Schon in seinen Jugendschriften spricht er vom „Konservatismus" des Rechtswesens und der „archaisierenden Tendenz der Rechtsordnung", siehe z. B. Die soziale Frage im Privatrechte (1892), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 24. 38 Karl Georg Wurzel: Das juristische Denken, 1904, 2. Aufl. 1924. 39 Grundlegung, S. 324. 36
2. Abschn.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
73
neuen, gesellschaftlichen Rechts erfüllt 40 . Im Einzelfall ist diese Inhaltsänderung durch Projektion oder durch Konstruktion, wie Ehrlich diesen Vorgang später in seiner „Juristischen Logik" nannte, als juristische „Erfindung" anzusehen; um als solche anerkannt und wirksam zu werden, muß sie mit den Grundsätzen des geltenden Rechts und der juristischen Wissenschaft in Einklang stehen 41 . Anders ist es, wenn statt der Jurisprudenz der Gesetzgeber tätig wird und das staatliche Recht revidiert. Ehrlich konstatiert, daß dies auf Kosten der Jurisprudenz zunehmend der Fall ist, und meint: „Womit dies zusammenhängt, ist schwer zu sagen, jedenfalls ist es keine erfreuliche Erscheinung. Es führt zu einer Einseitigkeit und Erstarrung der Rechtsentwicklung, und es liefert sie mehr, als unbedingt notwendig ist, den Kräften aus, die jeweils den Staat in ihren Händen halten 42 ." Die Außerkraftsetzung staatlichen Rechts durch Überlagerung mit Juristenrecht, das die staatlichen Normen im Wege der Projektion mit neuem, außerstaatlichem Rechtsinhalt füllt, zeigt für Ehrlich 43 deutlich, daß die sogenannte Billigungstheorie falsch sein muß, die dem neuen „Gewohnheitsrecht" als einem außerstaatlichen Recht die Rechtsqualität nur dann und insoweit zuspricht, als die Staatsgewalt es billigt. Vor allem aber zeigt sich, daß die Entstehung gesellschaftlichen Rechts aus neuen Rechtstatsachen und die Schaffung von Juristenrecht in entwickelten Gesellschaften immer zugleich eine Reaktion auf staatliches Recht ist 4 4 . Man bejaht es oder weicht ihm aus, man baut auf ihm auf oder formt es um. Das Gesamtbild dieser ständig im Fluß befindlichen Rechtswirklichkeit, die das Ergebnis des Zusammenspiels von gesellschaftlichem Recht, Juristenrecht und staatlichem Recht ist, wird Von Ehrlich mit dem oft mißverstandenen Ausdruck „lebendes Recht" gekennzeichnet. Da die Rechtswirklichkeit allein in den Rechtstatsachen beobachtet werden kann, definiert Ehrlich das lebende Recht als „das nicht in Rechtssätzen festgelegte Recht, das aber doch das Leben beherrscht" 45 . Das darf jedoch nicht dazu verleiten, das lebende Recht mit dem gesellschaftlichen Recht gleichzusetzen. Gesellschaftliches Recht, von Ehrlich vor seiner „Grundlegung" noch als Gewohnheitsrecht bezeichnet, sind für ihn „die Lebensformen, die ohne staatliche Eingriffe, nur durch die im Leben selbst wirkenden Kräfte zur Grundlage der staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung geworden sind" 46 . Damit diese in der Gesellschaft 40 41 42 43 44 45 46
Ebd. S. 328. Ebd. S. 145. Ebd. S. 330. Ebd. S. 379. Ebd. S. 313. Ebd. S. 399. Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts (1907), in Gesetz und lebendes Recht,
74
. Kap.: Eugen Ehrlich als
soziologe
selbsttätig entstandenen Lebensformen „zu festen, bestimmten, in Worte gefaßten Entscheidungsnormen erstarren, (müssen sie) entweder durch die Rechtswissenschaft oder durch die Rechtsprechung hindurchgehen" 47 . Wenn jetzt noch das staatliche Recht als die nicht nur äußerlich vom Gesetzgeber ausgehende, sondern auch inhaltlich von ihm geschaffene, also im bisherigen Recht noch nicht enthaltene obrigkeitliche Anordnung 4 8 hinzukommt, dann kann Ehrlich zwar das Ergebnis des Zusammenwirkens dieser Ordnungen in der Gesellschaftswirklichkeit als ein „nicht in Rechtssätzen festgelegtes Recht" kennzeichnen, das lebende Recht ist aber ein gesellschaftliches Recht auf höherer, nämlich auf einer durch Reaktion auf Juristenrecht und staatliches Recht beeinflußten Stufe. Auf dieser höheren Stufe ist Recht eine tatsächlich gelebte Ordnung, die Rechtsnorm eine Regel des gesellschaftlichen Handelns. „Nur was ins Leben tritt, wird lebende Norm, das andere ist bloß Lehre, Entscheidungsnorm, Dogma oder Theorie 49 ." Der Rechtsbegriff einer Wirklichkeitswissenschaft vom Recht ist damit nicht der „praktische Rechtsbegriff" 50 der nur die Rechtssätze berücksichtigenden praktischen Jurisprudenz, sondern ein wissenschaftlicher Rechtsbegriff. Dieser wissenschaftliche Rechtsbegriff sieht allein auf den aktuellen Zustand der gesellschaftlichen Rechtstatsachen. Ist aber der Staat ein Organ der Gesellschaft und folgt dementsprechend das staatliche Recht der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung und Machtlage 51 , und ist ferner der Jurist ein Vertreter der Gesellschaft, der die Rechtssätze aus den gesellschaftlichen Rechtsnormen formt 52 , dann kann der Schwerpunkt jeder Rechtsentwicklung nach Ehrlich 53 , und damit kommen wir zum Schluß an unseren Ausgangspunkt zurück, weder in der Staatstätigkeit noch in der Tätigkeit der Juristen gesehen werden, sondern allein in der gesellschaftlichen Entwicklung, also in Seinsveränderungen innerhalb der Gesellschaft.
1986, S. 129. In der „Grundlegung" (S. 379) hat Ehrlich dann den Ausdruck „Gewohnheitsrecht" zugunsten von „gesellschaftliches Recht" mit der Begründung aufgegeben, daß ein von der herkömmlichen Jurisprudenz so bunt zusammengesetzter Begriff unbrauchbar sei. 47 Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts, ebd. S. 121. 48 So ebd. S. 122. 49 Grundlegung, S. 33. 50 Grundlegung, Kapitel I. 51 Ebd. S. 124 f. 52 Ebd. S. 159, 171. 53 Ebd. S. 313 f.
Dritter Abschnitt § 7 Ehrlichs Auffassung von Aufgaben und M e t h o d e n der Rechtssoziologie 1
Ehrlichs soziologische Rechtstheorie, so wie sie im vorstehenden aus seinen oft recht verschlungenen, wenn auch immer fesselnd geschriebenen Ausführungen herausgearbeitet wurde, läßt seine Vorstellung von Aufgaben und Methoden der Rechtssoziologie hinreichend klar erkennen. Er lehnt den Rechtsbegriff der juristischen Praxis als zu eng ab und fordert die wissenschaftliche Erfassung der gesamten Rechtswirklichkeit 2 . Diese sieht er im „lebenden Recht" der menschlichen Verbände, das in erster Linie aus Organisationsnormen und erst in zweiter Linie aus Verwaltungs- und Entscheidungsnormen besteht. Also darf sich die Rechtswissenschaft für ihn auch nicht in der Darstellung dessen erschöpfen, was das Gesetz vorschreibt, sondern muß sich zur Aufgabe stellen, das zu beschreiben, was wirklich geschieht 3 . Auf diese Weise wird überlebendes altes Recht aufgefunden, das zwar nicht mehr vor Behörden oder Gerichten gilt, das aber das Sozialleben weiter bestimmt 4 . Oder es werden Keime neuen Rechts entdeckt 5 .
1. Rechtssoziologie als empirische Rechtswissenschaft
Was im Sozialleben wirklich geschieht, kann nur im Wege der Induktion, also durch Beobachtung ermittelt werden 6 . Als Beobachtungswissenschah kann die Rechtssoziologie an drei Punkten der Rechtswirklichkeit ansetzen: an den Rechtstatsachen, an den Rechtssätzen und an den gesellschaftlichen Kräften, die zur Rechtsbildung führen 7 . Die Beobachtung der Rechtswirklichkeit an einem dieser drei Punkte setzt zunächst voraus, daß der Rechtsstoff in Organisationsnormen und in Normen zweiter Ordnung unterschieden wird 8 . 1 2 3 4 5 6 7 8
Vgl. zum folgenden Grundlegung, Kap. X X und XXI. Grundlegung, S. 131. Ebd. S. 398. Ebd. S. 403. Ebd. S. 404. Ebd. S. 381. Ebd. S. 382. Ebd. S. 33.
76
. Kap.: Eugen Ehrlich als
a) Die Erforschung
soziologe
der Rechtstatsachen
Die Organisationsnormen lassen sich am jeweiligen Zustand der Rechtstatsachen ablesen, also an der Übung, die dem Einzelnen innerhalb seiner Verbände seine Stellung und seine Aufgaben zuweist, an den Herrschaftsund Besitzverhältnissen sowie den Willenserklärungen (Verträgen, Satzungen, letztwilligen Anordnungen). Als besonders lohnende Forschungsgebiete nennt Ehrlich die Lebensverhältnisse des ehelichen Güterrechts, des Pachtrechts, der Agrarverfassung und des Familienrechts 9 , für in weiten Teilen schon gut beobachtet hält er das Handelsrecht und das Erbrecht 10 . Aus den Rechtstatsachen lassen sich durch unmittelbare Beobachtung die Regeln des Handelns entnehmen, die die jeweiligen Lebensverhältnisse bestimmen. „Für die Normen, die sie so unmittelbar den Organisationen entnimmt, hat sich in der gemeinrechtlichen deutschen Jurisprudenz, zumal seit Beginn des XIX. Jahrhunderts, der Ausdruck: Natur der Sache eingebürgert 11 ." Versteht man den schillernden und daher unbrauchbaren Ausdruck „Natur der Sache" 12 in dieser Weise, so kann man sagen, daß die Rechtssoziologie auf der Suche nach einem „Naturrecht" ist 1 3 . Deshalb meint auch Ehrlich, daß das weltliche Naturrecht des aufstrebenden Bürgertums (Vernunftrecht) der erste große Versuch einer Soziologie des Rechts gewesen sei 14 . Während er aber anfänglich noch forderte, daß die sich aus der Natur der Sache ergebenden Normen vom Recht als Rechtsnormen anerkannt sein müßten 15 , lehnt er später, wie bereits gezeigt, das Erfordernis der Anerkennung durch Normen zweiter Ordnung ab und spricht diesem „Naturrecht", das er „lebendes Recht" nennt, bereits Rechtsqualität zu. Sein „lebendes Recht" ist aber von der Einzelbeobachtung herrührend und daher ganz konkret, also nicht zu verwechseln mit „Gewohnheitsrecht" oder „Verkehrssitte", die ihrerseits bereits Verallgemeinerungen der konkreten Einzelbeobachtung darstellen 16 . Die Beobachtung von Rechtstatsachen ist mittelbar oder unmittelbar möglich. Eine mittelbare Beobachtung setzt an äußeren Manifestationen an. W i r sahen in § 2 der Darstellung, daß Ehrlich bei seiner Rechtstatsachenfor9
Ebd. S. 396. Ebd. S. 398. 11 Ebd. S. 287. 12 Umfassend dazu Ottmar Ball weg: Zu einer Lehre von der Natur der Sache, 2. Aufl. 1963. 13 In diesem Sinne Fechner: Die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaft für die Grundfrage des Rechts, in Maihofer (Hg.): Naturrecht oder Rechtspositivismus, 1962, S. 257-280. 14 Die juristische Logik, 1918, S. 315. 15 Über Lücken i m Rechte (1888), in Recht und Leben, 1967, S. 144. 16 Grundlegung, S. 405. 10
3. Abschn.: Auffassung von Aufgaben und Methoden der Rechtssoziologie
77
schung sich zunächst dem Studium der nationalen und internationalen Rechtspraxis zuwandte, wie sie sich in gerichtlichen Urteilen äußerte 17 . In der Tat kann das Gerichtsurteil ein Zeugnis lebendes Rechts sein; nur muß es anders gelesen werden, als es noch heute in der Rechtswissenschaft ausschließlich geschieht. Heute „wird es nicht behandelt als Zeugnis lebendes Rechts, sondern als Stück der juristischen Literatur, das nicht auf die Wahrheit der darin geschilderten Rechtsverhältnisse und das daraus gezogene lebende Recht, sondern auf die Richtigkeit der darin enthaltenen Auslegung der Gesetze und der juristischen Konstruktionen geprüft wird 1 ' 1 8 . Liest man dagegen die Entscheidungen mehr auf ihre tatsächlichen Feststellungen hin, dann kann man daraus nützliche Einblicke in das lebende Recht gewinnen. Diese Einblicke müssen allerdings durch weitere Beobachtungen ergänzt werden; denn man muß sich stets bewußt bleiben, daß das streitige Rechtsverhältnis, das vor Behörden und Gerichte gelangt, nicht der Normalfall ist und durch den Streit als solchen sowie seine Behandlung im Rechtsgang meist verzerrt ist 1 9 . Bessere Ergebnisse als die Analyse von Gerichtsentscheidungen wird daher die Durchsicht von Rechtsurkunden bringen, die ja gerade zur Verhütung von Rechtsstreitigkeiten entworfen werden: „Ein Blick in das Rechtsleben zeigt, daß es ganz überwiegend nicht vom Gesetze, sondern von der Urkunde beherrscht wird. Das ganze nachgiebige Recht wird vom Urkundeninhalt verdrängt. In den Ehepakten, Kauf-, Pacht-, Baukredit-, Hypothekendarlehensverträgen, in den Testamenten, Erbverträgen, Satzungen der Vereine und Handelsgesellschaften, nicht in den Paragraphen der Gesetzbücher muß das lebende Recht gesucht werden. ... Vor allem hätte eine moderne Privatrechtswissenschaft die Urkunden auf ihren allgemeinwichtigen, typischen, immer wiederkehrenden Inhalt zu prüfen, ihn juristisch zu behandeln, sozial-, wirtschafts- und gesetzgebungspolitisch allseitig zu würdigen. Außerdem hätte sie aber auch ein Bild dessen zu geben, was im ganzen Reiche auf dem Gebiete der Urkunde vorgeht. Obwohl im allgemeinen zum Teile übereinstimmend, sind doch die Urkunden i m einzelnen sehr verschieden, nach Gegenden, Klassen, Ständen, Volksstämmen, Glaubensbekenntnissen. Hier heißt es wohl mit den Mitteln der Urkundenforschung die Aufgaben einer Rechtsstatistik zu erfüllen 20 ." Doch auch die Urkundenforschung darf nicht zu voreiligen Schlüssen verführen, sondern muß durch weitere Beobachtungen ergänzt werden. Denn nicht der ganze Inhalt einer Urkunde ist auch lebendes Recht. Leben17
Vgl. Lücken (N 15), S. 162 ff. Grundlegung, S. 399. 19 Ebd. S. 400. 20 Ein Institut für lebendes Recht (1911), in Recht und Leben, 1967, S. 34-36; ähnlich Grundlegung, S. 400 f. 18
78
. Kap.: Eugen Ehrlich als
soziologe
des Recht ist nur derjenige Teil, an den sich die Parteien im Leben halten. Oft finden sich in den notariellen Urkunden eine Reihe von Klauseln, die der Notar aus seinem Formularbuch hat abschreiben lassen, ohne daß sie dem Willen der Parteien entsprechen oder notwendig sind. Sie sind genauso totes Recht wie ein nicht angewandtes Gesetz. Auch lassen viele Urkunden ihre praktischen Auswirkungen nicht erkennen: „Vermöchte jemand aus den Satzungen der Vereine oder Aktiengesellschaften zu entnehmen, daß die auf dem Papiere so allmächtigen Mitgliederversammlungen sich meistens als ganz bedeutungslose Jasagergesellschaften entpuppen 21 ?" Es bleibt für Ehrlich letztlich nichts anderes übrig: man muß von den mittelbaren Beobachtungen stets auch zur unmittelbaren Beobachtung übergehen, sich mit eigenen Augen von den Rechtstatsachen überzeugen und Befragungen vornehmen 22 . Nur dann wird man das lebende Recht wirklich erfassen können. Wenn man dann aus Einzelbeobachtungen durch vorsichtige Verallgemeinerung das Typische ableitet, dann entdeckt man auf einmal ganz neue Rechtsinstitute. Nur so dürfte die juristische Literatur vorgehen: „Wir hätten dann wohl über den Bierversilberer der Bierbrauereien oder den Rübenrayonnierungsvertrag der Zuckerfabriken oder über den Verkauf der ärztlichen Praxis mehr Monographien als über den Begriff der juristischen Person oder die Konstruktion des Pfandrechts an eigener Sache 23 ." Dem Umstand, daß in dieser Weise gearbeitet wurde, verdanken wir zwei neue Rechtsgebiete, die inzwischen als selbständige Lehrfächer in den Universitäten vertreten sind, nämlich das Arbeitsrecht und das Wirtschaftsrecht 24 .
b) Die Erforschung von Ursprung und Wirkung der Rechtssätze Der zweite Punkt, an dem die Rechtssoziologie als Beobachtungswissenschaft ansetzen kann, ist der Rechtssatz. Jedoch wird er „bloß als Tatsache, also nur nach einem Ursprung und seiner Wirkung, nicht auf seine praktische Anwendung und Auslegung hin betrachtet" 25 . Die Frage nach dem Ursprung ist die Frage nach der Rechts entstehung und gehört in den Bereich der genetischen Rechtssoziologie. Die Frage nach der Wirkung ist die Frage 21
Grundlegung, S. 402. „Es ist allerdings eine harte Zumutung an den Juristen, wenn man nun von ihm verlangt, er möge es versuchen, auch aus eigener Wahrnehmung zu lernen, nicht aus Paragraphen und aus Aktenfaszikeln; aber das ist eben unvermeidlich", Grundlegung, S. 403. 23 Grundlegung, S. 400. 24 Vgl. die Literaturzusammenstellung bei Rehbinder: Entwicklung und gegenwärtigen Stand der rechtssoziologischen Literatur, in KZfSS 16 (1964), S. 533, 549. 25 Grundlegung, S. 382. 22
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nach der Effektivität. Sie gehört in den Bereich der operationalen Rechtssoziologie, die sich mit dem Recht als Regulator des Soziallebens beschäftigt (impact research). Die Rechtssätze, die auf diese Weise beobachtet werden, können dem nationalen, aber auch den Auslandsrechten entnommen werden. Die Durchbrechung der Schranke des nationalen Rechts ist notwendig, wenn man, wie die Volkswirtschaftlehre, die sich ebenfalls nicht auf Beobachtungen im nationalen Bereich beschränkt, zu einer „allgemeinen Rechtswissenschaft" (wissenschaftlichen Jurisprudenz oder soziologischen Rechtswissenschaft) vorstoßen will 2 6 . Diese dringt durch die jeweiligen nationalen Rechtssätze hindurch auf die Rechtsverhältnisse vor und versucht, nach Vergleich dieser Rechtsverhältnisse Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten auf der Suche nach Ursache und Wirkung in einer allgemeinen Rechtssprache festzuhalten, die unabhängig von den Rechtssätzen einer nationalen Rechtsordnung ist 2 7 , eine A r t Esperanto zur Beschreibung des faktischen Rechtszustandes, die Fachsprache einer „Morphologie der rechtlichen Gestaltungen des gesellschaftlichen Lebens" 28 . Es geht bei der „allgemeinen Rechtswissenschaft" wohlbemerkt nicht darum, durch formalistische Abstraktionen, etwa im Sinne der Begriffsjurisprudenz oder der analytischen Schule eines Austin, eine Art „Allgemeinen Teil" aus den nationalen Rechtsordnungen herauszukristallisieren 29 , sondern darum, die jeweiligen rechtlichen Lebensverhältnisse in einer gemeinsamen Rechtssprache zu beschreiben 30 . Kann Rechtssoziologie in dieser Weise als eine besondere A r t von Rechtsvergleichung betrieben werden, so kann sie ebenso ihr Material der Rechtsgeschichte entnehmen. Dabei muß man jedoch von einer bloßen Geschichte des Rechtssatzes, einer Quellen- und Dogmengeschichte, zur Geschichte der Rechtseinrichtungen vordringen. Das gilt sowohl für die eigentliche Geschichte als auch für die Vorgeschichte (Ethnologie). Überall heißt es: Weg von den Rechtsaltertümern und hin zur rechtlich relevanten Wirtschafts- und Kulturgeschichte 31 . Erst auf diese Weise erlangen wir das erforderliche Tatsachenwissen. Denn wir müssen in Rechnung stellen, daß die Rechtssätze, insbesondere die Gesetze, meist schon zur Zeit ihrer Schaffung bereits überholt sind und niemals das gesamte lebende Recht widerspiegeln 32 . Rechtsgeschichte hat ja überhaupt nur dann 26
Ebd. S. 385 f. Zum Thema Rechtsvergleichung und Rechtssoziologie siehe die Beiträge in U. Drobnig/M. Rehbinder (Hg.): Rechtssoziologie und Rechtsvergleichung, 1976. 28 Grundlegung, S. 385. 29 Deshalb hat Ehrlich den anfänglich verwendeten Ausdruck „allgemeine Rechtslehre" (Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903, in Recht und Leben, 1967, S. 185), der auf ein dogmatisches Anliegen hinweist, später zugunsten der Bezeichnung „allgemeine Rechtswissenschaft" aufgegeben, vgl. Grundlegung, S. 388. 30 Grundlegung, S. 391 f. 31 Ebd. S. 383 f. 32 Ebd. S. 394. 27
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einen praktischen Wert, wenn sie auf diese Weise zur Hilfswissenschaft der Rechtssoziologie wird 3 3 . Denn wenn wir mit der historischen oder ethnologischen Methode eine Lehre von der Rechtsentwicklung aufstellen können, dann können wir auch unseren heutigen Rechtszustand als Ergebnis eines bestimmten Entwicklungsprozesses besser in seiner Struktur begreifen 34 . Es zeigt sich auch hier, daß bei jeder Beobachtung hinter den Rechtssatz auf die Rechtstatsachen zurückgegriffen werden muß.
c) Die Erforschung der gesellschaftlichen der Rechtsentwicklung
Kräfte
Beim dritten und letzten Ansatzpunkt rechtssoziologischer Beobachtung, den Ehrlich in den gesellschaftlichen Kräften sieht, die zur Rechtsbildung führen, muß schließlich versucht werden, das Auseinanderklaffen von Rechtssatz und Rechtstatsachen als Momentaufnahme eines fortwährenden gesellschaftlichen Prozesses zu begreifen. Sind die Rechtstatsachen den Rechtssätzen vorausgeeilt, kann man also mit Ogburn von einem cultural lag sprechen, so sind die Kräfte zu beobachten, die die Umgestaltung der Rechtstatsachen bewirkt haben. Sind umgekehrt die Rechtssätze dem Zustand der Rechtstatsachen voraus und werden sie dementsprechend vom Rechtsstab als Hebel des Soziallebens benutzt (social engineering), dann müssen die Kräfte beobachtet werden, die hinter diesen Eingriffen in die selbsttätige Ordnung des Soziallebens stehen. In beiden Fällen sind diese Kräfte die eigentlichen Gründe für den Aufbau der Rechtssätze; denn der höchstpersönliche Anteil des Autors eines Rechtssatzes ist gegenüber den Umwelteinflüssen äußerst gering, weil „selbst das eigenartigste Genie ein Ergebnis der Einflüsse seiner Umwelt ist" 35 . Ehrlich hat die Kräfte hinter der Entwicklung der Rechtssätze auch kurz mit dem mehr statischen Ausdruck „gesellschaftliche Machtverhältnisse" bezeichnet. Doch sei hier bereits betont, daß er die materialistische Geschichtsauffassung ausdrücklich als zu eng ablehnt, da sie die nichtwirtschaftlichen Einflüsse vernachlässige 36 . Zu den Methoden einer Beobachtung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die zu Rechtsbildungen führen, macht er keine besonderen Angaben, wie er überhaupt die Methodenfrage ausdrücklich offenläßt und nur als Beispiele 33 Zum Thema Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie siehe die Beiträge in M. Killias/M. Rehbinder (Hg.): Rechtsgeschichte und Rechtssoziologie. Zum Verhältnis von Recht, Kriminalität und Gesellschaft in historischer Perspektive, Berlin 1985. 34 Grundlegung, S. 407. Widersprüchlich dazu auf den ersten Blick die Ausführungen auf S. 395, dazu aber näher M. Rehbinder in Killias/Rehbinder (N 33), S. 142 f. 35 Grundlegung, S. 172. 36 Ebd.
3. Abschn.: Auffassung von Aufgaben und Methoden der Rechtssoziologie
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auf die Möglichkeiten geographischer Vergleiche (Le Play, Ratzel) oder psychometrischer Experimente bei der Beobachtung des Gerechtigkeitsgefühls (Fechner-Wundt) hinweist 37 .
2. Rechtssoziologie als theoretische Rechtswissenschaft
Ziel des empirischen Vorgehens der Rechtssoziologie ist aber für Ehrlich — wie eben gezeigt — nicht die bloße Anhäufung von Tatsachenwissen. Diese ist vielmehr nur die Voraussetzung für den Aufbau einer Theorie des lebendes Rechts. So will er die Rechtstatsachen durch unmittelbare Beobachtung des Gruppenlebens und Befragungen sowie durch Inhaltsanalyse von Gerichtsurteilen und anderen Rechtsurkunden erheben, um dann durch Verallgemeinerung der konkreten Beobachtungen zur Schilderung von „typischen" Rechtsinstituten vorzudringen wie z. B. dem Verkauf der ärztlichen Praxis 38 . So will er bei der Erforschung von Ursprung und Wirkung der Rechtssätze (unter Zuhilfenahme von Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte) die Gemeinsamkeiten als „Morphologie der rechtlichen Gestaltungen" herausarbeiten und verweist dazu u. a. neben den französischen Arbeiten von Saleilles, Gény und Lambert auf die 1904 in erster Auflage erschienene „Allgemeine Rechtslehre" des Freirechtlers Theodor Sternberg 39. Als Beispiel für eigene Arbeit in dieser Richtung sei auf Ehrlichs Vortrag: Zur Frage der juristischen Person 40 verwiesen, wo er nach soziologischer Analyse des bekannten Theorienstreits eine ultra vires-Lehre entwickelt, die von großer praktischer Bedeutung ist.
3. Die Abgrenzung der Rechtssoziologie als wissenschaftlicher Jurisprudenz von der praktischen Jurisprudenz
Abschließend muß noch auf Ehrlichs Stellungnahme zur Abgrenzung der Rechtssoziologie von den übrigen Wissenschaftszweigen eingegangen 37 Grundlegung, S. 408 f. In der Anwendung der psychologischen Methode ist dann später Karl Haff (Rechtspsychologie, 1924) weitergegangen, der sich ausdrücklich auf Ehrlich beruft (ebd. S. 3). Siehe auch die Ausführungen Ehrlichs zu den gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsmethoden in Der Gang der Culturentwicklung, Neue Revue V I I 1 (1896), S. 690-696. 38 Siehe dazu jetzt die Arbeit meines Schülers Urs Brunner: Die Veräußerung einer ärztlichen Praxis, Diss. Zürich 1985. 39 Soziologie und Jurisprudenz (1906), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 101 Ν 3. 40 1907, Gesetz und lebendes Recht, S. 133-145. Siehe auch Ehrlich : Der Raimundtheaterfall, Das Recht V I (Wien 1907/08), S. 225-229.
6 Rehbinder, 2. Aufl.
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werden. Der eigentliche Grund, warum Ehrlichs Auffassungen von den Rechtsdogmatikern als zersetzend empfunden wurden, liegt m. E. in seiner oft mißverstandenen Feststellung, die Rechtssoziologie sei die eigentliche Wissenschaft vom Recht, die Interessenabwägung, mit der die praktische Jurisprudenz arbeiten müsse, sei unwissenschaftlich 41 . Das muß bei der heutigen „Wissenschaftsgläubigkeit" tatsächlich als ungeheure Abwertung verstanden werden, ist aber keinesfalls so gemeint. Denn Ehrlich ist in diesen und ähnlichen Äußerungen nur folgerichtig, weil er zwischen (theoretischer) Wissenschaft und (praktischer) Kunstlehre unterscheidet. Diese Unterscheidung ist leider bis heute nicht gebräuchlich, obwohl ihr eine durchaus richtige und heute von der herrschenden Meinung geteilte Auffassung von der Rolle der Werte in den Sozialwissenschaften zugrunde liegt. Das ist näher auszuführen. Ehrlich beginnt seine Rechtssoziologie mit der Unterscheidung des praktischen Rechtsbegriffs vom wissenschaftlichen Rechtsbegriff. Genauso wie die Naturwissenschaften als reine Wissenschaften von den handwerklichen Lehren der Medizin oder Technik zu scheiden sind, muß auch die Rechtswissenschaft von der praktischen Rechtslehre unterschieden werden. Diese Scheidung, sagt Ehrlich, sei bisher noch nicht eindeutig vorgenommen worden: „Mit dieser Scheidung ist aber die selbständige Wissenschaft vom Recht begründet, die nicht praktischen Zwecken dienen will, sondern der reinen Erkenntnis, die nicht von Worten handelt, sondern von Tatsachen 42 ." Die Wissenschaft vom Recht ist also eine „reine", d. h. theoretische Rechtslehre. Demgegenüber ist die praktische Jurisprudenz „die Kunst, das Recht den besonderen Bedürfnissen des Rechtslebens dienstbar zu machen" 43 . Unter dem Schlagwort Jurisprudenz hat man bisher beides betrieben: reine Wissenschaft und praktische Kunstlehre. Allerdings trat die Wissenschaft allenfalls als Abfallprodukt und am Rande in Erscheinung. Ehrlich schließt sich insoweit Paulsen an, der zur Frage der Universitätsreform einmal bemerkte, die juristischen Fakultäten seien „technische Bildungsanstalten für Richter und Beamte" 44 . Neben den technischen Kunst41
Grundlegung, S. 19, 292. Ebd. S. 1. 43 Ebd. S. 198. 44 Ebd. S. 4. Man möchte nur wünschen, daß sie dies auch als ihre Aufgabe begreifen würden. Dann würden die Lehrveranstaltungen endlich eine solide Rechtstechnik vermitteln. Erst auf der Grundlage einer genauen Kenntnis der Rechtstechnik kann in einem postgraduate-Studium in die Rechtswissenschaft eingeführt werden; denn Wissenschaft setzt didaktisch Technik voraus. So aber wird schon am Anfang das juristische Handwerkszeug in einer für den jungen Studenten nicht durchschaubaren und verwirrenden Weise mit einer „wissenschaftlichen" Sauce übergössen, die aus kaum mehr als aus („historischem") Bildungsballast besteht. Damit gibt man der akademischen Jugend Steine statt Brot und braucht sich deshalb nicht zu wundern, daß seit den Zeiten Ehrlichs (vgl. § 1 Ν 47) die juristische Ausbildung beim Repetitor stattfindet. 42
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lehren für die verschiedenen juristischen Berufe muß aber auch die theoretische Rechtswissenschaft als selbständiges Fach im Universitätsbereich gepflegt werden. Da nun das Recht eine Sozialordnung ist, könnte man die theoretische Rechtswissenschaft als Gesellschaftswissenschaft bezeichnen. Doch das würde für Ehrlich auch auf die Rechtstechnik zutreffen. Denn „unter Gesellschaftswissenschaft begreift man gegenwärtig jede A r t der Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft, sie mag theoretisch oder bloß praktisch sein, also nicht bloß die theoretische, sondern auch die praktische Volkswirtschaftslehre (die sogenannte Nationalökonomie), die Statistik, die Politik. Für die Gesamtheit der theoretischen Gesellschaftswissenschaften ist seit etwa einem Jahrhundert, durch den französischen Philosophen Auguste Comte, die Bezeichnung Soziologie aufgekommen" 45 . Also muß Ehrlich die theoretische Rechtswissenschaft als Rechtssoziologie und alle praktischen Richtungen der Jurisprudenz als angewandte Sozialwissenschaften bezeichnen 46 . Die Rechtssoziologie ist folgerichtig die wissenschaftliche Grundlage für die praktische Jurisprudenz 47 : „Die Soziologie ist berufen, der praktischen Jurisprudenz und der Rechtspolitik das zu werden, was die Naturwissenschaften heute schon der Heilkunst und der Technik sind: ihre wissenschaftliche Grundlage. Allmählich werden sich die juristischen Fakultäten in demselben Sinne in gesellschaftswissenschaftliche verwandeln, in dem die medizinischen Fakultäten und technischen Hochschulen 48 heute schon eigentliche Stätten wissenschaftlicher Forschung und Lehre sind. Ein bescheidener Anfang ist dort gemacht worden, wo die Volkswirtschaftslehre 49 , derzeit der am meisten entwickelte Zweig der Gesellschaftswissenschaften, in die juristische Fakultät aufgenommen worden ist. Jedenfalls glaube ich mit dem Ausdrucke der Hoffnung schließen zu dürfen, daß in einem Vierteljahrhundert die Soziologie des Rechts, unter 45 Grundlegung, S. 18 f. Ehrlich folgt hier ausdrücklich dem weiten Soziologiebegriff (vgl. auch Gutachten für den 31. Dt. Juristentag, 1912, in Recht und Leben, 1967, S. 63) und fährt fort: „Es fehlt zwar nicht an Versuchen, der Soziologie einen besonderen Inhalt zu geben, sie zu einer eigenen Wissenschaft zu machen, die in einer Zusammenfassung des Inhalts aller theoretischen Gesellschaftswissenschaften, zu einer Einheit, gewissermaßen in einem einheitlichen ,allgemeinen Teil 1 der Gesellschaftswissenschaft bestehen würde. Eine solche Wissenschaft mag an sich berechtigt sein; es empfiehlt sich aber nicht, sie Soziologie zu nennen, denn dann würde man einen anderen Namen für die Gesamtheit der theoretischen Gesellschaftswissenschaften finden müssen." 46
So Logik (N 14), S. 310. Grundlegung, S. 273. 48 Hier ist auch an die Entwicklung der Handelshochschulen zu erinnern. 49 Ehrlich weist darauf hin, daß Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre zwar mit denselben gesellschaftlichen Erscheinungen zu tun haben, beide diese Gegenstände aber in anderen Richtungen untersuchen: die Volkswirtschaftslehre wirtschaftliche Bedeutung und Tragweite, die Rechtswissenschaft rechtliche Regelung und Rechtsfolgen (so Grundlegung, S. 407). 47
6*
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diesem oder einem andern Namen, im Lehrplane keiner juristischen Fakultät fehlen wird 5 0 ." Wenn Ehrlich die Rechtssoziologie als Grundlagenwissenschaft für Rechtspraxis und Rechtspolitik begreift, so liegt dem, wie gesagt, bereits eine richtige Erkenntnis der Rolle der Werte in den Sozialwissenschaften zugrunde. Die unabhängig vom praktischen Nutzen gewonnene Erkenntnis des lebenden Rechts in seiner Ordnungsfunktion und die Kenntnis seiner Entwicklungsgesetze sind die unabdingbare Voraussetzung einer wissenschaftlich begründeten Kunst der Gesetzgebung 51 . Desgleichen ist die umfassende Kenntnis der gesellschaftlichen Rechtsverhältnisse Voraussetzung einer wissenschaftlich begründeten Rechtsfindung. Die Rechtssoziologie verzeichnet aber lediglich die Tatsachen, sie bewertet sie nicht 5 2 . Sie kann als Wissenschaft über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Wertentscheidung nichts aussagen 53 . Die Erörterung dessen, welche Werte mit Hilfe der Rechtsordnung anzustreben seien, ist Sache der Rechtsphilosophie: „Hat die Rechtsphilosophie die Rechtsbildung tatsächlich beeinflußt, und das ist gewiß oft genug geschehen, so ist das eine gesellschaftliche Tatsache, die dem Soziologen nicht entgehen darf: er hat sie zu beobachten, sie auf ihre Ursachen und Wirkungen zu prüfen. Aber die Frage selbst, wie das Recht sein soll, liegt außer dem Gebiete der Soziologie, denn das läßt sich weder nach wissenschaftlicher Methode beschreiben noch beweisen. Was wir sollen, ist nicht eine Frage der Erkenntnis, sondern der Willensbeeinflussung, nicht der Forscher befaßt sich damit, sondern der Religionsstifter, der Prophet, der Sittenprediger 54 ." Auch die praktische Rechtsfindung liegt außerhalb einer wissenschaftlichen Rechtslehre, weil sie Wertentscheidungen zu treffen hat: „Die Beobachtung und Verallgemeinerung des Juristen geht nicht unbefangen im wissenschaftlichen Geiste vor sich, sondern steht im vorhinein im Banne der Machtverhältnisse, Zweckmäßigkeitserwägungen und Gerechtigkeitsströmungen, die das Normfinden bestimmen; und infolgedessen ist die juristische Beobachtung und Verallgemeinerung im vorhinein auf andere Gegenstände gerichtet, und liefert auch andere Ergebnisse, als es bei der wissenschaftlichen der Fall wäre. Die Absicht der praktischen Juristen ist nämlich gar nicht auf ein wissenschaftliches ,so ist es', sondern auf ein praktisches: ,so soll es sein' gerichtet 55 ." Wenn die praktische Juris50
Soziologie des Rechts (1913/14), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 194. Grundlegung, S. 196, 331. 52 Ebd. S. 314. 53 Vgl. denselben Gedanken später bei Karl N. Llewellyn: Jurisprudence. Realism in Theory and Practice, Chicago 1962, S. 87: „Science does not teach us where to go. It never will." 54 Soziologie des Rechts (Ν 50), S. 179 f. 55 Grundlegung, S. 289 f. 51
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prudenz aber infolge des Wertungsvorganges, über dessen Richtigkeit die Rechtssoziologie als Wissenschaft nichts aussagen kann, so streng von der Rechtssoziologie zu unterscheiden ist, dann mußte Ehrlich eingehend dazu Stellung nehmen, welche Bedeutung seine Rechtssoziologie denn überhaupt für den praktischen Juristen haben könne.
Zweites Kapitel
Eugen Ehrlich als soziologischer Jurist Die strenge Trennung von Rechtssoziologie und praktischer Jurisprudenz führte also zu der Frage, in welcher Weise die Rechtsrealität, d. h. das in den Rechtstatsachen „lebende Recht", im Rahmen der praktischen Rechtsanwendung zu berücksichtigen sei, welche doch von den Rechtssätzen und damit von einer postulierten Rechtsidealität auszugehen hat. Diese Frage nach dem Übergang von der (rechtssoziologischen) Tatfrage (quid facti?) zur (normativen) Rechtsfrage (quid iuris?) ist die Kernfrage der soziologischen Jurisprudenz. Die soziologische Jurisprudenz ist eine angewandte Rechtssoziologie, und zwar die Lehre von der soziologisch orientierten Aufstellung, Anwendung und Durchsetzung der Rechtsnormen durch den Rechtsstab 1 . Ihre Aufgabe ist nach Ehrlich die einer praktischen „Unterweisung, die vom Wissen zum Können eine Brücke schlägt" 2 . Für ihn stand, wie dann später auch für die anderen Rechtssoziologen, der Richter im Mittelpunkt der Betrachtung. Er behandelt daher nur die Methode der richterlichen Rechtsfindung. Hier wurde er — ausgehend von seiner Jugendschrift „Über Lücken im Rechte" (JB1. 1888) — zum Begründer und einem der Hauptvertreter der sogenannten Freirechtsschule 3 , der er mit seiner Programmschrift „Freie 1 Vgl. zur Trennung von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz M. Rehbinder: Die Rechtstatsachenforschung im Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz, in Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), S. 333-359. 2 Soziologie und Jurisprudenz (1906), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 101. 3 Siehe oben § 1 bei Ν 52 mit Nachweisen. Gelegentlich wird heute noch Oskar Bülow als der erste Freirechtler bezeichnet. Über diesen heißt es in einem Brief von Ehrlich an Kantorowicz aus dem Jahre 1911 (oben § 1 Ν 16): „Übrigens wird der große Mann, wie ich glaube, ungeheuer überschätzt . . . Wer Gesetz und Richter (1885) für eine Ankündigung der freirechtlichen Bewegung hält, von dem behaupte ich, daß er es wenigstens nicht ordentlich gelesen hat. Löst man den armseligen Gedanken aus dem blumenreichen Wortschwall heraus, so lautet er: Jede Anwendung einer allgemeinen Regel auf einen konkreten Fall ist eine schöpferische Gedankenarbeit; da die Tätigkeit des Richters im wesentlichen darin besteht, so ist sie schöpferisch. Übrigens bleibt ein richterliches Urteil auch dann bestehen, wenn es das Gesetz unrichtig anwendet, sobald es nur rechtskräftig wird: dann hat es aber offenbar gegen das Gesetz Recht geschaffen. Wenn Sie diese Leistung auch noch so hoch stellen, so weiß ich noch immer nicht, was sie eigentlich mit der freirechtlichen Bewegung zu tun hat: aber ich bin offenbar nicht im Stande, sie nach Gebühr zu
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2. Kap.: Eugen Ehrlich als soziologischer Jurist
Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft" (Leipzig 1903) den Namen gab. Diese Schule kämpfte mit großer Erbitterung und gelegentlich über das Ziel hinausschießend gegen die oft in Begriffsmathematik und leere Sophistik erstarrte Jurisprudenz der damaligen Zeit. Ihr Anliegen läßt sich mit Theodor Sternberg 4 in 5 Forderungen zusammenfassen: Theorie der Rechtslücken 5 , soziologische Methode der Rechtsfindung 6 , Reform des Rechtsstudiums durch realwissenschaftliche Ausbildung der Juristen 7 , Erhöhung der Persönlichkeit des Richters durch Charakterbildung 8 und Justizreform 9 .
§ 8 Die Freirechtsschule als Bekämpfung der Begriffsjurisprudenz 1. Die gesellschaftliche Ursache für das Dogma von der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung
Auch heute noch finden wir in juristischen Argumentationen immer wieder Rückfälle in die damalige sogenannte Begriffsjurisprudenz 10 . Diese ging von dem erstmals bei Brinz formulierten Dogma der Geschlossenheit des Rechtssystems 11 oder besser: der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung aus und sah ihre Aufgabe darin, jede rechtliche Einzelentscheidung aus der Begriffspyramide 12 des Rechtssystems streng formal nach den Regeln der juristischen Logik abzuleiten 13 . Ehrlich wies die kulturelle Verspätung dieser juristischen Methodenlehre nach, indem er darlegte, daß die Lückenlosigkeit würdigen. Mir scheinen beide Gedanken Trivialitäten, die auf der Straße herumliegen. Jedenfalls wäre es gut, wenn Sie in Ihrer Geschichte (der Freirechtsbewegung) oder sonst an einem gelesenen Orte die .bahnbrechende Tat' Bülows ein wenig auf ein richtiges Maß zurückführen." 4 Einführung in die Rechtswissenschaft I, 2. Aufl. 1912, Neudruck 1927, S. 135 ff. 5 Dazu Ehrlich: Über Lücken i m Rechte (1888), in Recht und Leben, 1967, S. 80 ff. 6 Dazu Ehrlich: Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903), ebd. S. 170 ff. 7 Dazu Ehrlich: Gutachten für den 31. Dt. Juristentag (1912), ebd. S. 61 ff. 8 Dazu Ehrlich verstreut in allen methodologischen Schriften, siehe auch Sternberg (N 4), S. 181-190, 182 Ν 1. 9 Dazu Ehrlich: Die Neuordnung der Gerichtsverfassung (1912), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 146-178. 10 Vgl. ζ. B. die Entscheidung der Vorinstanz i m Falle BVerwG JR 1966, S. 237. 11 Vgl. Ehrlich: Juristische Logik, 1918, S. 134. 12 Über Puchtas „Genealogie der Begriffe" als „Begriffspyramide des nach den Regeln der formalen Logik gebildeten Systems" vgl. die Darstellung bei Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 19-24. 13 Vgl. Ehrlich: Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 257-274, insbes. S. 270 f.
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des Rechtssystems lediglich ein Scheingebilde der juristischen Technik ist. Dieses Scheingebilde wurde erstmals zur Zeit der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland entworfen, als die gelehrten (studierten) Richter versuchten, das in freier richterlicher Rechtsfindung gewonnene, überkommene Recht durch die alten römischen Rechtsbücher zu verdrängen. Da diese Rechtsbücher lückenhaft waren, man andererseits aber das überkommene Recht gänzlich ausschließen wollte, füllte man die Lücken auf der Grundlage des römischen Rechts mit gelehrten Fiktionen und Konstruktionen und rechtfertigte dies mit dem Dogma von der Lückenlosigkeit des (römischen) Rechts 14. Dieses Dogma, das den Richter zur Rückführung jeder Entscheidung auf einen staatlichen Rechtssatz zwang, kam dann später der Rechtsauffassung der Landesfürsten entgegen, die den Richter als einen Beamten ansahen, der ihren Willen zu verkünden hatte (vgl. etwa Montesquieus Vorstellung vom Richter als Subsumtionsautomaten: „bouche de la loi"). Die Lehre von der Geschlossenheit des Rechtssystems ist für Ehrlich daher „ein Ausfluß des Verhältnisses des Richters zur gesetzgebenden Gewalt im absoluten Polizeistaat des 17. Jahrhunderts" 15 . Was war aber nun der Grund, daß die Lehre von der Bindung des Richters an den Rechtssatz gerade in der Begriffsjurisprudenz, also zur Zeit des Liberalismus ihren Höhepunkt erlebte, als der Absolutismus schon lange durch demokratische Staatsauffassungen ersetzt war? Ehrlich deutet das so: „Es steckt ein gutes Stück altliberalen Mißtrauens gegen den im Dienste des Staates stehenden Beamtenrichter, daß man ihn verpflichten will, seine Rechtsüberzeugung immer auf ein Gesetzeswort zu gründen 16 ." Das heißt: Die Verpflichtung des Richters auf ein streng-logisches Deduzieren in Begriffen hat einzig das Ziel, „wenn auch nicht immer ein gerechtes, so doch ein sicheres und vorhersehbares Recht zu schaffen und einen Schutz vor willkürlicher, parteiischer Handhabung des Rechts zu bieten" 17 .
2. Die Beliebigkeit einer rein logischen Rechtsfindung
A n dieser Stelle setzte nun die Kritik der Freirechtslehre an. Immer wieder und mit einer Fülle von Belegen führte sie den Nachweis, daß die Verpflichtung auf die juristische Logik ein ganz und gar untaugliches Mittel war, um die gewünschte Rechtssicherheit zu gewährleisten. Liegt nämlich ein Interessenwiderstreit vor, der von der Rechtsordnung bisher noch nicht aus14 Ehrlich: Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903), in Recht und Leben, 1967, S. 174 f. 15 Ehrlich : Die Neuordnung der Gerichtsverfassung ( 1912), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 146. 16 Freie Rechtsfindung (N 14), S. 196. 17 Ebd. S. 186.
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drücklich geregelt war, so ist eine Entscheidung mit Hilfe formallogischer Ableitungen von anderen Normen inhaltlich beliebig manipulierbar. Ob nämlich im Einzelfall z. B. ein argumentum e contrario oder eine Analogie geboten ist, läßt sich nicht (formal) mit den Mitteln der Logik, sondern nur aufgrund anderer (materieller) Prinzipien entscheiden. Zwar kann man der Begriffsjurisprudenz nicht vorwerfen, daß sie mit scharfen Begriffen arbeitet; denn ohne einen festen Begriffsapparat ist wissenschaftliches Denken überhaupt nicht möglich 18 . Begriffe werden aber empirisch aus einer bestimmten Wirklichkeit heraus entwickelt. Diese Wirklichkeit verändert sich ständig. Dadurch kann es geschehen, daß mit der Zeit bestimmten Begriffen das zugrundeliegende Wirklichkeitskorrelat fehlt. Ihre weitere Verwendung muß dann notwendig zu falschen Aussagen führen 19 . Außerdem verführt begriffliches Deduzieren dazu, ins MathematischSpielerische abzugleiten und über der Freude am Ästhetischen einer rein logischen Ableitung zu vergessen, daß jede Rechtsnorm Wertentscheidungen trifft, die bestimmte Interessen schützen sollen 20 . Ein besonders plastisches Beispiel für diese Gefahr ist jene von Ehrlich angegriffene Rechtsmeinung, „die Todeserklärung eines Verschollenen auf Antrag seiner Gattin sei unzulässig, wenn diese während der gesetzlichen Verschollenheitsfrist ein Kind geboren habe, da die Geburt des Kindes wegen der gesetzlichen Vermutung der Ehelichkeit als Nachricht vom Leben des Verschollenen zu gelten habe". Zu Recht sagt Ehrlich: „Die gesetzliche Vermutung der Ehelichkeit hat den Interessen des Gatten, der Gattin und des Kindes an der Ehelichkeit des während der Ehe geborenen Kindes zu dienen, der Rechtssatz über die Unzulässigkeit der Todeserklärung, wenn während der Verschollenheitsfrist eine Nachricht vom Leben des als tot zu Erklärenden eingelaufen wäre, wahrt die Interessen der Beteiligten daran, daß nicht ein Lebender für tot erklärt werde. Da diese Interessen miteinander offenbar nichts zu tun haben, so dürfen auch die Rechtssätze nicht miteinander zusammengebracht werden 21 ."
3. Die Unehrlichkeit der begriffsjuristischen Methodenlehre
Der zweite Vorwurf, den die Freirechtsschule gegen die Begriffsjurisprudenz erhob, war der Vorwurf der Unehrlichkeit in der Methode 22. Wenn die 18
So Ehrlich: Juristische Logik (N 11), S. 196 f. So in bezug auf die Weberschen Idealtypen auch Rehbinder: Max Webers Rechtssoziologie: eine Bestandsaufnahme, in René König/Winkelmann: Max Weber zum Gedächtnis, 1963, S. 470, 483 f. 20 Vgl. Ehrlich: Grundlegung (N 13), S. 262-267. 21 Juristische Logik ( N i l ) , S. 200. 22 Vgl. ebd. S. 301. 19
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Begriffsjurisprudenz nämlich nicht in den Fehler verfallen wollte, die erforderliche Interessenabwägung außer Acht zu lassen, dann konnte das logische Deduzieren in Fällen, wo der Gesetzgeber eine bestimmte rechtliche Wertung nicht eindeutig vorgeschrieben hatte, lediglich dazu dienen, eine aus materiellen Prinzipien frei gefundene Entscheidung als gesetzlich vorgeschrieben erscheinen zu lassen. Ehrlich erinnert hier an den bereits von Kantorowicz berichteten Umstand, daß der große mittelalterliche Rechtslehrer Bartolus stets zunächst eine bestimmte Lösung seiner Rechtsfälle intuitiv („nach Gerechtigkeit") gefunden hat und erst im Nachhinein seine Schüler damit beauftragte, für diese Lösung entsprechende Stellen aus den römischen Rechtsquellen zusammenzustellen 23 . Ehrlich scheute sich auch nicht, das ängstlich gehütete Geheimnis der Juristen offen auszusprechen: „Tatsächlich ist der Richter. . . dem Gesetze nur soweit unterworfen, als er es nicht hinweginterpretiert 24 ." Dieses Geheimnis brauchte aber an sich kein Geheimnis zu sein, wenn man sich der Tatsache stellen würde, daß keine Rechtsordnung lückenlos ist: „In dem Augenblicke, wo anerkannt wird, daß im Gesetz nur das entschieden ist, was darin entschieden ist, daß das, was darin nicht entschieden ist, darin eben nicht entschieden ist, entfällt wohl auch jeder Anlaß, mit Hilfe der Haarspaltemaschine und der hydraulischen Presse aus dem Gesetze Entscheidungen herauszudestillieren, die nicht darin enthalten sind 25 ." Sicher strebt jedes juristische Denken nach einer auf Systematik beruhenden Einheitlichkeit des Rechts. Aber diese Einheit ist nicht Ergebnis einer logischen Auslegung, sondern ein Ergebnis der Rechtschöpfung 26 . Schließt man davor die Augen und vertraut man auf die juristische Logik, dann wird man vor die bittere Erkenntnis gestellt, daß sich für jedwede Entscheidung eine juristische „Begründung" finden läßt 27 . Dann pervertiert der Jurist zu dem, was Bernhard Rehfeldt in bezug auf die Gutachtertätigkeit seiner Professoren-Kollegen das „juristische call-girl" nannte. Ehrlich wollte aus dieser Sackgasse heraus. Der Jurist sollte in seinen Begründungen von der sklavischen Bindung an den Gesetzestext befreit werden. Er sollte sich zu seiner rechtschöpferischen Tätigkeit offen bekennen können. Er sollte es nicht mehr nötig haben, die eigentlichen Entscheidungsgründe hinter einem „äußerlichen Aufputz" 2 8 rechtstechnischer Fiktionen und Konstruktionen zu verbergen. Daher lautete seine Anklage gegen die damalige Jurisprudenz: „Eigensinnig ihre Augen vor der Tatsache 23
Ebd. S. 296. Die richterliche Rechtsfindung auf Grund des Rechtssatzes (1917), in Recht und Leben, 1967, S. 232. 25 Freie Rechtsfindung (N 14), S. 196. 26 Juristische Logik ( N i l ) , S. 142. 27 Ebd. S. 300. 28 Grundlegung (N 13), S. 260. 24
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2. Kap.: Eugen Ehrlich als soziologischer Jurist
verschließend, daß jede Anwendung eines Rechtssatzes eine eigene Interessenabwägung des Anwenders fordert, suchte sie eine Entscheidung ohne jede Bewertung der dabei in Frage kommenden Interessen aus dem Rechtssatze durch kümmerliche Wortklauberei abzuleiten. Eine Entscheidung aber, die die Interessen nicht bewertet, wird häufig genug das Interesse höher veranschlagen, das keinen gerichtlichen Schutz verdient; sie wird zu einem durchaus verkehrten Interessenschutz gelangen, den kein Gesetzgeber je angeordnet hätte, und häufig genug auch, könnte er ihn voraussehen, ausdrücklich ausgeschlossen hätte. Oder sie bemüht sich, mit fadenscheiniger Sophistik die eigene Interessenabwägung dem Gesetzgeber zu unterlegen. Es ist überflüssig, sich damit zu befassen, da bereits Emst Fuchs in seinen zahlreichen, höchst verdienstvollen Arbeiten sowohl die erste Richtung, die ,Pandektistik', besser, als ich es könnte, bloßgestellt hat 29 ."
§ 9 Die freirechtliche Methodenlehre 1. Die contra legem-Fabel
Kaum hatte sich die Freirechtslehre zu Wort gemeldet, stieß sie auch schon auf den erbitterten Widerspruch derer, die sich zu ihrem Entsetzen der magischen Würde entkleidet sahen, wie sie formallogische Ableitungen aus dem Gesetzeswortlaut verleihen. Man beschritt dabei einen Weg, der sich wegen seiner Leichtigkeit in wissenschaftlichen Polemiken großer Beliebtheit erfreut: Aus einzelnen überpointierten und aus dem Zusammenhang gerissenen Sätzen wird eine wissenschaftliche Aussage abgeleitet, die der betreffende Autor überhaupt nicht vertritt, oder ein extremer Anhänger der bekämpften Richtung wird als repräsentativ für die ganze Schule hingestellt 1 . So konnten die bedeutendsten Freirechtler immer und immer wieder das Gegenteil behaupten 2 , es nutzte nichts. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich unter den deutschen Juristen die contra legem-Fabel, und noch heute spuken die Freirechtler in den Köpfen wissenschaftlich gebildeter Juristen 3 29
Die richterliche Rechtsfindung (N 24), S. 250. Über ähnliche Verfahren in der Auseinandersetzung um den legal realism vgl. die Nachweise bei Rehbinder: Karl N. Llewellyn als Rechtssoziologe, in KZfSS 18 (1966), S. 532-556, 547 f. 2 Siehe Ehrlich z. B. schon in Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft ( 1903), in Recht und Leben, 1967, S. 187 : Freie Rechtsfindung soll nur eintreten, wenn eine klare Regel im geltenden Recht nicht enthalten ist; dann deutlich gegen die Behauptung, freie Rechtsfindung hieße „frei vom Gesetz", in: Die Neuordnung der Gerichtsverfassung ( 1912), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 177 Ν 11 ; Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 274. 3 Als einer unter vielen spricht Czermak in JZ 1965, S. 379 von „freirechtlicher Kadijustiz". Ähnlich K. Engisch: Einführung in das juristische Denken, 3. Aufl. 1964, 1
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als „wilde Männer" herum, die sich nicht mehr an das Gesetz halten wollten und damit einer richterlichen Willkür das Wort redeten. Da abgesehen von Ehrlichs Schriften die Arbeiten der beiden prominentesten Vertreter der Freirechtsbewegung, nämlich Hermann Kantorowicz und Ernst Fuchs in Sammelbänden gut greifbar sind 4 , sollte die allenthalben anzutreffende Weiterverbreitung dieses wissenschaftlichen Rufmordes unnachsichtig als das gekennzeichnet werden, was sie ist, nämlich als unverantwortliche Schlamperei. Einen Anschein der Berechtigung hat die bisherige Kritik an den Freirechtlern nur dann, wenn man — wie Latenz es tut — von einer Freirechtslehre im engeren Sinne als Wendung zum Subjektivismus spricht und sie dahin kennzeichnet, daß diese „gegenüber jeder Art von abgeleiteter, rational vermittelter Fallentscheidung den Vorrang des Gefühls oder der Intuition" betont 5 . Diese Beschränkung widerspricht jedoch dem Selbstverständnis der prominentesten Freirechtler wie Fuchs, Kantorowicz, Theodor Sternberg 6 und vor allem — wie Larenz selbst einräumt — Ehrlich, der dieser Schule doch den Namen gab. Unter „Freirecht" haben jedenfalls sehr bedeutende Autoren dieser Bewegung nicht die Freiheit von rationalen Erwägungen, sondern lediglich die Freiheit von einer postulierten Bindung an formallogisches Deduzieren aus vorgegebenen Rechtssätzen verstanden 7 . Mit Sicherheit ist aber jenes abschließende Urteil von Larenz unrichtig, die „soziologische Rechtslehre" erschöpfe sich „im wesentlichen in einer ganz berechtigten Kritik der Rechtsanwendungslehre des 19. Jahrhunderts, ohne aber die von Ehrlich verlangten neuen Rechtsfindungsmethoden aufzeigen zu können" 8 . Larenz übersieht hier nicht nur, wie so viele, die bedeutenden Arbeiten von Hans Wüstendörfer 9, sondern ihm ist auch entgangen, daß S. 132 f.; P. Koschaker: Europa und das römische Recht, 2. Aufl. 1953, S. 195; G. Less: Vom Wesen und Wert des Richterrechts, 1954, S. 15, C.-W. Canaris: Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964, S. 33 Ν 75. 4 Kantorowicz: Rechtswissenschaft und Soziologie, hg. von Th. Würtenberger, Karlsruhe 1962; Emst Fuchs: Gerechtigkeitswissenschaft, hg. von Foulkes und Arthur Kaufmann, Karlsruhe 1965. 5 Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 60. 6 Siehe Einführung in die Rechtswissenschaft I, 2. Aufl. 1912, Neudruck 1927, S. 135 ff. (143 f.): Die soziologische Methode bedeute nichts Geringeres als eine direkte Verstärkung der objektiven Garantie des Rechts, des Rationalen im Gegensatz zur Intuition bei der Rechtsfindung. 7 Siehe im einzelnen die Nachweise bei Klaus Riepschläger: Die Freirechtsbewegung, 1968, sowie bei Karlheinz Muscheler: Relativismus und Freirecht, 1984. Wenn Larenz (S. 61) der Behauptung eines Doktoranden zustimmt, daß für die Freirechtler alles irrational gewesen sei, was nicht mit formal-logischen Mitteln zu bewältigen ist, so hätte das überprüft werden sollen. 8 Larenz (N 5), S. 67. 9 H. Wüstendörfer: Zur soziologischen Rechtsfindung, hg. von M. Rehbinder, 1971. Daß der Name Wüstendörfer in einer 470 Seiten umfassenden deutschen Methoden-
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Ehrlich einen wesentlichen Teil seiner in Arbeit befindlichen „Theorie der richterlichen Rechtsfindung", die er bis zu seinem Tode nicht mehr vollenden konnte, bereits im Jahre 1917 unter dem Titel „Die richterliche Rechtsfindung auf Grund des Rechtssatzes" in Jherings Jahrbüchern 10 veröffentlicht hat. Es sei daher zum Schluß der Darstellung des Ehrlichschen Lebenswerkes seine Methodenlehre kurz angedeutet.
2. Die Auslegung der Rechtssätze als historische Sinnermittlung
Eine freie Rechtsfindung, die als soziologische Rechtsfindung auf das gesellschaftliche Recht zurückzugreifen hat, kommt für Ehrlich nur in den relativ seltenen Fällen in Betracht, in denen eine Lücke im Rechtssystem besteht: „Eine Lücke im Recht bedeutet nichts anderes, als das Fehlen eines Rechtssatzes, wo er notwendig wäre. Es möge nachdrücklichst hervorgehoben werden, daß es sich um das Fehlen eines Rechtssatzes, nicht etwa eines passenden Rechtssatzes handelt. Ist ein Rechtsatz vorhanden, dann muß er angewendet werden, er mag passen oder nicht. Die entgegengesetzte Auffassung, die Lücken seien durch den Mangel eines passenden Rechtssatzes veranlaßt, die ich in meiner Jugendschrift ,Über Lücken im Rechte' vorgetragen habe, ist unrichtig. . . Der Schein, daß aus einem Rechtssatz keine brauchbare Entscheidung gewonnen werden könne, entsteht meistens dadurch, daß der moderne Gesetzgeber, um möglichst viele Fälle zu entscheiden, für den Rechtssatz häufig einen so allgemeinen Ausdruck wählt, daß er bei oberflächlicher Betrachtung auf Interessengegensätze bezogen werden kann, die der Gesetzgeber gar nicht treffen will. Dann muß aber das Gesetz nach der wahren Absicht des Gesetzgebers einschränkend ausgelegt werden 11 ." Zuerst muß also mit Hilfe der Auslegung ermittelt werden, ob eine Lücke vorliegt oder nicht. Ehrlich unterscheidet dabei streng zwischen Auslegung und eigener Interessenabwägung. Unter Ablehnung der „objektiven Auslegung" 12 und der „teleologischen Auslegung" 13 , die beide nur ein Mittel sind, lehre nicht vorkommt, ist wissenschaftlich nicht haltbar und sollte wenigstens die „langjährigen Gesprächspartner Claus-Wilhelm Canaris, Joachim Hruschka, Detlef Leenen und Jürgen Prölss" gemerkt haben, denen dieses führende Methodenlehrbuch gewidmet ist. 10
Abgedruckt in Recht und Leben, 1967, S. 203-252. Ehrlich: Juristische Logik, 1918, S. 215. 12 Die richterliche Rechtsfindung (N 10), S. 220 f. Daß auch die heute unter Führung von Larenz mehr und mehr um sich greifende neuhegelianische Beschwörung des „objektiven Geistes" in Wahrheit ein „verhängnisvoller Irrweg" ist, hat deutlich Welzel herausgestellt (Die Frage nach der Rechtsgeltung, 1966, S. 19), nachdem Ernst E. Hirsch schon früher Larenz das W o r t von Theodor Geiger entgegengehalten hatte, 11
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die eigene Wertentscheidung des Richters zu bemänteln, versteht er unter Auslegung nur die sogenannte historische Auslegung, die danach fragt, was der Urheber des Rechtssatzes anordnen wollte: „Solange der Richter den Rechtssatz auslegt, hat er nach den Zweckmäßigkeitserwägungen des Urhebers zu fragen, nicht nach seinen eigenen... Die eigene Interessenabwägung und Schutzgewährung des Richters ersetzt erst dann die des Urhebers, wenn er das Auslegen aufgibt, und das kann er nur tun, wenn er weiß, daß die Auslegung zu keinem Ziel führt 14 ." Auslegung bedeutet also historische Sinnermittlung. Diese ist möglich durch Klärung der gesellschaftlichen Voraussetzungen des Rechtssatzes, durch „Begreifen" mit Hilfe seiner damaligen „Umwelt" 1 5 . Zeichnet die historische Auslegung eine bestimmte Fallentscheidung vor, und das ist in aller Regel der Fall 1 6 , dann kommt es zur Rechtsanwendung ohne Rechtschöpfung 17 ; denn auch wenn das Ergebnis unerfreulich sein mag: „Gegen den Sinn, den der Urheber eines Rechtssatzes mit ihm verbunden hatte, darf der Richter den Rechtssatz nicht anwenden. Daher muß die auf einer irrtümlichen Auslegung beruhende Rechtsprechung jederzeit umkehren, sobald der Irrtum beseitigt ist 18 ." Vom Rechtssatz darf erst abgewichen werden, wenn sich ein entsprechendes abweichendes Gewohnheitsrecht gebildet hat 1 9 . Neben der Klärung der gesellschaftlichen Voraussetzungen gewisser Rechtssätze arbeitet die historische Sinnermittlung mit Hilfe der juristischen Verallgemeinerung und der juristischen Einschränkung. Unter juristischer Verallgemeinerung versteht Ehrlich das Verfahren, durch Ausschaltung von Umständen, die für die Interessenwertung nicht von Bedeutung waren, einen bestimmten Rechtssatz auf seinen Grundgedanken zurückzuführen und damit in seinem Anwendungsbereich zu erweitern 20 . Demgegenüber ist juristische Einschränkung die Ausschaltung derjenigen vom reinen Wortlaut erfaßten Umstände, die der Urheber des Rechtssatzes deswegen nicht ausgenommen hatte, weil er sie nicht gesehen hat 2 1 . Obwohl Ausleunter ernsthaft denkenden Menschen dürfte dergleichen mystischer Bombast keine Heimstätte mehr haben (Zu einer „Methodenlehre der Rechtswissenschaft", JZ 1962, S. 329, 330). 13 Ebd. S. 221 f. 14 Ebd. S. 222 ff., 226. 15 Ehrlich verweist hier auf die Milieutheorie der anderen Wissenschaften, ebd. S. 211 f. 16 Ebd. S. 219 f. 17 Ebd. S. 236. 18 Ebd. S. 242 f. 19 Ebd. S. 243. Ehrlich wendet sich ausdrücklich gegen die von einigen Freirechtlern vertretene Lehre der Befreiung vom Gesetz i m Falle einer „Massenkalamität", S. 235. 20 Vgl. dazu näher ebd. S. 214-217 und Juristische Logik ( N i l ) , S. 223-252. 21 Ebd. S. 217-219.
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gungstechnik und daher keine Rechtsschöpfung, stehen juristische Verallgemeinerung und juristische Einschränkung gleichwohl bei rechtssoziologischer Betrachtung auf der Grenze zwischen Rechtsanwendung (durch einfache Subsumtion) und Rechtsfortbildung. Das beruht darauf, daß das Recht nicht ohne Begriffsbildung auskommen kann. Rechtsbegriffe haben wie alle Begriffe der Erfahrungswissenschaft für Ehrlich einen Begriffskern und eine zweifelhafte Übergangszone: „Durch jede Entscheidung über den zweifelhaften Umfang der Begriffe erweitert sich deren dunkler Kern, aber die Übergangszone verschwindet deswegen nicht, denn die neue Entscheidung arbeitet wieder mit Begriffen, die neben dem Kern eine Übergangszone zeigen. Diese ist also nur weiter hinausgerückt worden 22 .' 1 Man denke nur etwa an die Judikatur zum bürgerlich-rechtlichen Zubehörbegriff. Auf diese Weise geschieht es, daß jeder Rechtssatz im Wege seiner Konkretisierung mit Entscheidungsnormen überlagert wird: „So greifen die Interessenabwägung des Urhebers und des Anwenders ineinander, und das ergibt eine Entscheidungsnorm, die sowohl auf den Urheber als auch auf den Anwender zurückgeht: Vom Urheber stammen die äußeren Umrisse und der angeordnete Rechtsschutz, vom Anwender wird das Unvollständige ergänzt, das Unverständliche erklärt, das Unanwendbare ausgeschaltet. Die auf den Anwender zurückgehende Entscheidungsnorm wird in der Folge, vermöge des Gesetzes der Stetigkeit der Entscheidungsnormen, selbst zum Rechtssatz, der sich mit dem ursprünglichen zu einem neuen, reicheren, klareren, widerspruchslosen, bestimmten Rechtssatz verbindet 23 ." Durch diese Verbindung der eigenen, heutigen Interessenwertung mit der historischen Auslegung 24 findet eine dauernde Sinnwandlung des Rechtssatzes durch Anpassung an die gewandelten Bedürfnisse des modernen Soziallebens statt, so daß das, was dem Juristen als Auslegung erscheint, vom Rechtshistoriker als fortwährende Anpassung des Rechtssatzes an die veränderten Bedürfnisse des Soziallebens erkannt wird 2 5 .
3. Die freie Rechtsfindung als Rechtschöpfung im Falle echter Rechtslücken
Kann der zur Entscheidung stehende Interessengegensatz auch mit den Mitteln der juristischen Verallgemeinerung oder Einschränkung nicht gelöst 22
Ebd. S. 230. Ebd. S. 246. 24 Diese Verbindung erklärt die mißverständliche Wendung, ebd. S. 249, die historische Auslegung könne der Rechtspflege nicht genügen. 25 Ebd. S. 247. 23
2. Kap.: Eugen Ehrlich als soziologischer Jurist
werden — sei es, daß eine Norm, die dafür in Betracht kommt, fehlt, sei es, daß eine Norm durch Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe auf außerrechtliche Sozialordnungen verweist 26 und daher keine bestimmte eigene Interessenbewertung enthält —, dann wird im allgemeinen der Weg einer Analogie (zu anderen Normen) oder einer (begrifflichen) Konstruktion aus einem vorgestellten Rechtssystem beschritten. Es ist nun Ehrlichs Hauptanliegen, daß in einem solchen Falle, wo eine echte Lücke vorliegt, der Richter frei sein soll, d. h. daß er nicht mehr gezwungen sein soll, seine eigene Wertung mit dem „Gewände der Auslegung eines Rechtssatzes und eines logischen Schlusses aus der Auslegung" 27 zu bedecken: Ist nämlich eine selbständige Interessenwertung erforderlich, „weil der Sinn unergründet, oder unbestimmt, oder widersprechend war, oder weil der Urheber absichtlich eine Lücke offenließ, soll er das nicht durch logische Trugschlüsse aus dem Wortlaut des Gesetzes decken, sondern das, was ist, auch sagen dürfen. Damit übernimmt er für die Entscheidung auch die volle Verantwortung" 28 .
a) Die Analyse des sozialen Sachverhalts und die richterliche Eigenwertung als angewandte Gesellschaftswissenschaft Diese so verstandene Freiheit der Interessenbewertung bedeutet aber keineswegs eine Aufforderung zur Willkür. Für Verweisungsnormen braucht das nicht weiter ausgeführt zu werden, weil hier die Interessenbewertung denjenigen Sozialordnungen entnommen werden muß, auf die verwiesen wird. Der Richter hat dabei lediglich die Aufgabe, sie empirisch, notfalls mit Hilfe von Sachverständigen, zu ermitteln. Bei divergierendem tatsächlichem Befund ist vom Überwiegenden, Vorherrschenden als dem sozial Gültigen auszugehen 29 . Der Richter ist hier also inhaltlich streng an die betreffende außerrechtliche Sozialordnung gebunden, die er allenfalls in den Grenzen der Auslegung fortbilden darf. Findet er jedoch auch hier eine Lücke vor oder ist die Rechtsordnung selbst lückenhaft, ohne Weiterverweisungen zu enthalten, dann muß er diese Lücke entsprechend der Anweisung ausfüllen, die der von Ehrlich 26
Vgl. dazu Juristische Logik (N 11), S. 231 ff., 284 f. Die richterliche Rechtsfindung (N 10), S. 237. 28 Ebd. S. 244. 29 Vgl. dazu Ernst E. Hirsch: Zu einer „Methodenlehre der Rechtswissenschaft" (N 12), S. 333 und ausführlich für den Fall einer Verweisung auf die „Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung" Rehbinder: Gelten die neuen Bewertungsvorschriften des Aktienrechts auch für Unternehmen mit anderer Rechtsform?, N J W 1966, S. 1548-1551. 27
7 Rehbinder, 2. Aufl.
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immer wieder als Vorbild 3 0 herausgestellte Art. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches enthält. Wenn nämlich alle anderen Rechtsquellen versagen, dann muß der Richter sein Urteil nach der Regel sprechen, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Die Freiheit des Richters, den Einzelfall nach eigener Wertung zu entscheiden, ist also insofern begrenzt, als er einer Regel folgen muß, die — über den Einzelfall hinausgehend — allgemeiner Natur ist. Dadurch entsteht eine „eigentümliche Mischung aus Freiheit und Gebundenheit" 3 1 ; denn jede Entscheidung des „Richters als Gesetzgeber" 32 muß unter Beachtung der sozialen Auswirkungen getroffen werden, die diese Entscheidung als Massenerscheinung haben würde. Ferner sagt Art. 1 ZGB über die „Gesetzgebung" des Richters: „Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung." Das heißt, der Richter hat von dem auszugehen, was er vorfindet. Daher sagt Ehrlich: „Die freie Rechtsfindung ist konservativ, wie jede Freiheit 33 ." Über dem Moment der eigenen Wertung und Interessenabwägung, das die praktische Jurisprudenz von der „Rechtswissenschaft" (Rechtssoziologie) unterscheidet 34 , darf also nicht vergessen werden, daß der Richter von einer genauen Analyse des sozialen Sachverhalts auszugehen hat. Er soll kein Sozialrevolutionär sein, sondern seine Entscheidung behutsam auf dem sozialen Sachverhalt, d. h. aber auf den Tatsachen des Rechts und damit auf den Normen des gesellschaftlichen Rechts, aufbauen. Seine Entscheidungsnorm muß m. a. W. aus dem gesellschaftlichen Recht entwickelt werden, und zwar in der Weise, wie wir es bei der Schilderung der Interdependenz von gesellschaftlichem Recht und Juristenrecht näher beschrieben haben (§ 6, 1 a). Auch die eigene Wertung muß er Art. 1 ZGB folgend als „Organ der Gesellschaft" vornehmen (§ 6, 1 b). In diesem Zusammenhang wurde auch bereits gezeigt, wie selbst bei der Anwendung und Auslegung der vorgegebenen Rechtssätze ständig eine Wechselwirkung mit den Normen des gesellschaftlichen Rechts stattfindet. Die Arbeit der praktischen Jurisprudenz besteht also, wie Ehrlich sagt, in der Umwandlung einer Tatfrage in eine Rechtsfrage 35 , und da sie mit der Entscheidung dieser aus den Tatfragen entwickelten Rechtsfragen auf die Welt der Tatsachen, auf die Regeln des Handelns zurückwirkt, besteht ihre Aufgabe in der Leitung der Gesellschaft. Deshalb finden wir bereits bei Ehrlich Wendungen, die erst später in der sociological jurisprudence in Form der Bezeichnung des Rechts 30
Vgl. z. B. Freie Rechtsfindung (N 2), S. 190 f. und Die „bewährte Lehre und Überlieferung" (Art. 1 ZGB), in SJZ 16 (1919/20), S. 225-226. 31 Ebd. S. 173. 32 Vgl. die gleichnamige Monographie von Arthur Meier-Hayoz, 1951. 33 Freie Rechtsfindung (N 2), S. 193. 34 Grundlegung (N 2), S. 289 f., 292. 35 Ebd. S. 281 f., 284, 139; Juristische Logik (N 11), S. 193.
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als social control und social engineering 36 wieder auftauchen: „Wem immer aber das Würdigen der Interessen in der Gesellschaft und die Bestimmung darüber, welches von ihnen gefördert werden sollte, obliegt, dem ist damit ein Stück der Leitung der Gesellschaft anvertraut. Die Leitung der Gesellschaft setzt die Kenntnis der in der Gesellschaft wirkenden Kräfte, die geleitet werden sollen, voraus, gerade so wie der Maschineningenieur die natürlichen Kräfte kennen muß, die die Maschinen bewegen. In diesem Sinne ist Gesetzgebung, Jurisprudenz, Rechtspflege angewandte Gesellschaftswissenschaft 37."
b) Zum Idealbild des Juristen Solange nun die Rechtssoziologie noch eine terra incognita ist, bleibt der Richter bei seiner Tätigkeit auf ein vorwissenschaftliches Verständnis des sozialen Sachverhalts angewiesen. Er muß versuchen, den Mangel an Unterstützung durch eine rechtverstandene Rechtswissenschaft durch Intuition und Lebenserfahrung auszugleichen. Deshalb, und zwar allein aus dieser Erwägung, haben Ehrlich und die Freirechtsschule dafür plädiert, den laufbahnmäßigen Richterbeamten und das Kollegialsystem durch die starke richterliche Einzelpersönlichkeit zu ersetzen, wie man sie in England wirken sah 38 . Ein solcher „Richterkönig", der seiner Mentalität nach nicht in erster Linie Staatsbeamter wäre, würde in der Sicht von Ehrlich der tatsächlichen Machtverschiebung im Verhältnis von Staat und Gesellschaft Rechnung tragen, die Staatsallmacht in ihre Schranken weisen und damit eine wahrhaft demokratische Rechtspflege garantieren 39 . Im übrigen wußte Ehrlich, daß seine Vorstellungen nicht nur einen anderen Richtertyp, sondern ganz allgemein einen anderen Typ von Juristen voraussetzen: „Freilich wird . . . das heute noch herrschende volkstümliche Ideal des Juristen, des feinen, scharfsinnigen Dialektikers, einem anderen den Platz räumen müssen. Es wird nicht schade sein um dieses Ideal. Der Scharfsinn ist die unfruchtbarste unter den Gaben des menschlichen Geistes: Es liegt eine tiefe Weisheit darin, daß der Teufel der deutschen Volkssage so häufig ein scharfsinniger Dialektiker ist 40 ."
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Siehe Rehbinder: Roscoe Pound (1870-1964), in JZ 1965, S. 482-484. Juristische Logik ( N i l ) , S. 309 f. 38 Freie Rechtsfindung (N 2), S. 188,194-196. Die Neuordnung der Gerichtsverfassung (N 2), S. 146 ff. ; Grundlegung (N 2), S. 236-238. 39 Grundlegung, ebd. S. 9, 330. 40 Freie Rechtsfindung (N 2), S. 202. 37
7*
Drittes Kapitel
Ehrlichs soziologische Rechtstheorie als Grundlage moderner rechtssoziologischer Forschung
§ 10 Ehrlichs W e r k im Spiegel der Kritik
Wenn wir uns jetzt der Frage zuwenden, welche Aufnahme das literarische Werk Ehrlichs in der Fachwelt gefunden hat, so müssen wir zunächst feststellen, daß seine Wirkung entscheidend durch zwei politische Ereignisse behindert worden ist. Kaum war seine „Grundlegung der Soziologie des Rechts" erschienen, brach der Erste Weltkrieg aus, und kaum hatte sich die deutsche Rechtswissenschaft von den dadurch ausgelösten sozialen Umwälzungen erholt, wurde die Neuauflage von 1929 mit der Machtübernahme durch die nationalsozialistische Rechtslehre verdrängt. Dies vorausgeschickt, überrascht das vielfältige positive Echo, das die „Grundlegung" jeweils in den Rezensionen1 gefunden hat. Man kann sogar sagen, daß im großen und ganzen die Bedeutung Ehrlichs in der engeren Fachwelt 2 von damals durchaus erkannt wurde. So sah, um nur einige Stimmen herauszugreifen, der berühmte Prozessualist Franz Klein, Vater der österreichischen Zivilprozeßordnung, in der „Grundlegung" einen „großen Wurf" und stellte fest, „daß wir nun endlich eine Basis haben, auf der die rechtssoziologischen Arbeiten in Berührung kommen können und die sie möglicherweise in eine gewisse Einheitlichkeit bringt" 3 . Roscoe Pound 4, der die „Grundlegung" ebenso wie der junge Erik Wolf als „Pionierarbeit der Rechtssoziologie" 5 ansah, nannte sie aus interna1 Eine Sammlung dieser Rezensionen ist dem Verlag Duncker & Humblot, Berlin, erhalten geblieben und kann dort eingesehen werden. 2 Gemeint ist der kleine Kreis derjenigen, die sich mit Fragen der Rechtssoziologie, Rechtsphilosophie und Methodenlehre der Rechtswissenschaft beschäftigen. Als Romanist und Zivilrechtler hingegen hat Ehrlich wenig publiziert und war als solcher auch nicht besonders angesehen, siehe § 5 Anm. 22 f. Er betonte selbst, wie unglücklich es sei, daß Professoren aus Karrieregründen Fächer lehren würden, in denen sie selbst gar nicht wissenschaftlich arbeiten (Eine Hochschule für Gesellschaftswissenschaften, 1916, in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 218 ff.). 3 Juristisches Literaturblatt 27 (1915), S. 37 f. 4 Über diesen Rehbinder: Roscoe Pound (1870-1964), in JZ 1965, S. 482-484.
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.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
tionaler Sicht „one of the outstanding books of this generation" 6 . Auch Oliver Wendell Holmes bekannte in einem Brief: „I thought his (Grundlegung) the best book on legal subjects by any living continental jurist that I know of" 7. „Keine der kontinentalen Schriften zum Rechtsrealismus", schrieb Arthur Nussbaum 8, „kommt dem Glanz und der Suggestionskraft von Ehrlichs Buch gleich". „Als dieses Buch... in erster Auflage erschien", heißt es bei Theodor Geiger, „war es eine Offenbarung" 9 . Fritz Sander hebt als besonderes Verdienst Ehrlichs hervor, daß „mit dessen auf die Materie des Rechts gerichtetem Empirismus die statische Einheit der Rechtsdinge sich in die dynamische Vielfalt der Rechtsfunktionen aufzulösen beginnt" 10 . Auch Stanislaus Dniestrzanski, den manche Ehrlich ebenbürtig zur Seite stellen wollten 1 1 , bekennt: „Eine groß angelegte soziologische Rechtstheorie findeti wir erst bei Ehrlich 12 ", und Karl N. Llewellyn hielt den Kritikern Ehrlichs entgegen: „Was ändern... Ehrlichs Unschärfe und seine Fehlschlüsse an seinem Wert fürs Fach. Sie grenzen diesen nur ein. Die Genialität, die Anhäufung von Anregungen und Einsichten bleiben" 13 . Diejenige Beurteilung, die mit unseren eigenen Feststellungen am meisten übereinstimmt, stammt von dem Frankfurter Rechtssoziologen Julius Kraft. Dieser kam im Jahre 1930 nach einem Überblick über die damalige Literatur zu dem Ergebnis: „Der Fortschritt der rechtssoziologischen Forschung kann sich nur im Anschluß an die Untersuchungen Ehrlichs vollziehen. Dabei wird die Aufgabe darin bestehen, den essayistischen Charakter seiner Darlegungen zu überwinden, seine vorläufigen Erklärungen allgemeineren Gesichtspunkten unterzuordnen und die normativen Grenzüberschreitungen seiner soziologischen Jurisprudenz zu vermeiden 14 ."
5 Erik Wolf in Deutsche Literaturzeitung 1929, H. 24, S. 75; Roscoe Pound: Jurisprudence, 1959, Bd. I, S. 20, 351 ; ähnlich Julius Stone: Social Dimensions of Law and Justice, 1966, S. 46 Ν 142. 6 Pound ebd. S. 335. Vgl. auch James F. O'Day: Ehrlichs Living Law Revisited. Further Vindication for a Prophet Without Honor, in Western Reserve Law Review 18 (1966), S. 210-231. 7 Howe (ed.): Pollock-Holmes Letters 2 (1941), S. 34. Siehe auch Μ. Rehbinder: Neues über Leben und Werk von Eugen Ehrlich, FS H. Schelsky (Recht und Gesellschaft), 1978, S. 403-418 (416). 8 Die Rechtstatsachenforschung, in AcP 154 (1955), S. 453, 458. 9 Siehe § 1 Ν 33. 10 Fritz Sander: Staat und Recht. Prolegomena zu einer Theorie der Rechtserfahrung, 1922, S. 977. 11 Vgl. oben § 1 bei Ν 30. 12 Das Problem des Volksrechts, in AcP 132 (1930), S. 257, 266. 13 Recht, Rechtsleben und Gesellschaft, 1977, S. 71 Ν 2. 14 Vorfragen der Rechtssoziologie, in ZvglRw. 45 (1930), S. 1, 42 f.
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.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
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1. Der „essayistische Charakter 11
In dieser Stellungnahme werden zugleich die drei Schwächen des Werkes von Ehrlich aufgezeigt, die auch die übrige Literatur erkannt hat. Die erste und nach unserer Meinung sogar die zentrale Schwäche des Werkes ist sein „essayistischer Charakter". Einmal wurde Ehrlich durch den rhetorischen Stil, der ihm eigen war, dazu verleitet, mit seinen rechtshistorischen Belegen allzu verschwenderisch umzugehen und dadurch seine Grundgedanken beinahe selbst zu verschütten 15 . Nicht zu Unrecht hat Franz Klein 16 zu bedenken gegeben, „ob es nicht von Vorteil gewesen wäre, wenn das Buch etwas inhaltsärmer geraten wäre. Für den Wissenden ist alles, was es enthält, von Reiz und Wert, doch für diejenigen, die daraus Neues lernen sollen, dürften die vielen eingeflochtenen interessanten Excurse . . . wohl zuerst etwas verwirrend sein; trotz dem vorhandenen inneren Zusammenhange werden sie nicht immer gleich den Faden finden. Die Kunst besteht auch im Weglassen!" Ferner stand für Ehrlich die Attacke gegen die damalige Rechtsauffassung im Vordergrund. Er ließ daher der Überfülle seiner Argumente ihren temperamentvollen Lauf, ohne groß darauf zu achten, ob bei diesem von ihm so geliebten Florettfechten 17 auch seine eigenen Auffassungen immer genügend klar zum Vorschein kamen. Es verwundert deshalb nicht, wenn zum Beispiel Kelsen energisch bestritt, daß es sich hier überhaupt um eine „Grundlegung" handeln könne, da Ehrlichs Werk „so ganz systemlos, eigentlich nur die äußerliche Zusammenfassung einiger Essays" sei, die mitunter jeden inneren Zusammenhang vermissen ließen 18 . Auch Neukamp vermißte „eine klare systematische Bewältigung des von ihm behandelten Stoffes". Er schrieb, man müsse „sich immer wieder fragen, was denn der Verfasser eigentlich will und was er unter einer »Soziologie des Rechts' versteht". Schon die Überschriften der einzelnen Abschnitte ließen erkennen, „daß es dem Werke an einem systematischen Aufbau vollständig gebricht" 19 . In der Tat ist nicht zu bestreiten, daß Ehrlichs Werk kaum richtig ausgewertet werden kann, wenn man es nicht auf seinen oft recht verborgenen theoretischen Zusammenhang hin abtastet, und zwar selbst auf die Gefahr, 15
Hierin nähert er sich in fataler Weise der Darstellungsweise von Max Weber. Siehe Ν 3. 17 Vgl. oben § 1 bei Ν 23. 18 Hans Kelsen: Eine Grundlegung der Rechtssoziologie, in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1915), S. 839, 845. 19 ZgStW 73 ( 1917/18), S. 226,230. Später verzeichnet auch Morris Ginsberg einen Mangel an Systematik und weist darauf hin, daß die äußere Form einer Sammlung von Essays bereits zeige, wie sehr die Rechtssoziologie noch in den Anfängen stecke: The Modern Law Review 1 (1937), S. 169; ähnlich Wolfgang Friedmann: Legal Theory, 4. Aufl. 1960, S. 199. 16
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daß bei diesem Vorgehen das Interpretatorische zuweilen in eine Neuschöpfung übergeht. Ferner kann nur eine Systematisierung der Gedankengänge die Arbeit von Widersprüchen befreien, die sich hier und da eingeschlichen haben 20 . Beides war der Anlaß für unser Bemühen, aus einer Fülle von Bruchstücken und Teilaspekten ein widerspruchsfreies Lehrgebäude aufzurichten, von dem wir hoffen können, daß es Ehrlich gerecht wird und als Grundlage künftiger Diskussionen genügend tragfähig ist. In einer längeren Rezensionsabhandlung über die erste Auflage dieser Schrift hat allerdings Michel Villey diesem Anliegen entgegengehalten, daß man Ehrlich damit Unrecht tue. Ehrlich habe eine systematische soziologische Rechtstheorie überhaupt nicht bieten wollen. Sein Anliegen sei es vielmehr gewesen, durch Hinweise auf eine neue Forschungsrichtung der Rechtswissenschaft ein neues Gebiet zu erschließen mit Folgen für eine Unterrichtsreform 21 . Es sei nicht einzusehen, warum ich Ehrlich gerade an seinem schwächsten Punkt, seinem „philosophischen System", wieder zum Leben erwecken wolle 2 2 . Es hieße nun aber die Beschäftigung mit Ehrlich auf ein rein wissenschaftsgeschichtliches Bildungserlebnis reduzieren, wollte man nicht überprüfen, ob seine theoretischen Ausgangspunkte für uns heute noch haltbar sind, ob wir also auf dieser „Grundlegung" weiterbauen können. Denn die Rechtssoziologie ist heute ein im Studienplan der juristischen Fakultäten des deutschsprachigen Raumes anerkanntes Lehrfach und im deutschen juristischen Staatsexamen ein Prüfungsfach. Zwar hat sie nur ähnlich geringe Prüfungsrelevanz wie die Rechtsphilosophie. Auch spielen ihre Dozenten, falls sie nicht daneben noch ein sog. Kernfach vertreten, im Kollegium ihrer Fakultäten eine ähnliche Rolle, wie sie im Schulkollegium dem Musik- oder dem Religionslehrer zugewiesen wird. Es ist aber jetzt nicht mehr nötig, sich mit Ehrlich zu beschäftigen, um einem neuen Gebiet den Eingang in die Hallen der Wissenschaft zu erstreiten. Wenn die Rechtssoziologie im Kreise der dogmatischen Fächer ähnlich wie die Rechtsphilosophie oft nicht ernst genommen wird, so liegt das nicht daran, daß man ihr Anliegen nicht für wichtig hält, sondern allein daran, daß sie ihre Leistungsfähigkeit bisher nur ungenügend unter Beweis gestellt hat. Ehrlich schätzte die Leistungsfähigkeit der Rechtssoziologie für die Gesellschaft sehr hoch ein. Rechtssoziologie sollte Kernfach der von ihm ins Auge gefaßten besonderen Hochschule für Führungskräfte werden 23 . Die 20
Vgl. Kelsen (N 18), S. 856-870. Daß die Unterrichtsreform in der Tat ein wichtiges Anliegen Ehrlichs war, zeigt neben seinem Gutachten für den Deutschen Juristentag (Recht und Leben, 1967, S. 61-79) vor allem seine jetzt wiedergefundene Denkschrift: Eine Hochschule für Gesellschaftswissenschaften (Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 211-227). 22 M. Villey : Etudes récentes sur Ehrlich et le sociologisme juridique, in Archives de philosophie du droit 1968, S. 347-356 (351). 23 Siehe Ν 21. 21
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seiner Rechtssoziologie zugrunde gelegte Theorie war deshalb eine soziologische Rechtstheorie, nicht eine Theorie der Gesellschaft. Daher hat er auch die makrosoziologischen Theorien eines Durkheim oder M a x Weber 24 nicht berücksichtigt, sondern sich seine eigene theoretische Grundlage erarbeitet 2 5 . Seine Rechtssoziologie soll eine für die praktische Anwendung 24 Deren spezifisch rechtssoziologische Arbeiten schwerpunktmäßig ohnehin erst nach Ehrlichs Tode veröffentlicht wurden. 25 Hierin kann ich Klaus Ziegert (The Sociology behind Eugen Ehrlich's Sociology of Law, in International Journal of the Sociology of Law 7, 1979, S. 225-273, 228, 238) zustimmen. Im übrigen aber enthält dieser Aufsatz eine erstaunliche Ansammlung absurder Fehleinschätzungen. Bevor man auf der Suche nach ideologischen Verzerrungen (natürlich bei anderen!) im Wissenschaftsstil der von Helmut Schelsky (Soziologiekritische Bemerkungen zu gewissen Tendenzen von Rechtssoziologen, in Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 3, 1972, S. 603-611) treffend sog. Diffamierungssoziologie sich in Spekulationen ergeht, sollte man doch erst einmal sorgfältig die Fakten studieren. Ich hebe hier nur kurz vier für Ziegerts Argumentation entscheidende Punkte hervor, die auf falschen Voraussetzungen beruhen: (1) Ehrlich hat nach Ziegert (S. 232) als Rechtsprofessor nur wenig politisches und gesellschaftliches Verständnis gezeigt. Seine politische Analyse der Staatstätigkeit sei naiv (S. 244). Bis zum ersten Weltkrieg habe er die politischen Spannungen seiner Gegenwart nicht zur Kenntnis genommen (S. 228). Den wenige Kilometer von seinem Wirkungsort zu Progromen führenden Antisemitismus habe er aus übertriebenem Assimilantentum als „Studentenulk" (siehe § 1 Ν 76) verharmlost (S. 232). Ehrlich als politisch und sozial naiv zu bezeichnen, kann man wohl nur als Scherz auffassen. Naiv im abwertenden Sinne ist ein relativer Begriff. Den Zusammenbruch der Donaumonarchie und die russische Revolution haben im Jahre 1912 (Abschluß des Manuskriptes der Grundlegung) wohl nur die wenigsten vorausgesehen. Das kann ihm also nicht zum Vorwurf gemacht werden. Die politischen Spannungen seiner Zeit hat er hingegen mit großer Klarheit gesehen, von seinen Jugendschriften wie ζ. B. Die soziale Frage im Privatrechte (1892) über die 1916 in 4. Aufl. erschienene Schrift von 1909 über Die Aufgaben der Sozialpolitik im Österreichischen Osten (Judenund Bauernfrage) bis zu seinen Ausführungen in der Grundlegung über die staatliche Rechtsordnung als Kampfordnung gegen die sich nicht in die Gesamtordnung einfügenden Kräfte der Gesellschaft (siehe oben § 5, 1). Wenn er geglaubt hat, daß das Erstarken des staatlichen Rechts wieder abklingen werde, so lag dem die Erwartung einer Sozialisierung des gesellschaftlichen Lebens zugrunde (siehe §11,2). W e m das naiv erscheint, der mag Ziegert recht geben. Daß von einer Fehleinschätzung des Antisemitismus keine Rede sein kann, macht seine Schrift über die Aufgaben der Sozialpolitik mehr als deutlich. Dem dort ironisch-abwertend verwendeten Ausdruck „Studentenulk" Naivität oder Schlimmeres zu unterstellen, ist ohne jede Grundlage (siehe auch seine Ausdrucksweise in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 133: „moderner Rassenschwindel").
(2) Ziegert behauptet, daß das, was die europäischen Juristen an Ehrlich gerade abgelehnt hätten, nämlich die Berücksichtigung der „Rechtstatsachen" bei der Rechtsanwendung, von den amerikanischen Juristen als Selbstverständlichkeit angesehen worden sei (S. 234). Daher Ehrlichs (nicht besonders hoch einzuschätzender) Erfolg in den USA. So einfach jedoch liegen die Dinge nicht. Zum einen wurde die soziologische Jurisprudenz keinesfalls einhellig abgelehnt, wie die neben der Freirechtslehre herlaufende und nach Ehrlichs Tod zur herrschenden, die Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts prägenden Methodenlehre avancierende lnteressenjurisprudenz deutscher Prägung zeigt (Material dazu bei Bernhard Dombek:
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brauchbare Rechtssoziologie, eine Rechtssoziologie für J u r i s t e n 2 6 sein. D a die Brauchbarkeit der Rechtssoziologie für die Rechtspraxis v o n d e n j e n i g e n infrage gestellt w i r d , die i n der Rechtssoziologie n u r e i n M i t t e l zur E n t w i c k l u n g einer T h e o r i e sozialen H a n d e l n s oder einer T h e o r i e sozialer Systeme sehen (Rechtssoziologie für Soziologen) 2 7 , muß h e u t e gerade diese theoretische F u n d i e r u n g Ehrlichs unsere besondere A u f m e r k s a m k e i t erfahren.
2. Die „vorläufigen Erklärungen" a) Die Fehleinschätzung
der Bedeutung
des staatlichen
Rechts
Bevor w i r jetzt auf d e n j e n i g e n M a n g e l eingehen, der i n der bisherigen K r i t i k a m m e i s t e n herausgestellt w u r d e , n ä m l i c h die „ n o r m a t i v e n Grenzüberschreitungen", w o l l e n w i r zunächst die restlichen A n s a t z p u n k t e der K r i t i k vorführen, die sich ganz grob u n t e r d e n V o r w u r f „vorläufiger ErklärunDas Verhältnis der Tübinger Schule zur deutschen Rechtssoziologie, 1969). Zum anderen war Pounds sociological jurisprudence der amerikanischen Rechtspraxis keineswegs selbstverständlich. Als Beleg sei hier nur auf Llewellyns Meisterwerk über The Common Law Tradition — Deciding Appeals (1960) hingewiesen, in dem er anhand reichen empirischen Materials die beiden Rechtsfindungsstile: Formal Style (Begriffsjurisprudenz) und Grand Style (soziologische Jurisprudenz) nachwies (siehe meine Einleitung zu Llewellyn: Recht, Rechtsleben und Gesellschaft, 1977, S. 15 f.). (3) W e i l er in Nachfolge von Luhmann die Möglichkeit einer Rechtssoziologie als Hilfswissenschaft für die praktische Rechtsfindung ablehnt (S. 255, 263), behauptet Ziegert, die von mir der Aufsatzsammlung: Recht und Leben ( 1967) zugrunde gelegte Unterteilung von empirischer Rechtssoziologie (Rechtstatsachenforschung) einerseits und soziologischer Jurisprudenz (Freirechtslehre) andererseits sei willkürlich und mit Ehrlichs Auffassung nicht zu vereinbaren (S. 239 Ν 58). In meiner Einleitung zu dieser Aufsatzsammlung habe ich klar hervorgehoben, daß ich mich bei der Zusammenstellung des Bandes streng an Ehrlichs eindeutig erklärte Absichten für einen Nachfolgeband zur Grundlegung gehalten habe, wie sie sich aus der Verlagskorrespondenz ergeben. Ein Teil des Bandes sollte die theoretische Grundlegung durch „Praktische Fragen" ergänzen. Der andere Teil sollte die Neubearbeitung seiner Programmschrift „Freie Rechtsfindung" bringen. (4) Völlig unverständlich schließlich ist der Vorwurf von Ziegert, ich würde Ehrlich fehlinterpretieren, wenn ich beanstande, daß er den Rechtsstab in seiner Rechtssoziologie vernachlässigt habe (S. 245). Die von ihm als Beleg angeführte Stelle aus der Erstauflage spricht lediglich davon, daß Ehrlich infolge seiner Anerkennungstheorie das Zwangshandeln des Rechtsstabes aus seinem Rechtsbegriff ausgeklammert hat. Hätte ich tatsächlich das Juristenrecht als aus der soziologischen Rechtstheorie von Ehrlich „omitted" bezeichnet, so würde ich Ehrlich nicht nur fehlinterpretiert, ich würde ihn überhaupt nicht gelesen haben! Auf S. 116 der Erstauflage steht denn auch ausdrücklich das Gegenteil. 26 Siehe das letzte Buch von Ernst E. Hirsch: Rechtssoziologie für Juristen, 1984. 27 W i e ζ. B. Niklas Luhmann (Nachweise und Kritik dazu bei Thomas W. Bechtler: Der soziologische Rechtsbegriff, 1977, S. 137-162, 157).
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gen" einordnen lassen. Im Vordergrund steht hier die Fehleinschätzung der Rolle des staatlichen Rechts. So schrieb z. B. der junge Hans J. Wolff : „Ehrlichs Blick war offensichtlich zu sehr auf das anscheinend so friedliche und unpolitische Privatrecht gerichtet", als daß er die sozialen Mächte richtig einschätzen konnte, „denen die Gestaltung des Rechts politisches Kampf- und Machtmittel war und ist" 28 . Wenn dieses Urteil auch zu pauschal ist, weil Ehrlich durchaus erkannt hat, daß und wie man das Recht als Kampfmittel (vgl. o. § 5,1) sowie als Hebel des Soziallebens benutzen kann (vgl. o. § 6, 2) 29 , so ist doch daran soviel richtig, daß er zunächst den Umfang des (inhaltlich) staatlichen Rechts als sehr klein und seine Wirksamkeit als sehr gering angesehen hat 3 0 . Wolf gang Friedmarin 31 meint, schon zu Ehrlichs Zeiten sei bereits die spätere Rechtsentwicklung in Rußland, Italien und Deutschland erkennbar gewesen, bei der der Schwerpunkt entgegen Ehrlichs These beim Staatsapparat und nicht in der Gesellschaft gelegen habe. Ehrlich habe daher bei der Interdependenz von Staatshandeln und gesellschaftlicher Entwicklung die eine Seite übermäßig betont. Auch Theodor Geiger sagt: „Die Diktaturen müßten uns da eines Besseren — oder soll man sagen eines Schlechteren? — belehrt haben" 32 . Felix S. Cohen33 führt dies — wie viele andere — auf die besondere Situation im österreichisch-ungarischen Nationalitätenstaat zurück und weist darauf hin, daß das Verhältnis von staatlichem Recht und gesellschaftlichem Recht jeweils von der Verfassungswirklichkeit eines Staates abhängt. Der Grundfehler Ehrlichs liege darin, daß er von einer Dichotomie von Staat und Gesellschaft ausgehe, anstatt den Staat als eine besondere Vergesellschaftungsform zu begreifen. So einleuchtend diese Erklärungen sind: Man tut Ehrlich Unrecht, wenn man — fast ein wenig mitleidig — seinen Wirkungskreis, die Bukowina und die österreichisch-ungarische Monarchie, ins Spiel bringt und darin den Grund sieht, daß er die Zeichen der Zeit nicht erkannt habe 34 . Ehrlich war, 28
Kölnische Zeitung vom 22.9.1929. Daß die Beschränkung seiner Analysen auf das Privatrecht Ehrlich keinesfalls dazu geführt hat, die Überlagerung des klassischen liberalen Rechts durch das („politische") Recht des Sozialstaates zu verkennen, zeigen bereits seine Jugendschriften: Arbeiterschutz im Privatrechte (1891) und Die soziale Frage i m Privatrechte (1892), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 11-47. 30 In Grundlegung S. 297 beruft er sich dazu auf seine Umfrage über die Wirksamkeit des ABGB und weist ferner darauf hin, daß wichtig erscheinende Vorschriften in der damals führenden Sammlung der Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes unter 20.000 Urteilen nicht ein einziges Mal angeführt seien. Sein Blickwinkel war hier also nicht nur die Bukowina. 31 Friedmann (N 19), S. 203. 32 Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 2. Aufl. 1970, S. 216. 33 Lucy Kramer Cohen (ed.): The Legal Conscience, Selected Papers of Felix S. Cohen, 1960, S. 185, 187-189. 34 So schreibt ζ. Β. Max Rümelin (Gesetz, Rechtsprechung und Volksbetätigung 29
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wie sein Leben zeigt, alles andere als provinziell. Ihm war das Wagnersche Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit durchaus bekannt, und er sah auch, daß sich dieses Gesetz zu seiner Zeit durchaus bestätigte (vgl. o. § 5, 3). A n entscheidender Stelle schreibt er: „Das bezeichnende für unsere Zeit ist jedoch, daß ein gutes Stück dessen, was in der Vergangenheit der wissenschaftlich strebende Jurist, der Richter, der Anwalt und der Kautelarjurist fördern konnte, heute ganz allgemein dem Gesetz zugewiesen wird... W o m i t das zusammenhängt, ist schwer zu sagen, jedenfalls ist es keine erfreuliche Erscheinung. Es führt zu einer Einseitigkeit und Erstarrung der Rechtsentwicklung, und es liefert sie mehr als unbedingt notwendig ist, den Kräften aus, die jeweils den Staat in ihren Händen haben. Es scheint jedoch, daß wir gerade in diesem Augenblicke vor einem Wandel stehen, daß man jetzt bereits weit weniger von der staatlichen Gesetzgebung erwartet, weit mehr auf ihre Einschränkung und Selbstbesinnung dringt als etwa noch vor einem Jahrzehnt. Das ist der wachsenden Einsicht zu danken in das, was überhaupt mit staatlichen Mitteln bewirkt und gefördert werden kann" 3 5 . Wenn Ehrlich also meinte, daß — anders als in der damaligen Gegenwart — in Zukunft der Trend zum staatlichen Recht wieder zurückgehen werde, so läßt sich das jedenfalls nicht damit erklären, daß er von der liberalistischen, heute als ideologisch erkannten Trennung von Staat und Gesellschaft ausging. Richtig ist, daß Ehrlich sich entschieden gegen „die heutige Vorstellung vom Staate als einer mit fast religiöser Scheu betrachteten Allmacht" 3 6 wandte. Es läßt sich jedoch nicht nachweisen, daß es sich hier bei ihm um jenen „negativen Etatismus" der liberalen Theorie handelt, der trotz seiner geschichtlichen Auflösung im konstitutionellen Staat als begriffsdualistische Antithese „Staat und freie Gesellschaft" die spätere Soziologie mit ideologischem Gehalt füllte 37 . Im Gegenteil lesen wir bei Ehrlich, daß der Staat lediglich im militärischen Bereich allmächtig sei: „Als rein gesellschaftliche Organisation ist (er jedoch) bloß eine von vielen 38 ." Ehrlich hat auch nicht jene für die liberalistische Ideologie typische Meinung, daß irgendeine auf dem Gebiet des Privatrechts, in AcP 122, 1924, S. 145, 156): „Bei diesem Schriftsteller wird schon die tatsächliche Wirksamkeit der Gesetze aus dem engen, bukowinisch-galizischen Horizont heraus unterschätzt." Völlig daneben die Analyse von W i l l i a m M. Johnston: The Austrian Mind. A n Intellectual and Social History 18481938, Berkeley 1972, S. 91: „In glorifying the self-regulating life of the countryside, replete with feuds and ordeals, Ehrlich disregarded the need of capitalist society for generalized, easily revised rules ... Resisting this transformation, Ehrlich perpetuated the particularism of his province, where antipathy to distant Vienna still flourished." 35
Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 330. Ebd. 37 Vgl. dazu die interessanten Ausführungen von Theodor Geiger: Ideologie und Wahrheit, 1953, S. 107-111. 38 Ν 35. 36
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Rechtssphäre „wesensmäßig" dem staatlichen Recht oder „wesensmäßig" dem gesellschaftlichen Recht zukommen müsse. Er glaubte nur deshalb an einen Rückgang der staatlichen Rechtssphäre, weil er die Zunahme der Staatstätigkeit auf eine Zwischenstufe der gesellschaftlichen Entwicklung, nämlich auf den Weg zu einer größeren Vereinheitlichung der Gesellschaft zurückführte (vgl. oben § 5, 3). Diese Erkenntnis aber weist ihn gerade nicht als provinziellen, sondern im Gegenteil als durchaus hellsichtigen Beobachter aus; denn in der Tat war damals bereits erkennbar, daß der zentralistisch gelenkte Nationalstaat eine ungeheure Vereinheitlichung des gesellschaftlichen Lebens bewirken würde. Die Frage ist bloß, warum Ehrlich glaubte, daß nach dieser „Zwischenstufe", also mit bewirkter „Einheitlichkeit der Gesamtgesellschaft", der Anteil des (inhaltlich) staatlichen Rechts zurückgehen werde. Der Grund lag nicht etwa darin, daß er die marxistische These vom Absterben des Rechts vertreten hätte 3 9 . Er hat mehrfach deutlich und ausführlich gegen die marxistischen Lehren Stellung genommen 40 . Seine politische Einstellung läßt sich am besten als sozial-konservativ kennzeichnen 41 . Für ihn ist die Demokratie „ein aristokratischer Gedanke" 42 , die Freiheit richterlicher Entscheidung „konservativ war jede Freiheit" 43 . In seiner Jugend unter dem Einfluß von Anton Mengers nicht-marxistischem 44 Sozialismus 45 , hat er sich jedoch bald 39 Typisch die marxistische Geschichtsklitterung von Franz Neumann in seiner Rezension in the American Journal of Sociology 43 (1937/38), S. 351-353, 352: Es sei bezeichnend, daß abgesehen von Max Weber niemand in Deutschland vor dem 1. Weltkrieg zur Rechtssoziologie beigetragen habe; denn dort habe das Recht der Legitimierung des strammen Nationalstaates gedient. Hingegen habe Österreich in dieser Zeit gleich drei Rechtssoziologen hervorgebracht, nämlich Ehrlich, Menger und den brillianten Karl Renner; denn Österreich sei zu dieser Zeit im Prozeß nationaler und sozialer Desintegration begriffen gewesen. 40 Vgl. z. B. Anton Menger (1906), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 84-87; Die Aufgaben der Sozialpolitik i m österreichischen Osten (Juden- und Bauernfrage), 4. Aufl. 1916, S. 10 ff. ; Grundlegung (N 35), S. 47, 49 ff., 61 ff., 131, 172, 195. 41 Zur damaligen Zeit sprach ein freirechtlicher Mitstreiter Ehrlichs zur Kennzeichnung dieser Einstellung von „realpolitischem Liberalismus", siehe Theodor Sternberg: J. H. v. Kirchmann und seine Kritik der Rechtswissenschaft. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte des Realpolitischen Liberalismus, Berlin 1908. 42 Grundlegung (N 35), S. 169. 43 Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903), in Recht und Leben, 1967, S. 193; siehe auch das Zitat in § 1 Ν 9 und Die Neuordnung der Gerichtsverfassung (1912), in: Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 178. 44 Die Ablehnung des Marxismus hat dem Sozialisten Menger die scharfe Ablehnung von Engels und Kautsky eingetragen, siehe deren Artikel: Juristen-Sozialismus, in Die Neue Zeit V, 1887, S. 49 ff., und die Attacken von Kautsky in den redaktionellen Anmerkungen zu Ehrlich: Die soziale Frage und die Rechtsordnung, in Die Neue Zeit IX 2, 1891, S. 430 ff. 45 Siehe ζ. B. seine Aufsätze in Ν 29; über Mengers Sozialismus kritisch ebd. S. 55 ff.
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— o h n e daß dies an seiner p e r s ö n l i c h e n Freundschaft m i t M e n g e r etwas geändert hätte — v o n d i e s e m w e g i n eine k o n s e r v a t i v e R i c h t u n g e n t w i c k e l t u n d l e h n t e jede F o r m eines p o l i t i s c h e n Sozialismus a b 4 6 . A l s sozial-konserv a t i v e r D e n k e r n a h m er an, daß sich die „soziale Frage" l e t z t l i c h u n d a m besten m i t gesellschaftlichen M i t t e l n , also o h n e staatliche Eingriffe lösen ließe 4 7 . Z w a r hat er m i t A n t o n M e n g e r die A u s d e h n u n g der A r b e i t e r s c h u t z gesetzgebung auf das gesamte Privatrecht g e f o r d e r t 4 8 u n d hat w o h l als erster i n einer Buchbesprechung aus d e m Jahre 1900 4 9 hellsichtig herausgearbeitet, was später Gustav Radbruch d e n Übergang „ v o m i n d i v i d u a l i s t i s c h e n z u m sozialen R e c h t " 5 0 nannte. V o n M e n g e r löste er sich nur, w e i l er sich v o m Staatssozialismus n i c h t s versprach. Er b l i e b also stets e i n dezidiert sozial gesinnter Denker. A b e r er befand sich i n d e m t y p i s c h e n D i l e m m a des Sozial-Konservativen, da K o n s e r v a t i v e d e n Staat zwar stützen, d o c h „sei46
Siehe Anton Menger (1906), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 63 ff. Vgl. Die Aufgabe der Sozialpolitik i m Österreichischen Osten (N 40). 48 Siehe z. B. seine Aufsätze in Ν 29. Über Menger hinausgehend fordert er im zweiten dieser Aufsätze auch staatliche Regelungen zur Begrenzung der Dispositionsmaxime, zum Vollstreckungsschutz und zum Kartellrecht. 49 In seiner Besprechung zweier Werke über die gesetzliche Regelung der Abzahlungsgeschäfte, erste schüchterne Anfänge eines Verbraucherschutzrechts, heißt es: „Eine Frage, die an den Juristen aus dem Ende des Jahrhunderts recht oft herantritt, ist, ob zu unserer modernen sozialpolitischen Gesetzgebung eine sozialpolitische Rechtswissenschaft hinzutreten solle. Die klassische Rechtswissenschaft — man gestatte mir hier, vielleicht zum erstenmal, für die hergebrachte Privatrechtswissenschaft diese Bezeichnung zu gebrauchen — erblickte in der Entwicklung des in einem Rechtssatze ausgesprochenen Gedankens die einzige Aufgabe der wissenschaftlichen Behandlung des Rechts; von ihrem Standpunkte aus ist jede tendenziöse Auslegung eines Rechtssatzes, also auch eine Auslegung mit sozialpolitischer Tendenz, zu verpönen. Aber längst ist man sich darüber i m klaren, daß jede wissenschaftliche juristische Arbeit notwendigerweise zugleich eine Fortbildung des Rechts in sich schließt, daß es keine Rechtsfortbildung ohne politische Tendenz gibt, daß daher auch die hergebrachte Rechtswissenschaft gesetzgebungspolitische Tendenzen verfolgt. .. Einer sozialpolitischen Rechtswissenschaft gegenüber ist daher die klassische Rechtswissenschaft wohl eine Rechtswissenschaft mit anderen Tendenzen, aber nicht eine tendenzlose Rechtswissenschaft. 47
Man gestatte es mir, diesen Grundsatz... auf die wissenschaftliche Behandlung der sozialpolitischen Gesetze anzuwenden. Im Sinne der klassischen Jurisprudenz wären diese einfach als Singulargesetze zu behandeln, daher möglichst einschränkend auszulegen. Nicht deswegen, weil dies (aus) den Grundsätzen irgend einer wissenschaftlichen Gesetzesauslegung (folgt), sondern deswegen, weil die gesetzgebungspolitische Tendenz dieser Gesetze den gesetzgebungspolitischen Tendenzen, denen die klassische Jurisprudenz dient, widerspricht. Eine Jurisprudenz mit entgegengesetzten Tendenzen wird dagegen den sozialpolitischen Gesetzen eine möglichst weite Wirkung zu sichern suchen. Es ist gut, daß das einmal mit dürren Worten gesagt wird" (GrünhutsZ 27,1900, S. 509 f.). Man möchte wünschen, daß der deutsche Bundesgerichtshof dies ζ. B. bei seiner Rechtsprechung zum AGB-Gesetz beherzigen würde. 50
Siehe Radbruch: V o m individualistischen zum sozialen Recht, Hanseatische Rechts- und Gerichts-Zeitschrift 13 (1930), Sp. 458-468.
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nem Werk in der Stille mißtrauen" 51 . Der wissenschaftlich gebildete Jurist (Aristokrat des Geistes 52 ) erschien ihm deshalb ein besserer Garant gesellschaftlicher Gerechtigkeit als die jeweiligen Kräfte, die den Staatsapparat in den Händen halten, welcher politischen Richtung sie auch sein mögen. Was Ehrlich also zunächst nicht richtig eingeschätzt hatte, war die Entwicklung zur staatlichen Daseinsvorsorge, die Entwicklung zum Sozialstaat. Als sich diese Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg abzuzeichnen begann, versuchte er noch kurz vor seinem Tode, dem dadurch Rechnung zu tragen, daß er die „Eingriffsnorm" zur „Verwaltungsnorm" weiterentwickelte (vgl. oben § 5, 3). Aber auch ohne dies wäre die „Grundlegung" nicht so lückenhaft, wie Karl Renner später meinte. Renner schrieb nämlich, sie erörtere „nur die Hälfte des gestellten Problems: Das staatliche Recht ist Produkt der Gesetzgebung; die Gesetzgebung ist heute dank der repräsentativen Demokratie das Produkt einer verwickelten Organisation von Vertretungskörpern und eines sinnreichen Verfahrens, durch das Gesetze beschlossen und kundgemacht werden. Eine Soziologie des Rechtes, welche das Recht unserer Tage erklären soll, hätte zumindest in gleichem Umfang wie das vorstaatliche Recht das heutige Gesetzesrecht soziologisch zu erklären. Dazu enthält das Buch auch nicht einmal einen Ansatz und nicht eine einzige Stelle des Buches verrät, daß Ehrlich dieses Problem wenigstens sieht. Die Rechtsordnung der Demokratie oder, um in Ehrlichscher Fagon zu reden, das „demokratische" Recht verschwindet bei ihm hinter dem Juristen- und dem richterlichen Recht 53 ." Die fehlende Hälfte des Problems, so wie der Marxist Renner sie sieht, kann jedoch im System von Ehrlichs Rechtstheorie gar nicht auftauchen. Ein selbständiges „demokratisches Recht" ist neben dem gesellschaftlichen Recht, dem Juristenrecht und dem staatlichen Recht nicht möglich, da es sich hierbei um genetische Rechtsarten handelt. Renner will das Gesetzesrecht auf seine Entstehung und — anknüpfend an das Repräsentationsproblem — auf seinen Anteil an „Volksrecht" hin untersucht wissen. Da aber der demokratische Gesetzgebungsprozeß spätestens seit der konstitutionellen Monarchie zu beobachten war, wäre es wirklich merkwürdig, wenn Ehrlich ihn übersehen haben sollte. Er hat ihn in der Tat gesehen, wie seine Ausführungen über die Interdependenz von gesellschaftlichem Recht, Juristenrecht und staatlichem Recht zeigen (§ 6, 1 c, d). Nur hat er die demokratische Maschinerie, d. h. den parlamentarischen und vorparlamentarischen Raum nicht expressis verbis als Faktor mit Eigengesetzlichkeiten behandelt. Das 51 52 53
187.
Grundlegung (N 35), S. 150. Zur aristokratischen Grundhaltung des wahren Demokraten siehe ebd. S. 169. Besprechung in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 63 ( 1930), S. 185,
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wäre aber auch keine Frage der Grundlegung mehr, sondern eine Frage der speziellen Rechtssoziologie gewesen. Dagegen ist aus seinen Ausführungen durchaus zu erkennen, daß nicht nur der Richter, sondern auch der Gesetzgeber ein Transformator ist, in dem konkrete Rechtsnormen zu abstrakten Rechtssätzen werden. Richtig an diesen und ähnlichen Beanstandungen ist lediglich, daß hinsichtlich der Bedeutung von Juristenrecht und staatlichem Recht für die heutige Situation die Akzente falsch gesetzt sind. Das liegt aber nicht an einer Fehleinschätzung der demokratischen Gesetzgebungsmaschine, die ja in sehr vielen Fällen lediglich gesellschaftliches Recht transformiert, sondern an der Ausdehnung der Staatstätigkeit, die der Sozialstaat mit sich brachte.
b) Mißverständnisse um den Begriff
des lebenden Rechts
Der zweite Ansatzpunkt der Kritik, der auf den Vorwurf „vorläufiger Erklärungen" hinausläuft, war Ehrlichs Begriff des lebenden Rechts. Hier kam es, nicht ohne Ehrlichs Verschulden, zu erheblichen Mißverständnissen. So lesen wir z. B. bei Edwin W . Patterson 54, Ehrlichs Vorstellung vom lebenden Recht sei in mehrfacher Hinsicht naiv. Einmal übersehe er, daß bestimmte soziale Institutionen wie die Ehe in den einzelnen Ländern durchaus verschieden seien 55 . Ferner treffe es nicht zu, daß solche Institutionen spontan in der Gesellschaft entstehen, und schließlich habe er nicht erkannt, daß Recht und Sitte sich gegenseitig beeinflussen. Guiseppina Nirchio 56 meint, Ehrlichs Rechtsrealismus sei zu extrem. Er unterscheide gemäß seiner pluralistischen Rechtsauffassung „Rechtssätze — abstrakte Rechtssätze, die das staatliche Recht ausmachen, Entscheidungsnormen — die durch die Gerichte formulierten Lösungen von Interesenkonflikten, die richterlichen Entscheidungen, welche als „lebendes Recht" bezeichnet werden, und gesellschaftliches Recht — das Recht, welches unmittelbar aus der Gesellschaft hervorgeht und das die Grundlage für die rechtlichen Regeln abgibt". Als spezifischen Forschungsgegenstand der Rechtssoziologie sehe er aber weder die „durch den Staat entwickelten und im systematischen Zusammenhang stehenden Normen" noch die „das freie Recht (jus vivens) ausmachenden Regeln richterlicher Entscheidungen", sondern allein das soziale Recht an, das „das Substrat (ist), aus dem sich das Richterrecht und das staatliche Recht substantiiert".
54
Jurisprudence, 1953, S. 81. Auch Neukamp (ZgStW 73,1917/18, S. 226,230) bemängelt, daß Ehrlich bei der Schilderung verschiedener Familientypen (Bauernfamilie, Bürgerfamilie und Arbeiterfamilie) vorschnell verallgemeinere. 56 Italienische Untersuchungen zum ius vivens, in ARSP 46 ( 1960), S. 537,538-540. 55
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Beide Autoren stützen ihre Kritik — unabhängig voneinander — auf einen kurzen Abriß seiner Gedanken, den Ehrlich im Jahre 1922 in englisch und italienisch erscheinen ließ 57 . Dieser Abriß ist in der Tat wohl wenig glücklich. Insbesondere läßt er nicht deutlich werden, daß und wie nach seiner Rechtstheorie das lebende Recht vom sozialen Recht und vom Juristenrecht (nicht nur vom „freien Recht" des Richters) zu trennen ist. Ehrlich hat aber nicht das soziale Recht, sondern das lebende Recht zum Forschungsgegenstand der Rechtssoziologie erklärt. Was dieses lebende Recht für ihn ist, hat Sirtzheimer 58 wie folgt deutlich gemacht: „Das .lebende Recht1, das Ehrlich im Auge hat, ist das gesellschaftliche Recht auf höherer, durch Rechtssätze mit beeinflußter Stufe, das Recht im ganzen unter dem Aspekt seiner sozialen Wirksamkeit, nicht seines normativen Anspruchs auf Geltung." W i r müssen also, wie in § 6, 1 geschehen, streng zwischen der genetischen Einteilung des Rechtsstoffes in gesellschaftliches Recht, Juristenrecht und staatliches Recht und der formalen Einteilung des Rechtsstoffes in (konkrete) Rechtsnormen und (abstrakte) Rechtssätze unterscheiden. Rechtssätze finden wir in allen drei genetischen Rechtsarten: im gesellschaftlichen Recht als Rechtssprichwort, im Juristenrecht z. B. beim Richter als Leitsatz, beim Notar als Vertragsklausel oder Satzung, und beim staatlichen Recht in jedem Gesetz, das nicht Maßnahmegesetz ist. Das lebende Recht besteht dagegen aus den konkreten Rechtsnormen, die in den gesellschaftlichen Verbänden (einschließlich dem Staatsverband) praktiziert werden. Diese konkreten Rechtsnormen sind aber, wie bereits in § 6, 3 ausgeführt, ein gesellschaftliches Recht auf höherer Stufe; denn sie stellen bereits eine Reaktion auf bestimmte Rechtssätze dar, die von außen an die einzelnen Rechtseinrichtungen der Verbände herangetragen werden. Damit fällt aber die eben vorgetragene Kritik an Ehrlich völlig ins Leere. Sind diese Mißverständnisse z. T. auf Ehrlich selbst zurückzuführen, so ist er an anderen gänzlich unschuldig. Das trifft etwa auf Neukamp zu, wenn dieser zur Qualifizierung des Privatrechts als Verbandsordnung fragend anmerkt: „Gilt denn das Privatrecht nicht für die im Inland lebenden Ausländer, also nicht für die dem inländischen Staatsverband nicht angehörigen Personen 59?" Ehrlich hat mehr als deutlich gemacht, daß er unter Verband nicht nur den Staatsverband, sondern jede gesellschaftliche Gruppierung versteht (§ 3, 1). Van der Ven behauptet, für Ehrlich sei Rechtssoziologie nicht viel anderes als eine Art „Urkundenforschung" gewesen. Er habe 57
The Sociology of Law, in Harvard Law Review 36 (1922/23), S. 130-145, und La Sociologia del Diritto, in Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto 2 (1922), S. 96110. Siehe jetzt die deutsche Originalfassung in: Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 241-253. 58 Jüdische Klassiker der deutschen Rechtswissenschaft, 1953, S. 187, 197. 59 Siehe Ν 55. 8 Rehbinder, 2. Aufl.
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Nachweise für außerstaatliches Recht gesucht, d. h. er „befaßt sich lediglich mit dem direkt neben dem positiven Recht liegenden Quellengebiet" 60 . Da das lebende Recht auch Einflüsse des staatlichen Rechts und des Juristenrechts enthält, trifft diese Aussage schlichtweg nicht zu. Daß Gurvitch 61 an Ehrlich kritisiert, er sei zu empirisch und positivistisch gewesen, um die schöpferische Kraft objektiver Ideen zu sehen, ist bei diesem Autor nicht zu verwundern 62 . Er war viel zu sehr in seine eigenen Ideen verliebt, um wahrzunehmen, welch große Bedeutung Ehrlich — unter Ablehnung vulgärmarxistischer Simplifizierungen — gerade eben den Idealfaktoren der Rechtsbildung beigemessen hat, wie sie in den Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft zum Ausdruck kommen (vgl. § 6,1 ). Erstaunlich ist dagegen, daß so ein aufmerksamer Leser wie Kraft 63 das Gesetz der Stetigkeit der Entscheidungsnorm mit Argumenten angreift, die Ehrlich bereits zu dessen Begründung angeführt hat (vgl. § 4, 1). Auf den ersten Blick einleuchtend ist hingegen die Feststellung von Jutta Limbach, Ehrlichs Hauptthese halte einer empirischen Überprüfung nicht mehr stand. Verkehrssitten, Handelsbräuche, Verkehrsanschauungen würden heute nur noch am Rande einer ausgefeilten Kautelarjurisprudenz ein Kümmerdasein fristen. Nicht die Verweisungsnorm des staatlichen Rechts, sondern die Interventionsnormen der Gerichte würden die heutige Rechtswirklichkeit bestimmen 64 . Doch auch hier wird übersehen, daß nicht das gesellschaftliche Recht, sondern das lebende Recht gemeint ist, wenn Ehrlich von Recht spricht. Was die Kautelarjurisprudenz und die Rechtsprechung Neues erfinden, wird nach Ehrlich nur dann lebendes Recht, wenn es sich im Leben durchsetzt, d. h. wenn es die Rechtstatsachen zu verändern in der Lage ist. Wenn den Kautelarjuristen ihre AGB-Klauseln von den Gerichten mit Hilfe des AGB-Gesetzes aus der Hand geschlagen werden, sind sie lettres mortes, wenn diese Rechtsprechung sich im Wirtschaftsleben durchsetzt. W i r d eine Interventionsnorm der Gerichte, die diese neu erfinden, im Wirtschaftsleben nicht beachtet, wie die Rechtsprechung des BGH vor dem AGB-Gesetz, dann fällt sie ins Leere. Bei Ehrlichs Begriff des lebenden Rechts sind die Rechtstatsachen auf einer höheren, d. h. vom staatlichen und Juristenrecht beeinflußten Stufe. Bei genetischer Betrachtung ist festzustellen, daß das Juristenrecht der Kautelarjurisprudenz und der Rechtsprechung 60 J. J. M. van der Ven: Zur Aufgabe der Rechtssoziologie. Eine Auseinandersetzung mit Hugo Sinzheimer, ARSP 44 (1958), S. 241-251 (247). 61 Le temps présent et l'idée du droit social, 1931, S. 278. 62 Vgl. über eine ähnliche und für Gurvitch typische Fehlleistung Rehbinder: Karl N. Llewellyn als Rechtssoziologe, in KZfSS 18(1966), S. 532,548. Über solche A r t von Kritikern sehr schön Llewellyn: Recht, Rechtsleben und Gesellschaft, 1977, S. 70. 63 Siehe Ν 14, S. 38. 64 Jutta Limbach: Die Vertragsgerechtigkeit als Beweisthema, in ZRP 1975, 117123, 121.
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aus Rechtssätzen besteht, die die Juristen aus Rechtstatsachen und aus wertenden Gerechtigkeitsvorstellungen im Wege der Verallgemeinerung und Vereinheitlichung zusammensetzen (§§ 3, 2 b und 4, 2 b). Zwar sind ihre Gerechtigkeitsvorstellungen nicht immer Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Für die Kautelarjuristen als juristische Callgirls (s. o. § 8, 3) wird das zutreffen, für die Richter hingegen kaum. Doch lebendes Recht werden diese Vorstellungen nur, wenn sie das Gefühlsleben der Menschen ansprechen (§ 6, 1 b). Das tun sie einzig, wenn der neue Rechtssatz als Werk der Juristenkunst ein Gesamtwerk des Juristen und der Gesellschaft ist 6 5 . Folgt man also Ehrlichs Auffassung vom lebenden Recht, dann ist seine Hauptthese entgegen Limbach nicht widerlegt.
c) Die „primitive"
Soziologie
Die dritte und letzte A r t des Vorwurfs „vorläufiger Erklärungen" betrifft Ehrlichs soziologische Argumentationen. So bezweifelt z. B. Paul Vinogrado// 66 , ob die Soziologie überhaupt geeignet sei, dem Recht zu einer wissenschaftlichen Grundlage zu verhelfen, wo sie es bisher doch selbst noch nicht geschafft habe, über Begriffsstreitigkeiten und Binsenwahrheiten hinauszukommen. Spricht hier auch der Rechtsethnologe, der sich durch Ehrlichs Bemerkungen über den zweifelhaften Erkenntniswert ethnologischer Forschungen persönlich angegriffen fühlt 6 7 , so werden wir doch aufmerksam, wenn wir beim jungen Theodor Geiger 68 lesen: „Wenn wir heute eine Soziologie des Rechtes uns vorstellen, so würde Ehrlichs Buch darin nur einen Teil ausmachen. Er spricht nämlich nur von den gesellschaftlichen Bedingungen der Entstehung des Rechts; die Frage nach den Vergesellschaftungen im Bereich des praktischen Rechtslebens oder nach der soziologischen Analyse der Rechtsverhältnisse stellt er nicht. Die damals in Deutschland noch kaum entwickelte analytische Methode der allgemeinen Soziologie war ihm ja noch nicht geläufig." Auch Franz Neumann 69 meinte später, die Rechtssoziologie Ehrlichs sei noch recht primitiv; denn sie bliebe insgesamt im Deskriptiven stecken, arbeite also weder analytisch noch konstruktiv. Zwar wird man gegen Geiger einwenden müssen, daß sich Ehrlich durchaus nicht nur auf die genetische Rechtssoziologie beschränkt hat, daß der 65
Grundlegung (N 35), S. 171 f. Collected Legal Papers II (1928), S. 215, 224. 67 Vgl. ebd. S. 222 f. 68 Besprechung der Grundlegung in Archiv (1928/1929), S. 47. 69 Neumann (N 39), S. 352. 66
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für angewandte Soziologie 1
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Schwerpunkt vielmehr auf drei Themen verteilt ist, nämlich auf die Lehre von der Rechtswirklichkeit, auf die Rolle der Jurisprudenz als Element der Rechtsordnung und auf die Methode der Rechtssoziologie 70 . Aber es ist ganz offensichtlich, daß sich die Rechtssoziologie angesichts des Fortschritts, den die übrige Soziologie in den letzten 75 Jahren verzeichnen konnte, mit dieser „Grundlegung" nicht mehr zufrieden geben kann. Welche Möglichkeiten ihr z. B. die analytische Methode bietet, hat Geiger selbst uns später mit seinen bis heute unerreichten und auf einsamer Höhe stehenden „Vorstudien" 71 bewiesen. Darüber hinaus wird es heute darauf ankommen, den jetzigen Stand der Theorie des sozialen Handelns, der Gruppentheorie und der Organisationssoziologie für die Rechtssoziologie fruchtbar zu machen. Ferner besteht heute die Möglichkeit, die modernen Methoden der empirischen Sozialforschung für die Rechtstatsachenforschung einzusetzen. Das vordergründige und deskriptive Kausalitätsdenken, das Ehrlichs soziologischer Rechtstheorie zugrundeliegt, muß durch ein Denken in Funktionszusammenhängen und Verhaltensschemata ersetzt werden. Auf diesèm Wege ist die heutige Forschung schon ein gutes Stück vorangekommen. Hingegen ist es zwar möglich, aber nicht notwendig, Ehrlichs (empirisch-analytisch verfahrenden) wissenschaftlichen Positivismus zugunsten einer geisteswissenschaftlichen „verstehend-nachkonstruierenden" Soziologie zu verlassen, wie das der von Larenz deshalb als Rechtssoziologe bevorzugte Hans Ryffel will 7 2 , da die Rechtssoziologie durchaus im naturwissenschaftlichen Sinne betrieben werden kann 7 3 .
3. Die „normativen Grenzüberschreitungen"
a) Der Dualismus von Sein und Sollen W i r kommen nunmehr zum Kernpunkt der Auseinandersetzungen um das Werk von Ehrlich, nämlich zum Vorwurf „normativer Grenzüberschreitungen". Kraft beschränkte diesen Vorwurf auf Ehrlichs soziologische Jurisprudenz, soweit sie „als Freirechtsschule die normative Theorie zu ersetzen bestrebt" 74 sei. Wenn Ehrlich sage, die eigentliche Rechtswissenschaft sei 70
So zu Recht Kraft (N 14), S. 36. Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1947. Der Widerspruch gegen meine hohe Einschätzung dieses Werkes durch Ryffel kann mich nicht überzeugen (siehe Hans Ryffel: Rechtssoziologie, 1974, S. 107). 72 Siehe Karl Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 62-66, 202 Ν 67. 73 Dazu näher Jürgen Tiemeyer: Zur Methodenfrage der Rechtssoziologie, 1969, und zur heute noch offenen Methodenfrage in der Soziologie: Peter L. Berger/Hansfried Kellner: Sociology Reinterpreted, Pinguin Books 1982. 74 Siehe Ν 14, S. 34. 71
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ein Teil der theoretischen Gesellschaftswissenschaft, der Soziologie, so beruhe das auf einer Verwechselung von Rechtseinrichtung und Rechtsnorm und daraus resultiere eine Verwechselung von Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Auf diese Weise bliebe es ihm als soziologischen Juristen versagt, eine exakte Abgrenzung der Rechtssoziologie gegen normative Disziplinen zu finden 75 . Auch Kantorowicz 76 geht von Ehrlichs Bemerkung aus, die Rechtswissenschaft müsse sich nach dem Vorbild anderer Wissenschaften „aus einer praktischen Disziplin zu einem Zweige der Soziologie entwickeln", und meint dazu: „Gerade der Anhänger der Freirechtstheorie, die das praktische („wertende") Element aller Dogmatik so scharf herausgearbeitet hat, sollte vor Rückfällen in die Auffassung der Jurisprudenz als einer rein theoretischen („wertbeziehenden") Disziplin geschützt sein." Wie jedoch Larenz 77 richtig erkannt hat, verfehlen diese und ähnliche Einwände ihr Ziel, weil Ehrlich von einem streng positivistischen Wissenschaftsbegriff ausgeht. Für Ehrlich (s. o. § 7, 3) ist Wissenschaft wertfrei und kann über Richtigkeit und Unrichtigkeit von Wertungen nicht entscheiden 7 8 . Deshalb ist die theoretische Rechtssoziologie als Wissenschaft von der praktischen Jurisprudenz zu unterscheiden, die technische Kunstlehre ist. Rechtsphilosophie, die über die „Gerechtigkeit" von Wertungen nachdenkt, Rechtspolitik, die Wertungen bindend vorzuschreiben sucht, und Rechtstechnik oder Rechtsdogmatik, die diese Wertungen ihren Konfliktsentscheidungen zugrundelegt, sind für ihn niemals reine Rechtswissenschaft. Ihre Werturteile machen sie zu praktischen und damit angewandten Wissenschaften. Die Freirechtslehre als soziologische Jurisprudenz, die die herkömmliche Dogmatik ersetzen sollte, ist danach auch keine (reine) Rechtswissenschaft, sondern eine praktische Kunstlehre auf wissenschaftlicher, d. h. soziologischer Grundlage. Wenn wir also bei Kraft 79 lesen, Ehrlich habe an die Stelle der juristischen Dogmatik nicht eine angewandte, sondern eine theoretische Soziologie setzen wollen, so ist genau das Gegenteil richtig. W o Riimelin bei Ehrlich gar eine „Ablehnung der normativen Betrachtungsweise" oder das Bestreben gefunden haben will, „die Vorstellung des Sollens und der Pflicht aus der Rechtsbetrachtung auszuschalten" 80 , ist ein Rätsel. Ebenfalls unerklärlich ist, daß Simpson 81 der amerikanischen Übersetzung der Grundlegung entge75 76 77 78 79 80 81
Ebd. S. 35 f. Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, S. 138 f. Siehe Ν 72, S. 62-64. Siehe besonders Grundlegung (N 35), S. 164. Ν 14, S. 35. Siehe Ν 34. Sidney Post Simpson in Harvard Law Review 51 (1937/38), S. 190, 193 f.
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genhält, durch Beobachtung von Rechtstatsachen könnten doch ethische Fragen, wie Fragen nach der Gerechtigkeit, nicht gelöst werden. Das ist ja auch nicht Aufgabe der Rechtssoziologie. Auch Salomon hat Ehrlichs klare Trennung zwischen dem theoretischen (wissenschaftlichen) und dem praktischen Aspekt der Jurisprudenz nicht gesehen, wenn er schreibt, die Rechtssoziologie könne allenfalls nur eine Vorstufe der Rechtswissenschaft sein und nicht die Rechtswissenschaft selbst; denn „indem die Rechtswissenschaft zur Soziologie verflacht wird, verkennt man, daß die Rechtswissenschaft den sozialen Verkehr nicht darstellen, sondern regeln soll und die Probleme dieses Gebiets zu lösen hat" 82 . Larenz, der Ehrlich richtig verstanden hat, wirft ihm allerdings vor, er habe seinen Wissenschaftsbegriff nur deshalb so eng fassen können, weil er das Anliegen der Rechtsdogmatik völlig mißverstanden habe. Die Rechtsdogmatik habe nämlich nicht bloß mit „Worten" zu tun, wie Ehrlich einmal zum Zwecke der Abgrenzung gegenüber der Rechtssoziologie als einer „Tatsachen'wissenschaft gesagt hat, sondern mit normativen Sinngehalten 83 . Dem ist jedoch zu entgegnen: Entweder die Dogmatik befaßt sich mit den normativen Sinngehalten eines bestimmten Rechtssystems. Dann ist sie inhaltlich an die Wertentscheidungen dieses Rechtssystems gebunden, ist also nicht mehr voraussetzungslos, sondern stellt eine praktische Rechtslehre (Rechtstechnik) dar. Sie ist dann, wie Ehrlich einmal sagte, „eine besonders eindringliche und erschöpfende Publikation des Gesetzes"84. Oder aber sie versteht sich (auch) als ein Bemühen um normative Sinngehalte, die von einem bestimmten Rechtssystem unabhängig sind und damit als allgemeine Rechtslehre. Eine allgemeine Rechtslehre, die sich nicht mit bestimmten Problemlösungen, sondern mit Problemstellungen und mit Lösungstypen beschäftigt, wäre aber in der Tat Wissenschaft im Sinne Ehrlichs; denn sie wäre Teil der Rechtssoziologie. W i e jede spezielle Soziologie hat nämlich auch die Rechtssoziologie einen empirischen und einen theoretischen Teil. Rechtsdogmatik im Sinne von allgemeiner Rechtslehre wäre eine theoretische Rechtssoziologie (soziologische Rechtstheorie). In § 7, 2 ist aufgezeigt, daß Ehrlich es als besondere Aufgabe der Rechtssoziologie angesehen hat, eine „allgemeine Rechtswissenschaft" dieser A r t zu entwickeln. Dabei ist daran zu erinnern, daß der Soziologiebegriff Ehrlichs insofern sehr weit reicht, als er die Gesamtheit der theoretischen Gesellschaftswissenschaften umfaßt. Aus diesem Grunde trifft der Einwand von Allan nicht zu, Ehrlich würde seine Rechtswissenschaft zu Unrecht auf die soziologische Sicht beschränken; denn eine solche Wissenschaft hätte alle Wissensgebiete zur Hilfe zu nehmen 85 . Anders als Larenz 86 wird man also die Frage nur dahin 82 83 84 85
Max Salomon in Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1915, S. 331. Siehe Ν 72, S. 66. Gutachten für den Deutschen Juristentag (1912), in Recht und Leben, S. 62. Charleton Kemp Allan: Law in the Making, 6. Aufl. 1958, S. 32.
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stellen dürfen, ob es sich wirklich empfiehlt, alle angewandten Wissenschaften aus dem Wissenschaftsbegriff auszuklammern. Das ist zum guten Teil ein bloßes Definitionsproblem 87 . Wenn aber heute die allgemeine Meinung in Deutschland, wie bereits erwähnt, anders entscheidet als Ehrlich, so sollten wir immerhin erkennen, daß Ehrlich gute Gründe, nämlich das Werturteilsproblem für sich hat 8 8 und daß es in Frankreich und im anglo-amerikanischen Bereich niemandem einfallen würde, die Rechtswissenschaft in unserem Sinne (Rechtsdogmatik, jurisprudence) als „science" zu bezeichnen. Wenn wir jedoch fragen, was denn eigentlich der tiefere Grund dafür war, daß Ehrlich mit seiner Gleichsetzung von Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft vor 75 Jahren und in der Folgezeit immer wieder mißverstanden wurde, so läßt sich das nur so erklären, daß die gesamte rechtstheoretische Auseinandersetzung der damaligen Zeit im Zeichen des neukantianischen Dualismus von Sein und Sollen stand. Ehrlich mochte noch so deutlich machen, daß er einen engen, positivistischen Wissenschaftsbegriff verwandte: Überall tönte es ihm entgegen, Rechtssoziologie könne keine Rechtswissenschaft sein; denn aus einem Sein könne man kein Sollen ableiten 8 9 . Damit sind wir am Beginn der Auseinandersetzungen um Ehrlich und um die Möglichkeiten und Grenzen einer Rechtssoziologie angelangt. Dieser Beginn war wahrhaft spektakulär; denn hier standen sich die bedeutendsten rechtstheoretischen Köpfe der damaligen Zeit, nämlich Ehrlich und Kelsen gegenüber und lieferten sich einen Kampf, dessen Unerbittlichkeit in der Sache und dessen Härte in den Formulierungen uns heute fast den Atem verschlägt 90 . Dieser Kampf schien in den Augen der Mehrheit zunächst 86
Wenn der Kelsen-Schüler Josef L. Kunz kritisierte, Ehrlich würde fälschlich die Rechtssoziologie mit einer Rechtswissenschaft im eigentlichen Sinne als der Theorie und Systematik des Rechts identifizieren (ARSP 21, 1928, S. 275, 278), so ist hier ebenfalls zu fragen, ob unter „eigentliche Rechtswissenschaft" allgemeine Rechtslehre oder Rechtslehre eines bestimmten Rechtssystems gemeint ist. Das eine wäre nicht zu beanstanden und das andere hat Ehrlich nicht behauptet. Wie begrenzt nach Ehrlichs Auffassung die reine Rechtssoziologie für die richterliche Rechtsfindung im Einzelfall ist, wurde oben bereits dargestellt (§ 9). 87 Zur Nutzlosigkeit und zu den Motiven des Streites um den Wissenschaftsbegriff sehr treffend Llewellyn (Ν 73), S. 71 ff. 88 Vgl. insbesondere Grundlegung (N 35), S. 289 f., 292. 89 Vgl. für viele Julius Binder: Philosophie des Rechts, 1925, S. 998-1009; Alexander Graf zu Dohna: Kernprobleme der Rechtsphilosophie, Nachdruck 1959, S. 25 f. 90 Siehe Kelsen: Eine Grundlegung der Rechtssoziologie, in Archiv für Sozial Wissenschaft und Sozialpolitik 39 (1915), S. 839-876; dagegen Ehrlich: Entgegnung, ebd. 41 (1916), S. 844-849; dagegen Kelsen: Replik, ebd. S. 850-853; dagegen Ehrlich: Replik, ebd. 42 (1916/17), S. 609-610; dagegen Kelsen: Schlußwort, ebd. S. 611. Zu den Einzelheiten dieser berühmt gewordenen Kontroverse siehe Hubert Rottleuthner: Rechtstheoretische Probleme der Rechtssoziologie, in W. Krawietz/H. Schelsky: Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen (Rechtstheorie
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zugunsten von Kelsen entschieden zu sein 91 . Aber Kelsen hat im Alter eingestanden, er habe Ehrlich seinerzeit Unrecht getan. Es täte ihm leid, Ehrlich und der Rechtssoziologie damals mit seiner scharfen Polemik den Weg zu allgemeiner Anerkennung versperrt zu haben 92 . In der Tat mußte die von Kelsen vertretene Position spätestens in dem Zeitpunkt fallen, als die neukantianische Dichotomie von Sein und Sollen überwunden wurde (s. u. § 11, 1). W i r führen hier jedoch die Problemlage zunächst nur in dem Umfang vor, wie sie seinerzeit erkennbar war. Damals stand die ganze Polemik im Schatten des Neukantianismus und damit im Schatten des erwachenden Interesses an Methodenfragen. Dieses Interesse an Methodenfragen sollte sich später für die Rechtsforschung in Europa als verhängnisvoll erweisen. Methodologie wurde recht bald mit wissenschaftlichem Denken überhaupt gleichgesetzt, d. h. es wurde vergessen, daß Scharfsinn in Methodenfragen unfruchtbar wird, wenn nicht die methodologischen Erkenntnisse auch einmal praktisch angewandt und erprobt werden. So mußte der Neukantianer Kantorowicz, als er sich während seiner Emigration gezwungenermaßen mit dem amerikanischen Schrifttum auseinandersetzte, zu seiner Überraschung feststellen, daß man sich in Europa bisher eigentlich nur darauf beschränkt habe, die Instrumente zu stimmen, während die Amerikaner wenigstens schon einmal auf ihnen gespielt hätten 93 . Auch für Kelsen war Ehrlichs Buch allein von methodologischem Interesse. Immer wieder wirft er ihm Synkretismus der Methoden vor 9 4 , da er rechtliches Sein und rechtliches Sollen miteinander vermenge und eine deutliche Scheidung von Wert- und Wirklichkeitsbetrachtung vermissen ließe 95 . Das Recht könne nicht zum Teil Seinsregel, zum Teil Sollvorschrift sein 96 ; denn daraus, daß es tatsächlich ist, könne doch nicht gefolgert werden, daß es auch sein soll 9 7 . Ja er spricht sogar von Ehrlichs „absoluter Beiheft 5), 1984, S. 521-551, sowie Gregorio Robles Morchon: La polemica entre Kelsen y Ehrlich en torno a la naturaleza de la ciencia juridica, in Rivista de la Facultad de Derecho de la Universidad Complutense de Madrid XVIII 50/51 (1976), S. 627-641. 91 Ehrlich wollte zwar i m Jahre 1917 auf diesen Streit zurückkommen, ist aber bei seinem Versuch, seiner Juristischen Logik eine „erkenntnistheoretische Vorrede" im Umfang eines halben Druckbogens voranzustellen, nach dreimonatigen Versuchen gescheitert: „Vielleicht schreibe ich einmal ein Buch darüber. Der Gegenstand ist zu groß für eine Vorrede" (siehe M. Rehbinder: Neues über Leben und Werk von Eugen Ehrlich, FS H. Schelsky (Recht und Gesellschaft), 1978, S. 403-418, 412 f.). 92 Vgl. Verband der Berliner Gerichtsreferendare (Hg.): Bericht über die Studienreise der Berliner Gerichtsreferendare in den Vereinigten Staaten von Amerika — 26. Sept. bis 26. Okt. 1965, 1966, S. 39. 93 Siehe Ν 76, S. 115. 94 ζ. B. Grundlegung (N 90), S. 841; Replik (N 90), S. 850. 95 Grundlegung (N 90), S. 842 f. 96 Ebd. S. 848. 97 Replik (N 90), S. 851.
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Unfähigkeit, das methodologische Problem, um das es sich bei einer Scheidung der Rechtssoziologie von einer dogmatischen Rechtswissenschaft handelt, zu begreifen" 98 . Auch Ehrlich stellt sich noch ganz auf den Boden des Dualismus von Sein und Sollen und entgegnet empört: „Jemand zuzumuten, daß er eine Sollregel mit einem Naturgesetz 99 vermenge, daß er also das Gravitationsgesetz von der Vorschrift, daß der Akzeptant eines Wechsels aus seiner Unterschrift wechselmäßig hafte, nicht grundsätzlich auseinanderhält, heißt, ihn nahezu für einen Idioten zu erklären 100 ." „Ich erkläre, daß ich in meinem ganzen Buche das Recht immer nur als Sollregel und nie als Naturgesetz, als Seinsregel behandelt habe und daß sich darin kein Wort findet, das die Kelsensche Behauptung rechtfertigen würde 1 0 1 ." Das ist richtig, wenn auch in Ehrlichs Darstellung nicht leicht zu erkennen. Das Recht ist für ihn ein Gedankengebilde, das in den Köpfen der Menschen lebt. Wenn man darüber etwas wissenschaftlich Beweisbares aussagen will, muß man es dort beobachten, wo es sich in der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit manifestiert 102 . Als diese Wirklichkeit sollten nicht die Worte der Rechtssätze angesehen werden, sondern die Tatsachen, aus denen die Rechtsnormen entstehen. Ehrlichs zugegeben ungewöhnliche Trennung von Rechtssätzen und Rechtsnormen wird von Kelsen völlig mißverstanden 103 . Materiell unterteilt Ehrlich die Rechtsnormen in: Handlungsnormen = lebendes Recht der Verbände = Funktion: Organisation Entscheidungsnormen = Rechtsstabshandeln auf Antrag = Funktion: Organisation, Schutz und Eingriff (Hebel) Verwaltungsnormen = Rechtsstabshandeln von Amts wegen = Funktion: Organisation, Schutz und Eingriff (Hebel).
Da sich das Leben nicht vor den Behörden und Gerichten, also vor dem Rechtsstab abspielt, kommt es für Ehrlich bei der Beobachtung des Rechts entscheidend auf die Handlungsnormen an. Diese sind Regeln des Handelns und damit etwas Faktisches. Wenn sie aber in einem gesellschaftlichen Verbände als Massenerscheinung und nicht nur als einzelne Abweichung erkennbar sind, so heißt das eben, daß die Menschen diese Regel für verbindlich halten und damit als Sollensnorm in ihre Vorstellung aufgenommen haben. Dies wurde später von Nicolai Hartmann als „geistiges Sein" be98
Ebd. S. 853. Auch der junge Nussbaum warf Ehrlich vor, Gegenstand der Rechtswissenschaft könnten doch nur Normen und keine Naturgesetze sein (Die Rechtstatsachenforschung, 1914, S. 5). 100 Entgegnung (N 90), S. 844. 101 Ebd. S. 845. 102 Grundlegung (N 35), S. 68. 103 Grundlegung (N 90), S. 845-852. 99
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zeichnet 1 0 4 . Ob das der Fall ist, läßt sich z. B. auch durch Experimente zur Untersuchung des Rechtgefühls nachweisen. Dabei verweist Ehrlich 1 0 5 auf die entsprechenden Arbeiten von Franz Kobler 106. Das bedeutet: Es war Ehrlich durchaus klar, daß er nicht die Sollensregel auf ihren „normativen Sinngehalt" hin untersuchte, sondern nur „gewisse Parallelphänomene in der Natur", wie Kelsen später den Forschungsgegenstand der Rechtssoziologie bezeichnete 107 . Ehrlich glaubte jedoch, damit eine Sollregel, und zwar die tatsächlich wirksame Vorstellung, wie sie in den Köpfen der Menschen existiert, feststellen zu können, nicht etwa ein Naturgesetz. Hier zeigt sich, daß ohne eine Überwindung des methodologischen Dualismus von Sein und Sollen ein Verständnis von Ehrlichs Anliegen kaum möglich ist 1 0 8 .
b) Der soziologische Rechtsbegriii Eine Sollregel, die nicht nur lettre morte ist, sondern lebendes Recht, liegt also nur dann vor, wenn „Parallelphänomene in der Natur" ihre reale Existenz, ihr „geistiges Sein" beweisen. Das warf die Schwierigkeit auf, wie man nun den Fall zu beurteilen habe, daß das staatliche Rechtsstabshandeln und das Gruppenverhalten einander widersprechen. Soll dann beider Verhalten, d. h. sowohl das Rechtsstabshandeln als auch das Gruppenhandeln rechtmäßig sein? Diese Frage läuft keinesfalls auf eine bloße Frage der Terminologie hinaus 1 0 9 . Wenn es nämlich für Ehrlichs Beobachtungen nicht darauf ankam, welche Rechtsvorstellungen im Rechtsstab herrschen, sondern darauf, welche Vorstellungen die Menschen als Gruppenmitglieder haben, dann mußte die Rechtsqualität einer Regel von den Verbindlichkeitsvorstellungen des Rechtsstabs unabhängig sein. Dann mußte es ein vom Staat völlig 104 Über die Rolle des „geistigen Seins" im Recht siehe auch M. Rehbinder: Einführung in die Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 113, 126. 105 Grundlegung (N 35), S. 409. 106 Siehe: Die Erforschung des Rechtsbewußtseins durch Beobachtung und Experiment, in JB1. 1912, S. 301-303, 315-317. 107 Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 108. 108 Zu Recht wird Kelsens überspitzte Bemerkung, die Dogmatik als Sollenswissenschaft brauche keine Fühlung mit der Wirklichkeit, da sie keine Erklärung der Wirklichkeit sein wolle, von Ehrlich mit der Feststellung bedacht: „Man ist ja bei Kelsen an überraschende Gedanken gewöhnt, daß aber ein Professor der Rechte an der Universität Wien, am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, so was hinzuschreiben sich traut, hat mich immerhin verblüfft" (Entgegnung, Ν 90, S. 849). 109 Unrichtig daher zunächst Ehrlich in Das lebende Recht der Völker der Bukowina (1912), in Recht und Leben, 1967, S. 48. Auch andere Rechtssoziologen haben später für die Rechtssoziologie eine gegenständliche Abgrenzung des Rechts für unnötig gehalten, ζ. B. Karl N. Llewellyn (Ν 73, S. 21) und Hugo Sinzheimer (Arbeitsrecht und Rechtssoziologie Bd. 2, 1976, S. 88 ff.).
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unabhängiges Recht geben, also nicht nur ein genetisch, sondern auch ein qualitativ, d. h. in seinem Geltungsgrund eigenständiges „gesellschaftliches Recht". In der Tat ist dies Ehrlichs Behauptung, die sich in der Zukunft als große Entdeckung der Rechtssoziologie erweisen sollte. Jedoch mußte er infolge seiner eigenen, und wie wir glauben: falschen Prämissen dafür Beweis antreten, indem er diese „gesellschaftliche" Rechtsnorm von den außerrechtlichen Sozialordnungen der Gruppe abgrenzte, ohne auf das Kriterium eines spezifischen Rechtszwanges durch den Rechtsstab zurückzugreifen. Bei dem Versuch, eine solche Abgrenzung nach sozialpsychologischen Gesichtspunkten derart vorzunehmen, daß auf das Gefühl der Gruppenmitglieder bei einer Normübertretung abgestellt wird (Gefühlstheorie), ist er gescheitert. W i r sahen in § 3,3 c, daß Ehrlich Rechtsnormen und die Normen außerrechtlicher Sozialordnungen für artgleich ansah, daß er alle diese Normen nach ihrer Wichtigkeit für das Sozialleben abstufte und daß er diese Abstufung an den Reaktionen messen wollte, die ihre Übertretung bei den Gruppenmitgliedern hervorrufen. Rechtsnormen sind für ihn die Normen mit dem höchsten Wichtigkeitsgrad, auf deren Bruch die Gruppe mit dem stärksten Gefühlsausbruch, nämlich mit Empörung reagiert, hinsichtlich deren man also eine opinio necessitatis feststellen kann. Vom Rechtsstab gesetzte Normen gehören zum Recht nur, wenn die Gruppe als Ganzes diese Normen durch regelmäßige äußere Befolgung anerkennt (Anerkennungstheorie). Man kann den Spott von Kelsen verstehen, der dazu ausrief: „Unter den nicht spärlichen Versuchen, das Wesen des Rechtes zu bestimmen, bedeutet dieser sicherlich den Gipfel der Kuriosität 1 1 0 !" Denn wie sollte man denn in der Praxis je einen Unterschied zwischen den von Ehrlich angegebenen Gefühlstönen der Empörung (Rechtsbruch), der Entrüstung (Sittenverletzung), des Ärgernisses (Anstandsverstoß), der Mißbilligung (Taktlosigkeit), der Lächerlichkeit (Verfehlen des guten Tones) und der kritischen Ablehnung (Nichtbeachtung der Mode) finden? Und selbst wenn man das könnte: sollte die Rechtsqualität einer Norm von einer jeweiligen statistischen Erhebung über die Gefühlsstärke abhängig sein 111 ? Das würde praktisch schon allein deshalb undurchführbar sein, weil eine Fülle von Rechtsnormen, die „artigen Spitzfindigkeiten" (Ehrlich) z. B. des Sachenrechts oder Erbrechts, bei den meisten Menschen überhaupt keine Gefühle hervorrufen; denn das einzelne Gruppenmitglied ist doch, wie Horvath einmal treffend hervorhob, ein „juristischer Nachtwandler" 112 . Wenn es also auch nicht richtig ist, wie meist behauptet wird 1 1 3 , daß Ehrlich überhaupt keine Unterscheidung zwi110
Grundlegung (N 90), S. 861. Das ist zu Recht der Einwand von Cohen (N 33), S. 187. 112 Barna Horvath: Rechtssoziologie, 1934, S. 262. 113 Roscoe Pound (Ν 5), Bd. II, S. 189: „Ehrlich used ,law' to mean all social control"; Julius Stone (Ν 5), S. 743; Wolfgang Friedmann (N 19), S. 202 f.; Luis Recasens Siches: 111
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sehen rechtlichen und außerrechtlichen Sozialnormen trifft, so stimmt doch, daß seine Abgrenzung praktisch unbrauchbar ist 1 1 4 . Außerdem enthält seine Argumentation einen logischen Bruch. Auf der einen Seite lehnt er die Zwangstheorie, die das Kriterium der Rechtsnorm in der Möglichkeit des Rechtszwanges durch den Rechtsstab sieht, zugunsten der Anerkennungstheorie mit der Begründung ab, daß man nicht vom Ausnahmefall, nämlich von der Übertretung der Norm ausgehen dürfe. Auf der anderen Seite stellt er aber ebenfalls auf die Übertretung ab, wenn er die Anerkennung durch die Gruppenmitglieder daran ablesen will, wie diese auf eine eingetretene oder vorgestellte Übertretung reagieren. Folgerichtiger war hier später der Holländer Adriaan Stoop 115, der die Gefühlstheorie von Ehrlich ins Extreme weiterentwickelte und nicht die Reaktion der Gruppe auf den Normbruch, sondern das Motiv des Einzelnen für seine Normbefolgung für entscheidend erklärt. Die Folge dieser strengen Anerkennungstheorie ist jedoch ähnlich wie bei der psychologischen Rechtstheorie von Petrazycki ne, daß der Geltungsbereich einer Rechtsnorm nahezu atomisiert wird. Je mehr man nämlich die Rechtsqualität von einer Verinnerlichung der Norm durch den einzelnen abhängig macht, desto kleiner wird ihr Anwendungsbereich. W i r sahen bereits, daß Ehrlich die Rechtsnorm von ihrer staatlichen Geltung unabhängig macht und durch seinen Begriff des lebenden Rechts als konkrete Handlungsnorm in den einzelnen gesellschaftlichen Verband verlegt. Dadurch zerfiel für ihn das Recht in Normen erster (Handlungsnormen) und Normen zweiter Ordnung (Entscheidungs- und Verwaltungsnormen). Das lebende Recht besteht aus Handlungsnormen auf einer durch die Normen zweiter Ordnung beeinflußten Stufe 117 . Das heißt aber bei einem Auseinanderfallen von Normen erster und zweiter Ordnung, daß nunmehr das Handeln des Rechtstabes unrechtmäßig wird; denn man kann doch nicht bei widersprechenden Lösungen beider Ordnungen beide Lösungen als rechtmäßig bezeichnen. Schon diese terminologische Unmöglichkeit, bei einheitlichem Rechtsbegriff zweierlei „rechtmäßiges Verhalten" anzuerkennen 118 , Tratado general de sociologia, 3. Aufl. 1960, S. 602; Alf Ross: Theorie der Rechtsquellen, 1929, S. 226; Fritz Sander (N 10), S. 963; Hans J. Wolff (Ν 28) ebd.; Franz Neumann (N 39), S. 353; Yehezkel Dror: Prolegomena to a Social Study of Law, in Journal of Legal Education 13 (1960), S. 131-156 (134). 114 Kritisch zu Recht Kelsen: Grundlegung (N 90), S. 861 -863; Leopold Wenger in Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 52 (1914), S. 502, 511 ff. ; Moritz Liepmann in Weltwirtschaftsarchiv 13 (1918), S. 75, 83; W i l h e l m Wundt: Völkerpsychologie Bd. 9: Das Recht, 1918, S. 179-185; Carleton Kamp Allan (N 85), S. 34; Thomas W. Bechtler: Der soziologische Rechtsbegriff, 1977, S. 74-78. 115 Analyse de la notion du droit, 1927. 116 Vgl. über diesen Karl Berthold Baum: Leon Petrazycki und seine Schüler, 1967, und Bechtler ( N i l 4), S. 78-101. 117 Vgl. Grundlegung (N 35), S. 159. 118 Darauf hat insbesondere Allan hingewiesen (N 85, S. 31).
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hätte Ehrlich zur Aufgabe seines Rechtsmonismus zwingen müssen, zumal er selbst erkannte, daß die Normen zweiter Ordnung in Wahrheit auch Handlungsnormen, nämlich Handlungsnormen für den Rechtsstab sind, und er als Rechtsstab, genauer: als Gericht nicht nur das staatliche Gericht, sondern jede eine solche Funktion ausübende gesellschaftliche Einrichtung verstand (§ 4,1 a). Zwischen der Rechtsordnung der Gesamtgesellschaft und der konkreten inneren Ordnung des Kleinverbandes mußte doch wesensmäßig ein Unterschied bestehen, und da Ehrlich das lebende Recht als konkrete Ordnung des jeweiligen Verbandes begreift, hätte er es nur noch klar auszusprechen brauchen, daß wir in Wahrheit einem Pluralismus von Handlungsnormen mit verschiedener Reichweite gegenüberstehen. Daß er dies versäumte, wird von Rechtssoziologen als entscheidender Mangel angesehen 119 ; denn die Vorstellung eines Rechtspluralismus der gesellschaftlichen Untergruppierungen gehört heute zur gesicherten Erkenntnis der Rechtssoziologie 120 . Entscheidender als die mangelnde Differenzierung der Rechtsordnungen ist allerdings, daß Ehrlich die Begründung dafür schuldig geblieben ist, warum es sich bei der inneren Ordnung eines einzelnen Verbandes bereits um Recht handelt. Wenn er den Rechtsstoff in gesellschaftliches Recht, Juristenrecht und staatliches Recht einteilt, so geht daraus zwar hervor, daß die gesellschaftliche Verbandsordnung genetisch als Rechtsquelle anzusehen ist. Doch die genetische Herkunft einer Norm sagt noch nichts über ihren Geltungsgrund. Zu Recht ist Ehrlich vorgehalten worden, der genetische Gesichtspunkt widerlege nicht die Lehre vom staatlichen Rechtsmonopol 1 2 1 . Man müsse vielmehr zwischen Erkenntnisquelle und Qualifikationsquelle unterscheiden 122 . Daraus hat man dann z. B. den Schluß gezogen, daß es keinen selbständigen soziologischen Rechtsbegriff geben könne, der sich von der staatlichen Rechtsordnung unterscheidet. Der Rechtsbegriff des rechtlichen Seins sei vielmehr, wie Kelsen 123 sagt, der Rechtssoziologie normativ, 119 Vgl. Pound (Ν 5), Bd. II S. 190; Georges Gurvitch: Grundzüge der Soziologie des Rechts, I960, S. 121; ferner Ross (Ν 113), S. 224-226. 120 Siehe W i l l i a m M. Evan: Public and Private Legal Systems, in ders.: Law and Sociology, 1962, S. 165-184. In Holland erscheint eine rechtsethnologische Zeitschrift mit dem Titel: Legal Pluralism. Klaus Röhl (Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, 1974, S. 118) meint zwar, von „Erkenntnis" könne hier keine Rede sein, da es eine Definitionsfrage sei, was man als Recht bezeichne. Er übersieht aber, daß die Gleichartigkeit der jeweiligen Sozialordnungen in den als entscheidend angesehenen Punkten keine Frage der Definition, sondern eine Frage der Erkenntnis ist. 121 Kraft (N 14), S. 39. 122 Nirchio (N 56), S. 541; Recasens Siches (N 113) will genetische Quelle und Quelle der Rechtsgeltung, Friedmann (N 19), S. 203, will Rechtstyp und Rechtsquelle und Gurvitch (N 61), S. 277, will primäre (Herkunfts)quellen und sekundäre (Feststellungs)quellen unterschieden wissen. 123 Grundlegung (N 90), S. 875 f.
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d. h. von der staatlichen Sollensordnung her vorgegeben. Eine selbständige Verbandsordnung sei nämlich als Recht nur insoweit verbindlich, als sie sich in dem Rahmen bewege, den ihr das staatliche Recht durch Gewährung einer „Privatautonomie" abgesteckt habe 1 2 4 . Für diese Ansicht scheint zu sprechen, daß Ehrlich einen Teil seiner Beispiele für lebendes Recht diesem Bereich der Privatautonomie entnahm 1 2 5 , daß er bei anderen Beispielen ausdrücklich offenließ, ob es sich dabei nur um Sitte handelt 1 2 6 , und daß er an einer Stelle sagt, das lebende Pachtrecht sei eine Verkehrssitte, die das dispositive Gesetzesrecht außer Kraft gesetzt habe 1 2 7 . Daraus könnte man tatsächlich den Schluß ziehen, daß die Rechtsqualität einer gesellschaftlichen Verbandsordnung von einer staatlichen Anerkennung abhängig ist, sei es durch Gewährung einer Privatautonomie, sei es mittels sogenannter Verweisungsnormen, die auf außerrechtliche Ordnungen wie z. B. die Verkehrssitte verweisen, oder sei es schließlich durch Feststellung von Gewohnheitsrecht. Dieser Schluß ist jedoch so lange voreilig, als man nicht geprüft hat, ob es nicht andere Kriterien gibt, die über die Abgrenzung von Rechtsordnung und Verbandsordnung entscheiden. Dies führt uns jedoch weg von der bisherigen Diskussion um Ehrlich und zwingt uns, das Sachproblem nunmehr vom Standpunkt einer modernen soziologischen Rechtstheorie aus anzugehen.
§ 11 Ehrlich und die Rechtssoziologie heute 1. Der Begriff des lebenden Rechts W i r gehen dabei von einem Beispiel aus, das in der Auseinandersetzung zwischen Ehrlich und Kelsen eine Rolle spielte. Ehrlich hatte festgestellt, daß seinerzeit in der Bukowina entgegen den Regeln des österreichischen ABGB von den Bauern über das Arbeitseinkommen ihrer Kinder frei verfügt wurde: „Ist solch ein Hauskind im Dienst, so erscheint in jedem Monat pünktlich der Vater oder auch die Mutter beim Dienstherrn und trägt den Dienstlohn ruhig nach Hause. Fragt man, warum die Kinder sich das ruhig gefallen lassen, so erhält man die Antwort, daß ein Widerstand etwas Unerhörtes wäre 1 ." 124 Gustav Boehmer: Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung, Bd. II, 1 (1951), S. 165; Max Rheinstein: Sociology of Law: Apropos Moll's Translation of Eugen Ehrlich's Grundlegung der Soziologie des Rechts, in Ethics (An International Journal of Social, Political, and Legal Philosophy) 48 (1937/38), S. 232, 236. 125 Vgl. Grundlegung (N 35), S. 27. 126 Vgl. oben § 3,3 sowie Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903), in Recht und Leben, 1967, S. 199. 127 Verhandlungen des 31. Dt. Juristentages Bd. III (1913), S. 791. 1 Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 298. Siehe auch Ehrlich: Soziologie und Jurisprudenz (1906), in Gesetz und lebendes Recht, 1986, S. 89-91.
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Kelsen meinte dazu, das bedeute doch noch nicht, daß ein solches Hauskind in der Bukowina kein Recht hätte, über sein Vermögen selbst zu verfügen. „Wird Herr Professor Ehrlich als Rechtsanwalt oder Richter antworten: Du bist rechtlich verpflichtet, dir gefallen zu lassen, daß deine Eltern über deinen Erwerb ohne deine Zustimmung verfügen? Ich zweifle nicht daran, daß Herr Professor Ehrlich als Richter oder Rechtsanwalt diesem Hauskind zu seinem Rechte nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche verhelfen wird — auch in der Bukowina!" Im übrigen sei der von Ehrlich geschilderte Tatbestand durchaus mit dem Gesetz zu vereinbaren; denn es bleibe dem Kind ja nach dem Gesetz unbenommen, von seinen Rechten keinen Gebrauch zu machen 2 . Wenn Ehrlich mit seinem Beispiel auch nur belegen wollte, daß es das ABGB in diesem Punkte trotz lOOjähriger Geltung nicht vermocht hatte, das Leben in der Bukowina zu beeinflussen, so fragt sich doch eben, ob es sich hier um das Rechtsleben handelt. Die lang andauernde Übung (longa diuturnitas) könnte man, auch wenn sie bei den Betroffenen mit der Vorstellung einer Notwendigkeit verbunden ist (opinio necessitatis), nur dann als Recht, und zwar als Gewohnheitsrecht bezeichnen, wenn sie auch von den deutschstämmigen Richtern und Beamten, die in der Bukowina den österreichischen Staat repräsentierten, als rechtmäßig anerkannt worden wäre. Denn von Gewohnheitsrecht, das dem Gesetzesrecht vorgeht, spricht man nicht bereits, wenn die Rechtsunterworfenen ein abweichendes Verhalten praktizieren, das durch dispositive Vorschriften von der Rechtsordnung gebilligt wird, sondern erst dann, wenn dieses Verhalten auch von den Gerichten und Behörden angewandt, d. h. ihren Entscheidungen und ihrer sonstigen Tätigkeit zugrunde gelegt wird. Schon Paul Oertmann 3 hat seinerzeit darauf hingewiesen, daß nicht die bloße Gestattung durch den Gesetzgeber, sondern erst die Anwendung durch Gerichte und Behörden die Gewohnheit als Recht qualifiziert. Es kommt also nicht auf eine gesetzliche „Lücke", auf einen gesetzlichen Spielraum für das Verhalten der Rechtsunterworfenen, sondern allein auf das Verhalten des Rechtsstabes an, nämlich darauf, ob dieser die Normen der Gruppenordnung anerkennt oder nicht. Damit haben wir das fehlende Kriterium gefunden, das Gruppenordnung und Rechtsordnung voneinander abgrenzt. Eine Rechtsordnung liegt nur dann und insoweit vor, als ein spezifischer Rechtsstab existiert, der die betroffenen Normen anwendet und durchsetzt. Das heißt: es kommt für die Rechtsqualität einer Norm entgegen Ehrlichs Ansicht auf den hinter ihr stehenden Zwang an, nämlich auf die Möglichkeit eines spezifischen 2 Kelsen: Eine Grundlegung der Rechtssoziologie, in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 39 (1915), S. 839, 874. 3 Staatliche und gesellschaftliche Rechtsbildung, in Archiv für Bürgerliches Recht 40(1914), S. 70,81.
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Rechtszwanges durch einen besonderen Rechtsstab (Zwangstheorie). Nicht die Anerkennung der Norm durch die Gruppe (Anerkennungstheorie), sondern die Anerkennung der Norm durch den Rechtsstab ist entscheidend 4 . Was von der Gruppe anerkannt sein muß, ist lediglich der Rechtsstab, und zwar sein Handeln ganz generell, nicht etwa sein Handeln im Einzelfall. W i r kommen gleich darauf zurück. Wenn man die Rechtsqualität einer Gruppenordnung von der Existenz eines besonderen Zwangsapparates abhängig macht, so bedeutet das nicht, daß nunmehr allein der Staat über die Rechtsqualität entscheidet und daß es in diesem Sinne nur staatliches, d. h. entweder vom Staat geschaffenes oder vom Staat anerkanntes Recht geben könne 5 . Denn nicht nur der Staat hat einen Rechtsstab. Es gibt auch eine Reihe anderer gesellschaftlicher Verbände, die einen Rechtsstab haben, d. h. eine Institution, die sich speziell mit der Anwendung und Durchsetzung von Normen beschäftigt, z. B. die Kirche (Kirchenrecht!), die Wehrmacht, die Beamtenschaft, die Universitäten, kurz: alle Gruppierungen, die ein besonderes „Disziplinarrecht" haben, ferner bestimmte Vereine (Vereinsrecht mit Vereinsgerichten), Parteien, Wirtschaftsverbände usw. Alle diese Gruppen, von denen man manchmal sagt, daß sie zu einem Staat im Staate würden, haben ihren eigenen Organisationsapparat, der über die Einhaltung ihrer spezifischen Gruppenordnung wacht. Sie alle haben daher im soziologischen Sinne ihre eigene Rechtsordnung. Sicher hat sich die staatliche Rechtsordnung als Ordnung der Gesamtgesellschaft vorbehalten, die Rechtsordnungen ihrer Untergruppierungen zu überwachen und zu korrigieren. Die Entscheidungen von Kirchenbehörden und kirchlichen Gerichten, von Vereins- und Schiedsgerichten, disziplinäre und andere verbandsinterne Maßnahmen können vor staatlichen Gerichten angefochten werden. W i r wissen jedoch, daß eine Nachprüfung nicht in vollem Umfange möglich ist. Das könnte man nun vom Standpunkt der Lehre vom staatlichen Rechtsmonopol damit erklären, daß der Staat den Verbänden eben eine (begrenzte) Autonomie zugesprochen hat. Sobald diese Verbände jedoch ihre selbstgeschaffene Verbandsordnung ohne Rückgriff auf den Staat, d. h. mit Hilfe eines eigenen Rechtsstabs durchsetzen können, besteht zwischen ihrer Verbandsordnung und der staatlichen Verbandsordnung kein wesensmäßiger Unterschied, mag der Staat auch eine 4 Zu Recht hat Hans Welzel darauf hingewiesen, daß die heute herrschende sogenannte generelle Anerkennungstheorie sich nur halten läßt, wenn man die „Anerkennung" nicht von den Rechtsunterworfenen, sondern von den Gerichten als den „Vollzugsorganen des Zeitgeistes" fordert (Die Frage nach der Rechtsgeltung, 1966, S. 17 f.). 5 So aber Oertmann (N 3, S. 80), Kelsen (N 2, S. 866) und die Mehrheit der Rechtstheoretiker.
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Art Oberaufsicht führen. Für den Rechtssoziologen gibt es daher, wie oben bereits erwähnt, einen Pluralismus der Rechtsordnungen und damit einen vom Staat unabhängigen, spezifisch soziologischen Rechtsbegriff. Dieser spezifisch soziologische Rechtsbegriff knüpft also an die Existenz eines besonderen Rechtsstabes an. Bevor sich ein solcher Rechtsstab gebildet hat, sind Recht und Sitte nicht zu trennen. Es herrscht eine Vorform des Rechts, das sogenannte Sittenrecht 6 . Das „Recht", das die Ethnologen untersuchen, ist daher oft kein Recht im soziologischen Sinne 7 . Erst der Rechtsstab ist es, der eine Gruppenordnung zur Rechtsordnung macht. Welze1 spricht in diesem Zusammenhang von den Gerichten als den „Umschaltstationen der soziologischen in die juristische Geltung (d. h. in die Rechtsgeltung)" 8 . Ehrlich sprach hier von der Umwandlung einer Tatfrage (tatsächlich geübte Gruppenordnung) in eine Rechtsfrage (vom Rechtsstab als verbindlich betrachtete Rechtsordnung) 9 . Theodor Geiger 10 sagt, daß die für das Recht wesensnotwendige besondere Kontrollinstanz aus der habituellen Norm (Sitte) eine statuierte Norm (Satzung) mache. Wenn wir also das Recht beobachten wollen, dann müssen wir die Tätigkeit dieser Kontrollinstanz beobachten. Nicht die Reaktion der Gruppe, sondern die Reaktion des Rechtsstabs ist entscheidend. Dem steht nicht entgegen, daß ein großer Teil der Rechtssätze, wie sich bereits aus ihrer sprachlichen Fassung ergibt, nicht an den Rechtsstab, sondern an die Rechtsunterworfenen gerichtet ist. Der Normstruktur nach ist es sicher richtig, wenn Ehrlich den Rechtsstoff in Normen erster und zweiter Ordnung, nämlich in Handlungsnormen für die Gruppenmitglieder und in Entscheidungs- und Verwaltungsnormen für den Rechtsstab unterteilt. Der Satz „Durch den Kaufvertrag wird der Verkäufer einer Sache verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und das Eigentum an der Sache zu verschaffen" (§ 433 Abs. 1 Satz 1 BGB) stellt sich nicht den Richter, sondern den Verkäufer als Normadressaten vor. Es wäre gekünstelt, wollte man in Fällen dieser Art die Handlungsnorm immer durch die entsprechenden Sanktionsnormen, d. h. durch diejenigen Normen ergänzen, die die Reaktionsmöglichkeit des Rechtsstabs auf den Bruch der Handlungsnorm vorschreiben, nur um dann am Ende auch die Handlungsnorm selbst als in Wahrheit an den Rechtsstab gerichtet ansehen zu können. W i r müssen aber bei der Verwirklichung von Rechtsnormen zwischen Befolgung und Anwen6 Siehe dazu Manfred Rehbinder: Einführung in die Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, § 3. 7 Ebenso Theodor Geiger: Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 1947, S. 83 f. ; Geoffrey Sawer: Law in Society, 1965, S. 27-47. 8 Welzel (N 4), S. 17. 9 Grundlegung (N 1), S. 281 f., 284. 10 Ν 7, S. 80-82,89-91.
9 Rehbinder, 2. Aufl.
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dung (Gebrauch) unterscheiden 11 . § 433 Abs. 1 Satz 1 BGB kann vom Rechtsstab zwar nicht befolgt, er kann aber von ihm gebraucht werden, nämlich zur Begründung von Sanktionen, die die Nichtbefolgung durch den Rechtsunterworfenen auslöst. Direktiven an die Gruppenmitglieder, die vom Rechtsstab nicht gebraucht werden können, d. h. Handlungsnormen im Sinne von Ehrlich, die vom Rechtsstab nicht angewandt werden können, sind unverbindliche Wünsche und Leitbilder, aber keine Rechtsnormen. Nehmen wir jetzt die Normen zweiter Ordnung, d. h. die Entscheidungs- und Verwaltungsnormen hinzu, so können wir sagen: Rechtsnormen sind nur solche Normen, die vom Rechtsstab befolgt oder angewandt werden können 12 . Es kommt dabei wohlgemerkt nicht auf ein aktuelles Befolgen oder Anwenden der Normen an, sondern nur auf die Möglichkeit. Nur die Möglichkeit eines spezifischen Rechtszwanges, nicht erst der tatsächlich gehandhabte Zwang entscheidet. Eine Rechtsnorm, die tatsächlich befolgt wird, ist lebendes Recht, obwohl kein Rechtszwang zu ihrer Durchsetzung ausgeübt zu werden braucht. Das bedeutet: Nicht die tatsächliche Reaktion des Rechtsstabes im gegebenen Einzelfall, sondern die Reaktionsbereitschaft entscheidet 13 . Ausschlaggebend für die Wirksamkeit einer Rechtsnorm ist also die Chance, vom Rechtsstab befolgt oder angewandt zu werden. Diese Disposition zur Befolgung oder Anwendung durch den Rechtsstab ist, leider auf die Anwendung begrenzt und daher zu eng, als „ Gerichtsfähigkeit " bezeichnet worden 14 . W i r kommen also zu dem Ergebnis, daß das lebende Recht aus denjenigen Normen besteht, die anzuwenden oder zu befolgen der Rechtsstab bereit ist. Damit ist die neukantianische Dichotomie von Sein und Sollen überwunden; denn das lebende Recht ist diejenige Sollensordnung, die im faktischen Verhalten des Rechtsstabes, d. h. in der Rechtspraxis ihre Entsprechung findet. Es ist derjenige Normenbereich, in dem die Sollensordnung durch die Rechtspraxis gedeckt ist, oder — um mit Theodor Geiger 15 zu sprechen — derjenige Bereich, in dem Normgefüge und Realordnung identisch sind. Das ergibt sich deutlich aus einer graphischen Darstellung, die auf der Grundlage der soziologischen Rechtstheorie von Karl Llewellyn entwickelt wurde 16 . 11
Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 10, 122; Eugenio Bulygin: Der Begriff der Wirksamkeit, in Ernesto Garzon Valdes: Lateinamerikanische Studien zur Rechtsphilosophie (ARSP Beiheft 41), 1965, S. 45-48; Heino Garrn: Rechtswirksamkeit und Rechtsgeltung, ARSP 55 (1969), S. 161-181 (169). 12 Es gibt auch Rechtsnormen, die weder von den Gruppenmitgliedern noch vom Rechtsstab ein bestimmtes Tun oder Unterlassen verlangen und die dementsprechend auch nicht befolgt werden können. Hart nennt sie „secondary rules" (The Concept of Law, 1961, S. 26-48, 78 f., 239). Diese gehören jedoch zu den Normen, die vom Rechtsstab angewandt werden. 13 Vgl. insbesondere Geiger (N 7), S. 138. 14 Kantorowicz: Der Begriff des Rechts (1963), S. 87-90; Bulygin (N 11), S. 56. 15 Ν 7, S. 22 f.
3. Kap.: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie
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quid optationis ? Gerechtigkeitsvorstellungen (Werte)
Rechtsnormen
quid iuris?
quid facti?
J= :
J
Hechtspraxis (real rule = law-ways)
totes Recht (paper rule) lebendes Recht (right-rule)
Gruppenleben (folkways)
Aus dieser Darstellung ist zu ersehen, daß die Rechtswissenschaft (besser: die Jurisprudenz) trotz der Einheit ihres Gegenstandes, des Rechts, in drei voneinander streng getrennte Bereiche zerfällt; denn es ist etwas Verschiedenes, ob ich mich mit dem Recht im Hinblick auf seine Idealität (Gerechtigkeit), im Hinblick auf seinen Normativität (Geltung) 17 oder im Hinblick auf seine Faktizität (Wirksamkeit) 1 8 beschäftige. Das Nachdenken über das „richtige" (gerechte) Recht ist Sache der Rechtsphilosophie. Sie fragt nach dem Warum (Wertehierarchie als Begründungszusammenhang) und dem Wohin (rechtspolitische Zielsetzungen). Die Bestimmung des „normativen Sinngehalts" des Rechts (die Entscheidung über das „Sollen" im Recht) ist Sache der Rechtsdogmatik. Sie fragt nach dem Wie (also nach dem Inhalt der Verhaltensvorschriften für den Staatsapparat oder die Rechtsunterworfenen und nach den Methoden seiner Ermittlung). Die Erforschung des „lebenden Rechts" (die Aussage über das „Sein" des Rechts) ist Sache der Rechtssoziologie. Sie fragt nach dem Was (beschreibt und erklärt also das Rechtsleben). Diese Dreiteilung der Jurisprudenz kann heute als die herrschende Meinung in der Rechtstheorie bezeichnet werden. Dabei erstaunt lediglich, daß es erst der Entwicklung einer besonderen Lehre von der Dreidimensionalität des Rechts bedurfte 19 , damit sich die Ausführungen von Kantorowicz aus dem Jahre 1925 über den „erkenntnistheoretischen Trialismus" 20 allgemein 16
Rehbinder: Karl N. Llewellyn als Rechtssoziologe, in KZfSS 18 (1966), S. 532,
550. 17 Gemeint ist hier die verfassungsmäßige Geltung i. S. der Untersuchungen von Rupert Schreiber (Die Geltung von Rechtsnormen, 1966, S. 64), d. h. das rechtliche Inkraftstehen. 18 Von Schreiber ebd., S. 58-63, faktische Geltung genannt. 19 Führend hier Miguel Reale (z. B. Aspectos da Teoria Tridimensional do Direito, 1961), vgl. aber auch Norberto Bobbio: Teoria della Norma Giuridica, 1958, S. 35-70, und Werner Goldschmidt: Das Seinsollen in der juristischen Welt gemäß der trialistischen Theorie, in Garzon Valdes (N 11), S. 147-153. 20 Abgedruckt in Rechtswissenschaft und Soziologie, 1962, S. 69-81.
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durchsetzen konnten 21 . Die Geschichte der Rechtswissenschaft zeigt jedoch, daß die Widerstände gegen die Anerkennung dreier gleichberechtigter juristischer Welten historisch bedingt waren. Bisher hatte man nämlich meist versucht, an einer Einheit festzuhalten und nur die Akzente zu verschieben. So hatte, um dies in groben Zügen anzudeuten, das kirchliche Naturrecht seinen Schwerpunkt in der Welt der Werte und versuchte, die Normativität des Rechts auf die Gerechtigkeit des kirchlichen Dogmas zu reduzieren. Das weltliche Naturrecht (Vernunftrecht) ersetzte die Gerechtigkeit des kirchlichen Dogmas durch die bürgerliche Ideologie und wandelte sich auf dem Hintergrund des Idealismus über die Volksgeistlehre zur Begriffsjurisprudenz und damit zu einem wissenschaftlichen Positivismus, der zwischen der Sphäre der Normen (Pandektenrecht) und der Welt der Werte (bürgerliche Ideologie) anzusiedeln ist. Nachdem das Ziel dieses älteren wissenschaftlichen Positivismus, nämlich die Vorwegnahme der politischen Vereinheitlichung Deutschlands durch Schaffung einer einheitlichen Rechtsordnung, mit Erreichung des Nationalstaates hinfällig geworden war, bedurfte man der Vernunft, d. h. der bürgerlichen Ideologie, nicht mehr und glaubte nun, die Gerechtigkeit auf die nationalstaatliche Normativität (Geltung) reduzieren zu können. Der wissenschaftliche Positivismus alter Prägung wandelte sich zu einem etatistischen Positivismus, wie er in der Reinen Rechtslehre mit ihrer Identität von Staat und Recht ihren klassischen Ausdruck gefunden hat. Wenn dieser etatistische Positivismus das Recht von Werten, die dem Staat quasi vorgegeben sind, befreien wollte, weil für ihn nur die staatliche Anordnung, nicht irgendwelche Rechtsideen maßgebend waren, so kam ihm hierin die Rechtssoziologie entgegen. Diese konnte nämlich durch Ideologiekritik die Welt der Werte als Quelle der Rechtsgeltung zerstören 22 . Die Rechtssoziologie zerstörte aber nicht nur die Dogmen im Bereich der Werte, sondern führte den Geltungsgrund des positiven Rechts hinter den Götzen „Staat" auf seine soziale Faktizität zurück. Anknüpfend an weltliches Naturrecht und historische Rechtsschule 23 wurde so dem etatistischen Positivismus ein wissenschaftlicher Positivismus neuer, nämlich soziologischer Prägung entgegengestellt 24 . Allerdings versuchte die frühe Rechtssoziologie 21 Vorläufer: Emil Lask, Gustav Radbruch, Frai^ois Geny: später: Georgio del Vecchio, Alfred Verdross, Hans Nawiasky (ZöR 13, 1933, S. 321-335), Josef L. Kunz, Roscoe Pound, Julius Stone, Eduardo Garcia Maynez, vgl. die Darstellung von Luis Recasens Siches: Panorama del Pensamiento Juridico en el Siglo XX, Bd. 1 (1963), S. 555-564. 22 Die Angst vor dieser Ideologiekritik war es, die später den Faschismus zwang, die Rechtssoziologie zu verbannen. 23 Vgl. Ehrlich: Grundlegung (N 1), S. 11-13, 357-380. 24 Zwangstheorie und Anerkennungstheorie sind — wie Martin Drath (Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts, 1963, S. 40) zu Recht hervorgehoben hat — soziologische Untermauerungen des Rechtspositivismus.
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und besonders die Freirechtslehre, die Normativität des Rechts auf seine Faktizität, d. h. die Geltung des Rechts auf seine Wirksamkeit zu reduzieren. Heute wissen wir, daß Normativität und Faktizität zwei verschiedene Ebenen sind, die beide zum Rechtsbegriff gehören 25 . Es gibt nicht nur eine normative Kraft des Faktischen, sondern auch eine faktische Kraft des Normativen. Und umgekehrt: nicht nur die Geltung, auch die Wirksamkeit gehört zum Recht. Lebendes Recht ist geltendes Recht, das wirksam ist. Die vorstehenden Ausführungen sind von Röhl 26 beanstandet worden, besonders die Feststellung, daß mit dem soziologischen Rechtsbegriff eines „lebenden Rechts" die neukantianische Dichotomie von Sein und Sollen überwunden sei. Wenn das Recht als Sollensordnung bezeichnet werde, die im faktischen Handeln des Rechtsstabs ihre Entsprechung findet, so würde durch die Zweideutigkeit des Wortes „Sollensordnung" der erkenntnistheoretisch unmögliche Übergang vom Sein zum Sollen „erschlichen". Die Betrachtungsweise der Dreidimensionalität sei nicht geeignet, „die logische Differenz von Wert und Wirklichkeit zu überwinden". Denn die Dimension der Normativität des Rechts gehöre, da in ihr wertfrei-analytische Bearbeitung von Sinngebilden stattfinde, noch ganz auf die Seite des Seins, so daß sie weder als Bindeglied zwischen Sein und Sollen geeignet sei noch zwischen Gerechtigkeit und Wirklichkeit vermitteln könne. Dies gibt mir Veranlassung zu folgenden Klarstellungen: Hier wird nicht behauptet, daß die „trialistische" Betrachtungsweise die logische Differenz von Wert und Wirklichkeit überwinden könne. Im Gegenteil wird betont, daß Normativität und Faktizität zwei verschiedene Ebenen sind. A n der „logischen Differenz von Wert und Wirklichkeit" wird also nicht gerüttelt. Hingegen wird behauptet, daß im Begriff des lebenden Rechts, wie ihn die soziologische Rechtsbetrachtung für die soziologische Jurisprudenz als einer angewandten Wissenschaft zur Verfügung stellt, sowohl Sollenselemente als auch Seinselemente enthalten sind. „Lebendes Recht ist geltendes Recht, das (beim Rechtsstab) wirksam ist" bedeutet, daß totes Recht, weil es bei faktischer Betrachtung nicht wirksam ist, für die praktische Rechtsanwendung auf der Ebene des Sollens ausscheidet. Totes Recht wird nicht nur faktisch nicht befolgt: es muß auch nicht mehr befolgt werden, weil der Rechtsstab es durchzusetzen nicht mehr willens ist. Die Normativität ist die Ebene des realen Sollens, die Gerechtigkeitsfrage ist die Ebene des idealen 25 „In der Rechtswirklichkeit streben Rechtsnormen verfassungsmäßiger Geltung nach faktischer Geltung und Rechtsnormen faktischer Geltung nach verfassungsmäßiger Geltung", so Schreiber (N 17), S. 258. „Recht als Lebensordnung und als Normordnung schließen sich nicht aus, vielmehr ist geltendes' Recht stets beides: normative und faktische Geltung sind ihm gleicherweise eigentümlich," so Karl Larenz: Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 65. 26 Klaus F. Röhl: Das Dilemma der Rechtstatsachenforschung, 1974, S. 120-122.
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Sollens. Beides ist erkenntnistheoretisch zu trennen. Es könnte z. B. als ideal anzusehen sein, wenn das tote Recht weiter befolgt würde. Doch lebendes Recht ist dieses formal in Kraft stehende, aber nicht mehr durchsetzbare Recht 27 eben nicht, und nur lebendes Recht soll der Rechtsanwendung zugrunde gelegt werden. Hiergegen hat nun aber Röhl einen rechtspolitischen Einwand: Legt man den empirisch gewonnenen Prognosen künftiger Gerichtsentscheidungen, die mit der Feststellung lebenden Rechts verbunden sind, „zugleich Sollbedeutung bei, so fängt man sich in einem Zirkel der Beharrung, den gerade die soziologische Jurisprudenz, die doch dem sozialen Wandel Rechnung tragen möchte, zu entfliehen versuchen muß: Der Richter wird voraussichtlich entscheiden, wie er immer entschieden hat. W e i l er immer so entschieden hat, soll er auch künftig nicht anders urteilen. Eine Änderung der Rechtsprechung wäre immer nur Zufall, Mißverständnis oder die Folge mangelhafter Information" 28 . In der Tat ist soziologische Jurisprudenz im Sinne Ehrlichs ein im Ganzen tendenziell konservatives Vorgehen. Freie Rechtsfindung kommt ja nur bei echten Lücken im System der Rechtssätze in Betracht. Aber auch bei der Anwendung bestehender Rechtssätze geht es nicht allzu statisch zu, sondern kommt es langsam zu Veränderungen. Denn der Richter muß stets von Neuem befinden, ob die vorhandene Norm auf den Einzelfall anwendbar ist. Das Gesetz der Stetigkeit der Entscheidungsnorm, sagt Ehrlich 2 9 , gilt nur bei oberflächlicher Betrachtung. In Wahrheit handelt es sich oft gar nicht um dieselbe Norm; sie hat einen neuen Inhalt erhalten 30 . Erkenntnistheoretisch sind also Sollen und Idealität getrennt. In der soziologischen Jurisprudenz, als einer angewandten Wissenschaft, wird der erkenntnistheoretische Graben aber überwunden, weil dies dem Leben dient.
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Z. B. Art. 167 Schweiz. ZGB: „Mit ausdrücklicher oder stillschweigender Bewilligung des Ehemannes ist die Ehefrau unter jedem ehelichen Güterstande befugt, einen Beruf oder ein Gewerbe auszuüben. Verweigert der Ehemann die Bewilligung, so kann die Ehefrau vom Richter zur Ausübung ermächtigt werden, wenn sie beweist, daß diese im Interesse der ehelichen Gemeinschaft oder der Familie geboten ist. Das Verbot des Ehemannes ist gutgläubigen Dritten gegenüber nur dann rechtswirksam, wenn es von der zuständigen Behörde veröffentlicht worden ist." 28 Röhl (N 26), S. 120. 29 Siehe oben § 4, 2 a. 30 Durch diesen Normwandel verlieren Rechtsinstitute ihre Identität. Dies ist der Einwand Ehrlichs gegen Karl Renner; siehe Grundlegung S. 328, wo er dessen damals noch unter Pseudonym erschienene Schrift jedoch nicht ausdrücklich nennt. Zum Bedeutungswandel der Norm durch Rechtsanwendung der Juristen („Konstruktion" oder besser „Fiktion") ferner sehr schön Llewellyn: Recht, Rechtsleben und Gesellschaft, 1977, S. 98 f.
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Auch Kelsen hat Ehrlich bekanntlich eine „Erschleichung 1' des Übergangs vom Sein zum Sollen vorgeworfen. So sprach er in Wiederaufnahme der Kontroverse mit Ehrlich später von einer „sich »soziologisch' gebärdenden Richtung der bürgerlichen Jurisprudenz", bei der es sich in Wahrheit wie bei der marxistischen Rechtslehre um eine „kryptonaturrechtliche" Richtung handle 31 . In der Gegenwart sieht Ville y in Ehrlichs Vorgehen die Methode des klassischen Naturrechts wieder zum Leben erweckt 32 und weist darauf hin, daß Ehrlich die Ableitung des Rechts aus den Tatsachen dem römischen Recht entnommen habe, wie man an den Digestentiteln (de rebus creditis, de pecunia consti tuta usw.) sehen könne 3 3 . Ehrlich selbst hat zwar in einer längeren Abhandlung das seinerzeit fortschrittliche Naturrechtsdenken der Aufklärung dem konservativen Rechtsdenken der historischen Rechtsschule ausdrücklich vorgezogen 34 , würde sich aber gegen die Charakterisierung seiner Lehre als naturrechtlich entschieden gewehrt haben, weil darin der bekannte Vorwurf des „naturrechtlichen Zirkelschlusses" liegt (aus der Natur wird als Sollen herausgeholt, was man vorher in sie hineingelegt hat), ein Vorwurf übrigens, der sich auch gegenüber einer „verstehenden" Soziologie aufdrängt (siehe o. § 10, 2 c). Seine Rechtstatsachen sind nicht die Rechtstatsachen von Arthur Nußbaum, sondern die „normativen Fakten" von Georges Gurvitch und damit faits sociaux im Sinne Emile Dürkheims (besser: sachlogische Strukturen) 35 , da die innere Ordnung der menschlichen Verbände für Ehrlich bereits Rechtsverhältnisse regelt. Ehrlich macht also ausdrücklich einen Unterschied zwischen Tatsachen und Tatsachen des Rechts, die er ja auf vier beschränkt (s. o. § 4, 2 b). Er leitet deshalb kein Sollen aus dem Sein ab. Seine Rechtstatsachen sind der faktische Aspekt des Sollens. Hier ging Llewellyn bewußt weiter, wenn er Ehrlichs Begriff der Regeln des Handelns ausdrücklich als zu normativ klingend ablehnte und stattdessen von „Handien" (practices, folkways) sprach, die er zum Gegenstand seiner Rechtsbeobachtung machen wolle 3 6 . Ob man dies als Recht bezeichnen wolle, fand er einen Streit um Worte 3 7 .
31 Hans Kelsen: Allgemeine Rechtslehre im Lichte materialistischer Geschichtsauffassung (1931), in ders.: Demokratie und Sozialismus, 1967, S. 107, 114. 32 M. Villey: Etudes récentes sur Ehrlich et le sociologisme juridique, in Archives de philosophie du droit 1968, S. 354. 33 Ebd. S. 353. 34 Ehrlich: Sociale Gesetzgebungspolitik auf dem Gebiete des Deutschen Privatrechts, in Unsere Zeit 1890 I, S. 433-451. 35 Dazu näher M. Rehbinder: Die Rechtstatsachenforschung im Schnittpunkt von Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz, in Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), S. 333-359, 343-347. 36 Llewellyn (Ν 30), S. 77 ff. 37 Ebd. S. 69.
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Man muß aber Ehrlich einen anderen Zirkelschluß zum Vorwurf machen. Um nämlich von Tatsachen des Rechts sprechen zu können, muß man wissen, woran man das Recht erkennt. Es muß also schon eine Rechtsnorm geben, bevor das Rechtsverhältnis da ist 3 8 . Der Mangel des Fundaments von Ehrlichs Rechtstheorie ist also sein Rechtsbegriff, weil er den Rechtsstab und sein Handeln erst in zweiter Linie betrachtet wissen will. Llewellyn spricht zwar zu Recht von Ehrlichs „genialer Einsicht": „Ungleich wichtiger als alles Beamtenhandeln bleibt doch die Ordnung in der Gesellschaft" 39 . Aber dies taugt nicht — wie Llewellyn selbst sieht — zum Argument gegen eine wie immer im einzelnen gefaßte Zwangstheorie,· denn die Zwangstheorie möchte ja keine Wesensaussage zum Recht machen, sondern wählt nur aus methodischen Gründen die Möglichkeit eines spezifischen Rechtszwanges zum Zwecke der Definition (Abgrenzung) des Rechts 40 . Ehrlich Zirkelschluß betreffend die Rechtstatsachen ist aber gleichwohl nicht, wie Kelsen meint, ein naturrechtlicher Zirkelschluß. W i e Llewellyn klar herausgestellt hat, geht es bei der Erklärung einer Überbrückung der Kluft zwischen Sein und Sollen keinesfalls um eine philosophische Rechtfertigung, sondern allein um eine Erklärung des Entstehungsvorganges der Norm 4 1 . Das infolge seiner Regelnatur Erwartete wird „triebhaft" zum Gesollten 42 . Die normative Kraft des Tatsächlichen, die zu erklären Sache der Psychologen ist, beruht auf dem Rechtsgefühl, das aus der Erwartung entsteht 43 . Ehrlich hat ja außer der Erwähnung von Tarde deutlich auf das Rechtsgefühl verwiesen als Grund dafür, warum eine Norm zur Rechtsnorm wird. Ein Zirkelschluß im neukantianischen Sinne liegt also nicht vor.
2. Die Rolle des Gruppenlebens in der soziologischen Rechtstheorie Für die Bewertung des Ehrlichschen Lebenswerkes ergibt sich daraus folgendes: Ehrlichs soziologische Rechtstheorie ist grundlegend, weil er mit ihr dem etatistischen Positivismus einen neuen wissenschaftlichen Positivismus auf soziologischer Grundlage entgegengestellt hat. Dieser Weg war und bleibt richtig. Die Frontstellung gegen den etatistischen Positivismus führte jedoch dazu, daß er nicht nur den Staat, sondern auch den Rechtsstab, 38 So richtig Hubert Rottleuthner: Rechtstheoretische Probleme der Rechtssoziologie, in W . Krawietz/H. Schelsky: Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen (Rechtstheorie Beiheft 5), 1984, S. 521-551 (541). 39 Llewellyn (Ν 30), S. 48. 40 So zu Recht Thomas Bechtler: Der soziologische Rechtsbegriff, 1977, S. 57 Ν 9. 41 Llewellyn (Ν 30), S. 57. 42 Ebd. S. 56. 43 Ebd. S. 107.
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der mit dem Staat identifiziert wurde, aus dem Rechtsbegriff ausklammerte. Dadurch schlug das Pendel allzu weit vom Normativen in das Faktische aus; denn nun fehlte das Bindeglied, um Faktizität und Normativität zu vereinen. Ehrlich hat zwar gesehen, daß im Begriff des lebenden Rechts normative und faktische Momente miteinander verbunden sind 44 . Aber dadurch, daß er vom Zwangshandeln des Rechtsstabes absah 45 und die Anerkennungstheorie zugrundelegte, mußte er das Recht unmittelbar in das Gruppenleben verlegen. Infolgedessen hat er, darauf wurde vor allem von australischen Rechtssoziologen hingewiesen 46 , das lebende Recht mit dem identifiziert, was in der allgemeinen Soziologie im Anschluß an die Untersuchungen von Sumner 47 mit dem Ausdruck folkways bezeichnet wird. Während jedoch Sumner und mit ihm die neuere Soziologie 48 innerhalb der folkways das Recht als dasjenige Gruppenverhalten abhebt, das durch einen Sanktionsapparat erzwungen wird, ist Ehrlich, der diesen Sanktionsapparat nicht zu Hilfe nehmen wollte, mit seiner Gefühlstheorie gescheitert. Das alles besagt aber lediglich, daß es Ehrlich nicht gelungen ist, das Recht von den anderen Sozialordnungen richtig abzugrenzen. Es besagt keinesfalls, daß seine materiellen Aussagen über funktionelle Abhängigkeiten und Bewegungen in der Rechtswirklichkeit für uns heute wertlos sind; denn diese Aussagen sind von der richtigen Definition des Rechtes völlig unabhängig. Das hat bereits Felix S. Cohen gesehen, wenn er in seiner Rezension der amerikanischen Ausgabe der Grundlegung Ehrlich entgegenhält: „One does not have to define law as including social customs and institutions in order to recognize, that these things are important for the understanding of law — 44 „Ich bezeichne in meinem Buche als lebendes Recht die rechtlichen Sollregeln, die nicht bloß Entscheidungsnormen geblieben sind, sondern das menschliche Handeln tatsächlich beherrschen": Replik, in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 42 (1916/17), S. 609, 610. 45 Anders noch in seiner Jugendschrift: Über Lücken im Rechte (1888), in Recht und Leben, 1967, S. 121. 46 Geoffrey Sawer (N 7), S. 170-189, insbesondere S. 174, 176 f.; P. H. Partridge: Ehrlich's Sociology of Law, in Geoffrey Sawer: Studies in the Sociology of Law, 1961, S. 1 -29. Beide Arbeiten schießen jedoch in ihrer Kritik weit über das Ziel hinaus, wenn es z. B. bei Sawer (S. 176) heißt: „he built a monstrous theoretical structure which, so far as intelligible, is selfcontradictory" oder bei Partridge (S. 12): „It is difficult to nail him down because he persists in claiming more than he is willing to defend; whenever he puts a card on the table you can be sure that within a few pages he will have snatched it away again." Es ist zu hoffen, daß die vorliegende Arbeit dazu beträgt, dergleichen unsubstantiierte oder unrichtige Wertungen in Zukunft zu verhindern (Partridge ebd. verwechselt in seiner Begründung lebendes Recht und gesellschaftliches Recht). 47
William Graham Sumner: Folkways, 1906, Nachdruck 1940. Vgl. die Darstellung von Maurice R. Davie: Folkways, in Encyclopaedia of the Social Sciences, Vol. V I (1931), S. 293-296, sowie statt vieler George Caspar Homans: Theorie der sozialen Gruppe, 2. Aufl. 1965, S. 273. 48
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any more than physicians must define the human body as including its environment in order to recognize the influence of that environment 49 ." Das bedeutet: W i r können den Rechtsbegriff ruhig im Zwischenbereich von Normativität und Faktizität ansiedeln und seinen Wirklichkeitsgehalt im Rechtsstabshandeln, d. h. in der Rechtspraxis (law-ways) sehen, ohne damit leugnen zu müssen, daß auch das Gruppenverhalten (folkways) für die Rechtswirklichkeit von großer Wichtigkeit ist. Es braucht daher abschließend nur noch gezeigt zu werden, welche Rolle diesem Gruppenverhalten, das Ehrlich zur Grundlage seines Rechtsbegriffs machte, in der modernen soziologischen Rechtstheorie zukommt. Wenn Ehrlich die Rechtswirklichkeit in die Handlungsnormen der einzelnen Verbände verlegte und wenn er diese Rechtswirklichkeit durch seine Trennung von Rechtssätzen, die allgemein gelten, und Rechtsnormen, die partiell im einzelnen Verbände gelten, in einen unendlichen Pluralismus der Rechtsordnungen auflöste 50 , so hat er doch von dieser konkreten Verbandsordnung unverhältnismäßig viel weniger gesprochen als vom sogenannten Juristenrecht. Seine Schriften zeigen deutlich, daß er die entscheidende Instanz jeder Rechtsentwicklung trotz seiner anderslautenden theoretischen Erwägungen eigentlich immer in der Tätigkeit der Juristen gesehen hat. Deshalb kann man mit gewisser Berechtigung sagen, daß er die Juristen, den Rechtsstab, ganz richtig als „Umschaltstation" erkannt hat. Sein lebendes Recht sollte in der Rechtspraxis, wie wir bei der Darstellung der Freirechtslehre gesehen haben (§ 9), nur in sehr engem Rahmen Anwendung finden, nämlich bei der Ausfüllung von Lücken im System der Rechtssätze. In einen Satz zusammengefaßt heißt seine Freirechtslehre: Bei Lücken im Rechtssystem greift nicht zur Konstruktion, sondern ermittelt zunächst das lebende Recht und wertet dann durch Aufstellung einer Entscheidungsnorm, wie der Gesetzgeber werten würde, d. h. als Organ der Gesellschaft unter Zugrundelegung der dort vorfindbaren Wertvorstellungen! Lücken im Rechtssystem liegen für ihn allerdings nicht nur bei fehlender gesetzlicher Regelung, sondern auch bei den sogenannten Verweisungsnormen vor, die einen bestimmten sozialen Sachverhalt ausdrücklich anderen Regelungen unterwerfen. Das geschieht entweder durch Gewährung einer Privatautonomie (Vertragsfreiheit, dispositives Recht) oder durch generalklauselartige Verweisungen auf außerrechtliche Sozialordnungen (Treu und Glauben, Verkehrssitte, gute Sitten etc.). Theodor Geiger 51 spricht hier von legislatorischer Autorisation. Fehlt es an einer gesetzlichen Rege49 Lucy Kramer Cohen (ed.): The Legal Conscience. Selected Papers of Felix S. Cohen, 1960, S. 185, 191. 50 Vgl. dazu die berechtigte Kritik von Kelsen (Ν 2), S. 870. 51 Geiger (Ν 7), S. 137.
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lung überhaupt und füllt das Gericht die Lücke durch „lebendes Recht" (folkways) aus, so spricht Geiger von judikatorischer Option. Proklamiert schließlich der Gesetzgeber eine solche Norm des Gruppenverhaltens als staatlichen Rechtssatz, dann spricht Geiger von legislatorischer Option. Mit diesen drei Möglichkeiten sind auch für Ehrlich die Einbruchsstellen der Gruppennormen in das Normensystem der Rechtssätze erschöpft. Diese Einbruchsmöglichkeiten in das rechtliche Normensystem sind aber nicht der einzige Grund, weshalb das Gruppenverhalten für das Recht von Bedeutung ist. Das Recht arbeitet nämlich nicht im luftleeren Raum. Es ist ein Mittel sozialer Kontrolle, dazu bestimmt, das Sozialleben, d. h. das Gruppenverhalten zu steuern und zu korrigieren 52 . Ob es diese Aufgabe tatsächlich erfüllt, kann nur durch Beobachtung des Gruppenverhaltens festgestellt werden. Gelingt es ihm nicht, die in den Rechtsnormen zum Ausdruck kommenden Verhaltenserwartungen im Gruppenleben zu realisieren, hat es seine Aufgabe verfehlt. Es kommt daher im Sozialleben, wie Llewellyn 53 sagt, oft zu einem Kampf zwischen law-supporter und law-consumer, also zwischen Rechtsstab und Gruppe, von dessen Ausgang der Erfolg des Rechts abhängt. Als Rechtswirklichkeit ist deshalb das Interaktionsfeld von Rechtsstab (Rechtspraxis) und Gruppe anzusehen. Die Beobachtung des lebenden Rechts geht infolgedessen in mehreren Stufen vor sich. Kehren wir, um dies zu illustrieren, zu unserem Ausgangsbeispiel vom bukowinischen Bauern zurück, der über das Arbeitseinkommen seiner Kinder frei verfügt, so suchen wir zunächst in der Welt der Rechtssätze einen bestimmten sozialen Sachverhalt, hier: die Verfügung über das Arbeitseinkommen von Kindern heraus und fragen, welches Verhalten erwartet wird. Dann beobachten wir das Gruppenleben und sehen, ob dieser Verhaltenserwartung entsprochen wird. Ist das, wie in unserem Beispiel, ganz überwiegend nicht der Fall, so dürfen wir daraus nicht etwa schließen, daß nun das lebende Recht anders als das gesetzlich vorgeschriebene ist. Wenn wir nämlich den „Rechtstest" machen und fragen, was geschieht, wenn von dem in der Wirklichkeit vorherrschenden Verhaltensmuster abgewichen wird, dann können wir allenfalls informale Sanktionen der Gruppe feststellen (Schwierigkeiten in der Familie, Minderung des Ansehens im Dorf) 54 , nicht 52 Über die einzelnen Funktionen des Rechts vgl. näher Rehbinder: Die gesellschaftlichen Funktionen des Rechts, FS René König (Soziologie), 1973, S. 354-368. 53 Jurisprudence. Realism in Theory and Practice, 1962, S. 446. 54 Werden diese informalen Sanktionen vom Rechtsunterworfenen als schwerwiegender empfunden als die rechtlichen Sanktionen oder empfindet er das Verhaltensmuster der folkways als legitimer, dann muß das Recht unwirksam bleiben, weil der Rechtsunterworfene den für ihn vorliegenden Rollenkonflikt zuungunsten der rechtlichen Verhaltenserwartung entscheiden wird. Über die Theorie der Lösung von Rollenkonflikten vgl. die interessanten Ausführungen von Neal Gross, Ward S. Mason, Alexander W. McEachem: Explorations in Role Analysis, 1958, S. 281-318.
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aber die formalen Sanktionen eines spezifischen Rechtsstabes. Das vorherrschende Verhaltensmuster ist also kein Recht. Umgekehrt ist aber der rechtliche Normensatz erst dann lebend, wenn wir feststellen können, daß das in ihm vorgesehene Verhaltensmuster irgendwo im Gruppenleben praktiziert wird, und wenn auch nur in verschwindend wenigen Fällen. Ist das der Fall, was wir hier einmal unterstellen wollen, dann müssen wir wiederum den „Rechtstest" machen und fragen, ob im Streitfall der Rechtsstab zugunsten dieser Verhaltensweise eingreifen wird. Diese Frage müssen wir hier bejahen; denn die deutschstämmigen Richter und Beamten würden die Vorschriften des ABGB anwenden und dem Kinde zu seinem Recht verhelfen. Können wir also auch nur in verschwindend geringem Umfang ein Verhalten beobachten, das normativ erwartet und vom Rechtsstab unterstützt wird, dann liegt lebendes Recht vor. Das Verhältnis der Häufigkeit, in dem das rechtlich erwartete Verhalten zum abweichenden Verhalten steht, stellt den Grad der sozialen Wirksamkeit des Rechts dar. Diesen Wirkungsgrad bezeichnet man im Anschluß an die Untersuchungen von Theodor Geiger 55 als Effektivitäts-Quote 56 . Die Beobachtung des Gruppenlebens entscheidet also über die Effektivitäts-Quote des Rechts. Es gibt auch noch einen dritten Grund, sich mit dem Gruppenleben zu beschäftigen. Er hängt mit dem Grad der Geltung, d. h. mit dem Umfang der normativen Verbindlichkeit zusammen und wird mit dem Stichwort „Autorität" gekennzeichnet. Die normative Geltung, nämlich das rechtliche Inkraftstehen, beruht darauf, daß die normsetzende Instanz bei der Willensbildung und Willensäußerung die verfassungsmäßig (normativ) vorgeschriebenen Verfahrensweisen und sonstigen Anweisungen beachtet hat, deren Einhaltung die Normierung als offiziell und bindend (legitim) kennzeichnet. W i e stark jedoch die normative Geltung ist, hängt davon ab, inwieweit die Gruppe den Rechtsstab als Ganzes anerkennt, d. h. inwieweit der Rechtsstab in der Gruppe Autorität besitzt. In politisch unruhigen Zeiten wird die Autorität geringer, in politisch stabilen Verhältnissen wird die Autorität größer sein. Je nachdem ist auch der Verbindlichkeitsgrad des Rechts, der nicht mit der Effektivitäts-Quote gleichzusetzen ist, größer oder geringer. Auf die einzelnen Quellen der rechtlichen Autorität braucht an dieser Stelle nicht eingegangen zu werden 57 . Entscheidend ist hier lediglich, daß sie nur durch Beobachtung des Gruppenlebens festgestellt werden kann. Die Gruppe muß den Rechtsstab als solchen anerkennen, wobei Anerken55
Geiger (N 7), S. 177-182, 219-224. In der Kriminologie geht man dagegen von der Ineffektivitäts-Quote aus und spricht von Dunkelziffer. 57 Es sei kurzerhand auf die Ausführungen von Llewellyn verwiesen, dargestellt bei Rehbinder (N 16), S. 538 und 545. 56
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nung hier nichts mit innerer Bejahung zu tun hat. Die bloße Fügsamkeit genügt. Zusammenfassend können wir feststellen, daß das Gruppenleben für den soziologischen Rechtsbegriff in dreifacher Hinsicht von Bedeutung ist: Einmal im Hinblick auf den Normeninhalt (Einbruchsstellen der folkways in das Normativsystem), zweitens im Hinblick auf den Wirkungsgrad (Effektivitäts-Quote) und drittens im Hinblick auf den Geltungsgrund (Autorität). Wenn Ehrlich darüber hinaus glaubte, das Recht selbst könne im Gruppenleben beobachtet werden, so ist hier ein Ideologieverdacht anzumelden. Schon Max Rheinstein 58 hat gegenüber der judikatorischen Option von „lebendem Recht" eingewandt, Ehrlichs Forderung, die Richter sollten ihre Werturteile aus der Beobachtung des Lebens derjenigen entnehmen, deren Streit sie entscheiden, sei nichts anderes als das politische Postulat der vollkommenen Demokratie. Politische Postulate dürften aber nicht als wissenschaftliche Wahrheit ausgegeben werden. Außerdem reflektiere das tatsächliche Verhalten der Gruppe nicht immer auch ihre Wertvorstellungen. Nun wird man Ehrlich kaum den Vorwurf machen können, daß er Gruppenverhalten und Wertvorstellungen gleichsetze. Der Richter, der seine Entscheidungsnorm zu finden hat, soll zwar zunächst das Gruppenverhalten beobachten. Da seine Entscheidungsnorm aber nicht für den Friedensfall, sondern für den „Kriegsfall" gilt, muß jetzt noch eine zusätzliche Wertentscheidung getroffen werden. Diese zusätzliche Wertung soll der Richter den Gerechtigkeitsvorstellungen in der Gesellschaft entnehmen, und wenn er keine vorherrschende Gerechtigkeitsströmung feststellen kann, ist er auf sich selbst angewiesen (der Richter als Gerechtigkeitskünstler, vgl. § 6, 1 b). Es ist also nicht so, daß Ehrlich seine rechtlichen Wertungen aus dem tatsächlichen Verhalten der Gruppe ablesen wollte, daß er m. a. W. dem anheimgefallen wäre, was Arthur Kaufmann 59 den Kryptonormativismus genannt hat, Kelsen das Kryptonaturrecht (dazu oben unter I a. E.). W i r müssen jedoch zwischen Rechtssoziologie und soziologischer Jurisprudenz trennen. In seiner Freirechtslehre konnte Ehrlich durchaus vertreten, daß Rechtsfindung und Rechtsanwendung in diesem Sinne demokratisch, d. h. entsprechend dem Gruppenleben und Gruppenwillen zu erfolgen habe. Sein Fehler war aber — und insofern ist die Ideologiekritik von Rheinstein berechtigt —, daß er dieses demokratische Moment auch in seine Rechtstheorie übernahm. Hatte der etatistische Positivismus Staat und Recht identifi58
Sociology of Law. Apropos Moll's Translation of Eugen Ehrlichs Grundlegung der Soziologie des Rechts, in Ethics (An International Journal of Social, Political, and Legal Philosophy) 48 (1937/38), S. 232, 235 f. 59 In Umkehrung des Vorwurfs einer Kryptosoziologie, den Ernst Fuchs dem formaljuristischen Denken machte, vgl. Kaufmann in Ernst Fuchs: Gerechtigkeitswissenschaft, 1965, S. 13.
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ziert, so läuft Ehrlichs Behauptung, die Richter, oder allgemeiner: die Juristen seien stets Vollzugsbeamte der Gesellschaft, auf eine Identifizierung von Gesellschaft und Recht hinaus 60 . Seine These, der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liege stets und überall in der Gesellschaft selbst, trifft in dieser Zuspitzung, wenn überhaupt, so nur auf den demokratischen Staat zu 6 1 . Diktaturen sehen hier anders aus. Daher konnte sie nicht als Ausgangspunkt für eine allgemeine soziologische Rechtstheorie dienen. Wollen wir uns daher ein abschließendes Urteil über die Bedeutung Ehrlichs bilden, so werden wir sagen müssen: Ehrlich war ein Vorkämpfer für die Demokratisierung des Rechts. Da aber politische Grundhaltungen auf Wertungen beruhen und demgemäß weder verifizierbar noch falsifizierbar sind, war sein Bemühen, die demokratische Rechtsauffassung mit wissenschaftlichen Mitteln als richtig zu erweisen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Bemühen jedoch, über das Recht wissenschaftliche, d. h. empirisch nachprüfbare 62 Aussagen zu machen, führte ihn zur Grundlegung der eigentlichen Wissenschaft vom Recht: der Rechtssoziologie.
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Das ist bereits von Kelsen (N 2), S. 870, hervorgehoben worden. Siehe Hans Ryffel: Rechtssoziologie, 1974, S. 56: In demokratischen Ordnungen ist der Zwangscharakter des Rechts zurückgetreten, und das Recht kann sich in steigendem Maße auf die Akzeptation durch die Rechtsgenossen stützen. 62 Vgl. für die heutige Auffassung Schreiber (N 17), S. 255: „Rechtsnormen faktischer Geltung (sind) Rechtsnormen mit der logischen Struktur von empirischen Gesetzen. Sie sind also verifizierbar bzw. falsifizierbar. Ihr Inhalt besteht in Beschreibung der Tätigkeit des Sanktionsapparates." 61
Bibliographie der W e r k e Eugen Ehrlichs 1. Über Facturenbeisätze, Juristische Blätter 1887, S. 365-391 (in Forts.) 2. Über Lücken i m Rechte, Juristische Blätter 1888, S. 447-630 (in Forts.); Nachdruck in: Recht und Leben (unten Nr. 69), S. 80-169 3. Das Stillschweigen im Handelsverkehre, Kaufmännische Zeitschrift X V (1889), S. 202-204 4. Sociale Gesetzgebungspolitik auf dem Gebiete des Deutschen Privatrechts, Unsere Zeit 18901, S. 433-451 5. Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und die socialpolitischen Bestrebungen der Gegenwart, Unsere Zeit 1890 II, S. 21-35 6. Die arische Urgesellschaft, Deutsche Worte X (1890), S. 353-374 7. Die sociale Frage und die Rechtsordnung, Die Neue Zeit IX 2 (1891), S. 431-544 (in Forts.) (anonym, jedoch weitgehend inhaltsgleich mit Nr. 8 und 15) 8. Arbeiterschutz im Privatrechte, Arbeiterschutz II (1891), S. 209-243 (in Forts.); nachgedruckt in Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70), S. 11-23 9. Rezension Gustav Lastig: Markenrecht und Zeichenregister. Ein Beitrag zur Handelsrechtsgeschichte, 1889, Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart (hg. von Grünhut) 18 (1891), S. 197-198 10. Rezension Max Weber: Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, 1889, GrünhutsZ 18 (1891), S. 198 11. Rezension Adolf Klewitz : Die Verpflichtung zur Rechnungsstellung, 1890, GrünhutsZ 18 (1891), S. 286-287 12. Rezension Kossaburo Kishi: Das Erbrecht Japans, insbesondere Kritik des Intestaterbrechts der Codification vom Jahre 1890, Diss. Göttingen 1891, GrünhutsZ 19 (1892), S. 535-536 13. Rezension Anton Menger: Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, 2. Aufl. 1891, GrünhutsZ 19 (1892), S. 537 14. Rezension W i l h e l m Pappenheim: Über die fortdauernde Giltigkeit der einberufenen Staatsnoten ..., 1891, GrünhutsZ 19 (1892), S. 696 15. Die sociale Frage im Privatrechte, Juristische Blätter 1892, S. 97-135 (in Forts.); nachgedruckt in Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70), S. 24-47, japanische Übersetzung 1981 durch Minoru Nishimura in Hogakkai Zasshi Bd. 30 Heft 3 16. Rezension Oscar Francken: Die Liquidatur der offenen Handelsgesellschaft in geschichtlicher Entwicklung, 1891, GrünhutsZ 20 (1893), S.239 17. Die stillschweigende Willenserklärung, Berlin 1893; Nachdruck Aalen 1970 18. Die Börsenschiedsgerichte, Neue Revue V I 1 (1895), S. 262-269, 305-310 19. Zur Frage des Frauenstudiums, Deutsche Worte X V (1895), S. 703-712 20. Arbeitende Damen, Neue Revue V I 2 (1895), S. 1185-1191; umgearbeitet in: Dokumente der Frauen 3 (Wien 1900), S. 227-236
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Bibliographie der Werke Eugen Ehrlichs
21. Der schweizerische Erbrechtsentwurf, Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik 9 (1896), S.174-186 22. Rezension Karl Adler: Zur Entwicklungslehre und Dogmatik des Gesellschaftsrechts, 1895, GrünhutsZ 23 (1896), S. 368-372 22a Der Gang der Culturentwicklung, Neue Revue V I I 1 (1896), S. 690-696 23. Das zwingende und nichtzwingende Recht im Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Jena 1899; Nachdruck Aalen 1970 24. Rezension Johann Lazarus: Das Recht der Abzahlungsgeschäfte, 1898, und A l fred Bloch: Zur Anwendung des Ratengesetzes, 1899, GrünhutsZ 27 (1900), S.509-511 25. Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen. Erster Teil. Das ius civile, ius publicum, ius privatum, Berlin 1902 26. Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, Leipzig 1903 ; Neuabdruck in : Recht und Leben (unten Nr. 69), S. 170-202, in Auszügen übersetzt von Bruncken unter dem Titel: Judicial Freedom of Decision: Its Principles and Objects, in: Science of Legal Method (The Modern Legal Philosophy Series, Vol. 9), Boston 1917, S. 47-84; japanische Übersetzung 1928 durch Tasunosuke Nishimoto in Hogaku Konkyu Bd. 7 Heft 1 und 1982 durch die Arbeitsgruppe Rechtstheorie in Hogaku Ronshu Bd. 14 Heft 3 und 4 27. Ulpians Ousia-Theorie, Studi in onore di Vittorio Scialo ja, Prato 1904, sowie in Österreichische Richter-Zeitung II (1905), Sp. 129-135 28. Recht und Prätor. Eine Entgegnung, GrünhutsZ 31 (1904), S. 331-364 29. Recht und Prätor. Eine Erledigung, GrünhutsZ 32 (1905), S. 599-612 30. Die Anfänge des testamentum per aes et libram. Bericht erstattet dem Historikercongress in Rom (Rechtshistorische Abtheilung) 1903, A t t i del Congresso internazionale di scienze storiche IX (Roma 1904), sowie in Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 17 (1905), S. 99-109 31. Internationales Privatrecht, Deutsche Rundschau 126 (1906), S. 419-433, französische Übersetzung durch Robert Caillemer: Les tendences actuelles du droit international privé, in Revue de droit international privé et de droit pénal international 4 (1908), S. 902-924 32. Soziologie und Jurisprudenz, Österreichische Richter-Zeitung III (1906), Sp. 5772, und gekürzt in Die Zukunft 54 ( 1906), S. 231 -240; nachgedruckt in Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70, S. 88-103), Nachdruck zusammen mit Nr. 26, Aalen 1973; japanische Übersetzung 1982 durch Arbeitsgruppe Rechtstheorie in Hogaku Ronshu Bd. 15 Heft 1 33. Die freie Rechtsfindung, Das Recht V (Wien 1906) S. 35-41 34. Anton Menger, Süddeutsche Monatshefte III (1906), Bd. 2, S. 285-318; nachgedruckt in Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70), S. 48-87 35. Anton Menger, Neues Frauenleben XVIII 2 (1906), S. 1-3 36. Die Zukunft des Römischen Rechtsunterrichts in Österreich, Österreichische Rundschau 6 (1906), S. 386-392 37. Zur Frage der juristischen Person, Österreichische Richter-Zeitung IV 1 (1907), Sp. 115-127 (anonym, jedoch laut späterer Notiz der Zeitschrift von Ehrlich, siehe auch die amerikanische Übersetzung der Grundlegung, S. VIII); nachgedruckt in Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70), S. 133-145 38. Der Raimundtheaterfall (zur ultra vires-Lehre bei der juristischen Person), Das Recht V I (Wien 1907/08), S. 225-229
Bibliographie der Werke Eugen Ehrlichs 39. Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts. Inaugurationsrede gehalten am 2. Dez. 1906, Selbstverlag der Universität Czernowitz 1907 sowie Leipzig und W i e n 1907; Nachdruck in: Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70), S. 104-132 40. Die Aufgaben der Sozialpolitik i m Österreichischen Osten (Juden- und Bauernfrage), Schriften des Sozialwissenschaftlichen Akademischen Vereins in Czernowitz Heft 1, München und Leipzig 1909, 4. Aufl. 1916 41. Die Rechtsfähigkeit, Berlin 1909; Nachdruck Aalen 1973; japanische Übersetzung in Auszügen 1921 von Yoshitaro Hirano in Hogakushirin Bd. 23 Heft 9-12 und vollständig 1942 durch Takeyoshi Kawashima/Tadeshi Mitsufudji, Verlag Iwanami, Tokyo, 2. Aufl. 1975; Vorabdruck eines Kapitels daraus unter dem Titel: Die Zersetzung der alten Ordnungen (mit kritischen Anmerkungen der Redaktion) in Das Recht VII (Wien 1908/09), S. 225-232 42. Bericht über eine englische Studienreise (Die englische Zivilrechtspflege), Protokoll eines Vortrags vor der Wiener Juristischen Gesellschaft, in Allgemeine österreichische Gerichts-Zeitung 60 (1909), S. 94-95 43. Reglementierung oder Abolition? (Zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten bei Prostituierten), Das Recht V I I (Wien 1908/09), S. 353-360 44. Die Erforschung des lebendes Rechts, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 35, 1 (1911), S. 129-147; Nachdruck in: Recht und Leben (unten Nr. 69), S. 11-27 45. Ein Institut für lebendes Recht, Juristische Blätter 1911, S. 229-231, 241-244; Nachdruck in: Recht und Leben (unten Nr. 69), S. 28-42 46. Die Überlastung des Obersten Gerichtshofes, Mitteilungen der Vereinigung der österreichischen Richter 1911 Nr. 5, S. 5-15 47. Die Neuordnung der Gerichtsverfassung, Deutsche Richterzeitung 1912, Sp. 436465, 563; nachgedruckt in Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70), S. 146-178 48. Das lebende Recht der Völker der Bukowina, Recht und Wirtschaft 1 (1912), S. 273-279, 322-324; Neuabdruck in: Recht und Leben (unten Nr. 69), S. 43-60 49. Gutachten über die Frage: Was kann geschehen, u m bei der Ausbildung (vor oder nach Abschluß des Universitätsstudiums) das Verständnis des Juristen für psychologische, wirtschaftliche und soziologische Fragen in erhöhtem Maße zu fördern?, Verhandlungen des 31. Deutschen Juristentages II (1912), S. 200-220; Neuabdruck in: Recht und Leben (unten Nr. 69), S. 61-79 50. Grundlegung der Soziologie des Rechts, München und Leipzig 1913, Neudruck 1929, Nachdruck 1967 ; Vorabdruck des 1. Kapitels mit dem Titel : Der praktische Rechtsbegriff, in FS Ernst Zitelmann, München/Leipzig, S. 1-20, englische Übersetzung von Walter L. Moll mit Einführung von Roscoe Pound: Fundamental Principles of the Sociology of Law, Cambridge (Mass.) 1936; Nachdruck New York 1962; italienische Übersetzung von Alberto Febbrajo: Il fondamenti della sociologia del diritto, Milano 1967; japanische Übersetzung von Kapitel 1 bis 5 von Takeyoshi Kawashima, Verlag Yuhikaku, Tokyo 1952, 2. Aufl. 1955; Kap. 8 von Mitsuo Morita in Sóka Hagaku 10 (1976) Heft 4 und Kapitel 6 bis 10 von Tan Okamoto (Hogaku Ronshu Bd. 30-34, 1979-1981), vollständig von Rin-Itsu Kawakami/Manfred Hubricht, Verlag Misuzu Shobo, Tokyo 51. Soziologie des Rechts, Die Geisteswissenschaften 1913/14, S. 202-205, 230-234, nachgedruckt in Czernowitzer Tagblatt vom 1. und 4. Jänner 1914, jeweils S. 7 f. unter „Mitteilungen des Sozialwissenschaftlichen adakemischen Vereins Czernowitz", ferner in: Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70), S. 179-194 10 Ρ
r, 2. Aufl.
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52. Zur Soziologie des Rechts. Entgegnung auf eine Rezension von Friedrich Hahn, Der Kampf. Sozialdemokratische Monatsschrift 7 (Wien 1914), S. 461-463 53. Englische Rechtspflege, Österreichische Richter-Zeitung VIII (1915), S. 77-79 54. Montesquieu and Sociological Jurisprudence, Harvard Law Review 29 ( 1915/16), S. 582-600, Neuabdruck in Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70), S. 195-210 55. Entgegnung (auf eine Kritik Kelsens) und Replik, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 41 (1916), S. 844-849, und ebd. 42 (1916/17), S. 609-610; japanische Übersetzung durch Ken Takeshita und Hiromichi Imai in Kansai University Law Review 28 (1978), S. 147-154; 170-172 56. Das Recht und die Gesellschaft, Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit in Österreich 1916, S. 208-210 57. Eine Hochschule für Gesellschaftswissenschaften, Denkschrift i m Selbstverlag des Verfassers, W i e n 1916, Neuabdruck in: Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70), S. 211-227 58. Die richterliche Rechtsfindung auf Grund des Rechtssatzes. Vier Stücke aus dem in Vorbereitung begriffenen Werke: Theorie der richterlichen Rechtsfindung, Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts 67 (1917), S. 1 -80; Neuabdruck in: Recht und Leben (unten Nr. 69), S. 203-252; japanische Übersetzung 1982/83 durch Arbeitsgruppe Rechtstheorie in Hogaku Ronshu Bd. 15 Heft 2-4 59. The National Problems in Austria, The Hague 1917 60. Die juristische Logik, Archiv für die civilistische Praxis 115 (1917), S. 125-439; ferner als Separatausgabe: Tübingen 1918, Neudruck 1925, Nachdruck Aalen 1966; japanische Übersetzung von zwei Kapiteln 1953 durch Tsune Onogi in Handai Hogaku Bd. 6 und vollständig 1975-1980 durch Arbeitsgruppe Rechtstheorie in Hogaku Ronshu Bd. 9-13 61. Die Schuldfrage, Das neue Europa V 4 (Zürich 1919), S. 14-17 62. Das Kunstwerk und die Umwelt. Zur Soziologie der Kunst, Das neue Europa V 10/11 (Zürich 1919), S. 70-72 63. Von der Zukunft des Völkerbundes, Die Friedens-Warte, Blätter für zwischenstaatliche Organisation 21 (1919), S. 89-93 64. Die „bewährte Lehre und Überlieferung" (Art. 1 ZGB). Leitgedanken eines Referats Ehrlichs vor dem Zürcher Juristenverein, aufgezeichnet von H. Schmid, Schweizerische Juristen-Zeitung 16 (1919/20), S. 225-226 65. Bismarck und der Weltkrieg, Zürich 1920 66. Die Valutaschwierigkeiten der Schweiz, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik 26 (1920), S. 321-369 67. Gesetz und lebendes Recht, Hogaku Kyokai Zasshi 38 (Tokyo 1920) Nr. 12, S. 1-22, sowie in japanischer Übersetzung durch Hideo Hatoyama ebd. S. 43-47; nachgedruckt in Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70), S. 228-240 68. Die Soziologie des Rechts, Hogaku Kyokai Zasshi 40 (Tokyo 1922) Nr. 2, S. 1-22, sowie in japanischer Übersetzung durch Kenzo Takayanagi ebd. S. 23-41 ; ferner als: The Sociology of Law, in Harvard Law Review 36 (1922/23), S. 130-145 (Übersetzung von Nathan Isaacs), und La Sociologia del Diritto, in Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto 2 (1922), S. 96-110; nachgedruckt in Gesetz und lebendes Recht (unten Nr. 70), S. 241-253 69. Recht und Leben. Gesammelte Schriften zur Rechtstatsachenforschung und zur Freirechtslehre, ausgewählt und eingeleitet von Manfred Rehbinder, Schriften-
Bibliographie der Werke Eugen Ehrlichs reihe des Institut für Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung der Freien Universität Berlin Bd. 7, Berlin 1967, enthaltend die Arbeiten Nr. 2, 26, 44, 45, 48, 49 und 58 70. Gesetz und lebendes Recht. Vermischte kleinere Schriften, hg. von Manfred Rehbinder, Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Bd. 61, Berlin 1986, enthaltend die Arbeiten Nr. 8,15, 32, 34,37, 39, 47, 51, 54, 57, 67 und 68